ANNO 1964 oder Im falschen Leben - Versuch einer Rekonstruktion - Von Steffen Gresch

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ANNO 1964oderIm falschen Leben von Steffen Gresch Was in dem Brief steht, soll hier nicht berichtet werden. Eine Lebensgeschichte, die mit Marianne nichts zu hat. Die Rückseite der älteren Photographie aber erzeugt nun doch Gänsehaut bei ihr. Dort steht geschrieben: Anna im Frühsommer 1923, letztes Foto...

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  • ANNO 1964ANNO 1964oder

    Im falschen LEE benVersuch einer Rekonstruktion

    steffen gresch 2009-2014

    Wahlburg, 7.Juli 1964, 20.11 Uhr Am Schloss, Freitagabend nach der Tanzstunde.

    Die Abendsonne leuchtet satt. Marianne schlendert an meist zerfallenen, mitunter teilrestauriertenFachwerkhusern durch die mittelalterlich geprgte Stadt.

    Sie nhert sich dem Schlossberg. Hier geht sie immer hin, wenn freitags Schluss ist mit der Tanzstunde.

    Dieses Mal ging es modern zu. Mit Theo tanzte sie Twist. - Frau Honigmond, die Kursleiterin, hatte denbrandneuen Gesellschaftstanz mit ins Programm aufgenommen. Und das alles zu Cant Buy Me Love; von denBeatles! - Noch nicht mal ein reiner Twist als Musikvorlage, sondern was gerade in den Hitparaden vorne war!

    Wirklich groartig. - Die Tanzstunde war aus, und man verabredete sich fr spter im Schlosskeller.

    Nun hat Marianne Lust bekommen auf einen Bananenshake mit Schuss. Allein fr sich wollte sie ihn trinken imSchlosskeller, bevor Theo, und die anderen kamen: Dann hatte sie nmlich keine Ruhe mehr. Jeder Schmalzbubimachte ihr jetzt mitunter den Hof, was sie gelegentlich genoss, andererseits, wenn sie zu wenig Zeit fr sichvorher hatte, als unzumutbare Belastung empfand.

    Auf dem Schlossberg angekommen, geniet sie fr eine Weile die Aussicht auf das abendliche Sommerglck derStadtbewohner. Ein Garten voller Kruter umgibt sie. Unten, in den Straen, in den Gassen, bewegen sich dieLeute in einem sanften, klar beschwingten Rhythmus; kein Beat eher ein Bossa Nova...Zu herrlich ist es hier oben, um der noch nicht untergegangenen Sonne den Rcken zu kehren - jetzt schon inden Schlosskeller zu pilgern - wo manchmal ein Dutzend halbinteressierte Tanzkursteilnehmer eigentlichunoriginelle, aufstiegsorientierte Technokraten - oder schlichte bauernschlaue, hausbackeneNachobenschlferinnen mit Abitur - wollstig ihre eisgekhlten Aperitifs hinunterschlrfen: Immer darauf aus, denrichtigen Partner zum richtigen Geschft zu finden, um sich und der Welt endgltig zu beweisen, dassIndividualitt in Invaliditt mndet, weswegen man Ersteres nur vortuscht, aber im Grunde nie wirklich lebt...Insgeheim hofft Marianne Theo, ihren Tanzstundenkavalier, diesmal nicht im Schlosskeller zu begegnen. Frserste ist es genug. Theo will wohl mehr, als nur ihr Kurspartner sein bei Frau Honigmonds Gesellschaftstanzkurs.Das sprt sie wohl und - dies gefllt ihr nicht.Sie verlsst den barocken Schlossgarten, mit den zierlichen wasserspendenden Lustengeln um den Brunnenherum, und geht auf die Terrasse der Weinstube, die sich gegenber des hochromanischen Domes befindet, derauch mit frhgotischen Elementen versehen, und reich an altmeisterlicher Ornamentik ist: Mhevoll restaurierteBauten, die europische Kulturgeschichte erzhlen. Doch auch so manche unerforschte Nebenschlichkeit findetsich hier, die den fernen Besucher, gleich dem eingeweihten Kundigen, bestenfalls am Rande interessieren wird.Denn da ist dieses einzige riesige magische Rundfenster an der Auenmauer des Altarraumes der altkaiserlichenStiftskirche. Wie ein Krater wirkt es geradezu auf den Betrachter, wenn dieser, aus dem Schlossgarten kommend,

  • der Ostseite des sakralen Baues sich zuwendet.. Marianne zieht es insgeheim immer wieder hin zu diesem Ort. Er hat ihr etwas mitzuteilen. Aber was?

