Beihilfe zum Suizid: grundsätzliche Überlegungen, rechtliche Regulierung und Detailprobleme

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Ethik Med (2000) 12:262–268 Beihilfe zum Suizid: grundsätzliche Überlegungen, rechtliche Regulierung und Detailprobleme Alberto Bondolfi Mit diesem Beitrag möchte ich auf den Aufsatz von Marcel Bahro und J. Strnad reagieren und zugleich einige Elemente der neueren Sterbehilfediskussion dis- kutieren, so wie sie sich in der Schweiz manifestiert haben (vgl. vor allem [5]). Die Perspektive, aus der ich die Argumente und Gegenargumente problematisie- ren werde, ist sowohl die des Fachethikers mit prinzipieller Reflexion und Argu- mentation, als auch die eines aktiven Bürgers mit der Möglichkeit, an den Arbeiten einer Fachkommission des schweizerischen Justizdepartementes und somit auch an ersten Verrechtlichungsversuche in diesem spezifischen Bereich teilzunehmen. Diese Tätigkeit verlangte und verlangt ebenso eine klare Sensibi- lität für Grundsatzfragen als auch die Fähigkeit, Detailprobleme in einen größe- ren Kontext einbetten zu können. Da der Beitrag von Bahro und Strnad eine Detailproblematik behandelt, wird meine Auseinandersetzung mit ihm vor allem das rechte Verhältnis zwischen Teilproblemen und Gesamtperpektiven beleuch- ten und problematisieren. Die Tatsache, dass Ärzte und Ärztinnen vor allem mit Aktivitäten von Ster- behilfevereinigungen konfrontiert sind, macht die Auseinandersetzung umso komplexer, da an dieser Stelle sowohl prinzipielle Auseinandersetzungen als auch andere Arten von Konflikten, mitunter gesellschaftliche und berufliche, miteinander kollidieren. Es gilt also an dieser Stelle die Besonderheit einiger Probleme, wie eben die Beihilfe zum Suizid bei psychisch Kranken wahrzuneh- men, und gleichzeitig den Sinn für das Ganze nicht aus den Augen zu verlieren. Alles hat mit allem zu tun, aber dieses Ensemble von Beziehungen ist jedesmal neu zu entdecken und ethisch zu bewerten. 1. Zur Beihilfe zum Suizid Diese Modalität, mit der Sterbewilligen „geholfen“ wird, ist seit Jahren Gegen- stand akribischer Diskussionen, und dies aus der Perspektive verschiedener Dis- ziplinen und mit je verschiedenen Erkenntnisinteressen [vgl. 4]. Aus der Per- spektive der Ethik wird eine solche Beihilfe als eine qualifizierte Mitwirkung durch eine oder mehrere Personen wahrgenommen und entsprechend gedeutet und bewertet. Je nach normativer Orientierung werden Ethiker und Ethikerinnen PD Dr. theol. Alberto Bondolfi, Institut für Sozialethik, Universität Zürich, Zolliker Strasse 117, 8008 Zürich, Schweiz © Springer-Verlag 2000

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Ethik Med (2000) 12:262–268

Beihilfe zum Suizid:grundsätzliche Überlegungen,rechtliche Regulierung und DetailproblemeAlberto Bondolfi

Mit diesem Beitrag möchte ich auf den Aufsatz von Marcel Bahro und J. Strnadreagieren und zugleich einige Elemente der neueren Sterbehilfediskussion dis-kutieren, so wie sie sich in der Schweiz manifestiert haben (vgl. vor allem [5]).Die Perspektive, aus der ich die Argumente und Gegenargumente problematisie-ren werde, ist sowohl die des Fachethikers mit prinzipieller Reflexion und Argu-mentation, als auch die eines aktiven Bürgers mit der Möglichkeit, an denArbeiten einer Fachkommission des schweizerischen Justizdepartementes undsomit auch an ersten Verrechtlichungsversuche in diesem spezifischen Bereichteilzunehmen. Diese Tätigkeit verlangte und verlangt ebenso eine klare Sensibi-lität für Grundsatzfragen als auch die Fähigkeit, Detailprobleme in einen größe-ren Kontext einbetten zu können. Da der Beitrag von Bahro und Strnad eineDetailproblematik behandelt, wird meine Auseinandersetzung mit ihm vor allemdas rechte Verhältnis zwischen Teilproblemen und Gesamtperpektiven beleuch-ten und problematisieren.

