Aus Fehlern lernen - bundesaerztekammer.de · VORWORT 3 Wenn sich junge Menschen für einen...
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Profis aus Medizin
und Pflege berichten
Aktionsbündnis
Patientensicherheit e.V. (Hrsg.)
Aus Fehlern lernen
VORWORT
3
Wenn sich junge Menschen für einen Gesundheitsberuf entscheiden, dann wollen sie Patienten
helfen, Krankheiten heilen und Beschwerden lindern. Dass Patienten durch ihr Tun auch zu Scha-
den kommen können, erscheint ihnen als entlegener Gedanke. Doch wo Menschen arbeiten, sind
Fehler nicht zu vermeiden, gerade wenn man die komplexen und schnellen Abläufe in der mo-
dernen Medizin und Pflege berücksichtigt.
Hohe Qualität und Sicherheit der gesundheitlichen Versorgung lassen sich längerfristig nur
erhalten, wenn jeder konsequent versucht, aus vermeidbaren Fehlern, Schäden und Beinahe-
Schäden zu lernen. Dazu gehört in erster Linie, dass solche Ereignisse nicht verschwiegen wer-
den, sondern dass darüber gesprochen oder – zumindest anonym – berichtet wird, um Schwach-
stellen aufzudecken und wirksame Strategien der Risiko- und Fehlerprävention entwickeln zu
können. Das Entstehen von lokalen und überregionalen Risiko-Berichtssystemen im Gesundheits-
wesen begrüßen wir ausdrücklich und möchten zu ihrer regen Nutzung auffordern und ermutigen.
Dies wollen auch 17 Autorinnen und Autoren aus dem ärztlichen, pflegerischen und therapeu-
tischen Berufsfeld, denen unser besonderer Dank gilt. Sie schildern in diesem Band in sehr per-
sönlicher Weise Episoden, in denen ihnen Fehler unterlaufen sind, und denken darüber nach, was
sie selbst daraus gelernt haben und andere daraus lernen könnten. In zwei Fachbeiträgen wer-
den Behandlungsfehlerfälle einer systematischen Ursachenanalyse unterzogen. Dabei zeigt sich,
dass nicht die Suche nach dem Schuldigen im Vordergrund stehen sollte, sondern dass das Er-
kennen abstellbarer Schwachpunkte und Sicherheitslücken auf der Systemebene der wichtigste
Schritt zur künftigen Fehlervermeidung ist. Das Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V. und die
Mitherausgeber wünschen sich, dass diese Broschüre weite Verbreitung findet. Sie ist ein Beitrag
für die Fortentwicklung einer modernen Sicherheitskultur im Gesundheitswesen und für einen
kulturellen Wandel in der Gesellschaft im Umgang mit Fehlern.
Fehler erkennen, um Fehler zu vermeiden
Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich HoppePräsident der Bundesärztekammer
Prof. Dr. med. Matthias SchrappeVorsitzender Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V.
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Fehler und Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
Systematische Fehleranalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Fehler und Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
Service . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
IMPRESSUM
Konzeption: KomPart Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Kortrijker Straße 1, 53177 Bonn
Redaktion: Bettina Nellen • Grafik: Beatrice Hofmann, Johannes Nerger
Stand: Januar 2008, 1. Auflage: 50.000 Expl.
Herausgeber:
Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V. in Zusammenarbeit mit:
Inhalt
Danksagung:
Das Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V. dankt dem AOK-Bundesverband für die
Organisation und Finanzierung dieser Broschüre.
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Dieses Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Wiedergabe, Vervielfältigung und
Verbreitung gleich welcher Art, auch von Teilen des Werkes, bedürfen der ausdrücklichen Genehmigung des Herausgebers.
FEHLER UND FOLGEN
Regelmäßig zwei Nächte pro Woche arbeite ich damals, während mei-nes Studiums, als Krankenschwester auf der Intensivstation eineskonfessionellen Krankenhauses. Die Ärzte, die tagsüber die Verant-wortung tragen, sind mir nicht bekannt. In einer der ersten Nächteübernehme ich die Verantwortung für einen jungen beatmeten Pa-tienten, der nach einer Hirnblutung zusammengebrochen war. Ichfinde ihn sediert und intubiert vor. Sein bisheriger Krankheitsver-lauf ist stabil, er wird als tief bewusstlos eingestuft.
Gegen 23 Uhr öffnet er die Augen. Ich erkläre ihm seine Situa-tion, woraufhin er die Augen wieder schließt und einschläft. Kurznach 24 Uhr bemerke ich, dass zähflüssiger Schleim den Tubus ver-schlossen hat. Der Pfropf lässt sich nicht absaugen. Der Patient ringtum Luft, sein Herzschlag setzt aus. Ich entschließe mich, den Beat-mungsschlauch kurz zu entfernen, um den Schleimpfropf von derunteren Öffnung her mit einem Handbeatmungsgerät (Ambubeutel)zu entfernen. Es gelingt. Mit einer Herzmassage und manueller Be-atmung kann ich seine Herzfunktion wieder in Gang setzen. Mehr-mals rufe ich den diensthabenden Arzt an und bitte ihn zu kommen.Vergeblich. In der Nacht muss ich die Prozedur mit dem Ambubeutelmehrfach wiederholen. Bei der morgendlichen Übergabe berichte ichvon den nächtlichen Zwischenfällen, die ich auch dokumentiert habe.Gegen 7:30 Uhr gehe ich nach Hause.
In der Nacht darauf erfahre ich, dass der Patient gegen 8 Uhr erneut einen Atemverschluss erlitten hat und die anwesenden Kol-legen ihm nicht mehr helfen konnten. Ich mache mir heftige Vor-würfe: Ich hatte mit der mich ablösenden Kollegin am Morgen nichtsofort eine sichere Lösung gesucht. Und ich hätte nicht immer wie-der denselben diensthabenden Arzt anrufen sollen, der ja nichtkam. Hinzu kam, dass wir personell chronisch unterbesetzt waren.
Seit diesem Vorfall achte ich immer darauf zu wissen, wer dieHintergrundbereitschaft hat.
Ich hätte nicht immer denselben
diensthabenden Arzt anrufen sollen,
der ja doch nicht kam.
Professorin
Christel Bienstein,
Krankenschwester und
Diplompädagogin,
Leiterin des Instituts
für Pflegewissenschaften
der Privaten Universität
Witten/Herdecke gGmbH,
Fakultät für Medizin
Sie ist etwa 75 Jahre alt und hat starke Luftnot, als ich sie als jungerAssistenzarzt im Nachtdienst sehe: schneller Pulsschlag, niedrigerBlutdruck, deutliche Rasselgeräusche beim Atmen – die Diagnoseist schnell klar – Herzschwäche mit Wasseransammlung in der Lun-ge. Ihr Zustand bessert sich rasch unter der Gabe von harntreiben-den Medikamenten.
Ich untersuche die Patientin sorgfältig und glaube, mit meinemStethoskop über dem Herz die Verengung einer Herzklappe und dieSchwäche einer anderen zu hören. Das ist den sie bislang behan-delnden Ärzten nicht aufgefallen. Und tatsächlich, meine Diagnosewird durch den Ultraschallbefund des Herzes bestätigt.
Mit ausgeprägtem Stolz und dem Ziel, meiner Diagnose eine ur-sächlich heilende Therapie folgen zu lassen, präsentiere ich meinePatientin den Kardiologen und Kardiochirurgen. Sie haben aber auf-grund verschiedener Befunde Bedenken, ihr neue Herzklappen ein-zusetzen. Ich sammele weitere Befunde und stelle den klinischenZustand der Patientin dann so dar, dass die Herzschwäche als sehrbedrohlich, ihre sonstige Verfassung aber eher günstig erscheinen.
Womit ich nicht gerechnet habe: Die Patientin will gar nicht ope-riert werden. Sie sagt mir, sie habe große Angst davor, sie möchtelieber noch einmal ihre Enkel sehen und deshalb bald nach Hause.Lange sitze ich an ihrem Bett, spreche mit ihr und kann sie schließ-lich überreden, der Operation zuzustimmen. Eine Woche nach derVerlegung in die Kardiochirurgie erfahre ich, dass die Patientinkurz nach der Operation verstorben ist.
Mein Fehler war, dass ich meinen eigenen Erfolg zeigen wollteund den Willen der Patientin missachtet habe. Ich hätte vor denKollegen mit meiner Diagnose, die andere übersehen hatten, erstrichtig prahlen können, wenn die Patientin durch die Operation„geheilt“ worden wäre. Für diesen Ärzteegoismus habe ich das Le-ben meiner Patientin aufs Spiel gesetzt und verloren.
Professor Dr. med. Peter Sawicki,
Facharzt für Innere Medizin,
Diabetologe,
Leiter des Instituts für Qualität
und Wirtschaftlichkeit im
Gesundheitswesen, Köln
Mein Fehler war, dass ich meinen
eigenen Erfolg zeigen wollte und den
Willen der Patientin missachtet habe.
FEHLER UND FOLGEN
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FEHLER UND FOLGEN
Eine junge Weitspringerin wird zur Arthroskopie ihres Kniegelenksbei Verdacht auf Innenmeniskusschaden in das Krankenhaus ein-gewiesen, in dem ich vor vielen Jahren als junger Assistenzarzt be-schäftigt war.
Das eigentlich vorgesehene Operationsteam ist noch mit der Ver-sorgung eines schwer verletzten Unfallopfers beschäftigt, weshalb einzweites Team, dem auch ich angehöre, gebeten wird, die Operation zuübernehmen. Ich komme mit meinem Oberarzt in den Operationssaal.Die Patientin ist bereits fertig gelagert und steril abgedeckt. Ich kon-trolliere das Aufklärungsblatt und beginne mit der Arthroskopie desrechten Knies. Wir finden aber keinen relevanten Meniskusschadenund können trotz langen Suchens keine Erklärung für die Beschwer-den im Kniegelenk finden. Ein ungutes Gefühl bleibt zurück.
Mittags, nach Ankunft auf der Station, berichtet uns die Sta–tionsschwester bestürzt, dass wir die falsche Seite operiert hätten.Wie konnte das passieren?
Die Patientin ist am Tag vor der Operation noch sorgfältig auf-geklärt worden. Versehentlich aber wurde, aus welchem Grund auchimmer, die falsche Seite auf der Operationseinwilligung vermerkt.Die Patientin hat dann wohl in ihrer Aufregung auch für die falscheSeite unterschrieben. Dem aufklärenden Arzt ist die Seitenver-wechslung im Aufklärungsbogen ebenfalls nicht aufgefallen. DasPflegepersonal hat dann das rechte Knie abgedeckt und ich habe„konsequenterweise“ das falsche Knie operiert.
Das Ereignis hat mich damals sehr beschäftigt. Ich wollte aufkeinen Fall, dass bei Patienten, die ich operiere, eine solche Ver-wechslung in Zukunft noch einmal vorkommt. Ich zog also die Kon-sequenz: Seit diesem Vorfall markiere ich am Morgen der Operati-on immer beim wachen Patienten die zu operierende Extremität miteinem nicht abwischbaren Stift. Und diese Methode predige ich seit-her auch meinen Kolleginnen und Kollegen.
Dienstagmorgen 8:00 Uhr, Hausarztpraxis in Alsdorf: Das Telefon klin-gelt, Patienten stehen im Eingangsbereich zur Anmeldung an, dasWartezimmer ist voll. Ich versorge seit 7:30 Uhr die ersten Patienten.Nach kurzem Klopfen steht Frau B., eine meiner drei Helferinnen, imSprechzimmer. Heute sind jedoch nur zwei da, eine Kraft ist erkrankt.Ich sehe Frau B. an, dass etwas nicht stimmt. „Herr Doktor“, setzt siean, „beinahe wäre etwas passiert, was mir noch nie passiert ist. Ichhätte Ihnen fast die Spritze für Herrn M. mit Methotrexat hingelegt,dabei war doch Frau Z. dran und sollte Erythropoetin bekommen.“Meine Stirn legt sich in Falten. Das geht aber nicht, schießt es mirdurch den Kopf. Ich muss mich auf die Zuarbeit verlassen können.
Doch ehe ich lospoltere, erinnere ich mich noch rechtzeitig an ei-nen Ärztekongress, den ich kurz zuvor besucht hatte und auf dem einPilot darüber berichtet hatte, dass die Fluggesellschaften ihren Mit-arbeitern Prämien bezahlen, wenn sie Beinahe-Fehler melden. Denndiese Meldungen leisten einen großen Beitrag zur Flugsicherheit.
Hat Frau B. nicht gerade einen Beinahe-Fehler gemeldet? Ich at-me tief durch und werde nicht laut. Stattdessen frage ich nach, wasdenn los war. Es stellt sich heraus, dass Frau B. sowohl die Vorbe-reitung für die Spritzen als auch das Telefon übernommen hat, unddas in der Stoßzeit. Die Kollegin bereitete derweil die Abrechnungs-unterlagen vor. Ich danke Frau B. für ihre Aufrichtigkeit; sie ist zwarerstaunt über diese Reaktion, vor allem aber erleichtert. Sofort zie-he ich ihre Kollegin von der Abrechnung ab und weise an, dass siedas Telefon und die Anmeldung übernimmt.
