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APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte 46–47/2010 · 15. November 2010 Anerkennung, Teilhabe, Integration E. Güvercin · F. Zaimoğlu · M. Asumang · N. Çelik „Ein Teil Deutschlands, mit etwas mehr Farbe“ Naika Foroutan Neue Deutsche, Postmigranten und Bindungs-Identitäten Dietrich Thränhardt Integrationsrealität und Integrationsdiskurs Hartmut M. Griese · Isabel Sievers Bildungs- und Berufsbiografien von Transmigranten Karen Schönwälder Einwanderer in Räten und Parlamenten Michael Bommes Kommunen: Moderatoren der sozialen Integration? Klaus J. Bade · Ferdos Forudastan Ein Gespräch zur Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft

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APuZAus Politik und Zeitgeschichte

46–47/2010 · 15. November 2010

Anerkennung, Teilhabe, Integration

E. Güvercin · F. Zaimoğlu · M. Asumang · N. Çelik„Ein Teil Deutschlands, mit etwas mehr Farbe“

Naika ForoutanNeue Deutsche, Postmigranten und Bindungs-Identitäten

Dietrich Thränhardt Integrationsrealität und Integrationsdiskurs

Hartmut M. Griese · Isabel SieversBildungs- und Berufsbiografien von Transmigranten

Karen SchönwälderEinwanderer in Räten und Parlamenten

Michael BommesKommunen: Moderatoren der sozialen Integration?

Klaus J. Bade · Ferdos ForudastanEin Gespräch zur Teilhabe in der Einwanderungs gesellschaft

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EditorialMindestens 20 Prozent der in Deutschland lebenden Men-

schen, ihre Eltern oder Großeltern haben Migrationserfahrung. Welche politischen Konsequenzen diese gesellschaftliche Reali-tät nach sich zieht, ist strittig. Es wird um die Definitionshoheit über Begriffe wie Integration, Gesellschaft und „Deutschsein“ gerungen. Zeitweilig in rassistische Reflexe umschlagenden Ängsten vor „Überfremdung“ und „fremden Kulturkreisen“ stehen emotionale Verletztheit und Wut ob der Nichtanerken-nung der eigenen Identität und Persönlichkeit gegenüber.

Was sind die Maßstäbe für eine erfolgreiche „Integration“? Ist es die Sprache? Wohl nur zum Teil, denn auch Menschen, die bestens Deutsch sprechen, gelten oft als nicht zugehörig. Ist es die Arbeit? Ebenfalls nur zum Teil, denn auch ein Arbeitsplatz ist keine Garantie gegen Diskriminierung. Sind es der Lebens-stil und die Werteeinstellungen? Auch nur zum Teil, denn auch innerhalb der „alteingesessenen“ Gesellschaft gibt es höchst unterschiedliche Lebensstile und Werteparadigmen. Deutlich wird, dass das Fehlen von Bezugsgrößen für die nationale Iden-tität Raum für Imaginationen öffnet, oft mit der Folge, dass eine nicht näher definierte „Kultur“ zum Referenzrahmen wird, der beliebig interpretierbar ist.

Zukunftsweisend ist nicht die Frage, wie homogen eine Ge-sellschaft sein muss, sondern, wie sich die gesellschaftliche Hete ro geni tät in Institutionen und politischen Machtverhält-nissen widerspiegeln kann. Das setzt neben der Bereitschaft, sich mit Deutschland zu identifizieren, auch die Aufnahme-bereitschaft der Mehrheitsgesellschaft voraus. Es geht um eine „interkulturelle Öffnung der Gesellschaft“ und einen „Umbau staatlicher Institutionen“ (Mark Terkessidis), um die Anerken-nung der Pluralität der Lebensstile und um die gleichberechtig-te Teilhabe aller am Gemeinwesen. Es gilt, unsere Gesellschaft immer wieder neu zu denken.

Asiye Öztürk

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Eren Güvercin · Feridun Zaimoğlu · Mo Asumang · Neco Çelik

„Ein Teil Deutschlands,

mit etwas mehr Farbe“

„Ich bestehe darauf!“ Im Gespräch mit Feridun Zaimoğlu

Eren Güvercin: Während der Fußball-Welt-meisterschaft 2010 hieß es, dass die deutsche Nationalmannschaft mit Spielern wie Me-

sut Özil, Jérôme Boa-teng und Sami Khedi-ra zum ersten Mal die gesamte Gesellschaft widerspiegele. Ist tat-sächlich angekommen, dass Deutschland eine Einwanderungsgesell-schaft ist?

Feridun Zaimoğlu: Zu nächst einmal: Fuß-ball ist Fußball. Ich bin etwas ratlos, wenn ich die Schriften der Euphoriker lese, die sagen, früher war der deutsche Fußball höl-zern, und jetzt ist al-les anders und besser. Seltsam, dass Deutsch-land in der Vergangen-

heit dennoch so viele Pokale mit nach Hause gebracht hat. So hölzern kann dieser Fußball ja dann nicht gewesen sein. Wir erinnern uns, vor zehn oder zwölf Jahren fing das Lamen-to an: Der deutsche Fußball sehe nicht die Zeichen der Zeit und setze nicht auf Nach-wuchskräfte. Das hat der Deutsche Fußball-bund (DFB) nun getan. Denn es geht nicht da-rum, dass herkunftsfremde Deutsche jetzt auf dem Fußballplatz mitspielen dürfen, sondern

Eren Güvercin M. A., geb. 1980; arbeitet als freier Journalist unter ande-rem für „Deutschlandfunk“,

„Der Freitag“, „Neue Zürcher Zeitung“ und „Qantara.de“. Zu

seinen Themenschwerpunk-ten gehören neben globalen

Ungleichheiten auch Migration und Islam in Deutschland.

http://erenguevercin. wordpress.com

[email protected]

Feridun Zaimoglu Geb. 1964; als Schriftsteller schreibt er Literaturkritiken

und Essays unter anderem für „Die Zeit“, „Die Welt“, „Spex“

und „Der Tagesspiegel“.

selbstverständlich um gute Fußballer. Dieses Mal hatte man auf gute Nachwuchskräfte ge-setzt, sowohl auf herkunftsfremde Deutsche als auch auf junge deutschstämmige Deutsche. Ich bin ein glühender Deutschlandfan. Als Sa-lonhooligan bin ich es mir schuldig, und als solcher habe ich auf dem Fußballfeld bis auf das Spiel gegen Serbien und das wirklich kra-chend enttäuschende Spiel gegen Spanien gu-ten Fußball und gute Fußballer gesehen. Na-türlich freue ich mich, wenn darunter gute Leute sind, die hier geboren und aufgewach-sen sind. Das weist natürlich nur in eine gute Richtung. Aber ich bitte darum, das mit der Repräsentationspolitik nicht zu über treiben.

Sie werden oft als Beispiel einer gelungenen Integration genannt. Wieso lief es bei Ihnen so gut?

Ich bin ein Schreiber. Wenn man von Er-folg und Ankunft im Zusammenhang mit mir spricht, dann darf man die Verzweiflung und Erfolglosigkeit meiner Jahre, bevor das mit den Büchern anfing, natürlich nicht ver-schweigen. Ich bin ein doppelter Studien-abbrecher, ich habe keine Ausbildung, und ich bin ganz sicher kein glänzendes Vorbild für andere Menschen. Außerdem ist es eine Frage des Taktes, dass man sich nicht ins Spiel bringt, um dann zu sagen: Seht her, ich habe es anders gemacht, und wenn ihr auf mei-nen Spuren wandelt, so wird euch auch al-les gelingen. Ich bin eher ein Paradebeispiel dafür, wie alles misslingen kann, dass man eben nicht Menschen mit technischen Begrif-fen beikommen kann. Das Wort „Integra-tion“ stammt aus dem Technokraten-Jargon, und ich kann damit herzlich wenig anfangen. Wofür ich stattdessen eintrete ist, dass man bitte schön nicht zu feige sein soll, um von Deutschland als seiner Heimat zu sprechen.

Auf der einen Seite haben wir bedauerns-werte Populisten, die (Überfremdungs-)-Ängs te schüren. Schwätzer von diesem Schla-ge wird es auch in Zukunft geben. Ich bestehe aber darauf, dass die Geschichte der Einwan-derung in Deutschland eine Erfolgsgeschichte ist. Ich bestehe darauf, dass man die Männer und Frauen der ersten Generation – der golde-nen Generation – bitte schön mit Respekt be-handeln mag. Ich bestehe darauf, dass Popu-listen und Menschen, die abfällig daher reden und auch noch von sich behaupten, dass sie mutig seien, mit Verachtung gestraft werden.

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Ich bestehe aber auch darauf, weil es die Re-alitäten Deutschlands widerspiegelt, dass her-kunftsfremde Deutsche, die hier aufgewachsen sind, doch bedenken mögen, dass Deutschland ihr Land und ihre Heimat ist. Im Grunde ge-nommen sind sie auch Deutsche. Die kurdisch-, türkisch- und anderen fremdstämmigen Deut-schen brauchen kein Vorbild. Sie sind zu klug, um sich an den Realitäten und Fakten des Le-bens zu orientieren, und nicht an einem Filme-macher, Schriftsteller oder einer Nachrichten-sprecherin. Das haben sie gar nicht nötig.

Sind Begriffe wie Multikulturalismus oder Integration längst überholte Begriffe, wie der Migrationsforscher Mark Terkessidis in seinem Buch „Interkultur“❙1 ausführt? Sie beispiels-weise wurden zu Anfang Ihrer Schriftstel-lerlaufbahn der „Migrantenliteratur“ zu ge-ordnet.

Es ist mir eine große Freude zu sehen, dass die Technokraten, die das Leben ideologisch verkrümmen, und die Populisten und Hys-teriker der Wirklichkeit hinterher hecheln. Man kann es natürlich tun. Man kann in sei-ner warmen Stube hocken und auf eine be-stimmte Klientel schielen, und dann anfan-gen zu fluchen. Man kann Menschen, die sich zunächst einmal nicht wehren können, denunzieren. Das ist eine Frage des Niveaus und sei jedem freigestellt.

Heißt das, man muss sich von dieser Termi-nologie lösen, um die Debatte in eine andere, positivere Richtung zu lenken?

Es ist tatsächlich so, dass die jungen Män-ner und Frauen nicht nur aufgehört haben, Migranten zu sein, sondern dass man bei ih-nen die Zuschreibung „herkunftsfremd“ auch streichen kann. Man darf einen Fehler nicht begehen: Man darf nicht versuchen, mit den Begriffen aus dem Soziologie-Seminar und den Redaktionsstuben Phänomene der soge-nannten Unterschicht begreifen zu wollen. Das ist ein großer Fehler, und ich sehe seit 20 Jahren, dass dieser Fehler bewusst oder unbewusst begangen wird, um zu bestimm-ten Schlüssen zu kommen.

Was sind das für Schlüsse? Die Türken können nichts! Wenn man von Ausländern

1 ❙ Vgl. Mark Terkessidis, Interkultur, Bonn 2010 (Schriftenreihe der bpb, Bd. 1074).

spricht, dann meint man eigentlich die Tür-ken. In den vergangenen Jahren wurde das Fremde mit dem Begriff „Moslem“ kodiert. Also man meint den Türken oder Moslem, wenn man Ausländer sagt. Dann sagt man, diese Leute sind nicht angekommen, diese Leute können nichts, sie seien dumm und wollten sich abschotten. In jeder Szene und Schicht der deutschen Gesellschaft, in jeder Klasse gibt es Menschen, die sich abschotten. Wenn man von Abschottungspolitik spricht, dann sollte man sich nicht an die fremdstäm-migen Deutschen halten, sondern eher an die Großbürger, also an die Spitzen der Gesell-schaft. Da lernt man, was Abschottungspo-litik ist. Auf die einfachen Menschen, das einfache Volk einzudreschen, hat eine lange Tradition. Ich bin nicht willens darauf einzu-gehen. Tatsächlich sollte man auch nicht mehr versuchen, mit den alten Dickköpfen zu spre-chen. Das langweilt mich, und das langweilt vor allem die Menschen da draußen. Es ist so oft gesagt worden: Es ist ein soziales Problem und kein kulturelles. Wenn man, statt auf die eigentlichen ökonomischen und sozia-len Probleme Deutschlands hinzuweisen, die Diskussion kulturalisiert, dann ist das lum-pig. Deutschland ist viel weiter.

Sie bezeichnen sich als Deutscher und Kiel als Ihre Heimat. Vor kurzem wurden Sie von einem Schriftstellerkollegen als „Ärmelscho-nerliterat“ bezeichnet: Sie würden sogar Gar-tenzwerge sammeln, damit man bloß nicht auf die Idee komme, dass Sie kein Deutscher sind.

Als ich das las, war ich sehr erschrocken, weil bei mir in der Küche ein Mehlsack um-fiel. Es ist seltsam, dass ich in der Vergangen-heit ausgerechnet von Menschen, von denen man eine gewisse Einsicht erhofft, heftige Nackenschläge bekam. Es geht hier um mein Selbstverständnis, es geht mir nicht darum, mich zu verkleiden, um dann in den Augen der Menschen besser dazustehen. Im Grunde genommen lache ich nur noch darüber. Das ist ja nicht das erste Mal, dass man es mit ei-ner Denunziation versucht und glaubt, mich treffen zu wollen. Ich grinse nur, und das ist keine Koketterie. Ich sage da nur, jeder kann machen, was er will. Man kann das lustig fin-den, man kann das lächerlich finden, man kann sogar mich als eine lächerliche Figur an-sehen, nur Fakt bleibt: Ich bin ein gut gelaun-ter Deutscher!

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„Deutschland kreiert sich neu.“ Im Gespräch mit Mo Asumang

Mo Asumang ist mit ihrem Film Roots Ger-mania regelmäßig auf Tour. Er wird in Schu-len und Jugendeinrichtungen vor ge führt.

Im Rahmen dieser Vorführungen besteht die Möglichkeit, über rechtsextreme Gewalt, E i n s c h ü c h t e r u n g , Ideologie, Rassismus und Demokratiefeind-schaft, aber auch Zivil-courage, Mut, die Fra-ge der Wurzeln (roots)

Einzelner und von Gruppen und ihre demo-kratische Integration ins Gespräch zu kom-men. ❙2 Ein aktuelles Projekt, an dem Mo Asu-mang mitwirkt, ist das HomeBase-Projekt. Es ist ein ortsspezifisches Projekt für öffentliche Kunst, das sich zur Aufgabe gemacht hat, eine interdisziplinäre und kontextbezogene Un-tersuchung des Archetypus von Heim/Zu-hause (Home) anzuregen. Das bisher jährlich in New York stattfindende Projekt hat be-reits internationale Anerkennung gefunden. HomeBase integriert zeitgenössische Kunst im städtischen Alltag und macht sie für die Öffentlichkeit erfahrbar. Es hinterfragt die Rolle von Kunst als Mittel der Kommunikati-on im interkulturellen, nachbarschaftsbilden-den und sozialen Dialog. Dabei untersucht es in vielschichtiger Weise Aspekte von Heim/Zuhause durch interaktive, nachbarschafts-bezogene Kunstprojekte im urbanen Raum. ❙3

Eren Güvercin: Vor einigen Jahren wur-den Sie öffentlich von einer Neonaziband be-droht. ❙4 In Ihrem Film Roots Germania ha-ben Sie anschließend den Germanenkult deutscher Neonazis hinterfragt.

Mo Asumang: Ich bin ja immer der Mei-nung, dass Deutschland ab und zu mal in den Spiegel schauen sollte, weil eine Gesellschaft natürlich immer im Wandel ist. Die Gesell-schaft bleibt nicht so, wie sie ist, sonst würde

2 ❙ Vgl. http://roots-germania.com (10. 10. 2010).3 ❙ Vgl. www.homebaseberlin.com (10. 10. 2010).4 ❙ Die Neonaziband White Aryan Rebels rief in ei-

nem Lied mit „Diese Kugel ist für dich, Mo Asu-mang“ zum Mord an der Schauspielerin auf. Eine an-dere Textzeile des Songs lautete: „Völkerbrei wirds hier nicht geben. Ihr müsst sterben und wir leben.“

Mo Asumang Schauspielerin, Sängerin,

Fernsehmoderatorin, Regisseu-rin und Geschäftsführerin einer

Produktionsfirma von Filmen und Fernsehbeiträgen.

[email protected] www.mo-asumang.com

ein Land erst gar nicht entstehen. In meinem Film Roots Germania habe ich mich hierzu auf Spurensuche gemacht und viel erfahren über die Geschichte Deutschlands. Es ist nicht zu fassen, wie Nazis die deutsche Geschichte missbrauchen, wie sie sich Symbole und Hel-denfiguren klauen und Mythen verdrehen.

Kurz nach dieser Drohung haben Sie ein Fotoshooting in einem Brunhilde-Kostüm ge-macht. Sie sagten, dass Sie durch diese über-spitzte Form zeigen wollten, dass Sie auch deutsch sind. Woraus besteht die deutsche Identität?

Auch eine Identität ist im Wandel. Natür-lich gibt es gewisse Dinge, die man über Jahr-hunderte und Jahrtausende hinweg in gewis-sen Gebieten als Identität erarbeitet hat, aber dennoch liegt der Fokus darauf, dass wir uns verändern und dass wir ständig neu dazuler-nen. Eine Identität ist nicht etwas, was starr ist, sondern etwas, was sich ständig trans-formiert.

Sätze, wie „Geh doch dahin, wo du her-kommst“, höre ich, Gott sei Dank, nicht mehr so oft. Aber es gab schon einige Leute, die mir im Laufe meines Lebens solch einen Satz an den Kopf geschmissen haben. Aber was bedeutet das eigentlich: Geh dahin, wo du herkommst? Ich kann natürlich nach Kas-sel gehen, da bin ich geboren, meine Migra-tion besteht aus meinem Umzug von Kassel nach Berlin, das war 1986.

Das schlimme ist, dass man aufgrund der tiefsitzenden Unwissenheit zu Identitätsfragen in Deutschland und aufgrund der Hasspredig-ten der Neonazis leider sehr oft auf die Haut-farbe oder Religion reduziert wird. Ich finde es sehr wichtig, dass man solche Sätze „Woher kommst Du?“ ganz normal beantworten kann. Ich möchte einfach antworten dürfen, dass ich aus Kassel komme, ohne dass die Leute in Ge-lächter ausbrechen. Leider, muss ich sagen, ist das im Jahr 2010 immer noch so. Die Leute la-chen, wenn ich sage, ich komme aus Kassel, weil sie einfach nicht akzeptieren wollen, dass man vielleicht auch zwei Wurzeln hat. Weil mein Vater aus Ghana kam, sagt man dann: „Aahh, Du kommst aus Ghana.“ Der Rest von mir, die deutsche Seite, dass ich hier geboren wurde, perfekt deutsch spreche, dass ich hier Abi tur gemacht habe, und vielleicht sogar, dass ich gerade aus meinem Leben hier erzählt habe,

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all das wird einfach unterschlagen, als gäbe es das nicht. Das finde ich sehr schade.

Wie würden Sie sich selber bezeichnen: als schwarze Deutsche oder als Deutsche mit Mi-grationshintergrund?

Ich bin in der Initiative „Schwarze Deut-sche“, und dort gibt es ständig die Diskus-sion, wie man sich bezeichnen sollte. Afro-Deutsche oder schwarze Deutsche ist dann das, worauf man sich in dieser Gruppe geei-nigt hat. Ich persönlich gehe damit etwas lo-ckerer um. Wenn ich mit meinen Freunden rede, dann sag ich auch schon einmal, dass ich Brownie bin. Ich habe damit gar kein Pro-blem und nach meiner Filmarbeit mit Roots Germania erst recht nicht. Man könnte auch sagen, man ist Weltbürger, aber ein wenig Zu-gehörigkeit brauche ich dann doch.

Wann gehört man denn dazu? Was bringt die Menschen dazu, an der Gesellschaft teil-zunehmen, und welche Rolle spielen soziale Unterschiede?

Integration fängt für mich in erster Linie damit an, dass ich als „Migrantin“ irgendwo im Abbild der Deutschen auch sichtbar bin. Erstmal muss ich überhaupt wissen, dass ich existiere, und so was sieht man in erster Linie in den Medien. Dieses Abbild ist für mich der Anfang von Integration. Wenn dieses Abbild in einem großen Ungleichgewicht ist, wie es derzeit bei uns immer noch der Fall ist, dann kann man nicht von Integration sprechen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der 19 Pro-zent der Menschen einen Migrationshinter-grund haben. Aber das Abbild in den Medien liegt bei vielleicht zwei Prozent.

Als Beispiel können wir meine Person neh-men. Ich bin in Kassel aufgewachsen und habe eigentlich nie etwas gesehen, womit ich mich identifizieren konnte. Das Abbild von mir gab es höchstens mal in US-amerikani-schen Serien oder Filmen. Wenn ich mir an-schaue, was heutzutage in den Medien zu se-hen ist, sieht es ziemlich mau aus. Für mich bedeutet Integration, dass ich Menschen mit Migrationshintergrund sehen kann, und dass sie auch „normal“ abgebildet werden und nicht in irgendwelchen Klischees. Gerade im Bereich Medien muss man sich da noch mehr Mühe geben. Ich frage mich, wie passt es zu-sammen, dass alle zu Recht stolz waren auf

die deutsche Nationalmannschaft während der Fußball-Weltmeisterschaft – das so ge-nannte Rainbow-Team –, aber man gleichzei-tig in Fernsehbeiträgen über Muslime noch immer hauptsächlich „Frauen mit Kopftuch und fünf Lidl-Einkaufstüten“ sieht. Das geht einfach nicht.

Soziale Unterschiede sind das, worum es eigentlich geht. Man gehört natürlich ver-schiedenen Kulturkreisen an, aber letztend-lich geht es einfach darum, wer sich ein an-genehmes Leben leisten kann und wer nicht. Wer wenig Geld hat, wird es schwerer haben. Das Wort „Parallelgesellschaft“ ist schon fraglich, da jeder irgendwie in einer Paral-lelgesellschaft lebt, weil er sein eigenes Uni-versum hat und seine persönliche Identität schützt. Wenn Leute das in einer größeren Gruppe machen, dann könnte das vielleicht einen Grund haben?! Niemand würde das aus einem natürlichen Bedürfnis heraus machen. Jeder möchte mit seinem Nachbarn normal kommunizieren, seine Schulkameraden be-suchen, jeder möchte zu einer großen Grup-pe dazugehören, jeder möchte auch Teil des Landes, der Gesellschaft sein, in der er lebt.

Die Rhetorik hat sich in den vergangenen Jahren verschärft, insbesondere wenn es um in Deutschland lebende Muslime geht. Einige Stimmen befürchten, dass rechtsextreme Pa-rolen wieder salonfähig werden. Wieviel kul-turelle Differenz verträgt überhaupt eine Ge-sellschaft?

Eine Gesellschaft verträgt ganz viel kul-turelle Differenz. Mit der kulturellen Viel-falt kommen natürlich auch Fragen hoch, wie man miteinander umgeht. Aber das ist auch ganz wichtig. Wenn wir keine Fragen haben, sei es in der Familie oder in der Gesellschaft, wie wollen wir uns dann weiterentwickeln? Wie man zusammenkommt, wie man etwas verändern kann, wie man wachsen kann, all diese Fragen sind essentiell dafür, dass eine Gesellschaft lebendig bleibt. Ich glaube auch, dass eine Gesellschaft durch kulturelle Viel-falt stärker wird. Es gibt natürlich Menschen, denen das zu viel ist. Sie können damit nicht umgehen, weil sie in ihren Denkstrukturen festgefahren sind. Die kommen aber auch nicht wirklich weit damit.

Kritiker meinen, nur wer alles bis auf sei-nen Namen aufgebe, habe in Deutschland

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eine Chance. In Deutschland spiele es immer noch eine sehr große Rolle, ob man „Stallge-ruch“ habe. Teilen Sie diese Sichtweise?

Stallgeruch, dazu fällt mir eine Geschichte ein: Neulich hat mir ein junger Deutschtürke erzählt, dass er auf Wohnungssuche mit sei-nem Namen Öztürk kaum Angebote bekam. Dann hat er sich aus Spaß mit dem Namen Müller am Telefon gemeldet, plötzlich kamen jede Menge Wohnungsbesichtigungsangebo-te. Mit solchen Ungerechtigkeiten und diesem Rassismus geht jede Migrationsgruppe anders um. Bei kleinen Migrationsgruppen herrschen ganz andere Gesetzmäßigkeiten als bei gro-ßen Gruppen. Muslime oder türkeistämmige Einwanderer bauen schon für ihre Kinder in jungen Jahren einen Schutzmantel auf. Wenn ich als kleines türkisches Mädchen zum Bei-spiel Rassismus ausgesetzt bin, habe ich natür-lich eine große Community um mich herum, die mich schützen und in die ich mich zurück-ziehen kann, wenn ich will. Ich habe sehr viele deutsch-türkische Freunde, von denen einige irgendwann sagten, sie seien Türke und eben kein Deutscher. Das ist aber eher eine Reak-tion auf Rassismus und Ungerechtigkeit, man würde von alleine nicht auf so etwas kommen. Man würde dann eher sagen, ich bin Deutsch-Türke, oder einfach, ich bin deutsch. Solch ei-nen Schutzmantel hat man in den afrikani-schen Communities nicht, weil sie zu klein sind. Es ist aber in jedem Fall ein Schutzman-tel, eine Reaktion auf eine Gesellschaft, die ei-nen eben nicht als normal annimmt, wie es ei-gentlich sein müsste.

„Deutschland schafft sich ab“ war und ist eine kontrovers diskutierte These. Was für Auswirkungen werden die teils rassistischen Äußerungen der vergangenen Wochen wie beispielsweise, dass bestimmte Menschen-gruppen an sich fauler und dümmer seien, auf die Integrationsdebatten insgesamt haben?

Einige Migranten werden sich sicherlich zurückziehen und abkapseln. Andere wiede-rum werden auch wütend sein. Die meisten jedoch sind längst dabei, am gesellschaftli-chen Leben teilzuhaben, wie in jeder anderen Generation seit der Gründung der Bundes-republik Deutschland und auch lange davor. Ich kann dazu nur sagen: Deutschland kre-iert sich neu. Ich persönlich werde mich nicht abkapseln, ich sehe keine Veranlassung dazu, da ich hier geboren, aufgewachsen und ein

Teil Deutschlands bin, mit etwas mehr Far-be. Ich glaube auch, dass man sich nur dann abkapselt, wenn Kommunikation einschläft und keine Veränderungen in Sicht sind, aber genau das Gegenteil ist gerade der Fall.

Sicher gibt es fremdenfeindliche Ressenti-ments in der Bevölkerung, vor allem als Aus-wirkung der mangelnden Aufklärungspo-litik, nicht, weil die Leute nicht in der Lage wären, Integration zu leben. Ich glaube das Miteinander von Menschen ist etwas mensch-liches, weil Menschen in der Gemeinschaft lernen. Im Normalfall macht einen „das Andere“ neugierig, ein Instinkt, der zum Wachstum beiträgt. Es darf nicht sein, dass wir uns diese Neugier nehmen lassen, durch Bücher, die spalten wollen, statt zu fördern. Die Medien sollten aufzeigen, was an Mei-nungen zum Thema Integration da ist, und dann schauen, was der Ursprung dieser Ge-danken ist. Nur wenn man etwas kennt, kann man auch etwas ändern. Vielleicht kommen erst einmal Ängste hoch, aber das ist gut, so-lange man darüber spricht. Die Medien soll-ten die Ängste der Menschen ernst nehmen und mit Diskussionsrunden, Filmen und Bei-trägen zeigen, wie man diese Ängste auflösen kann. Die Zeiten sind für alle schwer.

