Aschenputtel und Perlenketten · Indras Pearls — The vision of Felix Klein (Da-vid Mumford,...

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Aschenputtel und Perlenketten — so etwas wie eine Buchbesprechung — urgen Richter-Gebert, TU M¨ unchen 21. Februar 2004 Selten erf ¨ ullte mich das Erscheinen eines Ma- thematikbuches schon beim Anblick des Co- vers mit einer gewis- sen Euphorie. Indras Pearls The vision of Felix Klein (Da- vid Mumford, Caroline Series, David Wrigth). Neben dem viel ver- sprechenden Titel und Untertitel, waren es vor allen Dingen zwei Schl¨ usselreize, die meine Auf- merksamkeit erregten. Erstens: Das Titelbild zeigte ein Bild, das sehr viel ¨ Ahnlichkeit mit Bildern hat- te, die ich zuvor bei Computerexperimenten selbst er- zeugt hatte, die mich faszinierten und deren Zustan- dekommen ich nie so recht verstanden hatte. Zwei- tens: Dass in diesem Zusammenhang bereits im Un- tertitel des Buches der Name Felix Klein auftauch- te fand ich bemerkenswert, stellten doch Kleins Ar- beiten eine wichtige Grundlage f¨ ur das Programm dar, mit dessen Hilfe ich die fraglichen Bilder er- zeugt hatte. Kurz gesagt: Das Buch versprach Auf- kl¨ arung. Ein Eindruck, der sich beim Hineinbl¨ attern nur noch verst¨ arkte, phantastische Illustrationen, ge- paart mit anscheinend fundierten mathematischen Er- kl¨ arungen. Pr¨ asentiert in einer Weise, die offensicht- lich recht zug¨ anglich war und den Versuch wagt das allgemeine Verst¨ andnis ¨ uber einen streng formalen Aufbau zu stellen. Dieser Artikel soll ¨ uber meine Erlebnisse und Erfahrungen im Zusammenspiel von Indras Pearls und dem dynamischen Geometriepro- gramm Cinderella berichten. A B C Abbildung 1: Winkelhalbierende in Bewegung 1 Zur Vorgeschichte Gemeinsam mit meinem Co-Autor Ulrich Korten- kamp entwickle ich nun seit einigen Jahren das dy- namische Geometrieprogramm Cinderellauber wel- ches an anderer Stelle der DMV Mitteilungen bereits berichtet wurde. Es geht dabei darum ein Programm zu kreieren, mit dessen Hilfe man Geometrie experi- mentell, spielerich und dennoch exakt erfahren kann. Mit der Maus werden (mehr oder weniger) elementa- re geometrische Konstruktionen auf dem Bildschirm angefertigt; ist man mit einer Konstruktion fertig, so kann man die freien Basis-Elemente der Konstruktion immer noch bewegen, der Rest der Konstruktion be- wegt sich entsprechend der Konstruktionsvorschriften konsistent mit. Auf diese Weise kann man ¨ uber eine geometrische Konstruktion wesentlich mehr Informa- tionen und intuitive Zusammenh¨ ange entnehmen als bei einer rein statischen Zeichnung (Abb. 1). Unse- re Zielsetzung ist es dabei, wenn immer es n¨ otig er- scheint, fortgeschrittene mathematische Konzepte zu implementieren, die letztlich garantieren, dass sich im 1

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Aschenputtel und Perlenketten— so etwas wie eine Buchbesprechung —

Jurgen Richter-Gebert, TU Munchen

21. Februar 2004

Selten erfullte mich dasErscheinen eines Ma-thematikbuches schonbeim Anblick des Co-vers mit einer gewis-sen Euphorie. IndrasPearls — The visionof Felix Klein (Da-vid Mumford, CarolineSeries, David Wrigth).Neben dem viel ver-sprechenden Titel undUntertitel, waren es vor