Die Tatsache, dass Ärzte und Ärztinnen vor allem mit Aktivitäten von Ster-behilfevereinigungen konfrontiert sind, macht die Auseinandersetzung umsokomplexer, da an dieser Stelle sowohl prinzipielle Auseinandersetzungen alsauch andere Arten von Konflikten, mitunter gesellschaftliche und berufliche,miteinander kollidieren. Es gilt also an dieser Stelle die Besonderheit einigerProbleme, wie eben die Beihilfe zum Suizid bei psychisch Kranken wahrzuneh-men, und gleichzeitig den Sinn für das Ganze nicht aus den Augen zu verlieren.Alles hat mit allem zu tun, aber dieses Ensemble von Beziehungen ist jedesmalneu zu entdecken und ethisch zu bewerten.

1. Zur Beihilfe zum Suizid

Diese Modalität, mit der Sterbewilligen „geholfen“ wird, ist seit Jahren Gegen-stand akribischer Diskussionen, und dies aus der Perspektive verschiedener Dis-ziplinen und mit je verschiedenen Erkenntnisinteressen [vgl. 4]. Aus der Per-spektive der Ethik wird eine solche Beihilfe als eine qualifizierte Mitwirkungdurch eine oder mehrere Personen wahrgenommen und entsprechend gedeutetund bewertet. Je nach normativer Orientierung werden Ethiker und Ethikerinnen

PD Dr. theol. Alberto Bondolfi, Institut für Sozialethik, Universität Zürich, Zolliker Strasse 117,8008 Zürich, Schweiz

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diese Beihilfe entsprechend unterschiedlich moralisch qualifizieren, dabei aberdie moralische Qualifikation selbst dieser Mitwirkung nicht verkennen. Auchunter den Aktivisten der entsprechenden Sterbehilfevereinigungen wird heuteselten die Meinung vertreten, sie vermittelten nur Medikamente bzw. „Gift“,ohne die Folgen der Einnahme moralisch verantworten zu wollen.

Dies war aber in den vergangenen Jahren nicht immer der Fall. Man ver-suchte oft bei Organisationen wie etwa Exit die Beihilfe zum Suizid als einevollständig dem Suizidenten zuschreibbare Handlung anzusehen, bei der diehelfende Person nur die Bereitstellung der dazu notwendigen Mittel organisierteund sich kaum moralisch mitverantwortlich für die Vollziehehung der Tötungfühlen sollte. Eine solche Einteilung der jeweiligen Verantwortungen scheintmir problematisch.

In der Tat macht sich diejenige Person, welche dem Suizidenten hier „hilft“,entweder die Motive und die Argumente desselben zu eigen, oder sie meint, dieautonom gefallene Entscheidung eines Suizidenten sei im Prinzip immer zurespektieren und unter Umständen auch zu unterstützen. Beide Argumentations-figuren schränken meiner Meinung nach die moralische Verantwortung des Hel-fers oder der Helferin im Moment seiner oder ihrer Mitwirkung ein und bagatel-lisieren somit den ganzen Sachverhalt. In der Tat ist die Bereitsstellung der not-wendigen Mittel zu einer solch extremen Handlung nur denkbar, wenn manauch bereit ist, sich der Bedeutung und Bewertung dieser Handlung zu stellen.

Die Probleme, die Bahro und Strnad in ihrem Beitrag erwähnen, sollendaher in getrennten Schritten diskutiert werden. Es geht zum ersten darum, dieBeihilfe zum Suizid als solche ethisch zu bewerten, zum zweiten sich dann spä-ter die Frage zu stellen, ob Suizidenten, welche psychisch krank sind, als „freieSubjekte“ betrachtet werden können und dürfen, und schließlich wie ein weltan-schaulich neutraler aber ethisch nicht wertfrei handelnder Staat auf solche Pro-bleme mit rechtlichen Mitteln reagieren sollte.

