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www.ssoar.info Zehn Jahre nach der Ottawa-Charta: die betriebliche Gesundheitsförderung am Scheideweg zwischen Neuanfang und Marginalisierung Badura, Bernhard; Ritter, Wolfgang Veröffentlichungsversion / Published Version Zeitschriftenartikel / journal article Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Badura, B., & Ritter, W. (1997). Zehn Jahre nach der Ottawa-Charta: die betriebliche Gesundheitsförderung am Scheideweg zwischen Neuanfang und Marginalisierung. Journal für Psychologie, 5(3), 3-12. https://nbn-resolving.org/ urn:nbn:de:0168-ssoar-29110 Nutzungsbedingungen: Dieser Text wird unter einer Deposit-Lizenz (Keine Weiterverbreitung - keine Bearbeitung) zur Verfügung gestellt. Gewährt wird ein nicht exklusives, nicht übertragbares, persönliches und beschränktes Recht auf Nutzung dieses Dokuments. Dieses Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt. Auf sämtlichen Kopien dieses Dokuments müssen alle Urheberrechtshinweise und sonstigen Hinweise auf gesetzlichen Schutz beibehalten werden. Sie dürfen dieses Dokument nicht in irgendeiner Weise abändern, noch dürfen Sie dieses Dokument für öffentliche oder kommerzielle Zwecke vervielfältigen, öffentlich ausstellen, aufführen, vertreiben oder anderweitig nutzen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an. Terms of use: This document is made available under Deposit Licence (No Redistribution - no modifications). We grant a non-exclusive, non- transferable, individual and limited right to using this document. This document is solely intended for your personal, non- commercial use. All of the copies of this documents must retain all copyright information and other information regarding legal protection. You are not allowed to alter this document in any way, to copy it for public or commercial purposes, to exhibit the document in public, to perform, distribute or otherwise use the document in public. By using this particular document, you accept the above-stated conditions of use.

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Zehn Jahre nach der Ottawa-Charta: diebetriebliche Gesundheitsförderung am Scheidewegzwischen Neuanfang und MarginalisierungBadura, Bernhard; Ritter, Wolfgang

Veröffentlichungsversion / Published VersionZeitschriftenartikel / journal article

Empfohlene Zitierung / Suggested Citation:Badura, B., & Ritter, W. (1997). Zehn Jahre nach der Ottawa-Charta: die betriebliche Gesundheitsförderung amScheideweg zwischen Neuanfang und Marginalisierung. Journal für Psychologie, 5(3), 3-12. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-29110

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GESUNDHEITSPSYCHOLOGIE UND

GESUNDHEITSFÖRDERUNG

Zehn Jahre nach der Ottawa-Charta. Die betrieblicheGesundheitsförderung am Scheideweg zwischen

Neuanfang und Marginalisierung

ENTSTEHUNG UND EINFLUSS DER OTTAWA­

CHARTA

Die Ottawa-Charta verdankt ihre Entste­hung einer ganzen Reihe intellektuellerWurzeln und Akteure. Ohne Anspruch aufVollständigkeit sollen einige besonders au­genfällige rückblickend betrachtet erwähntwerden. Die Ottawa-Charta war zunächsteinmal das Produkt einer internationalen Or­ganisation, die ihre Existenz weniger durchkonkrete politische Funktionen denn durchein weltumspannendes Angebot an Ideenund technischen Hilfeleistungen rechtferti­gen muß. In der Deklaration von Alma-Atawar es dieser Organisation gelungen, mitder Vision der gesundheitlichen Primärver-

Bernhard Badura und Wolfgang Ritter

Bundesrepublik von besonderer Turbulenz.1989 wurden der Gesetzlichen Krankenver­sicherung (GKV) durch die Gesundheitsre­form vom Gesetzgeber besondere Kompe­tenzen zur Gesundheitsförderung und zurBekämpfung arbeitsbedingter Erkrankun­gen zugewiesen. Orientiert an der Ottawa­Charta entwickelten eine Reihe vonKrankenkassen Gesundheitsförderungsakti­vitäten, die auf schädigende Verhältnisseund Verhaltensweisen in der Arbeitswelteinwirken sollten. Von der zunehmendenDiskussion um die Bezahlbarkeit unseresSozialstaates sind auch die Gesundheitsför­derungsaktivitäten der gesetzlichen Kran­kenversicherer (GKV) betroffen, die nun innicht näher definierter Weise von den Be­rufsgenossenschaften (GUV) fortgesetztwerden sollen. Nach der beachtenswertenaber kurzen Hochkonjunktur droht der Ge­sundheitsförderung nun die Marginalisie­rung.