allen Dingen zwei Schlusselreize, die meine Auf-merksamkeit erregten. Erstens: Das Titelbild zeigteein Bild, das sehr viel Ahnlichkeit mit Bildern hat-te, die ich zuvor bei Computerexperimenten selbst er-zeugt hatte, die mich faszinierten und deren Zustan-dekommen ich nie so recht verstanden hatte. Zwei-tens: Dass in diesem Zusammenhang bereits im Un-tertitel des Buches der Name Felix Klein auftauch-te fand ich bemerkenswert, stellten doch Kleins Ar-beiten eine wichtige Grundlage fur das Programmdar, mit dessen Hilfe ich die fraglichen Bilder er-zeugt hatte. Kurz gesagt: Das Buch versprach Auf-klarung. Ein Eindruck, der sich beim Hineinblatternnur noch verstarkte, phantastische Illustrationen, ge-paart mit anscheinend fundierten mathematischen Er-klarungen. Prasentiert in einer Weise, die offensicht-lich recht zuganglich war und den Versuch wagt dasallgemeine Verstandnis uber einen streng formalenAufbau zu stellen. Dieser Artikel soll uber meineErlebnisse und Erfahrungen im Zusammenspiel vonIndras Pearls und dem dynamischen Geometriepro-gramm Cinderella berichten.

A B

C

Abbildung 1: Winkelhalbierende in Bewegung

1 Zur Vorgeschichte

Gemeinsam mit meinem Co-Autor Ulrich Korten-kamp entwickle ich nun seit einigen Jahren das dy-namische Geometrieprogramm Cinderella, uber wel-ches an anderer Stelle der DMV Mitteilungen bereitsberichtet wurde. Es geht dabei darum ein Programmzu kreieren, mit dessen Hilfe man Geometrie experi-mentell, spielerich und dennoch exakt erfahren kann.Mit der Maus werden (mehr oder weniger) elementa-re geometrische Konstruktionen auf dem Bildschirmangefertigt; ist man mit einer Konstruktion fertig, sokann man die freien Basis-Elemente der Konstruktionimmer noch bewegen, der Rest der Konstruktion be-wegt sich entsprechend der Konstruktionsvorschriftenkonsistent mit. Auf diese Weise kann man uber einegeometrische Konstruktion wesentlich mehr Informa-tionen und intuitive Zusammenhange entnehmen alsbei einer rein statischen Zeichnung (Abb. 1). Unse-re Zielsetzung ist es dabei, wenn immer es notig er-scheint, fortgeschrittene mathematische Konzepte zuimplementieren, die letztlich garantieren, dass sich im

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Idealfall die Objekte auf dem Bildschirm verhaltenwie ”reale Objekte” in einem fiktiven geometrischenUniversum, in dem alle Zusammenhange mathema-tisch fundiert und korrekt sind. So ist es kein Wun-der, dass bei der Implementierung des ProgrammesKonzepte wie projektive Geometrie (zur Behandlungvon unendlich fernen Elementen), komplexe Funk-tionentheorie (zum Umwandern geometrischer Singu-laritaten), Cayley-Klein Geometrien (zur Darstellungvon Metriken auch in nicht-euklidischen Geometrien)und automatische Beweistechniken (zum Sauberhal-ten der Datenstruktur) eine große Rolle spielen.

Derzeit arbeiten wir an der Implementierung einerneuen Version, die (unter anderem) als ein wesentli-ches Feature den Umgang mit Transformationen undTransformationsgruppen gestattet. In diesem Rahmenist es auch moglich sich zu einer gegebenen Mengevon Transformationen ein Iteriertes Funktionen Sy-stem (IFS) zeichnen zu lassen. Solch ein IFS ist in derRegel ein Fraktal, welches gleichzeitig selbstahnlichunter allen erzeugenden Transformationen ist. Als ichnun im Sommer 2002 mit der Implementierung vonKreisinversionen und Mobius-Transformationen fer-tig war, reichlich ubermudet nach einer programmier-intensiven Nacht, probierte ich spaßeshalber aus, wiewohl ein IFS von zwei Inversionen am Kreis ausse-hen wurde. Erstaunlicherweise ergab sich als Figurnichts anderes als eine Punktwolke, die im Wesent-lichen einen Dritten Kreis senkrecht auf den beidenErsten bildete. Beim zweiten Hinsehen war dies auchnicht weiter erstaunlich, da ein Kreis A der senkrechtauf einem Kreis B steht unter Inversion an B invariantbleibt. Also, neuer Versuch – drei Kreise! Hier ergabsich auch nicht allzu viel Spannendes. Fur bestimmteLagen ergaben sich recht chaotisch aussehende Punk-tewolken, fur andere Lagen ergab sich ein Kreis, dersenkrecht auf den drei anderen stand. Noch ein Ver-such – vier Kreise! Auch hier sahen die anfanglichenBilder nicht sehr viel versprechend aus. Fur bestimm-te (gar nicht so seltene) Positionen der Kreise zeich-neten sich jedoch schemenhaft strukturierte Musterab, bei denen kreisformige Locher in der Punktewol-ke mehr oder weniger deutlich zu Tage traten. DerVerdacht bestatigte sich, als ich die Inversionskreisein annahernd symmetrische Lage zueinander brachte,und das IFS das Muster einer hochgradig strukturier-ten, rekursiven Kreispackung annahm (Abb. 2). Mirwar zwar klar, dass diese Figur unter den vier Kreisin-

