Atmender Betrieb durch Gestaltung der Arbeitszeit - Möglichkeiten und Grenzen

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Artikel 2/2011 – 1 HINTERGRUND ARBEITSZEITGEWINN Atmender Betrieb durch Gestaltung der Arbeitszeit – Möglichkeiten und Grenzen Projektverbund: Arbeitszeit ist in Deutschland ein teures Gut. Für Wirtschaftsbetriebe ist daher schon jetzt der Bedarf an aktiver, professi- oneller Arbeitszeitgestaltung groß – um Kapazität und Produktivität generell zu steigern und um Kapazität flexibel an Kundennachfrage anpassen zu können. >>> Einleitung Zusätzlich werden die drei im Folgenden beschriebenen Trends Globalisierung, demographische Entwicklung und Wertewandel den Bedarf an Arbeitszeitgestaltung weiter erhöhen (3): Durch die Globalisierung steigt der Konkurrenz- druck, da in der vernetzten Welt Konkurrenzpro- dukte und Konkurrenzdienstleistungen rund um die Uhr und zu wettbewerbsfähigen Preisen zur Verfü- gung stehen. In Folge müssen auch hiesige Unter- nehmen ihre Dienst- und Betriebszeiten ausdeh- nen. Die demographische Entwicklung führt zumindest in Westeuropa zu schrumpfender und älterer Be- völkerung. Bereits heute resultiert hieraus ein Mangel an qualifizierten Fach- und Führungskräf- ten. Mit passenden Arbeitszeitmodellen, Teilzeitar- beit oder Lebenszeitarbeit zum Beispiel, lassen sich neue Arbeitszeitpotenziale erschließen. Mit dem Wertewandel schließlich wächst der Mit- arbeiterwunsch nach Individualisierung. Fremdbe- stimmtes Arbeiten wird weniger werden, selbstbe- stimmtes Arbeiten und Work-Life-Balance werden Mitarbeitern wichtiger. Unternehmen können sich hier im sogenannten Kampf um die besten Köpfe als attraktive Arbeitgeber positionieren, indem ihre Arbeitszeitmodelle den Mitarbeitern eine flexiblere und individuellere Lebensführung ermöglichen. Die vorliegende Arbeit soll Inhabern und Geschäftsfüh- rern von Wirtschaftsbetrieben einen aktuellen und pragmatischen Überblick geben, wie sie durch Gestal- tung der Arbeitszeit ihr Unternehmen weiter entwickeln können. Hierzu werden besonders die folgenden Fra- gen beantwortet: Welche Möglichkeiten gibt es, durch Änderung der Arbeitszeitmodelle Kapazität und Produk- tivität zu erhöhen und flexibel auf variable Kundennach- frage zu reagieren? Welche Grenzen müssen dabei berücksichtigt werden, um beispielsweise die Gesund- heit der Mitarbeiter zu fördern oder mindestens nicht zu beeinträchtigen? Da die vorliegende Arbeit einen grundsätzlichen und praktikablen Überblick zum Ziel hat, sind die einzelnen Arbeitszeitmodelle sowie die heranzuziehenden Gesetze und Paragraphen nur grundsätzlich und nicht im Detail genannt oder be- schrieben. Die Beschaffung der hier verwendeten Informationen erfolgt durch Auswertung von Primär- und Sekundärlite- ratur. Im folgenden zweiten Kapitel wird anhand eines Praxisbeispiels beschrieben, wie die Volkswagen AG mit der sogenannten atmenden Fabrik Pionierarbeit in Sachen Arbeitszeitflexibilisierung geleistet hat. Kapitel 3 beschreibt die Möglichkeiten der Arbeitszeitgestaltung und ihren jeweiligen Nutzen, während Kapitel 4 die Grenzen der Arbeitszeitflexibilisierung darlegt. Ab- schließend folgt in Kapitel 5 das Resümee. >>> Pionier VW: Die atmende Fabrik >>> Atmende Fabrik Im Jahr 1994 bestand in der Volkswagen AG ange- sichts einer tiefen Absatzkrise in der Automobilindustrie ein Personalüberhang von etwa 20.000 Beschäftigten (5). Um u.a. auf Kündigungen und Werksschließungen verzichten zu können, entwarf der damalige VW- Arbeitsdirektor Peter Hartz die Konzeption der atmen- den Fabrik. Das wesentliche Element der atmenden Fabrik waren und sind hochflexible Arbeitszeitmodelle, die sich am Nachfrageverhalten der Kunden ausrichten. So wurde bei VW „die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit ab Janu- ar 1994 von 36 Stunden auf 28,8 Stunden in der Woche … reduziert. Verbunden war dies mit einer Reduzierung