    Und da sitzt wieder einmal dieser ltere Herr auf der Terrasse, dessen Namen sie nicht kennt, der sich immer zuihr gesellt, und ihr jeden Wein bezahlt. Auch diesmal soll es so sein. Wie geht es dem Tchterchen? fragt erinteressiert. Sie ist bei den Groeltern, antwortet sie. Manchmal, ist Marianne nmlich um die Mittagszeit mitihrem vierjhrigem Tchterlein Sibylle ebenso dort im Weingarten, um sich ein Erdbeer-Eis mit ihrem Engelchenzu teilen. Da verweilt wunderlicherweise auch jener Herr X., wie bestellt, schon dort, und spendiert fr das Kleineeinen Kakao mit Sahne und Schokopltzchen. Was fr ein merkwrdiger Mensch, denkt Marianne, sucht ereine Familie, oder einen Ersatz dafr? - Man kann mit ihm ber so vieles reden. Er ist sehr weltgewandt. Nurber sich sagt er fast nichts! Allein, dass er nicht mehr arbeiten msse, er beraus froh darber sei, lie erletztens durchblicken...Wie sonst, wurden die Beiden von einer rothaarigen, hochgewachsenen Teenagerinbedient. Niemals waren sie verabredet. Immer war diese Begegnung zufllig. Oder nur scheinbar zufllig: Wennnmlich jemand wie er, offenbar hier sein zweites Zuhause haben mochte. - Doch selbst das wusste Mariannenicht sicher. War sie doch nicht immer hier, auf dem Schlossberg. Mag sein, dass das alles wirklich Zufall war.Solange es wie Zufall aussah, schien es ihr nur recht.Frchtete sie doch den Schritt, sich auf eine Verabredungeinzulassen, und - bisher hatte er es ja auch nie gewagt, ihr eine solche anzubieten. Doch diesesmal wird wohlnichts aus dem Stelldichein. Denn jetzt kommt Theo mit seinem Borgward Cabrio den Schlossberghinaufgefahren. Eigentlich drfen keine Autos hier hoch, aber das scheint ihn nun geradezu herauszufordern.Kennen Sie den Mann? - Sie kennen ihn. Ich sehe es. Haben Sie mit ihm nher zu tun? Nun ja, er ist meinPartner auf der Tanzschule. Meiden Sie ihn., junge Frau, ich habe keinen Grund, eiferschtig zu sein.Allerdings will ich Sie warnen. Sie tappen in eine Falle. In eine Falle? Wieso? - Sie machen einen Fehler.Er passt berhaupt nicht zu Ihnen. Sie werden nicht glcklich sein. Woher wollen Sie das nur wissen? Glauben Sie mir junge Frau, meine Intuition, betrgt mich fast nie. Dieser Mann ist ein Hasardeur, nichtunbegabt freilich, aber viel zu berechnend und kaltbltig, fr ein so seltenes Geschpf, wie Sie! ImSchlosskeller ist heute Abend Tanz, da will ich hin, ich muss Sie jetzt leider schon verlassen, mein Herr. Bis zumnchsten Mal! Also gut, nchsten Freitag, um die gleiche Zeit wieder hier. Wre Ihnen das recht, Marianne? Natrlich, ich werde kommen. Wiedersehen! Schnen Abend. Bis nchsten Freitag!Klein-Sybillchen schlft schon, als Marianne zu ihren Eltern kommt, um diesmal dort zu bernachten. Sie mussnicht klingeln, denn der Vater ffnet schon und nimmt seine Tochter in Empfang. Mutter hat die Hitze nichtvertragen, der Arzt musste kommen, und ihr ein Mittel verabreichen. Jetzt hat sie erst einmal Ruhe. Sie schlft indeinem Zimmer. Kannst du heute auf dem Sofa bernachten? - Wo schlft Sybille? Da wo Mutter sonstschlft, neben mir im Schlafzimmer. Marianne bleibt keine andere Wahl. Da steht noch eine halbe FlascheKognak auf dem Tisch, dass du besser schlafen kannst. Ich lege mich wieder hin. Gute Nacht, mein Kind! Erschliet die Wohnzimmertr, und Marianne ist allein... Jetzt kommt ihr wieder der ltere Herr in den Sinn, und unheimlich beengt fhlt sie sich nun, nach dem sie dieVerabredung eilig akzeptiert hatte: Und war sie richtig, die Warnung vor Theo? Ging das etwa nicht zu weit? Was fllt diesem gelangweilten Pensionr eigentlich ein! Sie geht an das offene Fenster, und blickt auf denFlugplatz am Rande der Stadt. Ein Senkrechtstarter steigt in die Hhe. Nein! Sagt sie sich. Ich werde nichthingehen. Er ist mir unheimlich, dieser Alte. - Oder ist es nur der Schritt, den ich gehen wrde, der mir sounheimlich wre?Der Lrm des aufsteigenden Dsenflugzeuges ist kaum noch zu ertragen. Schnell schlietMarianne das Fenster.