Nach Schluss der Sprechstunde berufe ich eine Teambespre-chung ein. Wir benennen die verschiedenen Prozesse, die am Mor-gen parallel abliefen und sich dann beinahe unheilvoll verschränkthätten. Zum Schluss bitte ich meine Helferinnen ausdrücklich dar-um, mir auch weiterhin Beinahe-Fehler zu berichten. Und ich ver-spreche im Gegenzug, diese Aufrichtigkeit nicht zu sanktionieren.
Professor Dr. med. Bertil Bouillon,
Facharzt für Chirurgie,
Direktor der Klinik für
Unfallchirurgie, Orthopädie und
Sporttraumatologie, Lehrstuhl der
Universität Witten/Herdecke
am Klinikum Köln-Merheim
Auf dem Operationsbogen ist die rechte
Seite vermerkt. „Konsequenterweise“ operiere
ich das falsche Knie.
Ich wollte schon lospoltern, da besann ich
mich eines Besseren: Meine Helferin hatte mir
gerade einen Beinahe-Fehler berichtet.
Dr. med. Leonhard Hansen,
Praktischer Arzt, Alsdorf,
Vorsitzender der Kassenärztlichen
Vereinigung Nordrhein
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FEHLER UND FOLGEN
Der große und leicht übergewichtige Patient kommt mit der DiagnoseEnddarmkrebs zu mir. Ich entferne den Enddarm unter Erhalt desAfters, die Operation verläuft planmäßig. Wenige Tage nach der Ope-ration wird der Patient wegen Verdachts auf Veränderungen imunteren Abschnitt der Lunge geröntgt. Zufällig zeigt die Aufnahmeam Rand auch Teile einer Klemme im Bauch. Ich unterrichte denPatienten sofort über den Befund. Die Klemme wird unter erneuterEröffnung der Bauchwunde entfernt. Ich melde den Fall meiner Ver-sicherung. Der Patient erhält von der Versicherung in außergericht-licher Einigung ein Schmerzensgeld.
Natürlich bin ich als Operateur der Verantwortliche und Schul-dige. Immer wieder überlege ich, wie ich die Klemme habe „verges-sen“ können. Ich habe mit einem Assistenten operiert, mit dem ichnoch wenig zusammengearbeitet hatte. Während der Operation ha-be ich ihm mehrfach gesagt, dass er bestimmte Dinge tun oder un-terlassen solle. Ich hatte ihn allerdings beim Verschluss der Bauch-decke nicht daran gehindert, eine Klemme an einer Stelle am Bauch-fell zu fixieren, wo ich normalerweise eine solche Klemme nichthinsetze. Ich tat es nicht, um ihn nicht noch einmal zurechtzuwei-sen. Möglicherweise war es diese Klemme, die am dünnen Bauch-fell abgerissen und unter die Bauchdecke gerutscht war. Die Opera-tionsschwester hat zwar die Tupfer und Bauchtücher nach der Ope-ration gezählt, nicht jedoch die Instrumente.
Ungefähr fünf Jahre nach der Operation kommt der Patient er-neut in meine Sprechstunde. Bei ihm sei ein Leistenbruch diagnos-tiziert worden, und er bittet mich, diesen zu operieren. Ich bin er-staunt, dass er gerade zu mir kommt. Er erklärt, er sei offensicht-lich gut operiert worden, sein Tumorleiden sei jetzt nach fünf Jahrennicht wiedergekommen. Wir hätten zwar einen Fehler gemacht, die-sen Fehler jedoch sofort offen eingestanden und korrigiert. Er habedeshalb Vertrauen in meine Person und die Klinik.
Immer wieder überlege ich, wie ich die
Klemme im Bauch meines Patienten habe
„vergessen“ können.
Professor Dr. med.
Matthias Rothmund,
Facharzt für Chirurgie
Direktor der Klinik für
Visceral-, Thorax- und Gefäß-
chirurgie, Universitätsklinikum
Gießen und Marburg GmbH
Im Nachtdienst einer chirurgischen Wachstation muss ich als Kranken-schwester bei einer Patientin mit einem Luftröhrenschnitt und nacheiner gynäkologischen Totaloperation alle Beobachtungsparameter,Infusionstherapie, Schmerztherapie und Wundheilung überwa-chen. Die Patientin liegt in einem etwas abseits gelegenen Einzel-zimmer. Der Fall liegt über 30 Jahre zurück, aber ich erinnere michnoch gut daran.
Ein regelmäßiges Absaugen der oberen Luftwege wird notwendig,weil die Patientin sehr verschleimt ist. Zudem ist sie unruhig, fastaggressiv. Dazu gesellt sich eine ausgeprägte Hektik auf der gesamtenStation durch Neuzugänge und frisch operierte Patienten. Die Doku-mentation erfolgte seinerzeit noch von Hand. Ich hetze von Patient zuPatient. Beim Wechseln der Infusionsflasche muss ich bei der gynäko-logischen Patientin die Verweilkanüle neu fixieren. Andere Patientenklingeln und rufen. Ich lasse mich von der Hektik anstecken undvergesse das vorbereitete Fixierpflaster, das ich an den Infusions-ständer geklebt hatte, und verschwinde zum nächsten Patienten.
Nachdem ich die anderen Patienten versorgt habe, gehe ichwieder unverzüglich zu meiner gynäkologischen Patientin. Sie liegtleblos und blau-marmoriert im Bett. Die Klingel war außerhalb ih-rer Reichweite gerutscht. – Sie hat sich das abgeschnittene Fixier-pflaster vom Infusionsständer über die Kanüle gezogen, die in derLuftröhre steckt, und ist erstickt.
Dieses dramatische Ereignis hat mich für mein berufliches undprivates Leben nachhaltig geprägt. Seither weiß ich: Bei der Patien-tenversorgung geht es um mehr als nur das formale, technische Ab-arbeiten von Gelerntem. Die Stimmungslage des Patienten, seineemotionalen Botschaften dürfen, auch wenn es hektisch wird, nichtignoriert werden. Seit jenem Ereignis reagiere ich immer auf denganzen Menschen, nehme ihn und seine Bedürfnisse ernst. Und ichlasse mich nicht mehr unter Druck setzen.
Marie-Luise Müller,
Pflege-Qualitätsmanagerin,
Präsidentin des Deutschen
Pflegerates, Berlin
Seit jenem dramatischen Ereignis achte ich
immer auch auf die emotionale Botschaft des
Patienten – selbst wenn es hektisch wird.
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FEHLER UND FOLGEN
Alles sieht nach Routine aus, die Patientin lässt sich – kurz vor ihrerAuswanderung nach Kanada – noch schnell eine Fettgeschwulst amRücken entfernen. Nach Ziehen der Drainage sammelt sich jedochFlüssigkeit in der Wundhöhle. Mit einer Kanüle der Stärke 1 entfer-ne ich die Flüssigkeitsansammlung und setze meine Visite fort.
Kurze Zeit später erhalte ich einen Anruf aus der Röntgenabtei-lung: Bei der Patientin sei eine akute Atemnot aufgetreten, die Sta-tionsärztin veranlasste daraufhin sofort eine Röntgenkontrolle, diedie Verdachtsdiagnose bestätigt. Die Lunge ist kollabiert: Pneumo-thorax. Ich eile zur Patientin in die Notaufnahme, wo bereits alleMaßnahmen für das Legen einer Drainage getroffen sind.
So schwer es mir auch fällt: Beim Anblick der schwer atmenden Patientin ist mir klar, das es keine andere Möglichkeit gibt, die Drai-nage muss sofort gelegt werden. Mit wenigen Worten versuche ichder Patientin zu erklären, was geschehen ist, und fühle mich ent-setzlich dabei. In drei Tagen wollte sie in Kanada sein! Stattdessenliegt sie nun, durch meine Schuld, zunächst zur Beobachtung aufder Intensivstation. Glücklicherweise entfaltet sich die Lungeschnell, sodass sich zumindest die Atembeschwerden rasch zurück-bilden. Schweren Herzens belasse ich aber die Drainage so lange,bis endgültig klar ist, dass die Entfernung nicht einen erneutenKollaps der Lunge auslöst.
Die Patientin erkennt meine Betroffenheit und macht mir keineVorwürfe. Auch meine Kollegen der Inneren Medizin bestätigen,dass sie es nicht für möglich gehalten hätten, mit einer Kanüle derStärke 1 einen Pneumothorax verursachen zu können. Nun, mir istes offensichtlich gelungen.
Vor einer Klage geschützt hat mich sicherlich, dass ich mich ganzbesonders intensiv um diese Patientin gekümmert habe. Belastet hatmich allerdings sehr, dass ich der Patientin keine Erklärung für dasEreignis liefern konnte.
Niemand hätte es für möglich gehalten,
mit einer Kanüle der Stärke 1 einen
Pneumothorax verursachen zu können.
Dr. med. Marita Eisenmann-Klein,
Fachärztin für Chirurgie und
Plastische Chirurgie, Hand-
chirurgie, Direktorin der Klinik
für Plastische und Ästhetische,
Hand- und Wiederherstellungs-
chirurgie, Caritas-Krankenhaus
St. Josef, Regensburg
Es ist Freitag, früher Abend. Die Rettungsstelle in einem BerlinerSchwerpunktkrankenhaus ist rappeldicke voll. Wir müssen uns ummehrere schwerer Verletzte und Erkrankte kümmern. Ich werde zueiner jungen Frau in die Kabine geschickt, die eine eitrige Entzün-dung am Zeigefinger mit beginnender Blutvergiftung hat. Die sehrerfahrene Rettungsstellenschwester drückt mir das entsprechendeBehandlungsformular in die Hand und verschwindet. Ich reinige dieWunde und lege einen Salbenverband an, der infizierte Finger wirdgeschient. Die Patientin sieht den Aktivitäten aufmerksam unddankbar zu. Bevor ich sie aus der ambulanten Behandlung entlasse,erkläre ich ihr, worauf sie gegebenenfalls wegen einer Blutvergif-tung achten müsse und dass sie sich am nächsten Tag bei einemChirurgen vorstellen solle. Gegen die beginnende Blutvergiftungbekommt sie von mir ein Penizillin gemäß der aktuellen Leitlinie.
Die Schwester steht im Türrahmen und gibt mir mit strengemBlick zu verstehen, dass ich mich beeilen möge, weil draußen nochweitere 20 Patienten warten. Trotz einer leisen Vorahnung unter-schreibe ich den Behandlungsschein, verabschiede mich von derPatientin und düse in die nächste Behandlungskabine.
Zwei Tage später sprechen mich die Kollegen der Rettungsstellean, was ich denn mit der Patientin mit dem Fingerinfekt gemachthabe. Sie hätte von mir Antibiotika bekommen und war am nächs-ten Morgen, von einem Hautausschlag übersät, wieder in die Ret-tungsstelle gekommen. Der Patientin war bekannt, dass sie eineAllergie auf Penizillin-Präparate hat.
Ich hatte es noch im Gefühl und trotzdem nicht gefragt. Ein kla-rer und einfacher Fehler meinerseits und eigentlich leicht vermeid-bar. Als behandelnder Arzt trage ich die Verantwortung für denPatienten und hafte mit meinem Namen auch auf dem Behandlungs-schein. Ich habe mich nie wieder zu unnötiger Eile verleiten lassenoder gegen mein Gefühl gehandelt.
Dr. med. Günther Jonitz,
Facharzt für Chirurgie,
Präsident der
Ärztekammer Berlin
Ich habe mich nie wieder zu
unnötiger Eile verleiten lassen.
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Einleitung: Systematische Fehleranalysen
Sicherheitslücken im System aufdecken
ANALYSEN
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„Für die Ärzteschaft hat Patientensicherheit
höchste Priorität. Das ethische Gebot des ‚primum
nil nocere‘ – zuallererst keinen Schaden anrichten –
ist so alt wie die Medizin selbst.“
Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe,
Präsident der Bundesärztekammer
„Für beruflich Pflegende steht die Patienten-
sicherheit und die individuelle Zufriedenheit der
Patienten im Betreuungs- und Versorgungsprozess
im Vordergrund. Sie sind aufgefordert, die
Grundsätze des Ethikkodexes des International
Council of Nurses (ICN*) einzuhalten.“
Marie-Luise Müller,
Präsidentin des Deutschen Pflegerates
Denjenigen, denen individuelle Fehler am Ende einer Fehlerkette unterlaufen, ist oft selbstnicht bewusst, dass Systemprobleme für deren Entstehen mit ursächlich sind. Ein Beispiel ausder Praxis: Im Risikoberichtssystem einer Neonatologie/Kinderintensivstation in Bremen tau-chen innerhalb kurzer Zeit vier Meldungen über spontane Extubationen auf. Zum Glück bleibtdas Herausrutschen der Beatmungsschläuche für alle Neugeborenen folgenlos. Die Berichtestammen von vier Kinderkrankenschwestern, die alle glauben, das Pflaster zur Fixierung desSchlauchs nicht gut genug aufgeklebt zu haben. Ein Oberarzt, im lokalen Risikomanagementder Klinik erste Instanz bei der Berichtsanalyse innerhalb des Critical-Incident-Reporting-Systems (CIRS), nimmt die Schilderungen zum Anlass einer gezielten Recherche. Er findet her-aus, dass die Einkaufsabteilung seit Kurzem ein neues, kostengünstigeres Pflaster bestellt unddieses nun im Einsatz ist. Es hat offenbar bei der höheren Luftfeuchtigkeit und Wärme, wie siein den Inkubatoren vorherrscht, schlechtere Klebeeigenschaften auf der Säuglingshaut. SeitWiedergebrauch des ursprünglichen Pflasters tauchen keine solchen Risikoberichte mehr auf.
