Auf Rehwildjagd mit Jesus

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Warum wählen soviel Arbeiter in den USA gegen ihre eigenen politischen Interessen die Republikaner?

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Joe Bageant

AUF REHWILDJAGD MIT JESUS

Meldungenaus dem amerikanischen Klassenkampf

Verlag André iele

Leseauszug

© VAT Verlag M

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ainz.de

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Aus dem Amerikanischen vonKlaus H. Schmidt und Ulrike E. Köstler

© 2007 Joseph L. Bageant, Crown Publishing Group, New YorkFür die deutschsprachige Ausgabe: © VAT Verlag André iele,Mainz am Rhein 2012Satz: Felix Bartels, OsakaDruck und Bindung: ANROP Ltd., JerusalemPrinted in Israel.Alle Rechte vorbehalten.

www.vat-mainz.de

isbn 978-3-940884-92-3

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Für Barbara und Ken

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INHALT

Einleitung 91 Die Leibeigenen Amerikas oder: Ein Abend im Ghetto des weißen Proletariats 302 Republikaner wider Willen oder: Redneck-Stolz und -Furcht in Zeiten des Outsourcing 653 Der frittierte, extrabreite Lebensstil oder: Unter’s eigene Dach um jeden Preis 1164 Im Tal der Gewehrläufe oder: Schwarzpulver und Pionierethik im amerika- nischen Kernland 1355 Das verborgene Reich oder: Sie berufen sich auf das Blut Jesu Christi 1816 Die Ballade von Lynndie England oder: Mit einem Bein in Irland, mit dem anderen im Irak 2207 Ein autorisierter Ort zum Sterben oder: Das amerikanische Gesundheitssystem hängt am Tropf 2498 Das amerikanische Hologramm oder: Die Apokalypse wird live übertragen 278Danksagungen 301Über den Autor 306Anmerkungen 309

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vorbemerkung des autors

Während die Ereignisse, die in diesem Buch geschildert wer-den, wahr sind – von Kloppereien mit boxenden Schimpan-sen auf Jahrmärkten bis hin zu Wrestling-Matches mit teufli-schen Dämonen in Holy Roller-Trailer Courts –, wurdendie Namen und Erkennungsmerkmale von etlichen Personenaus Rücksicht auf ihre Privatsphäre verändert.

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einleitung

Am Morgen des 2. November 2004 erwachten Millionen vonAnhängern der Demokraten im Angesicht einer neuen Ord-nung. Der Rauch neokonservativer Lagerfeuer hing über al-lem, was sich am Horizont in südlicher und westlicher Rich-tung ausmachen ließ. Hinter fernen Zinnen regten sich diehaarigen Horden christlicher Fundamentalisten, Legionenvon Rednecks in Arbeitskleidung und andere kulturelle Bar-baren, denen wir das alles zu verdanken hatten. In Universi-tätsstädten quer durch die Nation, in San Francisco, Seattleund Boulder, in der auf der politischen Landkarte blauestenaller blauen Hochburgen, nämlich New York City, und injedem noch so obskuren Winkel des liberalen Amerika, indem man Zeitungen wie e Nation nicht eigens abonnierenmuss, sondern schlicht und einfach kaufen kann, versankendie Demokraten in eine Prozac-resistente Form tiefster De-pression. Was, so fragten sie sich, passierte da draußen imamerikanischen Kernland, dem ikonographisch so vertrautenLand, das sie aus Fernsehsendungen und Magazinen kannten,einem Land der idyllischen Kirchturmspitzen, Farmen, Stock-car-Rennen und Nostalgiefestivals? Und warum hatte dieArbeiterklasse so offenkundig gegen ihre eigenen Interessengestimmt?

Zwei Jahre später konnten sich die Demokraten, zumin-dest vorübergehend, wieder eine Mehrheit im Kongress si-chern. Dies versetzte die Liberalen endlich in die Lage, überden aus ihrer Sicht so unkultivierten Mob nachzudenken,der ihnen 2004 ein solches Debakel beschert hatte. So ver-folgten sie Podiumsdiskussionen auf öffentlich-rechtlichenKanälen wie PBS. Oder stritten darüber, an welcher Stelleim letzten Wahlkampf die eigene Strategie ihr Ziel verfehlte.Das Einzige, was die Vertreter der denkenden Linken undder städtischen Liberalen nicht taten, war, sich auf das Terrain

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der Barbaren vorzuwagen, sich dem ungewaschenen Amerikader Arbeiterschicht auszusetzen, jenem kirchgängerischen,jagenden und fischenden, Bud Light-trinkenden, provinziel-len Amerika. Menschen, die keine Ahnung haben und denenes auch herzlich egal ist, wo sich Länder wie Irak oder Frank-reich auf der Weltkarte befinden, vorausgesetzt, dass sie über-haupt einen Atlas besitzen. Wenige gebildete Liberale werdenje in die Situation kommen, an der hiesigen Speedway-BahnDosenbier in sich hineinzuschütten oder dem örtlichen Pre-diger dabei zuzuhören, wie er in jedem nur denkbaren Zu-sammenhang, von der Biologie bis hin zu umstrittenen Base-ball-Regeln, die Unfehlbarkeit der Bibel erläutert, oder auchdie Abschlussfeier einer christlichen Schule zu besuchen odersich bei der Country- und Westernmusik von Teddy and theStarlight Ramblers im Eagle’s Club volllaufen zu lassen.

Tja, liebe Leute, willkommen in meiner Welt!Hier in meiner Heimatstadt, Winchester, Virginia, kann

man dem Amerika, das George W. Bush 2004 zum Sieg ver-holfen hat, nicht aus dem Weg gehen – und dieses Amerikawürde beim nächsten Mal wohlgemerkt wieder jemandenseines Kalibers wählen, auch wenn in den letzten Tagen dervon ihm angestrebten imperialen Herrschaft alle wie wildgewordene Hunde über Bush herfallen, auch wenn man ihnin Handschellen aus dem Oval Office führt. Winchesterzählt zu den Orten in den Südstaaten, in denen die Frage,ob Stonewall Jackson in der Schlacht von Chancellorsvillevon einer Pilzinfektion im Genitalbereich behindert wurde,genauso hitzig debattiert wird wie die Lehren der Evolution,schärfere Waffengesetze, das Recht auf Abtreibung oder dieFrage, ob Dale Earnhardt Jr. auch nur halb so gut Rennenfährt wie sein Vater. Die Gegend ist fest in der Hand vonchristlichen Fundamentalisten und Neokonservativen, durch-drungen von der düsteren ultraprotestantischen Grund -annahme, dass der Mensch von Geburt an ein böses, wertlosesGeschöpf verkörpert, das im Laufe seines Lebens sogar nochan Wert verliert. Unabhängig davon, was es über Winchester

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sonst noch zu sagen gäbe, lässt sich diese Nation von hieraus bestens beobachten, von einem Ort, in dem die ältestenund neuesten Ausprägungen Amerikas und sämtliche nochso rudimentären Zwischenstadien in lebendiger, spucke -gesprenkelter Pracht zu bewundern sind.