„Gewalt in Kunst verwandeln.“ Neco Çelik im Portrait

Neco Çelik ist als Sohn türkischer Gastar-beiter in Berlin-Kreuzberg groß geworden. Seine Biographie liest sich wie ein Film: vom Gangmitglied zum Film- und Theaterre-gisseur. Die US-ame-rikanische Zeitschrift „Vanity Fair“ bezeich-nete ihn gar als den „Spike Lee Deutsch-lands“. Neco Çelik ist ein Vorbild für viele Jugendliche, die von Integrat ionsexper-ten gerne als perspek-tivlos bezeichnet werden. Trotz seines er-staunlichen Werdegangs vergisst Çelik seine Jungs (und Mädels) nicht und arbeitet immer noch ehrenamtlich im Kreuzberger Jugend-zentrum Naunyn Ritze. Seine Eltern kamen 1967 als Gastarbeiter nach Deutschland. Als zweitjüngster von fünf Geschwistern wuchs

Neco Çelik Geb. 1972; arbeitet seit 1993 als Medienpädagoge in Berlin-Kreuzberg und als Regisseur im Ballhaus Naunynstrasse; 2004 wurde er für seinen Spiel-film Urban Guerillas mit dem Publikumspreis des Filmfesti-vals Nürnberg ausgezeichnet. www.ballhausnaunyn strasse.de

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er in Kreuzberg auf. Über seine Kindheit sagt er: „Hier wächst man in einer türkischen Um-gebung auf. Es war zu jener Zeit eine kaput-te Gegend, direkt an der Berliner Mauer. Für uns Kinder war das eine aufregende Zeit, für die Erwachsenen ist es ein armes Leben gewe-sen. In so einer Umgebung hat die Schule kei-ne große Rolle für mich gespielt.“

Er beobachtete die „Gastarbeitergenerati-on“ und entwickelte Unbehagen gegenüber einem Leben, das für ihn in vielerlei Hinsicht falsch „eingerichtet“ zu sein schien: „Ich konn-te es nicht glauben. Ich bin extra mit meinen Eltern zu den Nachbarn, zu denen ich nie ge-hen wollte, und habe geguckt, ob sie dieselben Möbel hatten. Sie hatten den beschissenen sel-ben Schrank und den beschissenen selben Tep-pich. Die, die sich davon lösen konnten, haben erstmal begriffen, was Leben bedeutet“, sagt Neco Çelik. Sie seien nur mit ihrem Leben be-schäftigt gewesen: „Arbeiten und arbeiten und diese Hoffnung hegen, wir werden zurückkeh-ren und dann unser wahres Leben leben. Bull-shit! Man war sozusagen in einem sozialen Ge-fängnis, so eine Herde von Schafen, die bloß nicht ausscheren durften, um etwas zu verän-dern.“ Er brach die Schule ab und wurde Mit-glied in der berüchtigten Straßengang 36 Boys, deren Anführer er auch war. „Das hatte etwas mit Haltung zu tun, mit Intelligenz – und mit einem Talent zur Schauspielerei. 90 Prozent hier auf dem Kiez sind Schauspielerei, Effekt-hascherei und MTV.“ Sie seien damals Jugend-liche gewesen, die mit sich nichts anfangen konnten und jede Menge Energie hatten. „Wir lungerten an den Ecken herum und waren der Meinung, dass wir besser sind als die anderen, die ebenfalls an den Ecken rumlungerten. Wir haben uns als intellektuelle Kriminelle gesehen. Es gab unter uns auch Gedichteschreiber!“

Bald begann Neco Çelik durch Graffi-ti und Rap seine Wut in Kunst zu verwan-deln. Dies sei einfach gewesen, da laut Çelik Gewalt und Kreativität sehr nah beieinander lägen. Er holte seinen Schulabschluss nach und machte im Jugendzentrum Naunyn Rit-ze eine Ausbildung zum Medienpädagogen. Das Filmhandwerk brachte er sich selber bei. Im Jahr 2003 drehte er seinen ersten Spielfilm Urban Guerillas, der die Wut und die Träu-me der „Ghetto-Kids“ behandelt. Fast alle Schauspieler in diesem Film waren Laien, alte Freunde von der Straße. „Ich nehme sie mit auf meinen Weg“, sagt Çelik.

Mittlerweile hat er drei Spielfilme gedreht und Erfahrung als Theaterregisseur gesam-melt. „Ein Theaterstück zu inszenieren, war für mich schon immer ein geheimer Wunsch gewesen. Als man mir Feriduns Stück Schwar-ze Jungfrauen angeboten hat, habe ich sofort ‚ja‘ gesagt.“ Zu seiner Theaterpremiere hatte Çelik damit ein Stück zu inszenieren, das es in sich hat; es schockierte viele Theaterbesucher. „Der Inhalt des Textes ist extrem, extrem stark“, führt Neco Çelik an. „Die Leute sind wirklich von ihren Stühlen gefallen. Sie konn-ten nicht glauben, dass jemand so etwas sagen kann. Sie sind von diesen Frauen erschüttert. Das beweist, dass das, was sie sagen, in der Öffentlichkeit überhaupt nicht vorkommt.“

Dieses Theaterstück ist ein ausgesprochen böses Echo aus muslimischer Sicht auf die zu-nehmende Islam-Hysterie der hiesigen Gesell-schaft. Es handelt von zehn jungen muslimi-schen Frauen: „Diese jungen Frauen sind keine Ja-Sager, keine Ängstlichen, keine Ungebil-deten, keine Gutmensch-Frauen. Sie sind zor-nige, starke, coole, witzige und mutige Musli-minnen, die das Wort ergreifen, ohne Punkt und Komma im Angesicht des Publikums ihre persönlichen Geschichten oder Meinungen vortragen. Manchmal ist es vulgär, manchmal radikal kompromisslos. Und das ist gut so.“ ❙5

Mittlerweile hat Neco Çelik im Ballhaus Naunynstraße schon bei einigen Theaterstü-cken Regie geführt. Künstlerische Leiterin des Ballhauses ist Shermin Langhoff. Im Novem-ber 2008 wurde das Ballhaus mit dem Theater-festival Dogland wiedereröffnet. Initiator und Träger des neuen Konzepts an der kommunalen Spielstätte ist der Verein „kultur SPRÜNGE“, ein Netzwerk von Kulturschaffenden der zweiten und dritten Migrantengeneration, das Langhoff 2003 ini tiierte und zu dessen Unter-stützern und Protagonisten Fatih Akin, Neco Çelik, Feridun Zaimoğlu, die Schauspielerin Idil Üner, der Rapper Ceza und viele andere Kulturschaffende gehören. „Diese Spielstätte ist aus der Feststellung entstanden, dass es hier

5 ❙ In Çeliks Inszenierung im Jahr 2006 fragen Schwar-ze Jungfrauen, „warum Allah kein Ausländer und die Gottkriminalität notwendig ist; wodurch der weichge-spülte Islam halal wird und warum man morgens mit Flöhen aufwacht, wenn man mit Gottlosen geschlafen hat. Und nicht zuletzt geht es ihnen auch um die Suche nach der perfekten Symbiose: Sex und Islam. Ihre from-me These lautet: Nackt ist nicht gleich ungläubig und vollbandagiert ist nicht gleich Gott total unterworfen.“

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ein kulturelles Kapital gibt, das überhaupt nicht gefördert wird“, betont Langhoff. „Mein An-spruch ist es, vor allem migrantischen Künst-lern aus der zweiten und dritten Generation ein Forum zu geben, um neue Geschichten aus neuen Perspektiven zu erzählen.“

Durch junge Talente wie dem Regisseur Neco Çelik oder dem Schauspieler Erhan Emre hat das Ballhaus Möglichkeiten, die sich andere Theater erst mühsam aufbauen müs-sen: Durch Çeliks Tätigkeit in der Jugendein-richtung Naunyn Ritze (direkt gegenüber des Ballhauses) eröffnen sich etwa Möglichkeiten für Projekte zur kulturellen Bildung der Ju-gendlichen in Kreuzberg. Aber die kulturelle Bildung ist nur ein Teil der Arbeit: „Wir wol-len zwar soziale Fragestellungen einbeziehen, aber über die soziokulturellen Momente des klassischen Migrationstheaters hinausgehen und neue Wege einschlagen“, erklärt Lang-hoff. Sie bezeichnet das Ballhaus als „postmi-grantisch“. Postmigrantisch umfasse dabei vor allem die Geschichten und Perspektiven derer, die selbst nicht mehr migriert seien, den Mi-grationshintergrund aber als Wissen mitbrin-gen. „Man bewegt sich mit diesen Selbst- und Fremdzuschreibungen natürlich immer auf einer Grenzlinie. Aber wir brauchen diese Ti-telagen – auch um zu provozieren und damit wir uns gemeinsam weiterentwickeln können. Denn als ‚junge Deutsche‘ werden wir einfach nicht gesehen. Ich glaube, dass jede gebroche-ne Biografie, sei es durch Migration oder an-dere Umstände, ein gewisses Potenzial birgt.“

Für Neco Çelik ist diese Arbeit nicht nur für Kreuzberg wichtig. Es entstehe eine Pa-ranoia, weil der Minderwertigkeitskomplex groß sei. „Was sieht einer von hier, wenn er in die ‚Bild‘ schaut oder ins Fernsehen? Er sieht: Alle sind gegen mich.“ Viele fühlten sich von der Mehrheitsgesellschaft verachtet. „Da staut sich was Krasses an“, warnt er, „das macht manche der Jungs so paranoid, dass sie nur noch denken: Ich will auf keinen Fall Op-fer sein, die anderen sollen Opfer sein. Und wenn es die eigenen Leute sind.“ Dem will er entgegenwirken, beispielsweise mit dem Pro-jekt Streetunivercity, ❙6 durch das die speziel-len Stärken und Fähigkeiten der Jugendlichen entdeckt und entwickelt werden, also Gewalt in Kunst verwandelt werden soll.

6 ❙ Vgl. www.streetunivercity.de (20. 10. 2010).

Naika Foroutan

Neue Deutsche, Postmigranten und Bindungs-Identitäten. Wer gehört zum neuen Deutschland?Jeder fünfte Einwohner Deutschlands, da-

runter jedes dritte Kind unter sechs Jah-ren, hat einen Migrationshintergrund. In Ballungsräumen wie Frankfurt oder Berlin trifft dies bereits auf über 60 Prozent der Kinder zu, die dieses Jahr eingeschult wur-den. Wenn Pluralität für Kinder und Ju-gendliche zur Norma-lität wird, ❙1 ist es un-zeitgemäß, über einen Migrantenschlüssel für Schulklassen nachzu-denken – wie auch Forderungen nach einem Zuwanderungsstopp für „fremde Kulturkrei-se“ in Zeiten der Globalisierung anachronis-tisch wirken. Vielmehr wäre es angebracht, in einer Zukunftsdebatte über einen veränder-ten Blick auf die hier lebenden Menschen mit Migrationshintergrund nachzudenken und zu fragen, ob es nicht an der Zeit ist, diese im Sinne einer fraglosen Zugehörigkeit ❙2 als deut-sche Bürger anzusehen, gar als „Neue Deut-sche“? Interessanterweise wird mit dem Ge-danken der Globalisierung vorrangig die Öff-nung der weltweiten Märkte verbunden. Da-gegen ist noch nicht verinnerlicht, dass mit einer Entgrenzung der Märkte nicht nur Gü-ter freier beweglich sind, sondern auch Men-schen. Transnationale Migration, im Rahmen derer Menschen in andere Länder ein- und auswandern, ist ein selbstverständliches Zei-chen der globalisierten Gegenwart.

1 ❙ Vgl. Bundesjugendkuratorium, Pluralität ist Nor-malität für Kinder und Jugendliche, April 2008.2 ❙ Vgl. Kai-Uwe Hunger, Junge Migranten online:

Suche nach sozialer Anerkennung und Vergewisse-rung von Zugehörigkeit, Wiesbaden 2009, S. 251.

Naika Foroutan Dr. rer. pol., geb. 1971; Leiterin des VW-Forschungsprojekts „Hy bride europäisch-musli-mische Identitätsmodelle/ HEYMAT“ an der HU Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin. [email protected]

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Wo Migration auch mit settlement verbun-den wird, wandelt sich die Bevölkerungs-struktur – nicht nur demografisch und sozio-strukturell, sondern auch identitär und ideell. Spätestens in der zweiten Generation der Ein-wanderung stellt sich ein Moment ein, in dem identitäre Verortung nicht mehr eindimensi-onal zu einem Herkunftsland vorgenommen werden kann. Während für die meisten Mi-granten der ersten Generation ein Herkunfts-bezug durch eine aktive Migrationserfahrung bestehen bleibt und in vielen Fällen mit ei-ner zumindest emotionalen Rückkehroption gekoppelt wird, enthält im Falle der Nach-folge gene ratio nen der Herkunftsbezug und der Gedanke der „Rückkehr“ bereits einen Moment von invented tradition. ❙3 Bei einem Drittel der Menschen mit Migrationshin-tergrund ist Migration sogar keine selbster-lebte Erfahrung mehr. Sie bleibt jedoch als Element der biografischen Kernnarration be-stehen – entweder durch die Familienlegende oder durch außerfamiliäre Zuschreibungen, bedingt durch phänotypische Merkmale wie Aussehen, Akzent, Kleidung oder Namen.

Vom Ausländer zur Person mit Migrationshintergrund

Deutschlands „Gesicht“ wandelt sich ste-tig, was zu Verunsicherungen in der Bezeich-nungspraxis führt. Die herkunftsdeutsche Be-völkerung weiß häufig nicht, wie sie sich selbst oder jene bezeichnen soll, die lange Jahre als „Ausländer“ oder „Fremde“ galten und nun offensichtlich zu Deutschland gehören wol-len und sollen. Immer häufiger hört man zur Selbstbeschreibung ironisierend den Begriff „Bio-Deutsche“, da „autochthone Deutsche“ zu wissenschaftlich und „Deutsch-Deutsche“ zu redundant klingt. Hingegen erzeugt der Be-griff „echter Deutscher“ einen ausgrenzenden Effekt, da er die Menschen mit Migrationshin-tergrund offensichtlich als „nicht echte“ Deut-sche kennzeichnet. Immer mehr Menschen nehmen mittlerweile für sich in Anspruch, deutsch zu sein, auch wenn sie „anders“ aus-sehen, „fremd“ klingende Namen oder eine andere Religionszugehörigkeit haben. Trotz-dem gehören die Menschen mit Migrations-hintergrund im öffentlichen Bewusstsein ei-nes Großteils der Bevölkerung noch immer

3 ❙ Vgl. Eric Hobsbawm/Terence Ranger, The Inven-tion of Tradition, New York 1983.

„nicht richtig“ dazu. Mit dem Wort Migration ist eine Neuzuwanderung verbunden, der Mi-grationshintergrund markiert daher seine Trä-ger als tendenziell „neuer“ als jene ohne und in der öffentlichen Wahrnehmung auch als tendenziell fremd, auch wenn sie die deutsche Staatsangehörigkeit in dritter und vierter Ge-neration besitzen. „Wer irgendwo neu ist, soll-te sich erst mal mit weniger zufrieden geben“, sagen 53,7 Prozent der Bevölkerung laut der Studien reihe „Deutsche Zustände“ vom Bie-lefelder Institut für Konflikt und Gewaltfor-schung (IKG). ❙4 Dabei bleibt offen, wie lange dieses „Neu-Sein“ eigentlich Bestand hat und welche Effekte es für das Selbstverständnis als deutscher Staatsbürger mit sich bringt. Tat-sächlich beschreibt das Wort Migrationshin-tergrund in seinem analytischen Kontext die Lebensrealität der Angesprochenen korrek-ter als nationale Kategorien wie etwa „Türke“, „Spanier“, „Chinesen“, die nur eine einseitige Herkunftsverortung vornehmen. Es ist auch exakter als das Wort „Migrant“ oder „Aus-länder“, da ersteres auf jene nicht zutrifft, die nicht aktiv zugewandert sind und letzteres jene falsch bezeichnet, die eine deutsche Staatsan-gehörigkeit haben. ❙5 Allerdings, so neutral der Begriff auch im Entstehungsmoment definiert wurde, verbindet sich mit ihm durch den öf-fentlichen Diskurs eine Bezeichnungspraxis, der eine soziale Praxis folgt, die vorwiegend Differenz-Momente hervorhebt und die in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem mit De-fiziten und Problemen verbunden wird.

Postmigranten

Es fehlt derzeit an einer etablierten Bezeich-nung, welche die nationale und kulturel-le Mehrfachzugehörigkeit und -identifika-tion von Individuen wertneutral beschreibt. Während Mehrfachzugehörigkeit im iden-titären Kontext als postmoderne Normali-tät anerkannt wird, gilt für die nationalen,

4 ❙ Die neuesten Forschungsergebnisse des IKG er-scheinen im Dezember 2010. Die hier genannte Frage ist nach Aussagen des IKG nicht in der Druckausgabe enthalten. Konkrete Fragen dazu können an das IKG direkt gerichtet werden: [email protected]. Für eine weitergehende Analyse vgl. Wilhelm Heitmeyer, Deutsche Zustände, Folge 8, Frankfurt/M. 2010.5 ❙ Von den 15,6 Millionen Menschen mit Migrations-

hintergrund sind mehr als die Hälfte deutsche Staats-bürger (8,3 Millionen), und bei zwei Dritteln ist die Migration aktiv erlebt.

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ethnischen und kulturellen Zugehörigkeiten zumindest in Deutschland noch immer das Kriterium der einseitigen Entscheidung, die mit dem Gedanken der Assimilation als Vi-sion einer gelungenen Integration einhergeht. Versuche, Ersatzdefinitionen zu finden, hat es bereits 1994 mit dem Begriff „Andere Deut-sche“ gegeben, um zu verdeutlichen dass „die Gültigkeit des Anspruchs, deutsch zu sein, sich nicht an der Erfüllung bestimmter Kri-terien der Physiognomie, der Abstammung oder auch der ‚kulturellen‘ Praxis bemisst“. ❙6 Michael Wolffsohn spricht von „Paradigma-Neudeutschen“ ❙7, und der Kabarettist Alp-arslan Marx richtete sogar eine Webseite un-ter dem Namen „D-Länder“ ein, um nach einem gemeinsamen Namen zu suchen. ❙8

Die Verbundenheit mit Deutschland als Heimat findet auf mehreren Ebenen statt. Die kognitive und pragmatische Bezeichnung von Deutschland als Heimat, als „dort, wo mein Haus steht, und dort, wo meine Familie wohnt“, kann dabei teilweise die emotionale Bindung an einen Sehnsuchtsort in der Fer-ne, der ebenfalls mit Heimat assoziiert wird, nicht ersetzen. Dies liegt an dem der Migra-tion inhärenten Moment, der immer mit dem Verlassen eines Zuhauses oder einer Hei-mat einhergeht. Diese teilweise nur tradierte Vergangenheit wird im Kontext der familiä-ren Erzählstruktur und der nicht erfahrenen Alltagsentzauberung zu einem Wunschort stilisiert, der in jedem Moment der Unzu-friedenheit eine virtuelle Rückzugsoption an-bietet – auch wenn diese realiter nicht gegeben ist. Zusätzlich wird von Seiten der ersten Ge-neration der Einwanderer, der Familie oder Community teilweise Druck auf die Folge-generationen aufgebaut, sich den ursprüngli-chen Herkunftsländern nicht zu entfremden.

Die zum Teil fehlende emotionale Verbun-denheit mit Deutschland liegt allerdings auch an Diskriminierungserfahrungen sowie man-gelnder Aufnahmebereitschaft von Seiten der autochthonen Gesellschaft, welche noch immer teils bewusst, teils unbewusst das „Deutsch-

6 ❙ Paul Mecheril/Thomas Teo, Andere Deutsche, Ber-lin 1994, S. 10.7 ❙ So seine Bezeichnung für Professor Bassam Tibi,

der in Syrien geboren, jedoch seit Jahrzehnten deut-scher Staatsbürger ist, zit. nach: Karl Friedrich Ul-richs, Islam-Wissenschaftler Bassam Tibi verlässt Uni, in: Göttinger Tageblatt vom 29. 10. 2009.8 ❙ Vgl. www.d-laender.de (20. 10. 2010).

sein“ auf phänotypische Merkmale reduziert. ❙9 Es liegt aber auch an den spezifischen Krite-rien der deutschen nationalen Identität, die es auch Herkunftsdeutschen nicht leicht macht, affirmativ die Nationalitätszugehörigkeit zu artikulieren. Eine Zu gehö rig keit zu Deutsch-land wird als etwas suggeriert, das sich „Mi-granten“ erst er arbei ten müssen. Gleichzeitig ist festzustellen, dass trotz Fortschritten in der strukturellen Integration (Bildung und Ar-beit) eine kulturelle Integration über den Ver-fas sungs patrio tis mus hinaus erwartet wird, die an Anpassungen an eine nicht näher defi-nierbare deutsche Leitkultur gekoppelt wird.

Gerade für jenes Drittel der Postmigranten, die vom Mikrozensus als „Menschen ohne ei-gene Migrationserfahrung“ erfasst werden, ist Integration ohnehin kein Diskussionskri-terium ihrer Selbstbeschreibung. Migrations-hintergrund und Mehrsprachigkeit werden vor allem als Bereicherung wahrgenommen. Für diese Postmigranten sind Deutsch- oder Integrationskurse etwas, das bestenfalls noch ihre Eltern betreffen könnte, eher ihre Groß-eltern und eben neu Zugewanderte. Bei ihnen ist stattdessen verstärkt ein mehrkulturelles Selbstbewusstsein zu beobachten, ohne ihre „Wurzeln“ vergessen zu wollen, samt einer für sich selbst angenommenen postintegrati-ven Perspektive: Sie sind längst in dieser Ge-sellschaft angekommen, zumindest aus ihrer Sicht und aus der Sicht jenes Teils der Bevöl-kerung, der in Deutschland ein plurales, he-terogenes und postmodernes Land sieht.

Zugehörigkeit, Angehörigkeit, Authentizität

Die Zugehörigkeit zu Deutschland definiert sich jedoch nicht nur über die eigene Fähigkeit zur Identifikation mit dem Mehrheitskollektiv, sondern auch über den Grad und die Häufigkeit der Anerkennung durch eben jenes. Erst diese erlaubt eine Identifikation im Sinne der Ange-hörigkeit. Und erst der Dreiklang von Anerken-nung, fragloser Zugehörigkeit und Angehörig-keit lässt einen glaubwürdigen, authentischen Moment von „Deutschsein“ entstehen. ❙10

9 ❙ Vgl. Iman Attia, Die „westliche Kultur“ und ihr Anderes, Bielefeld 2009.10 ❙ Vgl. Heiner Keupp, Identitätskonstruktionen:

Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek 2008.

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Dabei stellen gerade in Einwanderungsge-sellschaften statische Ansichten auf identitäre Kernnarrationen wie Kultur oder Nation Ex-klusionsmechanismen her, deren Überwin-dung für die soziale Kohäsion solcher Patch-work-Gesellschaften notwendig ist. Gerade im Falle Deutschlands stellen sich hierbei multiple Überwindungshürden auf. Während die deutsche Identität als etwas Exklusives angeboten wird, dessen Erlangung mit Hür-den wie Sprachkompetenz, Landeskunde und Absage an ehemalige Herkunftsländer ver-bunden wird, ist nach Erlangung dieses „Rit-terschlags“ weder die Anerkennung durch die autochthone Gesellschaft noch eine authen-tische Verbundenheit mit dieser nationalen Identität gewährleistet. Dies ist auch eine Er-klärung dafür, warum viele der Menschen mit Migrationshintergrund bei der Frage nach ih-rer Zugehörigkeit problemlos die Stadt nen-nen, aus der sie kommen. Ihre Selbstbezeich-nung als Berliner, Hamburger oder Schwabe sehen sie als faktisch und authentisch an, wäh-rend sie die Selbstbezeichnung als „Deutsche“ eher als Konstruktion oder künstlich empfin-den, da sie diese immer erklären müssen.

Die Selbstbezeichnung muss mit der Fremd-zuschreibung korrespondieren, sonst entstehen Unschlüssigkeiten in der personalen Identität. Wenn eine Person, die phänotypisch als asia-tisch, arabisch oder afrikanisch markiert wird, in ihrer eigenen Wahrnehmung deutsch ist, ge-lingt ihr die Selbstbezeichnung als „Deutsche“ gegenüber der Mehrheitsgesellschaft immer nur mit einer anhängenden Erklärung: „Ich bin deutsch, aber mein Großvater kam aus Marok-ko.“ Es ist die fraglose Zugehörigkeit und somit die Authentizität (im Sinne von Echtheit und Glaubwürdigkeit), die jenen Menschen mit Mi-grationshintergrund verwehrt wird, die durch äußere Zuschreibung zunächst als nicht-deutsch gesehen werden – was immer „Deutschsein“ heutzutage auch sein mag – und die zu unter-schiedlichen Reaktionsmechanismen bei die-sen Menschen führt: von Rückzug und Apathie über Wut und Aggression bis hin zu Trotz und selbstbewusster Einforderung von Teilhabe.

Zumindest das Bezeichnungsdilemma kön-nte in Anlehnung an die im angloamerikani-schen Raum etablierte Bezeichnungspraxis der hyphenated identities ❙11 (Bindestrich-

11 ❙ Vgl. Michael Walzer, Über Toleranz: Über die Zi-vilisierung der Differenz, Hamburg 1998, S. 131 ff.

Identitäten) aufgefangen werden, indem durch eine affirmative Nennung der multiple Herkunftskontext benannt wird: Diese kön-nen auch als Bindungs-Identitäten bezeichnet werden, da sie eine wie auch immer geartete emotionale oder staatsbürgerliche Bindung an bestimmte Herkunftskontexte signalisie-ren. Bindungs-Identitäten wie Deutsch-Tür-ken oder Türkei-Deutsche, Deutsch-Rus-sen oder Russland-Deutsche würden den Deutsch-Deutschen die Möglichkeit geben, Unsicherheiten in der Nennung zu umgehen, aber auch dem Nenner den deskriptiven Zu-gang zu seinen multiplen Erfahrungskontex-ten in der Selbstbezeichnung erleichtern und die stete Erklärung ersparen. Dabei kann die Positionierung der Herkunftsländer verdeut-lichen, welcher Zustand der Herkunftsbe-zogenheit vorliegt. Da die Wortbildungsre-geln der deutschen Sprache besagen, dass bei Zusammensetzungen das am Ende stehende Wort die wesentliche Bedeutung trägt, würde die Bezeichnung Türkei-Deutsche eine Per-son beschreiben, die sich als deutsch sieht und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, aber gleichzeitig einen türkischen Migrationshin-tergrund hat. Umgekehrt würde der Begriff Deutsch-Türke signalisieren, dass die Person sich als türkisch, aber in Deutschland lebend bezeichnet. Schwieriger wird es bei nicht er-probten Bindestrich-Identitäten: Während die Bezeichnung Deutsch-Iranerin noch recht flüssig klingt, hört sich Iran-Deutsche etwas holprig an, desgleichen gilt für Deutsch-Spa-nier und Spanien-Deutscher.

In Zeiten sich ständig bereichernder Wort-schätze darf man die Fähigkeit der Etablie-rung von Bezeichnungen nicht unterschätzen. Auch das Wort Migrationshintergrund war vor fünf Jahren noch neu, obwohl es wesent-lich sperriger als Türkei-Deutscher oder Liba-non-Deutsche klingt. Hier liegt es auch an Si-gnalen aus der autochthonen Gesellschaft, die Öffnung der Begrifflichkeit für ein „Deutsch-sein“ zu ermöglichen, dass multiple Zuschrei-bungsmomente normalisiert. Vor allem muss der Moment der Bindung zur (neuen) Heimat erleichtert und beidseitig internalisiert werden – er muss irgendwann authentisch werden. Es ist an der Zeit, eine Bezeichnungspraxis zu etablieren, welche die hybride Alltagsrealität nicht nur von Menschen mit Migrationshin-tergrund, sondern auch eines immer größer werdenden Teils der globalisierten deutsch-deutschen Bevölkerung erfasst.

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Wer sind die Neuen Deutschen?Die Bezeichnung „Neue Deutsche“ könnte in diesem Kontext zunächst einmal als Beschrei-bungsangebot dienen für jene Menschen, die über eine deutsche Staatsbürgerschaft und ei-nen Migrationshintergrund verfügen. ❙12 So liest man immer wieder in Interviews mit post mi-gran tischen Künstlern diese lapidar formulier-te Selbstbeschreibung: „Wir sind nicht mehr die Türken, die Araber, die Afrikaner, die unsere El-tern vielleicht waren. Wir sind die neuen Deut-schen.“ ❙13 Songs von postmigrantischen deut-schen Rappern verweisen auf die Dilemmata, aber vor allem die Ressourcen der mehrkultu-rell orientierten Jugendlichen und ihr innova-tives Potenzial für die kulturelle Entwicklung der Gesellschaft. ❙14 Sie heben damit das eman-zipatorische Moment der hybriden Lebensfüh-rung einer Generation hervor, die mit ihren ei-genen Selbstentwürfen der Gesellschaft längst vorlebt, was die Öffentlichkeit noch diskutiert. Aber auch für den Fußball scheint die Bezeich-nung „Neue Deutsche“ zu greifen. Ebenso ist er bereits in einigen Blogs zu finden. ❙15

Das zentrale Dilemma des Begriffes ist je-doch, dass er, wenn er nur für Menschen mit Migrationshintergrund etabliert oder mit Zu-wanderung assoziiert wird, selbst wiederum eine Differenzmarkierung vornimmt, weil er die diskursive Trennungslinie zwischen mul-tiethnischen und monoethnischen Bürgern Deutschlands reproduziert. Weiterhin macht er einen Unterschied zwischen jenen Ein-wohnern mit Migrationshintergrund, die ei-nen deutschen Pass haben, und jenen, die die deutsche Staatsbürgerschaft nicht besitzen.

Unvermeidlich ist bei der Nennung des Be-griffs „Neue Deutsche“ auch die Frage danach, wer die „alten“ Deutschen seien. In Anlehnung an die Untersuchungen des IKG könnte hier der Begriff der „alteingesessenen Deutschen“, die für sich Etabliertenvorrechte reklamieren, aufgegriffen werden: „Etabliertenvorrechte umfassen die von Alteingesessenen gleich wel-

12 ❙ Vgl. Tanja Wunderlich, Die neuen Deutschen – Subjektive Dimensionen des Einbürgerungsprozes-ses, Stuttgart 2005. 13 ❙ So Rapper Harris in einem Interview mit dem

Stern am 8. 10. 2010.14 ❙ Vgl. Sammy de Luxe mit „Dis wo ich herkomm“

oder Blumio mit „Hey Mr. Nazi“.15 ❙ Vgl. http://dieneuendeutschen.wordpress.com/

(21. 10. 2010).

cher Herkunft beanspruchten Vorrangstellun-gen, die gleiche Rechte vorenthalten und somit die Gleichwertigkeit unterschiedlicher Grup-pen verletzen.“ ❙16 Trotzdem erscheint die Tren-nung in „neue“ versus „alte“ Deutsche entlang ethnischer oder kultureller Markierungen oder dem Kriterium der Zuwanderung kulturali-sierend. Man könnte die ethnische Differenz-markierung des Begriffes auch entschärfen, indem die Bezeichnung „Neue Deutsche“ für jene Generation herangezogen wird, die vor-rangig nach dem Mauerfall im wiedervereinten Deutschland sozialisiert wurde. Die „Neuen Deutschen“ wären demnach eine neue Gene-ration von Deutschen. ❙17 Dann jedoch würde eine Grenzmarkierung zwischen jung und alt gesetzt, was auch eine Verkürzung wäre.