Nicht immer sind die Zusammenhänge so einfach wie in diesem Beispiel. Kritische Ereignis-se, die Folgen für die Patienten haben, entstehen häufig durch eine komplexe Verkettungkleinerer Einzelfehler, ungünstige Begleitumstände, Systemmängel und das Versagen vonSicherungs- und Kontrollmechanismen. Wie durch die systematische Aufarbeitung von Feh-lern gelernt werden kann, solche Ereignisse zu verhindern, zeigen im Folgenden zwei Lehr-beispiele. In Fall 1 nutzen die Autoren ein etabliertes Analyseprotokoll zur Auswertung einesausführlichen Gutachtens zu einem Behandlungsfehler. Auch ohne die Möglichkeit der Vor-Ort-Recherche werden so systematisch Ansatzpunkte zur künftigen Fehlervermeidung her-ausgearbeitet. In Fall 2 führen die Autoren eine hoch differenzierte Analyse durch, die aufaktuellen Konzepten der internationalen Fehlerforschung beruht. Auch wenn unter Alltags-bedingungen wahrscheinlich nur weniger aufwendige Analyseverfahren für das Risiko-management genutzt werden können, so zeigt das Beispiel doch überzeugend, wie die strengeSystematik der Fehleranalyse zielgenau Schwachpunkte des Systems identifizieren, priori-sieren und verbessern kann. * www.dbfk.de ➞ Kasten „Ethikkodex – ICN“ anklicken
15
Die Patientin, 44 Jahrealt, wird am 24.7. nach
einem epileptischen Anfall intubiert undbeatmet in eine Universitätsklinik aufge-nommen. Sie wird dort zunächst zwei Tagelang auf der neurologischen Intensivstationbehandelt und am 26.7. auf die internisti-sche/kardiologische Intensivstation verlegt.Am 13.8. erfolgt ihre Rückverlegung auf dieneurologische Intensivstation.
Während der primären notärztlichen Be-handlung des epileptischen Anfalls wird diePatientin zunächst mit einer Maske beat-met. Da dies jedoch nicht zu einer Verbesse-rung ihres Zustands führt, wird sie intubiert
und beatmet. Hierbei kommt es zu Erbre-chen und Aspiration. Im weiteren Verlaufentwickelt die Patientin eine Lungenentzün-dung (Aspirationspneumonie) mit zuneh-mender Spastik (Verkrampfung der glattenMuskulatur der Bronchien) bei vorbeste-hendem Asthma bronchiale. Sie wird des-halb auf die internistische/kardiologischeIntensivstation verlegt. Am 3.8. muss schließ-lich ein Luftröhrenschnitt (Tracheotomie) vor-genommen werden.
Bei der Patientin sind weitere Vorerkran-kungen bekannt: Zustand nach Operationeines Hirnhaut-Tumors im linken Schläfen-bereich (Meningeom links temporal); auch
ANALYSE 1
FALL 1
Falschen Zugang für konzentrierte Kaliumchlorid-Infusion verwendetJulia Rohe, Johann Neu, Christian Thomeczek
Eine Patientin wird von der neurologischen auf die internistische/kardiologische
Intensivstation verlegt. Dort wird der auf der neurologischen Intensivstation gelegte
periphere Zugang am linken Unterarm fälschlicherweise für einen zentral-venösen Zugang
gehalten, über den die sedierte Patientin wegen Kaliummangels konzentrierte Kalium-
chlorid-Lösung erhält. Die Folgen: verlängerter Krankenhausaufenthalt, zusätzliche
Operationen, andauernde Störungen der Sensibilität in Daumen und Zeigefinger,
Schmerzen und kosmetische Beeinträchtigungen. Die Analyse, die auf einem Gutachten
der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern beruht,
zeigt, wie die Aufeinanderfolge von Mängeln in den Sicherheitsbarrieren dazu führt, dass
aus einfachen Risiken ein großer Schaden entstehen kann.
DER FALL:
„Nur mit denen können wir
freimütig über unsere Fehler
sprechen, die Anerkennung
für unsere Fähigkeiten haben.”
(André Maurois, 1885–1967, französischer Schriftsteller und Historiker)
Viele Fehlerquellen stecken
schon im System.
1716
ANALYSE 1ANALYSE 1
ein Rezidiv des Tumors ist operiert worden;es besteht zudem eine operative Verbin-dung zwischen dem Liquorraum im Gehirn und der Bauchhöhle (ventriculo-peritone-aler Shunt); Zustand nach Implantationvenöser Portkathetersysteme, um vorüber-gehend dauerhaft Medikamente und Infu-sionen verabreichen zu können.
Im Rahmen der intensivmedizinischenBehandlung erhält die Patientin am 24.7.eine periphere Infusionskanüle am linken
Unterarm sowie einen zentral-venösen Infu-sionskatheter in die rechte Halsvene (Venajugularis interna rechts). Ferner ist bei derPatientin ein venöser Port links angelegt,über den aber laut Dokumentation „nichtslief“. Der periphere Zugang am linken Un-terarm ist mit einem großflächigen Verbandversehen.
Nach der Verlegung auf die internisti-sche/kardiologische Intensivstation am 26.7.wird der sedierten und mit Schmerzmittelnversorgten Patientin wegen bestehendenKaliummangels (3,2 mmol/l) konzentrier-te Kaliumchlorid-Lösung (10 mmol/h) ver-schrieben. Die zur Verabreichung verwen-dete Infusionspumpe wird am 26.7. gegen17 Uhr an die periphere Infusionskanüle amlinken Unterarm angeschlossen, weil wegendes großflächigen Verbands angenommenwird, dass es sich um einen zentralen Zu-gang handelte. Am selben Tag gegen 24 Uhrwird bei einem Verbandswechsel bemerkt,dass es sich um einen peripheren Zuganghandelt. Der Perfusor wird daraufhin an denzentral-venösen Katheter rechts angeschlos-sen. Am linken Unterarm zeigen sich zu die-sem Zeitpunkt bereits Entzündungszeichenund an der Punktionsstelle eine Nekrose(abgestorbener Hautdefekt).
Der periphere Zugang wird entfernt,und der diensthabende Arzt ordnet dieKühlung mit dem Antiseptikum Rivanol®
sowie die Hochlagerung des Arms an. Auchan den folgenden Tagen wird der linke Un-terarm mit Rivanol-Verbänden behandelt.Am 6.8. erfolgt ein chirurgisches Konsil.Der Chirurg beschreibt eine eingetrockneteNekrose mit aufgeweichten Randbezirken
am linken Unterarm von etwa 4x7 cm Grö-ße. Nach weiteren zwei Tagen konservati-ver Behandlung erfolgt am 10.8. die ersteoperative Abtragung der Nekrose. Fernermuss die Patientin zehn weitere operativeEingriffe über sich ergehen lassen, darun-ter auch eine Defektdeckung mit Haut-lappen aus der Leistengegend. Diese Opera-tionen bedeuten für sie eine Verlängerungdes Krankenhausaufenthaltes um etwazwei Monate. Zudem muss die Patientinzwei weitere stationäre Aufnahmen für ope-rative Eingriffe im November desselbenund im März des darauffolgenden Jahresauf sich nehmen.
Zusammenfassung der gutachterlichen Stel-
lungnahme: Zum Zeitpunkt des Gutachtensleidet die Patientin unter Sensibilitätsstö-rungen im linken Daumen und Zeigefinger,weil der oberflächliche Ast des Speichen-nervs (Ramus superficialis des Nervus ra-dialis) geschädigt worden ist. Aufgrund derNekrosenabtragung und der Defektdeckungbestehen bei ihr Narben am linken Unterarmund in der Leiste. Die Patientin klagt außer-dem über Schmerzzustände im Narbenge-biet des linken Unterarms und über die kos-metische Beeinträchtigung.
Die Schlichtungsstelle für Arzthaft-pflichtfragen der norddeutschen Ärztekam-mern stellt folgende Umstände fest:● Die intensivmedizinische Behandlung ist
grundsätzlich nicht zu beanstanden.● Bei der Verlegung der Patientin von der
neurologischen Intensivstation auf dieinternistisch/kardiologische Intensivsta-tion lag keine ausreichende Dokumen-
tation über Art und Lage der Zugänge vor,und es fand keine ausreichende Kommu-nikation darüber statt. Dies hatte zur Fol-ge, dass auf der internistisch/kardiologi-schen Intensivstation nicht rechtzeitigbekannt war, dass am linken Unterarmkein zentraler Venenkatheter lag, son-dern lediglich ein peripher-venöser Zu-gang mit großflächigem Verband.
● Vor der Verwendung von venösen Zugän-gen sollte ihre Art und Funktion grund-sätzlich sorgfältig geprüft werden. Insbe-sondere in diesem Fall wäre dies wichtiggewesen, da die Zugänge von anderengelegt wurden und nach Transport undUmlagerung ohnehin die Gefahr einerFehllage bestand.
● Die Gabe der konzentrierten Kalium-chlorid-Lösung hätte nicht über einenperipher-venösen Zugang erfolgen dür-fen, da die dabei aufgetretenen Kompli-kationen (Entzündung und Nekrose)bekannt sind und daher vorauszusehengewesen wären.
● Der analgosedierte Zustand (durch diegleichzeitige Gabe schmerzstillender undsedierender Medikamente; die Red.) derPatientin – sie konnte keine subjektivenMissempfindungen äußern – hätte einebesondere Sorgfalt im Rahmen der Be-handlung erfordern müssen.
● Der längere Zeitraum der konservativenBehandlung der Nekrose ist aufgrund derschweren Beeinträchtigung des Allge-meinzustandes und der umfassenden in-tensivmedizinischen Maßnahmen nach-vollziehbar. Eine etwas frühere operativeEntfernung der Nekrose wäre wohl mög-
Abbildung 1: Schritte einer
systematischen Analyse vor Ort
Identifikation von Ereignissen und
Entscheidung für Untersuchung1
2
3
4
5
6
7
Auswahl der Mitglieder des
Analyseteams
Zusammentragen aller Informationen (Patientenakte, Interviews mit beteiligten Personen)
Chronologischen Ablauf des
Ereignisses festlegen
Unsichere Handlungen
identifizieren
Beeinflussende Faktoren
identifizieren
Empfehlungen entwickeln und
Umsetzungsplan erstellen
Quelle: nach Taylor-Adams und Vincent, 2004
1918
ANALYSE 1ANALYSE 1
lich gewesen, hätte aber den Behand-lungszeitraum kaum verkürzt.
Abschließend stellt die Schlichtungsstel-le fest, dass „die Nekrose am Unterarm unddie daraus folgenden operativen Maßnah-men sowie das neurologische (Sensibilitäts-verlust des Ramus superficialis des Nervusradialis links) und kosmetische Ergebnis“fehlerbedingt sind.
Welche Umstände ha-ben zu diesem kriti-
schen Ereignis führen können? Das „Lon-don Protocol“ von der Forschergruppe umCharles Vincent und Sally Taylor-Adamsempfiehlt bei der Analyse von kritischenEreignissen ein systematisches Vorgehenund eine detaillierte Suche nach beeinflus-senden Faktoren1,2. Abbildung 1 auf Seite16 zeigt die wichtigsten Schritte vor Ort füreine solche systematische Analyse. In Ta-belle 1 schließlich sind die Dimensionen,die bei der Suche nach beeinflussendenFaktoren beachtet werden sollten, aufge-zeigt.
Im Folgenden wird der oben beschriebe-ne Fall mithilfe des Schemas und der Dimen-sionen des „London Protocols“ systematischanalysiert. Eine solche Analyse auf Grund-lage eines Gutachtens ist selbstverständlichnicht mit einer detaillierten Analyse vor Ort(Studium der Patientenakten, Interviews mitbeteiligten Personen usw.) zu vergleichen.Dennoch wird auch hier bereits deutlich,dass hinter einer scheinbar einzelnen Fehl-handlung meist vielfältige beeinflussendeFaktoren (z.B. Patient, Tätigkeit, individuel-
le Faktoren des Mitarbeiters, Teamfaktoren,Arbeitsbedingungen, Organisation und Ma-nagement, Kontext der Institution) stehen.Diese beeinflussenden Faktoren spielen eineentscheidende Rolle, wenn es darum geht,Strategien zur Vermeidung von kritischenEreignissen zu entwickeln.
