Madame Stahels langer Lauf - Gueti Gschichte · 2018. 6. 23. · Sogar ein Zielfoto existiert: die...

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SCHWEIZER ILLUSTRIERTE SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 56 57 Madame Stahels langer Lauf Dank Ingwertee und Yoga ist sie seit 1969 jedes Jahr am Start. Und längst ein Star. Heute läuft FRANÇOISE STAHEL, 80, ihren 50. Engadin Skimarathon. Die Französin aus Klosters GR über Pioniertage, Rüpel in der Loipe und stinkende Sportler. Star mit Stehplatz Françoise Stahel im Bus von St. Moritz nach Maloja, wo sich der Start des Engadiners befindet.

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Madame Stahelslanger Lauf

Dank Ingwertee und Yoga ist sie seit 1969 jedes Jahr am Start. Und längst ein Star. Heute läuft FRANÇOISE STAHEL, 80,

ihren 50. Engadin Skimarathon. Die Französin aus Klosters GR über Pioniertage, Rüpel in der Loipe und stinkende Sportler.

Star mit Stehplatz Françoise Stahel im Bus von St. Moritz nach Maloja, wo sich der Start des Engadiners befindet.

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Kerze im Schnee Yoga vor dem Langlauftraining. Immer dabei: Bonita, der denkbar unfolg-samste Hund.

Buntwäsche In einem Korb im Keller bewahrt Madame Ma-rathon alle ihre Start nummern seit 1969 auf.

Schreckmoment Mon Dieu, die Ski- jacke daheim verges-sen! Kollegin Vreni Roffler aus Pontre- sina leiht Françoise eine ihrer Jacken.

Chic in der Loipe Vom Ziel einlauf jedes Engadiners besitzt Françoise Stahel ein Foto. Andere Zeiten, andere Moden.

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TEXT MARCEL HUWYLER FOTOS KURT REICHENBACH

Schliesslich geht der Schnee gar in Regen über, zudem wird es unverfroren mild, neb lig, windig. Gru-

sig. «Nein, grossartig», findet Françoise Stahel, «denn ich bin wieder da!» Wieder – zum 50. Mal. Sie zupft an ihrer Startnummer mit der goldenen «50» und fin-gert an der zu grossen, schwar-zen Langlaufjacke herum, die sie heute Morgen notfallmässig von einer Kollegin ausleihen musste («Ich würde doch nie Schwarz tragen!»), weil sie ihre eigene lila Jacke daheim vergessen hatte.

Dann stösst sie sich mit den Stöcken ab, unerwartet energisch für eine 80-Jährige, blickt noch einmal zurück, ruft in ihrem fran-zösisch-bündnerischen Sprach-mix: «Adieu, wir sehen uns am

Die Tage unmittelbar vor dem Jubiläums-Engadiner sind für Françoise Stahel hektisch. Sie absolviert Trainingskilometer, nimmt Skating-Lektionen, lässt im Sportgeschäft die Ski wachsen und beim Coiffeur ihr Haar frisie-ren und tönen: «Schliesslich wol-len viele Medien etwas von mir, da will ich gepflegt ausschauen.»

Madame Stahel und die Mode. Ihre Zielfotos sind immer auch ein wenig Laufsteg. Sie bringt Chic auf die Langlaufbretter.

Brett-à-porter.1970 mit weisser Bändelikappe.

1972 mit Gagelfänger-Hose. 1979 mit Kopftuch. 1981 im dunkelrosa Skianzug. 1984 in Rot mit weissem Stirnband. 1988 alles in Hellblau. 1989 Dunkelgelb. 1990 Pink!

Der Langlaufsport habe sich in den 50 Jahren enorm verändert, sagt sie. Material, Technik, «und die Sportler sind heute viel athle-tischer und ästhetischer!». Sie er-

Ziel», skatet über den glasigen Schnee – und passiert die Start-linie. Es ist 8 Uhr 44 und 58 Se-kunden, der zweite Sonntag im März. Das ist der 50. Engadin Skimarathon. Das ist ihr 50. En-gadiner. Françoise Stahel läuft seit einem halben Jahrhundert.

Eine Woche zuvor. In ihrer Stube in Klosters GR kramt Madame Stahel in Erinnerungen, Zielfotos, Startnummern, alte Presseartikel. Sie erzählt von der Pionierzeit des Engadiners, 1969, als gerade mal 945 Langläufer erstmals an den Start in Maloja gingen, darunter 41 Frauen (mit ärztlichem Attest!). Für die Män-ner Ärgernis und Störfaktor: «Wir wurden belächelt, be-schimpft und in der Loipe ange-rempelt.» Und so ein Zipfelkap-penbartli mit roten Kniesocken habe am Start herumproletet: Sollte mich eine Frau überholen, höre ich mit diesem Sport auf !

innert sich an die Läufer der 1970er-Jahre, diese dürren Aske-ten – der Bart starr vom gefrore-nen Rotz, die Nierentasche gefüllt mit Körnlibrot –, die verbissen durch die Wälder jagten. «Lang-lauf war damals ein Sport für alte Männer, die nach Schweiss und Dulix stanken. Heute aber, ah, oui, all diese jungen Sportler tanzen förmlich über den Schnee, haben schöne Körper und Kleider. Und wie fein die duften!»

