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Annäherung zum Thema Personsein und Würde aus der Sicht der Existenzanalyse. Eine Betrachtung ausgehend von dem Buch „Engel des Vergessens“ von Maja Haderlap Abschlussarbeit für die fachspezifische Ausbildung in Existenzanalyse verfasst von: Frau Mag. Andrea Kolbe-Karall Wien, August 2014 eingereicht bei: Frau Dr. Liselotte Tutsch Frau Mag. Karin Steinert

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Annäherung zum Thema Personsein und Würde aus der

Sicht der Existenzanalyse.

Eine Betrachtung ausgehend von dem Buch „Engel des Vergessens“ von

Maja Haderlap

Abschlussarbeit für die fachspezifische Ausbildung

in Existenzanalyse

verfasst von:

Frau Mag. Andrea Kolbe-Karall

Wien, August 2014

eingereicht bei:

Frau Dr. Liselotte Tutsch

Frau Mag. Karin Steinert

 

 

 

 

 

 

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Zusammenfassung:

Diese Arbeit stellt eine Annäherung an ein expliziteres Verständnis des

Begriffes Würde und Personsein dar. Am Beginn wird erörtert, ob die

Würde des Menschen eher als ein Wesensmerkmal oder eine Art zu leben,

sich verhalten, verstanden werden kann. Ausgehend von

unterschiedlichen Definitionen der Würde wird den Fragen nachgegangen,

worin wir Menschen selbst in unserer Würde angefragt sind bzw. ob es so

etwas wie einen Würdezuwachs auf personaler und gesellschaftlicher

Ebene gibt. Die ausgewählten Textbeispiele aus dem Buch „Engel des

Vergessens“ verdeutlichen die Verletzlichkeit von uns Menschen

bezugnehmend auf das Thema Personsein und Würde aus der Sicht der

Existenzanalyse. Den Abschluss bilden Kriterien einer würdeorientierten

Psychotherapie nach Reddemann.

Schlüsselwörter: Existenzanalyse, Personsein, Scham, Verletzlichkeit, Würde

Abstract:

This paper presents an approach to a more explicit understanding of the

concept of dignity and personhood. It starts with a discussion of whether

human dignity can be understood as an intrinsic characteristic rather than

a way of life, a mode of behaviour. On the basis of different definitions of

dignity the paper explores the issue of contexts in which our dignity as

human beings is addressed and also whether there is such a thing as an

increase in dignity on a personal and societal level.

The sample texts chosen from the book “Engel des Vergessens” (Angel of

Forgetfulness) by Maja Haderlap illustrate the vulnerability of human

personhood and dignity from the perspective of existential analysis.

The final part gives an overview of the criteria of dignity therapy according to Reddemann.

Key words: Existential analysis, personhood, shame, vulnerability, dignity

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I N H A L T S V E R Z E I C H N I S

ABSTRACT

BEWEGGRUND UND ANLIEGEN 1

THEORETISCHE AUSFÜHRUNGEN

1. Autorin und Aufbau des Buches 3

1.1. Zur Autorin – Maja Haderlap 3

1.1.1. Selbstdistanzierung durch Schreiben 4

1.1.2. Selbstdistanzierung durch Sprache 5

1.2. Zum Buch selbst – Inhalt 6

1.3. Aufbau 7

2. Zum Begriff Menschenwürde 8

2.1. Theoretische Annäherung 8

2.2. Existenzanalyse und Würdebegriff 10

2.2.1. Person – Würde 10

2.2.2. Personsein als prozessualer Akt und aktiver Anteil der Würde 11

2.2.3. Die Verletzlichkeit und der mögliche passive Anteil der Würde 13

2.2.4. Würdeverletzungen und Selbstwert 14

2.2.5. Würdeverletzungen und Scham 16

3. Ausgewählte Beispiele aus dem Buch „Engel des

Vergessens“ und Annäherung an die Zusammenhänge 17

3.1. Frau Maria Haderlap - Großmutter Mitzi 18

3.1.1. Objekt – Würde – Integrität 18

3.1.2. Personsein – Würde 19

3.2. Herr Zdravko Haderlap - Vater Zdravko 21

3.2.1. Trauma – Selbstwert – Würde 22

3.2.2. Menschsein – Würde 23

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4. Würde und Gesellschaft 24

5. Grundprinzipien einer würdeorientierten Therapie

für Menschen mit Traumata nach Reddemann 28

5.1. Würde – Psychotherapie 28

5.2. Würde und Traumatherapie 29

6. Zusammenfassung 32

7. Literaturverzeichnis 34

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Beweggrund und Anliegen: 1

Die Basis für diese Arbeit legt der Roman „Engel des Vergessens“ von

Maja Haderlap. Sie wurde für das Kapitel „Im Kessel“ im Juli 2011 mit

dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Die daraufhin zahlreich

einsetzenden Diskussionen und die darüber gelesen Rezensionen regten

mich an, den Roman kurze Zeit später zu lesen. Berührt und betroffen

vom seelischen Leid der beschriebenen Personen, den Geschehnissen im

Buch und meiner eigenen familiären Geschichte, stellte sich für mich beim

Lesen immer wieder die Frage nach der Würde des Menschen, obwohl das

Thema Würde explizit im Buch nicht behandelt wurde. Das Thema ließ

mich seither nicht mehr los. Erstaunt über das Phänomen meines

anscheinenden Selbstverständnisses dieses Begriffes nahm ich weiter

wahr, dass in meinem beruflichen Kontext als Psychotherapeutin und

Pädagogin der Wert der Würde im Umgang mit Menschen bei

Entscheidungen und Handlungen wohl mitgedacht, kaum jedoch offen

darüber gesprochen wird. Ebenso erschien es mir, dass wir uns auch im

Rahmen der fachspezifischen Ausbildung mit diesem Thema eher implizit

als explizit beschäftigt hatten. Im Lexikon der Existenzanalyse und

Logotherapie ist der Wert der Würde als eigenständiger Begriff nicht

definiert.

Dieses Erleben und mein besseres Verstehenwollen waren die Basis für die

Entscheidung, mich im Rahmen meiner fachlichen Abschlussarbeit mit

dem Thema der Würde am Beispiel des Romans „Engel des Vergessens“

aus der Sicht der Existenzanalyse auseinanderzusetzen.

Die vorliegende Arbeit möchte dazu anregen, sich selbst weiter mit dem

Thema Würde allgemein, als auch mit Würde in Bezug zur Psychotherapie

zu beschäftigen, um das oftmals intuitive Verständnis, die

stillschweigenden Meinungen, die wir über dieses Phänomen haben,

fassbarer, letztlich verstehbarer zu machen. Dies kann in der

existenzanalytischen Arbeit helfen, achtsamer und präsenter zu sein, was

ein würdevolles Handeln in der Psychotherapie voraussetzt.

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Im ersten Teil der Arbeit werde ich kurz die Autorin vorstellen und den

Inhalt bzw. Aufbau des Romans „Engel des Vergessens“ zusammenfassen.

Der zweite Teil der Arbeit beschäftigt sich mit der sokratischen Frage „Was

ist etwas?“ in Bezug zum Thema Würde. Lässt sich Würde definieren? Ist

die Würde ein Wesensmerkmal des Menschen oder eher eine Lebensform?

Worin ist die Würde des Menschen in der Existenzanalyse verankert?

Der dritte Teil der Arbeit beschäftigt sich mit den Protagonisten im Buch

„Engel des Vergessens“. Es sind Menschen mit schweren primären und

sekundären Traumata. Ich werde an ausgewählten Beispielen den

Zusammenhang zwischen seelischen Verletzungen am Beispiel der Würde

und existenzieller Lebensgestaltung nachvollziehen bzw. die Auswirkungen

auf die Lebensgestaltung der einzelnen Personen verständlich machen.

Dabei versuche ich der Frage nach der Bewahrung der Würde

nachzugehen. Gibt es neben dem Würdeverlust auch so etwas wie einen

Würdezuwachs auf personaler Ebene? Worin sind wir als Menschen selbst

angefragt?

Der vierte Teil der Arbeit befasst sich mit dem Thema Würde und

Gesellschaft. Hat der Roman von Maja Haderlap durch das „in die Welt

bringen - zur Sprache kommen" von historischen Geschehnissen auch

eine Bedeutung im Kontext der Würde einer Gesellschaft? Was teilt

Sprache mit?

Der fünfte Teil der Arbeit beschäftigt sich mit den Grundprinzipien einer

würdeorientierten Therapie für Menschen, die Traumata erlitten haben.

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1. Autorin und Inhalt des Buches 3

1.1. Zur Autorin - Maja Haderlap (geb. 1960)

Bei der Vorstellung der Autorin geht es mir nicht um eine vollständige

Biografie bzw. um erhaltene Auszeichnungen von Maja Haderlap, eher um

Eckdaten und mögliche wesentliche Elemente in ihrem Gewordensein. Ich

beschränke mich in diesem Kapitel auf „die Sprache und das Schreiben“

an sich.

Maja Haderlap wurde 1961 in Bad Eisenkappel / Železna Kapla geboren.

Sie gehört zur slowenischen Minderheit Kärntens. Heute lebt sie als freie

Schriftstellerin in Klagenfurt.

Ihre Muttersprache ist Slowenisch und „sie hat erst in der Schule Deutsch

gelernt“. (Kerbler 2013, Im Gespräch 09.10.2010, eigene Mitschrift) Nach

dem Besuch der Volksschule und der Matura absolvierte sie das Studium

der Theaterwissenschaften und der Deutschen Philologie an der

Universität Wien. Unter anderem war sie 15 Jahre Chefdramaturgin am

Stadttheater Klagenfurt und Übersetzerin vom Slowenischen ins Deutsche.