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Die vorliegende Arbeit soll Inhabern und Geschäftsführern von Wirtschaftsbetrieben einen aktuellen und pragmatischen Überblick geben, wie sie durch Gestaltung der Arbeitszeit ihr Unternehmen weiter entwickeln können. Hierzu werden besonders die folgenden Fragen beantwortet: Welche Möglichkeiten gibt es, durch Änderung der Arbeitszeitmodelle Kapazität und Produktivität zu erhöhen und flexibel auf variable Kundennachfrage zu reagieren? Welche Grenzen müssen dabei berücksichtigt werden, um beispielsweise die Gesundheit der Mitarbeiter zu fördern oder mindestens nicht zu beeinträchtigen? Da die vorliegende Arbeit einen grundsätzlichen und praktikablen Überblick zum Ziel hat, sind die einzelnen Arbeitszeitmodelle sowie die heranzuziehenden Gesetze und Paragraphen nur grundsätzlich und nicht im Detail genannt oder beschrieben.

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HINTERGRUND ARBEITSZEITGEWINN

Atmender Betrieb durch Gestaltung der

Arbeitszeit – Möglichkeiten und Grenzen

Projektverbund:

Arbeitszeit ist in Deutschland ein teures Gut. Für Wirtschaftsbetriebe ist daher schon jetzt der Bedarf an aktiver, professi-oneller Arbeitszeitgestaltung groß – um Kapazität und Produktivität generell zu steigern und um Kapazität flexibel an Kundennachfrage anpassen zu können.

>>> Einleitung Zusätzlich werden die drei im Folgenden beschriebenen Trends Globalisierung, demographische Entwicklung und Wertewandel den Bedarf an Arbeitszeitgestaltung weiter erhöhen (3): � Durch die Globalisierung steigt der Konkurrenz-

druck, da in der vernetzten Welt Konkurrenzpro-dukte und Konkurrenzdienstleistungen rund um die Uhr und zu wettbewerbsfähigen Preisen zur Verfü-gung stehen. In Folge müssen auch hiesige Unter-nehmen ihre Dienst- und Betriebszeiten ausdeh-nen.

� Die demographische Entwicklung führt zumindest in Westeuropa zu schrumpfender und älterer Be-völkerung. Bereits heute resultiert hieraus ein Mangel an qualifizierten Fach- und Führungskräf-ten. Mit passenden Arbeitszeitmodellen, Teilzeitar-beit oder Lebenszeitarbeit zum Beispiel, lassen sich neue Arbeitszeitpotenziale erschließen.

� Mit dem Wertewandel schließlich wächst der Mit-arbeiterwunsch nach Individualisierung. Fremdbe-stimmtes Arbeiten wird weniger werden, selbstbe-stimmtes Arbeiten und Work-Life-Balance werden Mitarbeitern wichtiger. Unternehmen können sich hier im sogenannten Kampf um die besten Köpfe als attraktive Arbeitgeber positionieren, indem ihre Arbeitszeitmodelle den Mitarbeitern eine flexiblere und individuellere Lebensführung ermöglichen.

Die vorliegende Arbeit soll Inhabern und Geschäftsfüh-rern von Wirtschaftsbetrieben einen aktuellen und pragmatischen Überblick geben, wie sie durch Gestal-tung der Arbeitszeit ihr Unternehmen weiter entwickeln können. Hierzu werden besonders die folgenden Fra-gen beantwortet: Welche Möglichkeiten gibt es, durch Änderung der Arbeitszeitmodelle Kapazität und Produk-

tivität zu erhöhen und flexibel auf variable Kundennach-frage zu reagieren? Welche Grenzen müssen dabei berücksichtigt werden, um beispielsweise die Gesund-heit der Mitarbeiter zu fördern oder mindestens nicht zu beeinträchtigen? Da die vorliegende Arbeit einen grundsätzlichen und praktikablen Überblick zum Ziel hat, sind die einzelnen Arbeitszeitmodelle sowie die heranzuziehenden Gesetze und Paragraphen nur grundsätzlich und nicht im Detail genannt oder be-schrieben. Die Beschaffung der hier verwendeten Informationen erfolgt durch Auswertung von Primär- und Sekundärlite-ratur. Im folgenden zweiten Kapitel wird anhand eines Praxisbeispiels beschrieben, wie die Volkswagen AG mit der sogenannten atmenden Fabrik Pionierarbeit in Sachen Arbeitszeitflexibilisierung geleistet hat. Kapitel 3 beschreibt die Möglichkeiten der Arbeitszeitgestaltung und ihren jeweiligen Nutzen, während Kapitel 4 die Grenzen der Arbeitszeitflexibilisierung darlegt. Ab-schließend folgt in Kapitel 5 das Resümee. >>> Pionier VW: Die atmende Fabrik