Die neunziger Jahre waren für die betriebli­che Gesundheitsförderung gerade in der

ZusammenfessungWer heute einen modernen Produktionsbe­trieb betritt, erwartet nicht mehr ernsthaft,daß Arbeiter beispielsweise noch an 20 oder30 Jahre alten Drehbänken stehen und denWerkzeugschlitten von Hand bewegen. DasBild wird dagegen bestimmt von computer­gesteuerten Entwicklungs- und Bearbeitungs­automaten, zu deren Bedienung gut ausgebil­dete Facharbeiter nötig sind. Was dagegenkaum auffällt, ist, daß in den meisten der Be­triebe immer noch mit einem weit über 20Jahre alten Konzept des Arbeitsschutzes überdie Gesundheit und das Wohlbefinden der Be­schäftigten »gewachtcc wird. Bereits 1986wurde in der kanadischen Hauptstadt Ottawader Grundstein für einen Wandel von einerpathogen geprägten zu einer salutogenenGrundhaltung gelegt. Die in der Ottawa-Char­ta formulierten Prinzipien einer adäquatenGesundheits- und Sozialpolitik setzten neueMaßstäbe auch für die betriebliche Gesund­heitsförderung. Die Gesetzlichen Krankenver­sicherer setzten diese Anforderungen, forciertdurch das Gesundheitsreformgesetz von1989, in zahlreiche Aktivitäten um. Heute nachnun mehr •• 10 Jahren Ottawa-Charta(( ist dieGesundheitsförderung wieder in Frage ge­steilt und droht dem Kostendruck zum Opferzu fallen. Im folgenden werden die wirtschaft­lichen und sozialen Notwendigkeiten und diehieraus resultierenden Anforderungen aneine qualitativ hochwertige Gesundheitsför­derung dargestellt. Abschließend sollen derheutige Stand und zukünftige Entwicklungs­aufgaben näher analysiert werden.

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sorgung (»primary health care«) so etwaswie eine intellektuelle Führerschaft in Sa­chen Weltgesundheit zu übernehmen. Diesgalt insbesondere für die Gesundheitspla­ner in der Dritten Welt. In den entwickeltenIndustrienationen wurde Primärversorgung(fälschlicherweise) recht bald mit » Billigme­dizin für die Habenichtse« gleichgesetztund fand entsprechend wenig Akzeptanz.Zentrales Problem dieser Länder war nichtdie Unterversorgung ihres Gesundheits­wesens mit Geld und Technik, sondern derzunehmend mit der Entwicklung der mo­dernen Medizin an den Rand gedrängte vor­beugende Gesundheitsschutz. Dieser vor­beugende Gesundheitsschutz wurde vonder Weltgesundheitsorganisation lange Jah­re nahezu ausschließlich als Gesundheits­erziehung verstanden. Dies erwies sichaber am Beginn der 8Der Jahre als höchstineffiziente Strategie, weil er sehr personal­intensiv und wenig wirksam war. Die sichhier allmählich auftuende Lücke an Ideenund Visionen mußte früher oder später auf­gefüllt werden.

Etwa zeitgleich entstand an der neugegrün­deten Universität Konstanz - am Ende der7Der Jahre - eine Gruppe junger Soziologen,Politik- und Verwaltungswissenschaftler,die, gefördert durch das damalige Bundes­ministerium für Forschung und Technolo­gie, an einem Gutachten zur Entwicklungsozialwissenschaftlicher Gesundheitsfor­schung arbeitete. Dieser Gruppe gehörteauch 1I0na Kickbusch an, die spätere Archi-'tektin des Ottawa-Prozesses. Mangels ein­schlägiger Vorbilder bastelten wir damals aneiner Collage unterschiedlicher Ideen undAnsätze zum Thema »Gesellschaft undGesundheit«. Wesentliche Orientierungs­punkte lieferte Ivan lilich mit seiner Kritikder Expertenmacht und seiner Forderungnach Übereignung der Gesundheit und derGesundheitskompetenz an die bisher allzusehr passivierten Konsumenten medizini­scher Dienste (»empowerment«) (Il1ich1979). Ein zweites wichtiges intellektuelles

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Vorbild war für uns Thomas McKeown(McKeown 1982) mit seiner nachdrückli­chen Betonung krankmachender Einflüsseaus der Umwelt und dem Verhalten sowieArchibald Cochrane mit seiner These vonder inflationären Entwicklung der kurativenMedizin (Cochrane 1972). Dies alles fügtesich in unseren Köpfen zu einem Bild, indem die Gesundheitspotentiale der Gesell­schaft in den Vordergrund und die High­Tech-Medizin eher in den Hintergrund tra­ten - ganz im Gegensatz zur damals undauch heute noch weithin herrschendenLehre, daß Investitionen in Gesundheitgleichzusetzen seien mit Investitionen indie moderne Akutmedizin.Unsere politische Vision gipfelte in der For­derung nach Autonomie und Selbsthilfe, undunsere wissenschaftlichen Arbeiten kon­zentrierten sich zunächst auf die soziale Un­terstützungsforschung und die Entwicklungder Sozialepidemiologie (Badura 1981).

Ihr großes Engagement und die Teilnahmean internationalen Kongressen zum ThemaSelbsthilfe und Gesundheit ermöglichten1I0na Kickbusch Anfang der 8Der Jahre dannden Sprung aus der Wissenschaft in die Po­sition eines »Regional Officers« für Ge­sundheitserziehung im Europäischen Büroder WHO in Kopenhagen. Hier konnte sieweitere wichtige Erfahrungen in SachenGesundheitspolitik (auch in Sachen Innen­politik der WHO) sammeln, bis es ihrschließlich gelang, Halfdan Mahler, den da­maligen Generalsekretär der WHO, davonzu überzeugen, daß es wieder einmal Zeitist für eine große Gesundheitskonferenzmit weltweiter Ausstrahlung. Daß die Wahlauf den Konferenzort Ottawa fiel, war eben­falls alles andere als ein Zufall. Hier hattebereits der im Auftrag der kanadischen Bun­desregierung erstellte Lalonde-Report, mitseiner Betonung der Achse »Umwelt undGesundheit«, wesentliche Vorarbeiten gelei­stet für eine Neuorientierung der Gesund­heitspolitik. 1985, ein Jahr vor dieser denk­würdigen Konferenz, versuchten 1I0na Kick-