Seit den 1980er Jahren veröffentlichte sie Gedichtbände – auf Slowenisch.

Doch den Roman Engel des Vergessens, „hat sie bewusst in ihrer 'zweiten'

Sprache, geschrieben“. (Kerbler 2013, Im Gespräch 09.10.2010, eigene

Mitschrift) Das Deutsch habe ihr die nötige Distanz zu ihrem „ratlosen

Kreisen in der Familienvergangenheit“ (Haderlap 2012, 280) ermöglicht,

die sie gebraucht habe. „Weil Großmutter mein Kindheitsstock ist, an dem

ich mich festhalte.“ (Haderlap 2012, 13) In dieser Familiengeschichte

beschreibt sie den Widerstand der Kärntner Slowenen gegen den

Nationalsozialismus. Diese Geschichte begleitete und beschäftigte sie ihr

Leben lang. „Die Schutzbarrieren, die ich zwischen mir und meiner Familie

aufzuschichten versuchte, brechen erneut ein. Einen Moment lang fürchte

ich, vom Vergangenen gänzlich überrollt zu werden, mich unter seinem

Gewicht zu verlieren. Dann beschließe ich, das Versprengte, Erinnerte und

das Erzählte, das Anwesende und Abwesende in eine geschriebene Form

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zu bringen, mich aus dem Gedächtnis neu zu entwerfen, mir einen Körper

zu erschreiben…“ (Haderlap 2012, 282)

1.1.1. Selbstdistanzierung durch Schreiben

Der zitierte Textauszug ist auf einer der letzten Seiten des Buches zu

finden, als die Autorin das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück

besucht, um von diesem Ort, den sie glaubt zu kennen, Abschied zu

nehmen. Diese Zeilen bezeichnen den Beginn eines Prozesses, dessen

Ende der Roman „Engel des Vergessens“ darstellt.

Ich habe den Textauszug aus dem Buch gewählt, da er die

Existenzanalyse als eine individualisierende Psychotherapie, welche auf

einer phänomenologischen Vorgangsweise beruht, verdeutlicht. Aus dieser

Sicht beschreibt die Autorin ihr personales Erleben der Furcht, welche sie

in diesem Augenblick empfindet, nämlich vor dem erneuten Einbrechen

der Schutzbarrieren zwischen ihr und ihrer Familie. Sie fühlt sie so tief,

dass sie fürchtet, von der Vergangenheit gänzlich überrollt zu werden.

Dieses Erleben, sich in der Situation zu erfahren und sich im emotionalen

Erleben fassen zu können, verankert eine Phänomenologie nach innen

hin, ist die Grundlage für ihre authentische Stellungnahme. Der

Textauszug verdeutlicht, dass sie sich dafür entscheidet, das Versprengte,

Erinnerte, Erzählte, Anwesende und Abwesende in eine geschriebene Form

zu bringen, sich aus dem Gedächtnis neu zu entwerfen, sich einen Körper

zu erschreiben. Diese personale Entscheidung verhilft zu einem Tun-

Können – in ihrem Fall zum Schreiben des Buches. „Ich werde den Engel

des Vergessens nicht zu Gesicht bekommen. Er wird keine Gestalt haben.

Er wird in Büchern verschwinden. Er wird eine Erzählung sein.“ (Haderlap

2012, 287) Das Buch, das Schreiben, stellt somit den integrativen

Prozess der eigenen Geschichte nach Innen hin (Intrapersonal) dar. Es

verdeutlicht nach Außen (Interpersonal) hin den Weltbezug, ein zu sich

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Stehen und sich wieder hin zur Welt Öffnen. Die Autorin war 50 Jahre alt,

als der Roman veröffentlicht wurde.

1.1.2. Selbstdistanzierung durch Sprache

Zur Sprache ist mir wichtig festzuhalten, dass die bewusst gewählte

deutsche Sprache hier für Maja Haderlap eine Selbstdistanzierung

darstellt. Die Fähigkeit des Ichs, zu sich selbst, zum eigenen Geworden=

sein auf Distanz zu kommen. Durch das Abrücken von sich, in diesem Fall

von der Muttersprache, die ihre emotionale Sprache, „Herzenssprache“

darstellt, in welcher sie verwurzelt ist, welche ihre Intimität darstellt,

entsteht ein Freiraum, ein Mit-sich-selbst-umgehen-Können, also die

Anwendung des Personseins sich selbst gegenüber, wird möglich. Dies

wäre hier das Ringen um Worte und Geschichte eben in Deutsch – die

Distanz zum realen Ort als Bedingung einer Ortsvorstellung im

Imaginären. Der Prozess der Selbstdistanzierung geschieht im

Wahrnehmen und Fühlen - im Sinne von sich nicht zu übergehen, sich zu

fassen und sich anzunehmen, jedoch sich emotionalen Teilen nicht

auszuliefern. Dabei hilft ihr die „zweite“ Sprache, welche zusätzlich auch

eine kathartische Funktion hat. Sie ermöglicht die Distanz, aus der das

bewusste Beurteilen und Entscheiden dessen, was wie und mit welchen

Worten niedergeschrieben werden soll. Eine Reflexion wird möglich. Der

handelnde Anteil, die Ausführung der Selbstdistanzierung, wäre dann das

Schreiben des Buches selbst, die Praxis.

Selbstdistanzierung durch Sprache ist bei diesem Beispiel ein situatives

Erfordernis, eine Umgangsform mit dem Ziel, sich selbst über die zweite

Sprache in der Familiengeschichte zu fassen, um sich bei sich wieder

einzufinden und wiederzuerkennen.

Während des Gespräches von Maja Haderlap und Michael Kerbler

(9.10.2012, Nationalratssitzungssaal, Wien) erwähnte sie, dass sie, die

damals seit kurzem erschienene slowenische Übersetzung des Buches,

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zunächst nur seitenweise lesen konnte, da sie sich sofort emotional

hineingezogen gefühlt und mittendrin gestanden wäre. Zusammenfassend

verstehe ich das so, dass erst über die sprachliche Selbstdistanzierung das

Schreiben des Buches möglich war. Manche Bücher brauchen Zeit. Sie

schreiben sich nicht von einem bestimmten Datum her, sondern von

einem Beweggrund aus Leiderfahrung. Eigenes geht verloren oder droht

verloren zu gehen, durch die Zerstörung der Integrität, und aufgrund des

Schmerzes entsteht ein Anstoß, dagegen etwas zu unternehmen, um die

Ganzheit wieder herzustellen. Im Buch „Engel des Vergessens“ haben

Privates und Politisches einen Platz (John 2012).

1.2. Zum Buch selbst – Inhalt

Der Roman ist autobiografisch und hat drei Teile. Faktisch erzählt Maja

Haderlap die Geschichte eines heranwachsenden Mädchens – welche im

Kindesalter mit acht Jahren beginnt und bis ins 41. Lebensjahr reicht –

dem Jahr 2003, als sie das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück

besucht. Jenem Ort „der in der Großmutter wirkte, in dessen Magnetfeld

sie lebte, an dem sie sich orientierte, der sie bestimmte und ihre

Empfindungen an sich zog“. (Haderlap 2011, 285-286)

Der Roman erzählt jedoch gleichzeitig die Geschichte eines Kindes, einer

Familie und zugleich stellvertretend dafür die Geschichte eines Volkes, der

Slowenen in Kärnten, deren Widerstand gegen den Nationalsozialismus,

von Inhaftierungen, Folterungen, Ermordungen slowenisch sprechender

Österreicher, von Verschleppungen in Konzentrationslager und von der

Verdrängung des Themas nach 1945. Also insgesamt eine Geschichte

schwerer „man made“ zugefügter primärer und sekundärer Traumata und

deren Auswirkung auf die Menschen in erster und zweiter Generation.

Existenziell gesehen - auf ihre Lebensgestaltung, in Bezug auf die Frage

nach dem Sinn und der Erhaltung der Würde. Die Sprache im Buch ist

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nicht anklagend - aus ihr spricht ein fühlbarer Schmerz, der bis in die

Gegenwart hineinreicht.

1.3. Aufbau

Der erste Teil erzählt die Kindheit der Erzählerin in den 1960er und

1970er Jahren und umfasst ca. die Hälfte des Buches. Er endet mit dem

Tod der Großmutter im Jahre 1975. Das Mädchen ist ca. 14 Jahre alt.

Der zweite Teil beschäftigt sich mit dem Leben nach Großmutters Tod. Der

Vater tritt immer mehr in den Vordergrund. Das Mädchen besucht

zunächst in Klagenfurt das Gymnasium, geht dann nach Wien, um

Theaterwissenschaften zu studieren und nach Ljubljana, wo sie sich

aufhält, als der Krieg in Jugoslawien 1991 ausbricht. Es löst sich von

seiner beklemmenden Umgebung ihrer Heimat. Mit dem Beginn des

Krieges werden die Wunden, die der Partisanenkrieg im Zweiten Weltkrieg

hinterlassen hat, wieder aufgerissen.

Der dritte Teil thematisiert den Jugoslawien-Krieg (1990er Jahre) und die

Heimkehr der Überlebenden nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Vater

nimmt wieder einen wesentlichen Platz ein. Sie durchläuft das Leben des

Vaters als eine Rückschau auf die Vergangenheit. Ebenso geht sie zurück

in die Zeit vor ihrer Zeit und durchschreitet nochmals die Erzählung der

Großmutter, welche durch Erinnerungsstücke – Ravensbrücklöffel, der

Rosenkranz aus mit Speichel gerollten Kugeln, das fleckige

Gefängnistagebuch – angestoßen wurde. 60 Jahre nach dem Tag, an dem

ihre Großmutter ins Konzentrationslager deportiert wurde – den 13.

