Bastian Sick Der Dativ Ist Dem Genitiv Sein Tod

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    Bastian Sick:Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod

    Markus Hundt

    I. Aufruhr um die deutsche Sprache

    Wie kaum ein anderes Buch ist Der Dativ ist dem Genitiv sein Todim deutschen

    Sprachraum eingeschlagen. 2004 hat Sick seine bis dahin in der Online-Ausgabe

    desSPIEGELerscheinenden Sprachglossen1 separat im Verlag Kiepenheuer &

    Witsch verffentlicht. Die enorme Resonanz veranlasste zum Nachlegen. In den

    Jahren 2005 und 2006 erschienen die zweite und dritte Folge von Der Dativ ist dem

    Genitiv sein Tod.Dabei ist es nicht geblieben. Hrbcher wurden gefertigt, undselbstverstndlich ist auch das Spiel zum Buch erhltlich. Zudem jagt seit der

    Erstausgabe desDativ-Buches ein ffentlicher Auftritt des neuen Sprachscharf-

    richters den nchsten die grte Deutschstunde der Welt in der Kln-Arena

    im Mrz 2006 hat mit mehr als 15000 Teilnehmern nur einen weiteren Hhepunkt

    gebildet. Wohl auch wegen dieses Rummels und Vortragstourismus sind die

    Glossen in den letzten Monaten immer sprachrmer und dafr bildreicher ge-

    worden. Ein neueres Werk von Sick2 ist eine Sammlung von Sprachschnitzern in

    Wort und Bild, die ihm eifrige Leser zugeschickt haben. Sick ist also zumindest in

    dem Sinne Klassiker, dass er es meisterhaft versteht, sich und seine Anschauun-gen zu verkaufen.

    Nun knnte man meinen, dass der Erfolg Sicks in erster Linie in der Sache

    begrndet ist, ber die er schreibt. Dies aber ist ein Irrtum. Sprachglossen, die sich

    mit den vermeintlichen und echten Fehlern in deutschsprachigen Texten be-

    schftigen gibt es schon sehr lange. Es muss also etwas anderes sein, das an Sicks

    uvre so fasziniert.

    1 Die erste Kolumne, wie Bastian Sick selbst sie nennt, erschien am 22. 5.2003 in der

    Online-Ausgabe des SPIEGEL, vgl. http://www.bastiansick.de/index.php?seiten_id=7

    (14.09.07, 9:54 Uhr).

    2 Bastian Sick:Happy Aua. Ein Bilderbuch aus dem Irrgarten der deutschen Sprache.

    Kln 2007. Das neueste Werk von Bastian Sick (Bastian Sick :Der Dativ ist dem Genitiv

    sein Tod. Folge 4.Kln 2009) fhrt die Tradition der ersten drei Bnde fort. 2010 wird

    dann ein weiteres Bilderbuch in der Art von Happy Aua erscheinen: Bastian Sick: Hier

    ist Spagratiniert. Ein Bilderbuch aus dem Irrgarten der deutschen Sprache. Kln 2010.

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    II. Das Erfolgsrezept

    Was Sick moniert, stimmt zum allergrten Teil mit demberein, was auch von

    anderen publizistischen Sprachkritikern immer wieder angeklagt wurde und

    wird. Wirft man einen Blick auf Gustav Wustmanns Sprachdummheiten oder auch

    auf die Beitrge von Werner Schneider, so fllt auf: Die Sprachsnden haben sich

    in den letzten hundert Jahren nur wenig gendert. Ob es die falsche Verwendung

    von als und wie, der Verlust des Genitivs, der Rckgang des synthetischen

    Konjunktivs, Wortbildungsungetme oder der Einfluss des Englischen ist die

    Themen sind weitgehend dieselben geblieben. Nur an ganz wenigen Stellen greift

    Sick wirklich Neues aus dem Sprachgebrauch auf, das so bislang noch nicht kri-

    tisiert worden ist.

    Auch Glossen mit mehr oder weniger stilistischem Schliff und Raffinesse hat es

    bereits vor Sick wie Sand am Meer gegeben. Andere Glossatoren wie etwa Ru-

    precht Skasa-Wei, der fr die Stuttgarter Zeitung schreibt und dessen Glossen

    ebenfalls in Buchform erschienen sind,3 sind jedoch nicht annhernd so erfolg-

    reich wie Sick. Es kann also nicht allein an der knappen Form der Darstellung, an

    der hppchenweisen Prsentation liegen.

    Blickt man auf die Art der Darstellung, dann erkennt man eben doch deutliche

    Unterschiede zu Sicks Vorgngern. Doch zunchst zu den Gemeinsamkeiten:

    Sick behauptet, nicht den Oberlehrer spielen zu wollen,4 sondern auf Aufkl-

    rung abzuzielen. Faktisch verhlt er sich aber im Ton wie in der Sache so wie

    seine Vorgnger Gustav Wustmann (1844 1910), Ludwig Reiners(18961957) oder Wolf Schneider (geb. 1925): als einer, der wei, wie es im

    Deutschen richtig heien muss und was der einzig richtige Stil ist.

    Wie seine Vorgnger, z.T. sogar noch in strkerem Mae, unterlsst Sick lin-

    guistisch fundierte Erklrungen. Die Dinge werden als so oder so geltend

    dargestellt, ohne einen Grund dafr zu nennen. Entgegen der eigenen Aussage

    sind Sicks Sprachglossen daher keineswegs klarstellend, sondern apodiktisch:

    Aussagen werden als geltend gesetzt, und der Leser muss sie glauben. Verweise

    auf weitergehende Literatur sind bei Sick wie bei den anderen tabu.

    Die sprachkritischen Ausfhrungen sind fast durchweg negativ. Es werdenimmer wieder Sprachsnden aufgetischt, die explizit oder implizit nahe legen,

    dass es frher besser war. Die Sprache der Gegenwart verfalle und nur mutige

    3 Ruprecht Skasa-Wei: Fnf Minuten Deutsch. Modischer Murks in der Sprache.Stuttgart 2006.

    4 Eine lebende Sprache lsst sich nicht auf ein immergltiges, fest zementiertes

    Regelwerk reduzieren. Sie ist in stndigem Wandel und passt sich vernderten Bedin-

    gungen und neuen Einflssen an. Darber hinaus gibt es oft mehr als eine mgliche Form.

    Wer nur die Kriterien richtig oder falsch kennt, stt schnell an seine Grenzen, denn in

    vielen Fllen gilt sowohl das eine als auch das andere (Bastian Sick: Der Dativ ist dem

    Genitiv sein Tod.Kln 2004, S. 12).

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    Sprachkritiker mit einem untrglichen Sprachverstand wie Sick knnen sie

    noch retten.

    In den folgenden Punkten stimmt Sick jedoch nicht mit seinen Vorgngern

    berein:

    Bereits in der Selbststilisierung ist Sick weitaus vorsichtiger als etwa Wust-

    mann, Reiners oder Schneider. Wenn diese nicht den geringsten Zweifel an ihrer

    untrglichen Kompetenz in grammatischen und stilistischen Fragen lassen, dann

    bedient sich Sick des Mittels, verschiedene Figuren auftreten zu lassen.

    Da ist einmal sein Freund Henry, der immer dann zum Einsatz kommt, wenn

    eine besonders besserwisserische Position vertreten werden soll. Es ist nicht Sick

    selbst, der hier spricht, sondern ein anderer. Zwar merkt jeder Leser, dass Sick die

    Meinung Henrys durchaus teilt, aber so direkt steht es nun einmal nicht da:

    Mein Freund Henry und ich sitzen im Restaurant und geben gerade unsere Bestellung

    auf. Also, Sie wollten den Seeteufel, richtig?, fragt der Kellner an Henry gewandt.

    Das ist korrekt, erwidert Henry und fgt hinzu: Und ich will ihn immer noch. Der

    Kellner blickt leicht irritiert. Henry erklrt: Angesichts der Tatsache, dass meine Be-

    stellung gerade mal eine halbe Minute her ist, drfen Sie gerne davon ausgehen, dass ich

    den Seeteufel auch jetzt noch will. Der Kellner scheint zwar nicht ganz zu begreifen,

    nickt aber hflich und entfernt sich.

    Was sollte das denn nun wieder?, frage ich meinen Freund, der es auch nach Jahren

    noch schafft, mich mit immer neuen seltsamen Anwandlungen zu verbl

    ffen. Henrybeugt sich vor und raunt: Ist dir noch nie aufgefallen, dass im Service stndig die Ver-

    gangenheitsform benutzt wird, ohnedass es dafr einen zwingenden Grund gibt? Das

    mag zwar sein, aber ich wsste nicht, was daran verkehrt sein sollte, erwidere ich. Henry

    deutet zur Tr und sagt: Das ging schon los, als wir hereinkamen. Du warst noch an der

    Garderobe, ich sage zum Empfangschef. Guten Abend, ich habe einen Tisch fr zwei

    Personen reserviert!, und er fragt mich: WiewarIhr Name? Ich ahne Furchtbares!