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busch und der Senior-Autor dieses Artikelsso etwas wie eine intellektuelle Zwischen­bilanz der wissenschaftlichen Grundlagender Gesundheitsförderung, die in dieKonzeption des Bandes llHealth PromotionResearch« mündete. Er konnte wegen no­torischer hausinterner Verzögerungen erst1991 als offizielle Publikation von WHO Eu­ro erscheinen (BaduraiKickbusch 1991).

ÖKONOMISCHE UND SOZIALE HERAUSFOR­

DERUNGEN FÜR SALUTOGENE ANsÄTZE

Nicht nur die Bundesrepublik Deutschland,sondern die meisten westlichen Industrie­staaten befinden sich in einem dynami­schen Prozeß, der bisherige Organisations­und Produktionsprozesse als zu unflexibelerscheinen läßt. Die zunehmende interna­tionale Konkurrenz auf den Weltmärktenbringen die Unternehmen in eine verschärf­te Wettbewerbssituation mit zunehmendenSättigungstendenzen, dabei kommt es zueinem ständigen Innovationsdruck, der nureinen kurzen Produktionszyklus bei einerimmer längeren und aufwendigeren For­schungs- und Entwicklungsvorlaufzeit bie­tet (vgl. Ohmae 1985: 13). Der Aufwand zurErarbeitung der innovativen Basistechn0­logie wird stetig größer. Der Zeitdrucknimmt zu, die innovativen Ideen für eigeneProdukte zu nutzen. Insgesamt zeichnetsich ein Strukturwandel in der Industriege­seilschaft ab. Breite Bereiche des sekundä­ren Sektors lösen sich auf. Allein in den USAfand in den letzten 20 Jahren ein Rückgangum 25 -30% statt, wobei der tertiäre Sektoreine immer größere Bedeutung gewinnt(vgl. Omae 1985: 14). Auch die europäischeIntegration mit der Globalisierung von Märk­ten setzt Unternehmen unter einen ver­stärkten Wettbewerbsdruck.

Diese Faktoren haben für die Unterneh­men, d.h. für die dort arbeitenden Men­schen, konkrete Folgen. Für die Beschäf­tigten bedeutet dies oft eine Intensivierungder Arbeit. Sowohl in der Produktion, aberauch im Dienstleistungsbereich können

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ZEHN JAllAI; NACH._

zunehmende Überforderung jedoch kon­krete negative Folgen für die Qualität vonProdukten oder Dienstleistungen haben.Viele Organisationen versuchen diesen dy­namischen Einflußgrößen mit neuen Tech­nologien sowie neuen Managementkon­zepten zu begegnen. llLean management«,llKaizen« oder llBusiness Reengineering«setzen verstärkt den arbeitenden Men­schen als Produktivkraft in den Mittelpunkt.Im Gegensatz zu den tayloristischen Ansät­zen verlagern sich bei den neuen Konzep­ten die Anforderungen auf die geistigen undsozialen Fähigkeiten sowie auf Selbstver­antwortung und das Engagement der Be­schäftigten.

Auch wenn Gesundheitsförderungsexper­ten der Tatsache mit Skepsis gegenüber­stehen: ihr Handeln wird zukünftig immerhäufiger an den zu erwartenden Kosten unddem volks- sowie betriebswirtschaftlichenNutzen gemessen werden. Je eher wir unsdarauf einstellen, um so besser wird es unsgelingen, zukünftig diese Erwartungen mitden Bedürfnissen der Beschäftigten vor Ortund mit unserem eigenen professionellenSelbstverständnis in Einklang zu bringen.Aus volkswirtschaftlicher Sicht trägt Ge­sundheitsförderung dazu bei, Kosten, dieden GKV, aber auch den Unfallversiche­rungsträgern, entstehen, etwa durch Invali­dität, Krankengelder oder Reha-Maßnah­men, zu verhindern bzw. zu verringern.Gesundheitsförderung trägt ferner dazu bei,daß Beschäftigte, insbesondere hochqualifi­ziertes Fachpersonal. den Unternehmenlänger zur Verfügung stehen, d.h. Frühver­rentung verhindert oder hinausgeschobenwird. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht las­sen sich Kosten spezifizieren, die sich ausAbsentismus, innerer Kündigung, Fluktua­tion, verringerter quantitativer/qualitativer Ar­beitsleistung sowie Produktionsausfällen er­geben. Indirekte Kosten für ein Unterneh­men ergeben sich aus den Arbeitgeberan­teilen an den Sozialversicherungsbeiträgen.Ein Trend, der nicht zuletzt auch ökonomi-

