Befähigung zur Teilhabe an Unterrichtsdiskursen: Die Rolle...

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1 Befähigung zur Teilhabe an Unterrichtsdiskursen: Die Rolle von Diskurskompetenz Susanne Prediger, Kirstin Erath, Uta Quasthoff, Vivien Heller & Anna-Marietha Vogler Sprachkompetenz wurde in vielen Studien als sehr wichtiger Faktor für den schulischen Leistungserfolg herausgestellt. Dies gilt in neuerer Sicht auch für Fächer, die traditionell eher als sprachfern galten: Auch in Mathematikleistungstests schneiden sprachlich schwache Schülerinnen und Schüler erheblich schwächer ab als sprachlich Stärkere (OECD, 2007; Paetsch, Felbrich, & Stanat, 2015; Prediger, Wilhelm, Büchter, Gürsoy, & Benholz, 2015; Ufer, Reiss, & Mehringer, 2013). Als wichtige Konsequenz dieser Befunde zur sprachbedingten Disparität beim fachlichen Lernen wachsen die Bemühungen um sprachsensiblen Fachunter- richt: Eine Förderung der Sprachkompetenzen im Fachunterricht wurde als wichtige Mög- lichkeit zur Reduzierung von Bildungsungerechtigkeit zunehmend stärker betont (MSW, 1999; Ahrenholz, 2010). Um bzgl. Sprachförderung gezielt wesentliche Kompetenzbereiche fokussieren zu können, müssen allerdings zunächst die Erklärungshintergründe dieser statistisch aufgefundenen Disparitäten genauer rekonstruiert werden. Viele Studien und Förderansätze haben Sprach- kompetenz im Rahmen eines sprachstrukturellen Konzepts – oft nur im Zusammenhang mit Mehrsprachigkeit – vor allem als Wortschatz- und/oder Grammatikkenntnis und im Verwen- dungsfeld der Lesekompetenz erfasst, empirisch untersucht (Abedi, 2006; Paetsch et al., 2015) und praktisch adressiert (z.B. Leisen, 2010). In diesem Artikel werden dagegen die diskursiven Praktiken und damit die Diskurskompetenz in den Mittelpunkt gestellt. Diese Fa- cette sprachlicher Kompetenz, die satzübergreifende sprachliche Praktiken fokussiert, hat bislang sowohl in den empirischen Rekonstruktionen als auch den unterrichtspraktischen Bemühungen relativ wenig Beachtung gefunden. Sie erweist sich aber – wie wir zeigen wer- den – als höchst bedeutsam. In diesem Artikel werden Ergebnisse aus dem BMBF-Projekt Interpass 1 vorgestellt, in denen die unterschiedlichen Befähigungen von Kindern zur Teilhabe an Unterrichtsdiskursen mit ihren heterogenen Diskurskompetenzen in Zusammenhang gebracht werden. Dabei geht es um das Verstehen der Mechanismen, die durch mikrostrukturelle Rekonstruktionen von Un- terrichtsprozessen an drei besonders aussagekräftigen Beispielen vorgeführt werden. So wird auch gezeigt, auf welche Weise eingeschränkte Diskurskompetenzen die fachlichen Lerngelegenheiten, insbesondere bei kognitiv anspruchsvollen Lerninhalten, beschränken können. Dabei folgt der Beitrag dem klassischen Aufbau: Hintergründe zur Teilhabe am Un- terrichsdiskurs in Abschnitt 1, Methoden in Abschnitt 2, empirische Einsichten in Abschnitt 3 und ihre Diskussion in Abschnitt 4. 1 Das Projekt INTERPASS – „Interaktive Verfahren der Etablierung von Passungen und Divergenzen für sprachliche und fachkulturelle Praktiken im Deutsch- und Mathematikunterricht. Eine rekonstruktive Unterrichtsstudie zur Teilhabe an schulischen Vermittlungsprozessen“ wird mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert (Förderkennzeichen 01JC1112; Projektleitung S. Prediger & U. Quasthoff). Webversion von Prediger, Susanne; Erath, Kirstin; Quasthoff, Uta; Heller, Vivien & Vogler, Anna-Marietha (2016). Befähigung zur Teilhabe an Unterrichtsdiskursen: Die Rolle von Diskurskompetenz. In J. Menthe, D. Höttecke, T. Zabka, M., Hammann & M. Rothgangel (Hrsg.). Befähigung zu gesellschaftlicher Teilhabe. Beiträge der fachdidaktischen Forschung. Münster: Waxmann, 285-300.

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BefähigungzurTeilhabeanUnterrichtsdiskursen: DieRollevonDiskurskompetenz

SusannePrediger,KirstinErath,UtaQuasthoff,VivienHeller&Anna-MariethaVogler

Sprachkompetenz wurde in vielen Studien als sehr wichtiger Faktor für den schulischenLeistungserfolgherausgestellt.DiesgiltinneuererSichtauchfürFächer,dietraditionelleherals sprachfern galten: Auch in Mathematikleistungstests schneiden sprachlich schwacheSchülerinnen und Schüler erheblich schwächer ab als sprachlich Stärkere (OECD, 2007;Paetsch,Felbrich,&Stanat,2015;Prediger,Wilhelm,Büchter,Gürsoy,&Benholz,2015;Ufer,Reiss, & Mehringer, 2013). Als wichtige Konsequenz dieser Befunde zur sprachbedingtenDisparitätbeimfachlichenLernenwachsendieBemühungenumsprachsensiblenFachunter-richt: EineFörderungder Sprachkompetenzen imFachunterrichtwurde alswichtigeMög-lichkeit zur Reduzierung von Bildungsungerechtigkeit zunehmend stärker betont (MSW,1999;Ahrenholz,2010).