Systematische Analyse nach dem „London
Protocol“: Der Behandlungsverlauf, die je-weils „unsicheren Handlungen“ sowie diemöglicherweise beeinflussenden Faktorenzum jeweiligen Zeitpunkt werden üblicher-weise tabellarisch erfasst. Der einfacherenDarstellung wegen ist hier anstelle einerTabelle die Textform gewählt worden. Eswerden zunächst die Einzelereignisse unddie unsicheren Handlungen dargestellt,dann werden die jeweils zutreffenden Di-mensionen der beeinflussenden Faktorenaufgeführt. Dort, wo diese Faktoren mithilfedes Gutachtens nicht beantwortet werdenkönnen, sind sie in Frageform formuliert.Die gefundenen beeinflussenden Faktorenbeziehungsweise die Antworten auf die ge-stellten Fragen müssen dann bei der Ent-wicklung von Vermeidungsstrategien be-rücksichtigt werden.
● 24. Juli
Ereignis: Aufnahme der Patientin nach epi-leptischem Anfall und Aspiration auf dieneurologische Intensivstation. Anlage vonperipheren und zentral-venösen Zugängen.Beeinflussende Faktoren:
Patientin: Beatmete, analgosedierte Patientin(keine Wahrnehmung von Schmerzen), Kom-munikation mit Patientin nicht möglich (be-
sonders vulnerable Patientin). Diese beein-flussenden Faktoren dauern an.
● 26. Juli, 12:30 Uhr
Ereignis: Verlegung auf internistische/kar-diologische Intensivstation.Unsichere Handlungen: Dokumentation undÜbergabe der vorhandenen Zugänge nichtausreichend.
Beeinflussende Faktoren:
Teamfaktoren: Ist die Kommunikation zwi-schen neurologischer und internistischerIntensivstation ausreichend?Arbeitsbedingungen: Steht genügend Personalzur Verfügung?Organisation und Management: Gibt es eineCheckliste für Übergaben? Was muss bei derÜbergabe genannt werden? Gibt es einen
Dimension beeinflussender Faktoren Teilaspekt
Patientenfaktoren ● Krankheitszustand des Patienten
● Sprache/Kommunikation
● Persönlichkeit/soziale Faktoren
Faktoren der Tätigkeit ● Design des Arbeitsschrittes/Klarheit der Struktur
(Art der Aufgabe) ● Vorhandensein und Verwendung von Protokollen
● Vorhandensein und Genauigkeit von Untersuchungsergebnissen
● Vorhandensein von Entscheidungshilfen
Individuelle Faktoren ● Wissen und Fähigkeiten
des Mitarbeiters ● Kompetenz
● physische und psychische Gesundheit
Teamfaktoren ● verbale Kommunikation
● schriftliche Kommunikation
● Supervision und „Hilfesuchen“
● Teamstruktur (Übereinstimmung, Führung, Zusammensetzung)
Arbeitsbedingungen/Umwelt ● Personalausstattung und Qualifikation des Personals
● Arbeitsbelastung und Dienstbelastung
● Design, Vorhandensein und Wartung der Ausrüstung/Geräte
● administrative Unterstützung
● Umgebungsbedingungen, Lärm etc.
Organisations- und ● finanzielle Ressourcen, Budgetierung, Zuzahlungen
Managementfaktoren ● Organisationsstruktur
● Regeln, Verfahren, Vorschriften und Ziele
● Sicherheitskultur und Prioritäten
Kontext der Institution ● ökonomischer und gesetzlicher Kontext
● Verbindungen zu externen Institutionen
Tabelle 1: Mögliche Dimensionen von beeinflussenden Faktoren und ihre Teilaspekte,
die bei einem kritischen Ereignis eine Rolle spielen könnenANALYSE:
Quelle: nach Taylor-Adams und Vincent, 2004
2120
ANALYSE 1ANALYSE 1
standardisierten Prozess? Ist die Zeit für einestandardisierte Übergabe gegeben? Wirdauf eine detaillierte Übergabe Wert gelegt?Kontext der Institution: Ist die unzureichendeÜbergabe möglicherweise auf Personal-knappheit und finanzielle Hintergründezurückzuführen?
● 26. Juli, 17:00 Uhr
Ereignis: Anlegen einer Infusionspumpe mitkonzentrierter Kaliumchlorid-Lösung an denperipheren Zugang.Unsichere Handlungen: Anlegen von Kalium-chlorid an peripheren Zugang mit großflä-chigem Verband. Beeinflussende Faktoren:
Tätigkeit: Der periphere Zugang mit unge-wöhnlich großflächigem Verband war nichtauf den ersten Blick als solcher zu erkennen.Gibt es in diesem Krankenhaus eine Markie-rung von peripheren und zentral-venösenKathetern?Individuelle Faktoren des Mitarbeiters: Sind diemedizinischen Mitarbeiter ausreichend gutausgebildet? Wissen sie, wozu konzentrier-te Kaliumchlorid-Lösung peripher führt unddass daher besondere Sorgfalt erforderlichist?Teamfaktoren: Ist Rückfragen üblich? Dürfenauch „dumme“ Fragen gestellt werden?Arbeitsbedingungen: Steht genügend Personalzur Verfügung (Zeitmangel oder Eile)?Organisation und Management: Werden Zugän-ge vor der Nutzung grundsätzlich auf Funk-tion und Lage überprüft? Wie ist die Kulturdes Überprüfens? Gibt es bei potenziellgefährlichen Medikamenten eventuell einVier-Augen-Prinzip?
● 26. Juli, 24:00 Uhr
Ereignis: Bemerken der Infusionspumpe anperipherem Zugang am linken Unterarm,Entzündungszeichen und Nekrosenbildung.Beeinflussende Faktoren:
Teamfaktoren: Wurde die Tatsache des „fal-schen“ Anschließens bei der Visite oderÄhnlichem thematisiert?Organisation und Management: Wie ist derUmgang mit aufgetretenen unerwünschtenEreignissen? Wie ist die Fehlerkultur?
● 26. Juli bis 6. August
Ereignis: Behandlung der Entzündung undNekrosen durch das Personal auf der Sta-tion.Unsichere Handlungen: Konservative Behand-lung ohne chirurgisches Konsil (frühe ope-rative Therapie hätte nicht unbedingt zubesserem Ergebnis geführt).Beeinflussende Faktoren:
Patientin: Schwere Grunderkrankung undintensivmedizinische Behandlung fördernden konservativen Behandlungsansatz.Teamfaktoren: Wie gut ist die Kommunikationmit der chirurgischen Abteilung? Ist es schwie-rig, ein chirurgisches Konsil einzuholen?Arbeitsbedingungen: Wie sieht es mit der Ver-fügbarkeit von chirurgischen Konsilen aus?Organisation und Management: Wie ist dieOrganisationsstruktur zwischen den Abtei-lungen?
● 6. August und folgende Tage/Monate
Ereignis: Veranlassung eines chirurgischenKonsils, chirurgische Behandlung und Ope-rationen im Anschluss.
Dieser Fall zeigt eindrucks-voll, wie „kleinere“ Ver-
säumnisse in einer längeren Versorgungs-kette kumulieren und dann zu einem großenSchaden führen können. Die Versäumnisselagen im Bereich der Kommunikation, derDokumentation und der fehlenden Hinter-fragung eigener Annahmen. Erschwerendkam hinzu, dass die Patientin nicht kommu-nizieren konnte, weil sie beatmet und se-diert war. Gerade deshalb aber hätte hier dieAufmerksamkeit ganz besonders hoch seinmüssen.
Zudem ist bekannt, dass sich gerade bei„arbeitsintensiven“ Patienten – wie bei die-ser schwerkranken intensivpflichtigen Pa-tientin – manchmal alle Aufmerksamkeit aufdie im Vordergrund stehenden, komplizier-ten medizinischen und pflegerischen Tätig-keiten konzentriert. „Kleinigkeiten“ wie Ver-bände oder Zugänge, die per se nichts mitder Grunderkrankung zu tun haben, werdendann manchmal nicht mit der nötigen Sorg-falt behandelt. Bei einer weniger krankenPatientin würde das Pflegepersonal mög-licherweise gar nicht erst einen zentral-venösen Zugang unter dem großflächigen
Verband vermuten, sondern sich eher dar-über wundern, warum ein peripher-venöserZugang derart üppig verbunden ist.
Das Ergebnis der Analyse im Kern: Dieverschiedenen Versäumnisse zeigen eineklassische Aneinanderreihung von „Löchern“in den Sicherheitsbarrieren, sodass auseinem bloßen Risiko ein großer Schadenentstehen konnte3.
Literatur
1. Vincent C, Taylor-Adams S, Chapman EJ et al.
How to investigate and analyse clinical
incidents: clinical risk unit and association of
litigation and risk management protocol.
BMJ 2000;320(7237):777–781
2. Taylor-Adams S, Vincent C. Systems analysis of
clinical incidents. The London Protocol.
London: St Mary Hospital. Clinical Safety,
Research Unit; 2004
3. Reason J. Human error: models and manage-
ment. BMJ 2000;320(7237):768–770
Dr. med. Julia Rohe, MPH, Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ), Berlin
E-Mail: [email protected]
Johann Neu, Rechtsanwalt, Geschäftsführer der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen
Ärztekammern, Hannover
E-Mail: [email protected]
Dr. med. Christian Thomeczek, Geschäftsführer im Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ), Berlin
E-Mail: [email protected]
KONTAKT
FAZIT:
ANALYSE 2
An einem gewohntbetriebsamen Morgen
werden an einem Schweizer Krankenhausfür Handoperationen mehrere intravenöseRegionalanästhesien mit einem Anästheti-kum durchgeführt, das zuvor mit Kochsalz-lösung verdünnt werden muss. Zwei Patien-ten beklagen bei der Verabreichung derAnästhesielösung einen auffälligen Injek-tionsschmerz. Die Operationen verlaufendennoch vorerst problemlos. Postoperativentwickeln aber beide Patienten ein Kom-partment-Syndrom mit Venenthrombosen.Dies zwingt zu notfallmäßigen Reoperatio-nen (Fasziotomien) sowie anschließender
Therapie mit Gerinnungshemmern. Offen-sichtlich besteht ein Zusammenhang mitder Regionalanästhesie.
Wegen der Symptome wird auf eineLösungsmittel-Verwechslung bei der Zube-reitung des Anästhetikums geschlossen(destilliertes Wasser anstatt physiologischerKochsalzlösung). Dafür spricht die Tat-sache, dass beide Patienten über Injektions-schmerz klagen und die gleiche Sympto-matik zeigen. Die Ähnlichkeit der beidenLösungsmittel-Flacons hat sicherlich zu derVerwechslung beigetragen (Abbildung 2 aufSeite 24). Beide Flacon-Sorten sind am sel-ben Tag von derselben Person gleichzeitig
FALL 2
Lösungsmittel für Regionalanästhesie verwechseltMarc-Anton Hochreutener, Sven Staender, Beat Kehrer
Herbst 2004: Der Operationsplan eines Schweizer Krankenhauses listet für den Tag mehrere
Handoperationen auf. Eigentlich Routine. Aber in zwei Fällen wird bei der Vorbereitung der
Lokalanästhesie versehentlich das Lösungsmittel verwechselt – mit gravierenden Folgen für
zwei Patienten. Wie konnte es zu dem Fehler kommen? Die systematische Analyse, an der sich
ein Team aus Ärzten und Pflegepersonal des Krankenhauses sowie externe Experten beteiligen,
zeigt: Viele Fehlerquellen stecken schon in der Organisationsstruktur.
„Jeder Fehler erscheint
unglaublich dumm,
wenn andere ihn begehen.”
(Georg Christoph Lichtenberg, 1742–1799, deutscher Naturwissenschaftler und Philosoph)
Die Jagd nach Schuldigen
ist der falsche Weg.
DER FALL:
23
ANALYSE 2ANALYSE 2
und gleichenorts für die Zubereitung derAnästhesie verwendet worden. Andere Me-dikamente waren nicht im Einsatz. Die Fla-cons liegen am Lagerort nebeneinander und
werden in der Regel durch Nicht-Fachper-sonal einsortiert. Die Verwechslungsgefahrwird noch dadurch vergrößert, dass Lö-sungsmittel oft nicht als „richtige“ Medika-mente wahrgenommen werden.
Die Folgen der Verwechslung sind durchdie Blutleere während der Operation, dielange Einwirkungszeit und das Fehlen vonSchmerzempfinden aufgrund des Anästhe-tikums verstärkt worden. Die Patienten sindzwar nie in Lebensgefahr gewesen. Es hatfür sie aber unnötige Tage im Krankenhaus,weitere Operationen, eine langdauernde An-tikoagulation, Infektionen und Arbeitsaus-fälle von Monaten gegeben.
Der Anästhesie-Chef ergreift nach denZwischenfällen präventive Sofortmaßnah-men: Gleichartige Verpackungen werden
entfernt; die Flacons mit destilliertem Was-ser werden durch Glasflaschen ersetzt, diesich deutlich von anderen Lösungsmittel-Flacons unterscheiden; das Anästhetikumwird durch ein Fertigprodukt ersetzt, dasein Verdünnen überflüssig macht. Für Ver-dünnungsprozesse, die nicht zu vermeidensind, führt er zudem das Vier-Augen-Prinzipein und gibt neue Weisungen für dasManagement von ungewöhnlichem Injekti-onsschmerz. Gleichzeitig veranlasst er aufAnregung der Schweizer Stiftung für Patien-tensicherheit, den Fall durch eine systemi-sche Fehleranalyse aufzuarbeiten.