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sche Auswirkungen hat, ist der demographi­sche Wandel in der Bundesrepublik Deutsch­land. Eine zunehmend älter werdende Ar­beiterschaft stellt die derzeitige Frühberen­tungspolitik in Frage. Sowohl aus volkswirt­schaftlicher als auch aus betriebswirtschaft­licher Sicht erscheinen »gesunde« Arbeits­plätze sinnvoller als ein vorzeitiger Ver­schleiß der Arbeitskraft durch arbeitsbe­dingte Erkrankungen oder Berufskrankhei­ten. Die Berufsgenossenschaften haben1992 rund 7 Mrd. DM für Renten an Er­krankte, Verletzte und Hinterbliebene aus­gegeben, davon entfielen über 70% auf dieErkrankten und Verletzten (HVBG 1993).Jede fünfte Frühinvalidenrente wird auf­grund eines Rückenleidens ausgezahlt (vgl.Konstanty 1992: 9).Der Versuch, auf diese Anforderungen mitden bisherigen traditionellen Arbeitsschutz­strukturen zu reagieren, erscheint wenigerfolgversprechend. Technisch-normierteRahmenrichtlinien sowie medizinische Er­kenntnisse sind im betrieblichen Arbeits­und Gesundheitsschutz immer noch vor­herrschend. Entscheidend dabei ist, daß dieinstitutionelle Logik des Arbeitsschutzsy­stems sich bislang fundamental an Vorschrif­ten und formalen Normen orientiert. Inso­fern fällt es den Akteuren schwer, sich über­haupt außerhalb des Einflusses bestehen­der Vorschriften und Normen durchzuset­zen, denn »nicht normiertes oder normier­bares Präventionswissen ist über dieseHandlungsmuster kaum zu transportieren«(Pröll 1991: 152).

NEUE SALUTOGENE DENKANSTÖSSE DURCH DIE

O'rrAWA-CHARTA

Die lange vorherrschende pathogene Sicht­weise greift heute zu kurz. Die sich nun her­ausbildenden Arbeits- und Produktions­strukturen erfordern einen Wandel derbetrieblichen Gesundheitspolitik von der Pa­thogenese zur Salutogenese. Eine entschei­dende Zielsetzung von Gesundheitsförde­rungspolitik sollte das Wohlbefinden unddie Gesundheit der Beschäftigten sein. Sie

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läßt sich messen durch Indikatoren, die sichauf den seelischen, sozialen und körperli­chen Zustand der Beschäftigten beziehen,sowie durch Indikatoren der in einem Unter­nehmen wirksamen Gesundheitspotentialeund Risikofaktoren. Im Vordergrund solltedabei die Förderung der Gesundheitspoten­tiale stehen. Sie verspricht in der modernenArbeitswelt den größten Gesundheitsge­winn und erhöht zugleich die Fähigkeit zurschädigungsfreien Bewältigung unvermeid­licher Belastungen und befristeter Überfor­derungen. Diesem von der Ottawa-Chartapropagierten salutogenen Konzept schließtsich auch das Europäische Parlament so­wie der Rat der Europäischen Union an, dieein Aktionsprogramm zur Gesundheitsför­derung damit begründen, daß dieser Wan­del einen deutlichen Einfluß auf die Sozial­kosten haben kann:

»Das wichtigste Kennzeichen der Bemü­hungen um Gesundheitsförderung mußsein, daß sie stets gesundheitsorientiertsind, nicht krankheitsorientiert. Dies bedeu­tet, daß sich die Gesundheitsförderungnicht mit medizinischer Versorgung, Be­handlung und Betreuung befaßt, sondernbei konsequenter Durchführung zu einerSenkung der Kosten von Behandlung undGesundheitsversorgung führen kann.« (Mit­teilung der EU-Kommission 1994)

Diese Form der Gesundheitspolitik ist mitdem traditionell eher pathogen geprägtenGesundheitsbegriff schwer durchführbar.Insofern ist statt eines statischen auf»Krankheit« fixierten Begriffs eine dynami­sche Definition, die auf die Interdependenzvon Personen und Umwelt setzt, eine tref­fendere Prämisse. Gesundheit ist eine Fä­higkeit zur Situationsbewältigung - z.B. zurBewältigung von Problemen bei der Arbeit -,durch die ein positives Selbstbild, positiveGefühle und körperliches Wohlbefinden er­halten oder wiederhergestellt werden. Ge­sundheit ist beides: Voraussetzung und Er­gebnis einer kontinuierlichen Auseinander-

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setzung des Menschen mit seinen sozialenund physischen Lebensbedingungen in derArbeitswelt, in der Familie und in der Frei­zeit gleichermaßen. Soziale und fachlicheKompetenzen sowie ein positives und sta­biles Selbstwertgefühl bilden wichtige per­sönliche Gesundheitspotentiale. Ein Klimagegenseitiger Unterstützung, gut geplanteArbeitsabläufe und ausreichende Hand­lungsspielräume bilden wichtige soziale undorganisatorische Gesundheitspotentiale.Förderung persönlicher und betrieblicherGesundheitspotentiale sollte ein zentralerBestandteil von Gesundheitsförderung sein(Badura, 1993: 76). Die WHO plädiert somitauch für eine Reorientierung der gesund­heitspolitischen Prioritäten:

- von häufigen monokausalen biomedizini­schen Leistungen zu einer vernetzten undvorausschauenden Umwelt- und Struktur­politik,- von expertenorientierten lltop downll-An­sätzen zu partizipatorischen llbottom UPll­Verfahren,- von pathogenen Fragen bzw. krankheits­orientierten Konzepten zu salutogenen Be­mühungen, d.h. zur Erschließung von Ge­sundheitspotentialen (Badura 1993 b: 21).

