Tragödie - Gueti Gschichte · Geschichten schrieb und Land, Leute und ihr Denken prägte – bis...

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36 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE Tod im Em mental EIN EIGENBRÖTLER TÖTET EINEN POLIZISTE N. In den Wohngemeinden der beiden Männer versuchen die Nachbarn zu verstehen, was passiert ist. Ein Drama wie aus einem Gotthelf-Roman – nur bitterer und wahr. Das Dorf Schafhausen BE Hier wohnt der 35-jährige Roger F. Der arbeitslose Strassen- bauer zahlt nie Miete, darum soll seine Wohnung zwangsgeräumt werden. Als die Polizeibeamten kommen, schiesst er. Das Dorf Heimiswil Hier lebt Polizist Hans- ruedi K., 39, mit seiner Familie. Im Nachbarort Schafhausen begleitet er die Zwangsräumung bei Roger F. Dieser schiesst auf ihn, Hansruedi K. verblutet noch am Tatort. TRAGÖDIE

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Tod im EmmentalEin EigEnbrötlEr tötEt EinEn PolizistE n. In den Wohngemeinden der beiden Männer versuchen die Nachbarn zu verstehen, was passiert ist. Ein Drama wie aus einem Gotthelf-Roman – nur bitterer und wahr.

Das Dorf Schafhausen BE Hier wohnt der 35-jährige Roger F. Der arbeitslose Strassen-bauer zahlt nie Miete, darum soll seine Wohnung zwangsgeräumt werden. Als die Polizeibeamten kommen, schiesst er.

Das Dorf Heimiswil Hier lebt Polizist Hans-ruedi K., 39, mit seiner Familie. Im Nachbarort Schafhausen begleitet er die Zwangsräumung bei Roger F. Dieser schiesst auf ihn, Hansruedi K. verblutet noch am Tatort.

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Der Tatort In diesem Haus in Schaf-hausen lebte der Täter. Auf dem Brief-kasten klebt ein Verbot für «Lettre Signature», ein-geschriebene Post.

Text MarcEl HuwylEr Fotos Kurt rEicHEnbacH

Doch nicht bei uns! In den grossen Orten vielleicht, in Bern, Zürich oder Langnau. Aber doch nicht

hier im Emmental! Es sei schon «eigelig», sagen die Menschen, wenn so etwas Furchtbares nicht bloss in den Medien geschehe, weit weg, sondern im eigenen Dorf. In der kleinen Berner Gemeinde Heimiswil kennen alle den getöteten Polizisten; im noch kleineren Schafhau­sen ist jeder ein Nachbar des Täters.

Dazwischen liegt die Ortschaft Lützel­flüh, da, wo der Bauerndichter Jeremias Gotthelf vor 170 Jahren seine wuchtigen Geschichten schrieb und Land, Leute und ihr Denken prägte – bis zum heuti­gen Tag. «Der Mensch», notierte Gott­helf einst, «kennt alle Dinge der Erde, aber den Menschen kennt er nicht.» Keiner im Emmental kennt wirklich alle Gründe, warum Roger F. auf den Polizisten Hansruedi K. schoss und ihn tötete. Ein Opfer, ein Täter, zwei Dörfer.

Der Schmerz der Kollegen Polizisten zünden Kerzen an, tragen schwarze Armbinden, gedenken Hansruedi K.

Licht in dunklen Zeiten Vor dem Posten in Rüegsauschachen, wo der getötete Hans-ruedi K. Wachtchef war, trauern Angehörige der Berner Kantonspolizei.

Kein Gotthelf­Drama, sondern eine wahre Tragödie.

Am Dienstagmorgen, dem 24. Mai 2011, haben zwei Berner Kantonspoli­zisten und ein Betreibungsweibel den Auftrag, im Dorfteil Schafhausen die zwangsweise Räumung einer Wohnung durchzuführen. Roger F., der 35­jährige Mieter, schiesst auf die Männer und ver­letzt Polizist Hansruedi K., wohnhaft im nahen Heimiswil, tödlich. Eine Patrouille kann den Schützen später verhaften.