Wenn wir von Winchester sprechen, sprechen wir in ersterLinie von einer Arbeiterstadt – weder die Yuppie-Monster-Villen, die auf riesigen Grundstücken rings um den Ort wiePilze aus dem Boden schießen, noch die Umgestaltung desalten Stadtkerns zu einer touristisch nutzbaren, historischwertvollen Zone werden daran etwas ändern. Hier kann manin den Fertigungshallen von General Electric Glühbirnenherstellen, für Rubbermaid Wischeimer aus Styrol produ-zieren oder bei Wal-Mart und Home Depot Kisten herum-hieven, Regale auffüllen oder an der Kasse tätig sein. Wasimmer Sie tun, die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Sie alsMontagearbeiter in einer Fabrik landen oder als Teil des Kas-senpersonals mit einem Scanner in der Hand in irgendeinemGroßmarkt auf einer Gummimatte stehen. Und Sie werdenes für einen Lohn tun, den man Arbeitern typischerweisezubilligt: für rund 16.000 Dollar im Jahr, wenn Sie IhreBrötchen an der Kasse verdienen, und 26.000 Dollar, wennSie zu den Montagekräften am Band gehören. Der Ort, indem und über den ich schreibe, ist jedoch repräsentativ fürTausende vergleichbarer Gemeinden überall in den Verei-nigten Staaten. Eine verdrängte Parallelwelt zu der der ge-bildeten städtischen Liberalen – und es war diese und keineandere Welt, die den Letzteren im November 2004 eine un-liebsame Überraschung bereitete und die die besagten Libe-ralen verstehen lernen müssen, wenn sie in politischer Hin-sicht jemals wieder eine Rolle spielen wollen.

Was gibt mir die Berechtigung, mich auf diesen Seitenderart kritisch auszulassen? Eigentlich nichts, bis auf die Tat-sache, dass ich der eingeborene Sohn eines Landes von Ar-beitern bin, das auf den Hund gekommen ist. Dies wurdemir spätestens 1999 klar, als ich mich nach dreißigjähriger

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Abwesenheit dazu entschloss, wieder in meine Heimatstadtzu ziehen, und die schleichende (und schaurige) Art undWeise sah, wie das Leben und die Lebensleistung meiner Fa-milie, einer Arbeiterfamilie, meiner Nachbarschaft und mei-nes Ortes insgesamt von Kräften abgewertet und herabge-würdigt worden waren, gegen die politisch nach linksTendierende stets gewettert haben – denselben Kräften, denenmeine Familie und meine Stadt in den Wahlkabinen so ein-deutig den Rücken stärkten.

Der Teil von Winchester, in dem ich wohne, das NorthEnd, beherbergt das typischste Arbeiterviertel der Stadt, einViertel, in dem Arbeiter mit einem Jahresverdienst von20.000 Dollar oder in Fast-Food-Restaurants Beschäftigte,die mit 14.000 im Jahr auskommen müssen, die Regel undnicht die Ausnahme sind. Ich bin hier aufgewachsen, meinVater malochte an einer nahe gelegenen Tankstelle und meineMutter verdingte sich in einer mittlerweile abgerissenen Tex-tilfabrik, deren ratternde Webstühle unseren Alltag nichtnur als Geräuschkulisse rund um die Uhr bestimmten. Hierrauchte ich meine erste Zigarette und heiratete ein ebenfallsaus der verarmten weißen Arbeiterschicht stammendes Mäd-chen aus derselben Straße. Hier sind meine Vorfahren be-graben und die Gespenster meiner Vergangenheit überallspürbar – die Gespenster der 250-jährigen Geschichte meinerAhnen, die Gespenster alter Liebesaffären und die Gespenstermeiner Jugend. Hier kann ich alle beim Nachnamen nennen,kenne von allen die Väter und weiß, wer es in unserer HighSchool-Zeit mit wem und warum getrieben hat. Als ich nachdreißig Jahren im amerikanischen Westen schließlich wiederhierher zog, war es mir so, als kehre mein Herz dahin zurück,wo es hingehört, ein Gefühl, das etwa drei Monate anhielt.

Es bedurfte nicht allzu vieler Begegnungen in der altenKneipe oder der schäbigen Kirche, um herauszufinden, dassdiejenigen, die in diesem Viertel in der reichsten Nation aufErden zu Hause sind, schwer zu kämpfen haben. Und eswird immer schwerer. Zwei von fünf Einwohnern des North

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End können keinen High School-Abschluss vorweisen. Hierhat fast jeder über fünfzig ernsthafte gesundheitliche Pro-bleme, die Kreditwürdigkeit liegt selten über 500 Dollar,und Alkohol, Jesus und übermäßiges Essen stellen die ver-breitetsten Wege dar, der Realität wenigstens vorübergehendzu entfliehen. Heutzutage macht das Viertel den Eindruck,als sei es von Edward Hopper gemalt worden, um dann mit»Gangstas«, alten Männern mit Starkbierflaschen, hart ar-beitenden alleinerziehenden Müttern und Kindern auf billi-gen und beschädigten Plastikdreirädern in trostloser Manierbevölkert zu werden. Die Stadtverwaltung versucht die all-gegenwärtige Armut mit Verordnungen zu kaschieren, Ver-ordnungen, die den örtlichen Vermietern von Slumquartierenvorschreiben, die Fassaden ihrer Mietshäuser neu zu streichen,aber Farbe kann bekanntlich nicht alles verdecken, was zuverdecken wäre.

Eingekeilt zwischen dem alten Bahnhof und dem Friedhof,auf dem die im Bürgerkrieg gefallenen Konföderierten be-stattet wurden, fungierte das North End in dem von Weißenbewohnten Teil Winchesters einst als Redneck-Pufferzone.Alle wussten, welche Straßen die »Color Line« markierten,die unsichtbare Grenze zwischen der weißen Mehrheit undder farbigen Minderheit der Stadt. Dieselben Straßen werdennun zunehmend von Schwarzen und Latinos in Beschlaggenommen und man sieht Familien, die in den dort stehen-den Mietskasernen denselben Kampf um eine bescheideneForm der Respektabilität ausfechten wie die armen weißenArbeiterfamilien, die diese Häuser in den Fünfziger- undfrühen Sechzigerjahren besaßen, einer Zeit, in der es fürPaare aus der Arbeiterschicht noch möglich war, mit ihremEinkommen als Geringverdiener zusammen ein Haus zukaufen. Diese neu zugezogenen Familien stellen mit Folieüberzogene Blumentöpfe auf ihre Holzveranda und beackerndie Erde entlang der Gehwege beharrlich mit diversen Gar-tenwerkzeugen, so als wäre der von den Füßen der Nach-barskinder malträtierte rote Lehmboden jemals in der Lage,

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genügend grünes Gras hervorzubringen, um das Aussehender Wege optisch zu gefährden. Sie tun genau dieselbenDinge, die es den weißen Arbeiterfamilien von damals er-laubten, mit programmatischen Aussagen wie »We might bepoor but we ain’t coloreds« stolz von sich zu verkünden, dasssie vielleicht zu den Armen, nicht aber zu den Farbigen ge-hörten.

