Anna macht Kälbchen - Gueti Gschichte...Nachwuchs für 100 000 Franken. Der erste Kunde heute, ein...

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SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 203 Frauenpower statt Munipotenz. Anna Voensperger ist eine der wenigen Frauen, die als Besamungstechnikerinnen arbeiten. Mit Tiefkühlsamen und armlangen Spritzen. Doch manchmal macht die Natur s Chalb mit ihr. Anna macht Kälbchen Muni-Sperma lagert in minus 196 Grad kaltem Flüssigstick- stoff. Die gefüllten Spritzen stopft Anna zwischen Bauch und Kleider. So bleibt der Samen körperwarm.

Transcript of Anna macht Kälbchen - Gueti Gschichte...Nachwuchs für 100 000 Franken. Der erste Kunde heute, ein...

  • SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 203

    Frauenpower statt Munipotenz. Anna Voggensperger ist eine der wenigen Frauen, die als Besamungstechnikerinnen arbeiten. Mit Tiefkühlsamen und armlangen Spritzen. Doch manchmal macht die Natur s Chalb mit ihr.

    Anna macht Kälbchen

    Muni-Sperma lagert in minus 196 Grad kaltem Flüssigstick-stoff. Die gefüllten Spritzen stopft Anna zwischen Bauch und Kleider. So bleibt der Samen körperwarm.

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    Anna Voggens-perger ist gelernte

    Landwirtin. Das erleichtert ihr

    den Umgang mit dem Vieh sehr.

    Im Kofferraum ihres Wagens

    hat Anna einen Flüssigstick-

    stoff-Container mit 1500 Dosen

    Stiersamen.

    Seit einem Jahr macht Anna diesen

    Job. «Als Frau habe ich Vorteile:

    viel Empathie – und kleine Hände.»

    Mit ein paar Besa- mungskollegen trifft

    sich Anna in der «Linde» in Zell ZH

    zum Zmittag.

    «Ich spüre jedes Mal grosse

    Ehrfurcht bei dem, was ich da im

    Stall tue»

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    T E X T M A R C E L H U W Y L E R

    F OTO S R E M O N ÄG E L I

    Wenn ihre Arbeit von heute fruchtet, wird Anna am Ende des Tages 23 neue Leben geschaffen ha-ben. Schweizer Nationaltier-Nachwuchs. Künst-lich gezeugte Kundenkuhwünsche. Anna ist eine der wenigen Frauen in diesem Beruf. Sie tut, was von Natur aus Männersache wäre, verrichtet von potenten Stieren. An deren Stelle erledigt Anna den Job, mit Fingerspitzengefühl, einer halb-metrigen, stricknadeldünnen Spritze aus Metall, Tiefkühlsperma und orangen Besamungshand-schuhen der Grösse 11 aus Polyethylen, armlang.

    Anna Voggensperger ist 25 Jahre alt und von Beruf Besamungstechnikerin.

    Anna macht Kälbchen.

    Ihr Arbeitsweg beginnt jeden Morgen mit einer Schiffsreise. Anna steht neben ihrem Auto an Deck der Zürichsee-Fähre, die sie von ihrem Wohnort Horgen ZH hinüber nach Meilen ZH fährt. Und geniesst die Ruhe in der Dämmerung, Wind, Wel-len, Seegeruch, die brillierenden Lichter der Ufer-dörfer und am Himmel die variierenden Blautöne einer endenden Nacht. Es ist sieben Uhr. Anna bindet ihr langes blonde Haar zu einem Pferde-schwanz, «weil sich die langstieligen Spritzen sonst darin verheddern». Sie checkt ihren Tablet-computer. Die Zentrale hat ihr eben die Daten der Bauern übermittelt, die ihre Kühe heute Morgen gedeckt haben wollen. Zeigt eine Kuh Brunst-symptome, ist «stierig», erfolgt die Besamung innert 12 bis 24 Stunden. «Unsere Erfolgsrate liegt bei 72 Pro-zent», sagt Anna. Und meint mit «uns» ihren Arbeitgeber Swissgene-tics, den grössten Schweizer Produ-zenten und Vermarkter von Sperma für die künstliche Besamung. Im Aussendienst sind über 300 Besa-mungstechniker unterwegs.

    Die Fähre legt an, Anna fährt los, hinten im Kofferraum die Sperma-bank: ein bulliger Spezialbehäl- ter, ähnlich einer Grill-Gasflasche, gefüllt mit Flüssigstickstoff, minus 196 Grad, darin sind 1500 tiefge-kühlte Samendosen von 250 Stieren.

    Nachwuchs für 100 000 Franken.