    Du hast doch nicht etwa? Natrlich habe ich!, sagt Henry mit einem breiten

    Grinsen.5

    Wie immer wird darauf verzichtet, den Grnden fr die Verwendung des Pr-teritums oder auch des Konjunktivs II nher nachzugehen. Wrde dies getan,

    dann stellte sich heraus, dass der Kellner so unrecht nicht hatte. Sowohl Prter-

    itum- als auch Konjunktiv-II-Formen dienen hufig der Hflichkeit. Das Prter-

    itum rckt den beschriebenen Sachverhalt aus der Gegenwart heraus und lsst ihn

    distanzierter erscheinen als das Prsens eine Funktion, die eben auch zur

    Markierung der Hflichkeit genutzt werden kann.

    Auchber die Sprachdeppen macht sich Sick nicht in derselben hmischen

    Weise lustig wie seine Vorgnger. Er versteht es, diese sprachlich Minderbemit-

    telten einerseits als vllige Sprachversager dastehen zu lassen, ihnen aber ande-

    5 Bastian Sick:Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Folge 2. Kln 2005, S. 25.

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    rerseits auch noch einen Sympathiebonus mit auf den Weg zu geben. So kann sich

    der Leser in der fr Sprachglossen typischen Weise daran erfreuen, selbst nicht zu

    den Sprachidioten zu gehren, ohne zugleich das schlechte Gewissen haben zu

    mssen, sichber andere erheben zu wollen. Auffllig ist, dass die Sprachidioten

    hufig von Frauen gespielt werden mssen:

    Sibylle ist ein lieber Mensch, und sie redet sehr gern. Eigentlich ununterbrochen. Dabei

    hat sie eine ausgesprochene Vorliebe fr bildhafte Vergleiche und klangvolle Rede-

    wendungen; allerdings trifft sie nicht jedes Mal den Hammer auf den Nagel. Den

    Hammer auf den Nagel? Es heit doch wohl den Nagel auf den Kopf. Sie sehen schon,

    worauf ich hinaus will, Sibylle verwendet Ausdrcke, die in keinem Wrterbuch stehen.

    Man versteht die Redewendung zwar, aber man wird das Gefhl nicht los, dass irgend-

    etwas mit ihr nicht ganz richtig ist. Mit der Redewendung, meine ich, nicht mit Sibylle.

    []Nicht dass Sie denken, ich wollte michber Sibylle lustig machen. Das kme mir nicht in

    den Sinn. Schlielich ist sie eine liebe Freundin, und wenn ich sie nicht htte, wre mein

    Lebenrmer. auf jeden Fall gbe es fr mich weniger zu lachen.6

    Selbstverstndlich macht sich Sick hierber den Typus Sibylle lustig, verspottet

    ihn. Mit dieser figuralen Taktik geht Sick weitaus klger und gewandter um, als

    seine Vorgnger, die in diesem Punkt in der Regel deutlicher und grber waren.

    Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass Sick seine Kritik fast immer in mehr

    oder weniger vergngliche Anekdoten verpackt. Er prsentiert den sprachlichen

    Mangel nicht einfach, sondern strickt darum herum eine Geschichte. Diese Ge-

    schichte ist hufig so gestrickt, dass man sie als Leser auch schon einmal in dieser

    oder einenhnlichen Form erlebt haben kann.

    Figurentypen und Anekdoten fhren den Leser auf die Seite Sicks. Man fhlt

    sich mit ihm einig und kann dann umso ungestrter ber die Sprachtoren her-

    ziehen. Wie bei allen anderen Sprachglossen erzeugt dies ein herrlichesberle-

    genheitsgefhl. Die skizzierten Sprachfehler und ganz besonders der Men-

    schenschlag, der diese Fehler begeht, gehren nicht zu den Zuhrern und Lesern.

    Diese drfen sich beruhigt, spttisch und schadenfroh zurcklehnen und sagen:

    Mein Gott, soweit ist es schon mit unserer schnen Sprache gekommen; was fr

    ein Glck, dass ich nicht dazu gehre. Dies gilt auch dann, wenn die Hrer/Leser

    sich insgeheim zugestehen mssten, dass sie sehr wohl in dem einen oder anderen

    Fall zur Gruppe der Sprachsnder gehren. Entscheidend ist das Einverstndnis

    zwischen dem Autor Sick und seiner Leser-/Hrerschaft. Hier sind wir sprachli-

    chen Gutmenschen und Besserwisser dort sind die Verworfenen, Snder vor

    dem Jngsten Sprachgericht. Dieses einfache Schema ist zwar nicht neu, alle

    6 Ebd., S. 189 f.

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    Sprachglossenschreiben versuchen, dieses Einverstndnis mit dem Leser zu er-

    reichen. Wohl nur selten wurde es aber in dieser Weise tatschlich erreicht.

    III. Captatio benevolentiae

    Eine kluge Taktik, die sicherlich zum Erfolg Sicks beitrgt ist es an verschiedenen

    Stellen darauf hinzuweisen, dass man nicht als Besserwisser oder Sptter auf-

    treten wolle. Dass die Glossen dieses Versprechen keineswegs einlsen, strt

    offenkundig weder Sick selbst noch die von ihm begeisterten Leser. Sie vermissen

    offenkundig die Aufklrung nicht, sondern sind durchaus zufrieden mit den

    apodiktischen Richtig/falsch-Urteilen. Faktisch geriert sich auch Sick als Ober-

    lehrer der Nation, und die eingestreuten Dementis dieser Rolle verstrken sieoffenbar nur.

    Zu diesen drei Erzhlmustern/-strategien drften aber auch noch weitere Fak-

    toren hinzutreten, die erklren, weshalb Sick gerade zwischen 2003 und 2006 so

    erfolgreich war und weshalb die Begeisterung nun allmhlich nachlsst. Mit dem

    nicht enden wollenden Gerangel um die deutsche Rechtschreibung war eine

    starke Verunsicherung der Bevlkerung verbunden; klare Aussagen, die in na-

    hezu jeder Zweifelsfrage ein eindeutiges richtig oder falsch mit auf den Weg

    gaben, wurden von den Lesern daher als hilfreiche Orientierung empfunden.Der Erfolg der publizistischen Sprachkritik in Glossen und Stillehren verdankt

    sich aber auchberhaupt einer Sehnsucht nach Eindeutigkeit bzw. Klarheit. Viele

    Sprecher und Schreiber des Deutschen kommen nur schlecht mit der Tatsache

    zurecht, dass eine natrliche Sprache weder durchgngig logisch noch redun-

    danzfrei ist, d.h. dass es jeweils mehrere Mglichkeiten gibt, denselben Sach-

    verhalt zu versprachlichen; dabei handelt es sich allenfalls um Stilunterschiede,

    die als schn oder hsslich, nicht aber als richtig oder falsch bewertet

    werden knnen.

    Dass jede natrliche Sprache Varianten in der Aussprache, Morphologie undSyntax aufweist, ist kein Mangel, sondern eine historisch bedingte Notwendigkeit

    (daher kommen gleichermaen berechtigte Doppelformen wie Friseur/Frisr

    oder dieses Jahres/diesen Jahres). berdies sind natrliche Sprachen immer

    dem Sprachwandel unterworfen. Gerade im Bereich der Semantik, der von den

    publizistischen Sprachkritikern hier moniert wird, ist die Vernderung frherer

    Bedeutungen von Wrtern und Syntagmen der zu erwartende Normalfall und

    nicht das zu beklagende Beispiel eines Sprachverfalls.

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    IV. Sprachglossen und Stilkritiker ein berblick

    Das Schreiben von Sprachglossen hat eine lange Tradition im deutschen

    Sprachraum sptestens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Der Klassiker

    unter den Sprachkritikern dieser Richtung ist :

    Gustav Wustmann:Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik

    des Zweifelhaften, des Falschen und des Hlichen.14. Auflage, hg. v. WernerSchulze, Berlin 1966 [1. Auflage, Fr. Wilhelm Grunow, Leipzig 1892].

    Neben Wustmann mssen aber noch zahlreich andere Sprach- und Stilkritiker

    erwhnt werden. Hier nur eine ganz kleine Auswahl der in den letzten 100 Jahren

    populrsten:

    Eduard Engel: Deutsche Stilkunst. 31. Auflage, Wien u.a. 1931 [1. Auflage,

    Wien 1911].

    Ludwig Reiners: Stilkunst. Ein Lehrbuch deutscher Prosa.2. Aufl. der neube-

    arb. Ausg., 141.144. Tsd. der Gesamtaufl. Mnchen 2004 [1. Auflage, Mn-

    chen 1944].

    Wolf Schneider: Wrter machen Leute. Magie und Macht der Spra-che. 14. Auflage, Mnchen 2008 [1. Auflage, 1.30. Tsd., Mnchen u.a. 1976].