Abbildung 2: Vom Chaos zur Ordnung. Furviele Lagen der Kreise ergeben sich nur un-geordnete Punktwolken, in bestimmten Be-reichen tretten plotzlich kreisformige Struk-turen und Locher auf, bei speziellen lagenist das IFS eine hochgradig strukturierteKreispackung.

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versionen invariant war. Es war mir aber ein vollkom-menes Ratsel wie man solche Bilder gezielt erzeigenund kontrollieren konnte, bzw. durch welche Mecha-nismen es letztendlich zustande kam.

Grenzpunkte und Iterierte Funktionen Syste-me Eine Menge {T1,T2, . . . ,Tn} von kontrahieren-den geometrischen Transformationen auf einemvollstandigem Metrischen Raum nennt man ein Ite-riertes Funktionen System. Fur jedes endliche Wortω im Alphabet {1, . . . ,n} hat die Hintereinander-ausfuhrung Tω = Tω1 ◦Tω1 ◦ . . .◦Tωk einen eindeuti-gen Fixpunkt (auch Grenzpunkt genannt). Die Ver-einigung aller solcher Fixpunte ist der Attraktoroder die Grenzmenge des IFS. Der Attraktor hat dieEigenschaft selbstahnlich unter allen Transforma-tionen T1,T2, . . . ,Tn zu sein. Auf einem Computerlassen sich derartige Attraktoren visuell dadurchgenerieren, dass man nach Wahl eines beliebigenStartpunktes gemaß einer randomisierten Reihen-folge die Transformationen iteriert und nach jederIteration den Bildpunkt zeichnet. Mit Wahrschein-lichkeit 1 erzeugt man dabei in jeder ε-Umgebungeines Grenzpunktes einen Bildpunkt.

2 Kleins Visionen

Vor rund 100 Jahren studierte Felix Klein gemeinsammit Robert Fricke die ”Theorie automorpher Funk-tionen”. In den sehr ausfuhrlichen Untersuchungenging es unter anderem darum, eine Systematik diskre-ter Transformationsgruppen (z.B. Klein’schen Grup-pen oder Fuchs’schen Gruppen), zu entwickeln. Ineinem sehr umfangreichen mehrbandigem Werk (beidem bereits der erste Band 634 Seiten fasst) wirdversucht unter konsequenter Einbeziehung projekti-ver und funktionetheoretischer Blickweisen die da-

Abbildung 3: Bahn eines Punktes und ei-nes Kreises unter einer typischen loxodro-mischen Transforamtion.

mals noch recht frisch bekannt gewordenen Erkennt-nisse der Gruppentheorie auf geometrische Transfor-mationen anzuwenden. Die betrachteten Transforma-tionen sind dabei durchweg projektive Transforma-tionen entweder in RP

2 oder in CP1 (In CP

1 sinddies ubrigens genau die Mobius-Transformationen).Beide Raume konnen im Wesentlichen als kompak-tifiziertes Abbild der normalen Zeichenebene aufge-fasst werden, jedoch mit unterschiedlichen Kompati-fizierungen. Bei RP

2 wird eine ganze reelle projekti-ve Gerade als Gerade im Unendlichen hinzugenom-men und man erhalt die projektive Ebene. Bei CP

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hingegen wird der Abschluss durch das Hinzufugeneines einzelnen, unendlich fernen Punktes erreichtund man erhalt die Riemann’sche Zahlenkugel. Eini-ge der in beiden Raumen betrachteten Abbildungenlassen sich im Bereich der Zeichenebene miteinanderidentifizieren (dies sind genau die euklidischen Ab-bildungen). Sowohl mathematisch als auch asthetischausgesprochen interessant sind die so genannten lox-odromischen Transformationen in CP

1. Dies sind dieMobius-Transformationen M, bei denen die Bahn ei-nes Punktes unter iterierter Anwendung von M nichtauf einer kreisformigen oder geradlinigen Bahn liegt(Abb 3).

