Aristoteles - Rhetorik - Anm.2

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ZWEITES BUCH Kapitel 1 Inhalt: Schematischer Rückblick auf Buch I (1377bl6-20). Weil die Rhetorik auf das Urteil des Hörers gerichtet ist, muss sie sich auch der nicht-argumentativen Überzeugungsmittel, der Charakterdarstellung des Redners und der Emotionser- regung, bedienen; rhetorische Funktion der Charakterdarstellung (1377b21-29). Vergleich der nicht-argumentativen Methoden im Hinblick auf die Gerichts- und die Beratungsrede (1377b29-31). Die rhetorische Funktion der Emotionserregung; der Einfluss der Emotionen auf das Urteil (1377b31-1378a6). Bei der Charakter- darstellung geht es darum, dass der Redner glaubwürdig erscheint; für die Glaub- würdigkeit gibt es genau drei Ursachen: Klugheit, Tugend und Wohlwollen (1378a6-20). Definition der Emotionen. Man muss bei jeder Emotion drei Mo- mente unterscheiden, über die der Redner verfügen muss, wenn er die Emotion erregen will (1378a20-30). Anmerkungen 1377bl6-1377b20 Der erste Absatz fasst schematisch die Ausführungen des vor- angegangenen Buches zusammen: Behandelt wurden die Elemente, aus denen (êx xivtov) man zuraten/abraten, loben/tadeln, anklagen/verteidigen muss. Eigens an- geführt werden auch die „Meinungen und Sätze", über die die Enthymeme han- deln und aus denen sie gebildet werden. (1.) Meinungen und Sätze: Die drei Paare „zuraten/abraten", „loben/tadeln", „anklagen/verteidigen" vertreten klarerweise die drei Redegattungen: es handelt sich um dieselben Sprechhandlungen, mit denen in Kapitel I 3 die Dreiteilung der Redegattungen gerechtfertigt wurde (1358b9-13), und auch der letzte Satz des Ab- schnitts hebt hervor, dass im ersten Buch die besonderen Elemente der einzelnen Redegattungen behandelt wurden. Dass die „Meinungen und Sätze (ôô^ai xai JtQOxàaeiç)" eigens als Thema des ersten Buches angeführt werden, lässt verschie- dene Deutungen zu: Sind sie von den „Quellen, aus denen" man zuraten/abraten, loben/tadeln, anklagen/verteidigen muss, verschieden oder handelt es sich um eine andere Formulierung für dieselbe Sache? Der flexible und wechselnde Wortge- brauch im ersten Buch lässt beide Möglichkeiten offen. So könnte man im Sinne Unangemeldet | 188.98.182.252 Heruntergeladen am | 07.08.13 16:23

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Rhetorik Anmerkungen 2

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  • ZWEITES BUCH

    Kapitel 1Inhalt: Schematischer Rckblick auf Buch I (1377bl6-20). Weil die Rhetorik aufdas Urteil des Hrers gerichtet ist, muss sie sich auch der nicht-argumentativenberzeugungsmittel, der Charakterdarstellung des Redners und der Emotionser-regung, bedienen; rhetorische Funktion der Charakterdarstellung (1377b21-29).Vergleich der nicht-argumentativen Methoden im Hinblick auf die Gerichts- unddie Beratungsrede (1377b29-31). Die rhetorische Funktion der Emotionserregung;der Einfluss der Emotionen auf das Urteil (1377b31-1378a6). Bei der Charakter-darstellung geht es darum, dass der Redner glaubwrdig erscheint; fr die Glaub-wrdigkeit gibt es genau drei Ursachen: Klugheit, Tugend und Wohlwollen(1378a6-20). Definition der Emotionen. Man muss bei jeder Emotion drei Mo-mente unterscheiden, ber die der Redner verfgen muss, wenn er die Emotionerregen will (1378a20-30).

    Anmerkungen1377bl6-1377b20 Der erste Absatz fasst schematisch die Ausfhrungen des vor-angegangenen Buches zusammen: Behandelt wurden die Elemente, aus denen (xxivtov) man zuraten/abraten, loben/tadeln, anklagen/verteidigen muss. Eigens an-gefhrt werden auch die Meinungen und Stze", ber die die Enthymeme han-deln und aus denen sie gebildet werden.(1.) Meinungen und Stze: Die drei Paare zuraten/abraten", loben/tadeln",anklagen/verteidigen" vertreten klarerweise die drei Redegattungen: es handeltsich um dieselben Sprechhandlungen, mit denen in Kapitel I 3 die Dreiteilung derRedegattungen gerechtfertigt wurde (1358b9-13), und auch der letzte Satz des Ab-schnitts hebt hervor, dass im ersten Buch die besonderen Elemente der einzelnenRedegattungen behandelt wurden. Dass die Meinungen und Stze (^ai xaiJtQOxaei)" eigens als Thema des ersten Buches angefhrt werden, lsst verschie-dene Deutungen zu: Sind sie von den Quellen, aus denen" man zuraten/abraten,loben/tadeln, anklagen/verteidigen muss, verschieden oder handelt es sich um eineandere Formulierung fr dieselbe Sache? Der flexible und wechselnde Wortge-brauch im ersten Buch lsst beide Mglichkeiten offen. So knnte man im Sinne

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  • 526 Zweites Buch 1377bl6

    der ersten Mglichkeit vermuten, Aristoteles wolle zwischen Topen und Stzen(Protasen") unterscheiden, doch scheint er auch in Buch I nicht sehr bemht, bei-des auseinander zu halten, und die besondere Form der Topen in diesem Buch legtnicht nur die enge Verbindung zwischen einem einzelnen Topos und einem be-stimmten Satz oder einer Meinung nahe, sondern lsst uerstenfalls sogar zu, dassauf dasselbe Argumentationselement, wie es im Text aufgefhrt ist, einmal als To-pos" Bezug genommen wird

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    nmlich dann, wenn im Vordergrund die Funktionsteht, zu einem Falltyp und der angestrebten Konklusion eine passende Prmissezu finden

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    das andere Mal aber als Satz"-

    und das immer dann, wenn nicht derTopos als Instrument zur Auffindung einer geeigneten Prmisse, sondern die auseinem bestimmten Topos jeweils resultierende Prmisse selbst gemeint ist.(2.) Kap. II1 als Gelenkstelle zwischen spezifischen und gemeinsamen Stzen?Indem Aristoteles an dieser Stelle betont, dass die Ausfhrungen des ersten Buchesden spezifischen Elementen der drei Redegattungen gegolten haben, scheint er hiereine Gelenkstelle zwischen der Behandlung der einzelnen Gattungen bzw. der gat-tungsspezifischen berzeugungselemente und der Behandlung der gattungsber-greifenden berzeugungsmittel einrichten zu wollen. Dies entspricht einerseitsdem tatschlichen Aufbau der Schrift, insofern die nicht-argumentativen berzeu-gungsmittel der Emotionserregung und der Charakterdarstellung, die im An-schluss an das erste Kapitel behandelt werden, tatschlich keine gattungsspezifi-schen Einschrnkungen mit sich fhren. Andererseits hat man Anlass, die Behand-lung der nicht-argumentativen berzeugungsmittel an dieser Stelle als Einschubanzusehen; denn erstens wurde in der Disposition am Ende von I 2 (1358a26-35)angekndigt, dass zunchst die spezifischen und dann die bergreifenden Topenbehandelt werden sollen, weshalb man erwarten konnte, dass sich die Behandlungder bergreifenden Topen an die der spezifischen Topen oder Stze, also an dieAusfhrungen von 114 oder 115, anschlieen wrde. Zweitens wird, nachdem dienicht-argumentativen berzeugungsmittel vollstndig abgehandelt sind, die Be-handlung der allgemeinen Topen in Kapitel II 18 mit einer Bemerkung eingeleitet,die offenbar ebenfalls als Gelenkstelle zwischen spezifischen und allgemeinen To-pen konzipiert ist; vgl. 1391b2328: ... weil aber ber alle von ihnen die Meinun-gen und Stze erfasst sind, aus denen man die berzeugungen hervorbringt, wennman eine beratende Rede, eine vorfhrende Rede hlt und wenn man Streitflle be-handelt, (weil) aber ferner auch darber Bestimmungen gegeben wurden, worausman die Reden charaktervoll machen kann, bleibt uns jetzt nur noch, die gemein-samen Dinge durchzugehen". Zwar spricht Aristoteles an dieser Stelle auch davon,dass gezeigt wurde, woraus man die Reden charaktervoll (fjfHxc) machenkann", jedoch ist bei dieser Formulierung ebenfalls Vorsicht geboten: Aufgabe derCharakter"-Kapitel II 12-17 ist es nicht zu zeigen, wie man einer Rede eine cha-raktervolle Frbung gibt oder wie man ihr durch verschiedene Charaktere unter-schiedliche Frbungen gibt: dies mag zwar ein sekundrer Zweck dieser Kapitelsein, jedoch entspricht die so beschriebene Aufgabe nicht dem berzeugungsmit-tel der Charakterdarstellung.(3.) Die Aufgabe des vorliegenden Abschnitts: Eine Deutung der vorliegendenStelle, die auerdem dem tatschlichen Aufbau des zweiten Buches entspricht,knnte daher etwa so lauten: Zu Beginn des zweiten Buches geht es an erster Stelle

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  • 1377b20 Kapitel 1 527darum, die Behandlung aller gattungsspezifischen berzeugungselemente als be-endet zu erklren und den bergang zu gattungsbergreifenden Aspekten derberzeugung herzustellen. Letztere knnen sowohl die nicht-argumentativenberzeugungsmittel als auch die am Schluss von Kapitel I 2 angekndigten allge-meinen Topen umfassen (wobei daran zu erinnern ist, dass darunter nicht allein dieTopen aus den Kapiteln II 23-24, sondern u.a. auch die Topen ber das Mgliche/Unmgliche usw. fallen). Weil aber aus irgendeinem, uns nicht bekannten Grund,die Behandlung der nicht-argumentativen berzeugungsmittel der Behandlungder allgemeinen Topen vorgezogen wird, muss der Anfang des zweiten Buchesnicht nur den bergang von spezifischen zu nicht-spezifischen Aspekten herstel-len, sondern (entgegen der Disposition von I 2) auch eine Parenthese erffnen, inder die Behandlung der nicht-argumentativen berzeugungsmittel ihren Platz hat.Dies zu tun ist die Aufgabe des folgenden Abschnitts 1377b21-29.bl6 Die Quellen, aus denen ('Ex xivcov ...)": Die Prposition ex" hat fr dieInterpretation der Rhetorik daher Bedeutung erlangt, weil Solmsen (1927) daraufbeharrte, dass Enthymeme entweder aus Protasen/Prmissen oder aus Topen ge-bildet sein mssten (vgl. dazu in der Einleitung Kap. VII, Abs. 6, Rubrik (ix.)).Wenn nun aber ein Topos ein Instrument zur Ermittlung von Prmissen ist, dannspricht nichts dagegen, dass Enthymeme in dem einen Sinn aus Prmissen, und ineinem anderen Sinn aus Topen gebildet sind. Die Prposition x" kann beide Ver-hltnisse zum Ausdruck bringen, aber sie meint dabei jeweils etwas anderes. Vgl.dazu Raphael (1974,164f.): He (Solmsen; d. Verf.) is wrong to imply that an argu-ment can come either x xjtcov or eixxcov xai aqp.ecov but not from both. Infact x xivcov is ambiguous between .constituted by something' and .dependent onsomething'. ... An enthymeme is a syllogism zE eixxcov xai x aqpecov (Rhet.1.2.1357 a 31) because it is composed of premises which are probabilities or signs.But when Aristotle says that enthymemes are derived x xjtcov (Rhet. 1.2.1358 a30), he means that enthymemes can be justified by certain grounds."bl9 berzeugungen (jtiaxei)": Whrend der Plural zu Jtiaxi" sonst im Textder Rhetorik vorzglich dazu gebraucht wird, die Mehrzahl der berzeugungs-mittel zu kennzeichnen, womit in der Regel die Lehre von den drei kunstgemenMethoden (Charakter, Emotion, Argument) gemeint ist, scheint sich der Pluralhier auf die berzeugungsweisen in den verschiedenen Redegattungen zurckzu-beziehen, so dass nicht der Unterschied zwischen Charakterdarstellung, Emoti-onserregung und beweisender Argumentation gemeint sein kann. Von den drei inder Rhetorik dominierenden Bedeutungen von Jtiaxi" (der Vorgang des ber-zeugens

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    der daraus resultierende Zustand bei der berzeugten Person-

    Weise,Methode oder Mittel der berzeugung) kommt hier also der Verweis auf eineMehrzahl von berzeugungsvorgngen oder auf eine Mehrzahl von berzeu-gungsweisen in Frage, wobei im letzteren Fall lediglich ein Unterschied zwischender argumentativen berzeugung in den verschiedenen Gattungen, nicht aber der(sonst gemeinte) Unterschied zwischen der argumentativen und den beiden nicht-argumentativen berzeugungsmitteln gemeint sein kann.bl9-20 Enthymeme": Hier wird Enthymem" offenbar als pars pro toto fr

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  • 528 Zweites Buch 1377bl6

    den ganzen Bereich der beweisenden berzeugung gebraucht, wozu neben demEnthymem auch die rhetorische Induktion, das Beispiel, gehrt.1377b21-1377b29 Bereits in Kapitel I 2 hatte Aristoteles die Lehre von den dreikunstgemen berzeugungsmitteln (Charakterdarstellung, Emotionserregung,Argumentation) eingefhrt, sich dann aber fr den Rest des ersten Buches ganz derargumentierend-beweisenden Methode, die durch das Argument selbst" zu-stande kommt, zugewandt. Im vorliegenden Abschnitt werden nun die beidennicht-argumentativen berzeugungsmittel, die Charakterdarstellung des Rednersund die Erregung von Emotionen beim Hrer, erneut eingefhrt und ihre Bedeu-tung fr das Ziel des Redners kurz erlutert. Um diese thematische Erweiterungvorzunehmen, erinnert Aristoteles daran, dass es in der Rhetorik um ein Urteilgeht und dass es deswegen nicht gengt, auf das Argument selbst und seineBeweiskraft zu sehen. Im Hinblick auf das Urteil, das der Redner beim Zuhrerbewirken will, kommt es ebenfalls darauf an, welche Meinung der Hrer ber denRedner hat und in welchem emotionalen Zustand sich der Hrer befindet.