Das Team, das mit derAnalyse betraut wird,
setzt sich aus dem Chefarzt und der Chef-pflegerin der Anästhesie, dem Chefapothe-ker, dem Qualitätsmanager und dem Direk-tor des Hauses, zwei externen Experten unddem Geschäftsführer der Stiftung zusam-men. Sie identifizieren die fehlerbegüns-tigenden Faktoren und entwickeln Präven-tionsempfehlungen.
Fehleranalyse-Verfahren müssen den fol-genden methodischen Herausforderungengerecht werden:● Differenzierung und Vereinfachung: Das
Verfahren muss praktikabel sein, aber es muss auch dem Schweregrad der Pro-blemstellung entsprechend differenziertsein.
● Strukturierung und spontane Intuition: EineAnalyse läuft sowohl methodisch-logischals auch intuitiv-spontan ab. Eine struk-turierte Analysetechnik hilft dabei, syste-matisch und „flächendeckend“ vorzuge-
hen. Umgekehrt kann Strukturierung In-tuition aber auch beeinträchtigen oder er-müden. Die Analysemethode muss dahersowohl das strukturierte Vorgehen alsauch das kreative Denken fördern.
● Gewichtung: Ursachen und Maßnahmenmüssen gewichtet werden, um Hand-lungsprioritäten festlegen zu können.
● Trennung von Analyse und Maßnahmenpla-
nung: Vor der Definition von Maßnahmenmuss das Ursachenmuster erkannt wer-den. Die Diskussion der Ursachen darfnicht eingeengt werden durch hemmen-de Machbarkeitsüberlegungen. Ursachen-analyse und Maßnahmenplanung sinddeshalb strikt zu trennen.
● Elimination „blinder Flecken“: Betriebs-blindheit ist „natürlich“, verhindert aberLernprozesse. Mit geeigneten Methodenund dem Einbinden externer Diskussi-onspartner lässt sie sich reduzieren.
Die hier verwendete Analysemethodeberuht auf den Fehlermodellen und Analyse-methoden von James Reason1, Charles Vin-cent2,3 und des Institute of Health Care Im-provement (IHI)4. Sie basiert auf den Er-kenntnissen, dass fehlerhafte Vorgängenicht die Ursache des Problems, sondern dieFolge fehlerbegünstigender Faktoren im Sys-tem sind5. Nicht Schuldzuweisungen sinddas Ziel, sondern das Lernen innerhalb derOrganisation (No-Blame-Kultur). Im Mittel-punkt steht zwar der fehlerhafte Vorgang;diesem liegen aber fehlerbegünstigende Fak-toren (contributory factors) als eigentlicheUrsachen zugrunde (neben den fehlerbegüns-tigenden gibt es natürlich auch fehlerverhin-
dernde Faktoren). Nicht einzelne Ursachen,sondern komplexe Ursachenmuster ermög-lichen Fehler. Diese Ursachenmuster sindmehrdimensional im System angelegt.
Ein Moderator begleitet den gesamtenAnalyseprozess, der nach folgenden Schrit-ten abläuft:1. Grundlagen des Falls erarbeiten (Fall-
Beschreibung, Zieldefinition, Begehungdes „Ortes des Geschehens“)
2. Ist-Prozess-Beschreibung3. Fehlerhafte Vorgänge eruieren und
gewichten4. Fehlerbegünstigende Faktoren benen-
nen und gewichten5. Verbesserungsmaßnahmen aufzeigen
und gewichten6. Empfehlungen zur Fehlerprävention
ableiten
Nach der Begehung des Ortes, an dem derFehler passierte – eine essenzielle Voraus-setzung für die Analysearbeit und das Fall-verständnis –, wird der Prozess der Bereit-stellung und Durchführung der regionalenAnästhesie nachgezeichnet (Abbildung 3auf Seite 26).
Fehlerhafte Vorgänge und fehlerbegünstigen-
de Faktoren: Anhand der Fallbeschreibung,der Begehung und des Prozessdiagrammsidentifiziert das Analyseteam 20 möglichefehlerhafte Vorgänge, also Handlungen, diepotenziell schiefgelaufen sind und zu derVerwechslung geführt haben könnten (Ta-belle 2 auf Seite 27).
Das Analyseteam gewichtet die fehler-haften Vorgänge mit den folgenden drei
2524
Abbildung 2: Aufgrund der Ähnlichkeit der
Flacons kommt es leicht zur Verwechslung
ANALYSE:
ANALYSE 2ANALYSE 2
Kriterien auf einer Skala von 1 bis 10: 1. Wahrscheinlichkeit des Auftretens, 2.Wahrscheinlichkeit des Entdeckens, 3. kon-sekutive Schadenswahrscheinlichkeit undSchadensausmaß. Die Gewichtungen wer-den zu einem Gesamtscore je fehlerhaftenVorgang multipliziert.
Rechenbeispiel für die Gewichtung eines fehler-
haften Vorgangs: Das Beispiel befasst sich mitdem Vorgang „Verwechslung des Lösungs-mittels bei paralleler Aufbereitung mehrererAnästhesiepräparate“ (siehe Tabelle 2, Nr.11). Gemeint ist die Verwechslung bei gleich-zeitiger Vorbereitung von zwei Präparaten,zum Beispiel auf derselben Arbeitsfläche,wobei ein Präparat mit Natriumchlorid (z.B.das Regionalanästhetikum Chloroprocain)und eines mit destilliertem Wasser (z.B. dasNarkotikum Barbiturat oder das Antibioti-kum Augmentin) zu verdünnen ist.
1. Wahrscheinlichkeit des Auftretens des fehler-
haften Vorgangs: Auf einer Skala von 1 bis10 wird geschätzt, wie wahrscheinlich esunter den gegebenen Bedingungen ist,dass der fehlerhafte Vorgang geschieht.Schätzergebnis: 8 (= sehr wahrschein-lich).
2. Wahrscheinlichkeit des Entdeckens des fehler-
haften Vorgangs: Auf einer Skala von 1 bis10 wird geschätzt, wie wahrscheinlich esunter den gegebenen Bedingungen ist,dass der fehlerhafte Vorgang entdecktwird, sodass er korrigiert werden könnte.Schätzergebnis: 2 (= sehr unwahrschein-lich. Da dies ein positives Kriterium ist (jehöher die Wertung, umso besser), muss
daraus der inverse Wert mit plus 1 (10 –2 + 1 = 9) errechnet werden (da bei einemErgebnis von 10 sonst null herauskom-men würde).
3. Konsekutive Schadenswahrscheinlichkeit und
Schadensausmaß des fehlerhaften Vorgangs:
Auf einer Skala von 1 bis 10 wird ge-schätzt, wie hoch die Schadenswahr-scheinlichkeit und das Schadensausmaßsind, wenn der fehlerhafte Vorgang„durchschlägt“. Schätzergebnis: 7 (= sehrwahrscheinlich).
Daraus errechnet sich der Score: 8 x 9 x 7 =504. Die Berechnung ist für alle identifizier-ten fehlerhaften Vorgänge vorgenommenworden.
Alle fehlerhaften Vorgänge mit einem Scoreüber 100 wurden dann weiterbearbeitet. Das sind die neun in Tabelle 2 hervorgeho-benen Vorgänge. Für jeden dieser neunfehlerhaften Vorgänge hat das Analyseteamin einem mehrstufigen Verfahren weitere,sogenannte fehlerbegünstigende Faktoren(contributory factors) identifiziert; so sindüber 110 Faktoren zusammengekommen.Selbst ein einfacher Fehler „gedeiht“ alsoauf einem breiten Ursachenmuster.
Als Nächstes hat das Analyseteam diefehlerbegünstigenden Faktoren auf einerSkala von 1 bis 10 anhand folgender Krite-rien gewichtet: 1. Verbreitung des Faktors inder Organisation, 2. Wirksamkeit bestehen-
2726
Abbildung 3: Vorbereitung und
Ablauf der Anästhesie
Bereitstellung der Lieferung
Lösungsmittel: Medikamente in Apotheke
Lieferung Lösungsmittel:
Medikamente von Apotheke
Einräumen ins Regal
(Vorbereitungsraum)
Lesen der Etiketten (Verdünnungsmittel)
Verdünnungsmittel aus Regal nehmen
Erneuter Check der Etiketten
Spritzen aufziehen
Spritzen beschriften
Fertige Spritzen
auf Anästhesie-
Beistellwagen legen
Anästhesie-
Beistellwagen
in OP bringen
Kontrolle der Spritze
durch injizierende Person
Esmarch’sche Blutleere herstellen
Injektion
Check der Warnsymptome
Kanüle weg
Beobachten und Freigabe zur OP
OP
Abschluss OP
Blutsperre öffnen
Patienten beobachten
Leere Verpackungen
wegwerfenNr. Fehlerhafter Vorgang Score
1 falsches Lösungsmittel von Apotheke geliefert 64
2 eingehende Lieferung nicht kontrolliert 117
3 falsches Zurückräumen nichtgebrauchten Materials 367
4 falsche Lagerung (Einsortieren) des Lösungsmittels im Regal 113
5 falsche Lagerung (Einsortieren) des Lösungsmittels auf dem Anästhesie-Beistellwagen 384
6 falsche Mengenberechnung 46
7 Mengen richtig berechnet, aber falsch verdünnt 62
8 falsches Medikament aus Verpackung genommen 33
9 falsches Lösungsmittel aus Verpackung genommen 498
10 Verwechslung Medikament bei paralleler Aufbereitung 15
11 Verwechslung Lösungsmittel bei paralleler Aufbereitung mehrerer Anästhesiepräparate 504
12 Spritze falsch beschriftet 47
13 Spritze nicht beschriftet 74
14 Spritze vor Beschriftung verwechselt 41
15 falsche Spritze injiziert 33
16 unterlassene Reaktion auf Warnsymptome 466
17 Warnsymptome nicht erkannt 498
18 unterlassener Check Lösungsmittel (nicht lesen) 560
19 unterlassener Check Medikament (nicht lesen) 61
20 falsche Bereitstellung auf Beistellwagen 88
Nicht gebrauchtes
Material zurückräumen
Anästhesie-Beistell-
wagen bestücken
Tabelle 2: Liste der fehlerhaften Vorgänge und ihre Gewichtung (Score); alle fehlerhaften Vorgänge,
die einen Gesamt-Score von über 100 haben und weiterbearbeitet wurden, sind blau unterlegt
ANALYSE 2ANALYSE 2
der Abwehrmechanismen gegen den fehler-begünstigenden Faktor innerhalb der Orga-nisation, 3. Einflussstärke des Faktors aufden fehlerhaften Vorgang (= Relevanz desfehlerbegünstigenden Faktors für den feh-lerhaften Vorgang). Auch hier sind die Kri-teriengewichtungen zu einem Gesamtscoreje fehlerbegünstigenden Faktor multipli-ziert worden.
Rechenbeispiel für die Gewichtung eines fehler-
begünstigenden Faktors: Als möglicher fehler-begünstigender Faktor wird beispielhaft die„Ähnlichkeit von Flacons/Produkten“ ge-nannt. Damit ist gemeint, dass das fast glei-che Aussehen, die fast gleiche Beschriftungund die ähnliche Verpackung der Flaconsmit Natriumchlorid und destilliertem Was-ser wesentlich dazu beitragen, dass sieverwechselt werden können (sogenanntes
Look-alike-Problem als Fehlerverursacher).Die Ähnlichkeit der Verpackungen ist alsoein systemischer fehlerbegünstigender Fak-tor. Dieser Faktor wird gleich mehreren feh-lerhaften Vorgängen zugeordnet und folgen-dermaßen gewichtet:1. Verbreitung des fehlerbegünstigenden Faktors
in der Organisation: Auf einer Skala von 1bis 10 wird geschätzt, wie verbreitet die-ser Faktor unter den derzeitigen Bedin-gungen ist. Seine Verbreitung ist in allenFällen mit 9 (= sehr hohe Verbreitung) ge-wertet worden.
2. Wirksamkeit bestehender Abwehrmechanis-
men in der Organisation gegen den fehler-
begünstigenden Faktor: Auf einer Skala von1 bis 10 wird geschätzt, wie wirksam be-stehende Mechanismen in den Abläufensind, die den Faktor kompensieren oderabschwächen können (z.B. Kontrollme-
chanismen; Lagerungsbedingungen, dieVerwechslungen verhindern). Die Wirk-samkeit bestehender Abwehrmechanis-men wird meistens mit 3 (= niedrigeWirksamkeit), einmal mit 7 (= hohe Wirk-samkeit) gewertet. Da dies ein positivesKriterium ist (je höher die Wertung, um-so „besser“), ist daraus der inverse Wertplus 1 (10 – x + 1) zu errechnen.
3. Einflussstärke des fehlerbegünstigenden Fak-
tors auf den fehlerhaften Vorgang (Relevanz):
Auf einer Skala von 1 bis 10 wird geschätzt,wie stark der Faktor die einzelnen fehler-haften Vorgänge begünstigt. Ergebnishier je nach fehlerhaftem Vorgang: meis-tens 8 (= hohe Relevanz), einmal 6 (= mäßi-ge Relevanz).