Im dritten Kapitel des ersten Bandes (also ab Seite399) werden dort auch diskrete Gruppen betrachtet,die durch geeignete Verkettung von Kreisinversionenin CP

1 erzeugt werden, und es werden deren Grenz-punktmengen studiert. Klein und Fricke schreiben:

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Abbildung 4: Wie gut konnten Klein und Fricke zeichnen? In der obigen Originalzeichnungist eine iterierte Inversion an vier tangentialen Kreisen angedeutet, gemeinsam mit der Lageder Grenzlinie. Das daruber konstruierte Computerbild zeigt, dass die Lage der Kreise fast ex-akt getroffen wurde. Die grobe Lage der Grenzkurve wurde auch sehr gut erfasst, wohingegeneinige wesentliche selbstahnliche Eigenschaften der Grenzkurve nur unzureichend wiederge-geben wurden.

Um endlich noch eine directe, abernaturlich sehr unvollkommene Anschauungder Grenzkurve G zu geben, ist umstehendin Figur 145 ein besonderes Vierecknetzunserer Art gezeichnet und innerhalb deroffen gelassenen Kreise der ungefahreVerlauf der Grenzkurve angedeutet

Das in diesem Zitat erwahnte ”Vierecksnetz” beziehtsich auf die Tatsache, dass in besagter Abbildung ei-ne Gruppe dargestellt wird, die durch Inversion anvier Kreisen erzeugt wird. Ferner sind in Kleins Bei-spiel die vier Kreise derart gewahlt, dass sich an vierStellen Tangentialitaten ergeben, die Kreise somit einringformiges Gebilde formen. Dies ist genau die Be-dingung, die dafur verantworlich ist, dass die Attrak-tormenge in der Tat eine Kurve ist und nicht in eineMenge disjunkter Punkte zerfallt (Abb. 4).

3 Was leistet Indras Pearls

In gewisser Weise beschaftigt sich das Buch IndrasPearls mit der Frage ”Was ware passiert, wenn Klein

und Fricke einen Computer gehabt hatten?” Konkretwidmet sich Indras Pearls auf systematische Weiseder Untersuchung von Grenzpunktmengen von vierMobiustransformationen A, A−1, B und B−1. Hier-bei wird die von A and B erzeugte Gruppe 〈A,B〉betrachtet. Jedes Gruppenelement in 〈A,B〉 ist selbstwieder eine Mobiustransformation und hat einen at-traktiven Fixpunkt. Die Menge all dieser Fixpunk-te ist die fragliche Grenzpunktmenge. Indras Pearlswidmet sich nun ausschließlich der Frage, wie die-se (von nur acht komplexen Parametern abhangen-den) Fixpunktmengen aussehen. Zunachst stellt manfest, dass man im generischen Fall lediglich einen un-strukturierten und chaotischen Punktehaufen erhaltenwird, der dicht in der Ebene liegt. Dies passiert immerwenn A und B nicht gewisse Kontraktionseigenschaf-ten erfullen. Eine nicht-dichte Punktemenge erhaltman, wenn es sich bei 〈A,B〉 um eine so genannteSchottky Gruppe handelt. Diese ist charakterisiert da-durch, dass vier Kreisscheiben cA,cB,cA−1 ,cB−1 exi-stieren, so dass A die das Außere der Scheibe c−1

A bi-jektiv auf das Innere von cA abbildet, und Entspre-chendes fur B und die anderen beiden Kreisscheibengilt. Sind die Kreisscheiben disjunkt (und beruhren

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Abbildung 5: Abbildung aus Indras Pearls.”Fraktaler Staub”.