Um bzgl. Sprachförderung gezielt wesentliche Kompetenzbereiche fokussieren zu können,müssen allerdings zunächst die Erklärungshintergründe dieser statistisch aufgefundenenDisparitätengenauerrekonstruiertwerden.VieleStudienundFörderansätzehabenSprach-kompetenzimRahmeneinessprachstrukturellenKonzepts–oftnurimZusammenhangmitMehrsprachigkeit–vorallemalsWortschatz-und/oderGrammatikkenntnisundimVerwen-dungsfeld der Lesekompetenz erfasst, empirisch untersucht (Abedi, 2006; Paetsch et al.,2015) und praktisch adressiert (z.B. Leisen, 2010). In diesem Artikel werden dagegen diediskursivenPraktikenunddamitdieDiskurskompetenzindenMittelpunktgestellt.DieseFa-cette sprachlicher Kompetenz, die satzübergreifende sprachliche Praktiken fokussiert, hatbislang sowohl in den empirischen Rekonstruktionen als auch den unterrichtspraktischenBemühungenrelativwenigBeachtunggefunden.Sieerweistsichaber–wiewirzeigenwer-den–alshöchstbedeutsam.

IndiesemArtikelwerdenErgebnisseausdemBMBF-ProjektInterpass1vorgestellt,indenendieunterschiedlichenBefähigungenvonKindernzurTeilhabeanUnterrichtsdiskursenmitihrenheterogenenDiskurskompetenzeninZusammenhanggebrachtwerden.DabeigehtesumdasVerstehenderMechanismen,diedurchmikrostrukturelleRekonstruktionenvonUn-terrichtsprozessen an drei besonders aussagekräftigen Beispielen vorgeführt werden. Sowird auch gezeigt, auf welche Weise eingeschränkte Diskurskompetenzen die fachlichenLerngelegenheiten, insbesondere bei kognitiv anspruchsvollen Lerninhalten, beschränkenkönnen.DabeifolgtderBeitragdemklassischenAufbau:HintergründezurTeilhabeamUn-terrichsdiskursinAbschnitt1,MethodeninAbschnitt2,empirischeEinsichteninAbschnitt3undihreDiskussioninAbschnitt4.

1 Das Projekt INTERPASS – „Interaktive Verfahren der Etablierung von Passungen und Divergenzen fürsprachliche und fachkulturelle Praktiken im Deutsch- und Mathematikunterricht. Eine rekonstruktiveUnterrichtsstudie zur Teilhabe an schulischen Vermittlungsprozessen“ wird mit Mitteln desBundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert (Förderkennzeichen 01JC1112; Projektleitung S.Prediger&U.Quasthoff).

WebversionvonPrediger,Susanne;Erath,Kirstin;Quasthoff,Uta;Heller,Vivien&Vogler,Anna-Marietha(2016).BefähigungzurTeilhabeanUnterrichtsdiskursen:DieRollevonDiskurskompetenz. In J.Menthe,D.Höttecke,T.Zabka, M., Hammann & M. Rothgangel (Hrsg.). Befähigung zu gesellschaftlicher Teilhabe. Beiträge derfachdidaktischenForschung.Münster:Waxmann,285-300.

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1. HintergründezurRelevanzderTeilhabeanUnterrichtsdiskursen

1.1. RelevanzkognitivanspruchsvollerLerninhaltefürsprachlichschwacheLernende

DerstarkestatistischeZusammenhangzwischenSprachkompetenzundfachlichenSchulleis-tungen(OECD,2007)wirdbislangvorallembzgl.sprachbedingterTest-Biases(Abedi,2006)undLesehürdendiskutiert (Abedi&Lord,2001;OECD,2007),dieschwächerePerformanzalso auf sprachliche, mathematikexterne Faktoren in den Testsituationen zurückzuführenversuchen.Doch gerade für sprachlich schwache Lernende sind andereHürdennoch rele-vanter als Lesehürden: In DIF-Analysen zu den Zentralen Prüfungen 10 in NRW erwiesensich solche Items als für sprachlich schwache Lernende statistisch unerwartet schwer, diekognitiv anspruchsvollere (z.B. konzeptuell gehaltvolle) Lerninhalte adressierten (Predigeretal.,2015).

DieserBefundwird verstehbardurchdie epistemischeFunktion von Sprache in denLehr-Lernsituationen langevordenTestsituationen(Heller&Morek,2015b):WeilSprachenichtnurproduktivundrezeptivzukommunikativenZweckengebrauchtwird,sondernaucheinDenkmittelinWissenskonstruktionsprozessenist(Vygotsky,1978),wirkensichsprachlicheEinschränkungennichterstinTestsituationenaufdiePerformanzaus.Vielmehrnehmensiebereits vorher in den Lehr-Lernprozessen Einfluss auf den Aufbau der entsprechendenKompetenzenundKonzepte,sodassdiekommunikativeunddieepistemischeFunktionstetszusammenspielen(Predigeretal.,2015).ZwarkonntedurchqualitativeAnalysenvonBear-beitungen von Lernenden gezeigt werden, wie sprachliche Einschränkungen mit einge-schränktem konzeptuellem Verständnis einhergehen (Prediger et al., 2015). Sie zeigen je-doch noch nicht, wie das eingeschränkte konzeptuelle Verständnis in dem zehnjährigenLehr-Lernprozesszustandekommt.