    *** Die Kognakflasche ist am nchsten Morgen leer. Mein Gott, Kind, musst du viel trinken! - Die Mutterhat Sybille auf dem Arm. Ihr Vater kommt dazu und sagt: Mutter hat Recht. Du bertreibst es wiedereinmal. Marianne schnappt sich ihre Tochter und verlsst das Haus: Euch geht es zu gut! Das ist alles!Zu gut geht es Euch! Zu gut!!!

  • Drei Jahre spter.Wahlburg, 1.September, 1967, 18.57 UhrEine gute Idee war es ja von Theo, die Einschulungsfeier von Sybille auf dem Schloss zu feiern.Sptsommerlich warm, sitzt an einem Sptsommerabend die ganze Verwandtschaft auf derWeinstubenterrasse am Schlossberg. Man hrt die Beachboys, Udo Jrgens oder die Lords aus den Boxen.Die Plattensammlung von Theo, Maschinenbauingenieur und Mariannes Mann, ist offen fr alles, was nur nichtprovoziert. Etwas, das alle mgen, meinte Theo sffisant, sollte man auf einer Familienfeier spielen. Alsokein Paperbach Writer, kein Hendrix, kein -Summer of Love- , legte Theo nach. Sondern eben Kitsch, alleinzur Befriedigung eines verspieerten Selbstwertgefhles gedacht: Einer Bequemlichkeit, die sich unteranderem mit Reinlichkeit im Haus, und Millimetergenauigkeit in der Technik identifiziert, und dieses zum Maaller Dinge erhebt, aber mit Freiheit so wenig gemein hat, wie ein Eisbr mit einem Pantoffeltierchen. Abersonst habe ich ja auch nichts zu melden, denkt Marianne so bei sich, und verflucht im Innersten dieseTerrasse, auf der jener alte Mann einst, ihre eigene Zukunft so treffend doch orakelte... Da erblickt sie pltzlichin den Rumlichkeiten des Weinlokals eine groe Frau mit roten Haaren, die wohl schon damals Dienst gehabthaben musste.. Damals, als sie mit dem alten Mann auf der Terrasse sa. Sie war an diesem Abend da: siebediente die Beiden, als er sie warnte vor Theo, dem Borgwardfahrer. Seit dem war Marianne nicht mehr amSchloss gewesen. So sehr hatte sie diesen Ort gemieden. Doch nun ist sie neugierig. Sie streichelt ihrfrischgebackenes Schulkind Sybille am Kopf, das gerade den Inhalt seiner Schultte sortiert. Und Omaassistiert dabei, was keineswegs selbstverstndlich ist. Nicht immer verstanden sich die beiden so prima. Nochvor wenigen Wochen gab es Disziplinprobleme mit der Enkeltochter im Supermarkt, worauf Gromutter mit TV-Verbot drohte. Ich stecke meine Oma in den Fernsehapparat! soll Sybillchen daraufhin zumVerkaufstellenleiter gesagt haben. Jetzt wissen es alle im Ort: Die Alte gehrt in den Fernsehapparat gesteckt...

    Die ganze Familienmeute scheint auf der Feier nun mit sich selbst beschftigt. Niemand achtet mehr aufMarianne. Eine willkommene Situation, um in die Weinstube zu gehen, ohne dass es auffllt. Die Bedienung imLokal erkannte sie sofort. Na, ganz schn lange nicht da gewesen. Sagen Sie knnen sie sich noch andiesen Mann erinnern, der hier manchmal sa? Sie meinen den ltern Herren? Ich glaube, der ist tot. Sieentschuldigen mich! Marianne sucht die Toilette auf...

