Anfälle und Epilepsien im Kindesalter - mh-hannover.de · 2.3.1 Grand-mal: primär generalisierter...

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Anfälle und Epilepsien im Kindesalter Fachlehre Pädiatrie 2. klinisches Studienjahr, Skrpit Studienjahr 2005/06 Dr. H. Hartmann 1. Grundlegende semantische Definitionen Ein Anfall wird definiert als paroxysmale neurologische Störung, auf die folgendes zutreffen kann: Es handelt sich um eine funktionell-reversible Störung Es kann eine Prädisposition bestehen Es kann einen Auslöser geben Falls Anfälle rezidivierend auftreten, ist der Ablauf häufig stereotyp Ein zerebraler Anfall ist ein Anfall, der auf einer gesteigerten cerebralen Erregbarkeit beruht. Er kann als symptomatischer Anfall auftreten durch eine innere oder äussere Ursache provoziert (z.B. Fieberkrampf, Enzephalitis, Intoxikation), als Gelegenheitsanfall ohne erkennbare Ursache oder im Rahmen einer Epilepsie. Jede Funktion des ZNS kann gestört sein, ein Anfall kann jede normale Funktion des Nervensystems nachahmen. Ein zerebraler Anfall ist nicht gleichzusetzen mit einer Epilepsie! Eine Epilepsie wird definiert als eine Erkrankung mit rezidivierenden epileptischen Anfällen, die in der Regel unabhängig von auslösenden Ursachen auftreten. 2. Anfälle 2.1 Nicht zerebrale Anfälle: 2.1.1 “Affektkrämpfe” Etwa 4% aller Kinder unter 4 Jahren erleben mindestens einmalig einen „Affektkrampf“ mit Bewusstlosigkeit Ca 2/3 „blaue“ Affektkrämpfe: § Gekennzeichnet durch endexpiratorische Apnoe („wegschreien“) § beruhend auf zentralen und pulmonalen Reflexen § in aller Regel harmlose Ereignisse § häufig mit Anämie assoziiert, durch Therapie der Anämie günstig zu beeinflussen Ca 1/3 „blasse“ Affektkrämpfe: § Gekennzeichnet durch Blutdruckabfall und Bradykardie § Beruhend auf einer vagalen Hyperreagibilität § Nicht immer sicher harmlos Auslöser: emotionale Faktoren, Verletzungen selten im 1. Lebensjahr wiederholt, meist spontan sistierend im 4. Lebensjahr 2.1.2 Synkope Ursachen: § orthostatisch typischerweise nach Lagewechsel (liegen zu sitzen, aufstehen, längeres Stehen) § vagosasal in Zusammenhang mit vagalen Reizen (Miktion, Defäkation) § arrythmogen bei Herzrhythmusstörung, z.B. long QT Syndrom

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Anfälle und Epilepsien im Kindesalter Fachlehre Pädiatrie 2. klinisches Studienjahr, Skrpit Studienjahr 2005/06 Dr. H. Hartmann 1. Grundlegende semantische Definitionen Ein Anfall wird definiert als paroxysmale neurologische Störung, auf die folgendes zutreffen kann:

• Es handelt sich um eine funktionell-reversible Störung • Es kann eine Prädisposition bestehen • Es kann einen Auslöser geben • Falls Anfälle rezidivierend auftreten, ist der Ablauf häufig stereotyp

Ein zerebraler Anfall ist ein Anfall, der auf einer gesteigerten cerebralen Erregbarkeit beruht. Er kann als symptomatischer Anfall auftreten durch eine innere oder äussere Ursache provoziert (z.B. Fieberkrampf, Enzephalitis, Intoxikation), als Gelegenheitsanfall ohne erkennbare Ursache oder im Rahmen einer Epilepsie. Jede Funktion des ZNS kann gestört sein, ein Anfall kann jede normale Funktion des Nervensystems nachahmen. Ein zerebraler Anfall ist nicht gleichzusetzen mit einer Epilepsie! Eine Epilepsie wird definiert als eine Erkrankung mit rezidivierenden epileptischen Anfällen, die in der Regel unabhängig von auslösenden Ursachen auftreten. 2. Anfälle 2.1 Nicht zerebrale Anfälle: 2.1.1 “Affektkrämpfe”

• Etwa 4% aller Kinder unter 4 Jahren erleben mindestens einmalig einen „Affektkrampf“ mit Bewusstlosigkeit