Die Multiplikation ergibt für diesen Faktor jenach Score des fehlerhaften Vorgangs einenScore von 547 bis 596. Dies entspricht einemDurchschnittsscore von 582.
Danach lassen sich die fehlerbegünsti-genden Faktoren nach dem SHELL-Modell6
in die unterschiedlichen Kategorien eintei-len (Tabelle 3). Diese Zuordnung zeigt demQualitätsmanager, in welchen KategorienMaßnahmen zu ergreifen sind.
Verbesserungsmaßnahmen: Für die Ablei-tung von konkreten Maßnahmen nimmt sichdas Analyseteam in einem Brainstorming-Prozess alle fehlerbegünstigenden Faktorenmit einem Score von über 300 vor. Dabeientstehen 70 sehr konkrete Maßnahmen-ideen, die wiederum in einem Konsenspro-zess hinsichtlich Sinnhaftigkeit, Wirksam-keit und Machbarkeit priorisiert und mit
Überbegriffen zusammengefasst werden.Damit erhält die Abteilungs- und Kranken-hausleitung die Grundlage für einen Umset-zungsplan, der die bereits getroffenen So-fortmaßnahmen ergänzt:
1. Prozesse und Zuständigkeiten für die Vorbereitung von Medikamenten und Anästhetika klarer definieren
2. Checklisten und Kontrollsysteme einführen
3. Abläufe dort nicht zur Routine werden lassen, wo Routinen Risiken schaffen
4. Differenzierbarkeit von Flacons undVerpackungen von Medikamentensicherstellen
5. Lagerhaltung in den OP- und Anäs-thesie-Abteilungen reorganisieren
6. Sortimente anpassen und reduzieren7. Raum schaffen und Ergonomie
verbessern8. Ablenkung und Störfaktoren
eliminieren9. Ordnung auf dem Anästhesie-
Beistellwagen neu organisieren10. Over-Confidence (blindes Vertrauen)
durch strukturelle Maßnahmen abbauen
11. Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter als Systemfaktor ernster nehmen
12. Personal adäquater auswählen und einsetzen
13. Problembewusstsein und Wissen systematisch erhöhen
Zum Schluss formuliert das Analyseteamnoch sieben Kernempfehlungen (Tabelle 4auf Seite 30).
2928
SHELL-Kategorie Beispiele fehlerbegünstigender Faktoren Score
Software ● Fehlen von Checklisten 467
= (Prozess-)Organisation ● fehlende Kontrollmechanismen 571
(z. B. kein Vier-Augen-Prinzip)
● inadäquater Personaleinsatz 304
Hardware ● Platzmangel 433
= Technik, Material, ● fehlerbegünstigende Lagerlogistik 351
mobile Strukturen ● Ähnlichkeit von Ampullen/Produkten 582
(Look-alike-Problem)
Environment ● Platzmangel 326
= Arbeitsplatz, ● schlechte Ergonomie (z. B. Licht, Lärm) 304
immobile Strukturen
Lifeware-Lifeware ● Over-Confidence (blindes Vertrauen) 415
= Mensch ● Überlastung 175
● „gefährliche“ Routine 401
Tabelle 3: Beispiele von fehlerbegünstigenden Faktoren nach SHELL 6
ANALYSE 2ANALYSE 2
Eine Analyse wie die hierbeschriebene ist ein relativ
aufwendiger Prozess, weshalb das Analyse-team ihn im Rückblick evaluierte. Die Nach-betrachtung hat folgende Einsichten er-geben:
Das Verfahren hat einen deutlichen Er-kenntnisgewinn gebracht. Das schrittweiseVorgehen ermöglicht es, zu systematisierenund differenzieren – etwas, das mit Ad-hoc-Verfahren nicht erreicht wird. Die zeitinten-sive Analyse fördert zudem überraschendeErkenntnisse zu Ursachen und Verbesse-rungspotenzialen zutage, die aufgrund dersich automatisch in jedem System einschlei-chenden „Betriebsblindheit“ und der lang-jährigen Adaptation an riskante Prozesseund Strukturen nie aufgefallen wären.
Die Analyse kann in einigen Punktenweiterentwickelt oder – je nach Fall auch invereinfachter Form – breit angewandt wer-den. Die Gewichtungen bei fehlerhaftenVorgängen und fehlerbegünstigenden Fakto-ren schaffen konsensfähige Grundlagen fürHandlungsprioritäten. Zudem tritt dank derMethode die Schuldfrage in den Hinter-grund und der Einzelfall ist zum „System“-Fall geworden.
Der Maßnahmenkatalog stellte für dasKrankenhaus eine wertvolle Grundlage fürzukunftsgerichtete Verbesserungen dar. DieAnalysemethode hilft, Einzelfälle für gene-relle Verbesserungsmaßnahmen zu nutzen:Viele strukturelle, prozessuale und betriebs-kulturelle Aspekte sind auch für andereProzesse und Bereiche sicherheitsrelevant.Die Erkenntnisse haben somit fach- und be-reichsübergreifende Gültigkeit und sind
übertragbar auf andere Organisationsein-heiten.
Zudem hat die Methode einen edukativenEffekt. Sie sensibilisiert und schult die Betei-ligten im systemischen Sicherheitsdenken,was weit über das Projekt hinaus wirken wird.
Langfristig lohnt sich eine solche Analyseauch ökonomisch: Die Schadenssumme desBehandlungsfehlers betrug über 100.000Schweizer Franken (rund 61.000 Euro). DieAnalyse kostete (je nachdem, ob man die Ar-beitszeit des beteiligten Krankenhausperso-nals mitrechnet oder nicht) zwischen 10.000und 20.000 Franken (rund 6.100 bis 12.200Euro).
Die Analyse wurde von Mildenberger + Cie Versicherungsmakler finanziell unterstützt.Der Gesamtbericht dieser Analyse kann bezo-gen werden über: www.patientensicherheit.ch
Literatur
1. Reason J. Managing the risks of organizational
accidents. Hampshire:
Ashgate Publishing Company 1997
2. Vincent C, Taylor-Adams S, Stanhope N.
Framework for analysing risk and safety
in clinical medicine. BMJ 1998;316:1154–1157
3. Vincent C, Taylor-Adams S, Chapman EJ et al.
How to investigate and analyse clinical incidents:
clinical risk unit and association of litigation and
risk management protocol. BMJ 2000;320:
777–781
4. Anonymous. Failure Modes and Effects
Analysis (FMEA). Cambridge, Massachussetts:
Institute for Healthcare Improvement 2004
5. Reason J. Managing the Management Risk:
New approaches to organisational safety.
In: Wilpert B, Qvale T (eds.). Reliability and Safety
in Hazardous Work Systems. Hove, UK: Lawrence
Erlbaum Associates 1993;7–22
6. Edwards E. Man and Machine: Systems for Safety.
London, British Airlines Pilots Association.
Proceedings of British Airlines Pilots Association
Technical Symposium 1972;21–36
3130
Dr. med. Marc-Anton Hochreutener, Geschäftsführer Stiftung für Patientensicherheit,
E-Mail: [email protected]
Dr. med. Sven Staender, Chefarzt Anästhesie, Kreisspital Männedorf, Beirat Stiftung für Patientensicherheit
Dr. med. Beat Kehrer, Chefarzt a.D., Ost-Schweizer Kinderspital, Beirat Stiftung für Patientensicherheit
KONTAKT
FAZIT:Tabelle 4: Die sieben
Kernempfehlungen des Analyseteams
● Analysieren des Sortiments nach Substanzen,
die vom Personal zubereitet (gemischt)
werden müssen. Wenn sie durch Fertigprodukte
ersetzbar sind: Ersetzen!
● Lagerbestände und -organisation auf
Sicherheitsrisiken und überflüssige und riskante
Prozessschritte prüfen (z. B. Verwechslungs-
gefahr durch Lagerung).
● Verwechslungsgefahr durch Elimination von
„Look-alike“-Objekten minimieren.
● Ergonomie des Arbeitsplatzes für die
Vorbereitung von Anästhetika verbessern.
Raum schaffen und Ablenkungen für
kritische Arbeitsprozesse eliminieren.
● Benutzte Packungen patientenbezogen bis
zum Abschluss des Falls aufbewahren.
● Zurückräumen (Retablieren) nicht benutzter
Substanzen und Packungen nicht als
Aufräumarbeit betrachten, sondern als
kritischen, professionell zu organisierenden
Pharma-Management-Prozess verstehen.
Kein Hilfspersonal dafür einsetzen.
Retablierungsprozess explizit regeln, nicht
unter Zeitdruck erledigen, Vier-Augen-Prinzip
befolgen!
● Weisungen für i.v.-Regionalanästhesien geben,
die berücksichtigen, dass jeder Injektions-
schmerz, der länger als 10 Sekunden dauert
oder unüblich erlebt wird, ein Alarmzeichen
darstellt, das besondere Beachtung und eine
definierte Reaktion erfordert!
FEHLER UND FOLGEN
Ich fühle mich schon relativ sicher nach vier Monaten meiner insge-samt halbjährigen pädiatrischen Weiterbildung und führe selbst-ständig eine kinderärztliche Sprechstunde durch. Es ist Grippezeit,das Wartezimmer übervoll. Im Nebenzimmer arbeitet ein erfahre-ner Facharzt für Pädiatrie. Nach vielen kleinen Patienten mit Erkäl-tungsinfekten kommt eine junge Mutter mit einem neun Monate al-ten Baby zu mir und berichtet, dass ihr Kind sehr unruhig sei undhäufig weine, Fieber bestünde nicht, Erbrechen und Durchfall seiennicht aufgetreten.
Ich untersuche den Säugling, sehe einen geröteten Hals, höreHerz und Lunge ab und finde keinen krankhaften Befund. DerBauch ist weich, lässt sich gut eindrücken. Als Verdachtsdiagnoseerhebe ich einen beginnenden grippalen Infekt und gebe der Mut-ter entsprechende Empfehlungen. Sie zieht den Jungen an und istdabei, das Sprechzimmer zu verlassen, als sie sich in der Tür nocheinmal umdreht: „Aber er weint doch so stark.“
Ich bitte die Mutter zurück und konsultiere meinen pädiatri-schen Kollegen. Auch er hört das Kind ab und untersucht es. Dabeiwickelt er es jedoch vollständig aus seinem Windelhöschen, das ichbeim Untersuchen nur ein wenig nach unten geschoben hatte. Beimvollständigen Entkleiden ist zu sehen, dass der Junge im Bereich derrechten Leiste einen eingeklemmten Leistenbruch hat. Mein Kolle-ge beruhigt das Kind, drückt den Bruchsack sanft in die Bruchpfor-te und überweist in die Chirurgie.
Noch heute spüre ich den Luftzug des Damokles-Schwertes übermir. Gründe für den Fehler waren meine Unerfahrenheit, die falscheEinschätzung der Situation (Erkältungszeit) und die nicht ausreichen-de Sorgfalt bei der klinischen Untersuchung („keine Diagnose durchdie Hose“). Ich erkannte, wie wichtig es ist, auf Patienten zu hören,auch wenn sie schon im Gehen begriffen sind. Und was ich weiterimmer beherzige: Im Zweifelsfall einen Kollegen zu Rate ziehen!
Noch heute spüre ich den
Luftzug des Damokles-Schwertes
über mir.
Professorin Dr. med.
Vittoria Braun,
Fachärztin für Allgemein-
medizin, Institut für Allgemein-
medizin an der Charité –
Universitätsmedizin, Berlin
Kurz nach meinem Examen zur Krankenschwester arbeite ich 1971auf einer unfallchirurgischen Männerstation. Viele unserer männ-lichen Patienten, die in der Landwirtschaft oder in der Brauereibeschäftigt sind und wegen eines Unfalls eingeliefert werden, sindalkoholabhängig. Wir erleben es auf der 68-Betten-Station häufig,dass die Patienten postoperativ ins Delirium fallen.
Ein junger Mann hat mit seinem Traktor einen schweren Unfallgehabt und zahlreiche Frakturen davongetragen. Schon im Auf-wachraum ist er sehr unruhig und muss fixiert werden. Noch wäh-rend der Aufwachphase wird er mit der Ersatzdroge Distraneurinbehandelt und anschließend stark sediert auf die Station gebracht.Er hat auffällige Gesichtsrötungen und Ödeme und ist motorischextrem unruhig. Seine Neigung, das Bett mit allen Schienen und In-fusionen zu verlassen, veranlasst mich (wie im Verordnungsbogenangegeben), ihm eine erneute Distraneurin-Dosis zu verabreichen.Der zuständige Arzt ist im OP und nicht erreichbar. Etwa 15 Minutennach Verabreichung der erneuten Distraneurin-Dosis erleidet derPatient einen anaphylaktischen Schock mit Hypotonie, Tachykardie(Herzjagen) und Atemdepression; er muss reanimiert werden.