Dazu wird im Folgenden die Rolle spezifischer Aspekte von Sprachkompetenz in Unter-richtsdiskursengenaueruntersucht.

1.2. ErklärenundArgumentierenimKlassengesprächalsLerngelegenheitfürkognitivanspruchsvolleInhalte

Während prozedurales Wissen oder reines Benennungswissen prinzipiell auch in Einzel-arbeitoderderArbeitderLernendenuntereinandererworbenwerdenkann,erfordernkog-nitiv anspruchsvolle Inhalte, die sich in den Tests alsHürden herausgestellt haben, in derRegelauchPhasendesmoderiertenKlassengesprächs,indemdieLehrkraftausgehendvondenkonkretenErfahrungenundIdeenderLernendendieEntwicklungabstrakterer,genera-lisierenderErklärungen fachlicherKonzeptesteuert (Nührenbörger&Schwarzkopf,2010).Der aktiven (wenn auch z.T. rezeptiven) Teilhabe am Klassengespräch wird daher in derFachdidaktik für das Lernen kognitiv anspruchsvoller Inhalte eine große Bedeutung zuge-sprochen(Krummheuer,2011).

Gesprächsanalytisch und sprachdidaktisch lässt sich das Klassengespräch charakterisierendurchunterschiedlichebildungssprachlichePraktiken.DarunterverstehenHellerundMorek(2015a)i.a.institutionellsituiertesprachlich-diskursiveVorgehensweisen,mitdeneninun-terschiedlichen Bildungskontexten Wissen konstruiert, Wahrheitsansprüche geltend ge-machtundgesichertesWissenvermitteltwird.AlsdiskursivePraktikenwerdensolchebe-zeichnet, bei denen äußerungsübergreifende Einheiten, sog. Diskurseinheiten (Quasthoff,2011),interaktivhervorgebrachtwerden.

DiediskursivenPraktikenwerden inunterschiedlichediskursiveGattungenunterschieden,die sich als musterhafte Lösungen für unterschiedliche kommunikative Zwecke herausge-bildet haben (Bergmann& Luckmann, 1995): ImGrundschulunterricht sind Praktiken desErzählens und Berichtens durchaus noch relevant (Morek, 2012). Im Fachunterricht derKlasse5dominierteherdasErklärenundArgumentieren(Morek,Heller,&Quasthoff,2016;Erath, 2016a) als die Praktiken, in denen Wissen konstruiert und Geltungsansprüche ver-handeltwerden. Beispielsweise können Schülerinnen und SchülermathematischesWissenaufbauen, indem sie sich durch das eigenständige Erklären eines mathematischen Zusam-

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menhangs bestimmtemathematische Konzepte zu eigenmachen oder argumentieren,wa-rumeinZusammenhangnichtgilt.

Sowohlausdidaktischeralsauchaus linguistischerSicht stellenalsodasErklärenundAr-gumentieren im Klassengespräch wichtige Lerngelegenheiten für kognitiv anspruchsvolleInhalte dar (Prediger & Erath, 2014; Krummheuer, 2011). Um zu verstehen, wie einge-schränkteDiskurskompetenzmitdiesenLerngelegenheitenzusammenhängenkann, ist zu-nächsteinegenauereExplikationdereinschlägigenDiskurskompetenznotwendig.

1.3. DiskurskompetenzalsLernvoraussetzungfürdasErklärenundArgumentierenimUnterricht

SprachkompetenzalsLernvoraussetzungundLerngegenstand fürdenFachunterrichtwirdhäufigaufsprachstrukturelleAspektewieWortschatz-oderGrammatikkenntnissereduziert(Leisen,2010),nichtzuletzt,weildiesedasAlltagskonzeptvonSprachebeiLernendenundLehrenden oft dominieren. Auch durch die Mehrsprachigkeitsthematik (Gogolin, 1994;Schütte&Kaiser, 2011)wirdderBlick eher auf dieBeherrschungdes „SystemsdesDeut-schen“gelenkt.

Insbesondere im Hinblick auf die epistemische Funktion von Sprache wird jedoch in derSprachwissenschaft (Schleppegrell, 2004; Thürmann et al., 2010; Feilke, 2013) und Fach-didaktik (Moschkovich, 2015) zunehmend auch die Bedeutung der Diskursebene betont.Diese ist geradeauch fürdiebesondereSituationvonLernenden relevant, dieDeutschalszusätzlicheSprachesprechen:DieAnalysen imempirischenTeil (Abschnitt3)werdenzei-gen, inwelcherWeiseeineingeschränktessprachlich-diskursivesRepertoire imDeutschenihreDiskursaktivitätenbeschränken kann (Grießhaber, 2009), und inwiefern es dieseDis-kursaktivitätensind,diedasfachlicheLernenmehrbehindernkönnenalsformalsprachlicheRichtigkeit.