sich nicht), so ist die Fixpunktmenge total unzusam-menhangend, was die Autoren als ”fraktaler Staub”beschreiben. Die Gruppe 〈A,B〉 ist in diesem Fallefrei. Interessant wird die Situation, wenn man vondisjunkten Scheiben zu eine Beruhrsituation ubergehtund wenn fur A und B zusatzlich einige Nebenbe-dingungen erfullt sind. Beruhren sich die Kreispaare(cA,cB),(cB,cA−1),(cA−1 ,cB−1),(cB−1 ,cA) und sind zu-dem die Beruhrpunkte Fixpunkte der KompositionenABA−1B−1, BA−1B−1A, A−1B−1AB, und B−1ABA−1

(in dieser Reihenfolge), so hat die Grenzpunktmen-ge eine bemerkenswerte geometrische Eigenschaft:sie ist topologisch aquivalent zu einer geschlossenenKreislinie. Dies ist genau die Situation, die in der imletzten Abschnitt behandelten Zeichnung von Frickeund Kein vorliegt. Kapitel 6 bis 10 (der Hauptteil desBuches) beschaftigt sich genau mit der Analyse derFormen dieser Kurven.

Dies klingt zunachst nach einem nicht zu komplizier-ten Unterfangen. Betrachtet man allein die Freiheit-grade der untersuchten Objekte, so stellt man fest,dass unter Berucksichtigung aller Randbedingungenund bis auf komplexe projektive Aquivalenz genauzwei komplexe Freiheitsgrade ubrig bleiben. Es ist ei-ne uberaus uberraschende Tatsache, welche Formen-vielfalt sich in der bewußten Kontrolle dieser beiden

Parameter verbirgt.

An dieser Stelle sind die Leistungen der Autorenaus mehreren Grunden hervorzuheben. Erstens ge-lingt es ihnen in den ersten Kapiteln eine uberausverstandliche und elementare Einfuhrung in die The-matik zu geben, die, angefangen bei Symmetrien undSymmetriegruppen, uber Projektive- und Mobius-Transformationen bis hin zu notwendigen Begriffender Topologie, Maßtheorie und der Riemann’schenFlachen den Leser an die Thematik heranfuhrt (Ka-pitel 1-3). Der mathematisch vorgebildete Leserkann diese Kapitel getrost uberschlagen, wenngleichderen Lekture durchaus angenehm ist. Der weni-ger vorgebildete Leser erhalt alles an notwendigemRustzeug, um den nun folgenden durchaus nicht tri-vialen Ausfuhrungen gut folgen zu konnen. Zwei-tens ist das Buch eines der schonsten mir bekanntenBeispiele fur die Veranschaulichung der Mathematikinnewohnenden Asthetik. Die Abbildungen gehorenmithin zu den qualitativ hochwertigsten Visualisie-rungen von mathematischen Strukturen, die derzeiterhaltlich sind. Jeder der einmal versucht hat ver-gleichbare Bilder zu produzieren weiss wie schwierigdas ist.

Abbildung 6: Abbildung aus Indras Pearls.Eine einfach geschlossene Kurve! Die At-traktorenmenge weist faszinierende struk-turelle Eigenschaften und Selbstahnlichkei-ten auf.

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Der dritte Punkt, den ich hier hervorheben mochte,verdient besondere Beachtung, denn er verknupft aufwunderschone Weise die zu Grunde liegende Mathe-matik und die dargebotene Visualisierung:

Das Buch behandelt sehr ausfuhrlich die Frage wie er-zeugt man solche Bilder? Hierbei wird klar, dass dasGenerieren der Bilder (die pixelgenau bis an die Gren-zen des durch die Druckerqualitat Darstellbaren ge-rechnet sind) die tiefe Kenntnis der dahinter liegendenMathematik erfordert. Das grobe Prinzip der Erzeu-gung ist dabei das folgende: Jedem unendlichen Wortim Alphabet {A,B,a−1

,B−1} entspricht ein Punkt derFixpunktmenge. Hierbei spiegelt eine gewisse Varian-te der lexikographischen Ordnung der Worter genaudie Nachbarschaftsbeziehungen der Kurve wieder (inanaloger Weise, wie die lexikographische Ordnungder Kommazahlen in Dezimaldarstellung die Nach-barschaftsbeziehungen auf der Zahlengerade wieder-spiegeln). Die Grenzpunkte der periodischen unendli-chen Worter dieses Alphabets liegen hierbei dicht inder Menge aller Grenzpunkte (analog dazu, wie dieperiodischen Dezimalbruche dicht in der Menge derreellen Zahlen liegen). Um eine Kurve wie in den Ab-bildungen 5 oder 6 dieses Artikels zu erzeugen mussman also lediglich ”viele” derartige Grenzpunkte be-rechnen und ”in der richtigen Reihenfolge” miteinan-der durch Strecken verbinden. Der Abstand benach-barter Punkte sollte hierbei so gering sein, dass derEindruck einer (fraktalen) Kurve entsteht.

