Andreas Schendel: Virag oder wenn die Welt verrutscht

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ANDREAS SCHENDEL oder Wenn die Welt verrutscht Mit Polaroids von Anne-Theresa Wittmann Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher

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Einfühlsam erzählt Andreas Schendel die Geschichte von Virág, die ihre Eltern liebt, aber davon krank wird, dass sie deren Probleme lösen will. Ein besonders schön gestaltetes, literarisches und doch wunderbar leichtes Kinderbuch über ein ernstes Thema.

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ANDREAS SCHENDEL

oder Wenn die Welt verrutscht

Mit Polaroids von Anne-Theresa Wittmann

BloomsburyKinderbücher & Jugendbücher

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© 2010 BV Berlin Verlag GmbH, Berlin | Bloomsbury Kinder-

bücher & Jugendbücher | Alle Rechte vorbehalten | Umschlag-

gestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg, mit einer Vorlage von

Andreas Schendel | Typografie: Renate Stefan, Berlin | Gesetzt aus

der Stempel Schneidler, der Fracture und der NimbusSans durch

psb, Berlin | Druck & Bindung: TBB, Banská Bystrica | Printed in

Slovac Republic | ISBN 978-3-8270-5383-1 | www.berlinverlage.de

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Für Anne / Annuskának

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ERSTER TEIL

itthonhier

zu Hause

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VIRÁG ERWACHTE, SCHLUG die Augen auf, und alles fühlte sich anders an. Die Glasperlen an der Nachttischlampe glitzerten nicht. (Glitzerten sonst immer, im schrägen Morgenlicht, das durch das Dachfenster hereinfiel.) Die Sonne schien, doch es war kühl. Dabei war Sommer. Gestern Abend war auf jeden Fall noch Sommer gewesen.

Virágs Beine hatten Gänsehaut, und die Bettdecke lag zerknautscht unter ihren Füßen. Gut, das war nor-mal. Sie hatte geträumt. Einen der Weglaufträume, wo sie nicht von der Stelle kam. Oder auch den Sie-benmeilentraum, wo jeder Schritt weit übers Ziel hinaus ging.

Virág gähnte.Sie stand auf und schlüpfte in die ausgelatsch-

ten Hauspantoffeln. Die Pantoffeln mit dem gelb-schwarzen Fell und den Tigerschnauzen. Virágs Ze-hen schauten vorne aus den Schnauzen heraus. Auch das war normal, denn die Pantoffeln sind fast zwei Jahre alt. Virág hat sie zum neunten Geburtstag be-kommen. Von ihrer Großmutter aus Budapest. Am Anfang waren es für Virág noch zwei echte Tiger, und die acht Zehennägel, die aus den Schnauzen schauten, waren Zähne. (Zwei treue Tiger, die zu ihren Füßen lagen und mit den Zähnen wackeln konnten.)

Heute sind die Pantoffeltiger wieder Tigerpantof-feln. Virág ist älter geworden, aber die Pantoffeln

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stehen nachts noch immer vor ihrem Bett und be-wachen sie.

Es war komisch, sie klemmten, dabei hatten ihre Füße gestern Abend noch gut hineingepasst.

Virág schlurfte barfuß zur Kommode, auf der ein großer Spiegel stand. Der Dielenboden ihres Kin-derzimmers war kalt und irgendwie sandig. Etwas knirschte unter ihren Fußsohlen, kratzte zwischen den Zehen.

Virág blickte in den Spiegel und sah, was sie er-wartet hatte: ein Mädchen von fast elf Jahren mit Schlaf in den Augen. Die braunen Locken hingen ihm wirr ums Gesicht. Das Mädchen murmelte ein »Gu-ten Morgen« und sah überhaupt genug nach Virág aus, so dass weder sie noch das Mädchen im Spiegel sich weiter wunderten.

Erleichtert blickte sie aus dem Dachfenster, hinunter auf die Einfahrt, das Stückchen Straße vor dem Haus, den Streifen Garten. Und da war das Gefühl wie-der – dass etwas nicht stimmte.

Eine Weile stand sie da und schaute einfach. Alles war eigentlich an seinem Platz: die neue Wellblech-garage, der VW ihrer Eltern, der runde Fischteich (ne-ben dem Gartentor) und die Hecke (Buchsbaum) zum Nachbarhaus.

Doch das Garagendach glänzte nicht wie sonst in der Morgensonne, es sah matt und sandig aus.

Der kleine Fischteich im Garten hatte das kalte

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Schimmern von zerknitterter Silberfolie. Die drei Goldkarpfen schlängelten sich durchs Wasser wie rostfarbene Flammen.

Es ging ein leichter Wind, doch die Blätter in der Hecke zitterten nicht. Dafür schienen die Garage und die Betonplatten vom Gehweg ein wenig zu zit-tern. Nicht so sehr, dass man es sehen konnte. Virág konnte es eher spüren. Und das Zittern kam nicht vom Wind, sondern umgekehrt: Es war, als machten die festen Dinge mit ihrem Zittern den leichten Wind.