WirfokussierenhierDiskurskompetenz(Katz-Bernstein&Quasthoff,2007),weildiemünd-licheFähigkeitfürdiePartizipationanUnterrichtsdiskursenbereitsaustheoretischenGrün-denwesentlichist(Quasthoff,2009):ZuraktivenTeilhabeamUnterrichtsdiskursistdieBe-herrschung wissensbezogener diskursiver Praktiken wieErklären undArgumentieren ent-scheidend,dennsieermöglichtdieMitgestaltungderentsprechendenkommunikativenPro-zesse imKlassengespräch, diewiederum fachliche und sprachliche Lerngelegenheiten bie-ten.

Soziolinguistische Analysen zeigen, dass die Diskurskompetenz Heranwachsender gerademitBezugaufdieseGattungenerheblichdurchdieaußerschulischenErwerbsgelegenheitengeprägtwird,dieindenFamilien(Lareau,2003;Heller2012)inunterschiedlichemAusmaßgegebensind.„SoetwagehörtesnichtzumGattungsrepertoirejederFamilie,unklareSach-verhalteundBegriffezuerklären,widerstreitendeStandpunkteargumentativauszuhandeln[...]oderpotenziellproblematischeAspektebestimmterAnsichtenoderEntscheidungenab-zuwägen.GenaudiesePraktikenliegenaberimKerndessen,waseinenaufgeklärtenSchul-unterrichtausmacht.“(Heller&Morek,2015b,S.2).ErklärenundArgumentiereninderje-weiligenfachlichenAusprägungundinstitutionellenAngemessenheitkannallerdingsnurimKontext des Unterrichts selbst erworbenwerden und baut dann auf die heterogenen vor-undaußerschulischenVorläuferfähigkeitenauf.

Diskurskompetenz kann theoretisch in drei Facetten (Quasthoff, 2009; 2011) aufgegliedertwerden, deren analytischeRelevanz sich inErwerbsprozessen gezeigt hat:Die FacettederKontextualisierungzieltaufdasErkennenundUmsetzenvonkommunikativenErwartungendesGesprächspartners.Umanschließen zu können,müssen inAlltags-wie inUnterrichts-gesprächen Interaktanten schnell erfassen, welche Art von nächstem Beitrag bspw. eineFrage jeweils ansteuert: Wird ein satz- oder wortförmiger oder ein längerer Beitragerwartet?GehtesumeineErklärungodereineErzählung?DieFacettederVertextungbetrifftden innerenAufbauderDiskurseinheit, der jeweils fürunterschiedlicheGattungen typischist. Diese Strukturierung erfordert im Fall mathematischer Erklärungen i.d.R.generalisierende,abstrahierendeInhaltselementeinlogischerVerknüpfung.DieFacetteder

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Markierung bezieht sich auf den Einsatz bestimmter sprachlicher Mittel, mit denen diejeweilige Gattung und die Art der Vertextung sprachlich explizit angezeigt, d.h. erkennbargemachtwerden.SofungierenKonnektorenwie„weil“und„deswegen“alsMarkerfüreineErklärungoderBegründung.ZusammengefasstsinddieFacetteninderÜbersichtinAbb.1.

Abb.1.ZusammenfassungderFacettenvonDiskurskompetenz

1.4. AbgeleiteteForschungsfragen

AufdieserBasiswerdenimBeitragfolgendeForschungsfragenthematisiert:

F1 WelchediskursivenFacettenbrauchenLernende,umproduktivundrezeptivankogni-tivanspruchsvollenUnterrichtsdiskursenteilzuhaben?

F2 Inwiefern werden fachliche Lerngelegenheiten zu kognitiv anspruchsvollen Inhaltendurch eingeschränkte Diskurskompetenz der Lernenden (und mangelnde interaktiveUnterstützungderLehrkraft)beschränkt?

2. Methoden

Datenerhebung der Videostudie. Für die Datenerhebung im Projekt Interpass-Videostudiewurden in fünfKlassendes fünftenSchuljahres(Lernende i.d.R.10-11 Jahrealt) insgesamt139UnterrichtsstundendesDeutsch-undMathematikunterrichtsaufgenommen,undzwarjeweils mindestens 8 Unterrichtstunden zu Beginn des Schuljahres (Ersteinführung in dieweiterführendeSchule),danachetwa4StundenzurMittedes5.Schuljahres,uminlongitu-dinaler Perspektive Kontinuitäten und/oder Veränderungen erfassen zu können. DieKlassengesprächeausdiesen111vollenStundenVideomaterialumfassenetwa60%derUn-terrichtszeit, davon wurden etwa 400 Szenen transkribiert. Einzel- oder Gruppenarbeits-phasen wurden nicht ausgewertet, weil die Studie auf die epistemisch und sprachlich an-spruchsvollenProzessedergemeinsamenBearbeitungkognitivanspruchsvoller Inhalte fo-kussiert.

Sampling. In diesem Artikel werden die längsschnittlichen Daten von drei Schülern einesGymnasiums im sozial benachteiligten Viertel einer Ruhrgebiets-Großstadt fokussiert. DieKlasse wurde herangezogen, da sich die Schule seit einigen Jahren für Sprachbildung imFachunterrichteinsetzt.DieLernendenMonir,NahemaundThasinwurdenaufgrund ihreszwarähnlichenHintergrunds(männlich,10-11Jahrealt,mehrsprachigaufgewachsen),aberkontrastierender Formen der Beteiligung ausgewählt. Das Datenkorpus umfasst die Tran-

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skripteausallen104EpisodenvonKlassengesprächen,indeneneinerderdreiJungenaktivbeteiligtwar.