Das Problem ist hierbei weder die Erzeugung desGrenzpunktes der zu einem periodischem Wort gehort(dies ist nur ein Eigenwertproblem), noch das Ver-binden in der richtigen Reihenfolge (die ist ja durchdie Variante der lexikographische Ordnung gegeben).Das eigentliche Problem liegt darin, nicht zu wenigeund nicht zu viele Punkte zu erzeugen, um einerseitsden Detailreichtum der Kurve zu gewahrleisten, an-dererseits in vertretbarem Zeitrahmen fertig zu wer-den. Dies ist keine leichte Aufgabe, und wird von denmeisten ”naiven” Algorithmen fur Grenzpunktmen-gen (wie z.B. dem im Kasten beschriebenen randomi-sierten IFS Algorithmus, der auch in Cinderella im-plementiert ist) in keiner Weise erfullt. Ein Blick aufdie mit Cinderella erzeugte Abbildung 7 macht klar,wo das Problem liegt. Das Bild wurde kunstlich durchdas Hinterlegen von Blauen Kreisen ”geschont”. Dieeigentlichen vom IFS Algorithmus erzeugten Grenz-punkte sind rot und gelb. Am unteren Rand der Ab-

bildung erkennt man, dass sich das IFS optisch nichtschließt, obwohl dies der mathematischen Realitatentsprechen wurde.

Abbildung 7: Grenzkurve in der sehr spezi-ellen Situation, in der die Schottky Kreisean sechs Punkten tangential sind, zusam-men mir einer Ausschnittsvergroßerung derMitte.

Tatsachlich, wenn man nur lange genug (wohl eini-ge Jahre) warten wurde, dann wurde sich auch dieseStelle des Bildes langsam mit gelben Punkten fullen.Worter, die Punkten an diesen Stellen der Grenz-punktmenge entsprechen, sind sehr speziell: Es mussdie gleiche Transformation sehr haufig hintereinan-der ausgefuhrt werden. Die Wahrscheinlichkeit einen

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Abbildung 8: Einige Ausschnittsvergroßerungen bei speziellen Wahlen der Parameter

Punkt am untersten Rand des Bildes in einer gewissenZeitspanne zu erzeugen sinkt exponentiell je weiterman sich dem Rand nahert. Dies ist derselbe Effekt,wie wenn man versucht beim Munzwerfen hundert-mal hintereinander ”Zahl” zu werfen. Wurde man al-lerdings tatsachlich so lange warten bis sich der Randsichtbar mit gelben Pixeln gefullt hatte, so wurde mandie meiste Rechenzeit damit verbringen Punkte zu er-zeugen, die ohnehin schon getroffen wurden.

Ein guter Algorithmus benotigt also Kontextwissenuber die Konstruktion, die es ihm ermoglicht die Re-kursionstiefe selektiv zu erhohen, wenn immer die Si-tuation des Bildes es erfordert und wieder zu verrin-gern, wenn dies nicht der Fall ist. Die Worter werdenbei Indras Pearls uber einen Tiefensuchenalgorith-

mus erzeugt, welcher gleich die richtige Reihenfolgegewahrleistet. Die Formulierung des Abbruchkriteri-ums erfordert wiederum einige gruppentheoretische,topologische und zahlentheoretische Betrachtungen,in die der Leser aktiv einbezogen wird. Die Metho-den werden im Verlaufe des Buches, wenn die be-trachteten Beispiele immer subtiler und mathematischspannender werden, zunehmend erganzt und verfei-nert. Leider werden im Buch keine konkreten Anga-ben uber Auflosung, Rekursionszeiten und Rechen-zeiten gemacht. Zum Ausgleich wird aber in spe-ziellen Abschnitten des Buches konkreter Pseudo-Programmcode angegeben mit dem man die Algorith-men selbst nachprogrammieren kann. Fur den eher in-formatisch orientierten Leser bietet der Code auch ei-

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ne große Hilfe die mathematischen Hintergrunde imDetail zu verstehen.