Die Leute aus meiner Schicht sind zugegebenermaßen et-was abgerissener als die meisten; schließlich befinden wiruns im Süden, auch wenn es sich um den nördlichsten Punktdes Südens handelt. Ihre Bedürfnisse – eine erschwinglicheGesundheitsfürsorge, ein Lohn, von dem man leben kann,eine feste Anstellung, bezahlbare Mieten und etwas Geld fürden Ruhestand – unterscheiden sich von denen anderer Ame-rikanerinnen und Amerikaner aus der Arbeiterklasse jedochnur zu einem gewissen Grad. So gibt es keine scharfe Trenn-linie zwischen den aus dem Arbeitermilieu stammenden ar-men Mietern in diesem Viertel und den aus dem gleichenMilieu kommenden Hausbesitzern in den baumlosen, ausT-Platten-Modulbau-Eigenheimen bestehenden Vorortenhier und anderswo. Die Arbeiterschicht in dem inzwischenals »Kernland« bezeichneten, hier relevanten Territorium (imWesentlichen das gesamte Gebiet zwischen den großen Städ-ten) bewegt sich psychologisch betrachtet innerhalb einesKontinuums, das von vollständiger Unsicherheit bis zu dergeringfügig weniger vollständigen Unsicherheit reicht, eineanständige, aber gefährdete Arbeitsstelle zu haben. Ein Kon-tinuum, bei dem die Apathie der Ärmsten das eine Extremdarstellt und die unmissverständliche Wut derjenigen, diemehr zu verlieren haben, das andere Extrem. Und ich kannEuch versichern, mit »mehr« ist nicht viel gemeint, wenndas Einkommen eines Haushalts von Doppelverdienern zwi-schen 30.000 und 35.000 Dollar liegt. Viele von ihnen mussman der verarmten Arbeiterklasse zurechnen; sie machensich aber selbst vor, zur Mittelschicht zu zählen – dies istteilweise auf individuellen Stolz zurückzuführen, teilweise

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auf die nationale Lüge vom vermeintlichen Mittelschicht-Status der meisten Amerikaner.

Im von Arbeitern geprägten Amerika als Mitglied der Un-terschicht geboren worden zu sein, lässt bei manchen, wahr-scheinlich den meisten von uns ein charakteristisches Klas-senbewusstsein entstehen. Deshalb geht es in einem Großteildieses Buches um klassenspezifische Aspekte des amerikani-schen Alltagslebens, vor allem um die Klasse, aus der ichstamme, das untere Drittel der amerikanischen Gesellschaft,das sich aus den offiziell nicht existenten Armen der Arbei-terschicht rekrutiert, Menschen, die sich wie folgt beschreibenlassen: konservativ, politisch fehlinformiert oder passiv undpatriotisch, auch wenn es zu ihrem eigenen Schaden ist.

Ich will damit nicht sagen, dass ich aktuell zu den Armengehöre. Im Laufe des von Umwegen gekennzeichneten Le-benswegs, den ich zwischen dem Zeitpunkt, als ich Win-chester mittel- und ahnungslos verließ, und meiner Rückkehrals einigermaßen erfolgreicher, 53-jähriger Journalist undHerausgeber zurückgelegt habe, bin ich zu so etwas wieeinem Mitglied der Mittelschicht avanciert und einer vonden Liberalen, über die ich mich so häufig lustig mache.Aber die Wurzeln eines Menschen verschwinden nicht ein-fach, nur weil er oder sie es geschafft hat, mit Müh und Notdie Klassengrenzen zu überschreiten, die es laut nationalerMythologie gar nicht gibt. Und was ich sehe, ist, dass esmeinen Leuten, den Arbeiterinnen und Arbeitern in meinemalten Viertel, obwohl sie mittlerweile mehr elektronischenSchnickschnack und neuere Autos ihr Eigen nennen, inpuncto Lebensqualität und soziale Grundsicherung heuteschlechter geht als zu der Zeit, als ich Winchester als jungerMann den Rücken kehrte.

Und dann gibt es da noch diejenigen, die in der wachsen-den permanenten Unterklasse Amerikas gelandet sind. Manbegegnet ihnen ständig und überall.

Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Ich stehe im FoodLion, einem der billigsten Discounter der Stadt, an der Kasse

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und beobachte, wie der Kerl vor mir, Eddie Coynes, mit ni-kotingelben Fingern sein Wechselgeld entgegennimmt undin die Brusttasche seines Hemds stopft. Seine Frau erzähltder Kassiererin, wie ihre Kirchengemeinde zu Spenden auf-gerufen hat, um ihr und Eddie einen gebrauchten Truck zukaufen, nachdem ihr alter gepfändet worden war: »Er brauchtein Reserverad, aber das kriegen wir hin.«

»Gelobt sei der Herr!«, ruft die Kassiererin, so als wäreGott mit einer fünfköpfigen Kapelle eigens aus dem Himmelherabgestiegen, um den fraglichen Toyota, Baujahr 1990,persönlich an seine Schäfchen zu übergeben. Offenbar sindsie alle wiedergeborene Christen. Eddies Frau rafft ihre Ein-käufe zusammen, ein Sixpack Pepsi Light und eine SchachtelLittle Debbie-Schokoladenküchlein, und enfernt sich inRichtung Ausgang.

Hinter mir warten vier oder fünf weitere Kunden, die Ed-die und seine Frau, ohne sich anstrengen zu müssen, doubelnkönnten: übergewichtig, schlechte Zähne, billige Kleidung,mit einem Aussehen, als sei eine Kugel auf sie abgefeuertworden, die sie knapp verfehlt hat, und denen die Scheiße,die sie erlebt haben, ins Gesicht geschrieben steht, jeder Ein-zelne von ihnen mit seiner eigenen, individuellen Mischungaus finanziellen, gesundheitlichen und juristischen Proble-men. Ich bin mir da ganz sicher. Ich kenne sie. Ich weiß,wem von ihnen es nicht gelungen ist, sich eine Ganztagsstellein der Fabrik zu sichern, und ich weiß, wessen Kind, wie esdie Mutter ausdrückt, »Dope-Probleme« hat und wegen desBesitzes von OxyContin, dem Heroin des armen Mannes,festgenommen wurde. Der Kassiererin geht es nicht viel bes-ser; ich habe selbst gesehen, wie sie am Ende ihrer Schichteinmal mit Lebensmittelmarken einkaufte. Alle von ihnenhaben ihr Leben lang gearbeitet und gemäß den Standardsder amerikanischen Mittelschicht in den letzten fünfund-zwanzig Jahren ökonomisch und sozial an Boden verloren.Die 20 Prozent der Bevölkerung von Winchester, die manguten Gewissens als Mittelschicht bezeichnen kann, tätigen

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ihre Einkäufe im exklusiveren Martin’s, nicht hier, in dieserEcke der Stadt, wo an Produkte wie Avocados, Lauch, Voll-kornbrot, Baguettes, ja sogar Mineralwasser in Flaschen nichtzu denken ist.

Wenn sich die Wege der zur Mittelschicht zu rechnendenEinwohner von Winchester oder der neu entstandenen »Sub-urbs« Amerikas – also der plus/minus 20 Prozent der Ame-rikaner, deren Lebensstil den von den Medien propagiertenBildern am ehesten entspricht – mit denen der um ihre Exis-tenz kämpfenden Arbeiter kreuzen, erkennen die Ersterenoftmals nicht, dass die Letzteren zu kämpfen haben. Der lä-chelnde, weise aussehende alte Mann in der orangenen Fir-menjacke in der Rohr- und Sanitärabteilung des örtlichenBaumarkts Home Depot, der alles über Klempner- und In-stallationsarbeiten zu wissen scheint, was man sich nur vor-stellen kann, humpelt im Alter von 67 Jahren auf schlechtenKnien durch die Gänge und leidet unter zwei knochentrans-plantierten Bandscheiben, die ihm sein Leben als Bauarbeitereingebracht hat. Er arbeitet einzig und allein für seine Herz-medikamente und die private Versicherung, die er braucht,damit er zum Bezahlen seiner Krankenhausrechnungen nichtden heruntergekommenen Bungalow verkaufen muss, dener und sein Frau im Jahre 1964 gekauft haben, einen Bunga-low, der mittlerweile in einem derart schlechten Viertel steht,dass lediglich die notorischen Vermieter von Slumbehausun-gen ein wenn auch geringes Interesse an dem Objekt zeigen.Und er ist nur einer von vielen, die seit fünfundzwanzig Jah-ren kontinuierlich an Boden verlieren.