Denkbar wäre es daher, die „Neuen Deut-schen“ einer Ideenwelt zuzuordnen – ei-ner Betrachtungsweise, die mit einem neuen Blickwinkel einhergeht: Deutschland als Ein-wanderungsland, global player, politisch nor-mativer Friedensakteur. Das postmoderne Deutschland als plurales, multiethnisches, viel-fältiges Bürgerland. In diesem Sinne wären die „Neuen Deutschen“ die Bürger eines hybriden, neuen Deutschland, das es in seiner heteroge-nen Komposition schon längst gibt. Die Trenn-linie würde entlang einer Haltung und Einstel-lung verlaufen. Hier wäre der Begriff in einer gesellschaftspolitischen Arena eingebettet und könnte als ein postmodernes Konstrukt ver-standen werden, um Identitätsbildungsprozes-se als prinzipielle Inklusionsprozesse zu verste-hen. Er könnte verdeutlichen, dass die ehedem ethno-kulturellen Zuschreibungskriterien für „deutsch“ nicht die reale Bevölkerungsstruktur und Zusammensetzung des Landes widerspie-geln, sondern auf essenzialisierenden Konstruk-tionen von Kultur, Nation und Ethnie beruhen. Damit wären noch immer nicht die strukturel-len Probleme eines postmodernen Einwande-rungslandes gelöst. Es wird weiterhin Bildungs-problematik, Sozialtransfers und Kriminalität in Deutschland geben. Nur wenn die Zugehö-

16 ❙ www.uni-bielefeld.de/ikg/gmf/einstellungen.html (21. 10. 2010). Diese Bezeichnung trifft auf etwa 53 Prozent der „alten“ Deutschen zumindest hin-sichtlich der Einstellung zu, dass bei der Verteilung von Gütern – finanzieller und ideeller Natur – den Neuhinzugezogenen weniger zustehe, als jenen, die schon länger hier sind.17 ❙ Vgl. Alexander Smoltczyk, Moral: Die neu-

en Deutschen, in: Spiegel online, 23. 8. 2010, online: www.spiegel.de/spiegel/a-713293.html (20. 10. 2010).

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rigkeit nicht mehr in Frage steht, können diese Probleme in Abhängigkeit von Sozialstruktu-ren diskutiert werden und nicht in Verbindung mit der ethnisierenden oder kulturalisierenden Frage nach deutsch oder nicht-deutsch? „Wenn jemand ‚dazugehört‘, kann dieser Jemand übri-gens durchaus Probleme bereiten. Auch die In-sassen der Strafanstalten, jedweder Konfession, gehören zu Deutschland, die Junkies gehören zu Deutschland, die Bettler, die Buddhisten, die Millionäre und die Stripperinnen. Angela Mer-kel ist auch die Kanzlerin der Alkoholiker, der Exhibitionisten und der Bettnässer, oder wol-len wir die alle ausbürgern? Will allen Ernstes irgendwer Leute mit deutschem Pass zu Deut-schen zweiter Klasse erklären, nur, weil sie die falsche Religion haben?“ ❙18

Die Idee, Deutschland neu zu denken, ist weder häretisch, noch führt sie dazu, dass das Land sich abschafft. Vielmehr reiht sich dieser Gedanke in vielfältige Visionen ein, die mit der Idee Deutschlands einhergehen: Deutschland war im kühnsten Moment seiner Entstehung eine politische Vision, eine politisch weltoffene Idee, die nicht an ethnische Herkunft und Ex-klusivität gebunden war. In der Debatte über Grundrechte in der Frankfurter Paulskirchen-verfassung erklärte der Berliner Abgeordnete Wilhelm Jordan: „Jeder ist ein Deutscher, der auf dem deutschen Gebiet wohnt (…) die Na-tionalität ist nicht mehr bestimmt durch die Abstammung und die Sprache, sondern ganz einfach bestimmt durch den politischen Orga-nismus, durch den Staat. Das Wort ‚Deutsch-land‘ wird fortan ein politischer Begriff.“ ❙19 Die nationale Identität basierte nicht auf eth-nischen oder kulturellen Merkmalen. Wie in Preußen auch, galt ein territorialer Bezugsrah-men: Die legitimen Einwohner Preußens wa-ren deutsch-, polnisch-, litauisch-, sorbisch- oder französischsprechend. Es gab weder eine ethnische Konstruktion von Zugehörigkeit noch eine sprachliche Einheit, obwohl Au-gust Wilhelm von Schlegel und Johann Gott-lieb Fichte den Versuch unternommen hatten, die Sprache als Kategorie natürlicher geistiger Vergemeinschaftung zu etablieren. ❙20 Auch Jo-

18 ❙ Ironisch, aber treffend: Harald Martenstein, Länder verändern sich, in: Der Tagesspiegel vom 17. 10. 2010.19 ❙ Franz Wigard, Stenographischer Bericht über

die Verhandlungen der deutschen constituieren-den Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, Frankfurt/M. 1848/1849, S. 737.20 ❙ Vgl. Stefan Reiss, Fichtes „Reden an die deutsche

Nation“ oder „Vom Ich zum Wir“, Berlin 2006, S. 124.

hann Gottfried Herder sah in der gemeinsa-men Sprache die Möglichkeit, eine Gemein-schaft zu konstituieren, die der deutschen Nation eine Existenz jenseits der Schaffung eines staatlichen Rahmens ermöglichen soll-te. Die deutsche Gemeinschaftsbildung sollte über eine gemeinsame Kultur erfolgen. Dieser Gedanke war zwar kulturell exklusiv, erlaub-te aber eine über die Staatengrenze hinausge-hende identitäre Verbundenheit mit späteren deutschsprachigen Nationen. Dennoch: Die Suche nach dem, was letztlich das Deutschsein definierte, kulminierte in rassischen und ge-netischen Definitionen und erschwerte somit den Zugang zu dieser Frage nachhaltig.

Die nicht zu greifende „deutsche Leitkul-tur“ wird in Zeiten der gesellschaftlichen Ver-unsicherung durch Finanzkrise, Arbeitsplatz-verlust und demografischen Wandel immer häufiger herbeigesehnt, das wenigstens eine identitäre Konstante darstellen könnte – als letzte vermeintlich stabile Ressource. Leider lässt sie sich in ihrer fundamentalen „Luftig-keit“ nur greifen anhand der Markierung jener, die scheinbar nicht dazugehören. Wenn heutzu-tage schon Homo-Ehe und Patchwork-Famili-en in die deutsche Leitkultur integriert werden müssen, dann bitte nicht noch den Islam.

Neues DeutschlandDer längst eingetretene identitäre Wandel ist eine alltägliche Banalität, in Zahlen messbar und für die Zukunft prognostizierbar. Auch wenn sich im Moment ein Großteil der Deut-schen die Zeit vor dem Anwerbeabkommen mit der Türkei im Jahr 1961 herbeizusehnen scheint, so wird das nicht passieren. Abgese-hen davon, dass für den anderen Großteil diese Zeit nicht das „goldene Zeitalter“ (Thilo Sarra-zin) darstellt, sondern ein vermieftes, biederes, geschlossenes, schlechtgelauntes und getrenn-tes Deutschland. Im heutigen Deutschland umarmen sich sogar die Männer zur Begrü-ßung, während sie ihren eigenen Vätern im-mer noch nur steif die Hand reichen, man sitzt abends draußen auf der Straße, trinkt und ist laut – gerne auch bis in den November hinein. Die herkunftsdeutschen Kinder heißen nicht nur Sophie, Karl und Heinrich, sondern auch Mandy, Kevin, Ramona und Guido, ab und zu auch Leila, Tarek oder Minou. ❙21

21 ❙ Vgl. Axel Hacke/Giovanni di Lorenzo, Wofür stehst Du? Was in unserem Leben wichtig ist, Köln 2001.

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Dennoch richtet sich das Orientierungswis-sen in einigen Teilen der Gesellschaft weni-ger an dieser Realität als an einer homogenen Fiktionalität aus, die weder das gegenwärti-ge noch das vergangene Deutschland wider-spiegelt, welches immer heterogen war – ab-gesehen von einer kurzen Periode homogener Struktur, die für die Kernverfasstheit des po-litischen Diskurses maßgebliche Relevanz zu haben scheint. Deutschlands Sehnsucht nach Homogenität muss dabei aus seiner Eigen-art als postfaschistischer Gesellschaft heraus verstanden werden: „Wir sind aufgewachsen in einer Bundesrepublik, die so rein deutsch war wie noch nie irgendein Deutschland in der deutschen Geschichte. (…) Dieses Erbe der Nazis hielten wir für normal. Halten viele von uns noch immer für normal. Es war aber nichts anderes als das Resultat einer gewalttä-tigen ethnischen Säuberung.“ ❙22 Das Verhältnis der autochthonen Deutschen zu ihrer Nati-onalität rührt nicht nur aus dieser traumati-schen Vergangenheit – es rührt zum Teil auch aus der Fremdzuschreibung, die Deutschland in Folge dessen seit Jahrzehnten entgegen-schwappt: Deutschland galt als effektiv, ag-gressiv, kognitiv. Deutschsein war uncool.

Obwohl Deutschland in seiner Politik in den vergangenen Jahrzehnten, im Kontext eu-ropäischer Vergleichsnationen wie Frankreich, Polen oder Belgien, weniger populistisch, im Vergleich zu Großbritannien oder Italien frie-densbewegter, im Vergleich zu allen genannten ökologischer und selbstkritischer war, schaffte es den Imagewechsel vor allem durch das welt-weit ausstrahlende Bild des vielfältigen, un-konventionellen Berlins und durch die beiden Fußball-Weltmeisterschaften 2006 und 2010. Es wurde als weltoffener wahrgenommen, als „lebenswerter und liebenswerter“, wie es Bun-despräsident Christian Wulff in seiner An-trittsrede am 3. Oktober 2010 in Bremen for-mulierte. Auch Menschen wie Mesut Özil, Philipp Rösler oder Sibel Kekilli verkörpern nun das neue Gesicht Deutschlands. Umso verwunderlicher ist die Ablehnung, mit der ein Teil der Republik auf das neue Bild Deutsch-lands reagiert, als ob man sich von dem Bild des ugly old German nicht trennen mag.

Seitdem die „Sarrazin-Debatte“ offensicht-liche Exklusionsmechanismen zu Tage för-

22 ❙ Arno Widmann in: Frankfurter Rundschau (FR) vom 5. 2. 2010.

derte, die bis tief in die Mitte der Gesellschaft hinein vertreten werden, sind auch überra-schend klare Selbstverteidigungsreaktionen bei Menschen mit Migrationshintergrund zu beobachten. Aus den multiplen Wir-Identitä-ten, welche die Zugehörigkeitskontexte die-ser Menschen mitbestimmen, artikuliert sich immer häufiger der Gedanke einer neuen deutschen Identität in-between. Offen wird eine Stimmung verhandelt, in der trotzig ein „Wir gehören dazu“ und „Das ist auch unser Land“ artikuliert wird. Als hätte ein Moment der Angst um den Verlust der Heimat das Be-wusstsein geschaffen, dass man ein postmo-dernes Bekenntnis artikulieren möchte. In dieses Bekenntnis reihen sich auch jene Her-kunftsdeutschen ein, für die die Debatte die Frage aufwirft, mit wem man sich selbst in seinem Land eher assoziiert, und mit wem man eine vergleichbare Ideenwelt oder aber eine Vorstellung von Zukunft teilt. Eine pa-rodierende Variante dessen lautete in den 1980er Jahren: „Ausländer, lasst uns mit den Deutschen nicht allein.“ Geändert hat sich seitdem, dass diese „Ausländer“ zu einem wesentlichen Bestandteil Deutschlands ge-worden sind. Dabei bedeutet die Idee, sich Deutschland ohne Multikulturalität nicht mehr vorstellen zu wollen, keineswegs, dass man religiösem Extremismus nicht aktiv ent-gegenträte – nein: man tritt ihm nur gemein-sam entgegen – genauso wie dem Rechtspo-pulismus.

Deutschland ist nach der „Sarrazin-Debat-te“ ein gespaltenes Land. Aber die Trennli-nie verläuft nur oberflächlich zwischen „den Muslimen“ und „dem Rest“ und nur tempo-rär zwischen Menschen mit Migrationshin-tergrund und jenen ohne. Die Trennlinie ver-läuft zwischen den „alten“ und den „neuen“ Deutschen und ihrer jeweiligen Vision von der Zukunft ihres Landes. Es sind zwei un-terschiedliche Vorstellungen von Deutsch-land, die hier aufeinanderprallen. Das neue Deutschland wird sich in der Zukunft nicht mehr durch Herkunft, Genetik und Abstam-mungsstrukturen definieren können – dies erlaubt schon der demografische Wandel nicht mehr. Es wird sich trotzdem nicht ab-schaffen – es wird nur ethnisch und kulturell vielfältiger sein. Und Deutschsein gilt dann als Chiffre für die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Land.

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Dietrich Thränhardt

Integrationsrealität und Integrations diskurs

Der „Sarrazin-Effekt“ in Deutschland 2010 ähnelte dem „Pim-Fortuyn-Schock“

in den Niederlanden 2002. In beiden Fäl-len war die Lage im Land stabil und die Wirtschaftsentwick-lung besser als in den Nachbarländern. Auch im Umgang mit Einwanderern schien Grund zum Optimis-mus zu bestehen. Ein

Integrationskonsens hatte sich entwickelt, in den alle Parteien und gesellschaftlichen Gruppen eingebunden waren. Plötzlich aber schwenkte der Diskurs um. Die Thesen Pim Fortuyns im Jahr 2002 und Thilo Sarrazins im Jahr 2010 gerieten zur Sensation, alle Me-dien beschäftigten sich in großem Stil damit. Wie in den Niederlanden 2002 schien es auch in Deutschland ab August 2010 kein anderes Thema mehr zu geben. „Bild“ und „Spiegel“ starteten in nie dagewesener Gleichzeitig-keit mit Sarrazin-Vorabdrucken und hielten das Thema über Wochen in den Schlagzeilen. Andere Medien zogen mit, wenn auch eher kritisch, und auch eine Talkshow nach der anderen beschäftigte sich mit Sarrazins Pro-vokationen. Beide Autoren verletzten gezielt die Spielregeln der demokratischen Debatte, wie sie nach 1945 beachtet worden waren. Sie bezweifelten grundsätzlich die Gleichheit al-ler Menschen und insbesondere die Fähigkeit von Muslimen, produktive Mitglieder einer modernen Gesellschaft zu werden. Die von allen Seiten hereinbrechende Kritik verstärk-te den Sensationscharakter der Aussagen und schmückte beide mit der Märtyrer-Aura des mutigen Tabubrechers. Sarrazin klagte, er werde einem Schauprozess ausgesetzt. Nach-weise sachlicher Unrichtigkeiten und Wider-sprüche gingen angesichts dieses Sensationa-lismus unter.

Wie sind die plötzlichen Brüche zu erklä-ren? Wieso schwelgten die Niederlande zu-erst im Multikulturalismus? Warum gilt der Begriff dort heute als diskreditiert? Wieso

Dietrich Thränhardt Dr. rer. soc., geb. 1941; Prof. em.

an der Universität Münster, Institut für Politikwissenschaft,

Platz der Weißen Rose, 48151 Münster.

[email protected]

ist nach den vielen Berichten über „nachho-lende Integration“ in Deutschland nun stän-dig die Rede von „Integrationsunwilligkeit“? Wieso wurden die bunt gemischten Fußball-teams in Deutschland, Holland und auch in Frankreich bei ihren internationalen Erfol-gen bejubelt und kurz darauf vergessen? Und was kann Deutschland aus der achtjährigen Xenophobie-Erfahrung in den Niederlanden lernen?

Multikulturalismus war seit den Reformen von 1979/80 Gegenstand niederländischen Stolzes und deutscher Bewunderung. Noch 1995 beschrieb die niederländische Regie-rung ihre Integrationspolitik als Vorbild für ganz Europa. Nach den Brandanschlägen von Solingen 1993 startete ein niederländischer Diskjockey eine Postkartenaktion, in der 1,2 Millionen Niederländer dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl eine Postkarte mit dem Text „Ich bin wütend“ schickten – im Vollgefühl moralischer Überlegenheit über das Nachbarland.

Die Niederlande definierten sich als „multi-kulturelles“ Land und planten eine Politik der Toleranz und der Legitimität von Unterschie-den. Volle und gleichberechtigte Partizipation, Verbesserung der sozialen und ökonomischen Situation, Angleichung des Rechtsstatus von Ausländern und Verhinderung von Diskri-minierung wurden offizielle Ziele. Die Ein-führung des kommunalen Wahlrechts für Ausländer 1986 geriet zu einer Demonstrati-on der Öffnung, als der christdemokratische Ministerpräsident Ruud Lubbers Moscheen und Hinduvereine besuchte. 1985 wurde die Einbürgerung vereinfacht, in den Jahren zwi-schen 1992 und 1997 prinzipiell die mehrfa-che Staatsangehörigkeit zugelassen. In dieser Phase übertrafen die Niederlande mit ihren hohen Einbürgerungsraten alle anderen euro-päischen Länder. Die Parteien bemühten sich um Kandidaten mit Migrationshintergrund, und nach einigen Jahren hatten nicht nur die linken Parteien, sondern auch die Konservati-ven und Liberalen auf allen Ebenen allochtho-ne Mandatsträger in ihren Reihen. Migranten-organisationen wurden finanziell unterstützt und islamische und hinduistische Riten und Institutionen vom Staat anerkannt.

Nach der Jahrtausendwende schlug die Eu-phorie in ebenso radikalen Pessimismus um. Pim Fortuyn veränderte im Jahr 2002 mit

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seinem Konglomerat aus islamophoben, po-litisch inkorrekten und unterhaltsamen Ver-satzstücken das politische Klima radikal. Er sprach sich gegen den Gleichberechtigungs-artikel in der Verfassung und jegliche weite-re Einwanderung von Muslimen aus. Er ge-rierte sich als Stimme des Volkes gegen das Establishment, gegen eine „linke Kirche“ von Wissenschaftlern, Politikern und Jour-nalisten und ihre politisch korrekte Haltung, die es der normalen Bevölkerung unmöglich gemacht habe, frei und offen ihre wirkliche Meinung zu äußern. Er war alles, was nieder-ländische Politiker nicht sind: sensationell, unkonventionell, widersprüchlich, schrill, er zelebrierte seinen Reichtum in exzentrischer Weise – eine ständige postmoderne Medien-sensation.

Obwohl die „Liste Pim Fortuyn“ als Par-tei nach der Ermordung Fortuyns durch ei-nen Tierschutzaktivisten schnell scheiterte, blieben seine Themen erfolgreich. Nach der Ermordung Theo van Goghs, der den Islam mit seinem Film Submission angegriffen hat-te, erreichte die Islamophobie 2004 einen Hö-hepunkt. Dutzende von Moscheen wurden angegriffen, einige Tage später folgten An-griffe auf christliche Kirchen. Seitdem ist die Debatte um den Islam und seine Vereinbar-keit mit Aufklärung und Moderne ständiges Thema in den Niederlanden. Ein populisti-scher Wahlerfolg folgt auf den anderen. Nach Fortuyns Ermordung hatte zunächst Rita Verdonk von der rechtsliberalen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie viel Erfolg bei den Wählern. Sie führte als Ministerin zwi-schen 2003 und 2006 die res triktivste Gesetz-gebung zu Immigration und Integration in Europa ein. 2010 errang Geert Wilders mit einer antiislamischen Kampagne einen spek-takulären Wahlsieg mit 24 von 150 Mandaten, im September 2010 sahen Umfragen ihn als stärkste politische Kraft. Analysiert man den radikalen Umschlag des politischen Klimas, so lassen sich vier Momente identifizieren:

Die multikulturelle Politik hatte keine ökonomische Basis. Während des Übergangs zum Multikulturalismus gab es gleichzei-tig große Entlassungswellen im Zusammen-hang mit der Wirtschaftskrise um 1980. Um die schweren Einbrüche im Beschäftigungs-system nach der zweiten Ölkrise 1979/80 ab-zufedern, wurden viele Niederländer und besonders viele Migranten in die Arbeitsun-

fähigkeitsrente (WAO) abgeschoben – eine komfortable Lösung für Arbeitgeber und Entlassene, welche die Migranten aber als Gruppe mit dem Odium der wirtschaftlichen Untätigkeit belegte. Mit sinkender Veranke-rung in der Arbeitswelt sank auch die Veran-kerung in der Gesellschaft. Ergebnis waren große wirtschaftliche und soziale Diskre-panzen zwischen einheimischen und „nicht-westlichen“ Einwohnern. Während im Jahr 1983 die Arbeitslosenquoten der Zielgruppen der Minderheitenpolitik zwei- bis dreimal so hoch wie die der einheimischen Niederländer gewesen war, lag sie Anfang der 1990er Jahre bis zu fünfmal höher.

Von Anfang an hatte die niederländische Variante des Multikulturalismus stark die Unterschiedlichkeit betont – im Gegensatz etwa zum integrativen Multikulturalismus-Verständnis in Kanada. In den Konzeptionen war von „Identitätsgruppen“ und „Identi-tätsbelebung“ die Rede, und der Staat unter-stützte einheitliche kulturelle Zusammen-schlüsse der Einwanderungsgruppen auf der Basis der Herkunft. Der niederländische Mi-grationswissenschaftler Jan Rath kritisierte diese Politik schon 1991 als „Minorisierung“, also als Festlegung der Einwanderer auf ihre kulturelle Unterschiedlichkeit.

In der niederländischen Politik breitete sich Spannungslosigkeit aus. Im Jahr 2002 regierte seit acht Jahren eine Koalition aus Sozialdemokraten und Liberalkonservati-ven, damit schwand die traditionelle Rechts-Links-Spannung in der Politik. 2002 trat zu-dem die Regierung zurück, nachdem eine Kommission die Mitverantwortung der Nie-derlande für das Massaker von Srebrenica festgestellt hatte.

Schon seit 1991 war die Legitimität be-stimmter Einwandergruppen infrage gestellt worden. In diesem Jahr erklärte der liberale Fraktionsvorsitzende und spätere EU-Kom-missar Frits Bolkestein, westliche und isla-mische Werte seien unvereinbar. Er forder-te, die Minderheiten sollten sich stärker in die niederländische Lebensweise einfügen. ❙1 Da-mit begann eine Reihe von Elite-Diskursen, die den Islam als gefährlich, andersartig und nicht integrationsfähig definierten. In einer

1 ❙ Vgl. Frits Bolkestein, Address to the Liberal Inter-national Conference at Luzern, Den Haag 1991.

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internationalen Umfrage wurde 1995 in den Niederlanden weniger Unterstützung für eine Politik des Multikulturalismus festgestellt als in Deutschland. Die Aussage, der Staat müsse Minderheiten helfen, ihre eigenen Sitten und Gebräuche zu erhalten, befürworten die Nie-derländer nur mit 20 Prozent, die Deutschen dagegen mit 41 Prozent. Auch die Frage, ob Minderheiten ihre eigenen Sitten und Gebräu-che erhalten oder ob sie sich anpassen und in der Mehrheitsgesellschaft aufgehen sollten, er-gab in den Niederlanden mit 71 Prozent eine größere Präferenz für die Assimilation gegen-über 48 Prozent in Deutschland. ❙2

Der deutsche Blick auf die Niederlande

Die Deutschen reagierten auf die Gewaltereig-nisse in den Niederlanden betroffen. „Holland ist überall“, kommentierte der SPD-Innenex-perte Dieter Wiefelspütz die Ermordung Theo van Goghs. ❙3 Die deutsche Politik begann sich mit dem Islam zu beschäftigen und Gespräche mit seinen Vertretern zu institutionalisieren – eine teilweise Abkehr von der traditionellen Haltung, die religiöse Betreuung weitgehend der Türkischen Anstalt für Religion (Ditib) und damit faktisch dem türkischen Staat (Di-yanet) zu überantworten. Nach dem Vorbild Ayaan Hirsi Alis in den Niederlanden melde-ten sich auch in Deutschland Islamkritikerin-nen mit Migrationshintergrund zu Wort. Die Unterdrückung von Frauen in muslimischen Familien wurde ein ständiges öffentliches Thema, und das Stereotyp der unterdrück-ten Kopftuch-Frau breitete sich in den Medien aus. Allerdings war der antiislamische Diskurs in Deutschland lange Zeit weniger prominent und weniger radikal als in den Niederlanden. Seit 2003 wurden die Niederlande europaweit zum Vorbild für eine systematische staatliche Integrationspolitik, mit verbindlichen Integra-tionskursen, Einbürgerungstests, Sprachtests vor der Familienzusammenführung und An-hebung des Mindestheiratsalters für nachzie-hende Migranten. Deutschland vollzog einen Teil dieser Maßnahmen nach, ging dabei aber weniger radikal vor. Per saldo wurden beide Länder von Einwanderungs- zu Auswande-rungsländern.

2 ❙ Vgl. Anita Böcker/Dietrich Thränhardt, Erfolge und Misserfolge der Integration. Deutschland und die Niederlande im Vergleich, in: APuZ, (2003) 26, S. 6.3 ❙ Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. 11. 2004.

Eine Konstante blieb die deutsche Bewun-derung für die niederländische Politik. Noch ein Jahr vor der großen Krise dort bezeich-nete die Süssmuth-Kommission 2001 die niederländische Integrationspolitik als vor-bildlich. Ganz anders die Rezeption in den Niederlanden: Dort wurde zum ersten Mal der „deutsche Ansatz“❙4 als mögliches Vor-bild entdeckt: Warum gab es in Deutschland mehr Arbeitsbeteiligung der Migranten, we-niger Abhängigkeit von Sozialkassen, weni-ger Segregation in den Städten, weniger Dis-krepanzen bei den Bildungsabschlüssen? In Deutschland dagegen wurden die vergleichs-weise positiven Daten kaum rezipiert. Statt-dessen waren die Krisen in den Niederlanden und später die Unruhen in den französischen Vorstädten immer wieder Anlass zu der ban-gen Frage, ob dergleichen auch in Deutsch-land geschehen könne.

Die Vergleichsuntersuchungen bekamen in Deutschland wenig Publizität. 1998 wie-sen die Nürnberger Arbeitsmarktforscherin Melanie Kiehl und der Arbeitsmarktforscher Heinz Werner erstmals darauf hin, dass die Diskrepanzen zwischen Einheimischen und Zuwanderern auf dem Arbeitsmarkt in den Niederlanden beträchtlich größer seien als in Deutschland. ❙5 Nach der Jahrhundertwende erschienen weitere Studien, in denen institu-tionelle Kontexte und ihre Effekte auf die In-tegrationsqualität in unterschiedlichen Län-dern verglichen wurden. 2004 wurde in einer vergleichenden Untersuchung zur zweiten türkeistämmigen Generation in sieben eu-ropäischen Ländern festgestellt, dass die Arbeitslosigkeit unter türkeistämmigen Ju-gendlichen in Deutschland, der Schweiz und Österreich – Länder mit einem dualen Aus-bildungssystem – drei bis vier Mal niedriger war als in Frankreich, Belgien und den Nie-derlanden. ❙6 Daraus wurde geschlussfolgert, dass allgemeine Regelungen und Politiken die Bildungs- und Arbeitsmarktlage von Jugend-lichen mit Migrationshintergrund sehr viel stärker beeinflussen als Sonder programme.

4 ❙ A. Böcker/D. Thränhardt (Anm. 2). 5 ❙ Vgl. Melanie Kiehl/Heinz Werner, Die Arbeits-

marktsituation von EU-Bürgern und Angehörigen von Drittstaaten in der EU, in: IAB-Werkstattberich-te, Nr. 7 vom 30. 7. 1998.6 ❙ Vgl. Maurice Crul/Hans Vermeulen, The Second

Generation in Europe. International Migration Re-view, Special Issue, New York 2004.