>>> Atmende Fabrik Im Jahr 1994 bestand in der Volkswagen AG ange-sichts einer tiefen Absatzkrise in der Automobilindustrie ein Personalüberhang von etwa 20.000 Beschäftigten (5). Um u.a. auf Kündigungen und Werksschließungen verzichten zu können, entwarf der damalige VW-Arbeitsdirektor Peter Hartz die Konzeption der atmen-den Fabrik. Das wesentliche Element der atmenden Fabrik waren und sind hochflexible Arbeitszeitmodelle, die sich am Nachfrageverhalten der Kunden ausrichten. So wurde bei VW „die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit ab Janu-ar 1994 von 36 Stunden auf 28,8 Stunden in der Woche … reduziert. Verbunden war dies mit einer Reduzierung

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des Jahreseinkommens der Beschäftigten. Durch ein kompliziertes Verrechnungs- und Zulagensystem konn-te erreicht werden, dass die monatlichen Vergütungen auf dem Stand von Oktober 1993 unverändert blieben; es entfielen jedoch die Sonderzahlung (13. Monatsent-gelt) und der größte Teil des zusätzlichen Urlaubsgel-des“ (5). Hier erfolgte eine Entkoppelung von Entgelt und Leistungserbringung, der Monatslohn wurde trotz flexiblen Abrufs der Arbeitsleistung nivelliert ausgezahlt (5). 1996 wurde die 4-Tage-Woche zur sogenannten VW-Woche weiterentwickelt: „Im Rahmen der jährlichen Programm- und Arbeitszeitplanung ist es nunmehr nach der neuen Beschäftigungssicherungsvereinbarung möglich, die wöchentliche Arbeitszeit ungleichmäßig über das Jahr zu verteilen und so den unterschiedlichen Auftragsbeständen anzupassen. Die wöchentliche Ar-beitszeit kann innerhalb der Volkswagen-Woche … [von regulär 28,8] auf bis zu 38,8 Stunden pro Woche ver-längert werden, ohne dass Mehrarbeitszuschläge anfal-len“ (5). Weitere Anpassungsmöglichkeiten brachte die Festle-gung einer Flexibilitätskaskade, mittels derer die Kapa-zität bedarfsgerecht wie in Eskalationsstufen erhöht werden konnte: Erst Arbeitsstunden pro Tag erhöhen, dann Schichten pro Tag erhöhen, dann Arbeitstage pro Woche, dann an Samstagen arbeiten lassen, zuletzt Kapazitätsausgleich zwischen Standorten vornehmen (5). „Die Volkswagen-Woche erlaubt, mit dem Markt zu atmen. Sie ermöglicht als Teil der Standort- und Be-schäftigungssicherung eine weitgehend kostenneutrale Arbeitszeitflexibilität. Mit der Volkswagen-Woche sind wir unseren Kunden ein gutes Stück näher gekommen“ (5). >>> Atmender Betrieb Da der Begriff der atmenden Fabrik missverstanden werden könnte als ausschließlich auf Produktion oder Fertigung bezogen, wird in der vorliegenden Arbeit vom atmenden Betrieb gesprochen. Sämtliche im Folgenden getroffenen Aussagen finden sowohl auf Produktions-betriebe als auch auf Dienstleistungsbetriebe ihre volle Anwendbarkeit. >>> Möglichkeiten der Arbeitszeitgestaltung >>> Innere Uhr nutzen Die zunehmende Bedeutung der individuellen Work-Life-Balance sowie wissenschaftliche Erkenntnisse