Wenn Sie das harte Arbeitsleben dieses Mannes auf demBuckel und sich wie er geschworen hätten, niemals Almosenvom Staat zu akzeptieren, wären auch Sie konservativ. Undmit »konservativ« meine ich nicht die prototypischen Neo-konservativen mit ihren irren Augen. Ich meine damit, dassIhr Denken so vorsichtig und traditionell wäre, dass Sie fürden Mann stimmen, der stark genug aussieht, um die Preisefür Häuser stabil zu halten, Ihre unsichtbaren Feinde im

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Ausland zu vernichten und Gott ein Mitspracherecht in deninneren Angelegenheiten Ihrer Nation einzuräumen. DasProblem besteht darin, dass weder wir noch der alte Mannim Home Depot im Jahre 1956 leben und arbeiten und dieOption Eisenhower daher wegfällt.

Die Medien und die Politiker bezeichneten Menschenwie den Mann in der orangenen Jacke gerne als Vertreterder »traditionellen Arbeiterklasse«. Dabei dachten sie an die-jenigen, die seinerzeit aus dem Koreakrieg zurückkehrtenund mit stolz geschwellter Brust all die ca. 100 m² großen,mit Aluminium beschichteten, dem Cape Cod-Stil nach-empfundenen Bungalows bauten, die das gesamte Landdurchzogen. Heutzutage hat man für diese Arbeiter, seiensie nun jung oder alt, in erster Linie Weiße mit nicht mehran formaler Bildung als einem High School-Abschluss, keinenoffiziellen Namen mehr (außer für diejenigen, bei denen dieNot am augenscheinlichsten ist – die ordnet man der Kate-gorie »White Trash« zu). Bei den Obengenannten sprechenwir von Familien mit zwei berufstätigen Ehepartnern undein paar Kindern, die sich 2005 immer noch vergeblich daranversuchten, gemeinsam die magische Einkommensgrenzevon 35.000 Dollar im Jahr zu knacken und die nach wie vor24 Prozent der amerikanischen Arbeiterschaft ausmachen –selbst staatliche Stellen gehen bei ihren Berechnungen vonmindestens 35 Millionen Menschen aus.

Weiß und arm zu sein oder geradeso über die Runden zukommen, gleicht in Amerika einem Paradoxon. Von Weißen,vor allem von weißen Männern, wird allgemein angenommen,dass sie den anderen Gruppen gegenüber einen Vorteil besit-zen, den sie gnadenlos ausnützen. Dennoch sind etwas mehrals die Hälfte aller Armen in den Vereinigten Staaten Weiße.Es gibt mehr arme Weiße als die Armen aller ethnischenMinderheiten zusammengenommen. In der Gesellschaft derSchwarzen ist der Prozentsatz der von Armut Betroffenen si-cherlich höher. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache,dass wir es mindestens mit 19 Millionen arbeitslosen oder

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arbeitenden Armen unter den Weißen zu tun haben – eineZahl mit steigender Tendenz. (Um mit einem gängigen Vor-urteil aufzuräumen, möchte ich an dieser Stelle im Übrigenanmerken, dass die Mehrheit der Armen arbeiten geht. Un-gefähr die Hälfte von ihnen findet zumindest für die Hälftedes Jahres eine bezahlte Beschäftigung; öffentliche Hilfsgelderbelaufen sich auf nicht mehr als ein Viertel des Einkommensvon armen Amerikanern. Darüber hinaus dürfte die Unter-scheidung zwischen arbeitslosen und arbeitenden Armen ehereine bedeutungslose, aus der Protestantischen Arbeitsethikresultierende moralische Spitzfindigkeit sein. Arm bleibt arm,ob man nun für seine Armut arbeiten muss oder nicht.)Glaubt man den für 2005 ermittelten Zahlen des Census Bu-reau, unseres Statistischen Bundesamts, so ist es tatsächlichso, dass die armen Weißen die einzige Gruppe bilden, diegleichzeitig wächst und ärmer wird. Bei allen anderen Grup-pen bleibt im Wesentlichen alles beim Alten, da kann dieBush-Regierung mit ohnehin minimalen »Trendwenden« beiden Einkommens- und Beschäftigungszahlen prahlen so vielsie will.

Der Mythos von der weißen Haut als Machtfaktor hältsich trotzdem hartnäckig, ebenso wie der unausgesprocheneGlaube, dass sich das Scheitern von Weißen nur mit indivi-dueller Faulheit erklären lässt. In Wirklichkeit bewegen sichdie Armen und an der Armutsgrenze angesiedelten Arbeiterunter den Weißen, analog zu den Schwarzen und Latinos,die in Ghettos ums Dasein kämpfen, innerhalb einer mit ei-ner Sackgasse vergleichbaren sozialen Matrix, bei der einScheitern vorprogrammiert zu sein scheint.

Selbst wohlmeinende und gebildete Liberale tun sich mitweißer Armut oder Semi-Armut schwer. Wenn sie das Pro-blem erkennen, begreifen sie in der Regel nicht das Ausmaßdes Problems. Nehmen sie das Letztere doch einmal zurKenntnis, ernten sie häufig Hohn und Spott vonseiten derInteressenvertreter der ethnischen Minderheiten und derenInitiativen zur Armutsbekämpfung. Auf das Geld, das für

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die Armutsbekämpfung zur Verfügung steht, haben die Emp-fängergruppen ein wachsames Auge; sie wollen verhindern,dass es sich durch eine erhöhte Zahl von Bezugsberechtigtenweiter verringert, was man ihnen nicht verdenken kann.Aber geht es armen Weißen wirklich besser als armen Schwar-zen? Und hilft die Tatsache, dass die Mehrheit der Superrei-chen weißer Hautfarbe ist, armen Weißen mehr als armenSchwarzen die Tatsache, dass die meisten Rapper-MillionäreSchwarze sind? Ob man nun die »Armutsrate« (diese abstruseWashingtoner Richtschnur zur Berechnung des zum Über-leben notwendigen Mindesteinkommens) von Schwarzenauf 8 Prozent senkt, wie das Verfechter von Minoritäten-rechten anstreben, oder die Armutsraten von Weißen auf 24Prozent erhöht – was dabei herauskommt, ist ohnehin keinenPfifferling wert, denn wir sehen uns immer noch einer Un-menge von Leuten gegenüber, denen das Wasser bis zumHals steht und die von gelehrten Debatten über Armutssta-tistiken überhaupt nichts haben.

Die Ermöglichung eines allgemeinen Zugangs zu ange-messener Bildung hingegen würde das Leben von Millionenvon Menschen im Laufe der Zeit positiv beeinflussen, vorallem wenn man berücksichtigt, dass die schlimmsten Aspekteder Armut von der intellektuellen Sterilität und Brutalitätdes jeweiligen sozialen Umfelds herrühren. Ich kann michnoch genau daran erinnern, wie mich mein Vater deswegenzurechtwies, weil ich Bücher über Kunst las, deren UmschlägeAktszenen von Rubens zierten. »Schmutzige Bilder« nannteer sie. Ich kann mich auch daran erinnern, dass mich meineMutter einmal fragte, ob ich schwul sei, nachdem ich einenganzen Tag damit verbracht hatte, Kohleskizzen von Mi-chelangelos David anzufertigen. Kultur- und Geisteslebenniemals erfahren zu haben, hinterlässt Wunden, Wunden,die ganze Familien betreffen und häufig noch Generationenspäter spürbar sind.