    Wolf Schneider:Deutsch fr Profis.16.,berarb. Taschenbuchausg., Mnchen2001 [1. Auflage, Hamburg 1982] .

    Wolf Schneider:Deutsch fr Kenner. Die neue Stilkunde.5. Auflage, Mnchen

    2009 [1. Auflage, Hamburg 1987] .

    Liest man die Sprach- und Stilkritiker vergleichend, so fllt auf, dass es immer

    wieder dieselben sprachlichen Missstnde sind, die von den Autoren aufgespiet

    werden. Dies geht so weit, dass die Autoren auch immer wieder voneinander

    abschreiben, Mngelbeschreibungen und -beurteilungen voneinanderberneh-

    men, ohne dies jeweils kenntlich zu machen. Es gibt Dauerbrenner, die von

    Wustmann bis Sick immer wieder in derselben Weise attackiert werden

    1. Stil der Sprachkritiker als unfehlbarer Stilist

    2. Semantik das Ideal der zementierten Bedeutung3. Sprachlogik wider besseres Kontextwissen

    4. Orthographie der Apostroph und kein Ende

    5. Anglizismen das Deutsche stirbt aus

    6. Morphologie Deklinationsdilettantismus

    7. Wortbildung nur was ich verstehen will, ist erlaubt

    8. Lexik Abwahlfehler

    9. Substandard die lieben Dialekte

    10. Syntax die richtige Rektion ist dahin

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    1. Stil

    Auffllig ist, dass Stil immer wieder mit grammatischer Korrektheit verwechselt

    wird. In manchem der beklagten Flle liegt kein sprachsystematischer Fehler vor,

    sondern lediglich eine Stilsnde, die letztlich vom Geschmack des Lesers abhngt.

    Sprachkritiker gehen jedoch oft davon aus, dass es nur eine Mglichkeit der

    korrekten Sprechweise geben knne. Sie wollen nicht akzeptieren, dass es im

    deutschen Sprachraum mehrere Standards der gesprochenen berregionalen

    Sprache gibt. In den Kolumnen von Sick kommt hinzu, dass er es meist an der

    Erklrung fehlen lsst, weshalb die beklagten Konstruktionen falsch oder stilis-

    tisch schlecht sein sollen.

    2. Semantik die zementierte Bedeutung

    Sprachkritikern schwebt das Ideal einer idealen Semantik vor. Sie wrden es

    gerne sehen, dass jedes Wort nur eine und dann auch gnzlich eindeutige Be-

    deutung hat. Dass sich die Bedeutungen von Wrtern jeweils erst in den Kon-

    texten konkretisieren, in denen sie verwendet werden, und Wrter mehrere, z.t.

    entgegen gesetzte Bedeutungen haben knnen, sehen sie mit Sorge. Das Bei-

    spielspaarscheinbar/anscheinendkann dies illustrieren.

    Unter Sprachkritikern besteht Konsens dar

    ber, dass man anscheinend nurdann verwenden darf, wenn damit auf Sachverhalte rekurriert wird, die offenbar

    tatschlich so sind, wie es den Anschein hat:

    Anscheinend hat er den Zug verpasst, er steht immer noch auf dem Bahnsteig.

    Scheinbardrfe hingegen nur dann verwendet werden, wenn der Schein trgt:

    Er ist scheinbar ein Musikliebhaber, tatschlich versteht er aber nichts davon.

    Blickt man nun in die Sprachgeschichte zurck, so stellt man schnell fest, dass

    diese feine Unterscheidung keineswegs immer vorhanden war.Scheinbarkonnte

    durchaus auch in der Bedeutung von dem Anschein nach, offenkundig, ja sogar

    noch in ganz anderen Bedeutungen (wie glnzend, klar, offenbar, sichtbar) ver-wendet werden.7

    Wenn sich Sick also dafr einsetzt, beide Wrter klar zu trennen, dann ist das

    sicherlich nachvollziehbar; seine Vermutung, die hufige Verwendung von

    scheinbaran Stellen, wo es anscheinend heien sollte, hnge damit zusammen,

    7 Vgl. Deutsches Wrterbuch(18541960) von Jacob und Wilhelm Grimm. 1. Auf-lage, Leipzig 1893 [photomechanischer Nachdruck der ersten Auflage, Mnchen 1999],

    Band 14, Sp. 2433.

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    dass wir heute gerne bar-Adjektive verwenden, trifft jedoch kaum zu: Die

    Hartnckigkeit, mit der sich scheinbaram falschen Fleck behauptet, ist mgli-

    cherweise auch mit der gestiegenen Beliebtheit der Endsilbe -barbegrndbar.8

    Beim Nebeneinander von scheinbar und anscheinend handelt es sich mut-

    malich um ein zuallererst sprachhistorisch erklrbares Phnomen. Die strikte

    Trennung beider Wrter, wie sie seit mehr als 100 Jahren gefordert wird, ist nie bei

    den Sprachteilnehmern angekommen. Zum Problem wird dies selten, da der

    Kontext in der Regel fr die erforderliche Vereindeutigung sorgt.

    3. Sprachlogik wider besseres Kontextwissen

    Ein reiches Bettigungsfeld fr die publizistische Sprachkritik ist die Logik.

    Sprache sollte idealiter logisch sein. Diese Vorstellung bercksichtigt aber hufignicht, dass wir die Intentionen der Sprecher aus dem Kontext erschlieen, d.h.

    dass wir hufig indirekt sprechen. Ein Beispiel ist hier die doppelte Negation. Sick

    wie auch bereits Wustmann sieht durchaus, dass die doppelte Negation in

    lteren Sprachstufen und in der Umgangssprache der verstrkten Verneinung

    dienen konnte. Sein Beispiel aus dem Bairischen belegt das: Ds interessiert

    doch ka Sau net!9 Sein nachfolgendes Beispiel aber, in dem er wieder seinalter

    ego Henry, den Sprachpedanten schlechthin, auftreten lsst, zeugt dann doch

    davon, dass pragmatische Aspekte der Sprachbetrachtung nicht bercksichtigt

    werden.

    Bei irgendeiner Gelegenheit frage ich meinen Freund Henry: Du hast nicht zufllig 50

    Cent klein?, und er erwidert: Ja! Erwartungsvoll blicke ich ihn an, aber Henry zuckt

    nur mit den Schultern. Also, was ist denn jetzt, frage ich, hast du nun 50 Cent oder

    nicht? Ich habe keine 50 Cent, erwidert Henry gelassen. Und wieso sagst du dann

    erst Ja?, schnaube ich entrstet. Du hast mich gefragt, ob ich NICHT zufllig 50 Cent

    klein habe. Was der Zufall damit zu tun haben soll, lasse ich mal dahingestellt. Ich konnte

    diese Frage nur mit Ja beantworten, weil das Nicht-Haben zutrifft, da sich in meinen

    Taschen zurzeit keine 50-Cent-Mnze befindet. Htte ich die Frage mit Nein beant-

    wortet, hiee das nach den Gesetzen der Logik, dass das Nicht-Haben unzutreffend ist,

    ich also sehr wohl 50 Cent bei mir habe. Dann htte ich meinen besten Freund belogen!10

    Hier handelt es sich in Wahrheit um einen indirekten Sprechakt, wie wir ihn

    tagtglich verwenden, um das Ansinnen an das Gegenber abzumildern. Daher

    sind Abtnungen wie das verwendete zufllig oder eben auch die verwendete

    Negation gerade nicht zufllig. Eine Bitte wird i.d.R. indirekt geuert, damit

    dem Gebetenen eine Rckzugsmglichkeit offen bleibt und der Bittende zu-

    8 Bastian Sick:Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Folge 1 (Anm. 4), S. 141.

    9 Bastian Sick:Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Folge 3. Kln 2006, S. 58.

    10 Ebd., S. 58 f.

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    mindest von der sprachlichen Oberflche des Satzes her in scheinbar nur anfra-

    gender Form auftritt.

    4. Orthographie die unendliche Geschichte des Apostrophs

    In der Orthographie lassen sich die publizistischen Sprachkritiker selbstver-

    stndlich die Apostrophe nicht entgehen. Sick greift die Apostrophitis gleich in

    zwei Kolumnen auf: Deutschland, deine Apostrophs im ersten Band und im

    zweiten Nur von Montags bis Sonntags. Hier fndig zu werden ist in der Tat nicht

    schwer, da es im ffentlichen Raum nur so wimmelt von falschen Apostroph-

    Setzungen. Dies betrifft nicht nur die Abtrennung des Genitiv-s bei Personen-

    namen, diebrigens imRechtschreib-Duden11

    als eine Mglichkeit akzeptiert ist,sondern eben auch Plurale wie Autos, andere Kasusformen wie bei Muttern,

    Verbformenfutternoder sogar Adverbien wiestets.Bemerkenswert ist hierbei:

    Die Klagenber den falschen Apostroph-Gebrauch sind so alt wie die publi-

    zistische Sprachkritik selbst, und der Duden erwhnt den Genitiv-Apostroph,

    weil er sich nicht als prskriptive, sondern als deskriptive Grammatik versteht.