    (1.) Weil es aber in der Rhetorik um ein Urteil geht (ejtE ' EVExa xqoeccariv f| QnroQixfj)": Diese deutliche Ausrichtung der Rhetorik auf das Urteil desZuhrers knnte man als Inkonsistenz gegenber Aussagen aus Kapitel I 1 und 12ansehen, wo es heit, das Werk der Rhetorik sei nicht das berzeugen, sondern dieBetrachtung des an jeder Sache berzeugenden (vgl. 1355bl0f.). In den Anmer-kungen zu diesem Textabschnitt wurde eine Interpretation vorgeschlagen, in derdie beiden Aussagen nicht als unvereinbar angesehen werden mssen; eine Ak-zentverschiebung gegenber dem Anliegen der Kapitel I 1 und I 2, die Rhetorik alseine analytische Wissenschaft des berzeugendseins zu etablieren versuchen, magman trotzdem sehen.

    Andererseits ist die Ausrichtung der Rhetorik auf das Urteil des Hrers nichtneu; schon in Kapitel I 3 hie es Notwendig aber ist der Zuhrer entweder einer,der betrachtet, oder einer, der urteilt

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    und zwar einer der entweder ber Gesche-henes oder ber Zuknftiges urteilt. Einer, der ber Zuknftiges urteilt, ist zumBeispiel das Mitglied der Volksversammlung, einer der ber Geschehenes urteilt,ist zum Beispiel der Richter. Derjenige, der ber die Fhigkeit urteilt, ist der Be-trachtende." (1358b2-6) Unmittelbar zuvor wurde dieser entweder urteilendeoder betrachtende Zuhrer als das Ziel des Redens festgemacht: und das Ziel (desRedens) bezieht sich auf diesen letzteren, ich meine den Hrer". Allerdings lsstsich das Urteil als Ziel der rhetorischen Bemhung nur fr zwei Redegattungen,die beratende und die gerichtliche Rede nachvollziehen, whrend fr die darstel-lende Rede bzw. Lobrede ausdrcklich gesagt wird, dass der Zuhrer darin be-trachtet". Dass Aristoteles bei der Anwendung des Grundsatzes, es komme allge-mein auf das Urteil des Hrers an, im Fall der Lobrede in Schwierigkeiten gert,passt zu dem Umstand, dass auch im vorliegenden Abschnitt die Lobrede still-schweigend umgangen wird.(2.) Weil es aber in der Rhetorik um ein Urteil geht ..., ist es notwendig,nicht nur auf das Argument zu sehen": Die Art des Zusammenhangs, der hierbehauptet wird, ist unklar; mindestens folgende Interpretationen kommen in Be-tracht:

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  • 1377b29 Kapitel 1 529(i.) Fr ein Urteil im vollen und eigentlichen Sinn des Wortes ist es erforder-

    lich, nicht nur die Beweiskraft des Arguments, sondern auch die nicht-argumentativen Aspekte zu bercksichtigen. Die hier beschriebene Not-wendigkeit ist also nicht durch Besonderheiten der berzeugungssitua-tion, sondern durch die Natur des Urteilens begrndet.

    (ii.) Bestimmte Merkmale der menschlichen Praxis, ber die in Zusammenhn-gen der ffentlichen Rede geurteilt werden soll, etwa ihre Komplexitt undUnbestndigkeit, machen es erforderlich, in die Urteilsbildung nicht nurdie Beweiskraft des Arguments, sondern auch bestimmte nicht-rationaleAspekte einflieen zu lassen (etwa weil die Allgemeinheit des beweisendenArguments den besagten Merkmalen der menschlichen Praxis nicht ge-recht wird).

    (ii.) Um die Urteilsbildung bei den Zuhrern zu lenken, ist es in jedem Fall er-forderlich, nicht nur auf die Beweiskraft des Arguments, sondern auch aufbestimmte nicht-argumentative Aspekte zu sehen. Anders als in (i.) und(ii.) ist die behauptete Notwendigkeit hier nicht in erster Linie durch dieNatur des Urteilens oder durch die Natur des zu beurteilenden Gegenstan-des, sondern durch die Umstnde der rhetorischen berzeugungsbem-hung bedingt. Dies gilt auch fr die folgende Interpretation:

    (iv.) Um die Urteilsbildung bei den Zuhrern mglichst in jedem Fall erfolg-reich beeinflussen zu knnen, ist es erforderlich, nicht nur auf die Beweis-kraft des Arguments, sondern auch auf bestimmte nicht-argumentativeAspekte zu sehen. Anders als in (iii.) geht es in dieser Interpretation nichtdarum, dass fr jede Urteilsbildung eine Ergnzung von argumentativenund nicht-argumentativen Aspekten erforderlich ist. Es geht allein darum,dass der Redner bei Vernachlssigung der nicht-argumentativen Aspekte invielen Fllen nicht das von ihm intendierte Urteil erzeugen wird, obwohles ihm bei einer vollstndigen Verwendung der kunstgemen berzeu-gungsmittel mglich wre, ein solches Urteil zu erreichen.

    Vergleich der vier Interpretationen: Der entscheidende Unterschied zwischen denInterpretationen (i.) und (ii.) einerseits und (iii.) und (iv.) andererseits besteht da-rin, dass die ersten beiden Interpretationen annehmen, allgemein sei zu einer rich-tigen, vollstndigen oder angemessenen Urteilsbildung die Bercksichtigung dernicht-argumentativen Aspekte erforderlich, whrend die letzten beiden Interpre-tationen lediglich zur Kenntnis nehmen, dass die Urteilsbildung faktisch unterdem Einfluss solcher Faktoren steht, und von diesem Einfluss Gebrauch machen,sich aber einer Einschtzung darber enthalten, ob diese Faktoren das Urteil in ir-gendeiner Weise besser, angemessener usw. machen. Whrend also (iii.) und (iv.)nur auf die Prinzipien der berzeugung im Rahmen der ffentlichen Rede bezo-gen sind, setzen (i.) und (ii.) eine allgemeinere und grundstzlichere Theorie despraktischen Urteilens voraus. Weil daher (i.) und (ii.) in Anbetracht des rhetori-schen Rahmenthemas eine nicht unerhebliche Verschiebung der Fragestellung vo-raussetzen, liegt die Beweislast zunchst bei den Vertretern von (i.) und (ii.): Gibtes bei der Einfhrung der nicht-argumentativen berzeugungsmittel irgendwel-

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    ehe Hinweise dafr, dass Aristoteles auf eine allgemeine Theorie des praktischenUrteilens zurckgreifen mchte, die besagt, auf welche Faktoren ein Urteil zu-rckgreifen soll, um ein richtiges, vollstndiges, dem praktischen Gegenstand an-gemessenes usw. Urteil zu sein? Die einzige Auskunft, die Aristoteles an der vor-liegenden Stelle wie auch bei der Einfhrung der drei berzeugungsmittel in I 2zur Rechtfertigung der nicht-argumentativen berzeugungsmittel gibt, lautet,dass es einen Unterschied fr das Urteil ausmache, in welchem emotionalen Zu-stand sich der Hrer befindet und fr was fr einen Menschen er den Redner hlt.Die Formulierung, dass die nicht-argumentativen Faktoren einen Unterschied frdas Urteil ausmachen, entspricht nun genau der rein beschreibenden Behauptung,dass diese Faktoren faktisch die Urteilsbildung beeinflussen, besagt aber nichts da-rber, dass die Natur des praktischen Urteils oder des zu beurteilenden Gegen-standes die Bercksichtigung der nicht-argumentativen Faktoren erforderlich ma-chen wrde. Somit haben wir zumindest ein wichtiges Indiz, das fr die Interpre-tationen (iii.) und (iv.) spricht.(iii.) oder (iv.)? Gegen (iii.) spricht, dass sich Aristoteles in III 17, 1418al217,explizit fr eine getrennte Verwendung der drei berzeugungsmittel ausspricht,und zwar mit dem Argument, dass sich bei einer vermischten Verwendung die dreiMethoden in ihrer Wirkung aufheben wrden. Selbst wenn man sich nicht aufdiese Feststellung berufen mchte, kann man sich auf die verschiedenen Funkti-onsbeschreibungen der berzeugungsmittel berufen, die keine Hinweise zuguns-ten der These einer starken Interdependenz zwischen den drei Methoden enthal-ten. Zum Beispiel kann eine starke Emotion auf Seiten des Zuhrers eine spezifi-sche Wirkung auf das anstehende Urteil entfalten, ohne dass dafr zustzlich An-nahmen ber die Glaubwrdigkeit des Redners erforderlich wren, und umge-kehrt kann die Glaubwrdigkeit des Redners den urteilenden Zuhrer dazu veran-lassen, dessen Auffassung zu folgen, auch wenn keine auerordentliche Emotions-lage gegeben ist. Auch die Beschreibung, die Aristoteles allgemein von dem bewei-senden oder argumentativen berzeugungsmittel gibt, nmlich dass man dann ammeisten berzeugt ist, wenn man glaubt, dass etwas bewiesen worden sei (11,1355a5f.), lsst keinen Anhaltspunkt dafr erkennen, dass die beweisende Argu-mentation nicht in der Lage sein sollte, autark eine bestimmte berzeugung zubewirken.

    Die Deutung des Satzes im Lichte von (iv.): Akzeptiert man also Interpretation(iv.), dann lsst sich die mehrdeutige Bemerkung, dass man wegen des Urteils aufdie nicht-argumentativen Aspekte sehen msse, folgendermaen paraphrasieren:.Weil es in der Rhetorik nicht nur

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    wie etwa in der Dialektik-

    um die akzeptablenund folgerichtigen Argumente geht, sondern darum, dass die Adressaten der Redeam Ende auch tatschlich Urteile fllen, die der vorgetragenen Argumentation ent-sprechen, und weil fr die Urteilsbildung bei der Praxis des Urteilens nicht nur dasbessere Argument, sondern auch die besagten nicht-argumentativen Aspekte eineRolle spielen, ist es notwendig, ...'. Die entscheidende Formulierung, dass es inRhetorik um das Urteil gehe, besagt nach dieser Interpretation, dass es nicht da-rauf ankommt, wie der Hrer urteilen msste, falls er dem besseren und folgerich-tigen Argument entsprechend urteilen wrde, bzw. nicht darauf, dass er

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    wie imdialektischen Streitgesprch

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    gezwungen werden knnte, einer bestimmten Kon-

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  • 1377b29 Kapitel 1 531klusion zu folgen, wenn er entsprechende Prmissen anerkannt hat, sondern da-rauf, dass er auch tatschlich das Urteil abgibt, zu dem ihm die argumentative Fol-gerichtigkeit zwingen wrde, und dass er nicht von uerlichen Faktoren davonabgehalten wird, so zu urteilen.