Mein Vater war ein Arbeiter mit einer achtjährigen Schul-bildung; dasselbe gilt für meine Mutter, die in Textilfabriken

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und in der Bekleidungsindustrie zum Familieneinkommenbeitrug. Während der gesamten Zeit meines Aufwachsens inWinchester war es mir nie in den Sinn gekommen, ein Stu-dium anzustreben, bis die letzten Zuckungen von Lyndon B.Johnsons Programm der »Great Society« meiner Klasse undGeneration, Jahre nachdem ich von zu Hause ausgezogenwar, plötzlich die Chance eröffneten, über diese Option ernst-haft nachzudenken. Es läuft eben immer auf die Klassenzu-gehörigkeit hinaus. Wenn Ihr Vater sich als High School-Ab-brecher für ein paar Kröten den Arsch aufreißt und in seinemLeben noch nie ein Buch gelesen hat und Ihre Mutter haupt-beruflich als Kellnerin arbeitet, dann dürften Sie wohl ehernicht dazu bestimmt sein, zum späteren Präsidenten der Ver-einigten Staaten heranzuwachsen, auch wenn man Ihnen inder Schule etwas anderes erzählt. Sie werden sich für achtDollar die Stunde irgendwo im Schichtbetrieb abrackern undauf Überstunden hoffen, um Ihre Heizungsrechnungen zubezahlen. Und man wird dafür sorgen, dass Sie sich mit IhrenKollegen und Hundert auf der anderen Seite der Stadt hau-senden neuen Immigranten um diesen Arbeitsplatz prügeln.Und Sie werden den unvermeidlichen Schluss daraus ziehen,dass man als Mann schauen muss, wo man bleibt. Zum Teufelmit der Solidarität! Die acht Dollar, die Sie zum Leben brau-chen, toppen jede Moral.

Passend zur nationalen Mythologie wird offiziell indessenpropagiert, dass all diese namenlosen, miteinander konkur-rierenden und um ihre Existenz kämpfenden Teile der ar-beitenden Bevölkerung so etwas wie eine breite amerikanischeMittelschicht darstellen. Tatsache ist jedoch, dass wir einLand von Arbeitern sind. Definiert man »zur Arbeiterklassegehörend« als Menschen ohne Hochschulabschluss, dannmüsste man satte drei Viertel der Amerikanerinnen undAmerikaner zur Arbeiterklasse zählen.

»Klasse« definiert sich allerdings nicht über Einkommenoder Bildung, sondern vielmehr über den Faktor Macht.Dies gilt umso mehr, wenn es um die Arbeitswelt geht. De-

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finiert man »Arbeiterklasse« jedoch im Zeichen der Macht –Chefs, die sie haben, und Arbeiter, bei denen dies nicht derFall ist –, so gehören mindestens 60 Prozent der Amerikane-rinnen und Amerikaner zur Arbeiterschicht, während die ei-gentliche Mittelschicht – Journalisten, Menschen mit aka-demischen oder semiakademischen Berufen, Führungskräftein der freien Wirtschaft etc. – maximal ein Drittel der Ge-samtbevölkerung ausmacht. Unabhängig von den genanntenZahlen wäre es meiner Ansicht nach am besten, die Zuge-hörigkeit zur »Arbeiterklasse« wie folgt zu definieren: Sie ha-ben keine Macht über Ihre Arbeit. Sie können nicht beein-flussen, wann, für welchen Lohn und wie schnell Sie arbeitenoder ob man Sie beim ersten Anzeichen für einen Stim-mungswechsel an der Wall Street kurzerhand auf die Straßesetzt. »Arbeiterklasse« hat mit der Farbe Ihres Kragens undder Kleidung, in der Sie arbeiten, herzlich wenig zu tun;auch die Bedeutung des Einkommens und sogar der Frage,ob Sie selbstständig sind oder nicht, wird von den meistenüberschätzt. In diesen Tagen besteht die Arbeiterschicht ausTruckern, Bankangestellten, Elektrikern, Zahntechnikernund allen möglichen Leuten, die von unserem System dazukonditioniert worden sind, sich eben nicht als Teil der Ar-beiterklasse zu verstehen. Dass klare Grenzen zwischen denKlassen nicht existieren, hilft dabei zu erklären, warum esdem System bis heute gelungen ist, die Illusion einer Mittel-schichtmehrheit aufrechtzuerhalten.

Der an der State University of New York at Stony Brooklehrende Ökonom, Buchautor und Aktivist Michael Zweigist so ziemlich der einzige mir bekannte Gesellschaftskritiker,der versucht hat den Amerikanern diese Zusammenhängeklarzumachen. So könnte man einen Trucker, der mit seinemeigenen Sattelschlepper Waren transportiert, nach Zweig zu-mindest ansatzweise zur Mittelschicht rechnen; als Beschäf-tigter einer Spedition wird aus demselben Trucker ein Mit-glied der Arbeiterschicht. Ein selbstständiger Elektriker istkein kleiner Geschäftsmann oder Unternehmer. Er ist ein

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Facharbeiter, den Bauunternehmen deshalb nicht anstellen,weil sie die mit Sozialabgaben, Abfindungen oder Kranken-versicherungsbeiträgen verbundenen Kosten scheuen. Statt-dessen schließen sie einen Werkvertrag mit ihm, was zurFolge hat, dass der Elektriker für die oben genannten Kostenselbst aufkommen muss, von den Anweisungen des Bau -unternehmers abhängig ist und als unfreiwilliger Statist ineiner Inszenierung mitwirken darf, die ihn als erfolgreichenTeil einer stetig wachsenden Gruppe von dynamischen undselbstständigen amerikanischen Kleinunternehmern ideali-siert. Zweig weist außerdem darauf hin, dass selbst Ärzteund Universitätsprofessoren angesichts der zunehmendenMacht von Gesundheitsbehörden und Hochschulleitungendabei sind, »die Kontrolle über ihren Arbeitstag« zu verlieren(obwohl die meisten von uns für mehr als einen Tausenderpro Tag wohl gerne auf etwas Kontrolle verzichten würden),und dass die »Aushöhlung der Mittelschicht« dazu führenkönnte, dass die Zahl der zur Arbeiterschicht zu Rechnendennoch größer und die Arbeiterschaft noch ärmer wird. DassProfessoren in den Streik treten, weil man sie zwingen will,auch einmal wieder Studierende zu unterrichten, ist ohneWeiteres vorstellbar – die Bereitschaft, sich gegen das Systemaufzulehnen, fällt deutlich geringer aus, wenn man sich, wieunser selbstständiger Elektriker, mit Mahnungen von Mas-tercard und 3000-Dollar-Rechnungen von Home Depot herumschlagen muss, nur weil man den nächsten Job ohneneue Werkzeuge und entsprechendes Material schlicht undeinfach in den Wind schreiben kann.

Und wer gibt ihm Rückendeckung, sollte er versuchen,sich zu wehren? Zumal er gar nicht weiß, wie er das tunkönnte. Beim Organisieren eines Ausstands von Druckernund Austrägern einer amerikanischen Tageszeitung habe ichgelernt, dass man ein paar Außenseiter braucht, erfahrene,entsprechend ausgebildete und politisch linkslastige Helfer,um die Arbeiter in gewerkschaftsfeindlichen Regionen diesesLandes effektiv zu mobilisieren, und sei es nur, um die kom-

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plizierten Gesetze zu umschiffen, die man dort mit dem Zielersonnen hat, die Bildung von Gewerkschaften im Keim zuersticken. Diese Außenseiter – früher nannte man sie Agita-toren – bringen aber noch einen anderen wichtigen Aspektmit in den Arbeitskampf ein: sich selbst als Vorbilder undVerkörperungen erfolgreichen Widerstands und Engage-ments. Verstehen sie ihr Handwerk, dann bringen sie dieBetroffenen auch dazu, das nötige Rückgrat zu entwickeln.