Ich habe das riesige Glück, dass der sehr junge Mann die Situationohne Folgen übersteht. Im Nachhinein betrachtet, hätte ich seineGesichtsödeme und seine extreme Unruhe anders deuten und einenArzt rufen müssen. Chefarzt, Stationsarzt, Stationsleitung und mei-ne Kolleginnen halfen mir damals sehr, indem sie mir keine Vorwürfemachten und wir auch sachlich über das Ereignis sprechen konnten.
Unsere interne Fehleranalyse hat dazu geführt, dass der Stan-dard in der Klinik dahingehend geändert wurde, auch bei jungenMenschen zur OP-Vorbereitung die Leberwerte zu kontrollieren, umsolchen Ereignissen vorzubeugen. Ich habe mir seither angewöhnt,nicht jeder Anordnung blind zu folgen, sondern sie manches Malauch kritisch zu hinterfragen.
Hedwig François-Kettner,
Krankenschwester,
Pflegemanagerin,
Pflegedirektorin an der Charité –
Universitätsmedizin, Berlin
Ich hätte seine Gesichtsödeme und
extreme Unruhe anders deuten und einen
Arzt rufen müssen.
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FEHLER UND FOLGEN
Mein Staatsexamen als Krankenschwester ist erst wenige Monate alt, alses zu einem tragischen Fall kommt, der heute viele Jahre zurückliegt.Ich arbeite in der Urologie eines Krankenhauses. An diesem Tag binich allein im Spätdienst und für 20 Patienten zuständig; vom Früh-dienst habe ich einige gut versorgte frisch Operierte übernommen.
Ein weiterer Patient im Alter von 78 Jahren mit der Diagnose Pros-tatatumor wird mir vom Operateur mit einer mündlichen Übergabeanvertraut. Es sei eine transurethrale Resektion der Prostata durch-geführt worden. Ich möge – wie üblich – den Patienten mit einer Dau-erspülung versorgen. Nach transurethralen Resektionen kann esleicht passieren, dass der Katheter verstopft. Er muss dann manuellmit Kochsalzlösung schnell wieder freigespült werden, da sonst dieGefahr eines Blasenrisses besteht. Der Dauerkatheter ist bei dem 78-Jährigen gut durchlässig. Immer wieder überprüfe ich – zunächstin kürzeren, dann in längeren Zeitabständen – die Vitalzeichen, dieDurchgängigkeit des Katheters und die Ausdehnung des Abdomens.
Im Rahmen der abendlichen Visite begleite ich Chefarzt und Ope-rateur zum Patienten. – Der Blasenkatheter ist verstopft, die Dauer-spülung läuft. Der Patient hat ein stark gespanntes Abdomen. Wirspülen sofort den Blasenkatheter frei, doch die Vitalzeichen lassensich nicht mehr stabilisieren. Der Patient wird auf die Intensivsta-tion verlegt. Mir wird erst jetzt mitgeteilt, dass bei ihm neben der Prostata auch ein Blasentumor entfernt worden war. Der Patient stirbtnach einigen Tagen an den Folgen einer Blasenperforation.
Dieses tragische Ereignis wäre vermeidbar gewesen. Ich hatte denPatienten ohne schriftliche Dokumentation entgegengenommen unddarüber hinaus entweder nicht richtig hingehört oder aber die Infor-mation nicht erhalten. Eine juristische Auseinandersetzung unterhaftungsrechtlichen Aspekten wollten die Angehörigen nicht.
Für mein künftiges Berufsleben habe ich gelernt, Patienten niemehr ohne Dokumentation zu übernehmen.
Dieses tragische Ereignis wäre vermeidbar
gewesen. Ich hatte den Patienten ohne schrift-
liche Dokumentation entgegengenommen.
Sabine Girts,
Krankenschwester, Pflege-
dienstleiterin, Betriebswirtin
(VWA), Qualitätsmanagerin
im Gesundheitswesen,
Geschäftsführerin des Verbandes
Bundesarbeitsgemeinschaft
Leitender Pflegepersonen e.V. –
BALK und Leiterin der Geschäftsstelle
des Deutschen Pflegerates e.V. –
DPR, Berlin
Ich erinnere mich sehr gut an einen Behandlungsfehler, der mir un-terlief, als ich noch Oberarzt an einer Frauenklinik war. Eine 40-Jäh-rige, mit ihrem zweiten Kind schwanger, kommt für die beabsichtig-te vaginale Geburt in den Kreißsaal. Bei der ersten Entbindung wareine Sectio durchgeführt worden. Nach etwa acht Stunden und un-ter Rückenmarksanästhesie kommt es zur vollständigen Eröffnungdes Muttermunds. Das Kind tritt aber trotz guter Wehentätigkeitnicht in das mütterliche Becken ein, sodass ich mich wegen der dro-henden Gefahr eines Geburtsstillstandes zu einer erneuten Schnitt-entbindung entschließe. Die Operation verläuft ohne Besonderhei-ten, jedoch kommt es am linken Schnittwinkel zu einem Einriss desBindegewebes neben der Gebärmutter (Parametrium). Den Gebär-mutterschnitt und den Einriss in das Parametrium versorge ichsachgerecht.
Zwei Tage nach der anscheinend komplikationslos durchgeführ-ten Sectio klagt die Patientin über linksseitige Flankenschmerzen.Im Ultraschall zeigt sich ein bis in die Nieren aufgestautes Harn-wegssystem. Die Urologen des Hauses bestätigen den Verdachteiner Harnleiterligatur. Der Bauch muss operativ eröffnet werden,um den Harnleiter wieder durchgängig zu machen. Es kommt zurvollständigen Wiederherstellung der Nierenfunktion ohne langzei-tige nachteilige Folgen für die Patientin. Allerdings muss die Patien-tin eine zweite Operation in Regionalanästhesie erleiden. Sie erhältvon der Haftpflichtversicherung des Hauses ein Schmerzensgeld invierstelliger Höhe.
Ich habe aus diesem Fehler gelernt, dass bei einer Schnittentbin-dung und der Versorgung eines quer gesetzten Schnitts im unterenUterinsegment bei möglichen erweiternden Einrissen sehr sorgfäl-tig auf die Harnleiter und deren Verlauf zu achten ist. Mit größererSorgfalt hätte ich der Patientin den zweiten Eingriff und damit zu-sätzliche Schmerzen ersparen können.
Professor Dr. med.
Joachim W. Dudenhausen,
Facharzt für Gynäkologie
und Geburtshilfe,
Direktor der Kliniken für
Geburtsmedizin der Charité, Berlin
Mit größerer Sorgfalt hätte ich der
Patientin den zweiten Eingriff und damit
zusätzliche Schmerzen ersparen können.
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Sieben Jahre Ruhestand bedingen einen Mangel an Aktualität. Aufder anderen Seite bewahrt das Gedächtnis solche Fehler, die dasGewissen und die eigene Person besonders beeindruckt haben.
Der Patient ist etwa 35 Jahre alt und kommt tiefbraun-„schmut-zig“ verfärbt, sehr kraftlos und mit ganz niedrigem Blutdruck aufdie Station eines großen städtischen Krankenhauses, in dem ich1956 als 21-jähriger Famulus gastiere. Der erfahrene internistischeStationsarzt sagt nur: „Sehen Sie sich den Addison*-Patienten an.“Das tue ich, aber als ich am nächsten Morgen in die Klinik komme,ist der Mann in der Addison-Krise gestorben, was als unabwend-bares Schicksal hingenommen wurde. Die Kortisongabe ist zwarschon 1949 als lebensrettendes Medikament für die Therapie derAddison-Krise beschrieben worden. Wissenstransfer in die Breiteerfolgte aber schon damals nur langsam. Jahrzehntelang habe ichspäter unterrichtet, dass die Addison-Krise schon bei Verdachtsofort zu behandeln ist. Als keineswegs uninformierter Studentfehlten mir seinerzeit Erfahrung und Mut, die Etablierten zur Eilezu mahnen.
Ich erinnere mich an einen weiteren Patienten. Es muss etwa1969 gewesen sein: Ein zirka 60-jähriger Hyperthyreosepatientwird wegen mäßig auffälliger „Leberwerte“ zur seinerzeit groß-zügigst angesetzten Leberblindpunktion geschickt. Die Indikationzur Punktion ist möglicherweise durch unser Interesse an „Enzym-mustern“ in der Leber gefördert worden. Es kommt zu einer Nach-blutung. Weitere wohl unabhängige Komplikationen führen zumTode des Patienten.
Seither habe ich mich erheblich nachdrücklicher gefragt, ob un-sere jeweiligen Maßnahmen den Patienten voraussichtlich nützen(primum nil nocere). Die Deklaration von Helsinki zu den Grund-sätzen medizinischer Forschung am Menschen und der informedconsent haben für mich seither einen anderen Stellenwert.
FEHLER UND FOLGEN
Es ist mein erstes Jahr als Assistenzarzt. Eine ältere Patientin klagt umein Uhr nachts über Herzrasen. Das EKG zeigt eine Tachykardie(Herzjagen) von 180 Schlägen pro Minute ohne weitere Auffälligkei-ten. Die Laborparameter sind unauffällig. Die Patientin ist aber aus-gesprochen unruhig und voller Angst. Ich spreche mit der Patientinund verordne schließlich ein Beruhigungsmittel. Ich weiß noch wieheute, dass mir nicht wohl ist; ich habe das unbestimmte Gefühl,nicht zu verstehen, was vor sich geht.
Im Rahmen meiner Assistenzarztstelle habe ich alle Stationenund die Notaufnahme zu betreuen. Irgendwann gehe ich kurz schla-fen. Gegen fünf Uhr morgens werde ich zu der Patientin geholt. Siehat Luftnot in Ruhe, sodass ich sie auf die Intensivstation legen las-se. Es zeigen sich jetzt alle Zeichen einer schweren Lungenembolie.Das EKG und die entsprechenden Laborparameter sind positiv. Eswird klinisch eine tiefe Beinvenenthrombose festgestellt.
Am kommenden Tag stelle ich den Verlauf in der Mittagskonfe-renz vor. Ich habe das – berechtigte – Gefühl, etwas falsch gemachtzu haben. Ich versuche darzulegen, warum ich nicht auf die richti-ge Diagnose gekommen war, dass es für mich keine erkennbarenAnzeichen gegeben hat, außer der Tachykardie, die ich aber nichtals Warnzeichen gewertet hatte. Mein Chef sagt ruhig und freund-lich, ich solle mir da mal keine Gedanken machen, und ging sofortzum nächsten Fall über.
Die erste Stelle im Krankenhaus ist für jeden Arzt eine besonde-re, und ich habe mich dort immer wohl gefühlt. Nur an diesem ei-nen Tag fühlte ich mich sehr allein. Dabei wäre ein offener Umgangmit dem Fall dieser Patientin auch für andere sehr lehrreich gewe-sen. Die Patientin hat die Lungenembolie überlebt. Ich habe späterbei Patienten mit Unruhe und Tachykardie immer an die DiagnoseLungenembolie gedacht. Und ich habe versucht, dafür zu sorgen,dass wir besser voneinander und von solchen Fehlern lernen.
em. Professor Dr. med.
Dr. med. h. c. Peter C. Scriba,
Facharzt für Innere Medizin,
Direktor a.D. der Medizinischen
Klinik Innenstadt der Universität
München
Professor Dr. med.
Matthias Schrappe,
Facharzt für Innere Medizin,
Generalbevollmächtigter des
Aufsichtsrates des Klinikums der
Johann Wolfgang Goethe-
Universität Frankfurt am Main,
Vorsitzender Aktionsbündnis
Patientensicherheit e.V.
Ich weiß noch wie heute, dass mir nicht wohl
ist; ich habe das unbestimmte Gefühl, nicht zu
verstehen, was vor sich geht.
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*Morbus Addison: Unterfunktion der Nebennierenrinde, die unbehandelt zum Tod führt
Zwei Fehler – bedingt
durch ein Zuwenig oder
Zuviel an Zivilcourage.
FEHLER UND FOLGEN
Ich finde folgende Notiz auf der Karteikarte meines nächsten Patienten,geschrieben von meiner Kollegin, die ihn sonst behandelt: „SchaueDir bitte einmal den Patienten an. Ich komme nicht weiter.“ Als ichdie Karteikarte aufschlage, lese ich auf dem Eingangsbefund meinerKollegin einen Satz, der unterstrichen ist: „Irgendwas stimmt nicht.“
Ohne groß über diesen Satz nachzudenken, setze ich Untersu-chung und Behandlung fort. Der Patient hat einen diffusen Schmerzim BWS-Bereich, der aber nicht zu provozieren oder zu reproduzie-ren ist. Hinzu kommen unregelmäßig wiederkehrende Schmerzenim Arm, die sich besonders beim Tennisspielen bemerkbar machen.
Der Patient selbst, eine in meiner Heimatstadt prominente Per-sönlichkeit, war zu jenem Zeitpunkt seit langem aktiver Tennisspie-ler und als Mittvierziger durchaus Kandidat für muskuloskeletaleBeschwerden durch Sport. Bevor er sich bei uns vorstellte, hatte erbereits mehrere Ärzte konsultiert. Eine Verbesserung der Beschwer-den wurde jedoch nicht erreicht.