Schnee sieht die Französin zum allerersten Mal, als sie 22-jährig in die Schweiz reist. Am

Die Startnummer von damals besitzt Françoise Stahel noch im-mer, die 263, gelber Stoff, mit dem «Ziel erreicht»-Stempel besiegelt. Sogar ein Zielfoto existiert: die 31-jährige Françoise, lachend, mit offenem Haar, gwaggliger Hal-tung, klotzigen Holzski, die Stöcke mehr zur Balance denn als An-schubhilfe. «Ich hatte Kondi tion, aber null Technik.» Trotzdem wird sie beim ersten Engadiner Dritte – mit mehr als einer Stun-de Rückstand auf die Siegerin.

Seither ist sie immer mit dabei. Und mit ihr jeweils Jahr für Jahr ein paar tausend Volksläufer mehr. Der Engadiner boomt, 1976 laufen erstmals über zehntausend Sport-ler die 42 Kilometer. Vom Start über die zugefrorenen Oberengadiner Seen bis ins Ziel (ursprünglich in Zuoz, ab 1998 in S-chanf) geht es 150 Höhenmeter runter, manche verspotten sie drum als «längste Abfahrt der Welt».

13. Mai 1937 kommt sie als Fran-çoise Archambault im Gebiet der Loire-Schlösser in Frankreich zur Welt. Sie wächst während des Zweiten Weltkriegs auf, die Eisen-bahnlinie vor dem Elternhaus wird oft bombardiert.

Als junge Frau bewirbt sie sich auf ein Inserat aus der Schweiz. Das Hotel Chesa Grischuna in Klosters sucht eine Französisch sprechende Mitarbeiterin. Sie lernt in Klosters nicht nur ihren ersten Schnee, sondern auch ih-ren zukünftigen Mann kennen. Heirat, zwei Kinder, Mitarbeit im Treuhandbüro des Ehemannes. Viel Arbeit, viel Stress, «den Kopf lüften konnte ich nur auf meinen Langlauftouren», erzählt sie. Mit-te 70er-Jahre dann die Scheidung, gesundheitliche Probleme. Doch Françoise Stahel rappelt sich auf («geschieden und katholisch in Graubünden – nicht so einfach»), bildet sich weiter zur eidg. dipl.

Etwas Yoga vor dem Start

für die Giubilers

Luft holen Die Jubilar-Läufer beim Yoga. 12 Män-ner und Françoise sind sämtliche En-gadiner gelaufen.

Madame im Fokus Alle Giubilers, die Läufer mit 40 und mehr Engadinern, treffen sich im Ho-tel Maloja Palace.

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Das Wetter ist grusig.

Die Stimmung grandios

Ab ins Nichts Die Sportler wer-den vom Nebel verschluckt, als tauchten sie in Bündner Gers-tensuppe unter.

Letzter Check Françoise mit der Jubiläums-Startnummer 50. In einer se-paraten Gitter-box wartet sie auf ihren Start.

Die Masse 13 254 Sportler am Start. Im-merhin gibt man sich, so zusammen-gepfercht, ge-genseitig warm.

Juxlangläufer Eine als Mexi-kaner kostü-mierte Gruppe nimmt Madame Stahel in ihre Mitte und feiert sie gebührend.

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Buchhalterin, baut ihr eigenes Treuhandbüro auf, vermittelt Fe-rienhäuser an Kunden aus aller Welt. Namhafte Kunden.

In der einen Stubenecke steht ein orangengrosser Bronzekopf des britischen Kult-Premiers Winston Churchill («sein Enkel ist mein Kunde»), und als sie im Keller den Wäschekorb voller alter Engadiner-Startnummern hervorkramt und dazu erst eine Kiste Edel-Champagner von Moët & Chandon herumschieben muss, murmelt sie etwas von ihrem gu-ten, alten Bekannten Chandon, der sich amüsieren würde, wenn er sie jetzt so sähe.

Madame Stahel, eine Frau von Welt – und Weltmeisterin: Keine Frau hat den Engadin Skimara-thon öfter bestritten. Schweiz Tourismus wirbt mit ihr als «die stille französische Revolution». Und Langlauf-Star Dario Colo gna staunt auf Youtube: «50-mal den

Und dann, noch vor dem Enga-din Marathon, beginnt Madame Stahels Promi-Marathon. Bereits im 6-Uhr-28-Zug nach St. Moritz gehts los: Tschuldigung, sind Sie nicht …? Und jeder will ein Selfie mit ihr. Noch arger im Sonderbus von St. Moritz nach Maloja: Small Talk und Selfies mit Marathon-madame gibts trotz Riesenge-dränge. Sie atmet tief durch und lächelt. «Riechen Sie es? Das ha-be ich gemeint: Die Sportler von heute duften alle so fein.»