Bevor man der Arbeiterbewegung das Rückgrat brach, inden Tagen, als es noch möglich war, Waffenbesitzer und Li-beraler in einer Person zu sein, unterstützten die Vertreterder politischen Linken diese Arbeiter bei ihren Aktionen,standen Schulter an Schulter mit ihnen an den Werkstoren,selbst wenn dies hieß, einem Gummiknüppel ins Auge zusehen. Inzwischen ist die Arbeiterbewegung praktisch nichtmehr existent und viele Linke haben sich stattdessen ein ge-mütliches Plätzchen in der eigentlichen Mittelschicht gesi-chert, einer Mittelschicht, die, wie wir noch sehen werden,lediglich 20 bis 30 Prozent der amerikanischen Bevölkerungrepräsentiert. Aus dem Blickwinkel ihrer neuen Schicht be-trachten die Liberalen die weißen Arbeiter nunmehr als zor-nige, kriegstreiberische und bigotte Fanatiker, als willige Ma-rionetten im amerikanischen Weltmachttheater – eine solcheSicht wirft wiederum die Frage auf, wie diese Arbeiter zudem wurden, was sie sind, wenn sie denn so sein sollten, wieman ihnen unterstellt.

Mittlerweile gibt es eine Gruppe, die meine Leute als »li-berale Elite« ansehen, Menschen, die den AmerikanischenTraum immer noch in relativer ökonomischer Sicherheit le-ben. Die liberale Elite – und als solche muss man sie wahrlichbezeichnen – versteht sich selbst freilich nicht als elitär. DieMitglieder dieser Gruppe, mehrheitlich weiß und mit Hoch-schulabschluss, bewegen sich in einem Umfeld, das von Klo-nen ihrer selbst beherrscht wird. Aus ihrer Sicht dreht sichdas amerikanische Leben um Geld, Bildung, Hauseigentumund beruflich nützliche Freunde. Kann man ihnen das wirk-

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lich vorwerfen? Konditionierung ist alles, und wie sollten sieauch auf die Idee kommen, sich nicht an dem zu orientieren,was sie selbst erlebt haben beziehungsweise jeden Tag erleben,Erfahrungen, die ihnen das Gefühl vermitteln, ihre Privilegienseien natürlich und verdient?

Am anderen Ende des Melanin-und-Moneten-Soziometersfinden sich die Schwarzen. Und direkt neben ihnen schlechtbezahlte, ungebildete Rednecks, die Nachkommen von Ge-nerationen schlecht bezahlter, ungebildeter Rednecks, diesich in Vierteln voller Rednecks zusammenrotten und um-einander scharen.

Die Mittelschicht – und damit meine ich sowohl die Li-beralen als auch die Konservativen – ist ganz und gar abhän-gig von den Menschen meiner Klasse, der großen Masse derUnterbezahlten, wenig Gebildeten und Überarbeiteten. Dasist kein bloßes Gejammere, sondern eine simple Feststellungvon Tatsachen. Wir sind der Grund dafür, dass sich Amerikaeiner niedrigen Inflation erfreut und die privaten Alters -ruhegelder der Mittelschicht stabil bleiben. Gleichzeitig hatman dafür gesorgt, dass die Arbeiterschaft vollständig amTropf des Sozialhilfe-Programms hängt, eines Programms,das sich »Social Security« nennt und von der besitzendenKlasse über kurz oder lang durch die Hintertür gekürzt undprivatisiert werden wird, um die Aktienkurse in einer aufwundersame Weise den eigenen Interessen dienenden Schleifeund ganz im Sinne der von ihnen am meisten profitierendenoberen Mittel- und Oberschicht in die Höhe zu treiben. DieKonservativen, die in das obere Viertel der Gesellschaft hi-neingeboren wurden und Sozialhilfe-Programme noch niein Anspruch nehmen mussten, tun sich leicht damit, gegensolche Programme zu sein. Den aus demselben gesellschaft-lichen Segment stammenden Liberalen fällt die Ablehnungdieser Programme in moralischer Hinsicht nur geringfügigschwerer. Auf der Cocktail-Party spricht man sich für aktiveFörderungsmaßnahmen zugunsten benachteiligter Minder-heiten mit dem schönen Namen Affirmative Action aus, um

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im Anschluss über Shaneesa oder Marta herzuziehen, weilsie beim Beseitigen der Partyreste in der Küche Streifen aufden aus Granit gefertigten Arbeitsflächen hinterlassen hat.

Die Demokraten oder Linken scheinen nicht zu begreifen,dass die Bereitwilligkeit, mit der eokraten aus der Arbei-terschicht mit den Großunternehmern gemeinsame Sachemachen, wenn es darum geht, den liberalen Yuppies zu zei-gen, wo’s langgeht, auf dem Bedürfnis basiert, an ihnenRache zu üben. Der Arbeiterschaft ist die snobistische Arro-ganz, mit der sie von der oberen Mittelschicht betrachtetwird, durchaus bewusst. Diese Arroganz kommt aber erstans Licht, wenn sich die rauhen Kanten der beiden Weltenaneinander reiben.

Diejenigen, die der eigentlichen Mittel- und Oberschichtangehören, nehmen die Existenz realer Arbeiterinnen undArbeiter die meiste Zeit gar nicht richtig wahr. Dass ichGeld damit verdienen kann, über die circa 45 Millionen Ar-beiter zu schreiben und zu reden, die uns überall umgeben,Bürger dieser Nation, die unsere Autos reparieren, Straßenasphaltieren und Speisen im Restaurant servieren, sagt überdas amerikanische Klassensystem schon verdammt viel aus.Hierzu passt, was ein absolut anständiger liberaler Verlags -redakteur mir gegenüber einmal in New York anmerkte:»Das Ganze macht den Eindruck, als seien Ihre Leute soetwas wie Exoten, als wären Sie ein Einwanderer aus demJemen oder sonst einem seltsamen Land.«

Ich will hier beileibe nicht das falsche, von den Neokon-servativen fabrizierte Klischee des Briekäse essenden, Bieraus kleinen Öko-Brauereien süffelnden, Volvo fahrenden li-beralen Schlappschwanzes nähren. All das (und Schlimmeres)habe ich auch schon getan – bis auf den Volvo, in dem ichnur deshalb nicht herumgefahren bin, weil ich ihn mir nichtleisten konnte. Außerdem muss an dieser Stelle einmal fest-gehalten werden, dass meine Brüder und Schwestern aus derArbeiterklasse, auch wenn das liberale Amerika in der letztenZeit etwas zu selbstgefällig aufgetreten sein mag, komplett

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bescheuert waren, sich von Männern wie Karl Rove und PatRobertson oder der aufgesetzten Frömmigkeit eines GeorgeW. Bush derart täuschen zu lassen.

Tatsache ist, dass sich die Liberalen und die Arbeiter ge-genseitig brauchen, wenn sie die eskalierende ökonomischeKatastrophe überleben wollen, die uns ein Regime einge-brockt hat, das dereinst versprach, »dieses Land wie ein Un-ternehmen zu leiten«. Trotz der Zugewinne der Demokratenbei den Zwischenwahlen von 2006 muss sich die Linke ernst-haft darum bemühen, sich persönlich mit Amerikanern aus-einanderzusetzen, die nicht notwendigerweise sämtliche ihrerAnsichten teilen, und vor allem mit Amerikanern, die garnicht wählen gehen, wenn sie erreichen will, dass sich dieamerikanische Arbeiterschaft eines schönen Tages wieder vonihrer Politik angesprochen fühlt. Wenn die Linke nicht fürKlassengerechtigkeit steht, für was dann?