rücken die sogenannte Innere Uhr des Menschen an die zentrale Stelle jeder Arbeitszeitdiskussion. Im Fol-genden werden die wichtigsten chronobiologischen Erkenntnisse über Tagesrhythmus und Wochenrhyth-mus erläutert. Tagesrhythmus Allein die Zu- und Abnahme zweier Messgrößen im Körper über 24 Stunden hinweg genügen für den Be-weis, dass der Mensch über einen natürlichen täglichen Rhythmus verfügt: die Körpertemperatur und der Hor-monspiegel von schlafinduzierendem Melatonin im Blut (8). „We’re genetically programmed to be awake during the day and to sleep at night. We operate best – physi-cally, mentally, emotionally and spiritually – when we align with that rhythm” (8). Auch die sogenannten An-dechser Versuche haben bewiesen, dass die Menschen über einen natürlichen 25-Stunden-Takt verfügen (12). Die beiden wichtigsten Zeitgeber dieses Rhythmus sind dabei soziale Reize und helles Licht am Morgen (12). Da die Beleuchtung eines vorschriftsmäßig beleuchte-ten Großraumbüros etwa 1.000 Lux aufweist, das natür-liche Licht der Sonne aber eine Lichtstärke von 1.500 bis 100.000 Lux, ist selbst bei Bewölkung oder Nieder-schlag im Winter das Sonnenlicht durch künstliches Licht als Zeitgeber nicht ersetzbar (12). Um also Perso-nalkapazität besser zu nutzen und Produktivität zu stei-gern, ist die wichtigste Maßnahme der Arbeitszeitge-staltung überhaupt, sich die tägliche Innere Uhr der Mitarbeiter zunutze zu machen, soviel Arbeit wie mög-lich am Tag verrichten zu lassen, die Nachtarbeit auf das absolut notwendige Minimum zu beschränken. Wochenrhythmus und Schichtarbeit Wenn unaufschiebbare Kunden- oder Versorgungsbe-darfe, technische Gründe oder Gründe der Anlagenaus-lastung den Verzicht auf Nachtarbeit unmöglich ma-chen, dann ist eine Schichtplanung nach den aktuellen ergonomischen Erkenntnissen einzurichten: Die Anzahl der Nachtschichten in Folge sollte auf maximal drei, besser zwei, optimal eine beschränkt werden: „Schlafen wir ein oder auch zwei Nächte weniger, als unser Opti-mum es vorsieht, können wir das gut kompensieren. Auf Dauer jedoch macht zu wenig Schlaf schlicht und einfach krank“ (12). Das Rollieren der Schichten sollte im Regelfall vorwärts erfolgen, da dies die Pause bei Schichtwechseln verlängert.

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>>> Arbeitsdauer steuern Willingen u.a. stellen fest, dass mit der Arbeitszeitdauer das Risiko gesundheitlicher Beeinträchtigungen, erhöh-ter psychischer Belastungen, kardiovaskulärer Krank-heiten und die Quote von Arbeitsunfällen steigt (11). „Nicht außer acht zu lassen ist … , dass sich mit der Verlängerung von Arbeitszeiten gleichzeitig die Rege-nerationsphasen und Möglichkeiten zu sozialen Kontak-ten, also protektive Faktoren reduzieren. Deutlich wird hier, dass die Forderungen des Arbeitszeitgesetzes (in der Regel 8 Stunden Arbeit pro Tag, Höchstarbeits-grenze 10 Stunden pro Tag, maximale Wochenarbeits-zeit 60 Stunden) in Übereinstimmung mit den For-schungsergebnissen zu gesundheitlichen Folgen über-langer Arbeitszeiten stehen und als vernünftiger Rah-men für gesundheitsgerechte Arbeitszeitgestaltung gelten können“ (11). >>> Pausen steuern Gemäß § 4 des Arbeitszeitgesetzes muss die Arbeit bei einer Arbeitszeit von mehr als 6 Stunden durch eine im Voraus feststehende Ruhepause von mindestens 30 Minuten unterbrochen werden, bei einer Arbeitszeit von mehr als 9 Stunden um mindestens 45 Minuten (2). Studien deuten darauf hin, dass kürzere Arbeitsinterval-le mit kürzeren Pausen vorzuziehen sind gegenüber langen Arbeitsintervallen mit langen Pausen, und dass Pausen tendenziell zu spät gemacht werden. Ein guter Ansatzpunkt ist sicherlich, die Pausen nach Möglichkeit in die Zeiträume zu legen, in denen nach der Inneren Uhr der Mitarbeiter keine Höchstleistungen möglich sind. Der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, dass nach heutigem Stand der Wissenschaft der tägliche Mittags-schlaf von maximal 30 Minuten Länge, „Power Nap“ auf neuhochdeutsch, als sinnvolle Maßnahme angesehen wird. „Unabhängig voneinander stellten alle [beteiligten Forscher] fest, dass Versuchspersonen nach einem Nickerchen bei ihrer Arbeit schneller reagieren, auf-merksamer und konzentrierter arbeiten und besser gelaunt sind als Kollegen ohne Mittagsschlaf, und zwar nachhaltig. Das gilt sogar für ein Schläfchen am frühen Abend direkt vor der Nachtschicht: in diesem Fall ma-chen die Leute in der Nachtschicht weniger Fehler und arbeiten produktiver“ (12). Schlafende Personen im Pausenraum gelten also nicht mehr als Ausdruck über-nächtigter, demotivierter Mitarbeiter, sondern vielmehr als Beweis einer chronobiologisch sensiblen Beleg-schaft.