Datenauswertung.DieTranskriptedesDatenkorpuswurdenineinemmultiperspektivischenmathematikdidaktischen und linguistischen Zugriff qualitativ analysiert, sowohl bzgl. derepistemischenCharakterisierungihrerBeiträgealsauchderdabeizumAusdruckkommen-denDiskurskompetenzen:

• Das linguistischeAnalyse-InstrumentGLOBE(Hausendorf&Quasthoff,2005;Moreketal., 2016) ermöglicht eine Erfassung der Anteile der Lernenden im Rahmen derKontextualisierung, Vertextung undMarkierung (vgl. Abb. 1) und ermöglicht über dasgesamteDatenkorpushinwegeineRekonstruktionderDiskurskompetenzindiesendreiFacetten.

• Für die Erfassung des epistemischen Partizipationsprofils wurde die sogenannteepistemische Matrix herangezogen (Prediger & Erath, 2014; Erath, 2016a). Siedifferenziert zwischen konzeptuellen (z.B. Konzepte, Modelle, Zusammenhänge) undprozeduralen Erklärgegenständen (z.B. konkrete Lösungswege, allgemeine Verfahren)undkategorisiertdarüberhinausgenutzteErklärmittelinverschiedenenepistemischenModi(z.B.expliziteFormulierung,Konkretisierung,IntegrationinvorhandenesWissen)(vgl. Abb. 2). Diese Analyse ermöglicht nicht nur eine Rekonstruktion der interaktivetabliertenErklärpfadeimUnterrichtsgespräch(Prediger&Erath,2014),sondernauchder epistemischen Partizipationsprofile der einzelnen Kinder, indem sie für jedeeinzelneEpisodeerfasst,zuwelcherArtvonErklärgegenständensieregelhaftbeitragenund welche spezifischen epistemischen Mittel sie jeweils dazu heranziehen (Erath &Prediger,2015).DamitwirdaucheinZugriffaufdiefachlichenLerngelegenheiteninderaktivenPartizipationermöglicht.

Abb.2: EpistemischeMatrixzurepistemischenCharakterisierungderDiskursbeiträge

3. EinblickeindieFallstudievonNahema,MonirundThasin

Die folgendeAnalyseeinerEpisodeunterBeteiligungderdreiFokuskinderNahema,MonirundThasin illustriertvielePhänomene,diewiederholt inden104Transkriptenrekonstru-iertwerdenkonnten.DanachwerdendieempirischenErgebnissezudenFallbeispielenaufdasgesamteDatenkorpuserweitertundimHinblickaufdieForschungsfragendiskutiert.

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3.1. ExemplarischeAnalysederEpisodeKatzengewicht

InderSequenzerklärendieLernendendieBedeutungdesDiagrammsausAbb.3.Siedisku-tiereninsbesonderediefolgendeFrage:„WievielwiegtdieKatze,wenndasDiagrammdenEintrag Null zeigt?“. Der Lehrer initiiert die Erklärung des Eintrags, indem er die unter-schiedlichenInterpretationenvonDeniseundNikolaszumArgumentationsanlasserhebt(Z.2).Nikolas’Begründung(Z.13)istderAusgangspunktfüreineNebensequenzzumüblichenGewichtvonKatzen(Z.14:„ichFRAGmaleben“).InZ.29wirddasübergeordneteErklärenwiederaufgenommen.

Diagramm:

Frage:WievielwiegtdieKatze,wenndasDiagrammNullzeigt?(DiagrammausEsper&Schornstein,2005,S.11)

Abb.3:ErkläranlassinderEpisodeKatzengewicht

EpisodeS-1-6-1-0920-Katzengewicht(BetonungsymbolisiertdurchGroßbuchstaben;farbliche

MarkungenstehenfürSchlüsselbeiträgederFokuskinder,dieimFolgendenwiederauf-gegriffenwerden)

2Lehrer HM_hm;denisesagtsiehatNICHTSgeschrieben,nikolasdusagstUNterzehn;vielleichtZWEIoderanderthalb,(1.9sec.Pause).denisesagnocheinmalwarumhastduNICHTSgeschrieben,unddann(.)nikolaswarumsodieEINschätzungzweioderanderthalb;denisewarumhastduNICHTSgeschrieben;

3Denise weilichmirhiernichtSIcherwar;hierbeiderHAUSkatzedastandjanichtso-(1.1sec.Pause)

...9Denise diekatzekannjaauchnijetztnicht(-)ZWANzigkilogrammwiegen;...12Lehrer waRUMnichtzwanzig;(3.2sec.Pause)13Nikolas weil(.)diekatze(.)alsovomkörperhernicht(.)GROSSist;und(2.0sec.Pause)JA;14Lehrer ichFRAGmaleben;hatjemandvoneucheinekatzezuHAUse,(1.5sec.Pause)

habhabtihrdiemalmitaufdieWAAgegenommen;könntihrsagenwieSCHWERdieist,(2.0) kathrine(.)wieSCHWERistdeinekatze;

15Kathrine ähm(.)ichhabjetztäh(.)nekleineBAbykatzezuhause,alsodiewiegt(.)fastzweiKIlo;...21Eric ichhabne(.)beimeinerOmanekatze,ichhabmaleinegewogen,(.)diewarganzDÜNN,

diehatglaubich(--)zweiKIlogewogen,undein(.)dickererkaterglaubichSECHSkilosogar;