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Diskurs und Realität in DeutschlandIn Deutschland waren Anwerbung und Ein-wanderung von Anfang an von einer Diskre-panz bestimmt: einerseits bestimmt von der wirtschaftlichen und sozialen Gleichstel-lung mit den einheimischen Arbeitnehmern, also gleichen Löhnen, gleichen Rechten in den Sozialversicherungen und seit 1972 auch dem aktiven und passiven Wahlrecht zu den Betriebsräten. Mit der zunehmenden Rege-lungsdichte der Europäischen Union und dem Assoziationsvertrag zwischen der EU und Türkei 1963 war all dies auch durch su-pranationales Recht abgesichert, was die deutsche Rechtsprechung mehr und mehr berücksichtigte. Die Migranten gehörten rasch zur „Kernarbeiterschaft“ der export-starken deutschen Industrie und organisier-ten sich zu einem erheblichen Teil in den Gewerkschaften. Sie gingen hauptsächlich in die Wachstumsregionen Süd- und West-deutschlands. Andererseits kam es lange Zeit nicht zu einer politischen Akzeptanz. Lan-ge bleib der Mythos von der Rückkehr erhal-ten, die Einbürgerungsraten blieben nied-rig und die Regierung Helmut Kohls setzte ein „Rückkehrförderungsgesetz“ durch, das 1984 Zehntausenden von türkischen Famili-en finanzielle Anreize bot, damit sie in ihr Heimatland zurückkehrten. Zwischen 1982 und 1998 betonte die Bundesregierung im-mer wieder, Deutschland sei „kein Einwan-derungsland“, während gleichzeitig in den Jahren vor und nach der Wiedervereinigung große Einwanderungswellen ankamen: Aus-siedler aus Polen, Rumänien und der ehe-maligen Sowjetunion, Flüchtlinge aus der Türkei und dem zerfallenden Jugoslawien, nachziehende Familienangehörige und EU-Bürger. Dazu kamen die „Übersiedler“ nach dem Fall der Mauer. Die Zahl der „Auslän-der“ verdoppelte sich in diesen Jahren auf sieben Millionen.

Im Gegensatz zur multikulturellen Eu-phorie in den Niederlanden war die Migra-tion in Deutschland nach 1980 in vielfacher Weise negativ besetzt: Die Regierung Hel-mut Kohls kündigte 1982 die Lösung des „Ausländerproblems“ an. Seit 1991 stellte sie das Asylrecht in Frage, der damalige Kanz-lerkandidat der SPD Oskar Lafontaine da-gegen den Zuzug der Aussiedler. Die deut-schen Medien schilderten Migranten und ihre Aufnahme in Deutschland immer wie-

der als Problem. Zwei frühe Filme waren Archetypen der Negativrezeption: Rainer Werner Fassbinders „Angst essen Seele auf“ beschrieb die Deutschen als grundsätzlich ausländerfeindlich und die Ausländer als Opfer, Tevfik Başers „40 qm Deutschland“ den randständigen türkischen Mann als Un-terdrücker seiner Frau. Beide Negativkli-schees wurden unablässig wiederholt. Dass die reale Situation nicht nur negativ war, die Migranten von Jahr zu Jahr besser Deutsch sprachen, sich in deutschen Vereinen ebenso wie in eigenen Gruppen engagierten, in den Betrieben ebenso wie in der Freizeit immer mehr Kontakte zustande kamen und viele Einwanderer trotz Wahrung eigener Traditi-onen sich in der deutschen Lebenswirklich-keit immer mehr zu Hause fühlten, wurde zwar regelmäßig in empirischen Arbeiten dargestellt, in der Öffentlichkeit aber wenig rezipiert.

Seit dem Regierungswechsel 1998 exis-tiert in Deutschland ein Konsens über die Notwendigkeit der Integration von Zu-wanderern. Formuliert wurde dieser Kon-sens durch die Süssmuth-Kommission 2001 und die von der CDU eingesetzte Müller-Kommission. Das Geburtsrecht für Kin-der von Ausländern, die seit acht Jahren in Deutschland leben, ist inzwischen grund-sätzlich unbestritten. Die Green Card-Ini-tia tive zur Anwerbung von IT-Spezialisten verknüpfte Zuwanderung mit wirtschaft-licher Effizienz und setzte sich gegen Kri-tik („Kinder statt Inder“) durch. Schließlich kam es nach langen Auseinandersetzungen im Jahr 2005 zur Verabschiedung eines Zu-wanderungsgesetzes, das einen neuen ein-heitlichen Rechtsrahmen schuf, gleichzei-tig aber dazu beitrug, die Zuwanderung still zu stellen. Mit dem Zuwanderungsge-setz wurde der Zuzug von Spätaussiedlern und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion weitgehend gestoppt. Die Familienzusam-menführung wurde mit der Einführung eines Sprachtests stark abgebremst. Die deutsche Visumpolitik, die seit der Skanda-lisierung der Visumserteilung in der Ukra-ine 2005 noch rigider geworden ist, macht es ausländischen Fachkräften und Studen-ten außerordentlich schwer, nach Deutsch-land zu kommen. Es ist symptomatisch für diese Situation, dass Harianto Wijaya, der erste angeworbene IT-Spezialist im Jahr 2000, sein Visum 2005 nicht verlängert be-

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kam und heute ein erfolgreiches Unterneh-men in Indonesien führt.

Neuer Schub des Pessimismus?

Obwohl es also seit 2006 keine relevante Zu-wanderung mehr gibt, obwohl die Beschäfti-gungssituation sich günstig entwickelt, ist es auch in Deutschland zu einem neuen Schub des Integrationspessimismus gekommen. Wie in den Niederlanden lassen sich in Deutsch-land vier Momente identifizieren, welche die öffentliche Wahrnehmung beeinflussten:

Erosion der ökonomischen Basis. Wäh-rend die „erste Generation“ der Migranten auf Grund der Anwerbung stabil in den Be-trieben verankert war, ist es für die „zwei-te“ und „dritte“ Generation schwieriger, in der Wirtschaft Fuß zu fassen, trotz der Jahr für Jahr besser werdenden Schulabschlüs-se und Sprachkenntnisse. Ein Grund dafür ist der Strukturwandel der Wirtschaft, am deutlichsten spürbar in der Deindustrialisie-rung in Berlin nach der Wiedervereinigung. Ein zweiter Grund sind die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und die lange Zeit hoher Arbeitslosigkeit, die sich auf Gruppen mit weniger Netzwerkverbindungen besonders stark auswirkt. Während die Arbeitslosig-keit von Ausländern bis 1980 unter der von Deutschen lag, übertrifft sie sie heute um mehr als das Doppelte. Arbeitsverbote und Nachrangigkeitsklauseln behinderten nach-ziehende Familienangehörige und Asylbe-werber. Seit 1994 nahm auch die Quote der Auszubildenden mit nichtdeutscher Staats-angehörigkeit Jahr für Jahr ab. Außerhalb der EU erworbene Qualifizierungen wer-den immer noch nicht anerkannt. Dies führt zu Phänomenen wie der aus Russland stam-menden hochqualifizierten Mathematikleh-rerin, die putzen geht, oder des Mikrobiolo-gen, der Taxi fährt. Auf Grund restriktiver Regelungen sanken die Einbürgerungszah-len wieder ab, Deutschland liegt dabei im europäischen Vergleich weit hinten. Dies hat Auswirkungen auf Arbeit und Wirtschaft, da nach wie vor für Nicht-EU-Bürger recht-liche oder faktische Hindernisse bestehen, bestimmte qualifizierte Berufe zu ergrei-fen, beispielsweise sich als Arzt niederzulas-sen. Eingebürgerte werden besser akzeptiert und erreichen dementsprechend auch höhere Einkommen.

Die Integrationsdebatte ist kulturalisiert worden. „Sprache, Sprache, Sprache“ sei wichtig, hieß es bei der diesjährigen Vor-stellung des bundesweiten Integrationspro-gramms, das sich auf Bildung, Sprache und auf zivilgesellschaftliche Aktivierung ein-schließlich der Einbeziehung von Migran-tenorganisationen beschränkt. Berufliche Aspekte werden nur am Rande berührt. In den vergangenen Jahren sind nach nieder-ländischem Vorbild verpflichtende Inte gra-tions kurse eingeführt worden, die neben einem Sprachangebot Informationen zur deutschen Gesellschaft enthalten. Gleichzei-tig ist eine Stufenleiter von Prüfungen aufge-baut worden, die Einwanderer zu durchlau-fen haben: Sie beginnt mit dem Deutschtest, der vor der Erteilung eines Visums im Aus-land absolviert werden muss, und den übri-gen Bedingungen für die Visums erteilung. Ein zweiter Test ist nach dem obligatorischen Sprach- und Orientierungskurs in Deutsch-land ab zu legen, ein dritter Prüfungskomplex umfasst einen Deutsch- und einen Landes-kundetest als Bedingung für die Einbür-gerung. Teilweise ergeben sich Wiederho-lungseffekte bei den Tests. Ergebnis ist eine empfindliche Verminderung der Einwande-rungs- und Einbürgerungszahlen, verbun-den mit einer sozialen Selektion und vor allem mit dem Ausschluss von Migranten mit wenig Bildungs erfahrung.

Spannungslosigkeit in der Politik. Lan-ge Zeit war die deutsche Asyl- und Migrati-onspolitik von einer Links-Rechts-Polemik geprägt. Seit dem Integrationskonsens von 2005 ist dies einer innenpolitischen Span-nungslosigkeit auf diesem Feld gewichen, so-wohl während der Großen Koalition in den Jahren zwischen 2005 und 2009 als auch da-nach. Gleichzeitig beschwor die offizielle Po-litik ständig die Integrationsdefizite der Mi-granten. Dies eröffnete unkonventionellen Polemikern ein freies Feld. Im öffentlichen Diskurs veränderte sich das Bild der Zuge-wanderten, das an „den Türken“ oder „den Muslimen“ festgemacht wird. War früher das Bild des hart arbeitenden Einwanderers in körperlich anstrengenden Berufen vorherr-schend, so ist heute das Bild des abgeschot-tet lebenden Beziehers von Sozialleistungen verbreitet. Trotz der Anpassung der Migran-ten an die niedrigen deutschen Geburtenra-ten werden sie immer noch mit hohen Kin-derzahlen in Verbindung gebracht.

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Obwohl der Pluralismus zu den Grund-lagen des bundesdeutschen Selbstverständ-nisses gehört und mit der Realität einer aus-differenzierten Gesellschaft korrespondiert, verfestigte sich in Bezug auf die Migranten die Idee einer homogenen Gesellschaft, an die sich die Migranten anzupassen hätten. Als negativer Kampfbegriff entstand 1997 dazu der Begriff „Parallelgesellschaft“, die Vor-stellung, insbesondere türkische beziehungs-weise muslimische Migranten lebten in abge-schotteten kulturellen Welten. Zwar ist diese These ❙7 in einer empirischen Untersuchung falsifiziert worden, und es wurde nachgewie-sen, dass die türkeistämmige Bevölkerung in Deutschland in vielfältiger Weise gesell-schaftlich vernetzt und integriert ist. ❙8 In den Medien aber setzte eine intensive Berichter-stattung über mangelnde Integration ein, die immer wieder mit sprechenden Beispielen untermauert wurde. Aufsehenerregende Fäl-le wie der Hilferuf der Lehrer an der Rütli-schule in Berlin oder ein Raubüberfall zweier junger Migranten in München wurden in der Öffentlichkeit skandalisiert. Ein Höhepunkt dieser Entwicklung wurde 2010 mit dem Buch Thilo Sarrazins („Deutschland schafft sich ab“) erreicht, der vor allem Berliner Bei-spiele anführt und diese verallgemeinert. Er präsentiert eine vielfach widersprüchliche Mischung aus biologistisch-eugenischen und kulturalistisch-islamfeindlichen Thesen. Er blendet Aspekte aus, die nicht in den kultur-pessimistischen Duktus des Buches passen, beispielsweise die wachsenden Schulerfol-ge ausländischer Kinder, die Abwanderung junger türkeistämmiger Akademiker oder die wirtschaftliche Dynamik der Türkei. Wie Pim Fortuyn, Ayaan Hirsi Ali und Ge-ert Wilders definiert er den Islam als solchen als Integrationsproblem. Unter dem Druck dieses Diskurses nannte Bundesinnenminis-ter Thomas de Maizière im September 2010 die griffige Zahl von 10 bis 15 Prozent „In-tegrationsunwilligen“. Für diesen Prozent-satz gibt es allerdings keine Belege, ❙9 und es bleibt auch ungeklärt, was exakt gemeint ist. Gleichwohl forderten mehrere Politiker an-

7 ❙ Vgl. Wilhelm Heitmeyer/Joachim Müller/Helmut Schröder, Verlockender Fundamentalismus. Türki-sche Jugendliche in Deutschland, Frankfurt 1997.8 ❙ Vgl. Martina Sauer/Dirk Halm, Erfolge und De-

fizite der Integration türkeistämmiger Einwanderer. Entwicklung der Lebenssituation 1999 bis 2008, Es-sen 2009.9 ❙ Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 10. 9. 2010.

schließend, Migranten auszuweisen, die sich nicht anpassten.

Perzeptionen und Realitäten

Deutschland steht heute in der Gefahr, ähn-liche Fehler zu begehen wie die Niederlan-de in den 1970er und 1980er Jahren: sich nur auf das kulturelle Feld zu konzentrieren und nicht wahrzunehmen, dass sich Integration in erster Linie nicht mit staatlichen Sonder-programmen gestalten lässt, sondern in Wirt-schaft und Gesellschaft vollzieht. In einer Marktwirtschaft ist der effektive und gleich-berechtigte Zugang zum Arbeitsmarkt be-ziehungsweise zu selbstständiger Tätigkeit entscheidend für die Integration, da davon Status, Zugehörigkeit und soziale Kontakte abhängen. Wie früher in den Niederlanden schlägt absinkende Verankerung in der Ar-beitswelt schließlich auch auf die öffentliche Wahrnehmung durch. Eine gute Integrati-onspolitik kann fördern, sie kann die sozio-ökonomische Integration aber nicht ersetzen. Vor allem die feste Verankerung in den Betrie-ben, Betriebsräten und Gewerkschaften und Erfolge im dualen Ausbildungssystem haben in Deutschland in den ersten Jahrzehnten zu einer vergleichsweise erfolgreichen wirt-schaftlichen und sozialen Integration beige-tragen. Mit der Schwächung dieser Veranke-rung durch Arbeitsverbote, Arbeitslosigkeit und die Aushöhlung des Tarifsystems wurde auch der Integrationserfolg gefährdet.

Schließlich wird klar, dass Perzeptionen und Realitäten in Bezug auf Migration und Integration sowohl in Deutschland wie in den Niederlanden in einem sehr lockeren Zu-sammenhang stehen – sowohl intern als auch im Vergleich. Die Niederlande feierten ih-ren Multikulturalismus gerade in den Jah-ren, in denen die wirtschaftliche Integration abstürzte. Als diese dann besser wurde, ver-breitete sich in der Öffentlichkeit die Mei-nung, die Integration sei desaströs geschei-tert. Deutschland hat seine erfolgreichen Integrationsansätze in den ersten Jahrzehn-ten weitgehend übersehen. Es steht heute in der Gefahr, bewährte Rezepte des „Mo-dells Deutschland“ zu vergessen und sich auf Maßnahmen zu fokussieren, die wünschens-wert, aber nicht entscheidend sind.

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Hartmut M. Griese · Isabel Sievers

Bildungs- und Berufsbiografien

erfolgreicher TransmigrantenTrotz immer wieder konstatierten Fach-

kräftemangels werden die Kompetenzen von hochqualifizierten Migrantinnen und

Migranten in Deutsch-land häufig nicht aner-kannt. Viele dieser Mi-granten denken über einen Umzug in das Land ihrer Vorfahren nach, in dem ihre Fer-tigkeiten ihnen eher eine Karriere ermög-lichen. Sie wandern teilweise nicht „zu-rück“, sondern „aus“, denn die meisten sind in Deutschland gebo-ren oder haben den Großteil ihres Lebens in Deutschland ver-bracht. Da sie weiter-hin starke Bindungen nach Deutschland bei-behalten und ihr Mi-

grationsprozess durchaus noch nicht abge-schlossen ist, sprechen wir bei dieser Gruppe von hochqualifizierten Transmigrantinnen und Transmigranten. ❙1 Im Kontext von Glo-balisierungsprozessen sind diese bildungser-folgreichen Transmigranten mit ihren durch die doppelte oder mehrfache Mi gra tions er-fahrung erworbenen Kompetenzen ein Bei-spiel für mobiles Leben in verschiedenen Heimaten. Sie verkörpern eine Gruppe, die in Zukunft zunehmen und immer intensiver umworben wird.

In der aktuellen bildungspolitischen Debat-te in der Bundesrepublik Deutschland spielt die Anwerbung hochqualifizierter Arbeitskräfte aus dem Ausland eine wichtige Rolle. Sie be-

Hartmut M. Griese Dr. phil. habil., geb. 1944;

Professor für Soziologie an der Leibniz Universität Hannover;

Institut für Soziologie und Sozial psychologie, Schneider-

berg 50, 30167 Hannover. [email protected]

Isabel Sievers Dr. phil., geb. 1976; Koordi-

natorin des interdisziplinären Arbeits- und Forschungsbe-

reichs Interkulturelle Pädago-gik (Interpäd) an der Leibniz

Universität Hannover; Im Moore 11a, 30167 Hannover.

isabel.sievers@ interpaed.uni-hannover.de

gann mit der Greencard-Initiative unter Bun-deskanzler Gerhard Schröder im Jahr 2000 und leitete einen sogenannten Paradigmenwechsel in der deutschen Migrations- und Integrations-politik ein, der im neuen Zuwanderungsgesetz von 2005 auch seinen juristischen Ausdruck fand. Im Mittelpunkt dieses Wandels, der über-wiegend ökonomisch und demografisch moti-viert war, stand und steht der „Kampf um die besten Köpfe“ im internationalen Wettbewerb, da in Deutschland bekanntermaßen der „Ge-nerationen-Vertrag“ brüchig zu werden scheint und junge und qualifizierte Einwanderer ge-braucht werden, um im internationalen Stand-ortwettbewerb nicht zurück zu fallen.

Ein Blick in die aktuellen Printmedien – exemplarisch sei auf die Süddeutsche Zeitung (SZ) verwiesen – belegt die angesprochene Si-tuation: „Intelligente Zuwanderung“ lautet die Überschrift zum Leitartikel, in dem darauf hingewiesen wird, dass „ein kräftiges Plus an ‚gut ausgebildeten Gastarbeitern‘ der deut-schen Wirtschaft ‚sehr nützlich sein‘ (werde)“ und dass „der Satz schon 42 Jahre alt ist“. ❙2 Am selben Tag ist dort ebenfalls zu lesen: „Inge-nieure verzweifelt gesucht. Regierung streitet über Zuwanderung.“ Es wird aber auch gefor-dert, dass „der Nachwuchs in Deutschland zu fördern sei“ und dass die „Fachkräfte längst in Großbritannien, Frankreich und anderswo (sind)“, denn „Deutschland sei für ausländi-sche Experten oft weniger attraktiv als ande-re Länder“. Gleichzeitig schlagen die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes Christine Lüders und der Integrationsminis-ter in Nordrhein-Westfalen Guntram Schnei-der vor, anonymisierte Bewerbungen ohne Angabe von Namen, Alter und Herkunft zu erproben, um der Diskriminierung von Mi-granten auf dem deutschen Arbeitsmarkt ei-nen Riegel vorschieben zu können. ❙3 Kurz-um: Die (Problem-)Situation ist erkannt, aber (noch) nicht (politisch-juristisch) gebannt.

Der erwähnte Paradigmenwechsel in der Mi-grations- und Integrationspolitik fand und fin-det sein Pendant in der deutschen Migrations- und Integrationsforschung. Er zeichnet sich

1 ❙ Vgl. ausführlicher Isabel Sievers/Hartmut M. Grie-se/Rainer Schulte, Bildungserfolgreiche Transmi-granten. Eine Studie über deutsch-türkische Migra-tionsbiographien, Frankfurt/M. 2010.2 ❙ SZ vom 3. 8. 2010.3 ❙ Vgl. SZ vom 24. 8. 2010; Kölner Stadt-Anzeiger

vom 23. 7. 2010.

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dadurch aus, dass immer mehr Studien auf die Ressourcen, Potenziale und Kompetenzen der (Kinder und Enkel der) Einwanderer schauen, statt wie bisher die Probleme, Konflikte und Defizite dieser Menschen in den Mittelpunkt zu rücken. ❙4 Trotz der zunehmenden Zahl an Studien und Berichterstattungen scheinen aber dennoch viele Potenziale bei dieser Personen-gruppe brach zu liegen, wie zuletzt die Un-tersuchungen von Arnd-Michael Nohl et al. gezeigt haben. ❙5 Die Organisation für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung (OECD) machte 2009 wiederum deutlich, dass die Arbeitsmarktsituation von Akademi-kerinnen und Akademikern „mit Migrations-hintergrund“ im Vergleich zu solchen „ohne Migrationshintergrund“ in Deutschland mit einer Arbeitslosenquote von 12,5 Prozent zu 4,4 Prozent deutlich schlechter ausfällt. ❙6

Seit der scheinbaren Überwindung der Fi-nanz- und Wirtschaftskrise in Deutschland im Sommer 2010 wird diese neue bildungs- und wirtschaftspolitische Debatte wieder öffent-lich-politisch, weniger wissenschaftlich, ge-führt. Sie wurde durch die PISA-Studien (seit 2000) eingeleitet, da empirisch belegt und of-fensichtlich wurde, dass Deutschland im Ver-gleich zu ähnlich entwickelten Staaten in Bezug auf die Kompetenzen seiner jungen Menschen scheinbar hoffnungslos abgeschlagen ist. So wie der „Sputnik-Schock“ seinerzeit (1957) die Mo-bilisierung der Begabungsreserven durch eine Reform des Bildungssystems zur Folge hatte, versucht die Regierungspolitik derzeit, die Be-gabungsreserven durch Einwanderung zu re-krutieren – statt die enormen quantitativen und qualitativen Kapazitäten und Ressourcen der Kinder und Enkel der Einwanderer in Deutsch-land zu fördern, zumal die Zuwanderung Hoch-qualifizierter in diesem Jahrhundert wesentlich geringer ausfiel als erhofft und erwartet.

Auf der anderen Seite wurde vergessen, dass immer mehr Nachkommen der einstigen

4 ❙ Vgl. Hartmut M. Griese/Rainer Schulte/Isabel Sie-vers, „Wir denken deutsch und fühlen türkisch“. So-zio-kulturelle Kompetenzen von Studierenden mit Migrationshintergrund Türkei, Frankfurt/M. 2007. 5 ❙ Vgl. Arnd-Michael Nohl et al. (Hrsg.), Kulturelles

Kapital in der Migration. Hochqualifizierte Einwan-derer und Einwanderinnen auf dem Arbeitsmarkt, Wiesbaden 2010.6 ❙ Vgl. OECD (Hrsg.), Nachkommen von Migranten:

schlechtere Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt auch bei gleichem Bildungsniveau, Paris–Berlin 2009.

„Gastarbeiter“ inzwischen den steinigen Weg einer Bildungskarriere über das Abitur bis zum Studium erfolgreich bewältigt haben und auf den deutschen Arbeitsmarkt drängen. Ne-ben den „Bildungsinländern“, die in Deutsch-land ihre Bildungsabschlüsse gemacht haben, gibt es weiter eine große Anzahl „Bildungs-ausländer“, vor allem aus Mittel- und Osteu-ropa, die nach ihrer Ausbildung zu uns ka-men und kommen. Bei beiden Gruppen gibt es wiederum eine große Anzahl „Hochquali-fizierter“, das heißt an Fachhochschulen oder Universitäten akademisch ausgebildete Fach-kräfte. Das Potenzial und die Kompetenzen der ersten Gruppe werden nach wie vor zu ge-ring (an)gefordert und in der Schule zu wenig gefördert; die Qualifikationen der zweiten Gruppe werden immer noch – aber da ist ein Wandel im Gange – selten, vor allem bei aka-demischen Abschlüssen aus Ländern der Ge-meinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), wie bei Lehrkräften und Ärzten, anerkannt.

Aus diesen Beobachtungen ergibt sich die Frage, ob eine gesellschaftliche Nichtakzep-tanz migrationsbedingter Kompetenzen gege-benenfalls zu einer Abwanderung bestimmter Personengruppen und ihrer Fähigkeiten aus Deutschland führt, wie es Probanden in einer unserer ersten Studien ❙7 vermehrt angedeutet haben. In diese Richtung gehen auch die Er-gebnisse der Studie der Türkischen Akademi-ker und Studierenden in Deutschland (TASD), die deutlich macht, dass ein Teil der befrag-ten türkeistämmigen Akademiker und Studie-renden eine „Abwanderungsbereitschaft“ aus Deutschland zeigt (38 Prozent). ❙8 Wir wollen anhand unserer aktuellen Untersuchung auf-zeigen, warum in Deutschland ausgebildete hochqualifizierte Migranten das Land (eventu-ell vorübergehend) verlassen, ob beziehungs-weise unter welchen Bedingungen an eine Rückkehr gedacht wird und welche Faktoren sonst noch Migration und Mobilität von tür-kisch-deutschen Transmigranten beeinflussen.

Die Studie richtet den Blick auf bildungs-erfolgreiche Migranten mit türkeistämmi-gem Migrationshintergrund, welche die ge-samte Schulzeit oder aber den Großteil ihrer Schullaufbahn in Deutschland verbracht ha-

7 ❙ Vgl. H. M. Griese/R. Schulte/I. Sievers (Anm. 4).8 ❙ Vgl. Kamuran Sezer/Nilgün Dağlar, Die Identifi-

kation der TASD mit Deutschland, Krefeld–Dort-mund 2009, S. 17 f.

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ben, hier das Abitur erreicht und ein Studium abgeschlossen haben. Trotz ihres Bildungs-erfolges hat sich für diese Hochqualifizierten eine Situation ergeben, die zu einer Auswan-derung in das Land ihrer Vorfahren führte. Den Transmigrationsansatz ❙9 haben wir auf die von uns untersuchte Gruppe angewendet, da es sich hier um doppelte (mehrfache) Migra-tionsprozesse handelt, und die Personen nach wie vor sehr enge Bindungen und Kontakte nach Deutschland haben und wünschen. Mit Hilfe qualitativer Interviews und schriftlicher E-Mail-Befragungen wurde in der explorati-ven Studie zum einen untersucht, welche Fak-toren den Bildungserfolg dieser Personen be-einflusst haben. Zum anderen ging es um die Motive, Deutschland zu verlassen. Warum se-hen die Personen in Deutschland für sich keine (berufliche) Zukunft? Über welche besonderen Kompetenzen verfügt diese Personengruppe aufgrund ihrer mehrfachen Migrationserfah-rungen, und wo können sie diese nun einset-zen? Nahezu alle Probanden stammen aus klassischen „Gastarbeiterfamilien“. Der über-wiegende Teil der Eltern lebt nach wie vor in Deutschland, und die Probanden sind ohne die Familie in die Türkei „zurück“ gegangen.

„Ich werde es Euch zeigen!“

Der Defizitorientierung bisheriger For-schungsansätze entsprechend, finden sich zahlreiche Ansätze und Untersuchungen zur Erklärung von Schulmisserfolg, die sich häu-fig auf sozialisatorische Faktoren stützen. Sie weisen auf Zusammenhänge zwischen schu-lischen Lern- oder Leistungsschwierigkei-ten und einem sozio-ökonomischen und so-zio-kulturell benachteiligenden Milieu hin. ❙10 Aber diese Erklärungsansätze reichen bei der hier untersuchten Gruppe kaum aus, um ih-ren „Erfolg“ zu erklären, denn sie können nicht auf ein bildungsnahes Elternhaus zu-rückgreifen. Bei unserer explorativen Unter-suchung konnte es allerdings auch nicht um die Feststellung objektiv gegebener Ressour-cen für Bildungserfolg gehen, sondern nur darum, welche für einen Aufstieg förderli-

9 ❙ Vgl. Ludger Pries, Internationale Migration, Biele-feld 2009.10 ❙ Vgl. Isabel Sievers, Individuelle Wahrnehmung,

nationale Denkmuster. Einstellungen deutscher und französischer Lehrkräfte zu Heterogenität im Unter-richt, Frankfurt/M. 2009.

chen Bedingungen aus den Aussagen unserer Probanden rekonstruiert werden können.

Der Bildungsweg der Befragten ist in der Regel nicht geradlinig verlaufen. Es handelt sich häufig um „verschlungene Bildungspfa-de“ ❙11 über verschiedenste Schulformen oder den zweiten Bildungsweg bis hin zum Studi-um oder zur Promotion. Bei diesen Probanden gab es häufig ein ausschlaggebendes Ereignis oder aber eine Schlüsselperson („Signifikante Andere“), welche die Probanden als Grund für ihren schulischen und akademischen Erfolg benennen. Diese können sein: ein Schulka-merad, eine Nachbarin oder ein Familienmit-glied, das sie besonders unterstützt und moti-viert hat. Oftmals haben aber auch Lehrkräfte die Bildungskarriere maßgeblich beeinflusst – positiv wie negativ: „Es gab in der Schule die-sen einen Lehrer (…), und er hat mich in sei-nem Rahmen doch gefördert. Er schenkte mir Bücher, oder lieh mir Bücher aus, mit diesen Büchern habe ich nicht nur deutsch gelernt, sondern auch Bildung erfahren.“ ❙12

Es wurde aber auch deutlich, dass Lehr-kräfte ihnen häufig weniger zugetraut haben und die Jugendlichen gegen deren Empfehlun-gen höhere Schulen besucht haben: „(…) auch wenn es so Kleinigkeiten gab, wo der Leh-rer mir dann gesagt hat, möchtest du dir viel-leicht eine andere Schule überlegen, möchtest du wirklich doch nicht etwas anderes machen (…). Und da hab ich gesagt, nein ich versuch es einfach!“ „Ich habe viel Zeit verloren, dank der Vorurteile.“ „Wir hatten eine Lehrerin, die meinte: „Ja, Herr A., warum sollen die Kin-der denn studieren nach dem Gymnasium? Sie werden die Kinder doch sowieso irgend-wie zurückziehen, das Mädchen wird heira-ten, und der Sohn geht in die Türkei zurück.“

Bildungserfolgreiche Migranten haben sich hoch gekämpft. Nicht selten hat sie ihr Ehr-geiz, aber auch Trotz angetrieben, nach dem Motto: Ich werde es Euch zeigen! Auffällig ist insgesamt, dass auch wenn die primäre (famili-äre) Sozialisation bei allen Probanden eher im türkischen (sprachlich-kulturellen) Kontext

11 ❙ Vgl. Erika Schulze/Eva-Maria Soja, Verschlunge-ne Bildungspfade, in: Georg Auernheimer (Hrsg.), Schieflagen im Bildungssystem, Wiesbaden 2006.12 ❙ Zit. nach: I. Sievers/H. M. Griese/R. Schulte

(Anm. 1), S. 92. Auch die folgenden Zitate finden sich in dieser Studie.