November 2013, besucht sie das ehemalige Frauenkonzentrationslager

Ravensbrück, „um von einem vertrauten Ort Abschied zu nehmen“.

(Haderlap 2012, 283) In den Fußspuren ihrer Großmutter geleitet sie auch

der Engel des Vergessens, welcher vergessen hat, die „Spuren der

Vergangenheit aus meinem Gedächtnis zu tilgen“. (Haderlap 2012, 286)

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Diese Spuren sind aber notwendig – der Engel des Vergessens bekommt

Gestalt in der Form einer Erzählung – zu Sprache gewordener Geschichte.

2. Zum Begriff Menschenwürde

2.1. Theoretische Annäherung

Bei den theoretischen Ausführungen gehe ich von der Grundannahme aus,

dass die Menschenwürde etwas ist, worin wir Menschen uns gleich sind.

Die dadurch begründete Gleichheit ist eine Gleichheit in unserer

Zugehörigkeit zur Menschheit. Somit sind im Begriff sowohl die Würde

jedes einzelnen Menschen, wie auch die Würde der Menschheit

angesprochen.

Der Wunsch nach einer Definition der Würde mag unangemessen sein, da

der Begriff „niemals völlig in einen Raster gepresst werden kann“.

(Reddemann 2008, 10) Doch können Definitionen hilfreich sein, die

Bedeutung der Idee der Menschenwürde besser zu fassen und die

intuitiven und stillschweigenden Meinungen, die wir zu diesem Phänomen

haben bzw. das, was wir darüber denken, weshalb sie uns so wichtig ist,

zu verstehen, auch wenn sie widersprüchlich sind. Vielleicht fordern sie

uns ja gerade dadurch heraus, über den Begriff weiter nachzudenken bzw.

sich mit dem Wissen darüber niemals zufrieden zu geben. Auch die

Auseinandersetzung in dieser Arbeit kann nur ein Versuch sein, sich

diesem Begriff anzunähern.

Immanuel Kant bezeichnet die Würde als etwas, das „über allen Preis

erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet“. (Kant 1968, 434) Das

heißt, sie soll mit anderen Werten nicht verrechenbar sein, ist über jeden

Preis erhaben und kann auch nicht mit dem Wert anderer Dinge verglichen

werden. Würde ist für Kant ein innerer Wert. Die Würde ist nicht etwas,

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was Menschen erwerben, sondern etwas, das ihnen vielmehr als

Vernunftwesen, eben selbstbestimmte Wesen, die fähig sind, sich am

moralischen Gesetz zu orientieren, zukommt. Die Würde ist nach Kant

auch gleichzeitig etwas, was Menschen nicht verlieren können. Die

Achtung, die wir anderen Personen schulden, ist nach Kant die Achtung

ihrer Würde.

Die Fragen, welche sich für mich dabei stellen, sind folgende: Ist die

Vernunft dann eine Grundvoraussetzung für den Würdezuspruch? Gibt es

überhaupt so etwas wie Gründe für den Würdebesitz? Ist es das, was uns

Menschen zu Wesen mit Würde macht?

Eine andere Definition von Würde ist in Meyers Lexikon nachzulesen

„Würde, die einem Menschen kraft seines inneren Wertes zukommende

Bedeutung; auch Bezeichnung für dieser Bedeutung entsprechende

achtungsfördernde Haltung (Menschenwürde)“. (Reddemann 2008, 9) Der

innere Wert ist hier nicht näher ausgeführt. Bedeutet das, es gibt keinen

normativen Grund des Würdebesitzes? Bei dieser Formulierung wird auf

eine entsprechende achtungsfördernde Haltung zusätzlich hingewiesen.

Ob es sich hier um eine innere Haltung oder auch im Außen sichtbare

Haltung handelt, darauf wird nicht näher eingegangen. Ist damit auch ein

sich selbst und dem anderen gegenüber Verhalten-Können gemeint?

Peter Bieri bestimmt in seinem Buch, „Eine Art zu Leben“, einen etwas

anderen Definitionsansatz und sieht die Würde des Menschen als eine Art,

wie der Mensch mit sich selbst und den anderen Menschen umgeht. „An

der Lebensform der Würde kann man drei Dimensionen unterscheiden. Die

eine ist die Art, wie ich von den anderen Menschen behandelt werde… Die

zweite Dimension betrifft wiederum die anderen Menschen, mit denen ich

zusammenlebe. Doch dieses Mal geht es nicht darum, wie sie mich

behandeln. Es geht darum, wie ich sie behandle, und, weiter gefasst, wie

ich zu ihnen stehe: was für eine Einstellung ich zu ihnen habe… Auch in

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der dritten Dimension bin ich selbst es, der über meine Würde

entscheidet. Es geht um die Art, wie ich selbst zu mir stehe…Welche Art

mich selbst zu sehen, zu bewerten und zu behandeln, gibt mir die

Erfahrung der Würde? Und wann habe ich das Gefühl, meine Würde durch

die Art und Weise zu verspielen, wie ich mich zu mir selbst verhalte?“

(Bieri 2013, 12f.) Würde wird hier als eine Lebensform gesehen, nicht als

eine Eigenschaft von Menschen, welche sie eben kraft der Tatsache

besitzen, dass sie Menschen sind.

Die drei Definitionsversuche spannen den Bogen, in welchem dieser

schwer fassbare Begriff der Würde aufgespannt ist. Wesentlich erscheint

mir, dass der Begriff hier sowohl als ein Wesensmerkmal und auch als

auch eine Form zu leben, eben auch ein sich Verhalten, verstanden wird.

2.2. Existenzanalyse – Würdebegriff

2.2.1. Person – Würde

In der Existenzanalyse steht die geistig-noetische Dimension oder das

GeistigPersonale des Menschen im Vordergrund. Mit „geistig“ ist das

spezifisch Menschliche gemeint, die Person, das, was den Menschen vom

Tier unterscheidet. Die Person repräsentiert dabei die Offenheit des

Menschen zur Welt und zu sich selbst. Der Aspekt der Unantastbarkeit der

Person in ihrer eigenen Ursprünglichkeit und in ihrem Eigenwert verleiht

ihr Würde. Die Würde des Menschen beruht somit allein in ihm selbst –

weil er Person ist – und nicht im Umgang mit anderen. Niemand sonst hat

Zugriff auf die Person, sie ist unfassbar. Das ist ein Geheimnis. Jemandem

die Würde zu belassen, bedeutet die Anerkennung des eigenen Bestandes,

des Wertes für sich, und das Bewahren des Abstandes, durch den dieses

Wertvolle geschützt wird. Dies bedeutet ihm mit Respekt zu begegnen

(Längle 2007).

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Auch hier erscheint die Würde zunächst eher als Wesensmerkmal. Für

ein tieferes Verstehen stellt sich die Frage: Worin ist der Eigenwert der

Person gegründet? Woher kommt es, dass sie Bestand hat, dass eine

eigene Quelle in ihr fließt? Einen Erklärungsansatz bietet Frankl. Für ihn

ist „jede einzelne Person ein absolutes Novum“, eine Selbstschöpfung.

(Batthyàny, Zsok 2005, 165) Dies bedeutet für ihn: Es war noch nie da,

es ist einmalig, einzigartig und unwiederholbar, es ist ein Original. Das

Neue liegt in der geistigen Existenz des Menschen. Wesentlich dabei ist die

unausweichliche Gegebenheit eines Ur-Sprungs und eines Ur-Quells, aus

dem alles Seiende hervorgeht, hervorfließt und immer schon – apriori, von

vorherein – begründet ist.

Im christlichen Denken ist diese Ur-Quelle das Göttliche, Gott – die

inventio hominis, geschieht in der imitatio Dei. (Batthyàny, Zsok

2005,163-181) Die Würde erlebe ich hier als etwas uns Innewohnendes.

2.2.2. Personsein als prozessualer Akt und

aktiver Anteil der Würde

Weiteres soll der Versuch unternommen werden, den Begriff der Person

aus der Sicht der Existenzanalyse unter dem Aspekt der Würde noch

genauer zu betrachten.

Die Person aus der Sicht der Existenzanalyse ist fakultativ, reine

Möglichkeit, „Dynamis“ – Kraft, auch das in mir Sprechende. Sie ist nach

Frankl das Freie im Menschen. Personsein ist eine Fähigkeit, mit dem

Faktischen (Körperlichen, Psychischen) und Welthaften umzugehen. Dies

beinhaltet auch den Umgang mit sich selbst, seinem eigenen Wesenskern.

Der Dialog gehört zur Wesensbestimmung der Person. Personsein verlangt

das Gegenüber-Haben von etwas – von Psychophysikum und Welt und mir

selbst oder anderen Personen. Die doppelte Offenheit der Person resultiert

somit aus ihrer Doppelbezüglichkeit zur Außenwelt und zur Innenwelt. Sie

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ist die Kraft in mir, die darüber entscheidet, was ich jetzt tue, wie ich mit

mir und anderen umgehe. Die Person ist unfassbar, man kann ihr nur

begegnen (Längle, 2007).