    Sick erwartet hier wohl, wie die meisten Sprachbenutzer auch, mehr prskriptives

    Engagement, geht aber weder auf die Funktion des Apostrophs ein (Verdeutli-

    chung des Namens in der Grundform) noch darauf, dass es sich hier offenkundig

    um einen Fall handelt, der sich einem einfachen so und nicht anders entzieht.

    5. Anglizismen das Deutsche stirbt aus

    Ob es um den Bereich der einfachen Wortbernahme (z. B. Service-Point, City-

    Call o..) oder um den Bereich der Syntax geht: Anglizismen bieten einen nahezu

    unerschpflichen Vorrat an Sprachsnden. Wichtig ist dabei, dass es der Angli-

    zismenkritik nicht allein darum geht, deutsche Wrter anstelle nichtintegrierter

    englischer zu verwenden. Hier zeigt sich erneut der Traum von der richtigen, ein

    fr alle Mal fixierten Bedeutung eines Wortes oder der richtigen, unvernder-

    lichen Bildungsweise von Syntagmen und Stzen. Um das am Beispiel von das

    macht Sinn zu zeigen:

    In der Kolumne Stop making sense!12 uert sich Sick nicht nur zur bernahme

    der syntaktischen Struktur aus dem Englischen, sondern auch dazu, inwieweit

    diese bertragung im Deutschen nicht geradezu sinnwidrig ist. Auch hier wird

    wieder die Vorstellung von der einzigen, unverrckbaren Bedeutung eines Wor-

    tes bemht. Dazu Sick:

    11 Duden, 24., vllig neu bearb. und erw. Auflage, Mannheim u.a. 2006, S. 36.

    12 Bastian Sick:Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Folge 1 (Anm. 4), S. 47 50.

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    Markus Hundt

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    Sinn und machen passen einfach nicht zusammen. Das Verb machen hat die Be-

    deutung von fertigen, herstellen, tun, bewirken; es geht zurck auf die indogermanische

    Wurzel mag-, die fr kneten steht. Das Erste, was mag wurde, war demnach Teig.

    Etwas Abstraktes wie Sinn lsst sich jedoch nicht kneten oder formen. Er ist entweder da

    oder nicht. Man kann den Sinn suchen, finden, erkennen, verstehen, aber er lsst sichnicht im Hauruck-Verfahren erschaffen.13

    Diese Argumentation mchte ich in drei Schritten diskutieren:

    a) Ist das macht Sinn tatschlich und ausschlielich eine bernahme aus dem

    Englischen?

    Diese Frage ist weniger leicht zu beantworten, als es zunchst scheint. Man kann

    sicher konzedieren, dass die Verwendung von Sinn mit machen seit Mitte der

    90er Jahre zugenommen hat, was sich durch Recherchen in maschinenlesbarenTextkorpora leicht belegen lsst.14 Es spricht also einiges dafr, dass hier das

    englischsprachige Vorbild to make sense fr die Anwendung und Verbreitung

    der Phrase eine Rolle spielte. Aber: Es gab diese Bildungsweise auch schon lange

    vorher, und zwar so lange vorher, dass sich nicht sagen lsst, dieses Bildungs-

    muster wre aus dem Englischen bernommen worden. Bereits ein Blick in das

    Grimmsche Wrterbuch htte hier Sick zeigen knnen, dass bereits Goethe oder

    Lessing im 18. Jahrhundert so schrieben:

    sie (die psalmen) sind theils als solo, duett, chor (in musik) gesetzt und unglaublichoriginal, ob man gleich sich ersteinen sinn dazu machen musz.GTHE29, 29215

    warum soll hier lamp1on der name eines musikers seyn? weil er es seyn kann? weil auch

    alsdenn noch die worte einen sinn behalten? ist das grundes genug? htte Muretus nicht

    vorher zeigen mssen, dass kaqa1izein lamp1on kaikalw&keinen sinn, oder wenigstens

    keinen guten sinn machen? LESSING6, 302

    Selbst wenn man fr den Goethe-Beleg annimmt, dass hier eine andere Bedeu-

    tung der Wendung vorliegt als heute, so gilt doch, dass auch hier die Koppelung

    des Verbsmachenmit Sinngegeben ist. Ein Verbot, beide zu koppeln, ist somit

    nicht zu erkennen. Der Lessing-Beleg ist zudem eindeutig in der heutigen Lesart

    zu deuten.

    Bercksichtigt man ferner, dass das Englische erst seit etwa der zweiten Hlfte

    des 19. Jahrhunderts als Gebersprache fr das Deutsche voll in Erscheinung tritt,

    so muss man davon ausgehen, dass diese syntaktische Konstruktion durchaus

    13 Ebd., S. 49.

    14 Vgl. z. B. die Textkorpora des Instituts fr Deutsche Sprache in Mannheim (http://

    www.ids-mannheim.de/service/) oder das Kernkorpus des Digitalen Wrterbuchs der

    deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts (DWDS).

    15 Deutsches Wrterbuch(18541960) von Jacob und Wilhelm Grimm. 1. Auflage,Band 10.1. Leipzig 1905, Sp. 1048 (Hervorhebung vom Verfasser, M.H.).

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    auch indigen sein kann. Das heit, dass die Sprachteilnehmer auch bereits in

    frheren Zeiten auf die Konstruktion zurckgriffen und es also keineswegs des

    Englischen bedurfte, um das polyfunktionale Verb machen mit dem Substantiv

    Sinn zu verknpfen.

    b) Die Urbedeutung vonmachen

    Auch wenn machen einst einen so konkreten Vorgang wie kneten bezeichnet

    hat, heit dies nicht, dass das Verb und gerade dieses polyfunktionale Verb in

    seiner Bedeutungsentwicklung stehen geblieben wre. Wie viele andere Verben

    auch hat machen vielmehr zustzliche Bedeutungen erworben. Von dieser Seite

    aus betrachtet, kann man sagen, dass es einerseits ein Oberbegriff fr viele Verben

    des Herstellens ist:herstellen, fertigen, anfertigen, produzieren, (zu)bereiten, ar-

    beitenetc. Andererseits hat machen aber auch abstraktere Lesarten wie etw.

    verursachen, bewirken, hervorrufen (sich mit etw. Freude machen, sich Feinde

    machen) oder etw. durchfhren (z.B. einen Spaziergang machen). In diesen ab-strakteren Lesarten kme wohl kaum ein Sprecher des Deutschen auf die Idee,

    davon auszugehen, dass wir am Ende eines Spaziergangs, den wir gemacht haben,

    diesen fertig auf dem Tisch liegen haben. Der Denkfehler, der hier vorliegt, ist der

    Glaube, dass Wrter eine ursprngliche, richtige und letztlich unwandelbare

    Bedeutung haben mssen. Von einer (rekonstruierten) Urbedeutung eines

    Wortes lassen sich aber keine Kriterien fr die Zulssigkeit oder Unzulssigkeit

    seiner Verwendung in gegenwrtigen Texten ableiten.

    c) Verbot der Koppelung eines Abstraktums mit machen

    Auch in dem Punkt, dass man machen nur mit Konkreta koppeln drfe, irrt Sick.

    Ein Blick auf zahlreiche andere Wendungen mitmachen, belegt dies. Wenn wir

    uns Gedanken machen, wenn wir uns ber etwas Sorgen machen, wenn wir je-

    mandemrger machen, der unsAngst macht, wenn etwas uns Freude macht, dannist dies keineswegs semantisch abweichend. Dies liegt daran, dass wir uns ab-

    strakte Sachverhalte gar nicht anders vorstellen knnen als in einer konkretisie-

    renden Weise. Dies fhrt dazu, dass wir von Sorgen, Gedanken, rger, Freude,

    Angst in verdinglichender Weise sprechen bzw. Abstraktes in einem metaphori-schen Prozess vergegenstndlichen.

    6. Morphologie Deklinationsdilettantismus

    In der Flexion wird ein bereits erwhnter Mangel der publizistischen Sprachkritik

    la Sick besonders deutlich: Kritik ohne Begrndung, weshalb das Kritisierte zu

    meiden ist. Als Beispiel soll hier die Varianz zwischendieses Jahres unddiesenJahresdienen:

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    Wir haben zum 1. Januar diesen Jahres die Steuern gesenkt, verkndet die Regierung

    stolz. Das ist natrlich erfreulich, auch wenn es leider nicht richtig ist; denn diese Aussage

    enthlt einen Fehler. Der ist allerdings so weit verbreitet, dass er kaum noch auffllt.