• Ca 2/3 „blaue“ Affektkrämpfe: § Gekennzeichnet durch endexpiratorische Apnoe („wegschreien“) § beruhend auf zentralen und pulmonalen Reflexen § in aller Regel harmlose Ereignisse § häufig mit Anämie assoziiert, durch Therapie der Anämie günstig zu

beeinflussen • Ca 1/3 „blasse“ Affektkrämpfe:

§ Gekennzeichnet durch Blutdruckabfall und Bradykardie § Beruhend auf einer vagalen Hyperreagibilität § Nicht immer sicher harmlos

• Auslöser: emotionale Faktoren, Verletzungen • selten im 1. Lebensjahr • wiederholt, meist spontan sistierend im 4. Lebensjahr

2.1.2 Synkope

• Ursachen: § orthostatisch typischerweise nach Lagewechsel (liegen zu sitzen, aufstehen,

längeres Stehen) § vagosasal in Zusammenhang mit vagalen Reizen (Miktion, Defäkation) § arrythmogen bei Herzrhythmusstörung, z.B. long QT Syndrom

• konvulsive Synkope: Auf dem Boden der Hypoperfusion und Hypoxaemie des ZNS kann es zu einem kurzen zerebralen Krampfanfall kommen mit meist unregelmässigen Kloni der Extremitäten

• Anamnestische Differenzierung von primär zerebralem Anfallsereignis: „schwarz vor Augen“, langsames zu Boden gehen mit abstützen (vor allem bei arrythmogenen Ereignissen aber auch unvermittelte Stürze).

• Wichtig bei der Beobachtung: bei einem primär zerebralen Anfallsereignis ist der Puls fast immer beschleunigt.

2.1.3 Dissoziativer Anfall:

• Bewusstseinsverlust ist die charakteristische Symptomatik bei dissoziativer Störung • Dissoziation = Entkoppelung verschiedener seelischer und körperlicher Funktionen • Typische Symptome dissoziativer Anfälle:

§ Symptome verhalten sich so, als gäbe es keine Anatomie. Die Symptomatik erscheint so, wie der Patient „denkt“, sie müsse erscheinen. (Lernen vom Modell, Imitation)

§ Symptom oft Ausdruck eines aktuellen inneren Konfliktes (z.B Ohnmacht bei Ausweglosigkeit, Blindheit bei Hilflosigkeit...)

• 30% der Patienten mit Fokalen Epilepsien haben auch dissoziative Anfälle • Epileptische Frontallappenanfälle werden oft verkannt als dissoziativ

2. 2 Zerebrale Gelegenheitsanfälle 2.2.1 Fieberkrämpfe

• Häufige Ereignisse (kumulative Inzidenz 0,5-6 Lebensjahr: 5% aller Kinder haben einen Fieberkrampf, 30% davon haben mindesten einen weiteren.

• Einteilung in „einfache Fieberkrämpfe“ (kein erhöhtes Epilepsierisiko) und „komplizierte Fieberkrämpfe“ (erhöhtes Epilepsierisiko). Die Unterteilung bezieht sich nur auf das Risiko der Entwicklung einer Epilepsie.

• Kriterien für einfache Fieberkrämpfe (müssen alle erfüllt sein): § Alter 0,5-6 Jahre § Keine Epilepsien bei Verwandten I° § Bislang unauffällig entwickeltes Kind § Primär generalierter Anfall, keine fokalen Zeichen im Anfall oder unmittelbar

nach dem Anfall § (Anfallsdauer < 30 miin) § (nicht mehr als 5 Anfälle insgesamt) § (interiktales EEG unauffällig)

• wichtige Differenzierung: symptomatischer Anfall im Rahmen einer schweren Erkrankung des ZNS, z.B. Meningitis.

• Basisdiagnostik: Blutgasanalyse, Glukose, Ca, Mg, • Bei Kindern < 12 Monate grosszügige Indikation zur Lumbalpunktion

2.2.2 sonstige Gelegenheitsanfälle:

• nach einem Schädel-Hirn-Trauma • Im Rahmen entzündlicher ZNS Erkrankungen • Bei Intoxikationen • Bei Stoffwechselentgleisungen • Hypoglykämie • Hypocalcämie (Vitamin D Mangel, insbesondere bei Migrantenfamilien mit mehreren in

kurzer Folge gestillten Kindern)

2.3. Vereinfachte Klassifikation der Anfälle 2.3.1 Grand-mal: primär generalisierter tonisch-klonischer Anfall:

Bewusstseinsstörung von Beginn an, tonische Phase, anschliessend symmetrische Kloni, keine fokalen Zeichen im Anfall oder anschliessend. Postiktal (nach dem Anfall) abnormer Schlaf, passagere Hyperreflexie (positives Babinskizeichen) Tonische und klonische Anfälle können auch isoliert vorkommen.