>>> An individuelle Lebensphasen anpassen: Teilzeit u.a.

Im Laufe seines Arbeitslebens durchläuft ein Mitarbeiter verschiedene Lebensphasen, die vor allem durch seine persönliche und familiäre Situation geprägt sind. So besteht üblicherweise nach der Ausbildung und vor einer eventuellen Elternschaft eine besonders große Leistungsbereitschaft, während zum Beispiel bei Eltern-schaft vor allem junger Kinder oder mit zunehmendem Alter des Mitarbeiters Leistungsbereitschaft und Leis-tungsvermögen des Mitarbeiters sich ändern. Um be-sonders auf die individuellen Lebensphasen von Mitar-beitern eingehen zu können, eignen sich die folgenden Arbeitszeitmodelle: � Teilzeitarbeit:

Laut § 2 Teilzeit- und Befristungsgesetz ist die re-gelmäßige Wochenarbeitszeit kürzer als bei einem vergleichbaren vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmer (9). Dauer und Lage der Arbeitszeit sind individuell vereinbart.

� Job-Sharing: Ein oder mehrere Teilzeit-Mitarbeiter teilen sich ei-nen Arbeitsplatz und die Arbeitszeit.

� Altersteilzeit: Gemäß Altersteilzeitgesetz können Arbeitnehmer ab dem vollendeten 55. Lebensjahr ihre Arbeitszeit auf die Hälfte verringern (1).

>>> An schwankende Nachfrage anpassen:

Jahresarbeitszeit Bei der Jahresarbeitszeit wird die Mitarbeiterkapazität an schwankende Nachfrage im Jahresverlauf ange-passt. Die Entgeltzahlung wird dabei entkoppelt, auf Basis des geplanten Jahresarbeitsanfalls werden zwölf gleiche Monatsbeträge ausgezahlt. >>> Verantwortung delegieren:

Von Gleitzeit bis Vertrauensarbeitszeit Für wachsende, an Komplexität zunehmende Unter-nehmen, die zudem als attraktive und moderne Arbeit-geber wahrgenommen werden wollen, ist ein starres Arbeitszeitmodell über alle Abteilungen hinweg unan-gemessen. Wenn wenig Leerlauf auf der einen und wenig Überlastung auf der anderen Seite auftreten sollen, dann ist eine zumindest teilweise Delegation von Arbeitszeitverantwortung auf die Abteilungen und Mit-arbeiter geboten. Üblicherweise werden auf der opera-

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tiven Ebene hierzu bessere Entscheidungen getroffen, weil die Mitarbeiter vor Ort den schwankenden Arbeits-anfall und die individuelle Verfügbarkeit ihrer Kollegen viel besser einschätzen können als Führungskräfte oder gar eine Zentralabteilung. „Empowerment“ neuhoch-deutsch (!) ist oftmals der wesentliche Durchbruch zur Produktivitätssteigerung. Die folgenden Arbeitszeitmo-delle dienen diesem Zweck: � Gleitzeit:

Die Gleitzeit, eingeführt in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, war der Einstieg in die Flexibilisierung der Arbeitszeit (3). Dabei herrscht in einer sogenannten Kernarbeitszeit Anwesen-heitspflicht, während die übrige Arbeitszeit inner-halb eines definierten Rahmens individuell be-stimmt werden kann (3).