    Inwiefern ist es notwendig, aufdie nicht-argumentativen Aspekte zu sehen? Frden Theoretiker der Rhetorik, der die Aufgabe der Rhetorik darin sieht, die Prin-zipien des berzeugendseins zu untersuchen, geht es hierbei zunchst einfach umdas Erfordernis, eine vollstndige Theorie zu formulieren: Wenn nmlich die fakti-sche Unterschiedlichkeit der Urteile zeigt, dass der Charakter des Redenden unddie Emotionen des Zuhrers die Urteilsbildung der Adressaten beeinflussen, dannist vom Theoretiker der Rhetorik zu untersuchen, warum und auf welche Weise siedas tun

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    anderenfalls blieben bestimmte Ursachen und Prinzipien des berzeu-gens unbehandelt und die Theorie unvollstndig. Wenn man auerdem nach I 1,1355bl0-14 und nach Topik I 3, 101b510 Theorien wie die Rhetorik und ihreVertreter danach beurteilen muss, ob sie keine der (durch die Theorie erfassbaren)Mglichkeiten auslassen, dann wre einer Rhetorik, die die nicht-argumentativenAspekte der berzeugung nicht bercksichtigt, vorzuwerfen, den Bereich deskunstgem Machbaren nicht ausgeschpft zu haben. Anders zu beurteilen ist diehier behauptete Notwendigkeit fr den Anwender der rhetorischen Theorie: Frihn ist es zunchst mglich, die nicht-argumentativen berzeugungsmittel immerdann anzuwenden, wenn er meint, sein Ziel dadurch eher, schneller oder sichererzu erreichen. Weil sich hingegen bei der Abwgung zwischen Interpretation (iii.)und (iv.) keine Anhaltspunkte fr die These einer starken Interdependenz zwi-schen den drei berzeugungsmitteln ergeben hatten, kann auch nicht gemeintsein, dass es fr den Redner notwendig ist, immer alle berzeugungsmittel zukombinieren bzw. immer alle drei Aspekte der berzeugung (Argument

    -

    Cha-rakter des Redners

    -

    Emotionen des Zuhrers) zu bedienen. Jedoch ergibt sich frden Anwender die Notwendigkeit, die nicht-argumentativen Faktoren zu berck-sichtigen, auf folgende Weise: Nach der hier favorisierten Interpretation (iv.) ms-sen die nicht-argumentativen Faktoren bercksichtigt werden, um in der grt-mglichen Anzahl von Fllen das erwnschte Urteil zu bewirken; dafr wiederumist zwar nicht erforderlich, dass er bei allen Gelegenheiten von allen berzeu-gungsmitteln Gebrauch macht, jedoch ist erforderlich, dass bei allen Gelegenhei-ten bedacht wird, ob nicht-argumentative Aspekte (z.B. emotionale Prokkupa-tionen, Voreingenommenheiten gegenber dem Redenden usw.) vorliegen, diedem Erfolg der argumentativen berzeugungsbemhung entgegenstehen knn-ten. Das ist das Mindeste. Darber hinaus ist es bei allen Gelegenheiten erforder-lich zu bedenken, ob es irgendwelche anderen Faktoren gibt, die die Heranziehungder nicht-argumentativen berzeugungsmittel erforderlich machen; dies wreetwa dann der Fall, wenn die zur Verfgung stehenden Argumente als zu schwacherscheinen, die Argumentationslage widersprchlich ist, der vorliegende Fall nichtdurch Argumente allein zu entscheiden ist, usw.(3.) Argument

    -

    Redner-

    Zuhrer: Die ,Triangulierung' des berzeugungs-vorganges, die in diesem Abschnitt unterstellt wird, ist bereits aus der Herleitungder drei Redegattungen in I 3 bekannt vgl. 1358a37-bl. Unterstellt ist diese Trian-gulierung insofern, als ohne weiteres klar zu sein scheint, dass, wenn das Argu-

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    ment allein (das hier den Gegenstand, ber den gesprochen wird, vertritt) nichtausreicht, die zustzliche Bercksichtigung von Redner und Zuhrer den ber-zeugungsprozess vollstndig beschreibt. Obwohl die Lehre von den drei berzeu-gungsmitteln sich offenbar des Dreiecks Sache-Redner-Hrer bedient und Aristo-teles selbst an der genannten Stelle dieses Dreieck einfhrt und auf die Situationder Rede bezieht, macht die erste Einfhrung der Lehre von den drei berzeu-gungsmitteln in I 2, 1356al-21, ausdrcklich keinerlei Gebrauch davon. Eine wei-tere Triangulierung wird auch bei der Behandlung der Emotionen unterstellt, wojede Emotion daraufhin untersucht werden soll, aufgrund welcher Dinge sie ent-steht, wem gegenber sie sich einstellt, und in welchem Zustand sich derjenigebefindet, der sie hat. Fr die Erzeugung der Emotionen betont Aristoteles nunausdrcklich (II 1, 1378a25-27), dass man sie nicht erzeugen knnte, wenn mannicht ber alle drei Momente verfgen wrde. Fr die drei berzeugungsmittelsagt er dies aber nirgendwo, und das Fehlen einer solchen Bemerkung fllt umsomehr auf, als sich die beiden Dreiecke ansonsten durchaus entsprechen und imvorliegenden Kapitel aufeinanderfolgend zur Sprache kommen. Daher sind Ver-mutungen darber, dass Aristoteles einen unauflsbaren Zusammenhang" (soWrner (1990, 381)) zwischen den drei berzeugungsmitteln angenommen habenknnte, vor diesem Hintergrund unbegrndet.b22 notwendigerweise (vyxq)": Riccobonus (1579, 249) bringt dieses not-wendig" in Verbindung mit der Formulierung nicht richtig, aber notwendig" ausIII1, 1404a3.1377b29-1377b31 In diesem kurzen Einschub wird die Charakterdarstellung desRedners fr die bevorzugte Verwendung in der Beratungsrede, die Emotionserre-gung fr die Gerichtsrede empfohlen.

    Kassel kennzeichnet diese Zeilen als einen spteren, durch Aristoteles selbstvorgenommenen Einschub; vgl. Kassel (1971, 131 f.); ebenso schon Thurot (1861,302 f.). Dass es sich um einen Einschub oder zumindest eine Parenthese handelt, istklar, weil dadurch die zuvor begonnene Errterung der rhetorischen Funktion vonCharakterdarstellung und Emotionserregung unterbrochen und erst im nchstenAbsatz fortgesetzt wird. Dass es sich um einen Einschub durch Aristoteles selbsthandelt, ist mglich, weil die vorliegende Bemerkung durch mindestens zwei wei-tere Textstellen aus der Rhetorik gesttzt wird: Die Bemerkung, dass der emotio-nale Zustand des Zuhrers fr die Gerichtsrede ntzlicher ist als fr die Bera-tungsrede, stimmt mit I 1, 1354b22-1355a3, berein, wo Aristoteles die auf dieEmotionserregung begrenzte Vorgehensweise der bisherigen Rhetoriklehrer dafrverantwortlich macht, dass diese nur das Auftreten vor Gericht, nicht aber die Be-ratungsrede behandeln. Weil nmlich die Zuhrer vor Gericht fremde, und bei derffentlichen Beratschlagung eigene Angelegenheiten beurteilen, habe die Emoti-onserregung nur im ersten, nicht aber im zweiten Fall Erfolg. Die Bemerkung, dassdie Charakterdarstellung des Redners eher fr die Beratungsrede in Betrachtkommt, knnte wiederum mit der Bemerkung in I 2, 1356a7f., bereinstimmen,dass es auf die Tugendhaftigkeit des Redners besonders in solchen Fllen an-kommt, in denen es nichts Genaues, sondern nur geteilte Meinungen gibt.

    Verglichen mit der erwhnten Stelle in Kap. I 1 ergibt sich im vorliegenden Ab-

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  • 1378al6 Kapitel 1 533schnitt dann aber doch eine bemerkenswerte Akzentverschiebung: Whrend in 11anscheinend die Ansicht vertreten wird, dass die Emotionserregung in der Bera-tungsrede ganz ohne Nutzen ist, geht es hier nur um eine graduelle Differenz zwi-schen den beiden Gattungen, so dass die Emotionserregung auch in der Beratungs-rede einen gewissen Nutzen nicht zu verfehlen scheint. Vgl. dazu auch Anmer-kung (1.) zu Abschnitt 1377b31-1378a6.1377b31-1378a6 Nachdem der vorletzte Abschnitt bereits die rhetorische Funk-tion der Charakterdarstellung ausgewiesen hatte, wird

    -

    nach der Unterbrechung,die der vorige Abschnitt erbrachte-

    jetzt die Funktion der Emotionserregung ge-nannt: Die zur Beurteilung anstehenden Dinge scheinen fr Urteilende, die sich inentgegensetzten emotionalen Zustnden befinden, nicht dieselben zu sein.(1.) Die Funktionsbeschreibung der Emotionserregung in diesem Abschnittstimmt exakt mit der Darstellung in I 2 berein: Durch die Hrer (erfolgt dieberzeugung), wenn sie durch die Rede in einen emotionalen Zustand versetztwerden; wir fllen unsere Urteile nmlich nicht in gleicher Weise, wenn wir trau-ern und wenn wir uns freuen oder wenn wir lieben und wenn wir hassen"(1356al4-16). Fr Hinweise zur rhetorischen Umsetzung der allgemeinen Theorieder Emotionserregung vgl. die Anmerkungen zu Abschnitt 1379b37-1380a4.

    Im Vergleich mit der Darstellung in I 2 enthalten die Beispiele des vorliegendenAbschnittes jedoch eine bemerkenswerte Erweiterung: Whrend in I 2 nur Liebenund Hassen als Beispiel fr entgegengesetzte emotionale Zustnde mit Auswir-kungen auf ein zu fllendes Urteil genannt werden, heit es im vorliegenden Ab-schnitt auerdem: dem Begehrenden und Hoffnungsvollen scheint, wenn dasKnftige angenehm ist, dass es wirklich eintreten und dass es ein Gut sein wird,dem Gleichgltigen und Missmutigen scheint das Gegenteil der Fall zu sein".Whrend nun Liebe und Hass offenbar Emotionen sind, die bei der Beurteilungvon Personen ins Gewicht fallen und somit am ehesten fr die Gerichtsrede vonBedeutung sein drften, soll das hier genannte Beispiel offenbar die Bedeutung derEmotionen in der Beratungsrede vertreten, weil erstens die Beurteilung von Knf-tigem und zweitens das Gute oder Ntzliche als Ziel der Beurteilung in Kapitel I 3ausdrcklich als spezifische Merkmale der Beratungsrede genannt werden. Damitwird der Emotionserregung ein Nutzen auch fr die Beratungsrede zuerkannt.(2.) Die Theorie der rhetorischen Emotionserregung umfasst zwei notwen-dige Bestandteile: erstens eine Theorie darber, wie eine bestimmte Emotion imZuhrer ausgelst werden kann, zweitens eine Theorie darber, welche Art vonEinfluss eine bestimmte Emotion auf die Urteilsbildung ausbt. Die erste Teil-theorie wird im allgemeinen Umriss in Abschnitt 1378a20-28 des vorliegendenKapitels skizziert und fr die einzelnen Emotionen in den Kapiteln II 2-11 ausge-fhrt. ber die zweite Teiltheorie dagegen erfhrt man in der Rhetorik berra-schenderweise nichts, was wesentlich ber den vorliegenden Abschnitt hinausge-hen wrde. Eine solche Theorie wird in der Vorbem. zu Kap. II 2-11, Abschnitt 5rekonstruiert.1378a6-1378al6 In diesem Abschnitt wendet sich Aristoteles erneut der Cha-rakterdarstellung zu: Ziel dieses berzeugungsmittels ist es, glaubwrdig (jtioxc:1378a6; iOJtioxo: I 2, 1356a5,1 9, 1366a28) zu erscheinen, und glaubwrdig er-

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  • 534 Zweites Buch 1378a6

    scheint man aufgrund von Klugheit (cpQvqaic), Tugend (agexq) oder Wohlwol-len (evoia). Aristoteles behauptet ausdrcklich, dass diese Liste

    -

    abgesehen vonden Beweisen

    -

    eine vollstndige Aufzhlung derjenigen Faktoren darstellt, durchdie wir etwas glauben (jtiaxeop,ev). Er beweist die behauptete Vollstndigkeitindirekt, indem er die Faktoren auflistet, aufgrund deren man getuscht werdenkann; dazu gehren: (i.) dass jemand zu dumm ist, um die richtige Meinung zu ver-treten, (ii.) dass jemand zwar die richtige Meinung vertritt, sie aber aufgrund einesmoralischen Defizits, seiner Schlechtigkeit, nicht mitteilt, (iii.) dass jemand wederdumm noch schlecht ist, die richtige Meinung aber nicht mitteilt, weil er gegen diebetreffenden Zuhrer nicht wohlwollend eingestellt ist. Weil Faktor (i.) durch Ver-nnftigkeit, Faktor (ii.) durch Tugend und Faktor (iii.) durch Wohlwollen ausge-schlossen ist, muss jemand, der ber diese drei Merkmale verfgt, notwendiger-weise glaubwrdig erscheinen.

    Sieht man davon ab, dass im unmittelbar folgenden Abschnitt zwei mglicheDifferenzierungen des hier vorgestellten Modells gewissermaen an andereHauptteile der Schrift delegiert werden, dann enthlt der vorliegende Abschnittdie vollstndige Behandlung der Charakterdarstellung.(1.) Die drei Ursachen der Glaubwrdigkeit: Vgl. zum Charakter und demberzeugungsmittel der Charakterdarstellung die Anm. (1.) zu 1356al-20. Bei dervorliegenden Darstellung dieses berzeugungsmittels wird der Begriff des Cha-rakters dem Ziel des Glaubwrdig-Seins untergeordnet, wodurch der Charakterim engeren Sinn (einer tugendhaften bzw. schlechten Einstellung) zu einem Mo-ment neben anderen wird. Wie die Formulierung muss notwendig glaubwrdigerscheinen" zeigt, wird hier angenommen, dass der Zuhrer so rational reagiert,dass er jemanden als glaubwrdig ansieht, wenn er keinen Grund hat, ihn nicht alsglaubwrdig anzusehen. Um seinen Charakter im umfassenden Sinn bzw. seineGlaubwrdigkeit darzustellen, muss der Redner aufgrund der drei unterschiedli-chen Faktoren auch unterschiedliche Mittel ergreifen. Klugheit zeigt sich, wennman aus berlegung spricht (1417a21 ff.; zum Begriff der Klugheit in der Rhetorikvgl. die Anm. (9.) zu 1366b9-22). berlegung (Xoyiaitc)' meint in der Rhetorikstets, dass man den Nutzen zu kalkulieren und herbeizufhren versteht; berhauptist es ein Merkmal des Klugen, das Ntzliche herbeizufhren (vgl. 1417a26f.).Insofern drfte man sich als klug und berlegt darstellen, indem man ber denNutzen spricht und berlegungen vorfhrt, wie der Nutzen am besten zu errei-chen ist. Daher scheint auch der Gebrauch von rhetorischen Beweisen den Ein-druck der Klugheit zu untersttzen, denn wer beweisend spricht, scheint .genau inder Argumentation' (vgl. 1418M) zu sein und unterstreicht damit eher seine intel-lektuellen als seine moralischen Qualitten.