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statt fand, die sekundäre und tertiäre Soziali-sation (Schule und Universität) demgegenüber dominant war, was Kognition, Abstraktion und Reflexion, also soziale beziehungswei-se professionelle Kompetenzen, betrifft. In sprachlich-kognitiver Hinsicht und in Bezug auf die Wissenschaftssprache und akademi-sches Denken überwiegen auch noch heute nach der Auswanderung in die Türkei deut-sche Sprachkompetenzen gegenüber türki-schen. Häufig können sie diese in ihren Ar-beitsfeldern in der Türkei positiv nutzen.

Auswanderungsmotive und -gründe

Befragt nach dem Motiv, Deutschland zu ver-lassen, vermischen sich bei den Befragten ra-tionale Überlegungen mit eher emotionalen Gründen. Unter die rationalen Aspekte fal-len ökonomische Gründe beziehungsweise die Aussicht auf eine bessere Stelle oder bes-sere oder schnellere Aufstiegschancen in dem Zielland. So war die berufliche Perspektive in Deutschland – teilweise trotz Promotion – bei einzelnen Personen ungewiss. Hinzu kamen attraktive Stellenangebote in der Türkei. Stär-ker emotional geprägt sind Erläuterungen, die sich auf eine geringe Anerkennung ihrer Person und ihrer Kompetenzen in der deut-schen Gesellschaft beziehen: „Ja es gab na-türlich mehrere Gründe, zum einen (…), dass ich in Deutschland (…) auf längere Zeit hin doch immer der Fremde bleiben werde. Also die Anerkennung war nicht da, sie war unter Gleichen natürlich da, aber nicht in der Ge-sellschaft, also ich wollte einfach 100-prozen-tige Anerkennung.“ Andere Probanden schil-dern das Gefühl folgendermaßen: „Der ewige Ausländerstatus türkischer Migranten belas-tete mich sehr. Auch in Istanbul blieb ich Aus-länderin, jedoch mit einem höheren Status als in Deutschland.“ „Ich habe immer gesagt, ich möchte als ein Staatsbürger erster Klasse le-ben, (…) das heißt ich möchte theoretisch auch Staatspräsident des Landes werden können. In der Türkei kann ich das, in Deutschland nicht. (…) Ich wollte jemand sein, der zur Elite ge-hört. In Deutschland ist das schwer zur Elite zu gehören, in der Türkei ist das nicht so.“

Die Beispiele zeigen, wie wichtig es den Befragten ist, dass ihre „Rückkehr“ nicht als Versagen ihres Migrationsprojektes gedeutet wird. Sie haben heute in der Türkei gute be-rufliche Positionen, in denen sie häufig ihre

besonderen interkulturellen Kompetenzen einsetzen können (wie in internationalen Un-ternehmen oder Institutionen, aber auch im universitären Bereich). Einzelne Probanden können sich aber durchaus vorstellen, wie-der (für ein paar Jahre) nach Deutschland zu kommen, vorausgesetzt, dass sie (beruflich) voll anerkannt werden.

Die bildungserfolgreichen Migranten wur-den damit konfrontiert, dass sie anders sind. Trotz Abitur und akademischen Status füh-len sie sich „exkludiert“, „nicht zugehörig“, also subjektiv nicht „integriert“. Das Haupt-problem im Themenkontext „Anerken-nung“ ❙13 scheint das „öffentliche Bewusst-sein“ zu sein. Nicht zuletzt entscheiden sich Fragen der „Exklusion“ oder „Inklusion“ be-ziehungsweise des „Dazugehörens“ (so haben wir 2007 „Integration“ kurz definiert) von Einwanderern durch den Bewusstseinsstand der Mehrheitsgesellschaft beziehungsweise über das (Nicht-)Vorhandensein einer „Will-kommenskultur“ im Einwanderungsland.

Besonderheiten bildungserfolgreicher Transmigranten

Bei den bildungserfolgreichen Transmigran-ten ließen sich sogenannte transnationale So-zialräume ❙14 feststellen, die über die jeweiligen Länder- oder Kulturgrenzen hinweg entste-hen und aus vielfältigen Beziehungen und Vernetzungen (familiärer, sozialer, organi-sationaler oder ökonomischer Art) zwischen den Ländern bestehen, so wie es Ludgar Pries auch für Transmigranten im nordamerikani-schen Raum feststellen konnte. Ihre Veranke-rung in mehreren Gesellschaften beeinflusst ihre Gruppenzugehörigkeit, ihre Selbstveror-tung und die Form der Kommunikation. Ent-scheidend für die Mobilität und Lebensweise dieser bildungserfolgreichen Transmigranten ist insbesondere ihre Stellung im Beruf. Sie definieren sich selbst eher über soziale als über kulturelle Dimensionen ihrer Persönlichkeit (Profession und Beruf beziehungsweise Mit-glied der scientific community). Mit anderen Worten: Die soziale Rolle dominiert eindeu-tig über die (bi- oder trans-)kulturelle Rolle.

13 ❙ Siehe hierzu auch den Exkurs: Das Konzept „Anerkennung“ – der Kampf um Anerkennung, in I. Sievers/H. M. Griese/R. Schulte (Anm. 1).14 ❙ Vgl. L. Pries (Anm. 9).

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Diese bildungserfolgreichen Transmigranten stellen bisher gebräuchliche Grundlagen der Migrationssoziologie infrage. Ihre Biografien, Lebensprojekte und Einstellungen entsprechen weder einer Vorbereitung auf eine endgültige Rückkehr noch der Forderung einer vollstän-digen Assimilation in die Gesellschaft. Wir ha-ben es also innerhalb dieser neuen Perspektive mit „sozialen Lagen jenseits und diesseits nati-onalstaatlicher Rahmungen, in ‚Zwischenräu-men‘ und/oder in einer ‚gleichzeitigen‘ Zuge-hörigkeit zweier (oder mehrerer) Räume“ zu tun. Also mit Menschen, die „bi-national oder regional, in grenzüberschreitenden sozialen Räumen, Arbeitsmärkten und Organisatio-nen, oder in der Weltgesellschaft“ agieren. ❙15

Konzeptionelle Konsequenzen

Mit der „transnationalen Perspektive“ gelan-gen innovative Aspekte und neue Fragen in die Migrationsforschung: Gibt es eine transnatio-nale Elite, die quasi raum- und regionübergrei-fend (inter)agiert, hochqualifizierte Trans mi-gran ten, die nationalstaatlich nicht zu verorten sind und deren Identität entsprechend trans-national und transkulturell hybrid ist? Bildet diese neue Elite eine Art globale entgrenzte „Parallelgesellschaft“ und eine neue „Kultur der geographischen Mobilität“, oder fördert das Internet Transnationalisierungs- und Glo-balisierungsprozesse auch in Richtung der Be-völkerung insgesamt, vor allem der aktiven jungen Menschen? Wie können derlei transna-tionale und kulturübergreifende Migrations- und Mobilitätsprozesse theoretisch-analytisch erfasst und innerhalb der Interaktionen zwi-schen nationalen Räumen und innerhalb von transnationalen Räumen analysiert werden? Ulrich Beck postuliert in diesem Zusammen-hang eine „kosmopolitische Soziologie“, einen „kosmopolitischen Blick“, der „die Prämissen und Dualismen einer nationalstaatlichen So-ziologie – wie national und international, Wir und die Anderen – (…) reflektiert und auf diese Weise einen neuen soziologischen Blick (…) [beispielsweise auf Prozesse der Migration, Anm. d. V.] gewinnt“. ❙16 Diese neue Perspek-

15 ❙ Ludger Pries, Transnationalisierung und sozia-le Ungleichheit, in: Peter Berger/Anja Weiß (Hrsg.), Transnationalisierung sozialer Ungleichheit, Wies-baden 2008, S. 8.16 ❙ Ulrich Beck, Risikogesellschaft und die Transna-

tionalisierung sozialer Ungleichheiten, in: P. Berger/ A. Weiß (Anm. 15), S. 19.

tive wirft einen Blick nach außen auf globa-le, internationale oder transkulturelle Prozes-se und Organisationen, nach innen allein auf das (einzigartige) Individuum. „Wenn es rich-tig ist, dass sich in der Zweiten Moderne die Grenzen verwischen und vermischen, dann ist der Typus des ‚hochqualifizierten Transmig-ranten‘ die Verkörperung der sich vermischen-den Grenzen zwischen Nationen und Staaten“ und kann zu einer „Avantgarde einer transna-tionalen Mobilität“ werden, die eine „kosmo-politische Existenzform“ erprobt. ❙17

Gesellschafts- und migrationspolitische Konsequenzen

Migration wird weiterhin einen starken Ein-fluss auf die deutsche Wirtschaft und Ge-sellschaft haben, und Transmigranten wer-den zukünftig, vor allem unter akademischen und qualifizierten Ausgebildeten, zuneh-men. Auch unsere Ergebnisse zeigen, dass es einerseits weltwirtschaftliche Verände-rungen, Globalisierung und die sich anpas-sende Organisation international agierender Unternehmen sind, die sich auf Migrations-verhalten von Bildungserfolgreichen auswir-ken, andererseits ist es aber auch die Art und Weise, wie eine Gesellschaft mit ihren Mit-gliedern und in diesem Fall ihren hochqua-lifizierten Mitgliedern „mit Migrationshin-tergrund“ umgeht. Wenn diese sich nicht ausreichend anerkannt sehen, kann dies eben-falls zu einer (vorübergehenden) Auswande-rung führen. Experten rechnen sogar mit einer anhaltenden Fluktuation unter den Zu-gewanderten. Mitverantwortlich hierfür ist, dass die Attraktivität Deutschlands für bes-ser qualifizierte Neuzuwanderer geringer ist als in vergleichbaren Staaten. Angesichts des-sen sollten Politik und Wirtschaft ihre Prak-tiken in Bezug auf Anwerbung und Einwan-derung überdenken.

Mit der Transmigration treten die bisher vor-herrschenden Fragestellungen um das Thema Integration in den Hintergrund. Denn wenn Migration zum „Normalfall“ der Geschich-te – nicht nur in Deutschland – geworden ist, wenn Transmigration in bestimmten Sekto-ren eine unausbleibliche Folge wirtschaftli-cher und wissenschaftlicher Globalisierung ist, wenn „ungenutzte Potenziale“ in Deutsch-

17 ❙ Ebd., S. 32, modifiziert.

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land bei vielen Migranten konstatiert werden, dann müssen auch die rechtlichen Rahmenbe-dingungen geschaffen werden, um der gesell-schaftlichen und ökonomischen Realität Rech-nung zu tragen. Das sind nicht nur erleichterte Einreisebedingungen für Hochqualifizierte und die Anerkennung ihrer Diplome und Zer-tifikate, sondern vor allem die rechtlichen Be-dingungen für bereits im Land lebende Mi-granten, die sich qualifizieren. Die erleichterte Einbürgerung von lange Jahre in Deutschland lebenden Migranten via doppelter Staatsbür-gerschaft wäre ein Weg, (Hoch-)Qualifizierte im Lande zu halten. Zwar führt „nicht allein die Hinnahme der doppelten Staatsbürger-schaft zu gesellschaftlicher Inklusion“, den-noch dürfte sie „der Entwicklung einer allge-meinen Einwanderungsmentalität (dienen), die sich durch die Akzeptanz gemischt-kultureller Identitäten und einen grundsätzlichen Inklusi-onswillen auszeichnet“. ❙18 Viele Probleme und Barrieren hinsichtlich der ökonomisch erfor-derlichen und politisch geforderten Zuwachs-rate an „Humankapital“ ❙19 könnten durch ge-zielte „(Früh-)Förderung“ im Bildungssystem und administrative „Anerkennung“ (auch „symbolische“) der Abschlüsse auf dem Ar-beitsmarkt und im Berufsleben gelöst werden. Im eigenen Interesse müsste in Deutschland politisch-juristisch gegen eine „Dequalifizie-rung“ durch unterqualifizierte Arbeit von qua-lifizierten Migranten vorgegangen werden.

Konsequenzen für die erziehungs- und sozialwissenschaftliche Diskussion

Die Frage nach bildungspolitischen und pä-dagogischen Konsequenzen stellt sich umso nachdrücklicher, weil die oben präsentierte Studie auf die Generierung von Kriterien und Inhaltsaspekten zur Überwindung von Bil-dungsbenachteiligungen und gesellschaftlichen Partizipationsdefiziten für die große Zahl von Migranten gerichtet und nicht einer Elitefor-schung zuzuordnen ist. Bei der Auseinander-setzung mit der Bildungssituation von Schülern „mit Migrationshintergrund“ herrscht bei-spielsweise immer noch ein relativ traditionel-les Modell von Migration vor. Dieses ist mit der

18 ❙ Daniel Naujoks, Die doppelte Staatsbürgerschaft, in: focus Migration, (2009) 14, S. 8.19 ❙ Der Terminus avancierte gar zum „Unwort des

Jahres“, da er Menschen auf ihre Verwertbarkeit und Arbeitskraft reduziert.

Unterstellung verbunden, dass es sich in der Re-gel um einen unidirektionalen Prozess handelt: „Auswanderung – Einwanderung – Integration am neuen Lebensort nach ein oder zwei ‚Gene-rationen‘“. ❙20 Diese Form der Migration bleibt hinter der Komplexität des tatsächlichen Mig-rationsgeschehens zurück. Voraussetzung für eine Auseinandersetzung mit neuen Migrati-onsphänomenen ist insbesondere eine kritische Reflexion der sozial- und erziehungswissen-schaftlichen Theoriediskussion um „Migration und Bildung“ mit dem Ziel, kulturalistische und ethnozentrische Defizit- und Problem-perspektiven zu überschreiten. Ein statischer, national orientierter Migrations- und Kultur-begriff muss aufgegeben werden und die Ori-entierung am Individuum als handelndes Sub-jekt an Bedeutung gewinnen.

Ein weiterer zu diskutierender Aspekt sind die mehrsprachigen Kompetenzen bildungs-erfolgreicher Transmigranten. Welche Aus-wirkungen hat Transmigration zukünftig auf die Diskussion um die Förderung von Mehr-sprachigkeit beziehungsweise die sogenannte Zweisprachigkeitsdebatte, wie sie aktuell unter anderem in Deutschland geführt wird? Ingrid Gogolin und Ludgar Pries konnten zeigen, dass der Bereich der sprachlichen Lebensge-staltung zu den ersten Feldern gehörte, in de-nen aus erziehungswissenschaftlicher Perspek-tive das Konzept der Transmigration beachtet wurde. ❙21 Ausschlaggebend hierfür seien die Beobachtungen und Erkenntnisse, dass die Vi-talität von Herkunftssprachen von Migranten auch in den nachfolgenden Generationen nicht nachlässt. Verschiedene Studien ergaben, dass Herkunftssprache und Mehrheitssprache kei-neswegs in einer konkurrierenden Beziehung gesehen wurden. ❙22 Die bisherigen dichotomen Kategorien von Sprachpraxis „Deutsch oder Sprache der Familie“, „Deutschland oder Her-kunftsland“ entsprechen nicht mehr der Kom-plexität der aktuellen Praktiken. Forschungs-ergebnisse wie die oben genannten stützen die Bedeutung einer differenzierten Betrachtung von Migrationstypen für die Erziehungs- und Sprachwissenschaft.

20 ❙ Ingrid Gogolin/Ludger Pries, Stichwort: Trans-migration und Bildung, Zeitschrift für Erziehungs-wissenschaft, (2004) 1.21 ❙ Vgl. ebd., S. 13.22 ❙ Vgl. z. B. Sara Fürstenau/Ingrid Gogolin/Kutlay

Yağmur (Hrsg.), Mehrsprachigkeit in Hamburg. Er-gebnisse einer Sprachenerhebung an den Grundschu-len in Hamburg, Münster et al. 2003.

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Exkurs: Das Konstrukt „Menschen mit Migrationshintergrund“

In der politisch-medial-öffentlichen sowie in der wissenschaftlichen und pädagogischen Diskussion hat sich seit einigen Jahren der Terminus „Menschen mit Migrationshinter-grund“ etabliert und wird in der Regel diskus-sions- und kritiklos als (optimale) Bezeich-nung für eine bestimmte Menschengruppe in unserer Gesellschaft verwendet, konkret für all diejenigen, die nach 1950 eingewandert oder Kinder von Eltern sind, von denen mindestens eine oder einer im Ausland geboren ist. Dieser statistisch durchaus sinnvolle, aber nur schein-bar wertfreie Begriff hat jedoch seine Tücken, auf die im Sinne einer steten Verbesserung der Terminologie für eine immer adäquate-re Beschreibung, Erklärung und Verstehen der sozialen Wirklichkeit hingewiesen wer-den muss. Der Begriff schreibt den problema-tischen Dualismus im Alltags- und wohl auch Wissenschaftsverständnis („Wir und die An-deren“, „Einheimische und Ausländer“) fest, indem er die Bevölkerung wiederum in zwei unterschiedliche und voneinander abweichen-de Gruppen teilt, wobei jede auch noch so gut gemeinte Abgrenzung immer auch eine Form von Ausgrenzung impliziert. Wenn man be-denkt, dass „neue Begriffe (immer) der Ord-nung des Sozialen“ dienen und gesellschaftli-che Wirklichkeit mit konstruieren, dann liegt im Konstrukt „Menschen mit Migrations-hintergrund“ durchaus ein Terminus vor, der auch angesichts des realen Wandels der Gesell-schaft immer auch den Wandel des Bewusst-seins der Bevölkerung beeinflusst. ❙23

Angesichts der Heterogenität und Diffe-renziertheit der Migrationsprozesse und der Migranten verbietet es sich, diese Gruppen mit einem Terminus beschreiben be zie hungs-weise benennen zu wollen. „Migrationshinter-grund“ ist mit Blick auf die Vielfalt und Kom-plexität der Merkmale eines Menschen nur ein Attribut von vielen; es reduziert individuel-le Komplexität und Einmaligkeit in wissen-schaftlich inadäquater und politisch-moralisch unverantwortlicher Weise. Wir haben es mit äußerst differenzierten Einwanderungsgrup-pen zu unterschiedlichen Zeiten, mit gänzlich

23 ❙ Vgl. Franz Hamburger, Differenzierung der Mi-gration, in: Migration und Soziale Arbeit, (2008) 2, S. 92–100, hier: S. 92.

verschiedenen Motivlagen, Interessen und bio-graphisch-familiären Erfahrungen sowie (öko-nomischer, kultureller und sozialer) Kapital-ausstattungen zu tun, wovon über die Hälfte dieser „Menschen mit Migrationshintergrund“ die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hat. „Das größte Risiko“, so Franz Hamburger, „für Kinder und Jugendliche ‚mit Migrations-hintergrund‘ ist, als solche identifiziert zu wer-den. Sie werden dabei als verschieden, ‚anders‘ wahrgenommen, einer Kategorie zugeordnet und zukünftig nur noch – oder: vor allem – als Angehörige dieser Kategorie behandelt“. ❙24 Dieses Typisieren entspricht genau dem, was in der Soziologie Stigmatisierung genannt wird, eine „Vorenthaltung des Subjektstatus“. Es spricht vieles dafür, zukünftig auf das Attribut „m. MH“ – zumindest in der wissenschaftli-chen Analyse und Diskussion – zu verzichten und statt dessen, im Sinne des intersectionali-ty approach, ❙25 stets die Vielzahl der relevanten Merkmale (class/Milieu – race/Ethnie – Gender – Religion – Region – Generation etc.) sowie in der Bildungsdebatte vor allem die Kapitalaus-stattung der Individuen und ihrer (Herkunfts-)Familien zu bedenken und zu reflektieren.

Es ist deutlich geworden, dass zukünftig junge Menschen mit hochqualifizierten aka-demischen Kompetenzen und Ressourcen in Gesellschaften und Wirtschaftssystemen wie Deutschland vermehrt benötigt werden, und dass ein großes Potenzial dafür in den Kindern und Enkelkindern der Einwanderer zu finden ist – allerdings nur, wenn unsere Gesellschaft sich ihnen gegenüber öffnet und ihnen gleiche Bildungschancen offeriert. Dass dies möglich ist, wenn auch oft gegen Widerstände (pädago-gische Vorurteile, personale und institutionelle Diskriminierungen), aber vor allem auf der Ba-sis von (individuellen) Förderungen durch sig-nifikante Andere wie Eltern, Lehrkräfte, Be-zugspersonen und Vorbilder („Lasso-Effekt“), zeigt unsere Studie zu bildungserfolgreichen Transmigrantinnen und Transmigranten. Transmigration ist das Ergebnis einer verän-derten Lebenswirklichkeit für eine wachsende Zahl von jungen Menschen, insbesondere von hochqualifizierten bildungserfolgreichen Mi-grantinnen und Migranten.

24 ❙ Ebd., S. 99.25 ❙ Vgl. Nina Degele/Gabriele Winkler, Intersektio-

nalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Biele-feld 2009.

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Karen Schönwälder

Einwanderer in Räten

und Parlamenten

Wenn in der Bundesrepublik Deutsch-land über Integration debattiert wird,

geht es noch selten um Teilhabe am politi-schen Leben. Einwan-derer erscheinen als Menschen, die heran-geführt werden müs-sen an die Formen und Institutionen des Le-bens in Deutschland, gelegentlich auch als Menschen, die nach-drücklich zur Anpas-sung gedrängt wer-

den sollten. Viel seltener noch sind Bilder von Bürgerinnen und Bürgern, die diese Gesell-schaft aktiv mitgestalten und dabei die be-sonderen Erfahrungen, die sie selbst oder ihre Eltern durch ihre Migrationsgeschichte gemacht haben, einbringen. Erst langsam er-kennen die politischen Parteien und Eliten, dass Integration und Integrationspolitik auch bei ihnen selbst stattfinden sollte, dass auch ihnen „Vielfalt gut tut“. ❙1

Nun haben Migrantinnen und Migranten schon in den Anfangsjahren der Gastarbeiter-rekrutierung in den 1950er und 1960er Jahren ihre Lebensbedingungen aktiv mitgestaltet. Bei den Unternehmen Bahlsen oder Buderus protestierten sie, gelegentlich durch Arbeits-niederlegungen, um zum Beispiel eine besse-re Gesundheitsversorgung und Verpflegung durchzusetzen. ❙2 In den Gewerkschaften sind Arbeitsmigranten schon seit Jahrzehnten akti-ve Mitgestalter der Politik. In der Bürgerrechts- und Friedensbewegung gehörten sie schon in den 1970er und 1980er Jahren fest dazu.

Neu aber ist der Auftritt der Nachkriegs-einwanderer auf der großen politischen Büh-ne der Parlamente und Regierungen. Neu ist auch, dass die Volksparteien eine geringe Prä-senz von Migrantinnen und Migranten in ih-

Karen Schönwälder Dr. phil. habil., geb. 1959;

Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut zur

Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften,

Hermann-Föge-Weg 11, 37073 Göttingen.

[email protected]

ren Führungsgremien und Fraktionen – und nicht zuletzt in ihrer Mitgliedschaft – als Problem erkennen. So konstatierte die SPD 2010 einen „Erneuerungsbedarf“ der Par-tei in Sachen Integration: „Sie ist nicht bunt, nicht vielfältig genug. Die gesellschaftliche Lebensrealität spiegelt sich nicht in unserer Partei, erst Recht nicht auf Führungsebene, wider.“ ❙3 Ähnlich stellte auch die CDU fest, dass sie einen „Nachholbedarf bei der par-lamentarischen Vertretung der Zuwanderer und Aussiedler“ hat. ❙4

Wählerinnen und Wähler mit Migrationshintergrund:

ein wachsendes Potenzial

Hintergrund dieser Neuorientierungen ist die seit den 1990er Jahren stark angewachsene Zahl deutscher Staatsangehöriger mit Migra-tionshintergrund. Zum einen stieg die Zahl der Einbürgerungen an, erleichtert durch ers-te Reformen in den frühen 1990er Jahren und dann vor allem durch das seit dem Jahr 2000 geltende neue Staatsangehörigkeitsrecht. Auf 2,4 Millionen wird die Zahl der ehemaligen Ausländerinnen und Ausländer unter den Wahlberechtigten geschätzt. Zweitens haben die großen Aussiedlerzuwanderungen der 1990er Jahre das Wählerpotenzial mit Mi-grationshintergrund stark erweitert. Etwa die Hälfte der 2009 wahlberechtigten Ein-wanderer sind wohl als Aussiedler gekom-men; Russland und Kasachstan zusammen-genommen sind als Herkunftsregion dreimal so häufig vertreten wie die Türkei. Insgesamt hatten bei der Bundestagswahl im September 2009 nach einer Schätzung des Bundeswahl-

1 ❙ „Vielfalt tut gut“ heißt ein Bundesprogramm des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frau-en und Jugend gegen Rechtsextremismus, Fremden-feindlichkeit und Antisemitismus in Deutschland, on-line: www.vielfalt-tut-gut.de (30. 9. 2010).2 ❙ Vgl. Manuela Bojadžijev, Die windige Internatio-

nale: Rassismus und Kämpfe der Migration, Münster 2008; Mark J. Miller, Foreign Workers in Western Eu-rope. An Emerging Political Force, New York 1981.3 ❙ Arbeitsprogramm 2010 des SPD-Parteivorstandes

vom 18. 1. 2010, online: www.spd.de/ linkableblob/3750/data/20100118_arbeitsprogramm_2010_des_spd- parteivorstandes.pdf (30. 9. 2010).4 ❙ So Hermann Gröhe, Generalsekretär der CDU, auf

eine Bürgeranfrage am 26. 11. 2009, online: www.abge-ordnetenwatch.de/hermann_groehe-575-37607.html (30. 9. 2010).

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leiters knapp neun Prozent der Wahlberech-tigten einen Migrationshintergrund. ❙5 Bei Kommunalwahlen, wo auch EU-Staatsan-gehörige wahlberechtigt sind, kann in Groß-städten der Anteil der Wahlberechtigten, die selbst oder deren Eltern eingewandert sind, schon einmal bei etwa 20 Prozent liegen. ❙6

Auch wenn momentan wenige Einwanderer nach Deutschland kommen, wird der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in der Wählerschaft weiter wachsen: Denn die Kinder von Ausländern werden ja seit 2000 in vielen Fällen per Geburt Deutsche, und Ein-bürgerungen halten – wenn auch auf niedri-gem Niveau – an. Im politischen Leben wird und sollte diese langsam größer werdende Gruppe in Zukunft an Gewicht gewinnen.

Warum Einwanderer (auch) durch Einwanderer repräsentiert werden sollten

Nun ist es keine Selbstverständlichkeit, dass unterschiedliche Bevölkerungsgruppen spie-gelbildlich in den Parlamenten vertreten sein sollten (in der Fachliteratur wird dies als „de-skriptive“ oder „statistische“ Repräsentation bezeichnet). Kaum jemand verlangt beispiels-weise, dass 30 Prozent der Parlamentarier Katholiken sein sollten, weil dies dem Bevöl-kerungsanteil dieser Konfession entspricht. Allerdings wird die weit unter ihrem Be-völkerungsanteil liegende Repräsentanz von Frauen durchaus sehr verbreitet als proble-matisch angesehen. Die Argumente ähneln denen für eine höhere Repräsentation der eingewanderten Deutschen: ❙7

5 ❙ Vgl. die Pressemitteilung des Bundeswahlleiters, 5,6 Millionen Wahlberechtigte mit Migrationshinter-grund, vom 11. 9. 2009, online: www. presseportal.de/pm/74247/der_bundeswahlleiter (30. 9. 2010). Ver-mutlich wird gerade die Zahl der Aussiedler hier unter schätzt.6 ❙ Dies war beispielsweise in Bielefeld, Leverkusen,

Wuppertal und Solingen der Fall, vgl. Karen Schön-wälder/Christiane Kofri, Diversity in Germany’s Political Life? Immigrants in City Councils, Max Planck Institute for the Study of Religious and Eth-nic Diversity, Working Paper, Göttingen 2010.7 ❙ Vgl. Anne Philipps, The Politics of Presence, Ox-

ford 1995; Jane Mansbridge, Should Blacks Represent Blacks and Women Represent Women: A Contingent „Yes“, in: Journal of Politics, 61 (1999), S. 628–657.