«seit diesem schwarzen tag», sagt Walter Scheidegger, 55, Präsident der Gemeinde Hasle, zu der auch Schaf­hausen gehört, «sind unsere Einwohner leise, bedrückt, und niemand lacht mehr auf der Strasse.» Seine Amtskollegin im benachbarten Ort Heimiswil, Erika Leuenberger, 46, spricht von «Leuten mit Tränen in den Augen», von Sprach­losigkeit, Trauer und davon, wie un­glaublich schwer es allen im Dorf falle, zu akzeptieren, «dass jemand, der ein­fach nur seine Arbeit korrekt ausführt, so unverhofft attackiert und getötet wird».

Heimiswil ist ein ruhiges Dorf. Heute ist es viel zu still. Typisch Emmental, die sanften Hügelkuppen mit der obligaten Linde, die mordsmässigen Brunnen, aus einem einzigen Steinblock gemeisselt, und die üppigen Bauernhäuser mit bis fast auf den Boden lappenden Walm­dächern. 1641 Menschen leben hier, und in einigen der über hundert Land­wirtschaftsbetriebe können Besucher «Ferien auf dem Bauernhof» geniessen oder «Schlafen im Bio­Kräuterheu». Fürst Rainier von Monaco war einst hier, Adolf Ogi auch. Auf dem Dorfplatz spie­len Buben mit einem Lämmchen, und ein gelbes Plakat verkündet, dass die Ober­stufe heute Abend das Schultheater «Heiri vom Mars» aufführt. Die Kinder können einem leidtun.

Der landgasthof löwen ist so etwas wie die Trutzburg, das Herz von Heimiswil. Hier wurden 1954 Teile des Gotthelf­Films «Uli der Knecht» ge­dreht, die Szene beispielsweise, wie die Glunggenbäuerin die Ehe von Vreneli und Ueli einfädelt und den «Gstabi» zu

einem «Müntschi» drängt. Morgens um neun sitzen die Heimiswiler an den Holz­tischen und nippen an ihrem Kaffee. Und sagen kein Wort. Jeder kennt Hansruedi K., den toten Polizisten. Jeder weiss, dass er eine MS­kranke Frau im Rollstuhl daheim hat und zwei Meitli, neun­ und elfjährig. Hansruedi, der im Turnverein mitmachte und bei den Schützen. Eine Frau – sie will ja eigentlich gar nichts sagen – erinnert sich an «Hansruedis schöne Stimme», andere erwähnen seinen trockenen Humor, die liebens­würdige Art, und immer wieder fallen die Worte «gmögig» und «gäbig».

In der Dorfkirche hängt eine Tafel mit Liednummern aus dem Kirchen­gesangbuch, die man im letzten Gottes­dienst anstimmte. Als die Welt noch gut, Heimiswil heil und Gott gerecht war. Nummer 828: «Gib uns Frieden jeden Tag. Lass uns nicht allein.» Der Choral von gestern wird plötzlich zum Bitt­gesang eines ganzen Dorfes.

Der täter wohnte acht Kilome-ter weiter südlich, ennet der Emme, im Dorf Schafhausen. Im Parterre des dreistöckigen Hauses an der Thunstras­se 56 lebte Roger F. seit zwei Jahren. Und zahlte keine Miete. Darum sollte es ja zur Zwangsräumung kommen. Der 35­Jährige, bekannt im Ort als Eigen­brötler, als unzuverlässiger, «lamaschi­ger», aber im Grunde friedlicher Kerl, hat an seinen Briefkasten ein selbst ge­maltes Verbotsschild geklebt. «Lettre Signature», steht drauf, «eingeschriebene

Post» unerwünscht. Roger F. wollte mit niemandem etwas zu tun haben – schon gar nicht mit den Behörden. Dem arbeitslosen Strassenbauer wurden von Hornusser­Kollegen immer wieder Jobs angeboten, «doch er hat morgens halt lieber ausgeschlafen», erzählt einer, der es mehrmals «mit ihm versucht» hat.

obwohl erst Ende Mai, ist es drü­ckend heiss. Die Luft in Schafhausen flimmert und trübt den Blick auf den Tatort – als wärs ein Versuch, zu ver­schleiern, dass hier Böses geschehen ist. Doch nicht hier! Doch nicht bei uns! Gut 200 Telefonanschlüsse sind in Schaf­hausen registriert, mitten durchs Dorf plätschert der Biglenbach, und am munzigen Bahnhof wirbt ein Plakat, «Ur­dinkel, das wertvollste Getreide», mit einem Schwarz­Weiss­Foto von Hannes Schmidhauser und Lilo Pulver, Ueli und Vreneli aus dem Gotthelf­Film.