    Was die Darstellung der Tugend angeht, so ist der Hinweis auf Rhet. I 9, wo dieeinzelnen Tugenden definiert werden, fr die rhetorische Durchfhrung einer sol-chen Darstellung noch nicht sehr ntzlich. Einige der konkreteren Hinweise, diedie Rhetorik zu diesem Thema gibt, betreffen die sprachliche Form, nicht den Ge-danken (tvoia). Welche Mglichkeiten zur Darstellung der Tugend ergeben sichaber im Bereich des Gedankens? Der Hinweis auf Rhet. 1 9 scheint zu implizieren,dass der Redner dieselbe Darstellungsweise, die man auf andere zu lobende Perso-nen anwendet, auch auf seine eigene Personen anwenden soll; er msste also darauf

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  • 1378al6 Kapitel 1 535hinweisen, dass er sich tapfer in Gefahren, grozgig im Umgang mit Geld usw.verhlt. Das ist sicherlich eine Mglichkeit; diese hat aber ihre Grenzen, denn,wenn man zuviel ber sich selbst sagt, erweckt das Neid, ist weitschweifig undfordert eine Gegenrede heraus (vgl. 1418b24ff.). Man knnte daher eine Person indie Rede einfhren, die man die entsprechenden Qualitten rhmen lsst (vgl.1418b24-33); ein solcher Kunstgriff ist aber auch nicht fortgesetzt brauchbar, wes-wegen die Darstellung der Tugend vor allem damit zu tun zu haben scheint, dassman das sagt, was Tugendhafte sagen; d. h. dass man wertende Urteile vorbringt,die Einstellungen des Tugendhaften offenbaren (vgl. auch 1417al6f.). Eine Formsolcher Werturteile stellen die Sentenzen dar (vgl. II 21), deren Gebrauch daher frdie Darstellung der Tugend wichtig ist.

    Die Darstellung von Wohlwollen (vgl. dazu auch die Anm. zu 1378al6-20)scheint sich am ehesten der Topen zur Freundesliebe aus II 4 bedienen zu knnen.Der Redner muss demnach zum Ausdruck bringen, dass er fr die Zuhrer Guteswill (vgl. 1380b34-1381a3), dass er sich ber das Wohlergehen der Zuhrer mit-freut und bei ihrem Unglck mitleidet (vgl. 1381a3-8), dass er bereit ist, ihnenWohltaten zu erweisen (vgl. 1381al4-20), dass er sich ihnen gegenber bemhtund nicht gleichgltig verhlt (vgl. 1381M0-14), dass er ihnen hnlich ist (vgl.1381bl419), usw. Entgegengebrachtes Wohlwollen stellt nach der Definition derFreundesliebe in II 4 gewissermaen den ersten Schritt und das Angebot zu einerFreundschaft dar; zur Freundschaft wird es erst durch erwidertes Wohlwollen.(1.1) Vorbilder fr die Aristotelische Lehre? Wisse (1989, 31, Fun. 110) be-zweifelt, dass es Vorbilder fr den Aristotelischen Begriff des ndo in der vor-aris-totelischen Rhetorik gegeben hat: we know of no such theories". Schtrumpf(1993) versucht dagegen, verschiedene Vorbilder fr die Aristotelische Lehre vonder Charakterdarstellung nachzuweisen, die nach dem vorliegenden Abschnitt indie Darstellung der drei Momente Klugheit, Tugend und Wohlwollen zerfllt. DieRhetorik fr Alexander fhrt zwar die o^a xo Xyovxo als ein Hilfsmittel derberzeugung an (1431b9ff.) und erwhnt fters das Ziel, Wohlwollen zu erzeugen(z.B. 1436a37); auerdem empfiehlt sie, darauf zu achten, dass kein Widerspruchder Rede zum Charakter des Sprechenden auftrete (1430a26-30), eine systemati-sche Zusammenstellung der drei Charaktermomente nach Aristoteles findet sichhier jedoch noch nicht. Schtrumpf (a.a.O., 15) weist jedoch auf das gemeinsameAuftreten dieser drei Momente in der Pseudo-Xenophontischen Schrift Der Staatder Athener I 7 hin, wo es ber das politische Auftreten eines Vertreters der Mengeheit: seine mangelnde Bildung (u,a#ia), seine Schlechtigkeit (jxovnQa) undsein Wohlwollen (Evoia) ntzen ihm mehr." Aber auch Schtrumpf behauptetnicht, dass es sich hierbei um die direkte Quelle fr Aristoteles handle, meint abermit Verweis auf Isokrates, or. 2, 21, wo Tugend, Wohlwollen und Klugheit alsQualitten genannt werden, die das Leben des Knigs schtzen, zeigen zu knnen,dass die Liste dieser drei Qualitten verbreitet war (vgl. auch unten die Anm. zu1378a8f.).

    Dass es Vorbilder fr die drei von Aristoteles angefhrten Momente des Cha-rakters gegeben hat und dass diese

    -

    wie Pseudo-Xenophon I 7 zeigt-

    auch mitBlick auf die Wirkung von Personen angefhrt wurden, die in der ffentlichkeitauftreten, ist somit klar. Jedoch ist damit kein Vorbild fr die systematische Be-

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  • 536 Zweites Buch 1378a6

    grndung der Glaubwrdigkeit durch diese drei Faktoren gefunden, wie sie sichbei Aristoteles findet. Es verhlt sich also nicht anders wie etwa bei Aristoteles'Umgang mit einem etablierten Katalog an Tugenden: Sein origineller Beitrag istweniger in der Zusammenstellung solcher Listen als vielmehr in ihrer Neubegrn-dung zu suchen.(1.2) Enger und weiter Charakterbegriff: In der Literatur findet sich eineKontroverse ber einen engeren und einen weiteren Begriff des Charakters, wobeider engere Begriff ausschlielich moralische Qualitten im Sinne von .tugendhaft'oder .schlecht' beinhaltet; vgl. Schtrumpf (1970), Held (1985), Wisse (1989, 31)u. a. Mit Blick auf die Rhetorik lsst sich zu dieser Kontroverse wie folgt Stellungnehmen: Genau genommen ist im vorliegenden Abschnitt von der Glaubwrdig-keit und nicht vom .Charakter' die Rede. Nun dienen diese Ausfhrungen aberoffenbar dazu, das berzeugungsmittel der Charakterdarstellung zu explizieren,so dass hier

    .Darstellung der Glaubwrdigkeit' und .Darstellung des Charakters'synonym erscheinen; dafr spricht auch, dass Aristoteles an zwei weiteren Stellen,an denen er die Charakterdarstellung erwhnt, diese mit der Glaubwrdigkeit ver-bindet (jiiotO: 1378a6; iOJiioTo: I 2, 1356a5, I 9, 1366a28). Weil nun aber dieTugend nur ein Aspekt der gesamten Glaubwrdigkeit ist, haben wir einen weitenBegriff von Charakter, der neben der Tugend auch Klugheit und eine gegenberdem jeweiligen Zuhrer wohlwollende Haltung einschliet. Immer wenn Aristo-teles jedoch davon spricht, dass man die Rede .charaktervoll' machen oder seineEinstellung zum Ausdruck bringen soll, meint er damit den engen, auf Tugend ein-geschrnkten Charakterbegriff. Dieser eng gefasste Charakter gert sogar fters inKonflikt mit der Klugheit (vgl. 1417a21 ff.).(2.) Verschiedene Theorien der Charakterdarstellung? Eine erste Mehrdeutig-keit hinsichtlich der Theorie der Charakterdarstellung ergibt sich aus dem oben, in(1.2) beschriebenen Wechsel zwischen engem und weitem Charakterbegriff. Nuran den Stellen, an denen Aristoteles ausdrcklich vom kunstgemen berzeu-gungsmittel der Charakterdarstellung spricht, setzt er Charakter mit Glaubwr-digkeit gleich, und gebraucht somit einen weiten Charakterbegriff. An fast allenanderen Stellen fllt er in den blichen, auf Tugend eingeschrnkten Charakterbe-griff zurck, so dass alle seine Hinweise, wie die Rede charaktervoll zu machen sei,darauf hinauslaufen, wie man tugendhaft erscheinen kann, whrend die .offizielle',im vorliegenden Abschnitt explizierte Lehre der Charakterdarstellung, mehr Mo-mente als nur die Tugend enthlt. Weil Tugend und Klugheit in der Rhetorik inKonflikt geraten knnen, knnte man ein Problem darin sehen, diese verschiede-nen Merkmale in der Darstellung der Glaubwrdigkeit zugleich zu bercksichti-gen. Es scheint nun aber die Pointe bei der Aristotelischen Analyse der Glaubwr-digkeit zu sein, dass es dem Redner gelingen muss, die (durchaus gegenlufigen)Aspekte der Glaubwrdigkeit zu bercksichtigen, um so jede Art von Zweifel ander Glaubwrdigkeit auszuschlieen.

    Ein zweites Problem hinsichtlich der Einheit der Aristotelischen Lehre von derCharakterdarstellung kommt dann ins Spiel, wenn man versucht, die Ausfhrun-gen aus II 12-17 als direkten Beitrag zu der hier explizierten Lehre zu lesen; vgl.aber zur Funktion dieser Kapitel die Vorbem. zu Kap. II 12-17. Ein drittes Pro-blem ergibt sich dann, wenn man auch noch versucht, die sporadisch in

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  • 1378a8 Kapitel 1 5371390a24-28 erwhnte Theorie, dass alle solche Reden aufnehmen, die ihrem eige-nen Charakter hnlich sind, in die offizielle Lehre der Charakterdarstellung zuintegrieren. Nun ist die in II 1 dargelegte Theorie der Charakterdarstellung autarkund bedarf der Angleichungstheorie nicht; im Gegenteil scheint die Angleichungs-these nicht zur offiziellen Lehre zu passen; vgl. dazu die Anm. zu 1390a24-28.

    -Einen Versuch, die verschiedenen Theorien zu integrieren, unternimmt Sprute(1991,284): Da beispielsweise Jugendliche gewhnlich andere Charakterzge zei-gen als alte Leute ..., muss sich der Redner den jeweiligen Charakterzgen in sei-ner Rede angleichen, sofern er vor Angehrigen der unterschiedenen Klassenspricht. Die Angleichung kann der Redner dadurch erreichen, dass er hnlicheVorstze oder auch Gefhle und Neigungen erkennen lsst, wie sie fr seine Zuh-rer typisch sind. Und das ist bei der Selbstdarstellung des Redners deshalb empfeh-lenswert, weil nach Aristoteles alle Menschen die ihrem Charakter entsprechendensowie die ihm hnlichen Reden beifllig aufnehmen."

    Die Angleichungstheorie, die Sprute hier expliziert, ist jedoch nicht mit deroffiziellen Lehre der Charakterdarstellung aus II 1 vereinbar. Nach der offiziellenLehre ist der Redner nicht glaubwrdig, weil er gleiche Charakterzge offenbart,sondern weil er dem Zuhrer jeden mglichen Grund nimmt, um an seiner Glaub-wrdigkeit zu zweifeln. hnliche Neigungen und Gefhle zu erkennen zu geben,kann als Instrument fr eines der Darstellungsziele Klugheit, Tugend, Wohlwollenntzlich sein, die Angleichung zusammen mit dem in 1390a24-28 beschriebenenEffekt kann aber nicht die Aufgabe ersetzen, den Zuhrer dazu zu bringen, dass erden Redner fr klug, tugendhaft und wohlwollend hlt. Die Angleichungstheoriestellt daher einen Fremdkrper in der offiziellen Theorie der Charakterdarstellungdar, so dass man sich zwischen einer der beiden Theorien entscheiden muss; weildie Angleichungstheorie nur einen uerst flchtigen und peripheren Auftritt hat,fllt diese Entscheidung nicht schwer.a7-8 so viele Grnde nmlich gibt es auer den Beweisen, weswegen wir etwasglauben": Auffllig ist hier, dass nur die drei Faktoren der Charakterdarstellungauf der einen und der Beweis auf der anderen Seite als Ursachen der berzeugungbercksichtigt werden; die Emotionen dagegen, das dritte noch fehlende berzeu-gungsmittel, werden nicht erwhnt. Dass die Emotionen hier nur vergessen wur-den oder dass gar eine vom Kanon der drei kunstgemen berzeugungsmittel ab-weichende Theorie am Werk sein knnte, wre in Anbetracht der Behandlung derEmotionen im selben Kapitel eine abwegige Erklrung. Plausibler scheint, dasshier ein sonst nicht weiter diskutierter Unterschied in der Funktionsweise der bei-den nicht-argumentativen berzeugungsmittel zum Ausdruck kommt. Nach demWortlaut der vorliegenden Stelle knnte diese Differenz etwas damit zu tun haben,dass zwar ein Beweis ein Grund dafr ist, dass wir eine berzeugung akzeptieren,und ebenso die in drei Faktoren aufgegliederte Glaubwrdigkeit des Redners ei-nen solchen Grund darstellt, dass aber die Emotionen, die in einen berzeugungs-bildungsprozess involviert sind, nicht in derselben Weise einen solchen Grunddarstellen. Um diese Sonderrolle der Emotionen zu begrnden, msste man eineAnnahme wie die folgende machen: Emotionen des Urteilenden verndern dasUrteil, das auf der Grundlage eines vorgebrachten Beweises gefllt werden soll,

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  • 538 Zweites Buch 1378a7

    stellen aber nicht selbst einen solchen Grund dar; vgl. etwa die folgenden beidenSituationen:

    (i.) Jemand fllt aufgrund des Nachweises, dass ein Unrecht geschehen ist, ein(emotionsloses) Urteil, das einen Akt der Vergeltung billigt.(ii.) Jemand fllt aufgrund seines Zorns das Urteil, dass ein Akt der Vergeltung

    stattfinden soll.In Fall (i.) wrde der Urteilende als Grnde angeben knnen, dass das Vorliegeneines Unrechts feststehe und solche Situationen allgemein nach einer Vergeltungverlangen. Setzt man nun voraus, dass in Fall (ii.) dasselbe Urteil nicht ohne dieEmotion des Zorns zustande gekommen wre, so unterscheiden sich beide Urteiledurch ihre Vorgeschichte, denn der Zorn ist in Fall (ii.) zumindest eine der Mitur-sachen dafr, dass genau dieses Urteil zustande kam. Dennoch wird auch der Ur-teilende in Fall (ii.) in der Regel nicht den Zorn als Grund fr sein Urteil nennen(selbst wenn man sagte ,er urteilt so, weil er zrnt', wrde darin der weil-Satzoffenbar nicht dieselbe Rolle spielen wie in ,er urteilt so, weil das Unrecht nach-gewiesen wurde'); bisweilen wird er sogar hnliche Grnde angeben wie der Ur-teilende in Fall (i.), also dass ein Unrecht vorliegt und dies Vergeltung verdient,wenngleich er sich vom emotionslos Urteilenden dadurch unterscheidet, dass eraufgrund seines Zorns andere oder mehr Dinge als Unrecht einstuft und fr ge-ringfgigere Anlsse eine Vergeltung fordert. - Als klarer Unterschied, der fr dieErklrung der vorliegenden Stelle herangezogen werden kann, bleibt aber, dassEmotionen Urteile modifizieren, jedoch nicht im Sinne von Grnden, die zurRechtfertigung eines Urteils herangezogen werden. Dies letztere kann fr diedurch Charakterdarstellung erfolgte berzeugung durchaus behauptet werden:

    (iii.) Jemand fllt aufgrund seines Vertrauens in den Redner ein Urteil, dass dervom Redner gegebenen Einschtzung oder Empfehlung entspricht.