� Wahlarbeitszeit: Die Mitarbeiter können ihre Arbeitszeit individuell wählen. Dabei wird „die Personalstärke in Abhän-gigkeit vom Kundenverhalten wöchentlich, täglich und stündlich unterschiedlich geplant. Das bedeu-tet: für Zeiten mit erfahrungsgemäß stärkerem Ar-beitsanfall wird im Voraus mehr Personal einge-plant … Der sich so ergebende Personalbedarfs-plan wird für alle Beschäftigten sichtbar ausge-hängt, damit diese ihren Arbeitseinsatz je nach persönlichen Vorlieben und dem vertraglich ver-einbarten Arbeitszeitvolumens eintragen können. Dabei sprechen sich die Arbeitskräfte untereinan-der oder mit der Führungskraft ab“ (3).

� Funktionszeit: Bei der Funktionszeit übernehmen Teams oder Abteilungen autonom die Verantwortung darüber, dass ihr Verantwortungsbereich im Unternehmen funktionsfähig ist. Eine grundsätzliche Anwesen-heitspflicht in bestimmten Zeitfenstern entfällt. Vielmehr übernimmt das jeweilige Arbeitsteam die Verantwortung über die adäquate Personalbeset-zung zu jedem gegebenen Zeitpunkt.

� Vertrauensarbeitszeit: Die Vertrauensarbeitszeit bildet die höchste Form der Verantwortungsübernahme der Mitarbeiter über ihre Arbeitszeit. Ausgehend von Arbeitszielen und erwarteten Arbeitsergebnissen ist den Mitar-beitern Dauer und Lage ihrer Arbeitszeit freige-stellt.

>>> Umsetzung: Die Einführung neuer Arbeits-zeitmodelle

Die Einführung neuer Arbeitszeitmodelle in Wirtschafts-betriebe kann, wenn sie langfristig Erfolg haben soll, nur partizipativ, also unter Teilnahme der Betroffenen, erfolgen. Führungskräfte und Mitarbeiter müssen von Anfang an beteiligt werden, um einerseits das für das Unternehmen individuell beste Arbeitszeitmodell zu definieren, und um andererseits die für einen Erfolg erforderliche Akzeptanz in Führungskreis und Beleg-schaft zu gewährleisten. Mitarbeiterbefragungen, Ein-zelgespräche, Workshops in Projektgruppen und Be-triebsversammlungen sind die gebotenen Mittel der Partizipation. >>> Grenzen der Arbeitszeitgestaltung

>>> Arbeiten entgegen dem Tagesrhythmus der

Inneren Uhr „Die [Innere Uhr] schaltet vor allem gegen drei, vier Uhr morgens, aber auch am früheren Nachmittag auf ‚Schongang‘. Wenn wir uns anstrengen, können wir ihre Vorgaben überspielen. Das aber hat einen Preis: Wir sind nicht nur subjektiv müde, sondern leisten objektiv weniger und machen mehr Fehler“ (12). In einer reprä-sentativen Untersuchung von schweren Autounfällen in Folge von Einschlafen am Steuer stellte sich heraus, dass weit mehr dieser Unfälle zu Zeitpunkten der biolo-gischen Tiefs im Tagesverlauf erfolgten: In den frühen Morgenstunden und nachmittags gegen 14:00 Uhr (12). Als eine Grenze der Arbeitszeitgestaltung muss also anerkannt werden, dass in den ersten Stunden des Tages oder am frühen Nachmittag chronobiologische Tiefs die Arbeitskraft und die Konzentration erheblich einschränken. >>> Nachtarbeit Nachtarbeit verstößt gegen die tägliche Innere Uhr stets in doppelter Weise: Es wird gegen die Innere Uhr bei Nacht gearbeitet und es wird gegen die Innere Uhr bei Tag geschlafen. Nachgewiesen ist, dass der Schlaf von Nachtarbeitern subjektiv schlechter und kürzer ist und weniger Tiefschlaf enthält (12). Die oft geäußerte Selbsteinschätzung von Nachtarbeitern, besonders von Arbeitern der Dauernachtschicht, man habe sich an die Nachtarbeit gewöhnt, die Innere Uhr sei sozusagen umgestellt, ist damit widerlegt. Zudem wird ein Schlafdefizit regelmäßig nicht erkannt. Der Schlafforscher David Dinges erläutert, dass Men-