»Virág! Frühstück!« Ihre Mutter rief.»Komme!« Sie zog das himmelblaue Kleid mit den

roten Knöpfen über. Es war sehr eng um die Brust und kniff an den Hüften. Auch das war normal, es hatte gestern schon gekniffen, ein klarer Fall von rausgewachsen. (Doch auch ein klarer Fall von Lieb-lingskleid.)

»Du bist spät. Beeil dich!«Virág pellte sich aus dem Kleid und zog statt-

dessen einen Pulli und die weite Cordhose an. Heute mochte sie nichts Enges tragen. Sie öffnete die große Kommode, suchte Socken. Die ganze Schublade, das Holz, duftete nach Herbst, wie trockenes Laub und Kastanien.

»Virág! Fél nyolc!«»Ja, ja, komme …«Fél nyolc – das war Ungarisch und hieß »halb acht« –

huh, das war wirklich spät.Sie schob die Schublade wieder zu, strich das Ge-

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fühl von feinem Sand zwischen ihren Zehen weg und zog die Socken an.

Virágs Vater saß am Küchentisch, hatte die Zeitung schon gelesen und war nun beim Kreuzworträtsel.

»Guten Morgen, Schatz.« Seine Stimme klang ein wenig zu langsam und bärig, wie immer, wenn er am Abend zu viel getrunken hatte.

»Morgen, Papi.« Virág setzte sich.Ihr Vater lehnte sich zu ihr herüber. Sie küsste seine

Wange, die rau wie Sandpapier war und nach wohlig warmem Kopfkissen roch.

Virág schmierte sich ein Marmeladenbrot, für die erste Pause, und ihre Mutter brachte aus der Küche das Frühstücksei. (Ihre Mutter schwor auf Fünfminu-teneier. Proteine für den kraftvollen Start in den Tag.)

Statt Salz streute sich Virág gern süße Paprika da-rauf. Doch es schmeckte heute Morgen nicht. Sie aß nur das Eigelb und trank auch ihren Kakao nicht aus.

»Sie ist zu spät, kannst du sie fahren?«»Was?« Ihr Vater schaute von der Zeitung auf.»Ich frage, ob du dich vielleicht mal nützlich

machst und deine Tochter zur Schule fährst?«Ihr Vater legte den Kuli aus der Hand und faltete

die Zeitungsseite längs des Kreuzworträtsels. Er zwinkerte Virág zu. »Sind wir fertig?«

»Sie hat ihr Ei noch nicht ganz gegessen.«»Ich kann jetzt nicht mehr, Mutti.«»Dann nimm dir eine Banane mit.« Ihre Mutter

verschwand in der Küche, kam mit einer Banane und einem Apfel zurück.

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Virágs Vater fuhr mit dem Handrücken um seine unrasierten Wangen. »Ist es okay, wenn der Chauf-feur heute nicht rasiert ist?«

Virág lächelte zur Antwort, und auch ihr Vater lä-chelte. Aber etwas war anders – sein Lächeln glänzte nicht mehr.

Virág strich, als sie ums Auto ging, mit dem Finger über die Motorhaube. Ein feiner Staub lag auf dem blauen Lack.

»Komm, beeil dich, Schatz.« Ihr Vater schoss mit dem Autoschlüssel aus der Hüfte, wie beim Duell die Cowboys, entriegelte mit einem Piep! die Türen. »Jeder Schuss ein Treffer!«

Gestern hätte sie bestimmt darüber gelacht … we nigstens gelächelt.

Ihr Vater hob den Schlüssel langsam zu den Lip-pen und tat, als blase er den Qualm vom Pistolen-lauf.

Und Virág fragte sich, was heute los war mit ihr? Normal mochte sie doch die kleinen Showeinlagen ihres Vaters. Er war lustig. Meistens. (Nur in letzter Zeit, und nur wenn andere Erwachsene dabei waren, schämte sie sich immer öfter.)

Sie stieg ein, auf den Beifahrersitz, und schnallte sich an. Bei ihrem Vater durfte sie vorne fahren. Er schloss ihre Tür mit einer leichten Verbeugung, was zur Rolle des Chauffeurs gehörte.

Virág schaute auf ihre Fingerspitze. Sie war rot von der Motorhaube. Es war der Staub, über den ihre Mutter so oft schimpft, der Passatstaub, den ein Wind,

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der Passat heißt, von einer weit entfernten Wüste bis nach Deutschland weht. (Der rote Staub, den ihre Mutter fluchend von den Fenstern putzt, ist in Wirk-lichkeit Sand, ganz feiner Wüstensand.)

Virágs Vater setzte rückwärts aus der Einfahrt, ganz locker, seine linke Hand am Lenker und seine rechte an Virágs Schulter. Er war ein Profi im Fahren, war früher Busfahrer gewesen. (Große Reisebusse.) Auf einer Fahrt nach Ungarn hatten er und ihre Mut-ter sich kennengelernt. Vor fünfzehn Jahren. Ihre Mutter hatte damals für die Touristen gedolmetscht, da sie neben ihrer Muttersprache Ungarisch noch fließend Deutsch, Englisch, Französisch und Rus-sisch konnte.

Auf der endlosen Busfahrt, von Köln nach Buda-pest, hatten sie und Virágs Vater sich damals verliebt.