    Der erste Kunde heute, ein Hof in Meilen. Kuh Victoria – so der Wunsch des Landwirts – soll den Samen von Stier Barca bekommen. Anna Vog-gensperger schlüpft in ihr Über-

    gwändli, jägergrün und kurzärmlig; Letzteres ist wichtig, weil sie bald bis zum Ellbogen im Kuh-hintern stecken wird. Aus dem Stickstoffcontainer fischt sie ein grünes Plastikröhrchen in Kugel-schreiberminengrösse (grün bedeutet die Rasse Brown Swiss). Darin einige gefrorene Tropfen Ejakulat von Stier Barca – mit 15 Millionen tief-kühlstarren Spermien. Anna tunkt das Röhrchen in ein Warmwasserbad, das den Samen innert 30 Sekunden auftaut und auf 37,8 Grad erwärmt.

    Zeugungstemperatur. Die Besamerin schützt die mit dem Sperma

    gefüllte Spritze mit einer Plastikhülle und stopft sich das Ganze zwischen Kleidung und Bauch. «Direkt am Körper bleibt die Samentemperatur konstant», erklärt Anna. Normalerweise trage man die Spritzen zwischen Kleider und Rücken, «aber ich als Frau mit langem Haar …», Anna seufzt und rückt die Spritze zwischen ihrem Busen zurecht. Dann gummistiefelt sie in den Stall, den Schaft der Spritze hoch und schräg aus ihrem Pulloverausschnitt ragend – wie ein Fantasyritter mit quer umgeschnalltem Schwert.

    Kuh Victoria mit den gütigen Augen und lan-gen Wimpern hält brav still. Annas linker Arm, mit Handschuh und viel Gel, steckt bis zum Ell-

    bogen im Mastdarm. Anna ertastet die Gebärmutter und zirkelt mit der rechten Hand die lange Spritze in den Unterleib der Kuh. Direkt nach dem inneren Muttermund wird die Samendosis gespritzt. Keine zwei Minuten dauert der Akt.

    Anna zieht den Arm heraus und schüttelt Kotreste in die Mistrinne. Fäkalien von Fleischfressern wür-den stärker stinken, die Grasfres-serin Kuh sei in dieser Hinsicht gar nicht so schlimm, zudem sei alles Gewöhnungssache. Aber ja, natür-lich, sagt Anna, im Ausgang ernte sie schon mal «Wääähs», gerümpfte Nasen und schiefe Blicke, wenn sie von ihrem Beruf erzähle. «Die meis-ten aber finden spannend, was ich tue.» Und sie tut es gern. Für das Babyglück im Stall zu sorgen, sei eine befriedigende Sache. Das selbst-ständige Arbeiten, der Kontakt mit Mensch und Tier, das gefällt Anna. Und zu wissen, dass sie neues Leben zeugt, «ja, da spüre ich jedes Mal Ehrfurcht bei dem, was ich tue». Ist

    fakt.

    –196GRAD KALT

    ist der Flüssig-stickstoff, in dem der Samen lagert

    8EIGENE KÜHEund vier Kälber besitzt Anna.

    Diese sind in ver-schiedenen Ställen

    untergebracht. Als ausgebildete

    Landwirtin möchte Anna dereinst

    einen eigenen Hof. Sie sucht einen

    Betrieb, Kauf oder Pacht. Wer etwas weiss, Vermerk

    «Anna sucht Hof» an: info@schweizer-

    illustrierte.ch

    Das Umpumpen von Flüssigstickstoff

    erinnert an die Schülerdisco

    der 80er-Jahre

    Alle zwei Wochen tankt Anna frisches Kälte mittel für den mobilen Container im Kofferraum ihres Autos.

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    gar etwas göttlicher Funke im Spiel? Sie lacht, sie sehe das nicht so pathetisch, «ich freue mich einfach, wenn die Besamung klappt, das Tier gesund zur Welt kommt und der Bauer zufrieden ist». Ein berührender Moment seis, wenn ihr neun Monate später im Stall ein von ihr gezeug-tes Kalb entgegenstakst. Ein Annakalb. Sie grinst. «Noch trägt keines meinen Namen.» Dafür hat sie letzte Woche von einer anderen Ehre erfahren: Ihre ersten Zwillingskälber wurden geboren.

    Sie muss weiter, nächster Hof. Wo Kuh Ou-leuse den Samen von Stier Hamilton erhält.