Es erscheint mir, dass hier ein aktiver Aspekt der Würde angesprochen

wird. Er resultiert aus den konstitutiven Bereichen der Person wie

Authentizität, Freiheit, Verantwortlichkeit, Würde und vor allem auch im

Ausdruck dessen, was ich tue, wie ich mit mir und anderen umgehe. Erst

im Akt ist die Person ganz. Die Akthaftigkeit der Person bedeutet: die

Person muss sich vollziehen, damit sie ist, in einen Umgang mit sich selbst

und der Welt gelangen. Im Vollzug erhält sie Wirklichkeit, sonst ist sie nur

Möglichkeit. Passivität ist dem Wesen der Person entgegengesetzt. Das

heißt aus der Beziehung zu sich selbst entsteht die Würde, sie ist ein

personaler Akt des zu sich Stehens, eine Entscheidung zu sich, als Person

mit eigener Antwort gefragt zu sein. In diesem Verständnis erscheint sie

mir als etwas, was wir selbst „schaffen“ bzw. bewahren können. Dies

vollzieht die Person in den drei Schritten der Personalen Existenzanalyse –

in der Ansprechbarkeit (Beeindruckbarkeit, PEA 1), der Stellungnahme

(Verstehen, PEA 2) und dem Antwort geben (Ausdrucksvermögen, PEA 3)

(Längle 2000). Das Einssein mit sich in der Abstimmung mit sich gibt dem

Menschen Identität, und da er aus dem Innersten schöpft aus der

Intimität auch Würde. Wenn sich der Mensch auf sein persönliches

Menschsein bezieht, so stellt er sich damit auch in die Reihe mit allen

anderen Menschen – macht sich zum Teilhabenden am Menschsein

schlechthin (Längle 1999).

Somit wäre die Würde des Einzelnen auch Teil der Würde der gesamten

Menschheit, da sie uns Kraft unseres Menschseins gemeinsam ist.

„Je authentischer ich mit mir bin, desto mehr verhalte ich mich 'dem

Menschen gemäß'. Jedoch nicht im Sinne des Kantschen Imperatives,

sondern der Mensch schafft und erzeugt durch die radikale Subjektivität,

durch die phänomenologische Haltung sich selbst gegenüber, die

Humanitas, die menschliche Gemeinschaft. Die existenzanalytische

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Moralität des Menschen entspringt aus der Authentizität, der Stimmigkeit

mit sich selbst, es geht nicht um Generalisierung, sondern

Subjektivierung.“ Das macht mich offen für die Begegnung, macht mich

dialogfähig, weil ich mich als kommunizierbar erlebe (Längle 1999, 34).

2.2.3. Die Verletzlichkeit und der mögliche passive Aspekt der

Würde

Das Beziehen auf die Intimität bereitet zum einen das Feld der

Humanitas, zum anderen beinhaltet es auch unsere Begegnungsfähigkeit.

Das Finden des ganz Eigenen lässt uns zum Partner werden, zum Du für

den Anderen. (Längle 1999, 34)

Aus meinem Verständnis gründet darin, neben unserer Begrenztheit an

Kraft, Mitteln, Zeit und Möglichkeiten (Längle 2006, 5), auch ein Teil der

Verletzlichkeit von uns Menschen. Sie ist etwas, das uns widerfahren kann

und was wir vermeiden wollen. Sie könnte als der passive Aspekt der

Würde angesehen werden. Unsere vielfältige Verletzlichkeit ist das, was es

in allen unseren Handlungen zu schützen gilt. Denn darin ist die Würde

des Menschen antastbar. Im Buch „Engel des Vergessens“ werden

Verletzungen, Demütigungen, Erschütterungen und Abgründe als

menschliche Realitäten beschrieben, die fassungslos machen. Weil es vor

allem andere Menschen sind, die den Protagonisten des Buches das

Unfassliche zufügen, ist es besonders entwürdigend. (Längle 2006, 9)

Würde-Verletzungen sind vor allem seelisch-geistige Verletzungen, welche

die Integrität des Menschen zerstören. Dies bedeutet die Zerstörung von

etwas, das zu einem gehört, und damit die Störung einer genuinen

Funktionalität. Sie sind eine Form des Leidens, das sich gegen das Leben

stellt, es behindert, belastet bzw. begrenzt. Die Sinnfrage bricht meist jäh

auf. Somit betreffen psychisch-noetische Verletzungen immer alle vier

Grundmotivationen der Existenz (Weltbezug, Lebensbezug, Selbstbezug

und Zukunftsbezug). „Nach getaner Arbeit wird er [der Vater] erschöpft

über den Hof schreiten, sich auf die Schwelle des Hauses setzen oder

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hinter dem Küchentisch einschlafen. Er wird sich wertlos fühlen und

sprachlos. Seine Kopfschmerzen und Magenschmerzen werden ihn zu

einem stöhnenden Körper machen, der sich im Weg ist und sich

wegwerfen möchte.“ (Haderlap 2012, 257)

Bei den schweren Traumatisierungen, wie sie auch im Buch von Maja

Haderlap beschrieben werden (Deportation in ein Konzentrationslager,

Gewalt, Folter, Kriegsgeschehen...), ist in besonderem Maße die erste

Dimension, der Weltbezug der Existenz betroffen und das Grundvertrauen

zerstört.

Bei den Beispielen der vielfältigen gesellschaftlichen (Ausgrenzung,

Kränkung, Erniedrigung, Hohn, Beleidigung, Nicht-ernst-genommen-

Werden, Ausgelacht-, Mundtot gemacht-, Belogen-Werden, Abwertung...),

strukturellen (Machtmissbrauch, Mobbing, Rationalisierungen,

Ökonomisierungen….) und rechtlichen Würdeverletzungen (Gleichstellung

von Frauen und Männern, Opferschutzgesetze, Volksgruppengesetze....),

denen Menschen unterliegen, liegt der Schwerpunkt in der verletzten

Grenze des Eigenen, in der dritten Dimension, dem Selbstbezug. Dabei

kommt es zum Selbstverlust, Entfremdung, zur Beschädigung des

Selbstwertes und Scham tritt auf. (Längle 2006, 4-11)

2.2.4. Würdeverletzungen und Selbstwert

Für mich stellt sich die Frage, worin denn nun genauer diese

Würdeverletzung liegen könnte? Wodurch wird die Würde des Menschen

verletzt, die er besitzt, weil er Person ist und diese unantastbar ist? Beim

Versuch einer Annäherung an die Beantwortung dieser Fragen aus der

Sicht der Existenzanalyse beziehe ich mich zunächst auf die Induktion des

Selbstwertes von außen und auf meine Grundannahme (siehe Punkt 2.1.),

dass die Menschenwürde etwas ist, worin wir Menschen uns gleich sind.

Menschen erleiden in der Verletzung ihrer Würde nach dem israelischen

Philosophen Avishai Margalit eine Demütigung, denn man beachtet sie

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nicht als ein Wesen mit denselben Ansprüchen. Es könnte sogar sein, dass

man dem anderen jeden Anspruch abspricht.

Demütigungen zielen auf das Gefühl der Wertschätzung der Person im

Sinne einer nicht Anerkennung ihres Eigenwertes. Das Seine, Eigene wird

dem Menschen nicht belassen und anerkannt. Er erfährt keine

Gerechtigkeit, sein Wert wird nicht gesehen und gefühlsmäßig kann das

Recht auf sein Dasein, seine Bedürfnisse und den eigenen Willen nicht

erlebt werden. Die Haltung der Beachtung in der Wahrung einer

respektvollen Distanz wird ihm nicht entgegengebracht und damit auch

nicht die Achtung vor seiner Autonomie und Eigenverantwortlichkeit. Die

Ich-Bildung und Übernahme des Selbstwertes durch den Menschen selbst,

als innere Voraussetzung für die Selbstwertbildung, sein inneres Ja zu ihm

und seinem Wert ist behindert. Der Selbstwert im Sinn von: „Ich bin wer,

weil ich Wertvolles erleben und bewirken kann.“, wird nicht gebildet oder

wird beschädigt (Längle 2007).

Wenn ein Mensch von anderen gedemütigt wird, zielen diese darauf ab,

den Selbstwert des Menschen, mithin die Selbstzuschreibung eines

intrinsischen Werts zu verhindern oder zu beschädigen (Schaber 2012).

Bei einem positiven Selbstwertgefühl kann der Mensch zu sich stehen und

sich zeigen. Aus meinem Verständnis versteht sich der Mensch auch als

jemand, der berechtigt ist, Rechte gegenüber anderen zu fordern und

welche er gegebenenfalls geltend machen darf. Sich sozusagen als Wesen

anzuerkennen, das eine normative Autorität über das eigene Leben

besitzt. Wenn Menschen erniedrigt und gedemütigt werden, wie das die

Protagonisten im Buch „Engel des Vergessens“, Großmutter Mitzi im

Konzentrationslagen und Vater Zdravko als Partisane, durch Folter erlebt

haben – führt man diesen vor Augen, dass sie Objekte sind, über die man

beliebig verfügen kann, dass sie nicht zählen und man mit ihnen machen

kann, was man will. Die Würde wird darin verletzt, dass man sie so

behandelt, als hätten sie gar kein Recht, über sich selbst zu verfügen

(Schaber 2012). Das beinhaltet für mich auch, dass die Freiheit des

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Menschen, über essentielle Bereiche seines Lebens bestimmen zu können,

missachtet wird. Sie werden als autonome Person nicht wahrgenommen,

sondern gebraucht oder benutzt.

Das Leben kann, wenn überhaupt, nur mehr im Schutze der eigenen

Intimität erfolgen. Diese personale Fähigkeit beschreibt Frankl als eine

Tendenz zur Verinnerlichung, Erhaltung eines inneren Dialogs, der das

Überleben ermöglichte. Es blieb nur eine Freiheit für Haltungen und kleine

Entscheidungen, denn man konnte dem Menschen im Konzentrationslager

alles nehmen, nur nicht die letzte menschliche Freiheit, sich zu den

gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen. Dieser Rest an Freiheit

sich zu bewahren, war für Frankl fundamental, um nicht „an die Mächte

der Umwelt“ zu verfallen, sich nicht als „Spielball und Objekt“ zu fühlen.