In diesem Sinne möchte ich Ihnen das Leben der ameri-kanischen Arbeiter näherbringen, näher als dies unsere Me-dien jemals tun würden, Sie mit Menschen konfrontieren,deren Kinder die Abschlussfahrt der High School nicht insDisneyland führt, sondern an die Front des Irakkriegs, Men-schen, die von der Obdachlosigkeit zwei Zahltage entferntsind, sich in ihrem Stolz aber an die Vorstellung klammern,zur amerikanischen Mittelschicht zu gehören. Der Hauptteildes Buchs, das man als eine Sammlung von eng miteinanderverbundenen essayistischen Reportagen bezeichnen könnte,beginnt mit einem Abend in einer lokalen Kneipe, demRoyal Lunch in Winchester, wo Sie Dottie, Dink und anderemalochende Seelen kennenlernen werden, die diesen Bandbevölkern. Im darauffolgenden Kapitel begegnen wir einigenArbeitern, die in der hiesigen Rubbermaid-Fabrik tätig sind,und werfen einen kritischen Blick auf die Konsequenzen derGlobalisierung für die Einwohner dieser Stadt. In Kapitel 3kaufen wir ein mobiles Eigenheim, bevor wir uns in Kapitel4 am Beispiel Virginia die Waffenkultur des amerikanischenKernlands ansehen, in einer Gegend, in die nur wenige Ver-

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fechter schärferer Waffengesetze jemals einen Fuß gesetzt ha-ben. Nach unserem Treffen mit leibhaftigen Anhängern dieserWaffenkultur werden Sie hoffentlich besser verstehen, warumdie Anstrengungen der Anti-Waffen-Fraktion in Amerikaniemals von Erfolg gekrönt sein werden. Diese Amerikanerlieben ihre Waffen aus vollkommen legitimen, wenn auchnicht immer beruhigenden, kulturell bedingten Gründen,die sich bis zur Immigration von schlachterprobten calvinis-tischen »Border Scots« in der Kolonialzeit zurückverfolgenlassen, Einwanderern, die nach blutigen Erfahrungen imenglisch-schottischen Grenzland bei ihrer Ankunft in Nord-amerika nur allzu bereit waren, sich an der Ausrottung von»gefiederten und bemalten gottlosen Heiden« wirksam zubeteiligen. Während des Irakkriegs durften wir dann livedabei sein, wie ihre Nachfahren mit dem Segen des ameri-kanischen Klerus ein weiteres Hindernis vom Pfad der De-mokratie und Rechtschaffenheit räumten (siehe Kapitel 6).Um herauszufinden, wie Menschen zu dem Glauben kom-men, Gott stünde hinter solchen Einsätzen, sollten Sie Kapitel5 lesen – hier stoßen wir auf Christen, die ein theokratischesStaatswesen fordern. In Kapitel 7 besuchen wir eine nahegelegene Kleinstadt, einen der vielen amerikanischen Billig-lohn- und Senioren-Gulags, über die in der Öffentlichkeitgar nichts mehr zu hören ist und in dem die Karaoke-Sänge-rin Dottie ihre letzten Tage verbringen wird. Dotties Schicksalzwingt uns, ein heißes Eisen anzufassen und unangenehmeFragen zu stellen: Warum werden berufstätige verheirateteFrauen um das Geld betrogen, das sie in unser Sozialsystemeingezahlt haben? Wie ist es möglich, dass Krankenhäuserunter dem Deckmantel der Gemeinnützigkeit den amerika-nischen Gesundheitssektor unter sich aufteilen und krankeGeringverdiener ohne Versicherungsschutz im Regen stehenlassen, während sie gleichzeitig Milliarden investieren, umkleine Ortskrankenhäuser aus dem Markt zu drängen undmit Wellness-Bädern und Fitness-Centern den großen Rei-bach zu machen? Im letzten Kapitel versuche ich mich an

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der Beantwortung der vielleicht entscheidendsten Frage: Wiezum Teufel kann es sein, dass ein Teil einer Nation so wenigüber das Leben des anderen Teils weiß oder wissen will? Wel-che große Illusion in der Inszenierung der amerikanischenLebenswirklichkeit hält uns so gefangen, dass wir diejenigen,die uns umgeben, nicht einmal wahrnehmen, geschweigedenn davon überzeugen können, nicht gegen ihre eigenen(und unser aller) Interessen zu stimmen? Die fragliche Illusionhabe ich »Das amerikanische Hologramm« genannt.

Dieses Buch wurde aus der Perspektive einer sich verän-dernden Kleinstadt in Virginia geschrieben. Die Schicht, ausder ich stamme, und die Menschen, die zu ihr gehören –diejenigen, die an der Kasse das Aroma eines Aschenbechersverbreiten, eine Packung Little Debbies in zehn Minutenverschlingen und nicht mehr für ein Loblied auf Jesus Chris-tus brauchen als einen Truck ohne Reserverad –, finden sichjedoch in sämtlichen Bundesstaaten unserer Nation. Viel-leicht würde es schon helfen, wenn wir Linken uns bei dernächsten Begegnung mit solchen scheinbar selbstzerstöreri-schen, starrsinnigen und ultrareligiösen Leuten ihren Pro-blemen gegenüber offen zeigen, wenn wir versuchen dieKomplexität ihrer Situation zu verstehen und gegebenenfallssogar die Solidarität aufbringen, spontan einen runderneu-erten Reifen zu spendieren, und sei es nur, weil das einefreundliche Geste wäre, eine Geste, die Vorbildern wie JoeHill, Eleanor Roosevelt und Mahatma Gandhi das Gefühlvermitteln würde, dass ihr Vermächtnis nicht völlig an unsvorbeigeht.

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kapitel 1

Die Leibeigenen Amerikasoder

Ein Abend im Ghetto des weißen Proletariats

73 Jungfrauen im arabischen Himmel und nicht eine einzigein dieser gottverdammten Bar!

Wandaufschrift, Herrentoilette,Royal Lunch, Winchester

Wenn ich mir das Leben der Arbeiterschicht in Städten wie Winchester vor Augen halte, fällt mir nur eine mög -liche Lösung ein: Bier. Deshalb sitze ich hier im RoyalLunch und bewundere das T-Shirt des fetten Pootie. Esträgt die Aufschrift: 1 MILLION FRAUEN IN DIESEMLAND WERDEN REGELMÄSSIG VERMÖBELT UNDMEINE TREIBT’S NICHT MAL AUF DEM SOFA MITMIR! Dass sich an dieser Aufschrift kaum jemand stört,sagt so ziemlich alles aus, was man über die hier herrschen-den kulturellen und geschlechterpolitischen Befindlichkeitenwissen muss. Wenn wir uns dann noch vergegenwärtigen,dass Pootie wählen geht, Waffen besitzt und berechtigt ist,hochprozentige alkoholische Getränke zu kaufen, sollte unswohl allen ein wenig mulmig zumute werden. Gott seiDank entpuppt sich heute Abend selbst billiges amerikani-sches Bier als ausreichend wirksames Palliativ, um solchebeängstigenden Gedanken zu zerstreuen.