Das Wissen über Gesundheitsrisiken undkrankheitsbegünstigende Arbeitsbedingun­gen - im Sinne der pathogenen Fragestel­lung - ist recht umfassend erforscht. Auf die­sem Hintergrund überwiegen jedoch in derForschung ))negative Gesundheitsbegriffell ,also Gesundheit wird als Abwesenheit vonKrankheit definiert (vgl. Udris et al. 1994:198). Der klassische Verhütungsbegriff hatdie Gesundheitsschutzziele bisher auf dieseVorstellung vom llFreisein von Krankheit undUnfällenll fixiert. Soll Gesundheitsförderungjedoch als qualitativ hochwertig begriffenwerden, so muß sie sich an den aktuellenRahmenbedingungen und zukünftigen Her­ausforderungen orientieren und ein integrati­ves Handlungskonzept darstellen, daß vor al­lem die salutogenen Einflüsse gerade in der

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Arbeitswelt fördert. Was wissen wir darüber?Melvin Kohn und seine Mitarbeiter habendurch ihre Studien, die in zahlreichen inter­national vergleichenden Arbeiten repliziertwurden, den Zusammenhang zwischen denobjektiven Arbeitsbedingungen einerseitsund dem Selbstbild, der intellektuellen undsozialen Kompetenz der Beschäftigten an­dererseits betont. Nach ihren Ergebnissenhat intellektuell anspruchsvolle Arbeit, dieeigenständige Initiative und Urteilskraft for­dert, einen persönlichkeitsfördernden Ein­fluß. Intellektuelle Unterforderung wirktsich längerfristig negativ aus, da sie zumVerlust von Problemlösungskompetenzenbeiträgt.Ähnliches gilt nach Kohn et al. für die mitanspruchsloser Arbeit oft einhergehendenBedingungen wie geringer Handlungsspiel­raum und hochgradige Routinisierung derArbeit (Kohn 1990). Gerade die Gesund­heitsrelevanz von Handlungsspielräumenbei der Arbeit ist durch eine Reihe von Un­tersuchungen (Karasek/Theorell 1990; Sig­rist 1996) gut belegt. Handlungsspielräumebeeinflussen die wechselseitige Adaptabi­lität von Arbeitsaufgaben und Arbeitslei­stungen an die spezifischen Bedürfnisseund Befähigungen der Beschäftigten undbilden deshalb eine wesentliche Vorausset­zung schädigungsfreier Problemlösung. Ne­ben der Komplexität der Arbeitsaufgabenund den zu ihrer Bewältigung gewährtenHandlungsspielräumen, haben insbesonde­re die sozialen Beziehungen am Arbeitsplatzeine erhebliche Gesundheitsrelevanz. Po­sitiv bewertete soziale Kontakte und Inter­aktion gelten als Gesundheitspotentiale,wie dies Studien über soziale Unterstützungbelegen (Pfaff 1988).

llStreßlI ist eines der populärsten Stichwor­te zum Thema Arbeit und Gesundheit. Vonbesonderer Bedeutung sind Arbeitsbedin­gungen, die chronische Überforderung imquantitativen und qualitativen Sinne hervor­rufen. Diese chronischen Stressoren kön­nen sich zum einen aus der Aufbauorga-

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nisation selbst (Komplexität und Umfang),aber auch aus der Ablauforganisation (Ar­beitszeit und Qualifikation) und den sozialenBeziehungen (Konflikte mit Vorgesetzten,Kollegen etc.) ergeben. Auch hierfür gibt eseine Reihe von Studien mit z.T. konkretenHinweisen auf Möglichkeiten gesundheits­förderlicher Arbeitsgestaltung (vgl. BaduralPfaff 1989). Gesundheitspotentiale wieQualifikation, soziale Unterstützungen oderHandlungsspielräume lassen die pathogeneSichtweise. die auch in der Streßthesenoch enthalten ist. als nicht mehr zeitge­mäß erscheinen.Salutogene Einflüsse in der Arbeitsweltmüssen dementsprechend Gesundheits­förderung im Kontext der Arbeits- und Or­ganisationsgestaltung sehen. Verhalten undVerhältnisse stehen in enger Wechselwir­kung miteinander. Jede Strategie der Ge­sundheitsförderung muß sich dessen be­wußt sein. Die Arbeitsbedingungen wurdenin der betrieblichen Gesundheitsförderungder Bundesrepublik bisher zu sehr vernach­lässigt. Experten für Gesundheitsförderungmüssen zukünftig nicht nur verstärkt mit Ar­beitsschützern, sie müssen vor allem auchverstärkt mit Ingenieuren und Betriebswir­ten zusammenarbeiten, wenn aus der Vi­sion einer vorausschauenden Gesundheits­förderung durch Arbeits- und Organisations­gestaltung Realität werden soll. Gesund­heitsförderung und Organisationsentwick­lung bilden somit einen integrativen Ansatzzur Salutogenese von Arbeit. Daraus folgtdie Notwendigkeit zur Entwicklung inte­grierter, d.h. abgestimmter, am Menschenund seiner Arbeitsumwelt ansetzender In­terventionskonzepte.