(Längle 2006, 10)

2.2.5. Würdeverletzungen und Scham

Bei jeder Art von Demütigung (bloßstellen, entwürdigen, benützt werden,

Missbrauch…) entstehen unweigerlich Schamgefühle, da die eigene Grenze

überschritten worden ist. Die Scham ist der Schutz für den intimen und

öffentlichen Pol der Person vor der Verletzlichkeit ihrer Intimität, die nur

ihr selbst gehört und ihrer Würde. Die Scham ist ein Schutzgefühl für die

eigene Kostbarkeit als Person und die gefühlte Verantwortung für diesen

Wert.

„Sie [Großmutter Mitzi] müsse oft daran denken, wie es nach dem Krieg

war, als sie nach der Rückkehr aus dem Lager das erste Mal nach

Eisenkappel kam, um sich als Überlebende bei den Behörden zu melden.

Die Stimmung im Ort sei aufgebracht und verängstigt gewesen. Ihr Onkel

zum Beispiel habe sie aus dem Haus geworfen, als sie zu ihm kam, um ein

wenig Mehl oder Getreide zu borgen, da die Speicher zu Hause geplündert

worden waren. Sie habe sich so geschämt, sie sei so erniedrigt worden,

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sie wolle nie mehr betteln müssen, nie wieder, wiederholte Großmutter.“

(Haderlap 2012, 39)

Im Textbeispiel bezieht sich das Schämen auf die Blöße, den Makel der

sichtbar wird, in diesem Fall die Not und Bedürftigkeit. Die bloßgestellte

Schamgrenze erzeugt ein Gefühl der Erniedrigung, man fühlt sich verletzt

in seiner Würde. Gefühlsmäßig bezieht sich die Scham auf das, was bei

der Person bleiben soll und was nicht nach außen gehört. Die

Würdeverletzung und Scham entstehen aus meinem Verständnis auch

dadurch, dass über den Makel von außen ein abwertendes Urteil gefällt,

der Person nicht mit Achtung und Respekt begegnet und dem Menschen

nicht geholfen wird (Bieri 2013).

Wenn das Subjekt zum Objekt wird, wird die Scham verletzt, die Person in

zweifacher Hinsicht entwürdigt. Erstens im Respekt vor der Würde und vor

der Unantastbarkeit der Person und dem inneren Wert ihrer nur sich selbst

gehörenden Innerlichkeit und zweitens in dem Bedürfnis nach einer Wahl

des Adressaten für das Persönliche.

„Schon in den ersten Stunden habe es Fliegeralarm gegeben. Nackt hätten

sie [Großmutter Mitzi und die anderen Frauen] zwei Stunden lang warten

müssen, bis man sie untersucht habe. … Die Männer in Uniform haben sie

angeschaut wie ein Stück Vieh, sie sei ja schon älter gewesen.“ (Haderlap

2012, 121)

Scham kann sowohl Täter als auch Opfer befallen. Sich schämen erzeugt

ein Gefühl des Selbstwertverlustes, denn die Scham entsteht aus dem

Gefühl der Wertschätzung für sich selbst. (Längle 2007, 78-81)

3. Ausgewählte Beispiele aus dem Buch „Engel des Vergessens“

und Annäherung an die Zusammenhänge

Im dritten Teil der Arbeit möchte ich anhand ausgewählter Textbeispiele

der Würde bzw. der Verletzung der Integrität des Menschen nachgehen

und mich der Beantwortung der Frage nach dem Erhalt der Würde des

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Menschen nähern. Worin sind wir darin selbst angefragt? Gibt es so etwas

wie einen Würdezuwachs auf personaler Ebene?

3.1. Frau Maria Haderlap - Großmutter Mitzi

Sie wurde am 12. Oktober 1943 in das Konzentrationslager Ravensbrück

deportiert und hat es überlebt.

3.1.1. Objekt – Würde – Integrität

„Großmutter schreibt anfangs in einer gefassten Schrift, ihre Wörter sind

unbeholfen, nicht für das Aufschreiben gedacht, sondern für das Erzählen.

Obwohl sie kaum schreiben konnte, die Sätze weder orthographisch noch

syntaktisch korrekt sind, muss sie überzeugt gewesen sein, dass sie ihre

Geschichte festhalten müsse.

Es war Dienstag Mittag 12. Oktober, da war die Trennung vom Haus und

von den kleinen Söhnen Toncek und Zdravko. Das war schlimm für mich

weil ich hab keine Schuld, schreibt Großmutter. … Dann ging es weiter

nach Ravensbrück, da sei es sonderbar gewesen, [gemeint ist furchtbar

wenn sie sonderbar schreibt - Haderlap 2012, 119] notiert sie, der

Mensch ist kein Tier! Für das, was in der folgenden Zeit Trauriges

geschehen sollte, wie sie vermerkt, fehlen ihr die Worte. Sie benötigt

für eineinhalb Jahre Konzentrationslager nur drei kleine Seiten…“

(Haderlap 2012, 276-277)

Ich habe diesen Textauszug aus dem Lagertagebuch gewählt, weil er als

Ausdruck einer tiefen persönlichen Betroffenheit, das Zentrale jeder

seelisch-geistigen Verletzung verdeutlicht, welche Großmutter Mitzi im

Satz „Der Mensch ist kein Tier!“ formuliert, dass man sich in Frage gestellt

fühlt in seinem Selbstsein, in dem „Wer bin ich eigentlich, wenn ich so

behandelt werde? Habe ich einen Wert, der in mir gegründet ist?“

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Gleichzeitig beinhaltet der Satz: „Der Mensch ist kein Tier!“ eine

Feststellung. Durch die Formulierung bzw. das geschriebene Wort, stellt

der Satz zusätzlich zum gefühlten Wert, eine aktive, personale

Stellungnahme (existenzielle Wurzel des Selbstwertes) als Eintrag im

Lagerbuch dar, um sich die Würde als Mensch zu bewahren bzw. sich

selbst auch Würde zu „verleihen“, die ihr von außen nicht zugesprochen

wird.

Das Erleben des Fehlens von Worten, ihre eigene Sprachlosigkeit –

verdeutlicht eine subjektive Reaktion von Furcht, Hilflosigkeit, Entsetzen.

Es ist auch eine Erschütterung darüber, dass einem das passiert. Es passt

nicht in das Vorstellungsbild der Realität. Es zeugt von der Erfahrung in

einer so überwältigenden Dimension – die in weiterer Folge zum Trauma

führt. Die Folge ist nach Frankl ein Schock: Man verbleibt nur noch in

einem gelähmten Beobachten und Zuschauen. Es kommt zur Zerstörung

von Wertvollem - dem vitalen Lebensgefühl, des Grundvertrauens und die

Folge ist ein Rückzug auf sich selbst. (Längle 2006, 7-8)

Die Überzeugung, dass sie ihre Geschichte aufschreiben müsse, erlebe ich

auch als die Frage nach dem Sinn – nach der Frage: was kann daraus

werden, wie soll es damit weitergehen? Das geschriebene Wort verstehe

ich hier als ein sich nach innen Fassen, um sich nicht zu verlieren und sich

im außen wiederzufinden bzw. um es später als Lagertagebuch an die

Enkelin weiterzugegeben. Viel später, als zwei Bücher über die Frauen von

Ravensbrück erscheinen, sieht sich die Großmutter darin bestätigt, dass

nun niemand mehr behaupten könne, dass sie ihre Geschichten erfinde.

3.1.2. Personsein – Würde

Der nächste Textabschnitt bezieht sich auf die Heimkehr nach dem

Überleben des Konzentrationslagers Ravensbrück und verdeutlicht das

Personsein als prozessualen Akt und aktiven Anteil der Würde.

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„Auf der unteren Hrevelnik-Wiese bleibt sie stehen und sagt, dass sie

damals befürchtet habe, zu Hause nicht mehr willkommen zu sein. Mein

Mann wird mich ablehnen. Ich bin nicht mehr die Alte, habe sie

gedacht. Ich werde ihn fragen müssen, habe sie beschlossen, damit

Klarheit herrsche, von Anfang an. Im Wald sei es dunkel gewesen, sie

habe den Weg an manchen Stellen mit den Händen ertasten müssen.“

(Haderlap 2012, 59) „Sie habe noch Licht in der Wohnstube gesehen, sei

zum Fenster getreten und habe in die Stube geschaut. … Dein Großvater

hat ins Leere geblickt, sagt Großmutter, er hat so merkwürdig geschaut,

dass ich meinen ganzen Mut zusammennehmen musste, ans Fenster zu

klopfen. Großvater habe kurz aufgeblickt, sie aber nicht gesehen. Dann

habe sie das Klopfen wiederholt. Er sei langsam aufgestanden und in den

Flur getreten. Er habe die Haustür geöffnet und gefragt, wer ist da. Sie

habe aus der Dunkelheit geantwortet, willst du mich zurückhaben,

erkennst du mich noch? Mitzi, du bist wieder da, habe ihr Mann gerufen

und sie so stürmisch umarmt, dass sich ihr Kopftuch gelöst habe und nur

so geflogen ist, sagt Großmutter und lächelt. Dann seien die Buben, die

schon im Bett waren, aufgestanden.“ (Haderlap 2012, 59-60)

In der Situation der Heimkehr wird ein Stehenbleiben beschrieben. Dies

stellt eine Unterbrechung der Bewegung auf der unteren Hrevelnik-Wiese

dar und ein Wahrnehmen der eigenen Furcht, nicht mehr willkommen zu

sein. Im Stehenbleiben ist das Fassen des Gefühls möglich – der Furcht

als Person mit dem eigenen Gewordensein abgelehnt zur werden.