Die nächsten zehn Behandlungen bringen keine Veränderungder Symptomatik, obwohl ich verschiedene Behandlungsansätzeausprobiere. Noch immer reagiere ich nicht. Erst nach etwa vier wei-teren Monaten setze ich mich mit dem Arzt in Verbindung, der denPatienten zu dieser Zeit betreut. In dem Gespräch mit dem Arzt sa-ge ich eigentlich nur den einen Satz, den ich selbst zu Beginn mei-ner Behandlungen auf der Karteikarte – geschrieben von meinerKollegin – gelesen hatte: „Irgendwas stimmt nicht.“ Ich bitte denArzt, eine weitere Untersuchung zu initiieren.
Der Befund ist niederschmetternd: BWS-Karzinom mit Metasta-sen im fortgeschrittenen Stadium. Für eine Erfolg versprechendeTherapie kommt die Diagnose zu spät. Der Patient verstirbt etwa einJahr später. Könnte er noch leben, wenn ich mir um den Satz „Irgend-was stimmt nicht“ früher Gedanken gemacht hätte? Jedenfalls neh-me ich seither bei ähnlichen Fällen ganz früh Kontakt zum Arzt auf.
Könnte der Patient noch leben, wenn ich
mir um den Satz „Irgendwas stimmt nicht“
früher Gedanken gemacht hätte?
Heiko Dahl,
Physiotherapeut,
Leiter der Arbeitsgemein-
schaft Manuelle Therapie
im Deutschen Verband für
Physiotherapie – Zentralverband
der Physiotherapeuten/
Krankengymnasten (ZVK) e.V.,
Wremen
Nach einem schweren Fahrradunfall wird die 12-jährige Monika aufder Wachstation unseres Kreiskrankenhauses behandelt. Damals,in den 60er Jahren, existierte Intensivpflege lediglich an Universi-tätskliniken. Monika liegt also auf der Aufwachstation der großenChirurgischen Abteilung – frisch Operierte und schwer Unfallver-letzte zur Intensivbehandlung mischen sich hier regelmäßig.
Monika wird aus ihrer Bewusstlosigkeit nicht wach. Der Neuro-loge macht uns immer weniger Hoffnung. Dieses Kind mit seinenlangen Zöpfen war der Liebling der ganzen Station. Acht Tage nachdem Unfall wird mir aufgetragen, Monika die Haare zu waschen.Beim Waschen fällt immer wieder Asphaltsplitt von der Straße ausden Haaren, vermischt mit getrocknetem Blut. Nachdem ich miteiner Kollegin aus meinem Ausbildungskurs das Haarewaschen ab-geschlossen habe, die blonden Haare locker und duftig zu zwei Zöp-fen geflochten rechts und links auf dem Badelaken liegen, soll eineMundpflege die anstrengende Prozedur abschließen.
Die über einen Luftröhrenschnitt atmende Monika reagiert nichtauf meine Bitte, ihren Mund zu öffnen. Es sollen aber alle zwei Stun-den Zunge und Zahnreihen mit pflegender Substanz und einemTupfer ausgewischt werden. Ein Holzkeil zur Öffnung der fest zu-sammengepressten Zähne liegt auf dem Nachttisch, ich setze ihn anden Backenzähnen an. Es knirscht ganz erheblich – und schon ha-be ich ihr einen Backenzahn des Oberkiefers herausgebrochen. Ichfühle mich miserabel, aber meine Schuld verschweige ich. Ich fürch-te mich vor den damals noch üblichen Fünf-Minuten-Besuchszeitender Eltern – doch sie sprechen uns nicht darauf an.
Eine offene Fehlerkultur existierte damals bei uns leider nicht.Wenn mir nur jemand gezeigt hätte, wie ich ohne Verletzung eine kor-rekte Mundpflege durchführen kann. Seit jenem Ereignis – und nunseit über 30 Jahren auch in der Funktion als Ausbilder – bemühe ichmich darum, genau diese praktischen Hilfestellungen zu geben.
Franz Sitzmann,
Krankenpfleger,
Hygieneberatung, Gemein-
schaftskrankenhaus
Herdecke
Ich habe ihr einen Backenzahn
herausgebrochen und fühle mich miserabel –
aber meine Schuld verschweige ich.
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Ein 47-jähriger starker Raucher (60 Zigaretten pro Tag) sucht mich zueiner Routinekontrolluntersuchung auf, um seinen Pilotenscheinzu verlängern. Er habe keine besonderen Beschwerden, nur gele-gentlich unbestimmte Schmerzen im Oberbauch. Die Untersuchungzeigt eine unzureichend behandelte Hypertonie und einen Befundim EKG, der uncharakteristisch ist, aber überprüft werden sollte.Mir scheint die Situation absolut nicht gefährlich, obwohl eine über-zeugende Erklärung für die abdominalen Symptome nicht besteht.14 Tage später verstärken sich die abdominalen Beschwerden. DerPatient berichtet von schwarzem Stuhl und Verstopfung. Der Häma-tokrit liegt bei 33 Prozent. Eine Koronarangiographie, die andern-orts durchgeführt wird, ergibt keinen pathologischen Befund. DerKardiologe empfiehlt die Behandlung mit Aspirin.
Drei Tage später wird der Patient mit Teerstuhl und Bauch-schmerzen in eine dritte Klinik eingewiesen. Die Endoskopie zeigtein 1,5 Zentimeter großes Magengeschwür. Aspirin wird abgesetzt.Im Arztbrief wird jetzt lediglich die Notwendigkeit der Behandlungmit H2-Blockern erwähnt. Die Ergebnisse der Koronarangiographie,obwohl bekannt, werden nicht erwähnt. Der deutlich erhöhte Blut-druck findet in den Therapieempfehlungen keine Berücksichtigung.
Dieser Fall zeigt charakteristisch, wie Informationen verlorengehen und dass der Informationsfluss verbessert werden muss. Dererste Informationsverlust erfolgt bei meiner Anamnese. Statt die ab-dominalen Beschwerden weiter abzuklären, steht ausschließlich diefliegerärztliche Untersuchung im Fokus. Als Zweites informierensich Kardiologen und Gastroenterologen nicht gegenseitig über ihre Ergebnisse, sodass mit dem Aspirin eine bei einem blutendenGeschwür kontraindizierte Therapie angesetzt wird. Der dritte In-formationsverlust geschieht mit dem Arztbrief, der sich auf nur eine Problemkonstellation bezieht, und andere, für den Patienten inZukunft sicher bedeutsamere Probleme nicht mehr erwähnt.
Professor Dr. med.
Peter v. Wichert,
Facharzt für Innere Medizin,
Ehemaliger Direktor der
Medizinischen Poliklinik der
Philipps-Universität Marburg
Weil sich die Fachdisziplinen nicht
gegenseitig über ihre Ergebnisse informieren, wird
eine kontraindizierte Therapie angesetzt.
FEHLER UND FOLGEN
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vat Alltag Krankenakte:
Könnten hier Fehler passieren?
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4342
SERVICE
I. Fehlerberichts- und Lernsysteme
SERVICE
Arbeiten Sie mit! Fehler erkennen heißt Fehler vermeiden.
AKTIONSBÜNDNIS PATIENTENSICHERHEIT e.V.
Dr. Constanze Lessing
c/o Private Universität Witten/Herdecke
Alfred-Herrhausen-Straße 44, 58455 Witten
Telefon: 02302 926-757, Fax: 02302 926-759
E-Mail: [email protected]; www.aktionsbuendnis-patientensicherheit.de
II. Glossar
Es folgt die Definition von fünf Schlüsselbegriffen zum Thema Patientensicherheit, die das
Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V. zusammengestellt hat:
● Unerwünschtes Ereignis (adverse event)
Ein schädliches Vorkommnis, das eher auf der Behandlung als auf der Erkrankung beruht.
Es kann vermeidbar oder unvermeidbar sein.
● Vermeidbares unerwünschtes Ereignis (preventable adverse event)
Ein unerwünschtes Ereignis, das vermeidbar ist.
● Kritisches Ereignis (critical incident)
Ein Ereignis, das zu einem unerwünschten Ereignis führen könnte oder dessen Wahrscheinlichkeit deutlich erhöht.
● Fehler (error)
Eine Handlung oder ein Unterlassen, bei dem eine Abweichung vom Plan, ein falscher Plan oder kein Plan
vorliegt. Ob daraus ein Schaden entsteht, ist für die Definition des Fehlers irrelevant.
● Beinahe-Schaden (near miss)
Ein Fehler ohne Schaden, der zu einem Schaden hätte führen können.
Ein englisches Glossar, das „Glossary of terms related to patient and medication safety“, ist von einer Expertengruppe
zusammengestellt worden und auf den Seiten des Europarates zu finden (www.who.int/patientsafety/highlights/COE_
patient_and_medication_safety_gl.pdf). Die englischen Begriffe, nicht die Erläuterungen dazu, sind auch ins Deutsche
und in weitere europäische Sprachen übersetzt.
www.aktionsbuendnis-patientensicherheit.de
Das Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V., im April 2005 gegründet, setzt sich für eine sichere
Gesundheitsversorgung ein. Es ist eine Plattform zur Verbesserung der Patientensicherheit in Deutschland.
Mitglieder sind Vertreter der Gesundheitsberufe, ihre Verbände und Patientenorganisationen. Antrag auf
Mitgliedschaft: ➞ Beteiligen Sie sich! ➞ Mitglied werden ➞ Mitgliedsantrag
www.forum-patientensicherheit.de
Das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ), die gemeinsame Einrichtung der Bundesärztekammer
(BÄK) und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) hat im Jahr 2001 das Forum Patientensicherheit
ins Leben gerufen. Fachleute aus dem In- und Ausland bilden den „Expertenkreis Patientensicherheit“, der
sich verschiedener Fragestellungen annimmt. Unter www.forum-patientensicherheit.de/service ist das neue
Fortbildungskonzept „Patientensicherheit – Fehlerquellen erkennen, unerwünschte Ereignisse vermeiden,
Folgen korrigieren“ eingestellt. Einen kostenlosen Newsletter „Patientensicherheit“ können Interessierte
unter www.forum-patientensicherheit.de/service/newsletter abonnieren.
www.patientensicherheit.ch
Die Schweizer Stiftung für Patientensicherheit wurde vom Bund, den wichtigsten Gesundheitsberufs-
verbänden, der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften und dem Kanton Tessin
im Dezember 2003 gegründet. Ziel der Stiftung ist es, die Patientensicherheit über Netzwerkbildung,
praktische Methodenentwicklungen, Vermittlung von Wissen und die Untersuchung von Schadensfällen
gemeinsam mit den Partnern des Gesundheitswesens zu fördern.
www.aok-patientensicherheit.de
Homepage des AOK-Bundesverbandes; aktuelle Informationen zu Initiativen und Projekten sowie Publika-
tionen zur Patientensicherheit in Deutschland.
III. Web-Links
KONTAKT
www.cirsmedical.deDas Critical-Incident-Reporting-System
der deutschen Ärzteschaft. Organisa-
tion: Ärztliches Zentrum für Qualität in
der Medizin (ÄZQ). Zur Verfügung
gestellt von Bundesärztekammer und
Kassenärztlicher Bundesvereinigung.
www.cirs-notfallmedizin.deCritical-Incident-Reporting-System
und Risikomanagement in der prä-
klinischen Notfallmedizin. Organi-
sation: Abteilung für Anästhesie,
Intensivmedizin und Notfallmedizin,
Klinikum Kempten.
www.dgch.de/cirsDas Critical-Incident-Reporting-
System der Deutschen Gesellschaft
für Chirurgie.
www.dgss.orgDas Critical-Incident-Reporting-System
der Deutschen Gesellschaft zum Studi-
um des Schmerzes e.V.
www.jeder-fehler-zaehlt.deEin Fehlerberichts- und Lernsystem für
Hausarztpraxen. Organisation: Institut
für Allgemeinmedizin der Universität
Frankfurt. Gefördert durch das Bun-
desministerium für Gesundheit.
www.kritische-ereignisse.deEin Fehlerberichts- und Lernsystem
für die Alten- und Krankenpflege.
Organisation: Kuratorium Deutsche
Altershilfe e.V., gefördert durch das
Bundesministerium für Gesundheit.
www.pasis.deDas Patienten-Sicherheits-Informa-
tions-System der Universität Tübingen.
Organisation: Tübinger Patienten-
Sicherheits- und Simulations-Zentrum,
Klinik für Anästhesiologie und Intensiv-
medizin, Universitätsklinikum Tübin-
gen.
www.pasos-ains.de Patienten-Sicherheits-Optimierungs-
System der Deutschen Gesellschaft
für Anästhesiologie und Intensiv-
medizin (DGAI) und des Berufsver-
bands Deutscher Anästhesisten (BDA).
Organisation: Tübinger Patienten-
Sicherheits- und Simulations-Zentrum
(TüPASS) im Auftrag von DGAI und
BDA.
www.aktionsbuendnis-patientensicherheit.de
„Medizin und Pflege in Deutschland befinden
sich auf sehr hohem Niveau.
Der Umgang mit Fehlern kann jedoch immer
noch weiter verbessert werden.“
Prof. Dr. med. Matthias Schrappe,
Vorsitzender Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V.