Was die prinzipielle Bewertung der Beihilfe zum Suizid angeht, muss mananerkennen, dass diese Bewertung auch von der prinzipiellen ethischen Bewer-tung des Suizids an sich abhängt (für eine erste Einführung in diese Problematikvgl. [3]). Da diese in letzter Zeit nicht mehr eindeutig ausgefallen ist, geriet dieverbreitete Missbilligung der Beihilfe dazu auch ins Wanken. Es ist nicht mehrso selbstverständlich, dass eine solche Beihilfe zu missbilligen ist, da die Selbst-tötung als solche auch moralisch nicht immer als unakzeptabel gilt. Entspre-chend werden heute nuanciertere Urteile gefällt. Man entzieht sich in der Regeleiner prinzipiellen Bewertung des Suizids, wohlwissend, dass eine solcheBewertung mit vielen Problemen und Schwierigkeiten behaftet ist, und man be-schränkt sich darauf, nur eine Pflicht zur Suizidvermeidung durch Angehörigeund Pflegende zu postulieren. Auch diese Pflicht wird nicht als absolut wahr-genommen (vgl. [3]), sondern als in der Regel gültig.

Ohne hier sofort die einzelnen argumentativen Schritte einschätzen zu wol-len, kann man zunächst beobachten, wie die Beurteilung des Suizids und derBeihilfe dazu entkoppelt werden. Diese Entkoppelung wiederum erlaubt eineKonzentration auf innerpsychiatrische Argumentationsfiguren, welche eine„wissenschaflichere“ und „weltanschaulich neutralere“ Einschätzung der ganzenProblematik ermöglichen sollen. Eine solche Argumentationsstrategie ist auchim Beitrag von Marcel Bahro und Jindrich Strnad zu beobachten.

Was ist davon zu halten? Ohne mich vorschnell dazu äussern zu wollen,möchte ich vorläufig festhalten, dass eine solche partielle Bewertung der Beihilfe,

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so wie sie im Einzelfall der Patientin der Berner Klinik erwähnt wird, der Kom-plexität des Sachverhaltes als solchem nicht genügend gerecht wird. Die Auto-ren möchten die geleistete Beihilfe hinterfragen (und da bin ich durchaus dergleichen Meinung), dabei aber zugleich behaupten, dass „der Suizidwunsch alslabil, abhängig von äusseren Faktoren und somit beeinflussbar wird“.

Die Aussagen, welche hier von kompetenten Kliniker gemacht werden,müssen in ihrem Kontext gesehen und interpretiert werden. Es stimmt auf derEbene der klinischen Empirie sicherlich, dass suizidale Handlungen beeinfluss-bar sind. Es stimmt auch, dass (immer in der genannten Perspektive) solcheHandlungen als Ausdruck der psychischen Pathologie betrachtet werden kön-nen.

Dies alles impliziert aber nicht, dass Suizidenten per definitionem als „hete-ronom“ gesteurte Menschen gelten sollten und insofern kaum in der Lagewären, den Sinn ihrer suizidalen Tendenzen und Wünsche nachzuvollziehen.Eine solche Einschätzung gilt umso mehr für Suizidenten, welche ausserhalbeiner psychiatrischen Anstalt leben. Bedenkt man, dass die Aussagen Bahrosund Strnads vor allem der stationären Psychiatrie gelten, kann man auch ihrPlädoyer eher nachvollziehen.

In der Tat soll eine ethische Betrachtung der Hilfe zum Suizid im Kontextpsychiatrischer Institutionen vor allem die Bedeutung der Institution für dieAutonomie der dort lebenden Patienten und Patientinnen im Visier haben. Sta-tionäre Patienten und Patientinnen bleiben in der psychiatrischen Institution,weil sie eben nicht in der Lage sind oder zumindest sein sollten, ihr Leben auto-nom zu gestalten, und dies aufgrund ihrer psychischen Erkrankung. Wenn diesePrämisse stimmt, dann kann ich ohne weiteres begreifen, dass die erste morali-sche und rechtliche Pflicht der psychiatrischen Institution die Bewahrung desLebens der Patienten und Patientinnen ist, und dass die Prävention suizidalerHandlungen den Vorrang vor den subjektiv geäußerten suizidalen Wünsche der-selben hat.

Diese Perspektive ist aber zugleich partiell, und dies in verschiedener Hin-sicht. Die Priorität, welche der Suizidprävention gegeben werden muss, impli-ziert noch nicht, dass man die Freiheit der psychiatrischen Patienten und Patien-tinnen so weit einschränken darf, bis die Rate der suizidalen Handlungen ten-denziell auf Null gehen kann. Eine solche psychiatrisch-therapeutische Verbis-senheit (so übersetze ich den in der Euthanasiedebatte recht bekannten französi-schen Sprachausdruck von „acharnement thérapeutique“) wäre, in ethischerPerspektive, nicht leicht zu begründen. Wenn die Notwendigkeit der Präventiondie Freiheit der Patienten und Patientinnen so stark einschränkte, dass sie sichals vollständig unterjocht verstehen würden, dann wäre eine solche Prävention,aus der Perspektive der Ethik, nicht mehr Ausdruck eines therapeutischen„Wohlwollens“.