    Gerechnet wird mit dem schlimmsten Fall, nur nicht mit dem zweiten.16

    Sick hat, wenn man auf die Beschreibungen im Grammatik-Duden und im Duden

    Richtiges und gutes Deutschblickt, recht. Dort wird behauptet, die Flexion mit -n

    (schwach) sei nicht standardsprachlich; es gelte in der Standardsprache nur die -s-

    Flexion (stark) beidieses.17

    Nun knnte man diesen Sachverhalt so stehen lassen. Man knnte sich aber

    auch darauf besinnen, dass der Duden zwar als Normenkodifizierer rezipiert, von

    Haus aus aber deskriptiv ist, d.h. lediglich beschreibt, was Sprachusus ist. Ob aber

    die starke Flexion noch Sprachusus ist, darf bezweifelt werden. Wenn man al-

    lerdings wissen mchte, warum so viele Menschen die scheinbar falsche Formnutzen, hilft einem Sick leider auch nicht weiter. Er fhrt dies auf einen Analo-

    gieschluss zurck, was nur die halbe Wahrheit ist:

    Das Verflixte dieses Jahres liegt an seiner hnlichkeit mit anderen Wendungen, die

    ihrerseits vllig korrekt sind: im Herbst letzten Jahres, im Mai vergangenen Jahres, im

    SommernchstenJahres stets endet das Attribut auf -n; und auch die Wurzel allenbels mag als Vorbild gedient haben, denn: im Fall des zweiten Fallesheit allesnicht

    mehralles: so trat diesen durch Analogiebildung vor das Wort Jahres und vertrieb

    dieses von seinem angestammten Platz.

    18

    Tatschlich verhlt es sich etwas anders. Peter Eisenberg, ein ausgewiesener

    Grammatikexperte, hat in der Sddeutschen Zeitung (11./12.11.2006) daraufhingewiesen, dass es sich hier um einen generellen Prozess handelt: Im Ge-

    genwartsdeutschen wird die Markierung des Kasus am Substantiv mehr und mehr

    abgebaut.19 Damit ist eine Tendenz gemeint, die sptestens seit dem Frhneu-

    hochdeutschen, also seit dem 14. Jahrhundert, greift und Monoflexion genannt

    wird. Gemeint ist damit, dass in einer komplexen Nominalphrase tendenziell nur

    noch an einer Stelle die Flexionsinformationen geliefert werden. Deshalb sagen

    wir heute nicht mehr Er sprach immer gerne dem gutem Wein zu, sondern Er

    sprach immer gern dem guten Wein zu.

    16 Bastian Sick:Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Folge 1 (Anm. 4), S. 90.

    17 Duden, 5. Auflage, Mannheim u. a. 2005, S. 230; Duden: Die Grammatik, 7., vllig

    neu erarb. und erw. Auflage, Mannheim u.a. 2005, S. 269: Dieser Gebrauch [n-Form

    M.H.] ist allerdings standardsprachlich nicht anerkannt [].

    18 Bastian Sick:Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Folge 1 (Anm. 4), S. 92 f.

    19 Peter Eisenberg: Gesotten und gesiedet. Das kuriose Deutsch der Sprachentrainer,

    in: Sddeutsche Zeitung 11./12.11.2006.

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    7. Wortbildung nur was ich verstehen will, ist erlaubt

    In der KolumneSchrittweise Zunahme der Adjektivierung20 geht Sick gegen die

    seiner Meinung nach illegale Verwendung des Wrtchens schrittweise in attri-

    butiver Stellung vor:

    Da sitzt man nichts Bses ahnend beim Frhstck, schlrft seinen Kaffee, blttert noch

    ein wenig schlfrig in der Zeitung, und dann auf einmal das: EZB-Prsident Wim

    Duisenberg sagte auf der Pressekonferenz vorsichtig, dass eine schrittweise Zunahme

    des Wachstums in Richtung Potenzialwachstum das Hauptszenario der EZB darstellt.

    Eine schrittweise Zunahme? Klingelt da nicht was? Aber hallo! In der Zentrale der

    deutschen Sprachpolizei schrillen in diesem Moment smtliche Alarmglocken. Wrter,

    die auf -weise enden, gehren zur Familie der modalen Adverbien, auch Umstandswrter

    der Art und Weise genannt. Die Daseinsberechtigung von Adverbien besteht darin,Verben zu beschreiben, und nicht Nomen. Dafr gibt es die so genannten Adjektive, eine

    mit den Adverbien zwar unbestreitbar verwandte, aber dennoch andere Wortart. Ad-

    jektive haben den Adverbien vor allem eines voraus : Sie knnen als Attribute gebraucht

    werden, das heit unmittelbar vor einem Hauptwort platziert werden. Der Roman ist

    mehrteilig also ist er ein mehrteiliger Roman, und mehrteilig ist das Attribut. Die

    Zunahme erfolgt schrittweise, also handelt es sich um eine allmhliche, langsame, stetige

    Zunahme, aber nicht um eine schrittweise Zunahme.21

    Wortarten sind jedoch keine streng voneinander geschiedenen Klassen. Sie sind

    vielmehr prototypisch strukturiert, d.h. es gibt jeweils bessere und schlechtere

    Vertreter einer jeweiligen Wortart. So ist z.B. das steigerbare Adjektiv schn

    sicherlich ein prototypisches Adjektiv und kann attributiv verwendet werden

    (das schne Haus), adverbial (Die Sngerin singt schn) sowie prdikativ (Die

    Sngerin ist schn). Nun gibt es auch aus Adverbien abgeleitete Adjektive. Eine

    Ableitungssilbe (Derivationssuffix), die das leistet, ist z. B. -ig:

    Ecke/Blume eckig/ blumig(Substantiv ! Adjektiv)

    dort dortig(Adverb ! Adjektiv)

    gestern gestrig(Adverb ! Adjektiv)

    Nun sind aber nicht alle Adjektive, die sich aus solchen Wortbildungsprozessen

    ergeben, gleich gute Adjektive. Whrend eckig attributiv, adverbial und prdi-

    kativ verwendet werden kann und zudem auch komparierbar ist, gilt dies fr

    dortig und gestrig nicht:

    Wie sieht das nun bei schrittweise aus? Schauen wir zunchst auf verschie-

    dene Ableitungen auf-weise.Die Dudengrammatik hlt alle-weise-Ableitungen

    20 Bastian Sick:Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Folge 1 (Anm. 4), S. 110113.

    21 Ebd., S. 110.

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    fr Adverbien22. Begrndet wird dies damit, dass -weise ein hochproduktives

    Suffix zur Adverbbildung ist. Fr viele Flle stimmt dies auch: angenehmer-

    weise, rgerlicherweise, bedauerlicherweiseusw.23

    Diese Adverbien knnen offenkundig (noch) nicht attributiv verwendet wer-

    den und auch nicht flektiert.

    Gleichzeitig konzediert derDudenaber auch, dass es eine Reihe von Wrtern

    gibt, die auf -weise enden und doch flektierbar sind (flektierte Adverbien).

    Umgekehrt knnte man diese Gruppen von weise-Ableitungen genauso gut zu

    den Adjektiven rechnen, da sie bereits zwei der zentralen Merkmale von Ad-

    jektiven aufweisen, nmlich ihre Flektierbarkeit und ihre attributive Verwen-

    dungsweise (was natrlich beides miteinander zusammenhngt).

    Wie immer man diesen Fall entscheiden mchte. Es bleibt dabei, dass es zwi-

    schen den Wortarten bergnge gibt. Ob man Wrter wie zeitweise, schritt-

    weise und probeweise als flektierte Adverbien bezeichnet oder als (untypische)

    Adjektive in beide Kategorien passen sie nicht 100%ig.

    8. Lexik Abwahlfehler

    Die Kategorie der Lexik-Rgen knnte man ebenso gut unter die Stil-Rgen

    einordnen, geht es hier doch in der Regel um Fragen des Stils. Die Lexik soll aber

    gesondert erwhnt werden, da an ihr besonders deutlich wird, dass publizistische

    Sprachkritiker wie Sick letztlich immer nur eine Variett der deutschen Sprachefr akzeptabel halten: diejenige Ausprgung einer idealisierten Hochsprache, die

    sie selbst zu sprechen und zu schreiben glauben.

    Um diese Haltung einnehmen zu knnen, muss man zumindest folgendes tun:

    faktisches Ausblenden aller anderen Varietten der deutschen Sprache,

    Ausblenden von Mehrfachbedeutungen,

    Absolutsetzen der eigenen Auffassung von Hochsprache.

    Nehmen wir das Beispiel schmeien.24 In der Kolumne Sind schmeien und

    kriegen tabu? greift Sick auf das Sprachempfinden seines Urgrovaters (dasdurchaus auch sein eigenes geworden ist) zurck.