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schen mit Schlafentzug ihre eigenen Einschränkungen nicht erkennen: „It’s convenient to say, ‚I’ve learned to live without sleep,‘ … But you bring them into the labor-atory and we don’t see this adaption” (8). „Like a drunk, a person who is sleep-deprived has no idea how func-tionally impaired he or she truly is. Most of us have forgotten what it really feels like to be awake” (8). >>> Mehrarbeit Wingen u.a. berichten, dass in deutschen, englischen und schwedischen Studien ein exponentiell ansteigen-des Unfallrisiko nach der 8. Arbeitsstunde nachgewie-sen werden konnte (11). In einer zusammenfassenden Auswertung von 52 Berichten, die den Zusammenhang zwischen langen Arbeitstagen und Krankheiten, Verlet-zungen, gesundheitsbewusstem Verhalten und Arbeits-leistung untersuchen, kommen Caruso u.a. zu den fol-genden Aussagen: „Overtime was associated with poo-rer perceived general health, increased injury rates, more illnesses, or increased mortality in 16 of 22 stu-dies … A pattern of deteriorating performance on psy-chophysiological tests and injuries while working long hours was observed across study findings, particularly in very long shifts and when 12-hour shifts were com-bined with more than 40 hours of work a week” (4). >>> Überforderung durch Flexibilisierung Wingen u.a. berichten, dass Beschäftigte in sogenann-ten Normalarbeitszeitverhältnissen „durchweg weniger über gesundheitliche Beschwerden klagen als die Be-schäftigten außerhalb der Normalarbeitszeit“ (11). Als Normalarbeitszeitverhältnis bezeichnen die Autoren dabei eine Vollzeitbeschäftigung von montags bis frei-tags tagsüber, die in der Arbeitszeitlage nicht variiert. Weiter führen die Autoren aus: „Besonders deutliche Unterschiede sind beim Belastungsfaktor Termin- und Leistungsdruck festzustellen. Die Beschäftigten mit Überstunden und Schichtarbeit, Arbeitszeitkonten und Gleitzeitarbeit fühlen sich durch Termin- und Leistungs-druck stärker belastet als Beschäftigte im Normalar-beitszeitmodell“ (11). Hellert und Sträde befinden, dass für Mitarbeiter neben den positiven Effekten der Selbstorganisation die selbstgemachte Überforderung durch das Gefühl droht, für nicht erreichbare Ziele persönlich verantwortlich zu sein: „Falsch verstandene Flexibilität, also ‚Arbeiten ohne Ende‘ führt zudem bei immer mehr IT-Fachleuten zu chronischen Erschöpfungszuständen, gesundheitli-chen Beeinträchtigungen und vorzeitigen Leistungsein-bußen“ (6). Die stärkere Belastung kann schnell in Ar-

beitsüberlastung münden, eine der Hauptursachen für das stark zunehmende Krankheitssyndrom Burnout (7). Festzuhalten bleibt also, dass Beschäftigte in flexible-ren Arbeitszeitmodellen grundsätzlich unter höherem Leistungsdruck stehen und daher unbedingt unterstüt-zender Führung bedürfen, um einer Überlastung in Folge von Arbeitszeitflexibilisierung vorzubeugen. Aktu-elles Beispiel: In der Formel 1, der Sportart mit exorbi-tanten finanziellen Interessen und dem Nimbus echter Kerle, harter Männer ist die Sorge um Überforderung der Mitarbeiter in Folge übermäßig flexibilisierter Ar-beitszeiten angekommen: Laut Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 20. März 2011 wurde mit den Regeln der Rennsaison 2011 für die Mechaniker eine Sperrstunde an den Rennwochenenden eingeführt, „um sie [die Mechaniker] vor Übermüdung und damit auch vor Fehlern zu schützen“ (10). >>> Resümee Vom arbeitszeittechnischen Entwicklungsstand betrach-tet sind fixe Arbeitszeiten „steinzeitlich“, während Gleit-zeitmodelle eher als „mittelalterlich“ zu bezeichnen sind. Wie schon das Beispiel von VW zeigt, ist die aktive Gestaltung der Arbeitszeit das wesentliche Element des atmenden Betriebs – mit dem Nutzen � höherer Flexibilität am Markt,

� besserer Kapazitätsauslastung,

� höherer Produktivität,

� Erhaltung oder Förderung der Gesundheit der

Mitarbeiter. Die Möglichkeiten der Arbeitszeitgestaltung beginnen mit der Berücksichtigung und Nutzung der Inneren Uhr des Menschen – durch Gestaltung des Tagesrhythmus, des Wochenrhythmus, der Schichtarbeit. Dabei werden auch die aktuellen Erkenntnisse über optimale Arbeits-dauer und Pausen verwertet. Mit Modellen der Teilzeit-arbeit, des Job Sharing, der Altersteilzeit können Ar-beitgeber in besonderer Weise auf die individuellen Lebensphasen ihrer Mitarbeiter eingehen und sich so im sogenannten Kampf um die besten Köpfe als attrak-tive Arbeitgeber positionieren. Das Modell der Jahres-arbeitszeit ermöglicht eine nivellierte Monatsentlohnung der Mitarbeiter trotz stark schwankenden Abrufs der Mitarbeiterkapazität.