    Einige Zeit wurde noch gefeiert, bis es allmhlich dunkel wurde, und leicht zu regnen begann. Sybille wurdeendlich mde, und es war Zeit, auseinander zugehen. Theo, gab ein Zeichen, dass er die Rechnung habenmchte. Nun kam die Frau aus dem Lokal noch einmal auf Marianne zu: Mir ist da noch was eingefallen. DerHerr damals hatte immer mal nach Ihnen gefragt. Irgendwann vertraute er mir ein Kuvert an, mit der Bitte, esIhnen zu berreichen, wenn Sie wieder mal kommen. Ich msste es zuhause noch irgendwo haben. MorgenAbend bin ich auch hier. Wenn Sie mchten, kann ich Ihnen den Brief dann bergeben. Vielleicht steht ja waswichtiges fr Sie drin. Marianne, kommst du jetzt endlich! brllte Theo neben einem geparkten Taxi ber denSchlossplatz. Was redest du denn die ganze Zeit noch mit wildfremden Leuten!

    Wahlburg, 2.September 1967, 17.43 Uhr Am nchsten Abend ist Marianne wieder auf dem Schlossberg im Weingarten. Die rothaarige Kellnerin kommt

    gleich auf ihren Platz zu, als seien sie alte Bekannte. Gr dich! Ich gebe dir einen aus! Sie stellt ein Glas undeine Karaffe Weiwein hin. Marianne ist verwundert ber die unangebrachte Vertrautheit, aber lsst esgeschehen. Ich bin brigens die Uschi. Marianne. Schnell kommen die beiden ins Gesprch. Lange habeich heute Mittag gesucht danach. Im Keller schlielich, beim Altpapier fand ich ihn, den Umschlag. MancheNachrichten brauchen lange, bis sie ihren Empfnger erreichen. Die meisten aber erreichen ihre Empfngernie. Sie legt das beschriftete Kuvert auf den Tisch: An die nette junge Frau mit dem Tchterchen. Ich mussjetzt arbeiten. Wenn du willst, bringe ich dir noch schnell einen Silvaner. Der geht natrlich aufs Haus. Uschibringt die nachgefllte Karaffe noch zu ihr an den Tisch, und zieht sich dann ins Lokal zurck, whrendMarianne auf der Terrasse sitzen bleibt, und vorsichtig den Brief ffnet. Da ist ein Foto im Umschlag, dazu zweivoll beschriebene unlinierte Seiten in kryptischstem Stterlin. Wer ist diese Frau da auf dem Bild? Esscheint, als blicke sie in einen Spiegel. Diese hnlichkeit mit ihr! Sie beginnt zu lesen...

  • ***

    Was in dem Brief steht, soll hier nicht berichtet werden. Eine Lebensgeschichte, die mit Marianne nichts zu hat.Die Rckseite der lteren Photographie aber erzeugt nun doch Gnsehaut bei ihr. Dort steht geschrieben: Annaim Frhsommer 1923, letztes Foto...Marianne hatte bezahlt. Sie geht durch den barocken Schlossgarten, wo die Lustteufelchen seit eh und je amBrunnen ihr kleines Geschftlein verrichten. Wieder kommt sie an das groe kreisfrmige, nach innen gewlbteFenster, an der hinteren Auenseite des Domes. Dieses Fenster, dass mich an einen Krater nach einemMeteoriteneinschlag denken lsst. Es kann ein Sinnbild von Ankunft sein. Denkt Marianne bei sich. Fr denalten Mann wird es eine Ankunft gewesen sein, als er mich traf. Eine Ankunft nach mehreren Jahrzehnten, inwelcher ich, nach einer zuflligen Begegnung mit ihm, die Frau war, bei der er glaubte, angekommen zu sein! -Was fr ein Leben!, flucht Marianne, was fr ein Leben habe ich mir nur gewhlt! Zur falschen Zeit, amfalschen Ort.

    Ein Dsenflieger berfliegt jetzt in niedriger Hhe den Schlossberg. Er kommt aus der Ferne, wo er auch gleichwieder verschwindet.

    steffen gresch 2009-2014

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