Das Gefühl resultiert aus der fühlbaren Gewissheit, in der sich Großmutter

Mitzi ganz personal zu sich stellt – „Ich bin nicht mehr die Alte“. In diesem

sich Fassen, Verstehen-Können, tritt der Wunsch nach Klarheit von Anfang

an auf. [Phänomenologisch wird hier auch das Ende von etwas sichtbar,

da es Großmutter Mitzi um einen Anfang geht. Frankl beschreibt dies als

ein „Vorher“ und ein „Nachher“ mit der Trennlinie „Trauma“ (Frankl

2006).] Die Stellungnahme als der Beschluss – ich werde ihn fragen

müssen – wird möglich. Das Einssein mit sich, in der Abstimmung mit

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sich aus der eigenen Intimität, gibt Großmutter Mitzi nicht nur Identität,

sondern verleiht ihr auch Würde. Den weiteren Weg der Heimkehr

beschreibt sie als ertastend.

Die personale Stellungnahme für die Entscheidung macht die Person offen

für die Fragestellungen, gibt ihr den Mut und die Kraft in dieser

Lebenssituation, dem Anfang, anzufragen, es zu tun: „willst Du mich

zurückhaben, erkennst Du mich noch“. Dieser ganz authentische aktive

Umgang mit sich, indem sich die Person ganz vollzieht, könnte als

möglicher Würdezuwachs auf personaler Ebene bezeichnet werden.

Auch die Ich-Bildung, der „Funken“ für die Entwicklung des Selbstwertes,

die eigene Übernahme von innen erfolgt neu. Durch das Erkanntwerden,

die von außen gegebene Antwort – „Mitzi, du bist wieder da“ – und die

stürmische Umarmung erlebt die Person Beachtung im Sinn von

Angesehen-Werden, Wertschätzung im Sinn einer positiven

Stellungnahme zu ihrer Person und Gerechtigkeit im Sinn von „ich bedeute

dem anderen etwas“, habe ein gefühlsmäßiges Recht auf mein Dasein,

meine Bedürfnisse und meinen Willen auch als erneute Induktion des

Selbstwertes von außen.

3.2. Herr Zdravko Haderlap - Vater Zdravko

Zdravko Haderlap, der Vater von Maja Haderlap, litt Zeit seines Lebens

unter den schweren Folgen der Traumata durch massive Folterung mit

nur zwölf Jahren und durch den Krieg im Widerstand gegen den

Nationalsozialismus. Das Buch ist durchzogen mit Symptomen einer

massiven posttraumatischen Belastungsstörung.

Die personalen Basisbezüge dazu wären:

a) Eingeschränkter Weltbezug: Eine misstrauisch-feindliche Haltung der

Welt gegenüber, sozialer Rückzug.

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b) Eingeschränkter Innenbezug: Leeregefühle, Hoffnungslosigkeit,

chronischer Nervosität und ständiges Bedrohtsein, Entfremdung

(Längle 2005, 4-18).

1982 erhielt Herr Zdravko Haderlap vom österreichischen

Bundespräsidenten das Ehrenzeichen für Verdienste um die Befreiung

Österreichs.

3.2.1. Trauma – Selbstwert – Würde

Die Textbeispiele beziehen sich auf den massiv verletzten Selbstwert, die

eigene Entfremdung und das Thema der Würde bzw. Würdeverletzungen

durch Traumata.

„Der andere Richtungstanz beginnt mit Vaters Selbstbezichtigung, die er

rhythmisch wiederholt, er [Vater Zdravko] sei nichts wert, er sei noch

nie was wert gewesen, ein Hündchen sei er, das sich unter den Tisch

geflüchtet habe. Komm, Hündchen, sagt er, komm unter dem Tisch

hervor, komm schon, to to to to lockt er, to to to to. Das Hündchen aber

bewegt sich nicht,….“ (Haderlap 2010, 96).

Dieser Text zeugt von einer völligen Hoffnungslosigkeit, einem massiven

Selbstwertverlust, innerer Leere, und völliger Entfremdung. Ein Mensch,

welcher sich so noch nie als Wert empfunden hat, dies deutet darauf hin,

dass auch der Grundwert unzureichend ausgebildet worden ist. Zdravko

Haderlap fühlt sich nicht als Mensch, sondern als Hündchen, das sich

verkrochen hat und sich nicht bewegt, was ich als breiten Rückzug,

begleitet von anhaltender Angst aus der Welt verstehe. Die Welt ist

schlichtweg zu bedrohlich und der Mensch so geschwächt durch das

erlebte Entsetzen, das das Sein ausgelöst hat im Sinn von, dass „es das

gibt“, dass die anderen Menschen nicht mehr ertragen werden können,

keine normalen Beziehungen mehr aufgenommen oder gehalten werden

können. (Längle 2005, 4-18)

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Es stellt sich nun die Frage nach der Würde des Menschen? Der massive

Verlust der Würde besteht darin, dass die personale und vor allem

existenzielle Wurzel des Selbstwertes, die Fähigkeit sich selbst zum

Vollzug zu bringen, zerstört ist. Die Würde der Person bleibt unantastbar –

der Betroffene kann sie nicht aktiv im Vollzug „ergreifen“.

Für mich gipfelt diese existenzielle Not nach innen im Ausruf von Zdravko

Haderlap „Ich bin ein Mensch, schreit Vater auf Deutsch.“ (Haderlap 2012,

138) Nach außen verstehe ich darin einen verzweifelten Anruf.

Worin liegt nun die Würde dieses Menschen? Gerade das Ringen des

Menschen um seine Lebensgestaltung ist es, was uns tiefsten Respekt

zollt. Einen Menschen zu würdigen, ihn in seiner Würde zu achten, heißt

deshalb, ihn zu würdigen in seiner Auseinandersetzung und seinem Ringen

um ein gelingendes Leben. Außerdem ist der Mensch in seiner Potentialität

der Person zu würdigen. (Christoph Kolbe 2005, Mitschrift, Vortrag -

Person und Persönlichkeit, Kongress der Internationalen Gesellschaft für

Logotherapie und Existenzanalyse am 29. April 2005). Würde gebührt ihm

aus meiner Sicht auch für sein Denken und Handeln im Widerstand gegen

den Nationalsozialismus, weil sich dieses gegen ein Unrecht, welches die

Würde vieler Menschen verletzte, missachtete, gerichtet hat.

3.2.2. Menschsein – Würde

„Die Äste und Blätter seien von den Bäumen geprasselt, ein Partisan sei

am Boden gelegen und habe geschrien, hilf mir, hilf mir, aber er [Zdravko

Haderlap] sei gerannt als ob der Teufel hinter ihm her wäre, sagt Vater. …

er und zwei weitere seien über eine Straße gerannt und dann einem

Deutschen direkt vor das Maschinengewehr gelaufen. Jetzt bin ich tot,

habe er gedacht, jetzt werde ich erschossen, aber der Deutsche habe

ihm zu verstehen gegeben, dass er verschwinden solle, er habe

ihn weitergewunken. Rasch, rasch, habe er gesagt. Das ist ein

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Guter gewesen, sagt Vater, ein Guter, den werde er nie vergessen.

Seine Gruppe habe den Fluss erreicht,….“ (Haderlap 2012, 93)

Diesen Buchauszug empfinde ich als ein Zeugnis der Gleichheit von uns

Menschen in unserer Zugehörigkeit zur Menschheit. Buber benennt das in

seinem Buch „Das Dialogische Prinzip“ als „Mein Du wirkt an Mir, wie ich

an ihm wirke.“ Ich verstehe darunter das Ansichtigwerden eines

Menschen, das ihn Erblicken, in diesem Fall von Zdravko Haderlap und

dem deutschen Soldaten. In der Achtung des Lebens des „Feindes“ wird in

diesem Augenblick die Würde dessen als ein Grundrecht auf das eigene

Leben gewahrt und die Würde der Unantastbarkeit der Person. Der

deutsche Soldat hat sich in dieser Situation auch seine eigene Würde

bewahrt. In diesem Fall erlebe ich das als Bewahren in doppelter Hinsicht,

nämlich der moralischen Würde im Grundrecht auf Leben bzw. der Würde

der Gleichheit von uns Menschen in diesem Recht und als ein sich aktiv

dazu-Stellen zu diesem Wert. Dies erforderte jedoch die Zustimmung des

deutschen Soldaten, einen Akt der Bejahung, als eine geistige Fähigkeit

von uns Menschen. Ein inneres Erleben, da es um ihn als Person geht, er

ist angefragt in der Situation. Die Zustimmung bedeutet, sich mit dem

Innen (seinen Einstellungen, Überzeugungen) und dem Außen (der

Situation) abzustimmen, sich in Freiheit für das nicht Töten des „Feindes“,

als eine innere Verpflichtung zu entscheiden, trotz des Risikos, das er

eingeht. Durch die Anerkennung der Gleichheit von uns Menschen hat

„herrschaftliche“ Macht keinen Raum, aus der nach Georg Feuser die

eigentliche Missachtung der Menschenwürde resultiert.

4. Würde und Gesellschaft

Auf die Frage warum Texte, Bücher geschrieben werden, könnte nach

Alexandra John (John 2012) eine Antwort sein – es besteht ein Gefühl der

Notwendigkeit dafür. Etwas, das einen nicht loslässt, das darauf wartet,

sich der Welt zu öffnen. Man könnte das als die Suche nach der Wahrheit,

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als Bezugnahme zum Sein verstehen. Wahr ist, was IST, als eine

Wirklichkeit, auf die man sein Leben bezieht. Erlebnisse aus der Kindheit,

die eigene Geschichte in einem Text zu verfassen und Erinnerungen eine

Lebensberechtigung zu geben. Nähere Ausführungen dazu sind in Punkt 1

dieser Arbeit bereits erläutert worden.