22un1 BOAR;23Lehrer HM_hm;(2.2sec.Pause)NAhema;24Nahema vonmeinemfreundderheißtKEvin,(.)diekatz(.)ähdiediekatzeisSO:((zeigtmit

HändenGrößederKatze))diewiegtNEUNkilo;25un2 !NEUN!;26 ((UnruhewegenSkepsisgegenüberNahemasBeitrag))27Lehrer HM-ALso-beibei(.)beinahemasaussagewürdeichSAgen,((zeigtmitHändenGröße

vonKatze))SOsiehtnachnerziemlichdickenkatzeaus;oder,28un3 ohja;(.)ermeintsoDICK-29Lehrer JA_ja;wennkatzen(---)imREgelfallsoneunkilowiegenwürden;würdemandaein

gewichtHINzeichnen;oderwürdemaneherKEIN_Shinzeichnen;

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...34Monir also(.)äh(-)dieähm(.)diese(.)ANzeigenderähwievieldiewiegen,istjaimmernur(.)

nachdeZEHner(.)also(.)immerzehn(.)zehn,zehnzwanzigdreißigvierzig;aberdiekatzewiegtUNterzehn;also(--)äh(-)die(.)siewiegtnichtso(-)ähm;(1.0)alsosiehat(-)siehatkeineäh(-)eszweistellige-((deutetmitFingerinderLuftZiffernan))

35Lehrer HM_hm;(1.0sec.Pause)nezweistelligeZAHL;oderkeinzweistelligesgeWICHT;36Monir JA;37Lehrer HM_hm,(.)THAsin;38Thasin wenneinekatzedurchschnittlichneunKIlogrammwiegenwürde,würdmandasjaauf

ZEHNaufrunden(-)können;39Lehrer HM_hm;40Thasin undweildasjaIMmerzehnkilogrammist,würdendiedasdannwahrscheinlichauch

TUN;

Die Episode zeigt sehr unterschiedliche Formen der Beteiligung von Nahema, Monir undThasin.DiesesteheninengemZusammenhangmitihrendiskursivenFacetten:

• Nahemaschaltetsichein,alsBerichtenvonErfahrungswissenverlangtwird.Kontextuellgefordert ist hier das Nennen einer Wissensquelle und das Nennen eines Gewichts.NahemasVertextungweistgenaudieseElementeauf:ErführtzunächstdenBesitzerderKatze alsWissensquelle ein, beschreibt dieGrößederKatze gestischundnenntderenGewicht. Allerdingskontextualisiert er seinen Beitrag nicht als einen sachlichen Beleg,sondern rahmt ihn als eine Art ‚Sensationsbericht‘: Seine Darstellung zielt darauf ab,Kundgaben des Erstaunens auszulösen. Insofern gelingt hier die Kontextualisierungnicht gänzlich: Nahema interpretiert den Kontext zwar adäquat als Aufforderung zueinemBericht,dochschneideterdiesennicht imHinblickaufdieFunktionimRahmenderErklärungzu.VordemHintergrundseinersonstigenPartizipation (eshandelt sichhierumeinenderwenigendiskursivenBeiträgeNahemas)lässtsichvermuten,dasserdie Funktion des erfragten Beitrags innerhalb der globalen Argumentation nichterkennt.ZurErklärungderBedeutungderNullträgterhöchstensindirektbei,indemerdas gegebene mathematische Modell indirekt mit Weltwissen über Katzengewichteverknüpft.

• Monir liefert die geforderte Argumentation, wieso eine Null im Diagramm auftauchenkann. Er kontextualisiert den Zugzwang adäquat und vertextet seine Diskurseinheit,indem er dieNutzung einer Schlussregel vorführt: Er expliziert zunächst die Prämisse(welches Gewicht die Symbole repräsentieren; Interpretation des mathematischenModells (Modus Integration in vorhandenes Wissen & Vernetzung)), veranschaulichtdies beispielhaft („zehn, zwanzig…“) und markiert einen Kontrast („aber…“). DieSchlussfolgerungwirdvonihmnichteigensexpliziert,auchwennerbeginntsichaufdasmathematischeModell (im epistemischenModus der Ausformulierung, vgl. Abb. 2) zubeziehen.MonirswiederholteVerzögerungssignaleundReformulierungen,derRückgriffauf Gesten und Beispiele weisen auf Grenzen seiner Markierungskompetenz hin. DieNutzung eines spezifischen, explizitsprachlich weniger anspruchsvollen,demonstrierendenVertextungsmustersdürftedamitinZusammenhangstehen.

• Thasin beteiligt sich an der übergeordneten Erklärung. Er expliziert ein möglichesVorgehenbeiderEntstehungdesmathematischenModells(ebenfallsimepistemischenModus der expliziten Ausformulierung) zunächst unter Verwendung des Konjunktivsund unter Rückgriff auf eine allgemeine Regel. Durch die Nutzung komplexererSprachmittelwie demBedingungsgefüge („wenn, dann…“), Fachwörter („durchschnitt-lich“) und das unpersönliche Pronomen „man“ gelingt ihm eine pointierte generalisie-rendeVertextung,diedieErklärungpräziseausdrücktundvomEinzelfallablöst.

Der Vergleich der Jungen zeigt, wie eng Markierung und Vertextung funktional in der Re-alisierungglobalerPraktikenverknüpftsindundführtdamitvorAugen,dass‚Markierungs-kompetenz‘nichtdieformaleNormorientiertheitderSprachverwendungadressiert,sonderndieVerfügbarkeiteinessprachlichenRepertoireszurExplizierungdiskursiverFunktionen.