    In diesem Fall kann man analog zu (i.) die Glaubwrdigkeit des Redners als einenGrund fr sein eigenes Urteil

    -

    hier gewissermaen als indirekte Evidenz-

    anfh-ren, besonders dann, wenn in einer Sache gar keine oder wenigstens keine entge-genstehenden Beweise verfgbar sind.a8-9 Klugheit, Tugend und Wohlwollen": Dieselben drei Faktoren sind beiThukydides in einer Perikles-Rede enthalten (wenn die Verfhrbarkeit durchGeld, als Zeichen mangelnder Tugend angesehen wird): Wer nmlich etwas er-kannt hat, es aber nicht klar darstellt, verhlt sich gleich wie der, der keinen Ge-danken gehabt hat. Wer dies beides hat, der Stadt aber belwollend ist, wird nichtwie ein Freund sprechen. Wenn aber auch das (das Wohlwollen) vorhanden, eraber durch Geld verfhrbar ist, drfte er alles zusammen fr das eine verkaufen"(Thukydides, Historiae II 60, 6). Fr weitere Verwendungen dieser drei Faktorenvgl. oben die Anm. (1.1).al2-13 zwar vernnftig und tugendhaft (cpQvipoi p.v xai jtieixe)": WeilcpQOviito" klarerweise die Eigenschaft der Klugheit (cpQOvqoi) vertritt, be-zeichnet jtieixq" offenbar jemanden, der ber Tugend verfgt.

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  • 1378al7 Kapitel 1 5391378al6-1378a20 In diesem Nachtrag zur Charakterdarstellung delegiert Aris-toteles noch ausstehende Differenzierungen an andere Hauptteile der Schrift: Weildieselben Mittel vom Redner dazu gebraucht werden knnen, um andere und sichselbst als tugendhaft, vernnftig usw. darzustellen, wird fr die Aspekte Tugendund Klugheit auf die Ausfhrungen zur Tugend und fr den Aspekt des Wohlwol-lens auf die Ausfhrungen zu den Emotionen verwiesen.

    Bei den Ausfhrungen, auf die man zum Thema Tugend und Klugheit verwie-sen wird, handelt es sich offenbar um Kapitel I 9. Jedoch findet sich dort zur Klug-heit nicht viel mehr als eine Definition (1366b20-22). Obwohl es keinen Zweifelgibt, dass das betreffende Kapitel in erster Linie der Errterung der Lobrede dient,findet sich auch dort schon ein Hinweis auf die Brauchbarkeit des Kapitels fr dieMethode der Charakterdarstellung : Indem wir nmlich ber diese Dinge spre-chen, wird sich zugleich Klarheit ber jene Aspekte einstellen, aufgrund derer wirals Menschen von einer bestimmten Charakterqualitt angesehen werden, worinja, wie wir sagten, das zweite berzeugungsmittel besteht; aufgrund derselbenDinge nmlich werden wir uns selbst und einen anderen mit Blick auf die Tugendglaubwrdig machen knnen" (I 9, 1366a25-28). Abgesehen von diesem Hinweisjedoch deutet nichts darauf hin, dass das Kapitel mit dem Ziel verfasst wordenwre, die Charakterdarstellung des Redners anzuleiten.

    Auf welche Kapitel Aristoteles den Leser fr den Aspekt des Wohlwollens(Evoia) verweisen mchte, ist nicht eindeutig zu sagen, auch wenn klar ist, dass essich dabei um eine Emotion handelt und dass sich die entsprechenden Ausfhrun-gen in den Kapiteln II 2-11 finden mssen. Die Emotion des Wohlwollens(evoux) aber behandelt Aristoteles in diesen Kapiteln keineswegs. Gemeint seinknnte der dem Wohlwollen oft als verwandt angesehene Aspekt der xgi, der inKapitel II 7 behandelt wird. Fr die mit .xoqi' bezeichnete Emotion kommt imDeutschen ebenfalls die bersetzung .Wohlwollen' in Frage; jedoch wird dieseArt von Wohlwollen oder Freundlichkeit in II 7 eng mit Hilfeleistungen in be-stimmten Notsituationen verknpft, womit die Emotion fr die Erzeugung vonGlaubwrdigkeit zu eng gefasst sein drfte. Die Anmerkungen zu II 7 begrnden,warum dieser Begriff ohnehin besser mit .Dankbarkeit' bersetzt werden sollte.Nun spricht Aristoteles an der vorliegenden Stelle von Wohlwollen und Freund-schaft", so als sei die Freundschaftlichkeit eine weitere Ursache der Glaubwrdig-keit; weil das nicht der Fall ist, liegt es nahe, das und" explikativ zu verstehen:,ber Wohlwollen beziehungsweise Freundschaft muss aber in den Ausfhrungenber die Emotionen gesprochen werden'. In diesem Fall wre klar, dass die Ab-handlung der Freundschaft bzw. der freundschaftlichen Empfindung (cpiXia) inKapitel II 4 gemeint sein muss. Legt man eine weite Interpretation dieser Emotionzugrunde, nach der alle Formen der Sympathie und des Zugetanseins darunter fal-len, dann ist der auf diese Weise hergestellte Zusammenhang von Wohlwollen undFreundschaft auch durchaus plausibel. Versteht man dagegen die cpiXia als eineEmotion, die eine engere Verbindung und auerdem eine gewisse Gegenseitigkeitvoraussetzt, dann erscheint dieser Verweis eher als Verlegenheitslsung.al6-17 vernnftig und rechtschaffen (cpQvixoi xai ajtouaoi)": Hier be-zeichnet ojtouao" offenbar denjenigen, der ber die Tugend verfgt. In Zeile

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  • 540 Zweites Buch 1378al6

    1378al2f. wurde dafr jiiEixf|" verwendet, es entspricht aber dem Wortge-brauch der Rhetorik, dass beide Ausdrcke austauschbar gebraucht werden.al7-18 aus den zu den Tugenden gemachten Unterscheidungen genommenwerden": Gemeint ist Kapitel I 9; der korrespondierende Hinweis dort findet sichin 1366a27f.1378a20-1378a28 Mit diesem Abschnitt beginnt Aristoteles die Behandlung derEmotionen mit einer Definition derselben sowie der Unterscheidung dreierMomente, die fr die Erregung jeder Emotionsempfindung erforderlich sind. DieDefinition der Emotionen (jtffn) enthlt zwei Bestandteile: Erstens bewirkenEmotionen in den betroffenen Personen eine Vernderung, durch die sie sich inihren Urteilen unterscheiden; zweitens sind die Emotionen mit einer Lust- oderSchmerzempfindung verknpft.

    Wer eine bestimmte Emotion erregen will, muss drei Momente der entspre-chenden Emotion erfasst haben: (i.) in welchem Zustand sich derjenige empfindet,der von der jeweiligen Emotion betroffen ist, (ii.) gegenber welchen Personen diebetreffende Emotion entsteht, (iii.) aufgrund welcher Dinge die betreffende Emo-tion besteht. Die Behandlung der einzelnen Emotionen wird sich daher an diesendrei Momenten orientieren.

    (1.) Die Emotionen: Als Beispiele nennt Aristoteles Zorn, Mitleid, Furcht; inAbschnitt 1377b31-1378a6 hatte er als Beispiele auerdem Liebe und Hass, sowieindirekt Begehren und Hoffnung genannt. Der erste Hinweis der Rhetorik auf dieMglichkeit der Emotionserregung (und deren Missbrauch) durch die Rede hatteals Beispiele Beschuldigung ..., Mitleid, Zorn und solche Emotionen der Seele"(I 1,1354al7) und wenige Zeilen spter Zorn, Neid oder Mitleid" (1354a24f.) ge-nannt. Tatschlich behandelt werden dann in den Kapiteln II 2-11 die EmotionenZorn (Kapitel 2), Sanftmut (Kapitel 3), Lieben und Hassen (bzw. die der Freund-schaft und Feindschaft entsprechenden Emotionen: Freundschaftlichkeit undFeindseligkeit) (Kapitel 4), Furcht (Kapitel 5), Zuversicht/Zuversichtlich-Sein(Kapitel 5), Scham (Kapitel 6), Dankbarkeit (Kapitel 7), Mitleid (Kapitel 8), Ent-rstung, namenlose Emotionj, namenlose Emotion2 (Kapitel 9), Neid (Kapitel 10),Eifer (Kapitel 11)

    -

    auerdem finden sich Hinweise auf den der Dankbarkeit ent-gegengesetzten Zustand (der namenlos bleibt und mglicherweise eher im Sinneder Abwesenheit von Dankbarkeit als im Sinne einer eigenstndigen Emotion zuverstehen ist) (Kapitel 7), auf die der Scham entgegengesetzte Emotion der Scham-losigkeit (Kapitel 6) sowie auf die Schadenfreude (Kapitel 10) und die Verachtung(Kapitel 11). Im Vergleich mit Kapitel I 10 fllt an dieser Liste das Fehlen derBegierde (juflupia) auf, denn in diesem Kapitel tauchen mehrmals Zorn undBegierde als offenbar gleichberechtigte Handlungsursachen auf.(2.) Die Definition der Emotionen: Mit der Bemerkung, Emotionen seien das,wodurch sich die Menschen hinsichtlich ihrer Urteile unterscheiden, will Aristote-les offenbar keine eigentliche Definition geben, sondern er will die Emotionen un-ter demjenigen Gesichtspunkt einfhren, der sie fr die Rhetorik wichtig macht.Die Formulierung worauf Lust oder Schmerz folgt" stellt dagegen zumindest eindefinitorisches Merkmal der Emotionen dar; vgl. EN II 4, 1105b23: berhaupt,welchen Lust oder Schmerz folgt (oXco oi 'jtExai fjovf| fj Xjxt|)" und II 2,

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  • 1378a28 Kapitel 1 5411220bl3f.: berhaupt, welchen als solches in der Regel eine wahrnehmbare Lustoder Schmerz folgt (oXco oi EJiExai cb jti x JtoX f) aiaur|Xixf| f|ovf| fj XJtr)xad' ax)". Die Rolle von Lust und Schmerz fr die Emotionen wird in Ab-schnitt 1.2 der Vorbem. zu Kap. II 2-11 diskutiert.(3.) Die drei Momente zur Erzeugung von Emotionen: Um eine Emotion zuerregen, muss man die typischen Zielpersonen einer solchen Emotion, den Gegen-stand der betreffenden Emotion und den Zustand kennen, in dem man normaler-weise eine solche Emotion empfindet. Zielpersonen und Gegenstnde gehren aufunterschiedliche Weise zu dem, worauf sich eine Emotion richtet (vgl. dazu in derVorbem. zu Kap. II 2-11, Abschnitt 1.2: Emotionen knnen durch ihren Gegen-stand definiert werden"). Unter dem Zustand, in dem man eine Emotion empfin-det, verbergen sich in den nachfolgenden Kapiteln ganz unterschiedliche Dinge:Oft wird dieser Zustand nur durch eine bestimmte Relation zur Zielperson be-stimmt, manchmal handelt es sich nur um notwendige Bedingungen fr das Emp-finden einer Emotion, manchmal handelt es sich um (zusammen mit der geeigne-ten Zielperson und dem geeigneten Gegenstand) hinreichende Bedingungen. Anmanchen Stellen scheint klar, dass Aristoteles mit dem Zustand nur eine allgemeineDisposition oder Neigung zu der betreffenden Emotion beschreiben mchte(.man ist zur Entrstung geneigt': vgl. die Anm. zu 1378b4), an anderen Stellenscheint er von der aktuellen Empfindung zu sprechen (.man zrnt aber, wenn ...').Manchmal scheint es zu gengen, dass sich der Betreffende in einem entsprechen-den Zustand befindet, manchmal muss er offenbar der Meinung sein (d.h. sichbewusst sein darber), dass er sich in einem solchen Zustand befindet (vgl. dazu inder Vorbem. zu Kap. II 2-11, Abschnitt 2).