    Eines Tages nach der Schule konfrontiert Julian seinen Vater mit der Feststellung, dass

    man werfen und nicht schmeien sagt und bekommen statt kriegen. Ob solch

    verblffenderuerung will sich der Vater glatt auf den Boden schmeien und kann sich

    gar nicht mehr einkriegen. Er besinnt sich aber eines Besseren,wirftsich auf den Boden

    und bekommtsich nicht mehr ein. Spter wendet sich Julians Vater an mich mit der Frage,

    ob kriegen und schmeien tatschlich Bh-Wrter sind. Da muss ich spontan an

    22 Duden: Die Grammatik,7. Aufl. (Anm. 18), S. 772.

    23 Beispiele aus ebd., S. 772.

    24 Bastian Sick:Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Folge 1 (Anm. 4), S. 190192.

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    meinen Urgrovater denken, Konsul Albert Schrdter aus Kiel, einen sehr gebildeten

    und weltgewandten Mann, der stets grten Wert auf gepflegte Umgangsformen und

    sprachlichen Ausdruck legte. In seinem Hause war das Wort schmeien tabu, und wer es

    trotzdem benutzte, konnte eines missbiligenden Blickes und einer anschlieenden Be-

    lehrung gewiss sein.25

    Was frher war, war ohnehin besser und daher ist das Sprachempfinden des Ur-

    grovaters fr Sick heute noch vorbildlich. Im nchsten Schritt wird dann die

    typische Suche nach der Urbedeutung des Wortes betrieben, die fr Sick Rele-

    vanz fr die Frage hat, ob man es in der Gegenwart verwenden solle oder nicht.

    Schmeien

    bedeutete ursprnglich beschmieren, beschmutzen, was spter ber das im Hausbau

    gebruchliche Anwerfen von Lehm zu einem allgemeinen werfen, schleudern er-weitert wurde. Schlielich erlangte schmeien in Anlehnung an den geschleuderten

    Peitschenhieb auch die Bedeutung von schlagen. Davon zeugen heute noch die

    Wrter Schmiss (Narben von Gesichtswunden, die Verbindungsstudenten sich beim

    Fechten beibrachten) und schmissig. Daneben entwickelte sich schmeien auch als

    schwaches Verb (schmeien, schmeite, geschmeit) in der Bedeutung Kot auswerfen.

    Der Wortstamm findet sich heute noch in den Begriffen Schmeifliege und Geschmei.

    [] Seine Nhe zur Sudelei verwehrte schmeien den Aufstieg von der Umgangs-

    sprache in die gehobene Sprache.26

    Dass werfen die einfache, unmarkierte Grundbedeutung von schmeien ist,interessiert Sick berhaupt nicht. Ihm geht es nur darum, die Bedeutungsge-

    schichte in mglichst negativ klingenden Stationen zu rekapitulieren:beschmut-

    zen schlagen(Peitschenhieb) Schmiss Kot auswerfen Schmeifliege Ge-schmei. Es versteht sich beinahe von selbst, dass sich die Bedeutungsentwicklungvon schmeien in einem ernstzunehmenden Wrterbuch (z.B. im Deutschen

    Wrterbuch der Gebr. Grimm oder im Duden in 10 Bnden27) deutlich anders

    liest. Aber dies wrde ja voraussetzen, dass man sich von der Schwarz/wei-

    Malerei verabschiedet. Unbekmmert blendet Sick das brige Bedeutungs-

    spektrum aus,ber das er sich leicht imDudenoder im Grimmschen Wrterbuchhtte informieren knnen, und munter wird Umgangssprache mit Vulgrsprache

    gleichgesetzt.

    25 Bastian Sick:Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Folge 1 (Anm. 4), S. 190 f.

    26 Ebd., S. 191.

    27 Deutsches Wrterbuchvon Jacob und Wilhelm Grimm. 1. Auflage, Leipzig, 1899[photomechanischer Nachdruck der ersten Auflage, Mnchen 1999], Band 15,

    Sp. 9991010. Duden. Das groe Wrterbuch der deutschen Sprache in 10 Bnden.3.,vllig neu bearb. und erw. Auflage. Hg. vom Wissenschaftlichen Rat der Dudenredak-

    tion. Mannheim u.a. 1999. Band 8, S. 3394 f.

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    9. Substandard die lieben Dialekte

    Da die Zielgre fr die Betrachtungen Sicks immer das ist, was er unter Hoch-

    sprache oder unter gepflegtem Deutsch versteht, nimmt es nicht Wunder, dass

    andere Varietten des Deutschen nicht unbedingt gut wegkommen. Zwar ver-

    weist er an verschiedenen Stellen darauf, dass die Dialekte fr sprachliche Vielfalt

    stehen und nicht wegzudenken sind etc.28; faktisch sind sie fr ihn aber Abwei-

    chungen vom Standard, die es in der Sprachpraxis auf jeden Fall zu vermeiden

    gilt:

    Die groe Verunsicherung darber, was richtiges und gutes Deutsch ist, hat viele ver-

    schiedene Ursachen. Eine lautet, dass wir, egal ob Nord- oder Sddeutsche, Rheinlnder

    oder Sachsen,sterreicher oder Schweizer, allesamt Dialektsprecher sind. Die meisten

    Dialekte greifen nicht nur in die Aussprache ein, sondern auch in die Grammatik, undjede Mundart hat ihr eigenes Vokabular.29

    Mundartliche Sonderformen bieten bekanntlich immer wieder Stoff fr Witze und Par-

    odien.30

    Eines bleibt noch klarzustellen: Wenn man im Sden Deutschlands sagt: am Berg hats

    Schnee, dann ist das nicht falsches Deutsch, sondern ein himmlischer Hinweis, der das

    Herz eines jeden Skifahrers hher schlagen lsst. Nichts liegt mir ferner, als Dialekte zu

    verdammen. Ich will nur Licht in das Dunkel bringen, durch das wir gelegentlich tasten,

    wenn wir auf der Suche nach einem gemeinsamen sprachlichen Standard sind.31

    Das Fllwrtchen halt ist weder falsches Deutsch, noch ist es schlechtes Deutsch. Es ist

    mundartlich.32

    Gerade im letzten Zitat ist man versucht zwischen den Zeilen zu lesen : Dialekte

    sind nicht falsches oder schlechtes Deutsch, sondern eben gar kein Deutsch.

    Wiederum wartet der Leser vergeblich darauf zu erfahren, was denn das Fll-

    wrtchen (d.h. die Modalpartikel) halt bedeutet, wann und warum sie einge-

    setzt wird. Auer dem mageren Hinweis, dass es in Sddeutschland haltheie und

    in Norddeutschlandeben, kommt jedoch nur ein weiteres Geschichtchen:

    28 Vgl. z. B. Bastian Sick: Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Folge 2. (Anm. 5), S. 209:

    Da wir Deutschen nun mal ein Volk von Dialektsprechern sind, muss man akzeptieren,

    dass es von ein und demselben Wort mehrere Aussprachemglichkeiten gibt. Dies ist im

    brigen auch keinesfalls ein Nachteil, sondern der beste Beweis fr die Lebendigkeit und

    Wandlungsfhigkeit unserer Sprache.

    29 Bastian Sick:Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Folge 1 (Anm. 4), S. 11.

    30 Bastian Sick:Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Folge 2 (Anm. 5), S. 209.

    31 Bastian Sick:Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Folge 3 (Anm. 9), S. 103.

    32 Bastian Sick:Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Folge 2 (Anm. 5), S. 112.

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    Ohne halt htten die Gebrauchsdichter in unserem Lande ein wichtiges Reimwrtchen

    weniger: So ists in diesem Sommer halt: Mal wird es khl, mal bleibt es kalt.33

    Zur Erklrung von Modalpartikeln msste man eben etwas tiefer in die Gram-

    matik und Pragmatik der deutschen Sprache hinabsteigen. Beide werden dannverwendet, wenn wir auf etwas Bezug nehmen, das dem Hrer bereits bekannt ist.

    Wir markieren damit: Ich, der Sprecher wei, dass der Hrer das, was ich jetzt

    sage, bereits wei. Ich rufe uns aber den mit halt/eben markierten Sachverhalt

    nochmals in Erinnerung, z. B. um eine andere Aussage zu begrnden.

    10. Syntax die richtige Rektion ist dahino tempora o mores

    Der Titel von Sicks Bchern verdankt sich einem Dauerbrenner der publizisti-

    schen Sprachkritik: dem Rckgang des Genitivs bei Prpositionen (z.B.

    wegen)34 und als Objektkasus bei Verben.35 Hier liegen die Verhltnisse in der

    Tat recht einfach. Standardsprachlich ist die Dativform nach wie vor nicht

    normgerecht, sofern man denDudenals normbeschreibende Instanz fr die ge-

    schriebene Sprache akzeptieren mchte.