Auch in Schafhausen fühlt man den Puls der Gemeinde am eindrücklichsten in der Dorfbeiz. Im Landgasthof Zum Rössli – Fachwerk, Geranien, Walmdach – gibts nebst chüschtiger Kulinarik auch Murmeli­Kräutersalbe zu kaufen, Bie­nenhonig und Villiger­Krumme. Ein paar Einheimische sitzen beim Znüni, alle über eine Zeitung gebeugt, und ver­schlingen Berichte wie «Das Todeshaus im Emmental» oder «Nachbarn spre­chen über den Todesschützen». Ab und zu hebt einer den Kopf, sagt «Lue, dis Huus isch uf em Foti» oder noch viel öfter «So ne Seich». Alle kennen Roger F.,

Die Nachbarn Das Ehepaar Käthi und Christian Brand haben die Tragödie miterlebt. Jetzt wünschen sie sich wieder «Ruhe und Frieden im Dorf».

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Schockiert «Ich meinte immer, hier auf dem Land sei das Zusam-menleben noch friedlich»

alle wissen, dass es mit ihm «nitzi» ging, alle sahen ihn schon herumsaufen, kei­ner hätte ihm die Tat zugetraut. Und: Man will jetzt wieder Ruhe im Dorf.

Den normalen, friedlichen Alltag will man zurück, bitte! Und alle geben sich Mühe: Bei Coiffeure Regula, vis­à­vis vom Täterhaus, wird einer Kundin das Haar schamponiert, der Wander­Weg­weiser lädt ein zu Spaziergängen nach

friedlich klingenden Orten wie Wägesse und Äbeläng, und auch das Rentnerpaar Käthi und Christian Brand, Nachbarn von Roger F., beide 78, während Tagen Auskunftspersonen Nummer eins für alle Medien, haben genug «vo dem Gstürm» und plaudern heute lieber über ihre Pfingstrosen im Garten und den Sohn, der auf Montage sei in Schanghai. Die Schafhauser sind es leid, das Böse im

Dorf zu haben. In einem Garten neben dem Täterhaus trocknet Wäsche an der Leine. Fast unanständig fröhlich flattern die Tücher im Wind, rein, blütenweiss, unschuldig weiss – wie zum Trotz.

Hansruedi K. ist seit über 50 Jahren der erste Berner Polizist, der im Dienst getötet wird. Seine Kollegen tra­gen schwarze Armbinden, vor seinem Büro, bei der Wache Rüegsauschachen, werden Hunderte Kerzen angezündet und Gedenkminuten eingelegt. Polizis­tinnen schluchzen, Grenadiere beissen sich auf die Lippen, gestandene Krimi­naler tragen Sonnenbrillen. Ein Beamter hat auf ein Schild geschrieben «Stopp der Gewalt gegen die Polizei».

Am Dienstag dieser Woche findet in Heimiswil die Trauerfeier für Hansruedi K. statt. Auch viele Schafhauser haben ihr Kommen angekündigt. Zwei Dörfer – eine einzige grosse Fassungslosigkeit. Man rückt zusammen, versucht gemein­sam, zu verstehen, was passiert ist. Has­les Gemeindepräsident Walter Scheid ­eg ger sagt, was viele denken: «Ich habe immer gemeint, auf dem Land sei das Zu­sammenleben noch einfacher und fried­licher …» Doch nicht hier. Doch nicht bei uns! Ausgerechnet im Emmental!

Die Menschen verehren ihren Gotthelf noch immer. Landtheater spie­len Stücke des Meisters, seine Sprüche und Weisheiten hängen überall, meist in Holz geschnitzt, in Beizen, an Weg­kreuzen, über Hauseingängen. Gotthelf wusste damals, was der Mensch braucht, seine alten Worte trösten auch heute: «Ein einziger Blick, aus dem Liebe spricht, gibt der Seele Kraft.»

Walter Scheidegger, 55, Präsident von Hasle, zu dem auch Schafhausen gehört.

Erika Leuenberger, 46, Gemeinderatspräsi-dentin von Heimiswil.

Sprachlos «Jemand, der doch nur seine Arbeit korrekt ausführt, wird attackiert und getötet»

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