    Etwas verwirrend scheint auerdem der Umstand, dass sprachlich gelegentlichdie Zielpersonen als Ursache der Emotion erscheinen, whrend blicherweise dieGegenstnde als eine solche Ursache behandelt werden. Dies hat zu Fehlberset-zungen und Missverstndnissen gefhrt; vgl. dazu die folgende bersicht:

    Zustand Zielpersonen Gegenstand EmotionIIl,78a24f. MO iaXE|XEVOl EJll JIOIOI z.B.: ooyXoi EioII 2, 79a9f. jiw exovxe auxoi i nota QYovxai113, 80a6f. JltO EXOVXE jiqo riva UX TVCOV JtQaOL 101II 4, 80b34f. xiva i T cfikovai xai

    HiaoJaiII4,82al9f. KtO EXOVXE xiva cpoovxaiII 6, 83bl2f. JltO EXOVXE jiqo xiva aiaxuvovxai xai

    vaiaxuvxoCaiv117, 85al6f. Jttu auTOi exovxe Xaptv ExouaiII 7, 85bl 1 f. Mac, auxoi exovxe xiva XeoCoiII 9, 86b6f. Jtw exovxe auxoi XlOl vE^EaioaiII 9, 87b2f. OI i T V|XEO~>OlII 10, 87b21f. JttO exovxe (pilovouoiII 10, 88a23f. Jl(O EXOVXE ECp OI XaQOuoivII ll,88a29 Jtoj EXOVXE ra nota r|XoCoiv

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  • 542 Zweites Buch 1378a28

    (3.1) Die starke Interdependenzthese: Nach den Aussagen des vorliegendenAbschnitts lsst sich eine Emotion nur dann erzeugen, wenn alle drei Momenteeiner Emotion gegeben sind. Diese starke These wird im Lauf der folgendenKapitel dadurch relativiert, dass die drei Momente gar nicht bei allen Emotio-nen deutlich unterschieden werden knnen oder dass die Merkmale der ver-schiedenen Momente sich gegenseitig implizieren; vgl. dazu etwa die Anm. (2.)zu 1380b34-1381a3 und Anm. (2.) zu 1382a21-27.1378a28-1378a30 Die Schlussbemerkung stellt eine methodische Kontinuittzum vorgehenden Buch fest: So wie bei der Behandlung der spezifischen TopenStze (jtQOxoei) aufgestellt wurden, so soll auch bei den sich anschlieendenAusfhrungen verfahren werden.

    Diese Feststellung ist problematisch und hat in der Forschungsliteratur zu Kon-troversen gefhrt. Erblickt man nmlich

    -

    was durchaus nahe liegt-

    die methodi-sche Kontinuitt im endoxisch-hypothetischen Status der Stze", von denen hierdie Rede ist, und identifiziert man diese Stze in der nun folgenden Emotionsab-handlung als die Definitionen, die von den einzelnen Emotionen gegeben werden(was durch die mit oxco q" eingeleitete Form dieser Definitionen nahe gelegtwird), dann steht man vor folgendem Problem: Der besondere Status der Stze(jtQOxoei) im ersten Buch rhrte daher, dass der Redner bei seiner Argumenta-tion von Prmissen ausgehen muss, die von den Hrern anerkannt sind; um dieunter diesen Umstnden angemessenen Stze von den fr wissenschaftliche Be-weise (jtoei^ei) hinreichenden Prmissen zu unterscheiden, wird ihr nicht-wissenschaftlicher (sondern nur ,endoxischer') Charakter eigens gekennzeichnet.Warum sollte Aristoteles aber

    -

    falls seine Bemerkung tatschlich auf diesenAspekt abhebt

    -

    bei der Behandlung der Emotionen auf dieselbe Weise fortfahren?Denn zur Erzeugung von Emotionen kommt es nicht darauf an, dass der Adressatder Emotionserzeugung von der Definition der Emotion berzeugt ist (um bei-spielsweise Zorn zu empfinden, braucht man berhaupt keine Meinung ber dasWesen des Zorns zu haben), sondern allein darauf, dass der Emotionserzeuger dierichtige Definition der jeweiligen Emotion zugrunde legt, weil er anderenfalls un-ter Umstnden sein Ziel verfehlt.

    -

    Die Auflsung dieses Problems hat vermutlichmit den verschiedenen Rollen zu tun, die die anerkannten Stze (vo^a) (in Ent-sprechung zu den verschiedenen Bedeutungen des Wortes axco": vgl. die Anm.zu 1360bl4) in der Rhetorik spielen knnen: Einerseits handelt es sich um Stze,die man whlt, weil sie vom Publikum anerkannt sind, andererseits handelt es sichaber auch um die durchaus ernst zu nehmenden Resultate dialektischer Forschung,auf deren nhere Begrndung es in einem gegebenen Zusammenhang nicht an-kommen soll.

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  • Vorbemerkung zu Kap. II 2-11:Die ,Emotionenc

    Dem am Ende des ersten Kapitels gegebenen Programm entsprechend beginntAristoteles im zweiten Kapitel mit der Behandlung der Emotionen. Die folgendenBemerkungen geben einen allgemeinen berblick zu Aristoteles' Konzeption derEmotionen.

    1. Der Begriff der jiot] bei AristotelesAristoteles bezeichnet Emotionen als

    .Jtffq' bzw. .Jtffq Tfj ii>t>xfj', a'so a^s 'Wi-derfahrnisse' bzw. .Widerfahrnisse der Seele'. Es handelt sich dabei allerdings umeinen Ausdruck, der keineswegs auf die Emotionen im Besonderen Bezug nimmt;selbst die Einschrnkung auf .Widerfahrnisse der Seele' meint nicht ausschlielichEmotionen, weil etwa auch Wahrnehmungseindrcke Widerfahrnisse sind, die derSeele zukommen.

    1.1 Die verschiedenen Bedeutungen von ,Jiao'Der Ausdruck .Jiffo (pathos)' ist gebildet aus jtoxEiv (leiden, erleiden) undmeint in der Grundbedeutung .das, was einem widerfhrt', .was man erleidet', alsodas Ergebnis (EQyov) oder Ziel (rXo) des Leidens bzw. einer in der Regel von au-en her veranlassten Vernderung. Im Einzelnen nimmt der Ausdruck die Bedeu-tungen: Eigenschaft, Qualitt, qualitative Vernderung, akzidentelle Eigenschaft,Widerfahrnis, schmerzliches Widerfahrnis, Unglck, (perzeptiver) Eindruck, be-sonders aber auch die psychologische Bedeutung ,Affekt, Emotion, Gefhl' an.Oft werden die Ausdrcke pathos' und ,Jtffq|xa' austauschbar verwendet (z.B. 1220bll, 1221b36, Rhet. 1396b33); als Ergebnis des Leidens ist Aas pathos inder Regel von dem entsprechenden Vorgang (itffqoi) unterschieden (z.B. Phys.202a23 f.), wird aber auch anstelle von

    .Jtffqoi' gebraucht. Als passives Wider-fahrnis ist Aas pathos der jtqoi und der jroiqoi entgegengesetzt. Nach Aristote-les selbst sind folgende Verwendungsweisen zu unterscheiden; vgl. Met. V 21,1022bl521 : pathos' meint (i.) in der einen Bedeutung eine Qualitt (jtoioxq),hinsichtlich welcher Vernderung mglich ist, wie zum Beispiel wei und schwarz,s und bitter, schwer und leicht, und was es dergleichen sonst noch gibt, (ii.) ineiner anderen Bedeutung aber die Aktualitt (vQyEiai) von diesen, d.h. die schonvollzogenen Vernderungen (XXoicboEi). (iii.) Von diesen ferner eher die schdli-chen Vernderungen und Bewegungen, und am meisten die schmerzlichen Sch-den, (iv.) Ferner werden die groen Unglcksflle [und Leiden] path' genannt."

    Die zitierte Wet.-Stelle fhrt die path in den beiden Grundbedeutungen (i.)und (ii.) als eine Unterklasse der qualitativen Eigenschaften (jtoiv/jtoixqc) ein.Insofern berwiegend nur solche Qualitten als path bezeichnet werden, in Be-

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  • 544 Vorbemerkung zu Kap. II 2-11zug auf die sich das betreffende Subjekt verndern kann, bezeichnen path nichtden artbildenden Unterschied (icpoQa; vgl. Top. 145a3-12, Phys. 226a27-29). Esfinden sich allerdings auch Stellen, die gerade dies zulassen (PA 678a33f.), so dasspathos im weitesten Sinn vom Qualitativen (jxoiv) im weitesten Sinn nicht zuunterscheiden ist. Gelegentlich bezeichnet ,pathos' aber auch eine Unterklasse desQualitativen: In Cat. 9a28-b9 werden die path zusammen mit den so genannten.passiven Qualitten' (jtaiVnxixai jxoioxt)xe) bzw. zunchst gleichbedeutend mitihnen als eine von vier Unterklassen der Kategorie des Qualitativen eingefhrt.Beispiele sind Sigkeit, Bitterkeit, Sure, aber auch Wrme, Klte, Weie,Schwrze. Um Qualitten handelt es sich dabei, weil das aufnehmende Subjektentsprechend der Eigenschaft als ein ,so-und-so beschaffenes' bezeichnet werdenkann. .Passiv' werden sie aber nicht genannt, weil dieses Subjekt etwas erleidenwrde (der Honig erleidet durch das Ssein nichts), sondern weil sie in der Sin-neswahrnehmung ein pathos bewirken. In Cat. 9bl9-10al0 unterscheidet Aristo-teles zwischen pathos und der passiven Qualitt (im engeren Sinn): z.B. kommtjemandem, der aus Scham rot wird, ,rot' nicht als Qualitt, sondern als pathos zu.Allgemein ist demnach nur das ein ,pathos', was auf ,leicht auflsbaren' und.schnell beizulegenden' Faktoren beruht, whrend passive Qualitten auf schwerzu verndernden und permanenten path (im weiteren Sinn) beruhen. ObwohlAristoteles in Cat. die path einerseits zusammen mit der Kategorie des Qualitati-ven behandelt, nennt er .erleiden' (jxoxEiv) und .bewirken' (jxoiev) als eigenstn-dige Kategorien (Cat. 2a3f., llbl-8), wie z.B. geschnitten und gebrannt werdenein Leiden darstellen, dem ein Bewirken (schneiden, brennen) entspricht. Auch beider Gegenberstellung von Substrat (JtoxEjtEvov) und Eigenschaften, die dem-selben zukommen, spricht Aristoteles bevorzugt von ,path': Das eine ist Sub-strat, das andere, was von Natur aus von einem Substrat ausgesagt wird, ist daspathos" (Gen.Corr. 319b8 f.). ... so ist fr die path das Substrat Mensch, Krperund Seele, pathos aber ist musisch und wei" (Met. 1049a29f.). Schlielich meint,pathos' auch das, mit Bezug worauf Vernderung (XXoicooi, (xexaoXfj) stattfin-det: Werden die path bisweilen mit Hilfe der Vernderung definiert, so wird um-gekehrt auch die (substraterhaltende) Vernderung mit Hilfe der path von sol-chen Prozessen unterschieden, die die Existenz einer Sache berhren (= Entstehen,Vergehen): Vernderung (XXoicooi) ist der Wechsel hinsichtlich der path"(Met. 1069bl2; vgl. Gen.Corr. 319bl0f. und 33).

    Auch der Seele kommen verschiedenartige path zu. So wie die sinnlichen Qua-litten ,path' in Cat. genannt werden, weil sie die Sinnesorgane affizieren, werdenzunchst die Wahrnehmungen als ,path' oder ,Jtaxrfju.axa' bezeichnet: dasai'ovfntia, der Wahrnehmungsinhalt, ist ein pathos des Wahrnehmenden" (Met.1010b33). Dieser Sprachgebrauch gilt auch fr nicht-sinnliche Perzeptionen. InInt. 16a3 und 6 spricht Aristoteles von ,jtaf)fju,axa' der Seele oder in der Seele, diedurch die Schrift- und Sprachzeichen symbolisiert werden und die ihrerseits hn-lichkeitsbilder (ttoicjxaxa) der Dinge darstellen, wobei ,Jtf)r|(ia' nichts anderesals .Denkinhalt' (vnu,a: 16al0,14) meint. Whrend dieser Sprachgebrauch bei derErklrung lterer, materialistischer Wahrnehmungstheorien ein wirkliches Leidenimpliziert, ist nach De An. II 5 fraglich, ob die Wahrnehmungen ein gewhnlichesErleiden voraussetzen (vgl. dazu auch S. Everson, Aristotle on Perception, Oxford

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  • Die .Emotionen' 545

    1997, 89-96). Bei der Verwendung von .Jtqiux' mit Blick auf das Denken ist klar,dass kein buchstbliches Erleiden stattfindet, da die Denkinhalte nicht durch kau-sale Einwirkung der gedachten Gegenstnde auf die Seele zustande kommen; viel-mehr befinden sich die Allgemeinbegriffe als eigentliche Gegenstnde des Denkensin gewisser Weise in der Seele" (De An. II 5, 417b23-24). Eine Art von path derSeele bilden nun die Emotionen. Dabei impliziert nach der vorgefhrten Bedeu-tungsanalyse die Bezeichnung path' nicht mehr, als dass es sich um Widerfahr-nisse handelt, die der Seele als Trger zukommen; die Wortwahl legt nahe, dass diebetreffenden Zustnde

    -

    anders als Handlungen-

    passiv bzw. ohne Zutun der be-troffenen Personen zustande kommen. Auerdem sind die Emotionen durch dieseBezeichnung als flchtige im Unterschied zu bestndigen Zustnden der Seele cha-rakterisiert.