Sind erst einmal die Grundprinzipien und die Algo-rithmen erklart, so wird im Buch untersucht, wel-che interessante Effekte sich bei der speziellen Wahlvon Parametern ergeben. Auch hier fließen wiederviele gruppentheoretische, topologische, und zahlen-theoretische Aspekte ein (als Stichworte erscheinenhier Teichmuller Raume, Maskit Slices, u.v.m.), aufdie aber hier nicht eingegangen werden soll. Insbe-sondere werden Bedingungen analysiert unter denenin den Schattenkreisen der Grenzkurven zusatzlicheTangentialitaten entstehen, die sich nicht allein ausder Schottky Eigenschaft erklaren lassen. In gewis-sem Sinne erklart Indras Pearls, genau, wie und mitwelchen Methoden man bestimmte Effekte in denGrenzpunktmengen gezielt erzeugen kann.

4 Unterwegs mit einer Landkarte

Wenngleich die Algorithmen in Indras Pearls um einVielfaches ausgefeilter sind als der IFS Algorithmusder in Cinderella impementiert ist, hat doch Cinderel-la einige entscheidende Vorzuge: Der randomisierteAlgorithmus sorgt dafur, dass die grossraumige Struk-tur des Bildes fur eine konkrete Parameterwahl in Se-kundenbruchteilen sichtbar wird. Diese Eigenschaftpaart sich nun sehr vorteilhaft mit der Moglichkeit einBild durch Ziehen an den Basiselementen interaktivzu verandern, wodurch die Suche nach interessantenKonstellationen zur interaktiven Studie in experimen-teller Mathematik wird. Hinzu kommt die Tatsache,dass sich die ganzen geometrischen Hintergrunde,wie z.B. tangentiale Schottkykreise, direkt geome-trisch konstruieren lassen. Dadurch ist es moglich,vollkommen ohne Programmieraufwand, die Grund-konstellation so zu entwerfen, dass alle gewunsch-ten Beziehungen zwischen den Kreisen konstruktiverzwungen werden. Eine Mobiustransformation lasstsich in Cinderella 2.0 einfach durch Angabe dreierBild/Urbild Punktpaare definieren. Das Erzeugen ei-nes IFS aus einer Transformationenmenge steht direktzur Verfugung. Auf diese Weise kann man die ganzenExperimente in Indras Pearls auf eine direkte geome-trische Weise nachvollziehen. Fur keine der fur die-sen Artikel erzeugten Cinderella Bilder war es notigzusatzlichen Code in Cinderella 2.0 zu implementie-

ren. Dem Vorteil der direkten geometrischen Manipu-lation steht allerdings der Nachteil gegenuber, dass esin der aktuellen Version leider nicht moglich ist, di-rekt die Parameter fur die Mobius-Transformationenanzugeben, was das Nachvollziehen der komplexe-ren Beispiele am Ende des Buches, bei denen ge-naue Zahlenwerte eine große Rolle spielen, etwaserschwert. Dennoch, die Kombination der interakti-ven Moglichkeiten von Cinderella mit den durch In-dras Pearls gelieferten Zusammenhangen stellte ei-ne ideale Kombination dar und vermochte die ein-gangs beschriebenen, eher zufallig gefundenen, Ef-fekte vollstandig zu erklaren (vgl. Abb. 8).

Wie man RP2 und CP

1 verschmilzt: Ein be-sonderes Detailproblem ergab sich bei der Imple-mentation von Mobiustransformationen und Krei-sinversionen in Cinderella. Wie eingangs erwahntist das geometrische Modell hinter Cinderellaim Wesentlichen der RP

2, um das Einbezie-hen von Fernelementen zu ermoglichen. Ande-rerseits sind Mobiustransformationen Transforma-tionen CP

1 → CP1. Aufgrund anderer Randbe-

dingungen, die mit der erwunschten Stetigkeitabhangiger Objekte zusammenhangen, war es not-wendig Mobiustransformationen als analytischeFunktionen RP

2 auszudrucken. Diese Abbildungensollen auf dem Gebiet auf dem CP

1 und RP2 iden-

tifiziert werden, nicht degeneriert sein. Obwohl essich bei Mobiusabbildungen nicht um projektiveAbbildungen des RP