Erstens kann eine geringe Vertretung einer bestimmten Gruppe in den politischen Eli-ten Indiz für deren Benachteiligung im Zu-gang zu solchen Positionen sein. Dabei sind die möglichen Barrieren sowohl direkter als auch indirekter Art. Sie umfassen etwa die Verteidigung der Machtpositionen durch die bislang Etablierten, Stereotype über eine an-geblich geringere Eignung von Frauen oder Menschen aus bestimmten Herkunftsländern für politische Führungsaufgaben, schwäche-re soziale Netzwerke und ein geringeres Maß der für das politische Engagement hilfreichen ökonomischen Unabhängigkeit.

Zweitens könnte sich eine Bevölkerungs-gruppe, die „keinen der ihren“ in den Parla-menten und Räten sieht, durch diese Orga-ne nicht oder weniger vertreten fühlen, deren Entscheidungen in geringerem Maß akzep-tieren. Nun gibt es bislang wenig Anlass, sich über das Vertrauen der Migranten in die deutsche Demokratie und deren Institutionen Sorgen zu machen. Umfragen zeigen ein ho-hes Vertrauen in Behörden und beispielswei-se die Polizei. ❙8 In einer für das Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften im Jahr 2009 in Nordrhein-Westfalen durchgeführ-ten Umfrage zeigten sich diesbezüglich kaum Unterschiede zwischen Personen mit bezie-hungsweise ohne Migrationshintergrund. ❙9 Nur 16 Prozent der Befragten mit Migrati-onshintergrund fanden, dass die Politiker der Stadt eher die Interessen der Deutschen und nicht die aller Menschen in ihrer Stadt ver-treten. Allerdings war das Vertrauen in die politischen Parteien in der Stadt und in den Stadtrat eher gering. Unter den Wahlberech-tigten mit Migrationshintergrund benann-ten nur 39 Prozent eine Partei oder Gruppe in der Stadt, die ihren politischen Vorstel-lungen nahe kam. Hier klafft eine erhebliche Repräsentationslücke. Indem die deutsche

8 ❙ Vgl. Bertelsmann Stiftung, Zuwanderer in Deutsch land. Ergebnisse einer repräsentativen Be-fragung von Menschen mit Migrationshintergrund (im Frühjahr 2009), o. O., 2009, S. 35, online: www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/media/xcms_bst_dms_28825_28831_2.pdf (30. 9. 2010).9 ❙ Bei dieser telefonisch durchgeführten Umfrage

(im Folgenden als MMGKom-Umfrage) wurden im August 2009 1026 Wahlberechtigte bei der Kommu-nalwahl, also deutsche und EU-Staatsangehörige ab 16 Jahren, befragt. Die Befragten hatten etwa zur Hälfte einen Migrationshintergrund.

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Staatsangehörigkeit und damit gleiche politi-sche Rechte immer mehr zur Selbstverständ-lichkeit werden, könnte die Unzufriedenheit wachsen.

Politische Parteien sind Vermittler zwi-schen Bevölkerung und Entscheidungsträ-gern. Ist eine Bevölkerungsgruppe in ihnen kaum vertreten, dann wissen die Parteien und in der Folge auch die Parlamente zu we-nig über die Bedürfnisse und Meinungen in dieser Gruppe. Andersherum kann auch die Kommunikation der Entscheidungen von Parlamenten und Stadträten hin zu den Bür-gern eingeschränkt sein, wenn Vermittler fehlen, die in den unterschiedlichen Bevölke-rungsgruppen Ansehen und Vertrauen genie-ßen. Deutliche Illustration dieser Defizite ist die Abhängigkeit politischer Entscheidungs-träger in Deutschland vom Gespräch mit Mi-grantenorganisationen oder muslimischen Verbänden, wenn sie bestimmte Probleme bearbeiten wollen. Offensichtlich fehlt in den Parlamenten, Stadträten und Regierun-gen selbst die entsprechende Kompetenz und Repräsentanz.

Schließlich sind Politikerinnen und Po-litiker mit Migrationshintergrund häufi-ger Lobby für die Gleichberechtigung und die spezifischen Anliegen der eingewander-ten Deutschen und Ausländer. ❙10 Selbst wenn natürlich nicht jede Politikerin, deren Vater beispielsweise Italiener ist, für die Interessen von Flüchtlingen eintritt, so ist doch insge-samt anzunehmen, dass eigene oder familiäre Migrationserfahrungen das Verständnis für die Anliegen von Migrantinnen und Migran-ten erhöhen und eine gute Grundlage für eine Kompetenz in der Sache sind. Für weibliche Parlamentsmitglieder ist gut belegt, dass sie insgesamt durchaus spezifische Anliegen und Prioritäten vertreten. ❙11 Umgekehrt bedeu-tet dies, dass bei einer starken Unterreprä-sentation gerade unterprivilegierter Bevöl-kerungsgruppen deren spezifische Anliegen und Bedürfnisse auf der politischen Agenda wahrscheinlich nicht adäquat vertreten sind.

10 ❙ Die Siebenbürgische Zeitung artikulierte kürz-lich Sorgen über eine fehlende Vertretung wichtiger Aussiedlergruppen im 2009 gewählten Bundestag, vgl. „Bundestag ohne Spätaussiedlervertreter“ vom 7. 10. 2009.11 ❙ Vgl. Pippa Norris, The Impact of Electoral Re-

form on Women’s Representation, in: Acta Politica, 41 (2006) 2, S. 197–213.

Eine erhöhte Repräsentation der eingewan-derten Bevölkerung in den Räten und Parla-menten ist also aus verschiedenen Gründen wünschenswert. Sie ist zudem in der Bevöl-kerung keineswegs unpopulär. So erklärten in der MMGKom-Umfrage in Nordrhein-Westfalen immerhin 67 Prozent aller Befrag-ten, sie wünschten sich mehr Menschen mit Migrationshintergrund in politischen Füh-rungspositionen; unter den Befragten mit Migrationshintergrund waren es 72 Prozent. Offenbar geht es hier auch um öffentliche Präsenz und Anerkennung – und nicht un-bedingt um gruppenspezifische Interessen –, denn nur 37 Prozent der Migrantinnen und Migranten sahen eine erhöhte Zahl von Rä-ten mit Migrationshintergrund als Mittel zu einer besseren Vertretung ihrer Interessen.

Räte und Abgeordnete mit Migrationshintergrund

Noch sind Einwanderer in deutschen Par-lamenten und Räten selten, aber in den ver-gangenen Jahren hat sich die Einwanderer-präsenz in deutschen Parlamenten deutlich erhöht. Von den 1825 Mitgliedern der 16 Par-lamente der Bundesländer hatten im Sommer 2009 39 einen Migrationshintergrund, nach den Wahlen in Nordrhein-Westfalen sind es Mitte 2010 46. ❙12 Noch im Jahr 2000 gab es erst 12 Abgeordnete in Landesparlamenten, die einen Migrationshintergrund hatten. Im Bundestag gibt es nun 20 Abgeordnete mit einer eigenen oder familiären Migrations-geschichte; erst 1994 zogen hier mit Ley-la Onur (SPD) und Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) die ersten Repräsentanten der Nachkriegsmigration ein. ❙13 Auch auf der Ebene der Städte verändert sich das politische Leben: In den Großstädten Nordrhein-West-falens wurden 2009 fast 80 Politikerinnen

12 ❙ Eigene Berechnungen. Von einem Migrations-hintergrund ist hier die Rede, wenn die Betreffen-den selbst nach Deutschland eingewandert sind oder einer ihrer Eltern einwanderte. Den hier gemachten Angaben liegen umfangreiche Recherchen zugrunde, dabei kann aber nicht ganz ausgeschlossen werden, dass es weitere Abgeordnete gibt, deren Migrations-hintergrund noch nicht bekannt ist.13 ❙ Streng genommen haben auch Abgeordnete wie

Hans Raidel (Mitglied des Bundestages von 1990–98 und 2002–09) und Detlev von Larcher (1990–2002), die in Rumänien geboren wurden, einen Migrations-hintergrund.

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und Politiker mit Migrationshintergrund in die Räte gewählt. ❙14 Eindeutig entwickelt sich hier eine neue politische Elite, und eindeu-tig verändern sich die Räte und Parlamente in Deutschland.

Ebenso eindeutig aber ist, dass die Zahl der Abgeordneten bei weitem nicht dem Bevöl-kerungsanteil der Einwanderer entspricht. Nimmt man die westdeutschen Bundeslän-der und Berlin, dann haben dort etwa 3 Pro-zent der Landesparlamentarier einen Migra-tionshintergrund; in der Bevölkerung sind es 22 Prozent. ❙15 In den Großstädten Nordrhein-Westfalens liegt der Anteil der Räte mit Mi-grationshintergrund bei etwa 4 Prozent; in der Wahlbevölkerung dieser Städte aber lag zum Zeitpunkt der Kommunalwahl im August 2009 deren Anteil bei 13 bis 20 Prozent. ❙16

Zwischen Bundesländern und Städten gibt es große Unterschiede. Es wäre falsch, ei-nen gleichmäßigen Trend zur erhöhten Prä-senz von Einwanderern in Räten und Parla-menten anzunehmen. Bei den Bundesländern sticht die Diskrepanz zwischen Stadtstaaten und Flächenstaaten hervor. 30 der im Sommer 2009 39 Landtagsabgeordneten gehörten dem Abgeordnetenhaus Berlins beziehungsweise der Bürgerschaft der Stadtstaaten Hamburg und Bremen an, wo nur 5,8 von Deutschlands 82 Millionen Menschen leben. Im Landtag Nordrhein-Westfalens gab es lange keinen einzigen Abgeordneten mit Migrationshinter-grund, erst nach der Wahl 2010 erhöhte sich deren Zahl von null auf sieben. ❙17 In Baden-Württemberg ist Nikolas Sakellariou der ein-zige Landtagsabgeordnete, der eine familiäre Migrationsgeschichte hat. Dieses Ungleichge-wicht ist nicht Ausdruck einer extremen Kon-

14 ❙ Vgl. K. Schönwälder/C. Kofri (Anm. 6). Einbezo-gen sind hier die 29 Städte in Nordrhein-Westfalen mit mehr als 100 000 Einwohnern. 15 ❙ Eigene Berechnungen für Mitte 2009, Bevölke-

rungszahlen auf Basis des Mikrozensus 2009, vgl. Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Erwerbs-tätigkeit. Ergebnisse des Mikrozensus 2009. Fachse-rie 1, Reihe 2.2, Wiesbaden 2009. Alle Angaben zu den Landesparlamenten beziehen sich, wo nicht an-ders vermerkt, auf das Stichdatum Juli 2009.16 ❙ Vgl. die Tabelle in K. Schönwälder/C. Kofri

(Anm. 6). Dies ist der Bevölkerungsanteil der deut-schen und EU-Staatsangehörigen ab 16 Jahren, dem Alter, das zur Teilnahme an Kommunalwahlen berechtigt.17 ❙ In früheren Wahlperioden hatte es bereits einzelne

Abgeordnete mit Migrationshintergrund gegeben.

zentration der eingewanderten Bevölkerung. Die Anteile der Deutschen mit Migrationshin-tergrund sind in den drei Stadtstaaten ähnlich hoch wie in Hessen und Baden-Württemberg.

Starke Ungleichgewichte findet man auch, wenn man die Rolle der politischen Parteien betrachtet. Etwa die Hälfte der Landesparla-mentarier mit Migrationshintergrund wurden für Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke ge-wählt, beide Parteien stellen aber nur 18 Pro-zent der Abgeordneten in den 16 Parlamenten. Historisch waren es Die Grünen, beziehungs-weise damals noch die Alternative Liste in Berlin, die als Erste Einwanderern den Weg in die Parlamente ebneten. 1987 zog Sevim Çele-bi in das Berliner Abgeordnetenhaus ein, 1992 folgte Ismail Hakkı Kosan, 1995 Rıza Baran. Neben dem Engagement der Migranten selbst war das Selbstverständnis der Grünen als ein-wanderungsfreundliche Partei ein entschei-dender Faktor für diese relative Offenheit.

Für die SPD zog als erster überregiona-ler Abgeordneter Hakkı Keskin 1993 in die Hamburger Bürgerschaft ein, 1997 und 1999 folgten einzelne Abgeordnete auch in Flä-chenstaaten (etwa Mario Capezutto in Ba-den-Württemberg und Ikbal Berber im Saar-land). Gerade die SPD hatte durchaus schon in den 1980er Jahren Mitglieder, die etwa als Gastarbeiter aus der Türkei in die Bundesre-publik gekommen waren. Die Gewerkschaf-ten sowie sozialdemokratisch orientierte Or-ganisationen in den Herkunftsländern stellten eine Brücke zur SPD dar. Lange aber wurden dieses Potenzial und dieser politische Inte-grationsvorsprung nicht genutzt. Erst in den vergangenen Jahren machen sich ein verstärk-tes Bemühen der Führungen – aber auch die Ambitionen der Mitglieder mit Migrationshin-tergrund selbst – in einer verstärkten Präsenz in Parlamenten und Räten deutlich: Nachdem seit 2010 auch im alten industriellen Kernland Nordrhein-Westfalen mit Ibrahim Yetim und Serdar Yüksel zwei Söhne von Einwanderern der SPD-Fraktion im Landtag angehören, ist die Zahl der SPD-Landesparlamentarier mit Migrationshintergrund auf 14 gestiegen.

Sechs Landesparlamentarier der CDU ha-ben einen Migrationshintergrund. ❙18 Die Zahl

18 ❙ Für sie war David McAllister 1998 der erste Lan-desparlamentarier mit Migrationshintergrund, es folgte 2002 Milad El-Khalil in Sachsen.

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von neun CDU-Stadträten mit Migrations-hintergrund unter den 679 CDU-Räten in Nordrhein-Westfalens 29 Großstädten sig-nalisiert gleichzeitig, dass die Partei noch am Anfang einer politischen Inkorporation von Einwanderern steht. Immerhin kandidier-ten 46 Migrantinnen und Migranten für die CDU in diesen Städten, es gibt also durchaus ein Potenzial, das bereit ist, sich im Rahmen eines konservativen politischen Programms zu engagieren.

Auch in der FDP sind politische Reprä-sentanten mit Migrationsgeschichte noch eine Seltenheit. Ein Landtagsabgeordneter ❙19 und vier Räte in den 29 Großstädten Nord-rhein-Westfalens gehören den Liberalen an. Hintergrund dieser Repräsentationslücke dürfte die Diskrepanz zwischen den sozia-len Interessen, als deren Vertreter die FDP gesehen wird, und dem sozialen Profil der eingewanderten Bevölkerung sein. Libera-le Akzente in der Migrationspolitik schei-nen nicht zu einer hohen Attraktivität der Partei unter politisch ambitionierten Deut-schen mit Migrationshintergrund beigetra-gen zu haben.

Vielleicht am aktivsten um vordere Plätze für Politikerinnen und Politiker mit Migra-tionshintergrund bemüht hat sich Die Linke. In den Großstädten Nordrhein-Westfalens etwa sind 15 ihrer 97 Stadträte Migrantin-nen oder Migranten, der höchste Anteil im Vergleich der Parteien. In den Landtagen hatten Mitte 2009 sieben Abgeordnete der Linken einen Migrationshintergrund. Ver-mutlich kann die Partei soziale Interessen der durchschnittlich eher schlechter gestell-ten Migrantenbevölkerung artikulieren und enttäuschte ehemalige Sozialdemokraten für sich gewinnen.

Bei den Kommunalwahlen konnten in Nordrhein-Westfalen 2009 auch zwei Listen Sitze erringen, die überwiegend Einwande-rer aufstellten: das „Bündnis für Frieden und Freiheit“ in Bonn und die „Bürgerinitiative (BI) Gelsenkirchen“. ❙20 Noch sind solche Lis-

19 ❙ Nach dem Aufrücken Philipp Röslers in die Bun-desregierung ist Mark Ella der einzige regionale FDP-Abgeordnete mit Migrationshintergrund.20 ❙ In weiteren Städten kandidierten solche Listen,

so die Alternative Bürgerinitiative (ABI) Köln, die Duisburger Alternative Liste oder die Interkulturelle Wählerinitiative in Recklinghausen.

ten kein massenhaftes Phänomen. Ihr Auf-treten signalisiert aber, dass die großen Par-teien sich offenbar nicht hinreichend offen zeigen für diese Wählergruppe und ihr kein ausreichend attraktives Programm anbieten. Denn die Zahl der Kandidatinnen und Kan-didaten, die auf überwiegend von Migranten formierten Listen kandidierten, war in meh-reren Städten durchaus beachtlich und über-stieg gelegentlich die aller Bundestagspartei-en zusammengenommen. ❙21 Hier gibt es ein Potenzial Partizipation einfordernder Bürge-rinnen und Bürger.

Über die Effekte der Kandidatur und Wahl von Politikerinnen und Politikern mit Migrationshintergrund und deren Inter-aktionen mit der Wählerschaft wissen wir noch wenig. Es gibt aber Anzeichen dafür, dass sie zusätzliche Wählerpotenziale mo-bilisieren können und damit auch zu einer erhöhten Partizipation der eingewanderten Bevölkerung beitragen. In Duisburg etwa erzielte die CDU bei den Kommunalwah-len mit einem türkeistämmigen Wahlkreis-Kandidaten ein besonders gutes Wahlergeb-nis, in Köln gelang Entsprechendes der SPD mit Politikerinnen und Politikern mit tür-kischen beziehungsweise portugiesischen Wurzeln.

Politikerinnen und Politiker mit Migrati-onsgeschichte werden aber sicher nicht über-wiegend von Wählerinnen und Wählern mit Migrationshintergrund in die Räte und Parla-mente gewählt. Aufgrund der geringen Sied-lungskonzentration eingewanderter Gruppen in Deutschland ❙22 wäre eine „ethnische Mo-bilisierung“, wie sie etwa in den USA durch-aus gängig ist und als völlig legitim gilt, nicht erfolgversprechend. Und darüber hinaus ist kaum anzunehmen, dass diese Wählergruppe

21 ❙ In Gelsenkirchen zum Beispiel kandidierten 32 Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund für die BIG und nur elf weitere für die fünf Bundes-tagsparteien. In Recklinghausen kandidierten 26 der 32 Kandidaten mit Migrationshintergrund für die In-terkulturelle Wählerinitiative (IWI).22 ❙ Vgl. Karen Schönwälder/Janina Söhn, Siedlungs-

strukturen von Migrantengruppen in Deutschland: Schwerpunkte der Ansiedlung und innerstädtische Konzentrationen, WZB Discussion Paper, Nr. SP IV 2007-601. Genaue Zahlen für Wahlkreise existieren nicht. Vermutlich gibt es heute selbst bei Kommu-nalwahlen kaum einen Wahlkreis, in dem die Wäh-lerschaft mit Migrationshintergrund die Mehrheit stellt.

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geschlossen wählt. ❙23 Deutsche ohne Migrati-onsgeschichte andererseits sind durchaus be-reit, Einwanderer in die Räte und Parlamen-te zu wählen. Dies zeigen die Wahlergebnisse ebenso wie Antworten in der MMGKom-Be-fragung in Nordrhein-Westfalen, in der über 70 Prozent ihre Bereitschaft dazu bekundeten.

Die Türkeistämmigen: Vorbild in Sachen politische Integration

Wer sind die gewählten Volksvertreter mit Migrationshintergrund? Blickt man auf die Herkunftskontexte der migrantischen poli-tischen Elite, dann überrascht der sehr hohe Anteil türkeistämmiger Politikerinnen und Politiker. Die so oft aufgrund vermeintlicher Integrationsdefizite oder gar einer unterstell-ten Integrationsverweigerung gescholtene Gruppe erweist sich im Bereich der Politik als ein Vorbild der Integration.

20 von 39 Landtagsabgeordneten mit Mi-grationshintergrund stammen aus der Tür-kei oder haben Eltern, die aus der Türkei nach Deutschland einwanderten. Entsprechen-des gilt für 43 von 79 Ratsmitgliedern in den Großstädten Nordrhein-Westfalens. In der Bevölkerung mit Migrationshintergrund da-gegen stellt diese Gruppe nur etwa 20 Prozent, unter den von den Statistikern identifizierten Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund bei der Bundestagswahl 2009 machte sie nicht einmal 10 Prozent aus. Wie lässt sich diese star-ke Präsenz der Türkeistämmigen unter Parla-mentariern und Ratsmitgliedern erklären?

Zunächst einmal haben offenbar sehr viele Deutschtürken die Bereitschaft und die Moti-

23 ❙ In welchem Maße Personen mit Migrationshinter-grund Kandidaten mit ähnlichen Erfahrungen wäh-len, wissen wir nicht. Welche Parteien sie wählen, ist ebenfalls nicht umfassend bekannt. In den gängigen Befragungen nach Verlassen der Wahllokale, den so genannten exit polls, wird im Allgemeinen nicht nach Migrationshintergrund differenziert. Über Partei-identifikation und Wahlabsichten liegen wenige In-formationen vor, vgl. Andreas M. Wüst, Wahlverhal-ten und politische Repräsentation von Migranten, in: Der Bürger im Staat, 56 (2006) 4, S. 228–234; Martin Kroh/Ingrid Tucci, Parteibindung von Migranten, in: Wochenbericht des DIW, (2009) 47, S. 821–827; Martina Sauer, Teilhabe und Orientierungen tür-keistämmiger Migrantinnen und Migranten in Nord-rhein-Westfalen. Ergebnisse der zehnten Mehrthe-menbefragung 2009, Essen 2009.

vation, sich zu engagieren. Dabei könnten die besonders benachteiligte Position der türkei-stämmigen Bevölkerung, die Erfahrung kol-lektiver oder sogar individueller Diskriminie-rung eine Rolle spielen. In der Literatur wird darüber hinaus gelegentlich angenommen, dass Einwanderer darauf reagieren, welche Karrie-rewege ihnen eher offen stehen oder verschlos-sen sind: Politische Karrieren könnten für dieje-nigen attraktiver sein, denen zum Beispiel eine Karriere in der Wirtschaft versperrt wird. ❙24

Zweitens ist die türkeistämmige Bevölke-rung in Deutschland eine hoch politisierte Gruppe. Die Erfahrungen der bürgerkriegs-ähnlichen Auseinandersetzungen im Kon-text des Militärputsches von 1980 haben vie-le geprägt. Etliche Türkeistämmige, darunter viele Kurden, kamen als politische Flüchtlin-ge nach Deutschland. Erfahrungen in politi-schen Organisationen im Heimatland oder in Migrantenorganisationen in Deutschland sind ein auch in den deutschen politischen Partei-en einsetzbares kulturelles Kapital. Wer poli-tisch interessiert und engagiert ist, ist dies oft in Herkunfts- wie Einwanderungsland. ❙25

Die relativen starken Community-Struk-turen könnten die Basis für die Entwicklung von Eliten darstellen und auch das Selbstbe-wusstsein, das für eine politische Karriere notwendig ist, stärken. ❙26 Sie bieten gleichzei-tig Möglichkeiten für eine gezielte Anspra-che und Mobilisierung der Gruppe, da es bei-spielsweise breit gelesene Zeitungen speziell für die Türkischsprachigen gibt. Letzteres gilt ansonsten nur für die russischsprachige Bevölkerung Deutschlands.

Schließlich haben die politischen Partei-en unter Umständen ein besonderes Interes-

24 ❙ Vgl. Lise Togeby, The political representation of ethnic minorities. Denmark as a deviant case, in: Par-ty Politics, 14 (2008), S. 325–343, hier: S. 340; Taeku Lee, Race, Immigration, and the Identity-to-Poli-tics Link, in: Annual Review of Political Science, 11 (2008), S. 457–478.25 ❙ Vgl. Kurt Salentin, Ziehen sich Migranten in

„ethnische Kolonien“ zurück?, in: Klaus J. Bade/Michael Bommes/Rainer Münz (Hrsg.), Migrati-onsreport 2004. Fakten – Analysen – Perspektiven, Frankfurt/M.–New York 2004.26 ❙ Zu positiven Effekten ethnischer Organisiertheit

vgl. Jean Tillie, Social Capital of Organisations and their Members. Explaining the Political Integration of Immigrants in Amsterdam, in: Journal of Ethnic and Migration Studies, 30 (2004) 3, S. 529–541.

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se daran, türkeistämmige Kandidatinnen und Kandidaten aufzustellen. Unterstellt man, dass gerade die türkeistämmige Wählerschaft ein starkes Gruppenbewusstsein hat, und dass gerade sie auf die Aufstellung von Kan-didaten mit gleichem Herkunftshintergrund positiv reagieren wird, könnte eine solche ge-zielte Strategie attraktiv sein.

Insgesamt sind die Ursachen von Mobi-lisierungsunterschieden zwischen Migran-tengruppen noch wenig erforscht. Arbeiten zu asiatischen Gruppen in den USA verwei-sen darauf, dass langfristig im Herkunftsland entstandene Einstellungen zum Staat und zur Politik in diesem Fall die Distanz zum poli-tischen Engagement verstärken können ❙27 – ähnlich könnten Traditionen des Misstrauens in Staat und Politik auch unter osteuropäi-schen Migrantinnen und Migranten weiter wirken.

Nicht nur der hohe Anteil türkeistämmiger Deutscher in der neuen politischen Elite ist überraschend. Entgegen gängigen Erwartun-gen ist die neue politische Elite zudem relativ weiblich. In Nordrhein-Westfalen fanden wir 37 Frauen unter 79 Räten mit Migrationshin-tergrund, dies sind 46 Prozent. Von den 39 Landtagsabgeordneten mit Migrationshin-tergrund im Sommer 2009 waren 17 – oder 44 Prozent – weiblich, höhere Anteile als un-ter den Parlamentariern insgesamt. ❙28

Beachtlich schließlich ist, dass zumindest unter den Ratsmitgliedern (in unserer Unter-suchung, also in den Großstädten Nordrhein-Westfalens) und Landesparlamentariern über die Hälfte Einwanderer der ersten Generati-on sind, also Menschen, die nicht in Deutsch-land geboren wurden. Dies ist insofern nicht selbstverständlich, als die Eingewöhnung von Einwanderern in ein politisches System

27 ❙ Vgl. Janelle S. Wong/Pei-te Lien/M. Margaret Conway, Activity amid Diversity: Asian American Political Participation, in: Jane Junn/Kerry L. Hay-nie (eds.), New Race Politics in America, Cambridge 2008, S. 70–94, hier: S. 88.28 ❙ Für die Länderparlamente wird ein Frauenanteil

von durchschnittlich 33 Prozent und für Städte über 100 000 Einwohner von 32 bis 36 Prozent genannt, vgl. Waltraud Cornelißen (Hrsg.), 1. Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bun-desrepublik Deutschland. Erstellt durch das Deutsche Jugendinstitut e. V. in Zusammenarbeit mit dem Sta-tistischen Bundesamt, München 2005, S. 373, S. 376.

zumeist als längerfristiger Prozess gesehen wird. Hier geht es ja um so vielfältige Aspek-te wie das Verständnis der herrschenden Re-geln und Prozeduren, die Identifikation mit landesspezifischen politischen Programmen und Akteuren, den Aufbau von Netzwer-ken, die eine politische Karriere unterstüt-zen können, und natürlich die Einbürgerung. Offenbar gelingt es einer beachtlichen Zahl von Einwanderern, solche keineswegs niedri-gen Hürden zu überwinden.

Die Inkorporation von Einwanderern in ein politisches System ist ein langfristiger Prozess. In den USA werden bis in die drit-te Generation Unterschiede in der politischen Partizipation von Menschen mit familiärer Migrationsgeschichte festgestellt. ❙29 Diese ha-ben vielfältige Ursachen. Es ist generell so, dass Menschen mit geringer formaler Bildung und einem niedrigen Einkommen – und dies trifft überdurchschnittlich auf die eingewanderte Bevölkerung zu – weniger als Andere in for-mellen Formen wie Wahlen oder als Mitglie-der politischer Parteien am politischen Pro-zess teilnehmen. Hinzu kommen spezifische Barrieren, zu denen die Sprache, aber auch ne-gative Einstellungen gegenüber bestimmten Migrantengruppen oder die Verteidigung von Machtpositionen durch etablierte Akteure ge-hören. Die Entwicklungen der vergangenen Jahre und die zum Teil überraschende Zusam-mensetzung der migrantischen politischen Elite zeigen, dass eine bemerkenswerte Zahl von Menschen mit Migrationshintergrund die Fähigkeiten und das Engagement aufbringen, um derartige Barrieren zu überwinden.

Dennoch wird – wie die Erfahrungen in an-deren Ländern und die Erfahrung der Frau-en zeigen – Chancengleichheit wohl nicht im Selbstlauf beziehungsweise allein durch die Ini-tiative der Migrantinnen und Migranten selbst erreicht werden. Es bleibt abzuwarten, ob po-litische Organisationen einschließlich der po-litischen Parteien bereit sein werden, sich auch durch gezielte Interventionen weiter für Men-schen mit Migrationshintergrund zu öffnen.

29 ❙ Vgl. S. Karthick Ramakrishnan, Democracy in Immigrant America. Changing Demographics and Political Participation, Stanford 2005; Karen Schön-wälder, Einwanderer als Wähler, Gewählte und trans-nationale Akteure, in: Politische Vierteljahresschrift, 50 (2009) 4, S. 832–849.

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Michael Bommes

Kommunen: Modera-toren im Prozess der sozialen Integration?