    1.2 Deflatorische Merkmale der EmotionenEin Umstand, der die Behandlung der Emotionen erschwert, ist, dass es keine zu-sammenhngende Behandlung dieses Themas in den erhaltenen Schriften gibt.ber die Existenz einer Schrift mit dem Titel

    .JteQ Jtacov' wird spekuliert: vgl.Moraux (1951, 74-80). Die ausfhrlichste Behandlung von Einzelemotionen ist dievon Rhet. II 211, jedoch wird gerade hier kein Anspruch auf eine philosophischhinreichende Behandlung gelegt, und auerdem bleiben in der Rhetorik Fragender Hintergrundstheorie ausgeschlossen. Indirekt werden Einzelemotionen auer-dem in den Ethiken im Rahmen der Analyse verschiedener Tugenden nach der me-sotes-Struktur behandelt. Das Problem einer allgemeinen Bestimmung der Emo-tionen bleibt hierbei aber auer Betracht; die wenigen Bemerkungen zu den ge-meinsamen Charakteristika aller Emotionen fallen sowohl in EN als auch in EE imZusammenhang mit der Frage, warum Tugenden keine Emotionen sind. hnlichwie bei der Behandlung der Lust (vgl. dazu Anm. (2.) zu 1369b33-35) stellt sichauch fr die Emotionen das Problem, dass die Evidenzen der Ethiken zum Begriffder Emotionen sowie zur Erluterung einzelner Emotionen, nicht Bestandteileeiner allgemeinen Theorie der Emotionen sind, sondern bestimmte moralphiloso-phische Fragestellungen zu beantworten versuchen, weswegen die Emotionenauch nur mit Blick auf die hierfr relevanten Wirkungen beleuchtet werden. Ob-wohl in De An. 1 1 die Emotionen als Paradigma fr solche Zustnde eingefhrtwerden, die der Seele und dem Krper gemeinsam sind und somit die seelisch-kr-perliche Doppelnatur der Emotionen ein Modell fr Aristoteles' hylemorphisti-sche Erklrung der Seele gibt, enthlt auch De An. keine eigene Abhandlung berdie Emotionen. Die gelegentlichen Hinweise auf Emotionen in MA, De Ins. undanderen Schriften der Parva Naturalia erwhnen die Emotionen nur, um durch sieandere Phnomene zu erklren. Daher fehlt im Corpus Aristotelicum eine eigen-stndige Behandlung der Emotionen, so dass die wichtigsten Merkmale des Emo-tionsbegriffs indirekt aus der Verwendung der Emotionen erschlossen werdenmssen. Dieses Fehlen einer .offiziellen' Behandlung der Emotionen veranlasst inder Forschung eine gewisse Erwartungshaltung gegenber den immerhin ausfhr-

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  • 546 Vorbemerkung zu Kap. II 2-11liehen Einlassungen von Rhet. II 2-11, jedoch sind diese erstens nicht an den theo-retischen Hintergrnden interessiert, konzentrieren sich zweitens aufgrund desAnlasses auf einen bestimmten eingeschrnkten Aspekt der Emotionen und ent-sprechen drittens mglicherweise nicht dem Erkenntnisstand der reifen psycholo-gischen Schriften.

    -

    Zu den Emotionen bei Aristoteles im Allgemeinen vgl. Ricken(1976, 49-62), Fortenbaugh (1970) und (1975), Leighton (1982), Rorty (1984), Bel-fiore (1992), Sherman (1995) und (1997, 52-98), Buddensiek (1997); zu den Emo-tionen in der Rhetorik vgl. Solmsen (1938), Conley (1982), Cooper (1996), Frede(1996), Striker (1996).

    Anstatt einer Definition: Aristoteles fhrt die Emotionen immer durch Aufzh-lung, nicht durch Definition ein; vgl. EN II 4, 1105b21-23:

    Unter pathos' verstehe ich Begierde (jrif>u(xia), Zorn (OQyrj), Furcht (cp-oc), Zuversicht (ffQOO), Neid (cpffovo), Freude (xaQ), Freundschaftlich-keit (cpiXia), Hass (uoo), Sehnsucht (jtotfo), Eifer (fjXo), Mitleid (eXeo),berhaupt alles, das Lust und Schmerz zur Folge hat."

    Entsprechende Einfhrungen finden sich in II 2, 1220bl2-14, De An. I 1,403al6-18; vgl. auch Rhet. I 1, 1354al6f.: ... Mitleid, Zorn und solchepath AerSeele". Das Fehlen einer vollstndigen Definition mag Zeichen dafr sein, dassAristoteles einen vielschichtigen und variablen Gegenstand vor Augen hat. Auchgeben sich die Emotionslisten, mit denen Aristoteles eine explizite Definition um-geht, als vorlufig und unvollstndig zu erkennen. Was einer Definition am ehes-ten nahe kommt, ist die den verschiedenen Listen beigegebene Bemerkung, Emo-tionen seien mit Lust und Schmerz verbunden; vgl. neben EN 1105b2123 auch:path sind durch Lust und Schmerz bestimmt" ( 1221b36f.); sie sind das,dem in der Regel durch Wahrnehmung vermittelte Lust oder Schmerz zukommt"( 1220bl214), bzw. diejenigen Dinge, welchen Lust oder Schmerz folgt"(Rhet. II 1, 1378a21 f.). (Vgl. zu Lust und Schmerz auch unten Lust und Schmerzin der Definition der Emotionen".) Bei der in Rhet. 1378a20f. formulierten Cha-rakterisierung der Emotionen durch ihren Einfluss auf die Urteile (Die Emotio-nen sind die Dinge, durch welche sich (die Menschen), indem sie sich verndern,hinsichtlich ihrer Urteile unterscheiden.") handelt es sich ebenfalls um keine wirk-liche Definition, sondern um den Aspekt, der die Emotionen fr die Rhetorik in-teressant macht.

    Wechselnde Listen: Die fehlende Definition der Emotionen wird noch nicht ein-mal durch eine konstante Liste ersetzt. Regelmig werden die Beispiele Zorn,Furcht und Mitleid angefhrt; bei den lngeren Listen gibt es hingegen Schwan-kungen. Die ausfhrlichste Auflistung von Jtath] in der Nikomachischen Ethikenthlt die Emotionen Begierde (jtif>U(xia), Zorn (Qyfj), Furcht (cpooc), Zu-versicht (ffQOO), Neid (cpdovo), Freude (xag), Zuneigung/Freundesliebe(cpiXia), Hass (iioo), Sehnsucht (Jtffoc), Eifer (fjXo), Mitleid ('Xeo) (II 4,1105b2123). Verglichen mit dieser Liste fllt das Fehlen der Begierde bzw. des Be-gehrens in II 2-11 auf; die Erwhnung der Freude (xQa) hat ebenfalls keine Ent-sprechung in II 2-11. Die Begierde (jtifhjuia) wird auch in der EudemischenEthik II 2, 1220b 13, als Emotion angefhrt. In der 7V-Liste fehlen verglichen mitBuch II der Rhetorik zunchst die Sanftmut (was nicht berrascht, weil die Sanft-

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  • Die.Emotionen' 547

    mut in der Nikomachischen Ethik als Tugend und nicht als Emotion behandeltwird), dann die Scham (die aber in EN IV 15 ausdrcklich als Emotion bezeichnetwird), die Dankbarkeit und die Entrstung. Eine entsprechende Auflistung inber die Seele enthlt wie die Nikomachische Ethik die Freude, und wie die Rhe-torik die Sanftmut, verzichtet aber wie Buch II der Rhetorik auf die Erwhnungder Begierde (ejufhiuia); insgesamt enthlt sie: ffuiic, JtQaxnc, cpooc, eXeo,daQao, %ag, cpiXEiv, p.iOEiv (I 1, 403al7f.). Neben den offiziellen Listen werdensowohl in den Ethiken als auch in der Rhetorik bestimmte namenlose Emotionenbehandelt, die sich jeweils aufgrund der zugrunde gelegten Systematik herleitenlassen.

    -

    Zum Fehlen der juthiuia in Rhet. II 2-11 vgl. unten Abschnitt 4.Emotionen knnen durch ihren Gegenstand definiert werden: Emotionen rich-

    ten sich auf einen Gegenstand, von dem die betreffende Person meint, dass er exis-tiert. So richtet sich etwa der Zorn auf eine vermeintlich erfahrene Herabsetzung;in diesem Sinn handelt es sich bei den Emotionen um so genannte .intentionale'Zustnde, die ber einen .Gehalt' verfgen. Ob dabei der Gegenstand, auf densich die Emotion richtet, wirklich existiert, ist unerheblich, jedoch kommt z.B.keine wirkliche Furcht zustande, wenn man an etwas Furchterregendes nur hypo-thetisch denkt, ohne von der Existenz desselben berzeugt zu sein (De An.427b21 ff.). Einige Gegenstnde von Emotionen sind klar von propositionaler Na-tur (dass etwas der Fall ist"), was jedoch nicht fr die Gegenstnde aller Emotio-nen zu gelten braucht. Bei der Bestimmung der Einzelemotionen in Rhet. II 2-11wird dieses Gerichtet-Sein der Emotionen ausgenutzt, um durch die verschiede-nen Gegenstnde, auf die Emotionen gerichtet sind, die Emotionen voneinanderzu unterscheiden und zu definieren.

    Nun sagt Aristoteles in Rhet. II 1 selbst, man msse dreierlei bei jeder Emotionunterscheiden: worber, wem gegenber und in welchem Zustand man die Emo-tion empfinde. Der Gegenstand, durch den eine Emotion definiert wird, ist nunnicht einfach das Moment des Worber; vielmehr wird eine Emotion durch ein all-gemeines bzw. formales Objekt, wie beim Zorn durch die .Erniedrigung von je-mandem, dem es nicht zusteht', definiert, aus dem sich die drei Momente herleitenlassen: Ist das allgemeine formale Objekt bestimmt, dann ergibt sich daraus erstensder (geeignete) Gegenstand etwa des Zorns, zweitens die (geeignete) Zielpersonund drittens ergeben sich zumindest notwendige Voraussetzungen fr den Zu-stand, in dem man die betreffende Emotion empfindet, insofern dieser Zustand ausder Relation zum Gegenstand und zur Zielperson der betreffenden Emotionenhergeleitet werden kann. Es knnen auch Dinge und Personen zum Gegenstandeiner Emotion werden, die die im formalen Objekt gegebenen Merkmale nicht er-fllen; in diesem Fall handelt es sich jedoch um keine geeigneten Gegenstnde oderZielpersonen; nicht geeignete Gegenstnde und Zielpersonen wren kein Gegen-stand der betreffenden Emotion, wenn der Betroffene ber alle relevanten Infor-mationen verfgen wrde. Der Gegenstand eines konkreten emotionalen Zustandsist daher in der Regel ein Ding oder ein Sachverhalt, das oder der einer Person sogegeben ist, dass die Merkmale des formalen Objekts erfllt zu sein scheinen: Ge-genstand meines Zorns ist der Umstand, dass mir A einen Akt der Misshandlungzugefgt hat, wobei es A nicht zusteht, mir eine Misshandlung zuzufgen, undeine Misshandlung das Merkmal der Erniedrigung aufweist, das im formalen Ob-

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  • 548 Vorbemerkung zu Kap. II 2-11jekt des Zorns gegeben ist; oder

    -

    um die vielleicht zu falschen Schlussfolgerungenverleitende propositionale Form zu vermeiden

    -

    Gegenstand meines Zorns ist dieerniedrigende Misshandlung meiner selbst durch die dazu unbefugte Person A.

    Lust und Schmerz in der Definition der Emotionen: path sind durch Lust undSchmerz bestimmt" (EE 1221b36f.); sie sind alles das, was Lust und Schmerz zurFolge hat" (EN 1105b23) und das was in der Regel durch Wahrnehmung vermit-telte Lust oder Schmerz zur Folge hat" (EE 1220b 12-14). Whrend aber Piaton diepath als Arten des Schmerzes bezeichnet (Philebos 47e; auch MM 1186a33f.),scheint Aristoteles Lust und Schmerz nicht als Gattung derpath anzusehen. Zwarist die Terminologie, durch die Aristoteles .Lust und Schmerz' mit den Emotionenin Verbindung bringt, nicht konstant, aber die Formulierung .zur Folge haben'drckt in keinem Fall ein Art-Gattungs-Verhltnis aus, sondern lsst Raum frverschiedene Formen der Verknpfung. Nach Top. 125b28 ff. geht Schmerz im Falleiner bestimmten Emotion dieser sogar voran und verursacht sie, so dass derSchmerz sicher nicht die Gattung darstellt. Im Falle von Emotionen, die wie derZorn aus lustvollen und schmerzhaften Anteilen gemischt sind, knnte die Ver-wendung von Lust und Schmerz als Gattung ebenfalls Probleme aufwerfen: vgl.dazu auch Striker (1996, 292).