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Wer zum Zweck der Produktivitätssteigerung mehr Ver-antwortung an seine Mitarbeiter delegieren möchte, kann zwischen allen Graden der Mitarbeiterselbstorga-nisation auswählen: von Gleitzeit über Wahlarbeitszeit und Funktionszeit bis zu Vertrauensarbeitszeit. Zur Umsetzung der Einführung neuer Arbeitszeitmodelle ist zu beachten, dass sie nur partizipativ erfolgen kann, also unter aktiver Einbindung der Mitarbeiter und Füh-rungskräfte. Als Grenzen der Arbeitszeitgestaltung gilt erstens das Arbeiten entgegen der Inneren Uhr: wäh-rend der ersten Stunden des Tages oder am frühen Nachmittag, Nachtarbeit, Mehrarbeit über 8 Stunden hinaus. Genauso bedeutend ist zweitens die Erkennt-nis, dass Mitarbeiter mit flexiblen Arbeitszeiten grund-sätzlich eine höhere Arbeitsbelastung empfinden. Bei jeder Flexibilisierung von Arbeitszeit ist daher zur Ver-hinderung von Überlastung die unterstützende Mitarbei-terführung dringend geboten.

>>> Literatur (1) Altersteilzeitgesetz (2009) : Altersteilzeitgesetz

vom 23.7.1996 (BGBI. I S. 1170) mit allen späte-ren Änderungen in der Fassung vom 15.7.2009. In: BGBI. I S. 1939.

(2) ArbZG (2009) : Arbeitszeitgesetz vom 6.6.1994 (BGBI. I S. 1078) mit allen späteren Änderungen in der Fassung vom 28.3.2009. In: BGBI. I S. 634.

(3) Beermann, B., Brennscheidt, F. (2008) : Im Takt? – Gestaltung von flexiblen Arbeitszeitmodellen, Dortmund-Dorstfeld 2008.

(4) Caruso, C., Hitchcock, E., Dick, R., Russo, J., Schmit, J. (2004) : Overtime and Extended Work-shifts: Recent Findings on Illnesses, Injuries, and Human Behaviors, Cincinnati, OH, USA 2004.

(5) Hartz, P. (1996) : Das atmende Unternehmen, Frankfurt am Main, Wolfsburg 1996.

(6) Hellert, U., Sträde, K. (o.J.) : Lebensphasenge-rechte Prävention bei der Arbeit in kleinen und mit-telständischen IT-Unternehmen, o.O., o.J.

(7) Maslach, C., Leiter, M. (2001) : Die Wahrheit über Burnout, Wien, AU 2001.

(8) Schwartz, T., Gomes, J., McCarthy, C. (2010): The Way We’re Working Isn’t Working, London, U.K. u.a. 2010.

(9) TzBfG (2007) : Teilzeit- und Befristungsgesetz vom 21.12.2000 (BGBI. I S. 1966) mit allen späteren Änderungen in der Fassung vom 19.4.2007. In: BGBI. I S. 538.

(10) O.V. (2011): Fahrt ins Ungewisse, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 2011, Nummer 11, Seite 19.

(11) Wingen, S., Hohmann, T., Bensch, U., Plum, W. (2004): Vertrauensarbeitszeit – Neue Entwicklung gesellschaftlicher Arbeitszeitstrukturen, Dortmund, Berlin, Dresden 2004.

(12) Zulley, J., Knab, B. ( 2009): Unsere Innere Uhr, Frankfurt am Main 2009.

Impressum: Herausgeber: RKW Rationalisierungs-und Innovationszentrum der Deutschen Wirtschaft e.V. Kompetenzzentrum Düsseldorfer Straße 40, 65760 Eschborn Autor: Richard Meier-Sydow (AblaufLotse, www.ablauflotse.de) Stand: März 2011 Download: www.arbeits-zeit-gewinn.de

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