Es geht jedoch auch um eine gesellschaftliche Erinnerung und nicht um

Vergessen, um das Unbegreifliche, Unsagbare der jüngsten Geschichte der

Kärntner Slowenen darzustellen. Als geschriebenes Wort, wird im Roman

das Vergangene verortet, sichtbar gemacht und nach Assmanns dem

„kulturellen Gedächtnis“ überliefert. Die personale Entscheidung der

Autorin zum Roman „Engel des Vergessens“ verleiht ihr Würde und gibt

den Menschen ihrer Familie und stellvertretend dazu den Betroffenen der

slowenischen Volksgruppe ihre Würde zurück. In der österreichischen

Geschichtsschreibung wurde diese Tragödie bislang verschwiegen. „Sie

wissen, dass ihre Vergangenheit in den österreichischen

Geschichtsbüchern nicht vorkommt, noch weniger in den Kärntner

Geschichtsbüchern, wo die Geschichte des Landes mit dem Ende des

Ersten Weltkrieges beginnt, dann eine Unterbrechung macht und mit Ende

des Zweiten Weltkrieges wieder einsetzt“. (Haderlap 2012, 236)

Gesellschaftlich gesehen bedeutet das, dass diese Realität noch nicht zu

einer Wirklichkeit angenommen worden ist. Sie wurde im existenziellen

Sinn noch nicht gesellschaftliche und politische Wahrheit. Dies kann als

die Verletzung der Würde der Wahrhaftigkeit einer Gesellschaft gesehen

werden.

Haderlap „spricht“ sich durch das Buch in der Öffentlichkeit für eine

Anerkennung der Leiden der Slowenen-Deutschen durch den

Nationalsozialismus aus. Notwendig sind das Benennen der Taten und die

personale Auseinandersetzung mit der Geschichte, gegen die

gesellschaftlichen Copingmechanismen wie Aggression, Hass,

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Verleugnung, Verdrängung, sowie das Vergessen der historischen

Vergangenheit.

„Ein paar Jahre später erhält er [Zdravko Haderlap] vom österreichischen

Bundespräsidenten das Ehrenzeichen für Verdienste um die Befreiung

Österreichs. Auf die Auszeichnung sei er stolz, die Urkunde werde

er rahmen lassen, sagt Vater.“ (Haderlap 2012, 170)

Das Ringen um Sinn und Würde kann sehr zentral bei primär

Traumatisierten sein, wie ich es versucht habe im Kapitel 3 beispielhaft

darzustellen. Aber eben auch bei sekundär Traumatisierten, d.h. bei

Menschen, die nicht selbst dem Trauma ausgesetzt sind, sondern sich mit

den Opfern identifizieren, beispielsweise durch familiäre Bindung,

persönliche Beziehung, ethnische Zugehörigkeit. Gesellschaftlich gesehen

sind noch viele Menschen, auch in Österreich, aufgrund unserer

Geschichte mitbetroffen.

In Haderlaps Roman geht es auch darum, ein Zeugnis abzulegen. Ihre

persönliche Form, der Roman „Engel des Vergessens“, hat mich sehr

berührt. Ich erlebe es auch als ein universelles Zeugnis. Durch den

personalen Vollzug ihres Personseins steht sie für viele, indem sie zu sich

steht. Gerade weil der Text so wertschätzend, Würde bewahrend ist (das

Erhalten der Würde der Scham) und nur einen Bruchteil von dem sagt,

was er meint. Deshalb können aus meinem Verständnis viele Menschen

das Buch als ein Zeugnis annehmen. Die beständigen Diskussionen und

die vielfachen Auflagen seit dem Erscheinen des Buches verdeutlichen das.

Könnte in diesem Auslösen der Auseinandersetzung, der „Kultur der

Erinnerung“ nach Metz, der Würdezuwachs einer Gesellschaft begründet

sein? (John 2012)

Nach Benjamin bedeutet Sprache „das auf die Mitteilung geistiger Inhalte

gerichtete Prinzip in den betreffenden Gegenständen“ (John 2012, zitiert

nach Benjamin 1992, 30). Das Unsagbare bekommt Raum im Roman von

Maja Haderlap. Jeder Mensch kann sich berühren lassen. Wenn er mit der

Welt dialogisch kommuniziert, begibt sich der Mensch in einen existenziell-

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sinnvollen Austausch mit dieser. Bücher vermitteln immer auch

Lebenswelten, Lebensgeschichten und Lebensweisheiten und sind Teil

dieser Welt. Es sind immer wir selbst, eben als ein Teil der Gesellschaft,

die das Leben befragt, auch durch das Buch. Wir sind es, die dem Leben

zu antworten haben, es auch zu ver-antworten haben. Das würde

bedeuten, dass der personale Lebensvollzug jedes einzelnen Menschen

ihm Würde „verleiht“ und dadurch jeder Mensch auch am Würdezuwachs

einer Gesellschaft beteiligt bzw. darin angefragt ist. Durch den Roman

„Engel des Vergessens“ habe ich mich im Wert der Würde angefragt

gefühlt, und die Abschlussarbeit ist eine meiner Möglichkeiten, meine

Verantwortung gegenüber dem Leben wahrzunehmen, die ich gerne

angenommen habe. Ich erlebe dieses Thema als Gegenwart, persönlich

und gesellschaftlich. Das prozessuale Personenmodell der Personalen

Existenzanalyse von Längle 1988 stellt eine Anleitung für den Prozess der

Entwicklung einer autonomen, authentischen, emotional erfüllten,

sinnvollen und personal verantworteten Existenz dar. Aus dem, was ist

(PEA 0, Beziehungsaufnahme mit den Inhalten des Buches) kann das, wie

es ist erfolgen (PEA 1, Heben des Eindrucks: primäre Emotion und

phänomenaler Gehalt) und in weiterer Folge zu einer personalen

Stellungnahme führen (PEA 2, Einarbeiten des Eindrucks zu bestehenden

Wertbezügen, innere Stellungnahme). Die äußere Stellungnahme ist dann

der handelnde Ausdruck (PEA 3). Die Entwicklung eines gesellschaftlichen

Bewusstseins für den Begriff der Würde bzw. in weiterer Folge das aktive

Widersetzen gegen die Missachtung und Verletzung der Würde von

Menschen in jeglicher Hinsicht wären Möglichkeiten, unsere

Verantwortung dem Leben gegenüber wahrzunehmen. Genau auf den

Moment des Widerstandes hat Maja Haderlap in ihrem Roman „Engel des

Vergessens“ hingewiesen. Dies könnte bedeuten, die Würde des Menschen

zu einem wichtigen Kriterium unseres Handelns zu machen und immer

mehr als etwas zu betrachten, was mit jedem einzelnen von uns bzw. mit

uns als Gesellschaft zu tun hat. Die Vielfalt der personalen Antworten

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bewegt eine Gesellschaft und dazu fordert das Buch von Maja Haderlap

auf. Einige Beispiele dafür sind Brigitte Entners Dokumentation „Wer war

Klara aus Sentlips/St.Philippen?“, welche eben erst erschienen ist. Es

beschäftigt sich mit den Kärntner Slowenen und Sloweninnen als Opfer

der NS-Verfolgung (Die Presse 02.08.2014, Spectrum, 11-12) oder die

Einladung der verstorbenen Nationalratspräsidentin Barbara Prammer im

Rahmen der Veranstaltungsreihe Quadriga am 9. 10. 2012,

Nationalratssitzungssaal des Parlamentes in Wien, an Maja Haderlap im

Gespräch mit Michael Kerbler zum Thema Erinnern und Vergessen bzw.

die Rolle der Schriftstellerin in diesem Prozess. 

5. Grundprinzipien einer würdeorientierten Therapie für Menschen mit Traumata nach Reddemann

5.1. Würde – Psychotherapie

Als Therapeuten sind uns Menschen anvertraut und es ist mir in dieser

Hinsicht ein Anliegen in dieser Arbeit auch die Gedanken zur

würdeorientierten Psychotherapie von der Traumatherapie Expertin Luise

Reddemann anzuführen, welche sich aus ihrer langjährigen Berufs- und

Lebenspraxis entwickelt haben bzw. worin sie noch einen großen

Entwicklungsbedarf sieht.

Reddemann benennt die Würde als einen vergessenen Wert in der

Psychotherapie und beklagt das Fehlen einer expliziten Würde-

Orientierung. Begriffe bilden Bewusstsein. Wenn der Begriff von Würde in

unserer Kultur nicht oder kaum verwendet wird, kann sich dafür ihrer

Meinung nach auch kein Bewusstsein bilden (Reddemann 2008). Sie geht

von der Grundannahme aus, dass es auch in psychotherapeutischen

Situationen um Macht und Machtgefälle geht, in denen es zu Fehlverhalten

im Sinn der Missachtung des Rechtes auf Würde kommen kann. Der

„professionelle Narzissmus“ (Reddemann 2008, 101), lässt oft das

Eingestehen von Fehlern nicht zu, dies zu sehen. Dadurch werden Defizite

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der Klienten überbewertet und Probleme manchmal ausschließlich Klienten

angelastet. Der Blick kann verstellt sein, obwohl Psychotherapeuten

rational wissen, dass sie zu Fehleinschätzungen der Informationen, welche

Klienten ihnen geben, kommen können.

Als jene fünf Bereiche, in denen das Thema Würde in der Psychotherapie

besondere Beachtung verdient, führt sie an:

-) Respekt vor der Autonomie des anderen.

-) Anerkennung der Verletzlichkeit und des Scheiterns.