Darüber hinaus muss man bemerken, dass es auch psychisch beeinträchtigteMenschen gibt, die nicht unbedingt in einer psychiatrischen Institution behan-delt werden und eine suizidäre Absicht manifestieren. Ein solcher Wille darfmeiner Meinung nach weder vorschnell pathologisiert, noch ebenso vorschnellbagatellisiert werden, indem dieser Wille entweder als eine krankhafte Äusse-rung betrachtet wird, welche es nur zu bekämpfen gilt oder als „natürliche Ma-nifestation der Autonomie“ dieser Person verstanden wird. In die erste Gefahrkönnen unter Umständen einige Vertreter oder Vertreterinnen der Psychiatriefallen, in die zweite hingegen scheinen vor allem Vertreter bzw. Vertreterinnen

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einiger Sterbehilfeorganisationen gefallen zu sein. Dies ist der polemische Kon-text der neueren Diskussion, die in der Schweiz entflammt ist. Die eine Seitewirft Organisationen wie Exit etwa vor, unprofessionell und psychisch krankenMenschen gegenüber uneverantwortlich zu handeln. Die andere Seite machthingegen pauschal der Psychiatrie den Vorwurf, sich „patientenunfreundlich“zu verhalten.

Um diese Polemik zu entschärfen, bedarf es eines größeren Differenzie-rungsvermögens auf beiden Seiten der hitzigen Auseinandersetzung. Vor allemsollten empirische und normative Fragen exakter als dies bisher getrennt ange-gangen werden, um sie dann doch in einem umfassenden Horizont zu beant-worten.

2. Handeln Suizidenten „autonom“?

Eine erste Frage, nämlich ob Suizidenten eine autonome Einsicht in ihre Selbst-tötungsabsichten und –wünsche haben können oder nicht, soll nicht von Ethikernbeantwortet werden. Der empirische Befund (vgl. die in [3] erwähnten Autoren)ist meines Wissens immer noch nicht eindeutig genug, um daraus indirektnormative Schlussfolgerungen ableiten zu können.

Eine Unterscheidung scheint aber an dieser Stelle zumindest heuristischhilfreich zu sein. Es handelt sich um die klassische Einteilung der Psychopatho-logie in Fälle der psychotischen bzw. der neurotischen Störung.

Im ersten Fall muss man, zumindest in den schwerwiegenden Fällen, voneiner verzerrten Wirklichkeitswahrnehmung bei Patient oder Patientin ausgehen.Diese Verzerrung mit den dazugehörenden Pulsionen und Wünschen kann soweit gehen, dass bei diesen Patienten mit guten Gründen vom Fehlen einermoralischen Verantwortung geredet werden kann. Stimmt diese Prämisse (ichmaße mir als Nichtfachmann kein definitives Urteil an), dann ist es evident, dassAngehörige sowie die Fachkräfte der Psychiatrie, die moralische Pflicht haben,advokatorisch also stellvertretend für die psychisch kranke Person, diejenigeEntscheidungen zu treffen, welche zu Gunsten derselben notwendig sind. EineSuizidvermeidung kann und soll ohne weiteres zu solchen advokatorischenHandlungen gehören.

Offen bleibt an dieser Stelle nur die Frage, wie intensiv eventuell auch phy-sischer Zwang ausgeübt werden darf, um derartige suizidale Handlungen durchdie psychisch kranke Person zu vermeiden. Meiner Meinung nach darf ein sol-cher Zwang nur punktuell angewendet werden, nicht aber dauerhaft das Lebendes psychisch Kranken beeinträchtigen. Wenn eine Suizidgefahr ständig besteht,sehe ich nicht, weshalb eine Person, auch wenn sie psychotisch krank ist, eben-so ständig zur Bannung der Gefahr in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschänktwerden muss. Die Gefahr eines Suizids sollte auch in Kauf genommen werdendürfen, um dem Patienten oder der Patientin eine minimale Freiheit ermöglichenzu können.