2.3.2 Petit-mal: können weiter unterteilt werden in

2.3.2.1 primär generalisierte kleine Anfälle , das heisst mit Bewusstseinsverlust von Beginn an, aber ohne tonische oder klonische motorische Symptomatik. Diese stellen häufig typische altersgebundene Muster dar:

• Absencen (kurze Abwesenheit, wenige Sekunden bis max. 1 Minute, Innehalten, motorische Funktionen können eventuell fortgesetzt werden).

• Myoklonische Anfälle (plötzliche unwillkürliche Bewegung einer Extremität, Zucken) • Astatische Anfälle (plötzlicher Sturz mit Tonusverlust)

2.3.2.2 fokale Anfälle : keine (primäre) Bewusstseinsverlust

• Fokal motorisch (Jackson Anfall) • Fokal sensorisch • Komplex fokal (mit Bewusstseinsänderung) • Sekundär generalisiert (aus einem fokalen Anfall heraus entwickelt sich ein generalisierter

Anfall mit Bewusstseinsverlust, generalisierter Tonuserhöung und / oder Kloni)

3. Epilepsien

• Gehören zu den häufigsten chronischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter (cumulative Inzidenz bis zum vollendeten 9. Lebensjahr 0,6%)

• Zwei Altersgipfel: Kleinkindesalter, Senium 3.1 Ursachen von Epilepsien:

• Idiopathisch (Veranlagung)* • Kryptogen (Ursache zu vermuten, aber nicht gezeigt)* • Symptomatisch (Veränderung des Gehirns) • Hirnentwicklungsstörung * • Entzündliche Erkrankung des Gehirns • Verletzung des Gehirns • Fortschreitende Erkrankung des Gehirns *

*in der Regel oder häufig genetisch bedingt

3.2 Vereinfachte Einteilung der Epilepsien § generalisiert / lokalisationsbezogen § Einteilung nach Ätiologie § idiopathisch § kryptogen § symptomatisch

§ altersbezogene Epilepsiesyndrome 3.3 Altersbezogene Epilepsien und epileptische Syndrome

Im Kindes- und Jugendalter können sich Epilepsien mit einem typischen Muster von Anfällen und auch EEG-Befunden äussern. Dieses Muster spiegelt dann eher das Entwicklungsstadium des Gehirns als die Ursache der Epilepsie. Einige Beispiele :

3.3.1 Rolando Epilepsie (Benigne fokale Epilepsie mit centro-

temporalen sharp wave) § Idiopathische Epilepsie § Häufigste kindliche fokale Epilepsie (ca 15% aller kindlichen

Epilepsien) § Fokale Anfälle mit orofacialen Phänomen und speech arrest § Generalisierte und Halbseitenanfälle § Nächtliche Anfälle § Assoziierte Teilleistungsstörungen § Anfallsfreiheit fast immer mit Ende der Pubertät § Typischer EEG Befund: centro-temporale sharp wave § Therapie: Sultiam, Carbamazepin

3.3.2 Absence Epilepsie

• Täglich häufiges Auftreten von Absencen • EEG: 3/s spike wave AktivitätSubtypen:

§ Kleinkinder (Entwicklungsstörungen häufig) § Schulkinder (gute Prognose, allerdings bei 30% auch

grand mal Anfälle) § Juvenile Absence Epilepsie (Uebergang in Aufwach

grand mal häufig) • Therapie: Ethosuximid, Valproat (wg der Möglichkeit von

grand mal Anfällen)

3.3.3 Juvenile myoklonische Epilepsie (Janz Syndrom) § 12.-20. Lebensjahr § Mädchenwendig § Nach dem Aufwachen heftige Myoklonien insbesondere der Arme und Schultern bei

erhaltenem Bewusstsein § EEG: Polyspikes § Häufig assoziiert mit juveniler Absence Epilepsie und Aufwach grand mal § Therapie: Valproat

3.3.4 West Syndrom (BNS Epilepsie) § Säuglinge und Kleinkinder § Trias von infantilen Spasmen (Blitz-, Nick- und Salaam

Anfälle), Entwicklungsstörung und dem typischen EEG Befund der Hypsarrhythmie

§ Ursache: häufig symptomatisch (80%, die anderen kryptogen

§ Schlechte Prognose: 90% später entwicklungsauffällig, 90% später andere Formen einer Epilepsie

§ Therapie: Sultiam, ACTH, Valproat, Vigabatrin (bei Kindern mit tuberöser Sklerose)