    Anna wächst auf einem Bauernhof in Baselland auf. Sie beginnt ein Studium des Umweltinge-nieurwesens, betreut auf der Insel Bali ein Vogel-schutzprojekt. Nach zwei Jahren bricht sie das Studium ab. Sucht ihre wahre Bestimmung. Und erinnert sich, wie sie als Kind besser einschlief, wenn sie Vaters Uhr neben sich auf dem Kopf-kissen hatte. Die Uhr, deren Lederband so beru-higend nach Stall roch. Also lernt Anna Landwir-tin, danach macht sie die halbjährige Ausbildung bei Swissgenetics zur Besamungstechnikerin.

    Nächster Ort, nächster Hof, nächste Kuh. Aurelia erhält den Munisaft von Riveting.

    Swissgenetics gewinnt, kontrolliert und gefriert das Frisch-Ejakulat von 427 Stieren. 2,3 Millionen Samendosen sind das pro Jahr, 851 000 davon für die Schweiz. Die potentesten Munis tragen Namen wie Lennox, Simba-Boy, Passat, Electro oder Brisago. Der Bauer kann daheim bequem im

    «Toro Spezial»-Katalog blättern, sich die po-sierenden Stiere und deren Eigenschaften (und jene der gezeugten Kinder) anschauen und den für seine Zucht idealen Kandidaten aussuchen. Zwischen 20 und 100 Franken kostet die Dosis Sperma. Am teuersten ist der «gesexte» Samen, bei dem die X- und Y-Chromosomen getrennt sind, was dem Bauern zu 90 Prozent das ge-wünschte Geschlecht garantiert.

    In Hinwil bekommt Kuh Leandra eine spe zielle Samendosis: Silian, ein Cocktail aus dem Samen dreier Stiere. «Deren Spermien konkurrieren un-tereinander», erklärt Anna. «Die ellbögeln und spornen sich gegenseitig regelrecht an.»

    Sie habe als Frau in dem Job noch nie Probleme gehabt, sagt Anna. Keine sexistischen Sprüche. «Ich habe sogar Vorteile.» Sie fühle tatsächlich so etwas wie Frauensolidarität der Kuh gegenüber. Als Frau habe sie mehr Geduld, mehr Empathie, «und ich habe die kleineren, feineren Hände».

    Um die Mittagszeit steuert Anna das Restaurant Linde in Zell ZH an. Hier trifft sie sich mit zehn ihrer Besamerkollegen. Zum Zmittag. Und zum Auffüllen der Kofferraumdepots. Ein Lastwagen von Swissgenetics bringt Nachschub: Besamungs-handschuhe, Gleitgel, Formulare, neuer Samen und frischer Flüssigstickstoff. Dieser siedet und qualmt gigantisch, wenn man ihn vom LKW-Tank mittels Schlauch in die mobilen Container um-füllt. Die weisswolkige Szenerie erinnert an die Trockeneisorgien der Wanderdiscos, die in den 1980er-Jahren in den Hinterländern herumzogen.

    Am Nachmittag wird Clematis mit Ultimos Sperma beglückt. Fiesta bekommt Charlies Saft, und für Nera aus Stäfa ZH wählt Anna (der Bauer überlässt ihr die Wahl) Electros Samen.

    In jedem Beruf sei Hightech normal, sagt Anna. «Nur bei den Bauern meinen die Leute, es müsse noch immer alles natürlich und romantisch sein.» Dabei könne man mit künstlicher Befruchtung gezielt Schwächen wegzüchten und Krankheiten verhindern. Bei 90 Prozent aller Kälber hat die Spritze den Akt des Natursprungs übernommen.

    Und trotzdem. Trotz Hightech-Besamen, ge-sextem Sperma und Dreier-Samen-Mix. Es gibt noch Momente, wo das Leben macht, was es will.

    Wo die Natur s Chalb macht mit Anna. Wie letzthin. Als ein Landwirt seine Kuh als

    stierig meldete, Anna zur Tat schritt, sich im Becken des Tiers vorsichtig vorwärtsfingerte – und plötzlich einen feinen Tritt gegen ihre Finger bekam. Von winzigen Füsschen.

    Diese Gebärmutter war bereits besetzt.

    Im «Toro»-Katalog präsentieren sich

    die Stiere. Die Bauern suchen so

    den Samenspender für ihre Kühe aus.

    Anna besitzt selber acht Kühe und vier Kälber der Rasse

    Red Angus. Hier mit Simba, drei Wochen alt, 70 Kilo schwer.

    Hygiene ist das A und O in diesem

    Beruf. Nach verrich-teter Arbeit spritzt Anna ihre Stiefel mit Wasser ab.

    «Läuft mir neun Monate später

    ‹mein› Kalb entgegen, ist das sehr berührend»