UMSETZUNG DER OTTAWA-CHARTA IN BETRIEB­

LICHE GESUNDHEITSFÖRDERUNGSPRAXIS

Gerade der Arbeitsplatz biete wie kaum einanderer Ort die Möglichkeit, ein umfangrei­ches, langfristiges Präventionsprogrammmit großen, relativ konstanten Personen­gruppen durchzuführen, die darüber hinausaus präventivmedizinischer Sicht derzeitig

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eine besonders günstige Altersstruktur auf­weisen. Längerfristig sollte eine Integrationvon arbeitswelt- und gemeindebezogenerGesundheitsförderung angestrebt sowieeine nicht nur verhaltens-, sondern aucheine strukturbezogene Gesundheitsförde­rung betrieben werden. Bezogen auf dieBetriebe bedeutet das eine Gesundheits­förderung. die durch Maßnahmen der Ar­beits- und Organisationsgestaltung dazubeiträgt, sowohl die Gesundheit der Be­schäftigten zu fördern als auch das Be­triebsergebnis zu verbessern. Eine Stra­tegie der betrieblichen Gesundheitsförde­rung muß daher mehrere Zielbündel be­rücksichtigen, und sie muß nicht nur kurz,sondern auch mittel- und längerfristig aus­gerichtet sein (vgl. Kirschner et al.: 1995).Gesundheitsförderung sollte:

1. Gesundheitspotentiale für Beschäftigtemobilisieren sowie die Steigerung ihrerKreativität, Selbstvertrauen und der Einsatz­bereitschaft ermöglichen.2. Zu einer Verringerung krankheitsbeding­ter Fehlzeiten, längerfristigem Erhalt der Ar­beitskraft und Verhütung krankheitsbeding­ter Frühberentung beitragen.3. Als Unternehmensziel anerkannt, struktu­rell abgesichert sein durch Einstellung ent­sprechenden Personals und Bereitstellungvon Ressourcen.4. Neue Instrumente zur Diagnostik und In­tervention hervorbringen und einer syste­matischen Evaluation unterzogen werden.

Die von vielen Krankenkassen entwickeltenModelle der betrieblichen Gesundheitszir­kel versuchen das beschriebene Zielbündelin ein Stufenkonzept zu integrieren. Neben derAnwendung der klassischen Arbeitsschutz­maßnahmen zur Verminderung von Krank­heiten, werden auch gesundheitsförderndeAspekte, wie beispielsweise Förderung inder Persönlichkeitsentwicklung und Kreati­vität von Beschäftigten für mehr Arbeits­zufriedenheit, berücksichtigt. Insgesamtliegt dieser Methode ein verhaltens- und

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verhältnisorientierter Ansatz zugrunde, derdie Beschäftigten an den Planungs- undUmsetzungsprozessen beteiligt.

Das Verfahren der llbetrieblichen Gesund­heitsberichte, und Gesundheitszirkel« ist einsolches integriertes Konzept, das sich ausden Instrumenten bzw. Phasen »Gesund­heitsberichtec, IIMitarbeiterbefragungec, llGe­sundheitszirkel« und llUmsetzung der erar­beiteten Verbesserungsvorschläge« zu­sammensetzt. Die in einer Phase erzieltenErgebnisse, Daten und/oder Informationensind für das effektive Funktionieren dernächsten Stufe von großer Bedeutung. Erstdie im Gesundheitsbericht erhobenen Da­ten über Krankheitsauffälligkeiten in be­stimmten Organisationsbereichen ermögli­chen den Entscheidungsträgern, den Inter­ventionsbereich für die nachfolgenden Stu­fen festzulegen. Die Grundidee jeder be­trieblichen Maßnahme zur Gualitätssiche­rung ist die Entwicklung von Lernschleifenzur Selbstbeobachtung und Zurückmel­dung, über den Zustand von Strukturen,Prozessen und Ergebnissen mit dem Ziel ei­ner kontinuierlichen Fehlersuche, einer kon­tinuierlichen Verbesserung oder bei Bedarfauch einer grundsätzlichen Überarbeitungvon Aufbau- und Ablauforganisation. Lern­schleifen enthalten die immer gleichenSchritte der Situationsanalyse (z.B. Gesund­heitsbericht, Mitarbeiterbefragungl. derZielsetzung (z.B. Bestimmung des Inter­ventionsortes und der Interventionsartdurch betriebliche Entscheidungsträger),der durchgeführten Intervention (z.B. Ge­sundheitszirkell und der Evaluation. Mehr­fach durchlaufene Lernschleifen sollten zueiner Lernspirale und diese zu einem sichselbsttragenden, lernenden System führen(Badura/Ritter 1996).