Das war lange, bevor ihr Vater zu trinken begann. Und lange bevor er deswegen arbeitslos wurde. Es war verrückt, denn er hatte mit dem Trinken eigent-lich angefangen, um seine Stelle nicht zu verlieren. Er fuhr damals die Nachtschicht nach Wien und Bu-dapest und konnte tagsüber ohne Schnaps oder Tab-letten nicht schlafen. Und wer tagsüber nicht schlief, konnte nachts nicht arbeiten …

Ihr Vater bog in den großen Kreisverkehr, und wieder hatte Virág das Gefühl, dass alles zitterte. Die anderen Autos, die Straße, aber auch die Wolken am Himmel.

»Merkst du das auch, Papa?«»Was?«»Dass alles so zittert.«

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»Das kommt vom Fahren, vom Motor. Vibration. Gib mal die Hand.« Er legte Virágs linke Hand unter seine auf den schwarzen Knauf des Schaltknüppels. »Spürst du’s?«

Sie nickte. Es vibrierte alles leicht, das ganze Auto, vom Motor her, aber es war nicht das Zittern, das sie gemeint hatte.

Ihr Vater gab Gas. »Schalt mal hoch in den Vier-ten. Einfach runterziehen, den Knüppel – jetzt!« Er trat die Kupplung, und Virág schob die Schaltung in den vierten Gang. Ihr Vater zwinkerte ihr zu. »Heute Mittag zurück fährst du.«

Virág musste lächeln. Und ihr Vater ließ sie schal-ten, bis sie zur Schule kamen.

Als Virág auf dem Lehrerparkplatz ausstieg, stieg auch Kathrin Bergmann aus. Virágs Vater hob noch einmal die Hand, er winkte und fuhr heim zu seinem Kreuz-worträtsel.

Kathrin Bergmanns Mutter nahm eine Akten-tasche aus dem Kofferraum und schloss den Wagen ab. Sie gehörte zum Kollegium. Virág hatte sie in Mathe und wusste nicht, wen von beiden sie lieber hasste. Sie drehten einem beide, Mutter und Tochter, den Magen um. Wie ein Fehler der Natur, den es gleich zweimal gab. In einer großen und einer klei-nen Version.

Das mit dem »Fehler der Natur« kam von Kathrin selbst. Sie hatte Virág einmal so genannt.

Letztes Schuljahr hatten sie in Bio verschiedene Krankheiten durchgenommen. Unter anderem auch

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Krebs. Virág hatte dazu etwas Interessantes erzählen können. Sie hatte selbst einmal im Krankenhaus eine CT bekommen. Eine Computertomografie. Das hatte bei ihr aber nichts mit Krebs zu tun. Die Ärzte hatten bloß Aufnahmen vom Inneren ihres Kopfes gemacht, wie man es auch bei Leuten mit einem Krebs tumor tat. Sie hatten Virág in eine Riesenröhre geschoben. (Ein »sauteures Gerät«, wie der Krankenpfleger sagte.) Darin kreiste eine Kamera um ihren Kopf und machte Röntgenbilder. Alles absolute Weltraumtechnik, und Virág durfte bestimmt zwanzig Minuten in der teu-ren Röhre liegen. An der Kamera war ein Computer, der die Bilder zusammenbastelte und am Ende Virágs Gehirn in 3-D und verschiedenen Farben zeigte. (Wo es rot war, waren gerade Gefühle oder Gedanken los.)

Die Untersuchung war gemacht worden, bevor sie aufs Gymnasium kam. Damals, im letzten Jahr der Grundschule, hatte Virág oft Schwindelanfälle ge-habt und schlecht geschlafen, weil ihr alles juckte. Die ganze Nacht, am ganzen Körper. Dabei fehlte ihrer Haut nichts. Sie hatte keine Allergie oder so, und auch die Bilder vom Gehirn waren völlig in Ord-nung gewesen. Ihr Gehirn funktionierte sogar beson-ders gut, da manche Teile davon viel aktiver waren als normal. (Knallrot.)

Die Ärzte hatten von einer »entwicklungsbeding-ten Anomalie« gesprochen. Und Virág hatte auch der Klasse von ihrer tollen Anomalie erzählt. Und von dem »sauteuren Gerät« natürlich. (Und von dem Jucken natürlich nicht.)

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»Weiß denn jemand von euch, was das heißt, Ano malie?«, hatte die Lehrerin gefragt. Kathrin Berg-mann hatte sich gemeldet und mit einem Grinsen »Fehler der Natur« gesagt.

Und alle hatten auf Virág geguckt und gelacht.

Virágs Vater verschwand vom Parkplatz.Virág schulterte ihre Tasche und warf Kathrin

einen stolzen Blick zu. Kathrin hatte bei ihrer Mutter sicher noch nie schalten dürfen, ja, sie musste sogar hinten sitzen.

Kathrin drängte sich am Schultor zu Virág und zischte: »Arbeitslos! Du bist ’ne Säufertochter!«

Virág versuchte, Kathrin gegen die Klinke zu drü-cken, aber die anderen Kinder schoben sie zu schnell durch das Tor.