Im Hotel Maloja Palace tref-fen sich die Giubilers. Man kennt sich, herzt sich, freut sich. Anek-doten, Bananen und die neuesten Altersgebrechengeschichten wer-den ausgetauscht. Françoises Yo-ga-Lehrerin erscheint und leitet die angejahrte Gruppe zu Atem-übungen an. Dann ziehen die Giu bilers los, mit gerecktem Kinn, der Entschlossenheit von Gla-diatoren, die Ski unter den Arm

Engadiner – unglaublich. Und sie ist noch top zwäg. Ich hoffe, dass ich mit 80 auch noch dabei bin.» Ihr Geheimnis, sagt Ma-dame Stahel, heisse Ingwertee und Yoga. Als sie zur Begrüssung die klamme Hand des Fotografen schüttelt, empfiehlt sie ihm «20-mal die Yoga-Übung Sonnen-gruss, dann haben Sie warm». Sie selber werde am Sonntag, vor dem Start, mit Yoga-Atemübun-gen ihre Nervosität behandeln.

14 278 Sportler aus 76 Ländern haben sich zum 50. Engadin Ski-marathon angemeldet. Besonders

geklemmt, als trügen sie ein Ba-guette aus Françoises Heimat, trippeln sie mit ihren Langlauf-schuhen zum Start. Selbst hier wird Madame Stahel erkannt, Applaus – und wieder will jeder ein Selfie mit ihr. Eine als Mexi-kaner verkleidete Gruppe ernennt sie spontan zum Ehrenmitglied.

Abertausende Langläufer auf einem Haufen – eine einzigartige, erstaunlich artige Atmosphäre: sportliches Drängeln, faires Rem-peln. Eine Stimmung zwischen Eidgenössischem Turnfest, mit-telalterlichem Schlachtfeld und Oktoberfest. Manch einer hofft, mit dem richtigen Wachs heute über sich hinauszuwachsen.

Um 8 Uhr 44 und 58 Sekun-den startet Françoise Stahel. Als Giubiler darf sie aus einem separaten Sektor loslaufen, wäh-rend die grosse Herde gestaffelte Massenstarts aus käfigartigen Sektoren hat. «Das lange Gleiten

flattiert wird den Giubilers, den Jubilaren. Wer 40 oder mehr Teil-nahmen verzeichnet, darf sich mit diesem Titel schmücken. Die am meisten jubilierenden Giubilers sind jene, welche alle 49 Enga-diner gelaufen sind. 13 von ihnen sind heute am Start, 12 Männer – und Françoise. Die hat in ihrem Leben nie halbe Sachen gemacht, trotzdem startet sie heute zum Halbmarathon. «Ich könnte die ganzen 42 Kilometer bewältigen, hätte aber wohl zu lange.»

Dann ist der Tag da. Morgens um fünf Uhr ist Françoise schon in heller Aufregung. Sie hat bei ihrer Kollegin Vreni in Pontre-sina übernachtet, nahe beim Ziel-gelände, und eben gemerkt, dass sie ihre Langlaufjacke daheim in Klosters vergessen hat. Vreni beruhigt ihre Kollegin, indem sie ihr eine schwarze Jacke ausleiht und eine Portion Porridge mit Zimtzucker zum Zmorge serviert.

durch diese Weite ist Meditation», frohlockt Madame Engadiner. Wichtig beim Rennen sei, tief aus-zuatmen: «Sowieso im Leben: im-mer tief ausatmen! Und gnüsse, gnüsse …» Dann verschwindet sie im Nebel, als tauche sie in einer Bündner Gerstensuppe unter.

2 Stunden 16 Minuten 26 Se-kunden später läuft sie beim Halbmarathon-Finish Pontresina durchs Ziel. Als Erste! Françoise Stahel gewinnt in ihrer Kategorie «Frauen Jahrgang 1937 und älter».

Sie ist die einzige Teilnehmerin in dieser Kategorie.

Ein Selfie mit Madame

Engadiner

Sind Sie nicht diese …? Auch im Sonder- zug wird Fran- çoise erkannt. Und um ein Selfie gebeten.

Dame mit Biss Im Zielraum des Halb marathons in Pon tresina. Wer den Engadi-ner beendet, er-hält eine Medaille.

Ihr Allererster Zielfoto von damals: März 1969, Françoise Stahel (Mitte), 31-jährig, be-endet den ers-ten Engadiner.

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