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3.2. RekonstruiertesituationsübergreifendeDiskurskompetenzenvonNahema,MonirundThasin

Die in der Episode Katzengewicht sichtbar werdenden Indikatoren für Diskurskompetenzpassen gut zur situationsübergreifenden Rekonstruktion der jeweiligen Diskurskompeten-zenzuBeginndesSchuljahrws.DazuwurdefürjedesderdreiKindereineigenesTeilkorpuserstellt, das alle ihre diskursiven Beiträge im ersten Erhebungszeitraum im Deutsch- undMathematikunterricht umfasst (Thasin 34, Monir 27, Nahema 15 Beiträge), und mit demAnalyse-Instrument GLOBE analysiert. Die Ergebnisse sind in Abb. 4 zusammengefasst. EszeigensichwiederholtdieunterschiedlichenPotentiale.

Kind Nahema Monir Thasin

Kontextua-lisierung

• bedientglobaleZugzwängesatzförmig,erstnachExplikationansatzweisediskursiv

• erkenntundetabliertex-planativeundargumenta-tiveSteuerungenohneweitereExplikation

• erkenntundbedientexplanativeundargumentativeSteuerungenohneweitereExplikation

• etabliertselbstErklärgegenständeVertextung

größtenteilskleinschrittigeVertextungen,z.B.imMathe-matikunterricht• Behaupten/Bewerten

ohneBegründung• NennenvonErfahrungs-

wertenundWissensquelle• Beschreibensichtbarer

Eigenschaften

größtenteilsdemonstrierendeVerfahren,z.B.imMathe-matikunterricht:• VorführeneinerRegel• VeranschaulichenamBei-

spiel• NennendesZwecks• VeranschaulichendesBe-

wertenvonEigenschaften

Ansätzezudefinierenden,generalisierendenVertextungen,z.B.imMathematikunterricht• Nennen/NutzeneinerSchlussregel• AblösungvomEinzelfalldurchNen-

nenallgemeinerFunktionen/Verfah-ren

• NennenvonübergeordnetemBegriffundunterscheidendemMerkmal

Markierung • VerkettungvonAussagenprimärdurchTemporal-adverbien

• Kausalkonjunktion„weil“• beimBeschreiben/Erklä-

renhäufigdeiktischesAdverb„so“+Gestik

• VerkettungvonAussagenprimärdurch„z.B.“undTemporaladverbien,z.T.auchdurchkausale,adversativeKonjunktionen

• neutralesPronomen„man“

• VerkettungvonAussagendurchkausale,konditionale,adversativeKonjunktionen

• verschiedeneMarkerfürSchluss-folgerungen(„deshalb,darum,also“)

• neutralesPronomen„man“

Abb.4:RekonstruierteDiskurskompetenzderdreiFokusjungen

3.3. EpistemischePartizipationsprofilevonNahema,MonirundThasin

DerinderEpisodeKatzengewicht(Abschnitt3.1)sichtbarwerdendeunterschiedlicheepis-temischeCharakterderBeiträgelässtsichauchinanderenSituationenrekonstruieren.

DazuwurdevondendreiFokuskindern jeweils ein sogenanntesepistemischesPartizipati-onsprofilerstellt, indemalleBeiträgederLernendenjenachadressiertenlogischenEbenenund epistemischen Modi in der epistemischen Matrix verortet wurden (Erath & Prediger,2015).DerEintrag2.4.8inderSpalteTstehtdabeifürThasinsBeitraginder8.Episodeder4.Stundeinder2.ErhebungswellezurMittedesHalbjahres.

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Abb.5: EpistemischePartizipationsprofilederdreiKinder:MonirinBlau(gepunkteteLinie),ThasininViolett(gestrichelteLinie),NahemainGrün

(durchgezogeneLinie);dieSequenzKatzengewichtistgelbunterlegt.

AuchwennhiernichtderRaumist,dieAnalysenund ihreErgebnissevollständigzuerläu-tern,zeigensichdochklareTendenzen:

• ThasinbewegtsichinvielenepistemischenModi.AndersalsseineMitschülerinnenundMitschüler zeigt er eine besondere Fähigkeit, Erklärgegenstände unterschiedlicherEbenenmiteinanderzuvernetzenunddabeiimepistemischenModusderIntegrationinvorhandenesWissen zu arbeiten. Damitwird die Konstruktion von Bedeutungen kog-nitiv anspruchsvoller Inhalte zum zentralen Merkmal seines epistemischen Partizipa-tionsprofils.

• Dagegen verbleibt Monir vornehmlich auf der prozeduralen Ebene. Er versprachlichtauch explizite Formulierungen, Benennungen undKonkretisierungen und kann so zurErarbeitung abstrakter Inhalte beitragen, so lange sie im Prozeduralen bleiben.KonzeptuelleLerngelegenheitenergreiftMonirsehrselten.

• AuchNahemaverbleibtimWesentlichenaufderprozeduralenEbene.Erhataberoffen-bareineNischegefunden, inFormvon(oftalltagsorientierten)BeiträgenzurFunktionund manchmal in ersten Ideen zur Bedeutung und Bewertung von konkretenLösungswegen und Vorgehensweisen. Seine Beiträge werden sehr selten fachlichsubstantiell.