NEUORIENnERUNG DER GESUNDHEITS- UND So­2IALPOUTIK: DIE GESUNDHEITSFÖRDERUNG AM

SCHEIDEWEG

Die skizzierte Vorgehensweise einer qualita­tiv hochwertigen Gesundheitsförderung

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konnte bisher erst ansatzweise entwickeltund erprobt werden. Mitte 1996 deutetensich dann erhebliche Veränderungen der ge­setzlichen Rahmenbedingungen an, die derGKV für die betriebliche Gesundheitsförde­rung die weitgehenden Kompetenzen ent­zogen. In den Vordergrund rückten hier dieGesetzlichen Unfallversicherer (GUV), diebis dato den klassischen Arbeitsschutz ab­deckten. Entscheidend für diesen Akteurs­wechsel waren eine Reihe von Gesetzen:

1. Das Beitragsent\astungsgesetz (BeitrEntlG),das die Kompetenzen der Kassen hinsicht­lich der Gesundheitsförderungsaktivitätenneu festlegt (§20 SGB V).2. Die Gesetzesentwürfe zur Neuordnungvon Selbstverwaltung und Eigenverantwor­tung in der gesetzlichen Krankenversiche­rung (1. und 2. NOG).3. Das neue Arbeitsschutzgesetz, das diebisherigen EG-Rahmenrichtlinien in nationa­les Recht umsetzt.4. Das Gesetz zur Einordnung der gesetzli­chen Unfallversicherung in das SGB VII.5. Die Kürzungen der Lohnfortzahlungen imKrankheitsfall (vgl. BKK-News 2/96: 6).

Die einzelnen Novellierungen sollen in die­sem Artikel nicht in allen Einzelheiten kom­mentiert und diskutiert werden. Die mei­sten Änderungen zielen auf eine verstärkteKompetenzzuweisung für die Unfallversi­cherer, ohne dabei die hierfür nötigenInstrumente näher zu beschreiben. Auf dereinen Seite wird damit die langgeforderteVernetzung aller am Arbeits- und Gesund­heitsschutz beteiligten Akteure forciert,gleichzeitig werden jedoch durch dasBeitrEntlG und das NOG bestehende und inEntwicklung begriffene Strukturen bei denKassen stark beschnitten bzw. abgebaut.Zudem führt die Rückbindung an die klassi­schen Strukturen des Arbeitsschutzes unterder Federführung der einzelnen Berufsge­nossenschaften zu erheblichen Schnittstel­len- und Kooperationsproblemen. Sicherlichbedeutet die Schwerpunktlegung der ge-

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setzlichen Regelungen auf die GUV und Ar­beitgeber nicht das unmittelbare und siche­re llAus« für die Krankenkassen im Bereichder betrieblichen Gesundheitsförderung.Immer noch haben viele Kassenverbändestarke Ressourcen und Wissensbeständefür dieses Politikfeld. Insofern leuchtet nichtunbedingt ein, warum bestehende und sichlangsam etablierte Kompetenzen unter denAkteuren umverteilt werden sollen und dieUnfallversicherer plötzlich mit völlig neuenAufgaben beauftragt werden. Wie und mitwelchen Akteurskonstellationen lassen sichzukünftig sinnvolle Gesundheitsförderungs­aktivitäten durchführen? Welchen Wegwird die Gesundheitsförderung gehen?

Mit den Berufsgenossenschaften hat zwarnicht ein neuer Akteur das Politikfeld llbe­triebliche Gesundheitsförderung« betreten.Jedoch ist diese Institution weitaus eherdem traditionellen Arbeitsschutz verpflich­tet, als den vorliegenden Erkenntnissen zurbetrieblichen Gesundheitsförderung. Wieund in welchem Umfang die GKV und GUVan dem Bestehen bzw. der Weiterentwick­lung der Gesundheitsförderung beteiligtsein werden, hängt von einer Reihe Punktenwie Handlungsoptionen, Kompetenzen,Strategien, Machtpotentiale, aber auch Un­terstützung durch gesetzliche Rahmenbe­dingungen, ab. Die zukünftige Gestaltungvon Gesundheitsförderung ist daher weit­gehend unklar. Daher sollen hier kurz diebisherigen Konfliktpunkte und die sich evtl.hieraus ergebende Marginalisierung derbetrieblichen Gesundheitsförderung zwi­schen den GKV und den GUV aufgezeigtwerden. Es sollen aber auch die Koopera­tionsmöglichkeiten zwischen den beidenAkteuren dargestellt werden.

Mögliche Konfliktpunkte sind die bereitsoben angedeuteten institutionellen Selek­tionsprozesse und Defizite des klassischenArbeitsschutzsystems. Konkrete Gefähr­dungsexpositionen llmüssen« messbar undstreng naturwissenschaftlich belegbar sein.

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Die gesetzlichen Rahmenbedingungen tra­gen zu dieser Konkretisierung wenig bei, dahier die GUV mit ihrem Regelwerk das Ab­straktionsniveau mit arbeitswissenschaft­Iich abgesicherten Instrumentarien undGefährdungspunkten ausfüllen. Die bereitsbeschriebenen Gesundheitsförderungs­konzepte, aber auch das neue Verständnisvon Gesundheit, genügen diesen »dingli­chen« bzw. technisch-normierbaren An­sprüchen nicht und werden es schwerhaben, sich durch die llinstitutionellen Fil­ter« der Unfallversicherer durchzusetzen.Das Festhalten der Berufsgenossenschaf­ten an den alten Leistungskatalogen, dieimmer noch von der unmittelbaren Meßbar­keit von Gefährdungsexpositionen ausge­hen, scheint diese Annahmen zu stützen.