    In anderen Bereichen der Morphosyntax liegt Sick aber wieder krftig dane-

    ben. Als Beispiel mge hier das von ihm strikt abgelehnte doppelte Perfekt, in

    seiner Diktion das Ultra-Perfekt dienen. Wie immer, wenn es um sprachlicheDummies geht, mssen Frauen herhalten. Sick versteigt sich sogar zu der nicht

    belegten Aussage, das doppelte Perfekt sei lange Zeit als Hausfrauen-Perfekt

    belchelt worden.36 Es handelt sich dabei um folgende Formen:

    a) Doppeltes Perfekt:

    Mit dem Partizipgehabt

    Es sei ein Wunder, sagte sie, da der Herrenreiter das Fest noch erlebt habe. Lngst habe

    er sich als zher Kavalier erwiesen gehabt, allein womit er zuletzt noch geatmet, seinkeinem begreiflich gewesen. (Thomas Mann)37

    Wurz auf seinem Schemel dachte: Dieser Aldinger hat sowieso ausgespielt gehabt.

    (Anna Seghers)38

    33 Ebd., S. 112.

    34 Bastian Sick:Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Folge 1 (Anm. 4), S. 15 18.

    35 Bastian Sick:Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Folge 2 (Anm. 5), S. 19 22.

    36 Bastian Sick:Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Folge 1 (Anm. 4), S. 180.

    37 Thomas Mann, Zauberberg, Beleg aus Viktor P.Litvinov/Vladimir Radcenko:

    Doppelte Perfektbildungen in der deutschen Literatursprache. Tbingen 1998, S. 214.

    38 Anna Seghers: Das siebte Kreuz, Beleg aus ebd., S. 206.

    Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 2/2010, Jg. 57, ISSN 0418-9426 2010 V&R unipress GmbH, Gttingen190

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    18/23

    Mit dem Partizipgewesen

    Der Vormund ist selbst bei mir eingekehrt gewesen; da, wo ihr jetzt sitzt, hat er gesessen und

    seinen Schnaps getrunken. (Theodor Storm)39

    b) Doppeltes Plusquamperfekt

    Mit dem Partizipgehabt

    Seine Mutter hatte inzwischen gebaut gehabt, hatte Schulden gemacht, aber beherrschte

    Schulden (Martin Walser)40

    Mit dem Partizipgewesen

    Fast bis zum Podest, wo die Treppe sich wandte, war sie schon gelangt gewesen, da hatte

    sich auf eben diesem Podest, am Rande desselben, dicht an den Stufen, ihre in Amerika

    verheiratet Schwester Sophie stehen sehen. (Thomas Mann)41

    Sptestens seit der Studie von Litvinov/Radcenko ist in der sprachwissenschaft-

    lichen Forschung jedoch unstrittig, dass das doppelte Perfekt und das doppelte

    Plusquamperfekt keine junge Erscheinung in der deutschen Sprache sind (die

    bislang bekannten Belege reichen bis ins 18. Jahrhundert zurck). Diese Formen

    sind auch keineswegs der sprachlichen Unbedarftheit der Benutzer zuzuschrei-ben, sondern erfllen jeweils eine sinnvolle Funktion (etwa das Markieren der

    Abgeschlossenheit einer Handlung). Da diese Formen hochgradig regulr ge-

    bildet sind, darf das Tempusparadigma mit Fug und Recht um diese beiden For-

    men erweitern werden.

    Ganz und gar falsch ist daher Sicks Behauptung, es sei dem Ultra-Perfekt dank

    des Internets gelungen, die Schwelle vom gesprochenen Deutsch zum geschrie-

    benen Deutsch zuberschreiten:

    Wie kommt es zu solchen falschen Zeitbildungen? Die Antwort liegt in der Natur der

    Umgangssprache. Tatsache ist, dass immer nur ein Teil dessen, was wir sagen, beim

    Adressaten ankommt. Nebengerusche, undeutliche Artikulation und mangelnde Auf-

    merksamkeit sind nur einige der vielen Ursachen, die dazu fhren, dass ein gewisser Teil

    der Informationen auf dem Weg vom Sender zum Empfnger verloren geht. Das wissen

    wir, und daher neigen wir im Alltag zur Verdoppelung;42

    39 Theodor Storm, Beleg aus ebd., S. 210.

    40 Martin Walser, Beleg aus ebd., S. 207.

    41 Thomas Mann, Zauberberg, Beleg aus ebd., S. 215.

    42 Bastian Sick:Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Folge 1 (Anm. 4), S. 180 f.

    Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 2/2010, Jg. 57, ISSN 0418-9426 2010 V&R unipress GmbH, Gttingen 191

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    Es sind weder die blichen Verdchtigen das Internet und die nebulse Um-

    gangssprache noch liegt die Herkunft der doppelten Perfektformen im Bereich

    der Mndlichkeit. Hier irrt Sick grndlich. Allerdings ist er am Schluss seiner

    Ausfhrungen wieder auf der richtigen Fhrte, wenn er diesen Formen attestiert,

    dass sie den Vergangenheitscharakter verstrken und die Abgeschlossenheit der

    Handlung hervorheben.43 Nur ist dieses Ergebnis eben eher zufllig richtigdie

    entsprechenden Erklrungen sind falsch.

    V. Der Blick des Sprachwissenschaftlers

    Dass die Kolumnen von Bastian Sick nicht immer mit ungeteilter Freude zu lesen

    sind, drfte deutlich geworden sein. Im Folgenden sollen nun je fnf Grnde

    genannt werden, warum es sich lohnt ihn zu lesen und warum man diese Art

    publizistischer Sprachkritik aus wissenschaftlicher Perspektive nicht allzu ernst

    zu nehmen braucht.

    1. Frderung des Sprachbewusstseins

    Auch wenn die Ausfhrungen von Bastian Sick in vielen Details fragwrdig sind,

    gilt doch: Seine Glossen tragen in jedem Fall dazu bei, mit der deutschen Sprache

    bewusster umzugehen, vorgestanzte Formulierungen zu hinterfragen und bei

    eingngig erscheinenden syntaktischen Konstruktionen dennoch nach ihren Re-

    gularitten zu fragen. Insofern haben Sicks Kolumnen sicher die Wirkung, sich

    mit Gedrucktem und Geschriebenem intensiver auf einer metasprachlichen

    Ebene auseinanderzusetzen.

    2. Anregung zur Beschftigung mit der Struktur und der Geschichte des Deut-

    schen

    Gerade die Tatsache, dass Sick nur in ganz wenigen Fllen dazu ausholt, die

    vermeintlichen und echten Sprachfehler zu erklren, trgt dazu bei, dass seine

    Leser sich intensiver mit den nicht aufgeklrten Hintergrnden beschftigen. Die

    Kolumnen knnen so als Anregungen verstanden werden, genauer nachzulesenund so evtl. zu sprachwissenschaftlich haltbareren Erklrungen zu kommen.

    3. Unterhaltsamer Zugang zu einem sonst oft als trocken und drge empfundenen

    Stoff

    Im Gegensatz zu vielen Fachverffentlichungen zur deutschen Grammatik und

    Stilistik sind die Kolumnen Sicks sehr unterhaltsam geschrieben. Sie bieten damit

    einen ersten Zugang zu einem Thema, das sonst von vielen Muttersprachlern als

    drge und uninteressant empfunden wird. Neudeutsch gesagt: Sicks Kolumnen

    sind ein niederschwelliges Angebot zur Beschftigung mit der deutschen Sprache.

    43 Bastian Sick:Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Folge 1 (Anm. 4), S. 181.

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    4. Anstozu einem selbstkritischeren Umgang mit dem eigenen Sprechen und

    Schreiben

    Der Leser von Sicks Kolumnen darf sich zwar in der Regel auf der sicheren Seite

    fhlen, da er selbst ja nicht zur Gruppe der Sprachsnder gehrt. Aber: An der

    einen oder anderen Stelle wird sich so mancher Leser fragen, ob das, was da

    gerade kritisiert wird, nicht auch auf ihn zutrifft. Es stimmt zwar, dass vieles von

    dem, was Sick anprangert, gar nicht fehlerhaft ist. Dennoch leiten die Kolumnen

    wenn auch z.t. inberzogener Form zu einem selbstkritischeren Umgang mit der

    eigenen Sprache an.

    5. Auseinandersetzung mit Sprachmoden, die sonst gar nicht auffallen wrden

    Wie alle Sprachglossenschreiben pickt sich auch Sick gerne Sprachmoden heraus,

    die ihm falsch oder stilistisch schlecht erscheinen. Man mag hier mit vielem nicht

    einverstanden sein. Aber: Grundstzlich ist die kritische Reflexion des Neuen in

    einer Sprache nicht von vornherein verdammenswert. Man muss hier sicherlich

    nicht so weit gehen wie Sick, aber wenn als Ergebnis der Sprachglossenlektre

    eine kritisch-reflektierte Distanz zu Sprachmoden zu verzeichnen wre, wrde

    dies zu begren sein.