    Lust und Schmerz sind die fhlbaren Aspekte einer jeden Emotion. Auerdemkommt in ihnen zum Ausdruck, dass man bestimmte Merkmale des betreffendenGegenstandes ablehnt oder billigt: Wenn man nmlich etwas als lustvoll oderschmerzlich wahrnimmt, erstrebt oder meidet man es, wie wenn man zustimmtoder ablehnt" (De An. 431 a9 f.). D. h. durch Lust und Schmerz ist auch das Strebe-vermgen in eine Emotion involviert, und zwar nicht insofern jede Emotion einendirekten Handlungsimpuls in sich haben wrde, sondern insofern sich im Strebenund Vermeiden positive und negative Einstellungen zu verschiedenen Objektenausdrcken, ohne die es kein Lust- oder Schmerzempfinden geben knnte. Ob denverschiedenen Emotionen wahrnehmbare qualitative Unterschiede in der Lustoder dem Schmerz entsprechen, ist unklar: Zwar spricht Aristoteles in der reiferenLust-Konzeption der EN (1175a21-28) von verschiedenen Arten der Lust, die derVollendung verschiedenartiger Ttigkeiten entsprechen, jedoch wird diese Kon-zeption auf die Beschreibung der path in Rhet. nicht angewandt.

    Lust und Schmerz in der Definition der Emotionen-

    Unproblematische Flle:Auch wenn eine offizielle Definition der Emotionen fehlt, scheint die Verbindungmit Lust und Schmerz aufgrund der dargelegten Funktionen dieser Empfindungeneinen quasi-definitorischen Charakter zu haben. Wenn Aristoteles daher in Rhet.II 2-11 die meisten Emotionen mit Bezug auf Lust und Schmerz definiert, dannwird auf diese Weise nicht nur ein Zusammenhang mit den entsprechenden Bemer-kungen der Ethiken hergestellt, sondern es scheint sich dadurch berhaupt erst eineinheitliches Merkmal aller Emotionen abzuzeichnen. Leider ist er auch in dieserHinsicht inkonsequent; aber zunchst die unkontroversen Flle: Furcht, Scham,Mitleid, Entrstung, Neid und Eifer werden als XJtq xi" oder als Schmerzemp-findung XuJteioai" definiert, so dass bei diesen Emotionen auch nichts im Wegestnde, den Schmerz als Gattung zu betrachten. Entsprechend werden die beidennamenlosen Emotionen aus II 9 (vgl. die Anm. zu 1386b25-33) als Arten derFreude (und damit auch der Lust?) angesehen; dasselbe gilt fr die Schadenfreude

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  • Die ,Emotionen' 549

    aus II 10 (vgl. die Anm. zu 1388a23-25). Die Emotionen Furcht und Scham wer-den

    -

    genau genommen-

    nicht nur als Schmerz, sondern als eine Art vonSchmerz und/oder Beunruhigung (xaQaxfj)" bestimmt. Dies stellt jedoch nochkeine problematische Ausnahme dar, weil zunchst nichts im Wege steht, dieBeunruhigung ihrerseits als eine bestimmte Art von Schmerz zu verstehen, wobeidiese Modifikation mglicherweise damit zu tun haben knnte, dass .Beunruhi-gung' die Form von Schmerz sein knnte, die in Anbetracht eines knftigenSchmerzes empfunden wird (vgl. dazu die Anm. zu 13823211 und die Anm. (5.) zu1383bl217). Der Zorn enthlt zugleich lustvolle und schmerzliche Anteile. DerSchmerz hngt mit der erlittenen Erniedrigung, die Lust mit der Erwartung einerknftigen Vergeltung zusammen (vgl. zur Konzeption derart gemischter Emotio-nen Frede (1996) sowie die Anm. zu 1370bl9-25); daher kann der Zorn nicht ingleicher Weise als Art von Schmerz angesehen werden. Mit Bedacht scheint Aris-toteles fr diese Emotion die unverbindlichere Formulierung verbunden mitSchmerz (^lEx XUJtn)" gewhlt zu haben. Der Zorn stellt daher zwar ein Hinder-nis fr die Auffassung dar, jede Emotion knnte eindeutig als eine Art vonSchmerz oder eine Art von Lust definiert werden, aber immerhin blieb bis hierherdie These unberhrt, dass alle Emotionen Lust und Schmerz als wesentlichen Be-standteil enthalten: problematischer sind die folgenden Flle:

    Lust und Schmerz in der Definition der Emotionen-

    Schwierige Flle I: Zu-nchst enthalten die Emotionen Sanftmut, Schamlosigkeit und Zuversicht keinenexpliziten Bezug zu Lust und Schmerz. Jedoch handelt es sich dabei um diejenigenGegen-Emotionen, die nur fr die Auflsung einer jeweiligen Grund-Emotionvon Bedeutung zu sein scheinen; vgl. dazu die Anm. (4.) zu 1380a5-8. Diese .auf-lsenden' Emotionen knnen entweder als bloe Abwesenheit der jeweils korres-pondierenden Grund-Emotion angesehen werden (Schamlosigkeit als die Abwe-senheit von Scham, Sanftmut als die Abwesenheit von Zorn ...), dann enthalten sieweder Lust noch Schmerz, stellen aber auch keine wirklich emotionalen Zustndedar, oder man versteht sie als den bergang von der schmerzvollen Emotion in ei-nen schmerzlosen Zustand, was evtl. nach der in Kapitel 111 angefhrten Lust-Konzeption als lustvoll angesehen werden kann (vgl. dazu die Anmerkungen zu1369b33-35). Als nchstes wird die Dankbarkeit (xQi) ohne Bezug auf Lust undSchmerz definiert: Dankbarkeit ist der Zustand dessen, dem ein Gefallen getanwurde. Nun ist Aristoteles allerdings auffallend darum bemht zu betonen, dassdie wichtigsten Gefallen diejenigen sind, die einen von einem Schmerz befreien(vgl. 1385a22ff.). Auf diese Weise enthlt die Dankbarkeit wenigstens einen indi-rekten Bezug zu Lust und Schmerz, insofern nmlich die Befreiung von einemschmerzlichen Zustand als diejenige Konstellation angesehen wird, auf die manbesonders mit dem Gefhl der Dankbarkeit reagiert (die Deutung der XaQLS alsDankbarkeit ist unkonventionell; vgl. dazu Anm. (2.) zu 1385al6-19; dasselbeProblem fr die traditionelle Deutung der X

  • 550 Vorbemerkung zu Kap. II 2-111382al3). Wenn das Lieben als eine Art von ,Wnschen/Wollen' (ouXEOm) de-finiert wird, ist klar, dass Lust und Schmerz hier nicht unmittelbar als Gattung derEmotion herangezogen werden knnen, jedoch ist Aristoteles auch hier bemht,einen Zusammenhang mit der Empfindung von Lust und Schmerz herzustellen:Nach der Definition der Freundesliebe und des Freundes wird nmlich als ersteshervorgehoben, dass der Freund derjenige sei, der sich ber die guten Dinge mit-freut und bei den schmerzlichen Dingen mitleide (vgl. 1381a3ff.). berhauptsteckt auch im Wnschen oder Wollen ein Streben, das erfllt oder enttuscht wer-den kann, was Lust oder Schmerz zur Folge hat. In I 11, 1371al7ff., heit es, dasssowohl das Lieben als auch das Geliebtwerden zu den angenehmen, also mit Lustverbundenen Dingen gehren. Somit ist klar, dass auch bei der Emotion derFreundesliebe ein vielschichtiger Zusammenhang mit Lust und Schmerz gegebenist, wenngleich dieser nicht in der Definition zum Ausdruck kommt; und die For-mulierung, dass auf eine Emotion Lust oder Schmerz folge (im Sinne des Implika-tionsverhltnisses: wo Emotion ist, ist auch Lust/Schmerz), verlangt gar nichtmehr als irgendeinen Zusammenhang zur Empfindung von Lust und Schmerz.

    -Es bleibt somit das Hassen als derjenige Fall zurck, der sich einem Zusammen-hang mit Lust und Schmerz am ehesten zu widersetzen scheint (eine gute Diskus-sion dieses Problems, die aber auch ohne letztlich zwingendes Ergebnis bleibt, fin-det sich in Cooper (1996, 247-249)). Aristoteles' kategorische Feststellung, derHassende empfinde keinen Schmerz, fllt jedoch innerhalb eines Vergleichs mitdem Zorn, weshalb die Mglichkeiten einer relativierenden Interpretation zu pr-fen sind, die darauf beruht, dass Aristoteles meinen knnte, der Hassende emp-finde nicht in derselben Weise Schmerz wie der Zrnende; ein Unterschied zwi-schen dem Hassenden und dem Zrnenden in dieser Hinsicht ergibt sich nmlichschon daraus, dass der Zrnende immer selbst von bestimmten Handlungsweiseneines anderen betroffen ist, whrend der Hass ohne persnliche Betroffenheit,allein aufgrund einer bestimmten allgemeinen Eigenschaft, hervorgerufen werdenkann. Richtig ist daher in jedem Fall zu sagen, dass der Hass nicht wie der Zorn dasErgebnis eines schmerzlichen Zustandes ist, der einem von einem anderen zuge-fgt wurde. Aber insofern der Hass wie die Freundesliebe eine Art von Wn-schen/Wollen ist (in Analogie zur Freundesliebe wnscht man nmlich beim Hassdem anderen das, was man fr ein bel hlt), mssten die mit der Erfllung oderEnttuschung solcher Wnsche gegebenen Lust-/Schmerzempfindungen auchbeim Hassenden anzutreffen sein.

    Emotionen als gemeinsame Zustnde von Seele und Krper: In De Anima I 1begrndet Aristoteles seine These, dass es Zustnde gibt, die dem Krper und derSeele gemeinsam sind, anhand Aer path; vgl. 403al6-27:

    Es scheinen aber auch alle path zusammen mit dem Krper zu bestehen:Zorn, Sanftmut, Furcht, Mitleid, Zuversicht, ferner Freude und das Lieben undHassen. Denn zugleich mit diesen erleidet (jtooxeiv) der Krper etwas. [ErstesIndiz] Das zeigt sich daran, dass manchmal [La] starke und klare Jtat)fj(xaxa(Widerfahrnisse, Erlebnisse) bestehen, ohne dass man erregt wird oder sichfrchtet, [i.b] manchmal aber von kleinen und undeutlichen bewegt wird, wennder Krper zrnt und in einem Zustand ist, wie wenn er zrnte. [Zweites Indiz]

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  • Die.Emotionen' 551

    Noch deutlicher ist dies: [ii] ohne dass etwas Furchterregendes vorliegt, gertman in diejenigen path, die man erlebt, wenn man sich frchtet. Wenn sich dasaber so verhlt, dann ist klar, dass die path in der Materie befindliche Begriffe(Xoyoi evuXoi) sind. Daher werden ihre Definitionen wie folgt sein: Das Zr-nen ist eine Art von Bewegung/Vernderung (xivnoic) des so-und-so beschaf-fenen Krpers

    -

    oder eines Teils oder einer Fhigkeit (von diesem)-

    aufgrunddieser-und-jener Ursache und zu diesem-und-jenem Zweck."

    Die These des Abschnitts ist, dass die Emotionen (obschon man hierbei von pathder Seele' spricht), sowohl der Seele als auch dem Krper zukommen, d.h. dass siegeeignete seelische und geeignete krperliche Vorgnge voraussetzen; das beweistAristoteles durch folgende Konstellationen: [i.a] Manchmal liegen diejenigen seeli-schen Eindrcke vor, die normalerweise eine bestimmte Emotion verursachen,und es kommt dennoch die entsprechende Emotion nicht zustande, weil die kr-perlichen Voraussetzungen fehlen. Wenn z.B. der Zorn eine bestimmte Erhitzungdes Blutes voraussetzt, der Betreffende aber in Anbetracht einer zornerregendenSituation die fr den Zorn erforderliche Krperwrme nicht mitbringt, dann bleibtder Zorn aus, obwohl ein .starker und klarer Eindruck' von einer erlittenen Er-niedrigung durch jemanden, dem es nicht zukommt, vorliegt, [i.b] Umgekehrtkann es sich zutragen, dass ,der Krper zrnt', d. h. dass die krperlichen Voraus-setzungen des Zorns gegeben sind (etwa aufgrund eines vorausgegangenen, zorn-erregenden Ereignisses, oder weil der Krper aus bestimmten physiologischenGrnden die mit dem Zorn verknpften somatischen Vorgnge durchluft), sodass geringfgige und undeutliche Erlebnisse (die mit zornerregenden Konstella-tionen nur entfernte hnlichkeit haben) gengen, um die betreffende Emotionauszulsen. Die beiden Flle zeigen, dass bestimmte seelische Voraussetzungen(z.B. das Erlebnis, der Eindruck einer erlittenen Erniedrigung) und bestimmtekrperliche Voraussetzungen (z.B. das Sieden des Blutes rund ums Herz) zusam-menkommen mssen, damit die betreffende Emotion entsteht. Der Fall [ii.] solldie Krperlichkeit der ,path der Seele' dadurch demonstrieren, dass Emotions-analoge Erlebnisse auch ohne ueren Grund auftreten knnen. Ohne dass derEindruck von einem furchterregenden Ding o.a. vorliegt, verhlt sich der Krperso, als ob er sich frchtete; weil aber ein Gegenstand fehlt, auf den sich diese Ver-nderung richten knnte, ist der Zustand nur so, wie .wenn man sich frchtet'.Vgl. dazu folgende Darstellung aus Thomas Manns Der Zauberberg-. Man konntejetzt nicht mehr sagen, dass es (Hans Castorps Herz) auf eigene Hand, grundlosund ohne Zusammenhang mit der Seele klopfte. Ein solcher Zusammenhang warvorhanden oder doch unschwer herzustellen; eine rechtfertigende Gemtsbewe-gung lie sich der exaltierten Krperttigkeit zwanglos unterlegen. Han