Ein weiteres mögliches Konfliktpotentialstellt u. E. auch die bisherige IIBedarfsori­entierung« der Berufsgenossenschaftenam Klientel der Unternehmen dar. Geradedie GUV sehen die Gefahr, daß durch denneugeschaffenen Dualismus von Kassenund Berufsgenossenschaften, den Betrie­ben doppelte Belastungen auferlegt wer­den. Es ist anzunehmen, daß die Bedarfs­angebote der Berufsgenossenschaften sichhier wohl an der Nachfrage der Unterneh­men orientieren werden, nicht zuletzt, weilihre anteilige Finanzierung durch die derBetriebe gedeckt wird. Hier wird nicht derobjektive Bedarf an Prävention und Ge­sundheitsförderung entscheiden, sondernsich möglicherweise die unproblematisch­ste Version für die einzelnen Betriebedurchsetzen. Die Forderung vieler Unter­nehmen nach der Umsetzung des Gesetzesfür Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall las­sen nicht gerade auf einen Bedarf nachkomplexen und aufwendigen Gesundheits­förderungsprogrammen schließen. DerKrankenstand soll schnell und kostenspa­rend gesenkt werden.Trotz der zahlreichen Schnittstellenproble­me und Konfliktpotentiale, gibt es eine Rei­he von Anknüpfungspunkten, die die bei-

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den Hauptakteure in dem Politikfeld »betrieb­liche Gesundheitsförderung« kooperations­fähig erscheinen lassen. Hier kann auf diebestehenden Kooperationsversuche zwi­schen Kassen und verschiedenen Berufs­genossenschaften, wie etwa das KOPAG­Programm zwischen dem Bundesverbandder BKK und dem Hauptverband der ge­werblichen Berufsgenossenschaften, hinge­wiesen werden. Ferner sind von der AOKKooperationen mit den Berufsgenossen­schaften geplant. Sowohl auf sektoraler alsauch auf regionaler Ebene ließen sich hierdie jeweiligen Kompetenzen und Wissens­bestände zusammenführen. Auf der Seiteder Berufsgenossenschaften sind hier diehohen betrieblichen Kompetenzen sowiederen starke fachliche Spezialisierung aufBranchenebene zu nennen. Starke Anknüp­fungspunkte für die Kassen stellen insbe­sondere die teilweise Nutzung der bereitsvorhandenen Präventionsinstrumente beiden Berufsgenossenschaften dar. Hier se­hen auch die GUV Chancen, den Routine­datenbestand der Krankenkassen für eineZielpopulations- und Bedarfsermittlung zunutzen. Die salutogen orientierten und aufsozialwissenschaftlichen Erkenntnissen ba­sierenden Gesundheitsförderungskonzepteder GKV können die technisch und medizi­nisch geprägten Interventionen sinnvoll er­gänzen bzw. erweitern und tendenziell auchsublimieren.Für ein kooperatives Handeln der beidenAkteure im Hinblick auf eine integrative undqualitativ hochwertige Gesundheitsförde­rung sind u.E. jedoch einige Voraussetzun­gen zu erfüllen, die hier thesenartig darge­stellt werden sollen.

1. Erhebliche Bedeutung für kooperativesHandeln kommt den gesetzlichen Rahmen­bedingungen zu. Staatliche Steuerungspoli­tik kann hier einen Anstoß zu einem Inter­essen- und Machtausgleich geben, um so­mit eine ausgewogene Gesprächsbasis fürdie zukünftigen Möglichkeiten von Arbeits­und Gesundheitsgestaltung zu schaffen

5. JAHRGANG, HEFT 3

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(vgl. Kuhn 1995). Kurzfristige und einseitigeKompetenzzuweisungen sowie die Be­schränkung auf rein ökonomische Proble­me erschweren eine qualitativ hochwertigeund integrative Gesundheitsförderung. DaßBelastungen, Beanspruchungen und darausresultierende Fehlzeiten beispielsweisedurch Lohnfortzahlungsgesetze bekämpftwerden, verkennt u.E. die meist polykausa­len Zusammenhänge der Probleme undkonzentriert sich somit vorwiegend aufkurzfristig wirksame Ergebnisse bzw. Er­folge.

2. Prinzipiell sollte bei allen Akteuren derGesundheitsförderung ein grundlegendesVerständnis von Qualitätsstandards für Dia­gnostik, Intervention und Evaluation herr­schen. Hier sind keine apodiktischen Fest­schreibungen von seiten staatlicher Akteu­re gefragt, sondern vielmehr ein breitesKonsensusverfahren von Arbeits- und Ge­sundheitsschutzexperten und Beteiligtenaus der Praxis. Für die Schaffung solcherStandards werden konzertierte Aktionennötig sein (vgl. BaduralRitter 1996 b).

3. Gemeinsame Standardsetzung kann in­stitutionelle Egoismen der einzelnen Ak­teure minimieren und ein kooperatives Han­deln im Politikfeld ))betriebliche Gesund­heitsförderung« entwickeln helfen. Als zu­künftige ))Vision« sollte eine ))ProfessionGesundheitsförderer« stehen, die sich dengeschaffenen Qualitätsstandards und -an­forderungen über den institutionellen Gren­zen und Verständnissen hinweg verpflichtetfühlt.

Das Gelingen der von uns als Idealtypus skiz­zierten Gesundheitsförderung wird sowohlinnerhalb der Unternehmen als auch aufsektoraler und regionaler Ebene von derKooperation aller Akteure abhängen. Dieneuen einseitig ausgerichteten Rahmen­bedingungen, verbunden mit den möglicheninstitutionellen Egoismen, drohen die Ge­sundheitsförderung zu marginalisieren.

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