    Neben diesen kurzgefassten Grnden, die fr das Lesen der Sprachglossen ste-

    hen, mssen aber auch einige Grnde genannt werden, die abraten lassen:

    1. Unwissenschaftlich, oft falsch, nicht fundiertDie im vorigen Abschnitt genannten Beispiele machen zur Genge deutlich, dass

    es Sick an vielen Stellen sowohl am Fachwissen als auch am methodischen Vor-

    gehen mangelt, das ntig ist, um eine wissenschaftlich haltbare Sprachkritik zu

    betreiben. Es sind einfach zu viele Ungenauigkeiten und Fehler zu verzeichnen,

    als dass man seine Glossen uneingeschrnkt empfehlen knnte.

    2. Ohne Verweis auf weitergehende Literatur, Verzicht auf profunde Erklrungen

    Noch schwerer wiegt der Tatbestand, dass es Sick konsequent vermeidet, den

    Leser auf weiterfhrende Literatur zu verweisen oder ihm fundierte und korrekteErklrungen an die Hand zu geben, weshalb die monierten Sprachschnitzer

    sndhaft sind, und welche sprachhistorischen Grnde an den einzelnen Stellen

    anzufhren wren.

    3. Idee, dass sich eine natrliche Sprache immer in den Kategorien von richtig

    und falsch verorten liee

    Mit vielen anderen publizistischen Sprachkritikern teilt auch Sick die Auffassung,

    dass es in einer natrlichen Sprache ein richtig oder falsch gibt. Zwar lehnt er

    diese Haltung vordergrndig ab44, faktisch geht er aber genau in derselben Weise

    44 Bastian Sick:Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Folge 1 (Anm. 4), S. 12.

    Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 2/2010, Jg. 57, ISSN 0418-9426 2010 V&R unipress GmbH, Gttingen 193

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    vor wie alle selbsternannten Sprachppste vor ihm. Er selbst setzt, was sprachlich

    korrekt sein soll und was nicht, und orientiert sich dabei allein am eigenen

    Sprachgefhl. Die nur schwach verbrmte Hme gegenber den Sprachdeppen

    macht diese Haltung an vielen Stellen nur noch deutlicher. Eine natrliche

    Sprache muss aber immer mit Varianten rechnen, und in vielen Fllen gibt es eben

    nur ein Sowohl-als-Auch. Dass dies den Bedrfnissen vieler Sprachteilnehmer

    nicht entspricht (dieDuden-Sprachberatung kann dies besttigen), ndert nichts

    an der Tatsache, dass Sprache kein fest zementiertes Regelwerk ist. Vielmehr

    mssen in der deutschen Sprache neben der Mndlichkeit und der Schriftlichkeit

    mit je eigenen Normen und Gebruchen auch weitere Varietten, d.h. Auspr-

    gungen des Deutschen akzeptiert werden, die ihre je eigenen Normen haben. Die

    so genannte Standardsprache ist nichts als ein idealisierendes Konstrukt, das nur

    von ganz wenigen Sprechern und Schreibern (wenn berhaupt) realisiert wird.

    4. Vermischung von Stilfehlern mit grammatischen/sprachsystematischen Fehlern

    Wie Wustmann, Reiners, Schneider u. a. vermischt auch Sick immer wieder die

    Ebenen. Was eigentlich eine stilistische Unsauberkeit sind, wird zum sprachsys-

    tematischen Fehler erhoben. Stilfehler sind aber vom Typ her etwas ganz anderes

    als grammatische, semantische oder orthographische Fehler: Fr sie gilt das

    Kriterium schn/gut oder hsslich/schlecht, nicht aber richtig/falsch.

    5. Fragwrdiges Verhltnis zum Sprachwandel

    Sick zeichnet sich wie seine Vorgnger auch durch eine sehr konservativeHaltung zum Sprachwandel aus. Dieser Sprachkonservatismus steht allem Neuen

    skeptisch und ablehnend gegenber, weil es etwas Neues ist, das den bisher ge-

    wohnten Sprachgebrauch in Frage stellt oder gar aufhebt. Dies wird aber in

    historischer Sicht dem Sprachwandel nicht gerecht. Zwei der wesentlichen

    Sprachwandel-Faktoren sind Innovation und Variation. Schon immer musste die

    deutsche Sprache erweitert werden, z.B. um fremdsprachliches Material, das

    dann nach und nach integriert (oder wieder aufgegeben) wurde, und schon immer

    war es ein Anliegen der Sprecher und Schreiber, ihre eigene Sprache mit Vari-

    anten zu versehen, d.h. im sprachlichen Vollzug zu variieren. Neuerungen undsprachliche Varianten sind somit kein Fall fr die sprachreinigende Polizei, son-

    dern eine unabdingbare Voraussetzung jeder Sprachentwicklung.

    6. Untersttzung der Autorittsglubigkeit und dies gerade bei jemandem, der

    wirklich keine Autoritt ist

    Viele Sprecher und Schreiber des Deutschen wnschen sich anscheinend nichts

    sehnlicher, als jemanden, der ihnen in allen Zweifelsfllen unmissverstndlich

    den Weg weist. Dieser Gruppe ist der Dudenoft viel zu lax, lsst er doch hufig

    mehrere Lsungsmglichkeiten fr sprachliche Probleme zu. Das bereitet dasFeld fr selbsternannte Sprachexperten wie Bastian Sick. In seinem Fall ist die

    gewollte oder auch nur bewusst in Kauf genommene Autorittsanmaung aber

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    besonders fragwrdig. Zu oft irrt er und zu oft sind seine Verdikte nur auf seinem

    persnlichen Geschmack gegrndet. Mit gutem Grund maen sich Sprachwis-

    senschaftler i. d. R. die entsprechende Autoritt nicht an.

    Was sollte man stattdessen lesen?Kritisieren ist leicht, doch soll es dabei nicht bleiben. Zu empfehlen sind daher die

    folgenden, weitaus besseren Werke ber die Torheiten der deutschen Gegen-

    wartssprache:

    Willy Sanders:Sprachkritikastereien und was der Fachler dazu sagt.Darmstadt,

    Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1992. (ein wirklich guter berblick ber das

    Spannungsverhltnis zwischen Sprachwissenschaft und publizistischer Sprach-

    kritik)

    Dieter E. Zimmer: Sprache in Zeiten ihrer Unverbesserlichkeit. Hamburg,

    Hoffmann & Campe 2005. (eine sehr gut lesbare Darstellung der neueren Ent-

    wicklungen in der publizistischen Sprachkritik und wie man aus Sicht der

    Sprachwissenschaft darauf reagieren kann und soll)

    Dieter E. Zimmer: Die Wortlupe. Beobachtungen am Deutsch der Gegen-

    wartssprache. Hamburg, Hoffmann & Campe 2006. (als Ergnzung zum Buch von

    2005 gedacht, in 111 Glossen geschrieben)

    Natrlich sind auch die Werke von Dieter E. Zimmer unter den Sprachwissen-

    schaftlern zum Teil strittig. Allerdings bieten sie in jedem Fall einen profunderenund reflektierteren Zugang zur Sprachproblematik als die Beitrge von Bastian

    Sick.

    VI. Fazit

    In einem Interview mit Bastian Sick, das am 11.03.2006 in der Hamburger

    Morgenpost45

    abgedruckt worden ist, wurde u.a. gefragt:

    JOURNAL: Shootingstar der Literaturszene oder beliebtester Deutschlehrer welches

    Prdikat gefllt Ihnen besser?SICK:Ich fhle mich geschmeichelt, wei aber, dabeides malos bertrieben ist. Damanmeinen Dativ im Saarland zum offiziellen Schulbuch erklrt hat, macht mich stolz. Ichkann nur hoffen, daich von den Schlern dort nicht verflucht werde. Aber ich denke, diemeisten werden mit dem Buch ihren Spahaben.JOURNAL: Warum im Saarland und nicht in Hamburg?

    SICK:Im Norden dauert alles sehr, sehr lange. Viele wissen ja auch gar nicht, daich aus

    45 Vera Altrock: Bastian Sick lernt Ihnen Deutsch ist falsch, in: Hamburger Mor-

    genpost vom 11.03.2006.

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    Hamburg komme. Sie mssen sich vorstellen: Ich habe in diesem Jahr zum allerersten Malin meiner Heimatstadt Lbeck gelesen!

    Da Sick in der Bastian-Sick-Schau mittlerweile auch viele Termine in Nord-deutschland absolviert hat, ist er wohl bekannt genug geworden. Dass im Norden

    aber alles lange dauert und Sicks Bchlein bislang (hoffentlich) noch nicht als

    Schulbcher akzeptiert sind, spricht nicht fr das Saarland. Dass ein Bundesland

    auf diese Werke als Schulbcher zurckgreifen zu mssen glaubt, ist vielmehr zu

    bedauern. Im Schulkanon wre Sick ein groer Fehler, weil seine Sprachglossen

    viel zu weit entfernt sind von dem, was eine ernsthafte sprachwissenschaftliche

    Auseinandersetzung mit der Gegenwartssprache leistet.

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