2 handelt, ist dies dennoch ex-trem elegant moglich. Jede beliebige Mobiustrans-formation kann namlich fur geeignete Wahl von3×3 Matrizen A und B in der Form

p 7→ Ap×Bp

dargestellt werden, wobei p die homogenen Ko-ordinaten eines Punktes in RP

2 sind. Da Matri-zen A und B mussen hierbei allerdings sehr spe-zielle Form haben. Lasst man allgemeine derarti-ge Transformationen zu, erhalt man projektiv ver-zerrte Mobiustransformationen, bzw. projektiv ver-zerrte Kreisinversionen (also Inversionen am einemKegelschnitt).

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Abbildung 9: Metamorphosen eines Sirpin-ski Dreiecks.

5 Neue Pflanzen am Wegesrand

Tritt man einen Schritt zuruck, so kann man aus In-dras Pearls (unter anderem) zwei Meta-Lehren zie-hen. Erstens: Mobiustransformationen bergen ein im-menses asthetisches Potential. Zweitens: In der Nahevon leicht verstehbaren, relativ einfachen Fraktalenliegen oftmals ausgesprochen interessante Variatio-nen dieser Objekte. Abschließend wollen wir kurz an-deuten wie man mit einer solchen Philosophie interes-sante Bilder erzeugen kann. Nehmen wir als Beispielein Sirpinski Dreieck (Abb. 9). Dieses lasst sich ein-fach als IFS erzeugen indem man mit einem Gleich-seitigem Dreieck startet und drei Kontraktionen inRichtung der Ecken als erzeugende Abbildungen her-nimmt. Diese lassen sich aber auch als Mobius Trans-formationen auffassen. In der nebenstehenden Abbil-dung sind diese Abbildungen durch die folgenden Ur-bild/Bild Paare gegeben: (A 7→ A,D 7→ B,F 7→ C),(D 7→D,F 7→E,A 7→B) und (F 7→ F,A 7→C,D 7→E).Variiert man nun die Lage der Punkte, so ergeben sichbereits in relativ naher Umgebung der Ausgangslagefaszinierende Grenzgebilde.

Abbildung 10 zeigt eine weitere Struktur, die sichaus nur zwei Mobiustransformationen (ohne deren In-verses) ergibt. Die verschiedenen Bilder spiegeln le-diglich verschiedene Positionen der Ausgangspunktewieder.

6 Webtips

Uber Indras Pearls gibt es mittlerweile aufdem Internet einiges an interessantem Materi-al. Zu erwahnen ist hierbei insbesondere dievon den Autoren betriebene Buchhomepagehttp://klein.math.okstate.edu/IndrasPearls.Dort gibt es neben vielen spektakularen Graphikenauch insbesondere Filme zum Herunterladen,die sich stetig verandernde Grenzkurven zei-gen. Man kann dort auch den FORTRAN-Codefur die Programme finden. Auch bemerkens-wert ist eine durch Indras Pearls inspirierte Seitedes Mathematikkunstlers Jos Ley, wo man ei-nige qualitativ hochwertige Darstellungen (auch3D) von Grenzpunktmengen finden kann (siehehttp://www.josleys.com/creatures42.htm bishttp://www.josleys.com/creatures47.htm).

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Abbildung 10: Ein IFS bestehend aus nur zwei Mobius Transformationen ist in der Lage die obigenGrenzpunktmengen zu erzeugen.

Unter http://www.cinderella.de/Indra kannman die in diesem Artikel verwendeten Bilder (undweitere) herunterladen. Es gibt dort auch einigeSeiten zum interaktiven Experimentieren mit den hierbeschriebenen Fraktalen.

Literatur

[1] R. FRICKE & F. KLEIN, Vorlesungen uber die Theorie Au-tomorpher Funktionen, Bd. 1, Leipzig 1897.

[2] D. MUMFORD, C. SERIES & D. WRIGHT, Indras Pearls –the vision of Felix Klein, Cambridge University Press 2002.

[3] J. RICHTER-GEBERT & U. KORTENKAMP, Cinderella -The interactive geometry software, Springer 1999; see alsohttp://www.cinderella.de.

Jurgen Richter-GebertTU Muchen, Zentrum MathematikBoltzmannstr. 3, D-85747 Garching

e-mail: [email protected]