Es ist zum Topos geworden, dass die so-ziale Integration von Migranten „vor

Ort“ und damit in Städten oder Gemein-den stattfindet. Inte-gration findet gewiss „vor Ort“ statt wie eben alles, was ge-schieht, stets irgend-wo „vor Ort“ statt-findet. Aber dies be-deutet nicht, dass die Bedingungen der In-tegration auch vor Ort kontrolliert wer-den können – sinn-fällig daran, dass Ar-beitnehmer von Be-

schäftigungsbedingungen in Unternehmen abhängig sind, die durch globale und eben nicht lokale Konstellationen bestimmt sind. Daher müssen auch Kommunen, wie nur zu bekannt, global denken, um lokal handeln zu können. Als Gemeinde oder Kommune wird im Folgenden ein im politischen Sys-tem als Gebietskörperschaft der „Gemein-de“ differenzierter Organisationsverbund bezeichnet. Integrationspolitisch bedeutsam ist, welche Rolle Städten und Gemeinden als Entscheidungsebenen mit den Mitteln kom-munaler Politik in der Handhabung von lo-kal, national, europäisch oder global be-stimmten Bedingungen der Migration und Integration zukommt. Die Aufgabenstel-lung eines „lokalen Integrationsmanage-ments“ wird oft missverständlich als primä-re Aufgabe der Kommunen formuliert. Dies führt zu einer Überschätzung kommunaler Möglichkeiten, wenn übersehen wird, dass die Bedingungen sozialer Integration eben in vielerlei Hinsicht in überlokale und sich lokaler Politik entziehende Horizonte ein-gebettet sind, und zu einer Unterschätzung, wenn das beträchtliche und von zahlreichen Kommunen auch genutzte kommunale Mo-derationspotenzial von Integrationsprozes-sen übersehen wird.

Michael Bommes Dr. phil., geb. 1954; Professor für Soziologie/Methodologie

interkultureller und interdiszi-plinärer Migrationsforschung,

Direktor des Instituts für Migra-tionsforschung und interkultu-relle Studien (IMIS) der Univer-sität Osnabrück; Neuer Graben

19/21, 49069 Osnabrück. [email protected]

Erfolgreiche Integration von Migranten lässt sich soziologisch als gelungene Reali-sierung der Teilnahme an für die Lebensfüh-rung bedeutsamen gesellschaftlichen Berei-chen (wie Arbeit, Ausbildung, Gesundheit, Recht, Politik) begreifen. Erfolgreiche und erfolglose Integrationsprozesse gehen als Re-sultat primär hervor aus dem Zusammenspiel der Anstrengungen der Migranten, sich an den sozialen Bedingungen der Teilnahme in den genannten Bereichen und den dort gülti-gen Anforderungen auszurichten. Migranten sind daher erhebliche Anpassungsleistungen abverlangt. Zugleich sind ihre Erfolgsaussich-ten durch kaum funktionalen Erfordernissen in Unternehmen, Schulen oder Verwaltungen geschuldete Hürden eingeschränkt wie etwa die Kontrolle der Arbeitsplatzinhaber über den Zugang zu Arbeitsplätzen, die organisa-torischen Alltagsroutinen in Verwaltungen oder die Durchsetzungsfähigkeit der Mittel- und Oberschichten in der Konkurrenz um Bildung. Integration heißt auch Konkurrenz um knappe Güter und Irritation organisato-rischer Alltagsroutinen durch ein sich wan-delndes Publikum. Sie kann nur durch bei-des hindurch gelingen – und sie kann, weil sie in Unternehmen, Schulen und lokalen Ver-waltungen sowie in Familien gelingen muss, weder politisch verordnet noch politisch be-wirkt werden. Der Fokus einer Integrations-politik liegt daher (nicht nur für Migranten) meist in diesen Kernbereichen der sozialen Integration, also der Beförderung von Teil-nahmechancen in den Bereichen Bildung und Arbeit sowie der Mobilisierung der Familien. Bezugsgrößen jeder Integrationspolitik sind:

• die Verfassung der Migranten, wie ihre Fertigkeiten, Verhaltensmuster, Sprache(n) und Normenkenntnisse. Sie bezeichnen die individuellen kognitiven Voraussetzungen für die Teilnahme an sozialen Zusammen-hängen;

• die sozialen Bedingungen in den Bereichen Arbeit, Bildung und Familie, die unter dem Gesichtspunkt relevant sind, was sie Indi-viduen abverlangen und ob sie Zugang und Teilnahme eher befördern oder behindern;

• die Möglichkeiten von Politik selbst; denn diese kann Integration nicht selbst gewähr-leisten, sondern nur mit ihren Mitteln – Ge-setzen, staatlich finanzierten Programmen und symbolischer Politik – entsprechende Rahmenbezüge gestalten.

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Kommunalpolitische PerspektiveZwischen den föderalen Ebenen besteht eine mehr oder weniger klare Arbeitsteilung: Der Bund ist auf der Grundlage seiner allgemeinen Gesetzgebungskompetenz für Zuwanderung und Aufenthalt auch durch seine wirtschafts- und sozialpolitische Legislativprärogative ein zentraler integrationspolitischer Akteur. Der integrationspolitische Zugriff der Länder liegt hauptsächlich im Bereich der Bildungs-politik. Die Rolle der Kommunen wird im Folgenden zu klären sein.

Kommunen können Integrationsressourcen bei Migranten ebenso wie in den relevanten Integrationsbereichen (Arbeitsmarkt, Schu-len, Familien etc.) mobilisieren. Städte und Gemeinden in Deutschland haben eine hete-rogene und bislang weitgehend unerforschte Geschichte der kommunalpolitischen Gestal-tung sozialer Integration. Dies liegt auch an einer gewandelten und erst seit dem Ende der 1990er Jahre politisch prominenteren Stellung der Kommunen im Migrations- und Integra-tionsprozess. Wichtig dabei ist ihre Position im politischen Staatsgefüge: Kommunen als territorial definierte Einheiten des politischen Systems sind zuständig für die politische Or-ganisation der Gestaltung der lokalen Lebens-verhältnisse. Die politisch-rechtlich umschrie-benen Einheiten „Gemeinden“ sind nicht deckungsgleich mit dem, worauf sich sozial im Alltag als Lokales bezogen wird. Kommu-nen sind vielmehr Teil des alltäglichen Her-stellungsprozesses sozialer Lokalität, ❙1 in dem sie unter anderem in Kooperationen mit lo-kalen Akteuren die allgemeinen Randbedin-gungen lokalspezifisch zur Geltung bringen. In rechtlicher, finanzieller und/oder symboli-scher Form umgesetzte Bundes- und Länder-politiken setzen damit den Kommunen einen lokalspezifisch auszufüllenden Rahmen.

Die Relevanz bundes- und länderpolitischer Entscheidungen für die Kommunen liegt im Gegensatz zu ihren lokalen Konsequenzen auf der Hand. Denn Gemeinden als zentrale Träger der öffentlichen Verwaltungen bilden den politischen Organisationszusammen-hang, in dessen Verantwortung die adminis-trative Bearbeitung der Problemstellung von

1 ❙ Vgl. Jörg Bogumil/Lars Holtkamp, Kommunal-politik und Kommunalverwaltung: eine policyorien-tierte Einführung, Wiebaden 2006.

Migration und Integration erfolgt. Die Kom-munen hatten damit schon immer eine bedeu-tende eigenständige Rolle bei der Gestaltung von Migration und Integration. Aufgrund ihrer Stellung in der föderalen Struktur der Bundesrepublik verfügen sie über einen Er-messensspielraum bei der organisatorischen Ausgestaltung und füllen diesen auf dem Hintergrund ihrer je eigenen kommunalen Verwaltungs- und Politikgeschichte aus.

Neue Rolle der Kommunen

Begleiterscheinung der arbeitsmarktpoliti-schen Reformen (Hartz I bis IV) sowie des Zuwanderungsgesetzes (ZuwG) war eine Re-duktion der strukturellen Spannungen zwi-schen Bund und Kommunen und die Neu-definition der integrationspolitischen Rolle der Kommunen. Ein Rückblick auf kommu-nale Integrationspolitiken verdeutlicht dabei, dass diese im Wesentlichen im Bezugsrahmen historisch gewissermaßen von Zuwande-rungsfall zu Zuwanderungsfall kumulierter, unübersichtlicher migrations- und integrati-onspolitischer Regelungen entstanden sind und dabei zwei relevante unbeabsichtigte Ef-fekte erzeugt haben.

Zur Zeit des „Anwerbestopps“ von 1973 gab es angesichts der einsetzenden Niederlas-sung der Arbeitsmigranten keine klar formu-lierten migrations- und integrationspoliti-schen Rahmensetzungen des Bundes und der Länder. Daraus resultierte eine große kom-munalpolitische Unsicherheit über zukünf-tige kommunale Problemstellungen. Die ge-meindespezifisch dann sehr divergierenden integrationspolitischen Entscheidungen seit den späten 1960er und frühen 1970er Jahren blieben lange Zeit traditionsbildend und ha-ben je unterschiedliche Pfade der Entwick-lung kommunaler Integrationspolitik gelegt. Diese heterogenen und lokalspezifisch zuge-schnittenen Integrationspolitiken waren aber lange und sind vielfach noch immer neben oder unterhalb einer Sozialpolitik platziert, in die Arbeitsmigranten über die allgemeine Sozialversicherungspflicht einbezogen wa-ren. Ähnliches gilt für „ausländerspezifische“ Fördermaßnahmen für Kinder und Jugendli-che, die aber nicht als Teil eines allgemeinen und kommunalpolitisch bedeutsamen Bil-dungsmanagements begriffen wurden. Die derzeit beobachtbare Reorganisation kom-

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munaler Integrationspolitik ist Ergebnis einer durch Hartz-Gesetzgebung und ZuwG ver-änderten Stellung der Kommunen im Wohl-fahrtsstaat mit der Folge neuer Auf gaben.

In den frühen 1990er Jahren wurde mit der seit dem Ende der 1980er Jahre stark anstei-genden Aussiedlerzuwanderung und der da-mit verbundenen Neuregelung von Zuwande-rung und Integration aus Kostengründen diese Gruppe weitgehend von der Zuständigkeit der damaligen Bundesanstalt für Arbeit (BA) in die der Kommunen verlagert – mit der Fol-ge einer abrupt ansteigenden Beanspruchung der Sozialhaushalte in lokalen Zuzugsschwer-punkten. Zeitlich weitgehend parallel kam es im Kontext der Zuwanderung von Asylbewer-bern und Bürgerkriegsflüchtlingen zu einer Auseinandersetzung über die Kostenzustän-digkeit zwischen Ländern und Kommunen. Aufgrund lange andauernder Uneinigkeit zwischen Bund und Ländern hinsichtlich ei-ner gesetzlichen Regelung für die Zulassung von Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem zer-fallenden Jugoslawien fielen diese bei Bedürf-tigkeit ebenfalls in kommunale Zuständig-keit. Diese drängten daraufhin zwecks eigener Entlastung zahlreiche Flüchtlinge trotz recht-licher Aussichtslosigkeit in das Asylverfahren, denn damit fielen die Versorgungskosten für diese Flüchtlinge in Länderzuständigkeit.

Beide Fälle verdeutlichen das Fehlen ei-ner konzeptionellen Migrationspolitik in den 1990er Jahren in Deutschland. Erste Schrit-te hin zu einer stärker koordinierten Mi gra-tions- und Integrationspolitik wurden je-doch mit der Reform des Ausländergesetzes von 1990 und insbesondere dem besser als ersten „Migrationskompromiss“ bezeichne-ten sogenannten „Asylkompromiss“ voll-zogen. In diesem Kompromiss wurden alle relevanten Zuwanderungsbewegungen (Aus-siedler, Arbeitsmigranten und Asylbewer-ber) einer Neuregelung unterzogen und die verschiedenen bislang nur als je spezifische Sonderfälle behandelten Zuwanderungen zu einer allgemeinen und zunehmend europä-isierten politischen Problemstellung inter-nationaler Migration zusammengefasst. Die Frage der sozialen Integration blieb jedoch im Spannungsfeld des föderalen „Finger-hakelns“ um Kosten und Zuständigkeit zu-nächst ausgeklammert. Dies hat sich durch das Zusammentreten zweier Entwicklun-gen grundlegend geändert: die Reformen des

Wohlfahrtsstaates und die Umstellungen in der Migrations- und Integrationspolitik. Mit diesen Veränderungen fällt den Kommunen systematisch eine andere Stellung (nicht nur) bei der Integration von Migranten zu.

Die Bundesrepublik hat damit ihre Migra-tionsverhältnisse seit dem Fall des Eisernen Vorhangs sukzessive politisch-rechtlich nor-malisiert: Bereits 1990 wurden im neuen Aus-ländergesetz den Arbeitsmigranten erstmalig Rechtsansprüche auf Einbürgerung einge-räumt. Deren zunächst vorgesehene zeitliche Befristung wurde im Rahmen des sogenann-ten „Asylkompromisses“ von 1993 aufgeho-ben, und die Reform des Staatsbürgerschafts-gesetzes von 2000 war in vielerlei Hinsicht die konsequente Übertragung der Neurege-lungen von 1993 in das in seinem Kern um ius soli-Elemente ergänzte Staatsangehörigkeits-gesetz. Auch die Grundgesetzänderung von 1993 war, unabhängig von einer moralischen Bewertung, in Form einer Europäisierung des Asylrechts ein weiterer Schritt zur institutio-nellen Normalisierung. Im gleichen Kontext wurde der Sonderfall der Aussiedlerzuwan-derung im Rahmen des Kriegsfolgenberei-nigungsgesetzes abschließend geregelt. Die „deutsche Volkszugehörigkeit“ wurde nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Re-gime in Osteuropa als privilegierte und viel genutzte Wanderungsoption schon bald mit Einwanderungsbeschränkungen beantwortet. 1990 wurde gesetzlich ein Verfahren zur Zu-zugsregulation eingeführt, Ende 1992 die Zu-wanderung kontingentiert und der im Kriegs-folgenbereinigungsgesetz geschaffene neue Rechtsstatus des „Spätaussiedlers“ auf vor dem 1. Januar 1993 geborene Personen aus der ehemaligen UdSSR beschränkt. Diese Um-stellung ist zentraler Teil der Neuanpassung der deutschen Staatsbürgerschaft. Die 1990, 1993 und 1999 installierten Ergänzungen zum Ausländer- und Staatsbürgerschaftsge-setz eröffnen dauerhaft legal im Lande leben-den Ausländern den Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft. Die Einschränkungen des Rechtsstatus von Aussiedlern waren Teil die-ser Stärkung von Territorialität als Kriterium für den Zugang zur Staatsbürgerschaft sowie der Schwächung der Tradition des jus sangui-nis. Vor diesem Hintergrund ist es dann nur konsequent, dass die im ZuwG – dem dritten Migrationskompromiss – vorgesehenen Integ-rationskurse als Adressaten alle sich dauerhaft niederlassenden Migrantengruppen haben.

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Für die Einschätzung der Rolle der Kom-munen muss deren veränderte Integrations-politik in den Zusammenhang mit anderen für die Stellung der Kommunen bedeutsamen Re-formen des Wohlfahrtsstaates gestellt werden. Soziale Integration als im ZuwG formuliertes Programm bringt sich niederlassende Migran-ten in gleicher Weise in Relation zum Wohl-fahrtsstaat wie die übrige Klientel: „Fördern und Fordern“, die Leitformel des „aktivieren-den Wohlfahrtsstaats“, impliziert den Um-bau der Relation zwischen Wohlfahrtsstaat und ihrem Publikum in dem Sinne, dass allen Leistungsempfängern unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit die Erbringung einer Ge-genleistung abverlangt wird: nämlich ihr Han-deln eigenverantwortlich, marktorientiert und an einer möglichst von Sozialtransfers unab-hängigen Lebensführung auszurichten.

Staatsangehörigkeit verliert damit an Be-deutung als sozialer Platzanweiser; Deutsche und Ausländer werden in der Perspektive der Wohlfahrtsstaaten, die unter Bedingungen ein-geschränkter Leistungsfähigkeit ihre Struktur der Leistungserbringung umbauen, gleicher-maßen entlang der Differenz leistungsfähig versus leistungsunfähig beobachtet. Leis-tungsberechtigung im Wohlfahrtsstaat muss von allen Individuen erworben werden, und in dieser Logik erfolgt umgekehrt die Öff-nung und Erwerbbarkeit der Staatsangehö-rigkeit auf der Grundlage gelingender sozialer Integration: „Integration ist ein gesellschaftli-cher Prozess, in den alle in einer Gesellschaft Lebenden jederzeit einbezogen sind. Unver-zichtbar ist der Integrationswille. Dieser Inte-grationswille äußert sich darin, dass sich jeder Einzelne aus eigener Initiative darum bemüht, sich sozial zu integrieren. Dies gilt für Einhei-mische wie Zugewanderte.“ ❙2

Diese wohlfahrtsstaatliche Gleichbehand-lung von Migranten und Einheimischen wird deutlich, wenn man die Integrationskurse in Relation setzt zu den systematischen Verän-derungen durch die Hartz-Reformen. Die Ersetzung der vormaligen Arbeitslosenhilfe durch das Arbeitslosengeld II (ALG II) und der Einbezug aller vorherigen erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger in diese Leistung der BA bringt alle Leistungsbezieher ohne Bezugsbe-

2 ❙ Vgl. Unabhängige Kommission Zuwanderung (Hrsg.), Zuwanderung gestalten, Integration fördern, Berlin 2001, S. 200.

rechtigung von Arbeitslosengeld in die gleiche Relation zum Staat: „Fördern und Fordern“ meint die Einschränkung ihrer Berechtigung, die Forderung nach Arbeitsaufnahme unter Gesichtspunkten von Status abzulehnen. Der Sinn von Integrationskursen besteht vor die-sem Hintergrund primär darin, „integrati-onsbedürftige“ (Neu)Zuwanderer frühzeitig in die Lage zu versetzen, sich an den Erfor-dernissen der Lebensführung im Einwande-rungskontext auszurichten, um so möglichst bald zu einer selbständigen Lebensführung in der Lage zu sein. Das wird auch strukturell an der Verschränkung der Integrationsprogram-me mit der BA bzw. den ARGEn ersichtlich. In dieser Konstellation verfügen nunmehr die Kommunen über eine veränderte integrati-onspolitische Rolle: Denn mit der Einführung des ALG II ist die kommunale Ebene nicht nur allgemein entlastet und damit die seit den 1980er Jahren von den Kommunen beklag-te Kommunalisierung der Arbeitslosenpro-blematik und damit auch der Folgekosten der Zuwanderung beendet worden. Zugleich wer-den die Kosten für die im ZuwG vorgesehe-nen Integrationskurse vom Bund getragen.

Man darf die mit dem ZuwG verbunde-nen Veränderungen nicht überschätzen. Die Einführung der Integrationskurse und das neu geschaffene Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) stellen keinen voll-ständigen Bruch gegenüber den zuvor prakti-zierten Formen einer Integrationspolitik dar. Ähnlich wie das ZuwG insgesamt bestehende Regelungen zusammengeführt und nur mo-derate Änderungen vorgesehen hat, so han-delt es sich auch jenseits der Neuzuschnei-dung organisatorischer Zuständigkeiten und des Einbezugs der Neuzuwanderer in die In-tegrationsprogramme um keinen radikalen Bruch, sondern um den Aus- und Umbau der bisherigen Integrationspolitik.

Trotz einer symbolischen Politik, mit der insbesondere bei der Selbstpräsentation neu-er Ämter nahe gelegt wird, dass nunmehr alles anders und besser werde, braucht man keinen „Paradigmenwechsel“ auszurufen. Ein nicht zu unterschätzender Wandel ist allerdings doch hinsichtlich der strukturellen Stellung der Kommunen zu registrieren: Integrations-programme für Neu- wie Altzuwanderer wer-den unter organisatorischer Verantwortung des BAMF und finanziert durch den Bund mittlerweile bundesweit von anerkannten Trä-

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gern angeboten. Zudem sind dauerhaft recht-mäßig in Deutschland lebende Zuwanderer in die sozialstaatlichen Programme einbezogen. Die Neuregelungen des ZuwG sowie die davon unabhängig durchgeführten Hartz-Reformen haben damit den Kommunen drei neue Mög-lichkeiten der Gestaltung lokaler Integrations-politik verschafft. So können sie im Rückgriff auf die Integrationskursangebote des BAMF, in Abstimmung mit den von ihnen getragenen Ausländerbehörden und ausgehend von ihrem neu gewonnen Einfluss in den ARGEn Ein-fluss darauf nehmen, welche Träger anerkannt und welche Migranten in Integrationskurse einbezogen werden. Außerdem sind ihnen im Rahmen der zu bildenden ARGEn und auch in den Optionskommunen Kompetenzen der kommunalspezifischen Ausgestaltung einer Beschäftigungsvermittlung im Rahmen ih-rer Wirtschaftsförderpolitik zugefallen, in die Zuwanderer einbezogen werden können. Da-mit resultiert eine auf den bundespolitischen Festlegungen basierte veränderte Einbettung kommunaler Integrationspolitik: nämlich die Überantwortung von Migrantengruppen mit geringen Arbeitsmarktchancen in kommuna-le Zuständigkeit, wie dies bei Aussiedlern und Bürgerkriegsflüchtlingen der Fall war. Diese bundespolitische Einbettung erlaubt den Kommunen zudem eine deutliche Steigerung ihres Einflusses und die Reorganisation ihrer kommunalen Integrationspolitik.

Moderatoren der Integration

Mit ihrer veränderten integrationspolitischen Stellung fällt den Kommunen in Prozessen so-zialer Integration eine Moderatorenrolle im dem Sinne zu, dass sie diese Prozesse durch lo-kalspezifisch zugeschnittene Wirtschaftsför-derungspolitik, kommunales (Aus)Bildungs-management, adressatenspezifische Wohn- und Stadtteilpolitik sowie durch ihre Einwohner engagierende Formen der politischen Beteili-gung vermitteln und fördern können. In die-sen Zusammenhang gehören auch ihre Bemü-hungen um die „interkulturelle Öffnung“ der Verwaltungen sowie die in vielen Kommunen verankerten Integrationslotsenprojekte, die auf den Einbezug von Migranten in kommu-nale Anstrengungen der Erhöhung des lokalen Integrationspotenzials zielen.

Die in vielen Städten und Gemeinden be-gonnene Neusichtung ihrer seit den 1980er

Jahren meist unkoordiniert aufgebauten kom-munalpolitischen Integrationsinfrastruktur eröffnet ihnen die Möglichkeit, diese mit den politisch neu hinzugewonnenen, finanziellen und rechtlichen Optionen zu verknüpfen und entsprechend mit dem Ziel der Steigerung des lokalen Integrationspotenzials zu reorgani-sieren. Es existiert heute nicht zuletzt auf-grund entsprechender Wettbewerbe wie „Er-folgreiche Integration ist kein Zufall“ kaum noch eine von Zuwanderung betroffene Ge-meinde in Deutschland, in der Integration nicht als regulärer Gegenstand auch kommu-naler Politik begriffen wird.

Kommunen können sich ein sehr detaillier-tes Bild über die Integration von Migranten in dem oben erläuterten Sinne verschaffen. Dies betrifft die Wanderungsgeschichte und die Generationenverhältnisse in den Familien, ihre Wohn- und Infrastrukturverhältnisse, die Bildungs- und Arbeitsmarktbeteiligung oder die Zahl und Struktur von Vereinen. Vo-raussetzung und Grundlage jeder Integrati-onspolitik ist der Aufbau einer entsprechen-den lokalen Integrationsberichterstattung. Dies erst erlaubt die kontinuierliche Erfas-sung eben jener Konstellationen mehrfacher Überlagerungen von differenten Integrati-onsherausforderungen, die sich in den Fami-lien ihren Mitgliedern stellen, ihr Zusammen-spiel zu begreifen und je ressortspezifisch zur Geltung zu bringen. Die veränderte Stellung der Kommunen erlaubt ihnen nunmehr, die Frage der Integration auch dort wirksam zum Thema zu machen, wo sie keine unmittelbare Zuständigkeit, aber dennoch Einfluss haben.

Der in der gegenwärtigen Bildungsdiskus-sion vielbeachtete Bereich der vorschulischen Erziehung liegt aus historischen Gründen in kommunaler Zuständigkeit. Neben dem Ziel des Ausbaus des Kindergartens zu einer regu-lären vorschulischen Erziehungseinrichtung bemühen sich Kommunen und Länder um die verstärkte Fortbildung der Erzieherinnen in den Bereichen Sprachvermittlung und Inter-kulturalität. Dabei kommt den Kommunen aufgrund des ihnen eigenen lokalspezifischen Wissens und der Trägerschaft der Einrich-tungen die Rolle zu, in der Neuausrichtung dieses Bereichs die Frage der Integration, des frühzeitigen und bedarfsgerechten Einbezugs von Migrantenkindern, zur Geltung zu brin-gen. Die für Integrationserfolge höchst be-deutsame Inanspruchnahme vorschulischer

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Erziehung kann jedoch nur bei einer frühzei-tigen Adressierung der Eltern gelingen.

Trotz der Zuständigkeit der Länder für die Schulen besitzen die Kommunen als Schul-träger auch angesichts nachdrücklicher Forde-rungen einer stärkeren Einbettung der Schulen in das kommunale soziale Umfeld Einfluss. In diesem Zusammenhang haben Kommunen die Möglichkeit, durch ein regelmäßiges Bildungs-monitoring sich verfestigende Problemlagen zu identifizieren und sich abzeichnende Ab-wärtsdynamiken zu unterbrechen. Bildungs-erfolg und -misserfolg gehen ganz wesentlich aus den nicht-intendierten Effekten des Zu-sammenspiels zwischen Elternhaus, Schule und Kommunen als Schulträgern hervor und führen vielfach zu sich stabilisierenden Ar-beitsteilungen zwischen Schulen, in denen die einen für die Bildung der Erfolgreichen und die anderen für die Betreuung der „Bildungs-versager“ zuständig sind. Kommunen als Mo-deratoren können solche integrationspolitisch kontraproduktiven Arrangements thematisie-ren und für die Suche nach Auswegen sowohl Schulen als auch Eltern mobilisieren.

Die Bedeutung der beruflichen Ausbildung für soziale Integrationsprozesse ist kaum zu überschätzen. Ein eingeschränkter Zugang von Migrantenjugendlichen zu beruflicher Ausbildung lässt sich nicht ausschließlich auf nicht vorhandene schulische Voraussetzungen zurückführen. Neben einer nicht hinreichend differenzierten Berufsorientierung aufgrund fehlenden Wissens der Jugendlichen und ih-rer Eltern sind auch ihr begrenzter Zugang zu den Entscheidernetzwerken, ihre mangelnde Berücksichtigung im Relevanzhorizont von Entscheidern sowie Vorurteile ausschlagge-bend. ❙3 Kommunen können diesen Sachver-halt nicht nur transparent machen; sie können auch regelmäßig auf lokale Unternehmen ein-wirken, Migrantenjugendliche stärker zu be-rücksichtigen. Dies wird umso überzeugen-der gelingen, wie eine solche Aufmerksamkeit zur Grundlage der eigenen kommunalen Ein-stellungspraxis gemacht wird.

Vergleichbare kommunale Möglichkeiten bestehen im Bereich von Weiterbildung und

3 ❙ Vgl. Mona Granato, Berufliche Ausbildung und Lehrstellenmarkt: Chancengerechtigkeit für Jugend-liche mit Migrationshintergrund verwirklichen, WI-SO-direkt, September 2007.

Beschäftigung, nicht zuletzt aufgrund der jüngsten Selbstverpflichtungen der BA zu ei-ner stärkeren Berücksichtigung von Migran-ten in ihren Förderprogrammen. Mit Bezug auf die zweite Generation können Kommunen aufgrund ihres über die ARGEn gewonnenen Einflusses insbesondere das Augenmerk auf den Bedarf einer beruflichen (Nach-)Qualifi-zierung junger Erwachsener richten und auf entsprechende Anstrengungen drängen, um in dieser Weise eine Stabilisierung ihrer Be-schäftigungssituation zu befördern.

Schließlich gibt es inzwischen in einigen Ländern und Kommunen Bestrebungen, die Beziehungen zu islamischen Gemeinden zu verstetigen und diese in das kommunale Ge-schehen einzubeziehen. ❙4 Dies soll muslimi-schen Migranten den Aufbau einer angemes-senen religiösen Infrastruktur ermöglichen und die Akzeptanz islamischer Gemeinden im religiösen Spektrum einer Kommune si-gnalisieren. Zugleich kann eine Grundlage bei den Migrantenfamilien dafür geschaffen werden kann, dass sie sich mehr und mehr als Bürger ihrer Kommunen begreifen lernen.

Integrationspolitische Chancen

Zu sozialer Integration kann Politik mit ih-ren Mitteln beitragen, sie kann sie indes nicht selbst gewährleisten. Aber in langfristiger Ausrichtung kann sie zur Normalisierung beisteuern, verstanden in dem Sinne, dass die soziale Integration von Migranten genauso einer regelmäßigen und routinierten politi-schen Gestaltung bedarf wie auch andere po-litische Problemstellungen. Kommunen kön-nen dazu als Moderatoren der Integration im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine wichtige Rolle spielen. Dies impliziert kein Argument für eine Exklusiv- oder Primärzuständigkeit der Kommunen für Integration, sondern für eine angemessene Einschätzung ihrer neu ge-wonnenen Rolle. Kommunen können nur dann Moderatoren der Integration vor Ort sein, wenn Bund und Länder einen entspre-chenden Rahmen und die dafür erforderli-chen Ressourcen bereit stellen.