3.4. Auswertung:DiskurskompetenzalsVoraussetzungzurTeilhabeamkognitivan-spruchsvollenUnterrichtsdiskurs

DieKontrastierungderdreiFallbeispieleundv.a.dersprachlichenundfachlichenPartizipa-tionsprofilezeigt,wiewichtigDiskurskompetenzinallendreiFacettenist,umproduktivundrezeptivankognitivanspruchsvollenUnterrichtsdiskursenteilzuhaben:

• Kinder wie Nahema, die Schwierigkeiten mit der Kontextualisierung bildungssprachli-cher Praktiken haben, können sich schwerer in den fachlich relevanten Momenteneinschalten.

• BeiKindernwieMonir, dieDiskurspraktiken des Erklärens undArgumentierens zwarangemessenkontextualisieren, jedochvorwiegenddemonstrierendodersequenzierendvertexten,zeigensichdurchaussubstantiellefachlicheLerngelegenheiten,dieallerdingseine gewisse epistemischeBeschränkungmit sichbringenkönnen.Die Spezialisierungauf die prozedurale Ebene ist im Unterricht der Klasse 5 noch erfolgreich, aber nichtautomatischinBezugaufabstraktereInhalteausbaufähig.ObMonirbeikonsequentererinteraktiverUnterstützung durch den Lehrer auch abstrahierend oder generalisierendhättevertextenkönnen,istindenDatennichtersichtlich.

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• Kinder wie Thasin, die bereits über komplexere bildungssprachtypische Sprachmittelverfügenundzur selbständigenabstrahierendenodergeneralisierendenVertextung inder Lage sind, können damit auch andere epistemische Felder zu kognitivanspruchsvollerenInhaltenadressieren.

DamitergibtsichzwarkeinedeterministischkausaleWirkrichtung,abereinklarerZusam-menhang, wie eingeschränkte Diskurskompetenzen der Lernenden (und mangelnde inter-aktiveUnterstützungderLehrkraft)miteingeschränktenfachlichenLerngelegenheitenein-hergehenkönnen.DiskurskompetenzinallendreiFacetten(Kontextualisierung,Vertextungund Markierung) ist erforderlich, um an kognitiv anspruchsvollen mathematischen Unter-richtsdiskursenproduktivteilzuhaben.BeiderAnalysederunterrichtlichenTeilhabekommtesnichtalleinaufdieAnzahlderBeiträgean, sondernaufderenepistemischenunddamitfachlichenGehalt.WährendindenmeistenKlassenzimmernirgendeinBeitraggeradeindenEröffnungssequenzen der Unterrichtseinheiten erlaubt und möglich ist, was zu einer ver-gleichsweise breiten Beteiligung aller Kinder führt, scheinen die kognitiv anspruchsvollenTeiledesUnterrichts an einehoheDiskurskompetenz gebunden.Hierbeteiligen sichdannoftnurnochwenigeKinder.

ÜberdiesekonkretenFallbeispielehinauszeigtsichmusterhaftauchinanderenKlassendasPhänomen,dassLernendeüberdenvonunsbeobachtetenZeitraumbestimmteepistemischeNischenbesetzen,diezuihrerDiskurskompetenzgutpassen,unddieseauchinihrenaktivenBeiträgennichtmehrverlassen.Nur seltenwerdenEinzelneproaktiv vonderLehrkraft inandererWeiseinvolviert.

Interessantist,dassselbstindieser(bzgl.SprachsensibilitätalsBest-Practice-Klasseausge-suchten)KlassedieKinder zwarkleinschrittigeUnterstützungerhalten, um ihrenDiskurs-beitragzuEndezuführen,seltenjedochherausgefordertwerden,sichinandereFormenderVertextungunddamitepistemischenFeldernzuversuchen(Erath,2016b;Heller&Morek,2015b).AufdieseWeisekannmangelndediskursiveFörderungauchfachlicheLerngelegen-heitenverhindern.

4. Diskussion

SprachkompetenzhängtengzusammenmitfachlichenLeistungen,diesgiltinsbesonderefürkognitivanspruchsvolleInhalte.WährenddieserstatistischeBefundbislanghauptsächlichinBezug aufWortschatz- undGrammatikkenntnisse näher untersuchtwurde, plädiert dieserBeitragfürdieAusweitungvonderWort-undSatzebeneaufdieDiskursebeneundzeigtihreBedeutsamkeit für die fachlichen Lerngelegenheiten gerade für kognitiv anspruchsvolleLerninhalte.

AuchwenndieFallzahlderqualitativenStudienochzukleinistfürbreitzugeneralisierendeAussagen,zeigendieAnalysendennochdasZusammenspielvon individuellerDiskurskom-petenz, Qualitäten der Teilhabe am Unterrichtsgespräch und den fachlichen Lerngelegen-heiteninverschiedenenepistemischenFeldern.

Die zusätzliche Beobachtung, dass auch in einer ausgewiesen sprachsensiblen Schule Ler-nendeseltenausihrenjeweiligenNischenherausgeholtwerden,gibtersteHinweisedarauf,dassdieGestaltungdiskursiverLerngelegenheitennochAusbaumöglichkeitenhat.WeitereAnalysen werden die Einsichten in die Rolle der diskursiven Praktiken als Lernmedium,Lernvoraussetzungund(bislangzuwenig)Lerngegenstandweitervertiefen.

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