-) Respekt vor den Wünschen nach Verbundenheit.

-) Individualität und Verschiedenheit in der Therapie.

-) Die Würde der Intimität, ein Recht auf ein „Nein“ des Mitteilens.

(Reddemann 2008, 108)

5.2. Würde und Traumatherapie

Als konkrete Grundprinzipien einer würdeorientierten Traumatherapie

führt sie sieben Punkte an, wobei die Grundlage ihres Denkens sich auch

stark auf Levinas Begriffe von Güte und Barmherzigkeit bezieht. „Das

'Antlitz' des anderen fordert uns unmissverständlich auf: Du sollst mich

nicht töten.“ Das versteht sie als, du sollst weder meinem Körper noch

meiner Seele Schaden zufügen. (Reddemann 2008, 110)

a) Bewusstmachen des eigenen Menschenbildes.

Menschenbilder wirken sich auf die psychotherapeutische Haltung,

Handlungen und Interventionen aus. Als ein Beispiel führt

Reddeman an, dass ein Menschenbild, in dem man mit

Selbstheilungskräften rechnet, eher zu einer Ressourcen

interessierten Haltung führt.

Das Erkennen, Empfinden der eigenen Verletzlichkeit ist die

Voraussetzung, um die Würde der Klienten zu achten. Reddemann

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plädiert für die Haltung einer „Ehrfurcht vor dem Leben“, nach

Schweitzer, das jede Art von Lebendigkeit miteinschließt.

b) Den ganzen Menschen sehen.

Ein Mensch ist mehr als seine Störung, seine Diagnose oder auch

sein Traumata.

Darauf beharren, sich bewusst machen, dass wir Menschen und

nicht Störungen behandeln.

Das Bewusstsein entwickeln, dass wir nur bruchstückhaft erkennen,

dass wir „nichts verstehen“, das Leben bleibt ein Geheimnis.

Nach der Selbstheilungskraft der Menschen suchen.

c) Positive Wertschätzung für die Klienten als ein wichtiger unspezifischer

Wirkfaktor in der Psychotherapie.

Die Annahme, dass Klienten mit Traumata zutiefst geschädigt sind,

kann dazu führen, ihre Resilienz nicht wahrzunehmen.

Positive Wertschätzung erscheint Reddemann bei starker

Defizitorientierung eher schwierig.

Positive Wertschätzung bedeutet immer auch Wertschätzung als

Frau und Mann. Wenn wir das ausblenden, entwürdigen wir.

d) Das Erleben der Klienten und ihre Wahrnehmungen sollten vorbehaltlos

respektiert werden.

Nur so ist eine Gleichberechtigung und Gleichrangigkeit in der

Therapie möglich.

Die vorbehaltlose Haltung ist in der Traumatherapie besonders

wichtig und fördert das Würdeerleben beider Interaktionspartner.

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e) Sich als BegleiterIn verstehen.

Dies ermöglicht eher das Würdigen und das Verstehen auch der

kleinen Schritte der Klienten.

f) Das Bewusstsein für das eigene Geschlecht entwickeln, denn wir

begegnen immer einer Frau oder einem Mann in der Therapie

(oder manchmal Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht feststeht).

Sich um Diskursethisches Verhalten bemühen und immer mehr

entwickeln.

Jegliche Art von Bevormundung oder „untertänigen“ Ansätzen

erkennen und dagegen auflehnen. Dies fördert das Würdeempfinden

von uns selbst wie das unserer Klienten.

f) Achtsamkeit als Grundhaltung definieren.

Eine absichtsvolle, nicht wertende Aufmerksamkeitslenkung auf das

bewusste oder dem Bewusstsein zugängliche Erleben des aktuellen

Augenblicks.

Achtsamkeit fördert die Empathie.

Achtsamkeit kann helfen präsenter zu sein.

Soviel Zuwendung geben wie jemand braucht und gleichzeitig jede

autonome Äußerung respektieren.

Wichtig ist auch die Achtsamkeit sich selbst gegenüber, d.h. eine

positive liebevolle Selbstbeziehung zu entwickeln.

(Reddemann 2008, 135-139)

„Würdevolles Handeln in der Psychotherapie setzt beides voraus: Die

Freiheit, dass wir es wagen zu singen wie die Spinnengöttin, indem wir

dem Gesang unseres Herzens folgen, und die Bereitschaft, vorgegebene

Strukturen zu erproben und zu erforschen.“ (Reddemann 2008,140)

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6. Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit – Annäherung zum Thema Personsein und Würde

aus existenzanalytischer Sicht. Eine Betrachtung ausgehend von dem

Buch „Engel des Vergessens“ von Maja Haderlap – war für mich persönlich

wichtig. Das Thema ließ mich nach dem Lesen des Buches nicht mehr los,

jedoch konnte auch ich es nicht loslassen.

Ziel dieser Arbeit ist es, den Begriff der Würde und das oftmalige intuitive

Verständnis, welches wir über dieses Phänomen haben, fassbarer zu

machen und den Wert der Würde aus der Sicht der Existenzanalyse zu

verdeutlichen und in einen gesellschaftlichen Kontext zu stellen.

Zunächst war es wichtig, sich mit der Autorin und ihrem Gewordensein

auseinanderzusetzen, wobei mir die Themen Selbstdistanzierung durch

Sprache und durch das Schreiben als wesentlich erschienen. Die

Ausführungen zum Aufbau und Inhalt des Buches sind notwendig, damit

die Leser und Leserinnen, welche das Buch noch nicht kennen, meine

Gedankengänge nachvollziehen können.

In der Auseinandersetzung mit dem Thema traten dann folgende

Kernfragen auf: Lässt sich Würde definieren? Ist Würde ein

Wesensmerkmal des Menschen oder eher eine Lebensform? Worin ist die

Würde des Menschen in der Existenzanalyse verankert? Gibt es neben

dem Würdeverlust auch so etwas wie einen Würdezuwachs auf personaler

und gesellschaftlicher Ebene? Worin sind wir Menschen selbst angefragt?

Das bessere Verstehen der Thematik führte mich zur Ansicht, dass eine

Definition der Würde aus unterschiedlichsten Gesichtspunkten erfolgen

kann und es nicht eine Definition von Würde gibt. Aus der Sicht der

Existenzanalyse beruht die Würde des Menschen allein in ihm selbst, weil

er Person ist und nicht im Umgang mit anderen. Personsein als

prozessualer Akt kann als ein aktiver Teil der Würde des Menschen

gesehen werden und die Verletzlichkeit als möglicher passiver Anteil der

Würde. Das würde bedeuten, dass der personale Lebensvollzug jedes

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einzelnen Menschen ihm Würde „verleiht“ und dadurch jeder Mensch auch

am Würdezuwachs einer Gesellschaft beteiligt bzw. darin angefragt ist.

Die ausgewählten Textbeispiele waren mir wichtig, da sie einerseits die

massiven Missachtungen gegenüber der Würde jener Kärntner Slowenen

und Sloweninnen zeigen, welcher sie im Widerstand gegen den

Nationalsozialismus ausgesetzt waren und deren Auswirkung auf

Selbstwert und Lebensvollzug. Diese Buchauszüge verdeutlichen vor

allem, dass die Würde des Menschen in unserer Verletzlichkeit antastbar

ist.

Für die therapeutische Arbeit halte ich das explizitere Bewusstsein über

den Wert Würde und die Auswirkungen von Würdeverletzungen für sehr

bedeutend. In der existenzanalytischen Arbeit mit den Klienten kann diese

Bewusstheit helfen präsenter und achtsamer zu sein, was ein würdevolles

Handeln voraussetzt. Speziell bei Menschen mit posttraumatischen

Belastungsstörungen bzw. posttraumatischen Persönlichkeitsstörungen,

um in der Therapie Würdeverletzungen und Retraumatisierungen zu

vermeiden. Deshalb werden im letzten Teil meiner Arbeit die

Grundprinzipien einer würdeorientierten Therapie für Menschen mit

Traumata nach Reddemann angeführt.

Abschließend möchte festhalten, dass diese Arbeit nur eine Annäherung

an dieses komplexe Thema darstellen kann, sie in diesem Sinne offen und

fortsetzbar ist. Diese Offenheit soll die Leser zur Auseinandersetzung

einladen, um sich Klarheit über das eigene Verständnis von Würde

allgemein und Würde in Bezug zur Psychotherapie zu machen. Dann

könnte die Würdeorientierung so etwas wie ein Leitbild oder Kompass

sein, sowohl in der Arbeit mit unseren Klienten, letztlich jedoch bei allem,

was wir tun (Reddemann 2008).

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Kerbler M (2010) Ö1-Sendung Maja Haderlap „im Gespräch“ mit Michael Kerbler am 09.10.2010, Nationalratssitzungssaal auf Einladung der Nationalratspräsidentin Barbara Prammer zu Quadriga 12 – Erinnern als gesellschaftlicher Prozess Wien: Parlament, eigene Mitschrift  

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Längle A (2005) Persönlichkeitsstörungen und Traumagenese – Existenzanalyse traumabedingter Persönlichkeitsstörungen. In: Existenzanalyse 22, 2, Seite 4-18

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Marks S (2010) Die Würde des Menschen oder der blinde Fleck in unserer Gesellschaft. München: Verlagsgruppe Random house GmbH, Gütersloher Verlagshaus

Reddemann L (2008) Würde – Annäherung an einen vergessenen Wert in der Psychotherapie. Stuttgart: Cotta`sche Buchhandlung.

Reddemann L (2011) Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie PITT-das Manual. Stuttgart: Cotta`sche Buchhandlung

Schaber P (2012) Menschenwürde - Grundwissen Philosophie. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co KG