4 ❙ Vgl. Hansjörg Schmid/Ayşe Almıla Akca/Klaus Barwig, Gesellschaft gemeinsam gestalten. Islamische Vereinigungen als Partner in Baden-Württemberg, Baden-Baden 2008.

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Klaus J. Bade · Ferdos Forudastan

Teilhabe in der Einwanderungs-

gesellschaftFerdos Forudastan: Herr Professor Bade, ich gehe durch eine deutsche Behörde, eine Schule, eine Universität, ein Gericht oder ein Minis-

terium, ich betrachte die Spitzen der Par-teien, Gewerkschaf-ten oder Verbände, ich schlage die Zei-tung auf, schalte das Radio oder Fernse-hen ein – und gewin-ne den Eindruck: Hier scheinen fast nur Men-schen zu leben, die sel-ber, deren Eltern und Großeltern schon in Deutschland geboren sind. Anders ausge-drückt: Die Tatsache, dass rund 20 Pro-zent der Menschen in Deutschland eine per-sönliche oder familiä-re Zuwanderungsge-schichte haben spiegelt

sich in den meisten Institutionen kaum wider. In der Verwaltung einer deutschen Großstadt beispielsweise haben nur rund drei Prozent der Mitarbeiter ausländische Wurzeln. Woran liegt das?

Klaus J. Bade: Das liegt zunächst daran, dass viele Zuwanderer aus der ehemaligen „Gastar-beiterbevölkerung“, also aus oft bildungsfer-nen Schichten stammen. Deren Kinder waren schon deswegen in der Schule, in der Ausbil-dung und damit in der Vorbereitung auf das Erwerbsleben benachteiligt und kamen zu-nächst entsprechend seltener in qualifizierte Jobs, wie es sie in der Verwaltung, der Wissen-schaft oder in den Medien gibt. Natürlich war auch ein kleiner Teil der Kinder aus sogenann-ten Gastarbeiterfamilien in der Schule sehr erfolgreich, aber diese Kinder hatten Glück, etwa weil außergewöhnlich engagierte Nach-barn oder Lehrer sie unterstützten. Solche Bil-

Klaus J. Bade Prof. Dr. phil., geb. 1944; Prof. em. für Neueste Ge-

schichte an der Universität Osnabrück, lebt in Berlin. Er

begründete in Osnabrück das Institut für Migrationsforschung

und Interkulturelle Studien (IMIS) und ist Vorsitzender des

Sachverständigenrates deut-scher Stiftungen für Integration

und Migration (SVR). [email protected]

Ferdos Forudastan Geb. 1960; freie Journalistin,

Autorin und Dozentin unter anderem an der Hamburger

Akademie für Publizistik. [email protected]

dungskarrieren waren lange eher Ausnahmen, welche die Regel des Bildungsrückstands be-stätigten. Das galt auch, wenn die Eltern ihre Kinder in der Schule unterstützen wollten, dies aber selber nicht konnten. Dass Eltern sich zu-sammenschlossen, um gemeinsam die Bildung ihrer Kinder zu fördern, gelang nur selten wie im Fall der erfolgreichen spanischen Elternver-eine. Das alles zusammengenommen bedeu-tete: Soziale Startnachteile von Zuwanderern haben sich auf ihre Kinder vererbt. Und unser Bildungssystem hat diese Vererbung noch be-fördert und befördert sie bis heute.

Sie spielen darauf an, dass schon in der 4. Klas-se die Kinder darauf festgelegt werden, welche schulische Laufbahn sie einzuschlagen haben?

Das auch, aber meine Kritik setzt viel früher an. Wir haben zu lange zugelassen, dass vie-le der unter Sechsjährigen in einer Umgebung heranwuchsen, in der sie kaum, nicht einmal sprachlich, gefördert wurden. Die Väter waren den ganzen Tag weg, die Mütter im Haushalt gebunden, und fast niemand sprach mit den Kindern Deutsch. In der Schule lagen sie dann weit hinter deutschen Jungen und Mädchen zurück, nicht weil sie unbegabter waren, son-dern oft schlicht deswegen, weil sie die Lehr-kräfte nicht oder nur mühsam verstehen konn-ten. Das hat sich erst in Ansätzen gebessert.

Das heißt: Es muss sich etwas ändern, und zwar etwas Grundlegendes …

So hart es klingen mag: Wir sollten Eltern nötigenfalls verpflichten, ihre kleinen Kin-der in die Kita zu geben. Das sollte übrigens nicht nur für Kinder von Zuwanderern gelten. Es gibt bekanntlich auch eine wachsende Zahl von jungen Menschen ohne Migrationshinter-grund, die kaum in der Lage sind, einen etwas längeren Text zu lesen und zu verstehen. Wir haben aber bislang viel zu wenige Kitas. Sie müssten flächendeckend über das Land verteilt sein und hochqualifizierte Erzieher beschäfti-gen. Und es müsste regelmäßig geprüft werden, ob die Kinder dort bei spielerischer Beschäfti-gung nicht nur genug Deutsch lernen, sondern auch, ob sie überhaupt lernen, zu lernen.

Eine allgemeine Kindertagesstättenpflicht? Ich sehe sie schon Sturm laufen, die Eltern aus der gehobenen Mittelschicht, die dagegen hal-ten, sie wollten und könnten ihre Kinder zu-hause fördern und erziehen.

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Ich sagte „nötigenfalls“ – also dann, wenn die Eltern nachweislich nicht imstande sind, ihren Kindern das mitzugeben, was sie brau-chen, um später zumindest sprachlich pro-blemlos dem Unterricht in einer deutschen Schule folgen zu können. Niemand würde beispielsweise englischsprachige Kinder von ausländischen Diplomaten, die später sowie-so eine internationale Schule besuchen, zwin-gen wollen, in eine deutsche Kita zu gehen. Das Gleiche gilt für bildungsorientierte deut-sche Eltern, die das alleine schaffen.

Heißt das, Sie stellen sich eine Art Elternprü-fung vor? Und wenn diese tatsächlich durch-gesetzt würde: Wie sollten Eltern verpflichtet werden, ihre Kinder in die Kita zu schicken?

Reden wir nicht um den heißen Brei herum: Eine Sprach- und Lernstandsmessung im Vor-schulalter bedeutet immer auch indirekt, zu prüfen, ob die Erziehungsberechtigten in der Lage und willens sind, ihrer Aufgabe nachzu-kommen. Dort, wo das nicht gelingt, sind die Eltern meist in einer sozial sehr schwierigen Situation und oft von staatlichen Transferleis-tungen abhängig. Hier muss gelten: Eltern, die Sozialgeld und insbesondere Kindergeld beziehen, sind umso mehr verpflichtet, durch die Erziehung ihrer Kinder dafür zu sor-gen, dass sich ihre eigene Transferabhängig-keit nicht vererbt. Unterlassen sie das, soll-te die Förderung reduziert werden. Schicken sie ihre Kinder trotzdem nicht in die Kita, muss das Jugendschutzgesetz greifen. Mit an-deren Worten: Der Staat entzieht den Eltern das Erziehungsrecht auf Zeit oder auch auf Dauer. Kindeswohl geht vor Elternrecht. Um diesem Gedanken gerecht zu werden, haben wir schon jetzt die notwendigen gesetzlichen und behördlichen Handlungsspielräume, wir wenden sie nur zu selten an. Wir müssten aber auch die Stellung der Lehrer stärken. Es ist ein Unding, dass sie Eltern zum Gespräch über Lern- oder Verhaltensprobleme ihrer Kinder einbestellen – und die kommen dann einfach nicht. So was könnte man durch Elternverträ-ge regeln, welche die beiderseitigen und wech-selseitigen Verpflichtungen ebenso klären wie die Folgen von Pflichtverletzungen. Außer-dem müssen wir die Kooperation zwischen Lehrern, Sozialarbeitern und nötigenfalls Ju-gendgerichten verbessern.

Damit wäre das Problem der ungleichen Bildungschancen, das wiederum zu schlech-

teren Chancen auf dem Arbeitsmarkt führt, aber noch nicht gelöst, oder?

Nein, dieses Problem wäre so lange nicht ge-löst, wie sich die Misere in den Schulen fort-setzt. Dort hocken nämlich nicht die Schüler, sondern im Grunde auch deren Eltern. Mütter und Väter, die selbst eine gute Bildung genossen haben oder gut verdienen, können ihren Kinder nachmittags selber helfen oder eben Nachhil-festunden bezahlen. Eltern die selbst kaum zur Schule gegangen sind oder wenig Geld haben, schaffen es nicht, die Unzulänglichkeiten un-seres Schulsystems privat auszugleichen. Gäbe es flächendeckend Ganztagsschulen, würden auch Kinder aus bildungsfernen Familien bes-ser gefördert, ob nun mit oder ohne Migrati-onshintergrund. Das hieße in der Konsequenz, mehr Kinder aus sozial schwachen Familien würden eine bessere Schulbildung genießen.

Und dann? Es gibt doch schon heute vie-le gut ausgebildete junge Menschen mit aus-ländischen Wurzeln, die trotzdem keine ih-rer Qualifikation entsprechende Stelle in der Verwaltung, der Wissenschaft oder den Medi-en bekommen, wenn sie nicht „Müller“, son-dern „Yıldırım“ heißen, wie etwa in einer Studie der OECD nachzulesen ist.

Richtig, wobei allerdings die Benachteili-gung schon früher, beim Übergang auf wei-terführende Schulen und bei der Vergabe von Ausbildungsplätzen, meist stärker greift als später bei gleicher Qualifikation am Arbeits-markt. Dass dort, wo es um attraktive Jobs wie im öffentlichen Dienst oder in Medien geht, oft weniger Menschen mit Migrationshinter-grund zu finden sind, hat aber noch einen an-deren Grund: In den meisten Institutionen weiß man nicht genug über den Wert interkul-tureller Kompetenz. Worauf nur wenige Chefs achten, sind Qualifikationen wie diese: Ken-nen Bewerber aus eigener Anschauung mehr als eine, die hiesige Kultur? Können sie sich – weil sie darin Erfahrung haben – rasch in eine andere Kultur einfinden, vielleicht sogar zwi-schen verschiedenen Kulturen pendeln und vermitteln? Sprechen sie andere Fremdspra-che als die gängigen? Hat jemand in einem der Herkunftsländer von Einwanderern gelebt?

Wie könnte man Entscheider in den Perso-nalabteilungen der verschiedenen Institutionen denn davon überzeugen, dass sie mehr Mitar-beiter aus Migrantenfamilien einstellen sollten?

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Indem man zum Beispiel den Verantwortli-chen in einer Arbeitsagentur nahe bringt, wie wertvoll es ist, wenn eine Sachbearbeiterin, die selbst türkische Wurzeln hat, weiß, wie sie mit einem türkischen Mann sprechen muss, der zunächst eigentlich nicht will, dass seine Frau erwerbstätig wird. Oder indem man der Leiterin einer öffentlichen Bibliothek erklärt, dass sie in ihrer Bücherauswahl der Tatsache gerecht werden muss, dass in ihrem Groß-stadtbezirk mehr als ein Drittel der Bevölke-rung und bei der Jugend vielleicht schon fast die Hälfte aus anderen Ländern stammt und dass sie ihr Angebot viel besser auf Literatur auch aus den Herkunftsländern ausweiten kann, wenn sie bikulturelle Mitarbeiterin-nen beschäftigt. Oder indem man Bildungs-ministerien davon überzeugt, dass es sinnvoll ist, Menschen aus den Hauptherkunftslän-dern von Migranten beratend hinzuzuziehen, wenn sie ihre Lehrpläne erstellen. Das würde etwa das Augenmerk in Geschichte oder Po-litik darauf lenken, wie sehr die jüngste deut-sche Geschichte von Zuwanderung geprägt ist, wie sehr die Migration dieses Land ver-ändert hat, dass Migrantenfamilien die Zeit-geschichte dieses Landes aber oft auch ganz anders erlebt haben als die Mehrheitsbevölke-rung. Das wiederum könnte enorm motivie-rend für die vielen Schüler aus Zuwandererfa-milien sein, denen der Unterrichtsstoff bisher oft den Eindruck vermittelt, es habe sie und ihre Familien in Deutschland gar nicht gege-ben, von ein bisschen „Gastarbeitergeschich-te“ einmal abgesehen.

Man sollte Entscheidungsträgern in Insti-tutionen etwas „nahe bringen“, ihnen „et-was erklären“, sie „überzeugen“: Das klingt, mit Verlaub, sehr soft. Muss man nicht stärke-ren Druck entfalten, zum Beispiel über Quo-ten für Einwanderer und ihre Nachfahren? Der öffentliche Dienst etwa könnte sich ver-pflichten, einen bestimmten Prozentsatz sei-ner Stellen an Menschen mit Migrationshin-tergrund zu vergeben.

Ich bin kein Freund von Quoten oder von Maßnahmen, die eine „positive Diskriminie-rung“ bestimmter Bevölkerungsgruppen be-deuten. Zu sagen, x oder y bekommt den Job, weil er ein Migrant ist, ist weder gut für den Job, noch für den Kandidaten und schon gar nicht für den sozialen Frieden. Ein Migrant, der mit Hilfe einer starren Quote in eine Po-sition gekommen ist, müsste mit dem Stigma

leben, dass er es nur wegen seiner ethnischen Herkunft geschafft hat. Er könnte unter Um-ständen weniger gestalten, hätte geringeren Einfluss, wäre mehr als andere gezwungen, um Anerkennung und Respekt zu kämpfen. Das wäre nicht nur für diesen Menschen ein Problem. Es würde auch die jeweilige Institu-tion belasten. Hinzu kommt, dass Quoten für Zuwanderer sehr wahrscheinlich auch Neid und Ausländerfeindlichkeit schüren würden. Diese Konsequenz kann niemand wollen.

Ein Teil Ihrer Argumente gegen die Quote für Migranten ähnelt den Argumenten gegen die Frauenquote. Trotzdem hat sie dafür ge-sorgt, dass endlich mehr Frauen an gute Jobs und in wichtige Positionen gekommen sind.

Gucken Sie sich die deutschen Universitä-ten an: Fast nirgendwo steht, dass dort für bestimmte Institute auf Gedeih und Verderb eine bestimmte Quote eingehalten werden muss. Aber es wird in der Regel festgehalten, dass das Geschlechterverhältnis ausgewogen zu sein hat. Solange dies nicht der Fall ist – und es ist überwiegend noch nicht der Fall – muss die Gleichstellungsbeauftragte darauf achten, dass bei gleich qualifizierten Bewer-bern die Frauen vorgezogen werden. Das gleiche gilt zum Beispiel für Behinderte. Für Berufungsverfahren ist das eine ganz wich-tige Regelung, an der man nicht so einfach vorbeikommt. Natürlich wird sie immer wie-der trickreich unterlaufen. Aber seit es diesen Orientierungspunkt gibt, hat sich die Situa-tion zugunsten der Frauen verbessert. Wenn wir so einen Orientierungspunkt auch für die Einstellung von Menschen mit ausländischen Wurzeln hätten, wären wir schon viel weiter.

Und wenn wir die Quote in den Parteien nicht hätten, wäre die deutsche Politik viel männlicher als jetzt.

Sicher, die Frauenquote hat hier zu einem Wandel im Bewusstsein vieler politischer Ent-scheidungsträger geführt: Sie tun sich heute nicht mehr so leicht wie früher, mehr Positio-nen mit Männern als mit Frauen zu besetzen. Niemand würde es auch heute mehr wagen, wie oft noch in den 1970er Jahren, im glei-chen Atemzug von „Minderheiten wie Aus-ländern, Behinderten und Frauen“ zu reden.

Sie haben in den USA gelebt und gearbeitet. Dort tut man sich mit festen Quoten für Migran-

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ten nicht so schwer. Positive Diskriminierung ist dort, anders als hier, kein Schreckgespenst.

So einfach ist das nicht: Die Affirmative Ac-tion (AA), also die positive Diskriminierung, hat sich in den USA nur bedingt bewährt: Schon bald klagte man über die Verletzung der Prin-zipien von Chancengleichheit und Leitungsge-rechtigkeit, über Opferrollen, Opferkonkur-renzen und Gruppenrivalitäten, aber auch über die Entwertung von Karrieren durch ihre Zu-rückführung auf AA, und schließlich über den Missbrauch von AA als Karrieretreiber durch Leute, die zwar einer benachteiligten Gruppe zugehörten, selber aber gar nicht benachteiligt waren. Um solche Fehlentwicklungen zu be-grenzen, entstanden eine wuchernde Kontroll-bürokratie und ein Beschäftigungsprogramm für Juristen und Gerichte. Mittlerweile gibt es in den USA als Folge entsprechender Gerichts-urteile sehr komplizierte Rahmenbestimmun-gen, wie AA aussehen darf und wie nicht. Die Erfahrungen aus den USA sind mithin nicht so ermutigend, dass man sie in Deutschland wie-derholen müsste. Außerdem gibt es hier doch auch ganz praktische Wege, um den Anteil von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in al-len möglichen Institutionen zu erhöhen.

Welche Wege meinen Sie?

Polizei, Schulen oder auch Ämter müssten nachdrücklicher um Auszubildende und Mit-arbeiter mit Migrationshintergrund werben. Es müsste für diese Menschen viel mehr Schulun-gen, Integrationslotsen und Mentorenprogram-me geben, um die fehlende Förderung in den Schulen ein Stück weit auszugleichen, nach-holende Integrationsförderung nennt man das heute. Es geht nicht darum, die Standards zu senken, sondern darum, sie erreichbar zu ma-chen. Nehmen Sie die Berliner Polizei: Sie weiß, wie wichtig Polizisten aus den unterschiedli-chen Einwanderergruppen für den Kontakt mit Angehörigen dieser Gruppen sind. Also wer-den junge Migranten eingestellt, die sich für den Polizeiberuf interessieren, auch wenn sie in einigen Bereichen noch Leistungsschwächen haben. Man gibt ihnen die Chance die Schwä-chen im Verlauf des ersten Jahres auszugleichen und ihren nachgeholten Erfolg in einer Prü-fung unter Beweis zu stellen. Dann dürfen sie im Vorbereitungsdienst bleiben. Auf diese Wei-se gewinnt man durch eine Art Nachqualifi-kation in der Einstiegsphase hoch motiviertes Personal, ohne die Standards zu senken. Alles

in allem aber führt kein Weg daran vorbei, Ent-scheidungsträger davon zu überzeugen, dass mehr Mitarbeiter mit ausländischen Wurzeln einen großen Gewinn für die eigene Behörde, den eigenen Verband oder Sender darstellen.

Wir sprechen über den großen Gewinn für die Institutionen. Muss man nicht genauso fra-gen, welchen Wert hat die Zusammenarbeit für Frauen und Männer aus Zuwandererfamilien?

Natürlich, man muss sogar noch ein ganzes Stück weitergehen und sagen: In einer Demo-kratie kann man nicht einer Bevölkerungsgrup-pe Teilhabe verweigern, indem man es ihr au-ßerordentlich erschwert, in der Verwaltung, der Politik, in Verbänden oder Medien zureichend mitzuwirken. Hier lebende Menschen auslän-discher Herkunft haben ein Recht darauf, diese Gesellschaft durch ihre Mitarbeit in den unter-schiedlichen Institutionen mitzugestalten.

Mal angenommen, es lassen sich nicht genügend Behördenleiter, Parteivorsitzende oder Chefredakteure davon überzeugen, wie wichtig es ist, mehr Menschen mit Zuwande-rungsgeschichte einzustellen: Erledigt sich das Problem nicht irgendwann dadurch, dass den Deutschen der Nachwuchs ausgeht, dass die Zahl der Frauen und Menschen mit ausländi-schen Wurzeln wächst und es damit nur eine Frage der Zeit ist, bis Entscheidungsträger ihre Hände nach ihnen ausstrecken?

Der Eintritt der geburtenstarken Jahrgän-ge ins Rentenalter, anhaltend niedrige Ge-burtenraten bei der deutschen, höhere bei der Zuwandererbevölkerung und sinkende Ar-beitslosenzahlen bei wirtschaftlichem Auf-schwung führen zweifelsohne zu einer ge-wissen Entspannung am Arbeitsmarkt. Heute wird vereinzelt schon mit Azubi-Stellen nach Bewerbern geworfen. Nur auf die Gnade des demografischen Wandels am Arbeitsmarkt zu setzen, reicht aber nicht. Institutionen müs-sen die Interkulturalität in der Gesellschaft begleiten. Dafür muss sich diese Interkultu-ralität in ihren eigenen Reihen widerspiegeln. Nur dann können die Institutionen ihre ei-gene Zukunft – und damit die der ganzen Einwanderungsgesellschaft – adäquat mit-gestalten. Eine zunehmende interkulturelle Ausdifferenzierung im öffentlichen Dienst, in der Politik, in Verbänden steigert die Fähig-keit, in der Einwanderungsgesellschaft Ent-fremdungserfahrungen zu mindern.

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Wie kriegt man diese beiden Bilder zusam-men? Auf der einen Seite Institutionen, die sich bewusst für Menschen mit ausländischen Wurzeln öffnen; auf der anderen Seite eine Öffentlichkeit, die in Teilen heftig dem Buch-autor Thilo Sarrazin applaudiert, der Mi-granten aus Hauptherkunftsländern als exis-tenzielle Gefahr für Deutschland darstellt.

Wenn Thilo Sarrazin sagt: Wir wollen nicht „Fremde im eigenen Land“ werden, dann hat er die Einwanderungsgesellschaft als Kultur-prozess nicht zureichend verstanden. „Fremd im eigenen Land zu werden“ ist die Vorstel-lung, dass die Minderheit über die Mehrheit kommt und die Mehrheit anschließend selbst zur Minderheit wird. Das geht von der fal-schen Vorstellung aus, Fremde bleiben immer Fremde und Einheimische bleiben immer Ein-heimische – ein Gedanke, der jeder kulturhis-torischen Perspektive entbehrt; denn Kultur ist kein Zustand, den man sich wie einen Spie-gel an die Wand nageln kann, sondern ein Pro-zess. Darin findet jede Zeit ihre eigene Form.

Ein schöner Satz, aber was bedeutet er ge-nau? Und wie könnte er jene Bürger beruhi-gen, die meinen, die Lage sei so düster, wie Thilo Sarrazin sie malt?

Machen wir ein fiktives Experiment und dre-hen wir die deutsche Geschichte um ein hal-bes Jahrhundert zurück: Könnte man einem Berliner aus dem Jahr 1960 einen Film aus der Berliner U-Bahn oder S-Bahn des Jahres 2010 zeigen, dann würde er das vielleicht für eine Fälschung oder für einen Filmbericht aus New York oder San Francisco halten und sagen: „In einer solchen Zukunft würde ich nicht leben wollen, da wäre ich ja ein Fremder im eigenen Land!“ Aber wir leben in diesem Deutschland des Jahres 2010 und wir kommen, glaube ich, doch ganz gut klar. Ebenso klar ist, dass es desintegrative Problemzonen und Spannungs-felder gibt, vor deren Wachstum ich, pardon, viele Jahre vor Thilo Sarrazin immer wieder nachdrücklich, aber folgenlos öffentlich ge-warnt habe. Sie erfordern endlich nachdrück-liches Handeln, aber sie bestätigen doch als Ausnahmen nur die Regel der friedvollen In-tegration insgesamt. Erfolgreiche Integration bleibt eben meist unauffällig. Auffällig sind die sozialen Betriebsunfälle. Aber niemand käme auf den absurden Gedanken, aus einer Statistik der Verkehrsunfälle das Geheimnis des ruhig fließenden Verkehrs ableiten zu wollen.

Trotzdem bekommt, wer mit spitzem Fin-ger auf die Verkehrsunfälle zeigt, immer noch lauteren Beifall als der, der auf den ruhig flie-ßenden Verkehr aufmerksam macht. Genau-er: Trotzdem bekommt Thilo Sarrazin von ei-nem Teil der Öffentlichkeit heftigen Beifall. Warum fällt es vielen Menschen so schwer zu akzeptieren, dass die deutsche Gesellschaft heute eine Einwanderungsgesellschaft ist?

Die Einwanderungsgesellschaft, in der wir leben, schließt Zuwandererbevölkerung und Mehrheitsbevölkerung ohne Migrationshin-tergrund ein. Weil deren Geburtenraten nach wie vor niedriger liegen als die – allerdings ebenfalls sinkenden – Geburtenraten der Zu-wandererbevölkerung, setzt sich der inter-ethnische Wandel in der Einwanderungsge-sellschaft auch ohne Zuwanderung fort. Die Einwanderungsgesellschaft ist also ein sich ständig veränderndes Gebilde, das zwar im-mer alltäglicher, aber auch immer unüber-sichtlicher wird. Das verängstigt viele Men-schen, ältere mehr als jüngere. Das noch verbreitete Bild von der ethno-national sta-tischen Aufnahmegesellschaft, in die sich die Hinzukommenden gefälligst einzupassen, in der sie quasi spurlos aufzugehen haben, ist – ob uns das passt oder nicht – eine reali-tätsfremde Fiktion. Integration ist ein langer, mitunter Generationen übergreifender Kul-tur- und Sozialprozess mit fließenden Gren-zen zur Assimilation, die übrigens als solche überhaupt nichts Schreckliches ist, die man im Gegensatz zum Bemühen um Integration aber nicht einfordern kann.

Im Laufe der Zeit verändert Einwanderung beide Seiten der Einwanderungsgesellschaft, die sich dabei stets weiter ausdifferenziert. Damit müssen auch die Institutionen der Einwanderungsgesellschaft Schritt zu halten suchen. Behörden, Politik, Verbände, Me-dien: Sie und ihre Aufgaben verändern sich zwangsläufig, wenn immer mehr Menschen in diesem Land ausländische Wurzeln haben. Diesen eigenen Veränderungsprozess als all-tägliche Herausforderung anzunehmen, ihn nicht nur passiv hinzunehmen, sondern im Rahmen des Möglichen aktiv zu gestalten, das ist eine Kernaufgabe des Lebens in der Einwanderungsgesellschaft. Darauf hat auch Bundespräsident Christian Wulff in seiner programmatischen Bremer Rede zum 3. Ok-tober 2010 hingewiesen.

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Redaktionsschluss dieses Heftes:5. November 2010

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APuZNächste Ausgabe 48/2009 · 29. November 2010

Arbeitslosigkeit

Josef SchmidWer soll in Zukunft arbeiten?

Markus PrombergerHartz IV im sechsten Jahr

Irene DingeldeyAgenda 2010: Dualisierung der Arbeitsmarktpolitik

Matthias Knuth · Martin BrussigZugewanderte und ihre Nachkommen in Hartz IV

Rosine SchulzFreiwilliges Engagement Arbeitsloser

Karl BrenkeAus der Krise zum zweiten Wirtschaftswunder?

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APuZ 46–47/2010Anerkennung, Teilhabe, Integration

E. Güvercin · F. Zaimoğlu · M. Asumang · N. Çelik

3–9 „Ein Teil Deutschlands, mit etwas mehr Farbe“Die Gesellschaft verändert sich. In diesem Beitrag werden Einblicke in die Erfah-rungs- und Gedankenwelt von drei Persönlichkeiten gegeben, die ein „Deutschsein“ verkörpern, das jenseits der mehrheitlich wahrgenommenen Kategorien liegt.

Naika Foroutan

9–15 Neue Deutsche, Postmigranten und Bindungs-IdentitätenDas „neue Deutschland“ wird sich in der Zukunft nicht mehr durch Herkunft, Genetik und Abstammungsstrukturen definieren können. Deutschsein wird eine Chiffre sein für die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Land.

Dietrich Thränhardt

16–21 Integrationsrealität und IntegrationsdiskursSowohl in Deutschland als auch den Niederlanden hatte sich im Umgang mit Ein-wanderern ein Integrationskonsens entwickelt. Doch wieso ist nach Berichten über „nachholende Integration“ nun die Rede von Integrationsunwilligkeit?

Hartmut M. Griese · Isabel Sievers

22–28 Bildungs-undBerufsbiografienvonTransmigrantenTrotz des konstatierten Fachkräftemangels werden die Kompetenzen von hoch-qualifizierten Migranten häufig nicht anerkannt. Viele dieser Bildungserfolgrei-chen wandern in das Land ihrer Vorfahren aus.

Karen Schönwälder

29–35 Einwanderer in Räten und ParlamentenDie Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund in den Parlamenten und Rä-ten steigt an, liegt aber noch weit unter dem Bevölkerungsanteil dieser Gruppe. Vor allem Türkeistämmige haben politisch verantwortliche Positionen erreicht.

Michael Bommes

36–41 Kommunen: Moderatoren der sozialen Integration?Den Städten und Gemeinden wird verstärkt eine Schlüsselrolle für die Integration von Migranten zugewiesen. Sie können nur dann Moderatoren der Integration vor Ort sein, wenn Bund und Länder die dafür erforderlichen Ressourcen bereit stellen.

Klaus J. Bade · Ferdos Forudastan

42–46 Ein Gespräch zur Teilhabe in der EinwanderungsgesellschaftEinwanderung verändert eine Gesellschaft. Auch die Institutionen der Einwande-rungsgesellschaft wie Behörden, Politik, Verbände und Medien müssen sich die-sem Prozess anpassen. Diesen gilt es, aktiv zu gestalten.