Außerdem trägt Bier zur Allgemeinbildung bei und regtdarüber hinaus zum Nachdenken an. Ich nenne dieses vonmir selbst entwickelte Programm »Lernen durch Trinken«.Hier eine kleine Auswahl der Dinge, die mir erst im RoyalLunch wirklich klar geworden sind:

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1. Ziehe niemals mit einer Geschiedenen zusammen, diemit den Ratenzahlungen für ihr Haus zwei Monate imRückstand ist und schwört, dass sie noch nie besserenSex hatte.

2. Esse niemals Cocktail-Würstchen aus dem Urinal, egalwie hoch gewettet wird.

Wie Sie sehen, ist Lernen durch Trinken alles andere alslangweilig. Als jedoch Karaoke Einzug in die amerikanischenKneipen hielt, wurde meine hopfenreiche Herangehensweisean die Sozialwissenschaften richtig unterhaltsam, vor allemhier, wo sich die Teilnehmer am Karaoke-Wettbewerb fürdie drei Minuten, die man ihnen pro Woche als Star zuge-steht, so richtig in Schale werfen.

Nehmen wir zum Beispiel Dink Lamp, der da drüben inder Ecke sitzt und sich heute wie ein stoppelbärtiger WaylonJennings zurechtgemacht hat. Dink ist sechsundfünfzig. SeineUnsterblichkeit in dieser Stadt verdankt er allerdings wenigerseinen Waylon-Imitationen, die grottenschlecht sind (ebensowie seine Auftritte als Keith Whitley und Travis Tritt). Erverdankt sie der Tatsache, dass er 1963 auf dem Jahrmarktden boxenden Schimpansen besiegte. Das ist ein echtesKunststück, denn Schimpansen sind um einiges stärker alsMenschen und in der Lage, sich so in Rage zu versetzen,dass der als Faustkämpfer gefürchtete Primat einen stählernenMaulkorb trug. Sämtliche Veteranen unter den Stammgästendes Royal Lunch schwören, dass Dink den Schimpansen da-mals mit derart harten Schlägen eingedeckt hat, dass dieserdie Gitterstäbe des Käfigs hinaufkletterte und sich weigertewieder herunterzuklettern. Dink soll daraufhin einhundertDollar gewonnen haben. Ob das alles stimmt, weiß ich nicht.Ich war damals nicht dabei, weil meine gut christliche Familievon solchen Spektakeln nichts hielt. Eines aber steht fest:Dink ist taff genug, um so etwas fertigzubringen. (Den Le-serinnen und Lesern, die sich fragen, ob es tatsächlich Leutegibt, die Namen wie Dink oder Pootie tragen, kann ich nurzurufen: Na klar gibt es die! Wir haben in Winchester, der

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Stadt, die in diesem Buch die Hauptrolle spielt, nicht nureinen Dink und einen Pootie zu bieten, sondern auch Kerlemit Namen wie Gator, Fido, Snooky und Tumbug – obwohlwir den Letzteren einfach nur »Bug« rufen.)

Wie dem auch sei, wenn ein solcher Haufen in Ehren er-grauter Karaoke-Künstler aus Amerikas degradiertem Lum-penproletariat zusammenkommt, können Sie darauf zählen,dass zumindest eine Version von »Good-Hearted Woman«oder »Coal Miner’s Daughter« mit fragwürdigem Talent,aber einer Menge bierseligem Herz und Gefühl vorgetragenwird. Und wenn es um Herz und Gefühl geht, gilt eineFrau namens Dottie hier als unbestrittene Lokalmatadorin.Dot ist neunundfünzig Jahre alt, wiegt über einhundert-dreißig Kilo und singt als Patsy Cline fast so gut wie Patsysich selbst sang. Dots Repertoire umfasst neben »Crazy« je-den Patsy-Song, der jemals aufgenommen wurde (und selbsteinige, die es nicht bis ins Aufnahmestudio geschafft haben).Sie kennt Patsys unveröffentlichte Lieder, weil sie, wie vielein Winchester, wo der Country-Star aufwuchs, Patsy per-sönlich kannte. Wir hier wissen, wie sie von den Stadtoberenbehandelt wurde, wie man sie als versoffene Hure undSchlimmeres beschimpfte und zu ihren Lebzeiten bei jedersich bietenden Gelegenheit schnitt und beleidigte, und dassdie Geschäftsleute und Politiker von Winchester immernoch die Nase rümpfen, wenn ihr Name fällt. Patsy ließsich jedoch von niemandem etwas gefallen und kannteSchimpfwörter, die einen Komantschen zum Erröten brin-gen – sie war, wie soll ich mich ausdrücken, eben einer vonuns. Taff und vulgär. (Fluchen dient in unseren Kreisen alseine Art Zeichensetzung.) Patsy wuchs in ähnlich ärmlichenVerhältnissen auf wie wir selbst und musste sämtliche Krän-kungen und Benachteiligungen wegstecken, die eine Stadtwie Winchester auch heute noch für die Arbeiterschaft be-reithält. Sie hatte definitiv ein hartes Leben.

Dots Leben ist genauso hart wie Patsys. Genau genommensogar härter, denn sie lebt schon doppelt so lange, wie es der

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armen Patsy Cline vergönnt war, und man sieht es ihr auchan. Wenn meine Leute sechzig werden, geben wir in etwadasselbe Bild ab wie ein Haufen Hypertonie-geschädigter,rotgesichtiger Kröten während eines Schleim-Hust-Wettbe-werbs. Den Fakten nach zu urteilen sind wir sogar nochkränker als wir auf andere wirken. Die Ärzte sagen uns, dasswir Blut in unserem Cholesterin haben, und die Cops fügenhinzu, dass dieses Blut Alkohol enthält. Getreu den Gepflo-genheiten unserer Klasse leidet Dottie unter Herzbeschwer-den, Diabetes und mehreren anderen Krankheiten. Ihr Blut-druck ist so hoch, dass der behandelnde Arzt zunächst dachte,das Messgerät sei defekt. Und als würde das noch nicht aus-reichen, wurde auch noch festgestellt, dass Dottie langsamerblindet.

Ein zusätzliches Problem besteht darin, dass die Kosten fürDots Krankenversicherung ebenso hoch sind wie die für dieMiete. Ihr Alter verdient als Wagenwäscher bei einem Auto-händler 8 Dollar die Stunde – wenn alles optimal läuft, bleibenihnen für Lebensmittel, Benzin und alles andere circa 55Dollar die Woche. Kommt jedoch irgendeine unerwarteteAusgabe hinzu, und seien es nur 30 Dollar, müssen sie diesenUmstand in der Regel dadurch ausgleichen, dass sie eines vonDots Rezepten – manchmal sind es auch zwei oder drei – ersteinmal liegen lassen, wodurch sie kränker und kränker wird,bis die beiden den geforderten Eigenanteil angespart haben,um die Rezepte wieder einlösen zu können. Mit neunund-fünfzig werden diese zwangsläufigen Phasen gefäßgefährden-den Bluthochdrucks und risikoträchtiger Diabetes-Schübemit ziemlicher Sicherheit dafür sorgen, dass Dot, sollte siedas Eintrittsalter von dreiundsechzig überhaupt erreichen,von ihrer Sozialversicherungsrente nicht lange etwas hat. EinesTages wird die Oper des Lebens also tatsächlich zu Ende sein,wenn die sprichwörtliche dicke Dame für uns singt.

Mit dreizehn begann Dot zu arbeiten. Mit fünfzehn hei-ratete sie. In unserem Milieu ist das nichts Besonderes. Er-gänzt man diese Biographie noch mit dem Satz »im Alter

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