Anders stellt sich das Problem bei neurotisch kranken Menschen dar, vorallem bei Depressiven. Obwohl das subjektiv empfundene Leiden ohne weiteresgleich groß sein kann wie bei anderen Erkrankten oder sogar bei Gesunden,kann man nicht behaupten, solche Menschen wüssten nicht, was sie tun, wennsie sich das Leben nehmen wollen. Mit dieser Aussage möchte ich nicht denWillen einer depressiven mit demjenigen einer „gesunden“ (was immer das hei-

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ßen mag) Person gleichsetzen. Deprimierte Menschen sind auch in ihrem Willenambivalenter und unentschiedener. Diese Feststellung impliziert aber nicht, dassman sie vorschnell alle als urteils- und entscheidungsinkompetent einstufenmuss.

Aus dieser Perspektive verdienen ihre Suizidwünsche – und schlimmsten-falls auch ihre Suizidentscheidungen – eine differenzierte Einschätzung. Auchhier gilt es in erster Linie, zu differenzieren zwischen Patienten und Patientin-nen, welche in einer psychiatrischen Institution stationär behandelt werden undsolchen, die ein Privatleben ausserhalb von medizinischen Institutionen führen.Für die Ersten gelten analog die gleichen Überlegungen, welche ich für die psy-chotisch kranken Menschen gemacht habe. Nur ist die Advokatorik hier entspre-chend „schwächer“, da man von der Voraussetzung ausgehen muss, dass diesePatienten und Patientinnen wissen, was sie tun. Die Hilfe und Unterstützung istalso ohne weiteres angebracht, der Zwang aber wesentlich geringer. Die medi-kamentöse Behandlung der Depression kann allein nicht als „Zwang“ betrachtetwerden, wobei allerdings eine Beschänkung auf eine maximale und nicht opti-male chemische Behandlung als eine Form von Zwang interpretiert werdenkann.

Depressive Menschen, die nicht in psychiatrischen Institutionen behandeltwerden, haben dennoch Anspruch auf eine angemessene Behandlung ihrerKrankheit. Handeln nun Vertreter und Vertreterinnen von Sterbehilfeorganisatio-nen unmoralisch, wenn sie den Suizidwünschen solcher Personen nachgehenund nachgeben?

Ich muss zugeben, dass ich hier relativ ratlos bin. Eines steht zumindest fest:depressive Menschen sind keine Moribunden, und ihr Todeswunsch kann nichtmit demjenigen eines Moribunden verglichen werden, und dies sowohl in fakti-scher als auch in ethischer Perspektive. Die Depression ist in der Tat eine heil-bare und reversible Krankheit, während der- oder diejenige in einer terminalenPhase nicht heilbar und in einem irreversiblen Zustand ist. Die erste moralischePflicht ist es, und dies nicht nur für Ärzte und Ärztinnen, einen kranken Men-schen, wenn immer möglich, zu betreuen, zu behandeln und zu heilen. Es istalso schwierig, auch bei Depressiven, den Tod als eine „rationale Option“ zu be-trachten. Diese Menschen müssen nicht im Namen der Suizidprävention demZwang, umgekehrt aber auch nicht im Namen eines verkürzten Autonomie-verständnisses dem Suizid ausgeliefert oder zum Suizid ermuntert werden.

Worin die Mitte zwischen Zwang und Ermunterung besteht, ist alles andereals leicht zu bestimmen. Die Bedeutung dieser extremen Handlung ist vielleichtnur den Betroffenen zugänglich. Diejenigen, die hier am Leben bleiben, könnendarüber nur schweigen. Weder der militante Applaus mancher Vertreter und Ver-treterinnen der besagten Organisationen, noch die Selbstkulpabilisierung man-cher Angehörigen oder des medizinischen und paramedizinischen Personalsscheinen der Tragik eines Suizids angemessen zu sein.

3. Zu angemessenen rechtlichen Regulierungen

Wenn die Ethik an dieser Stelle schweigt, so ist die Reaktion des Rechts nochhilfsloser. Bahro und Strnad stellen ihre Überlegungen in den helvetischen Kon-text, der sich für unsere Problematik nicht restlos mit demjenigen Deutschlandsund noch weniger mit demjenigen Österrreichs deckt. Es ist für mich ohne wei-

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teres nachvollziehbar, dass die strafrechtliche Regelung der Sterbehilfe in derSchweiz viele Probleme für Kliniker offen lässt, oder zumindest nicht dazu ten-diert, ihre spezifischen Probleme ernst zu nehmen. Die Problematik, welche in derhier abgedruckten Stellungnahme behandelt wird, ist eine besondere Variante derHilfe zum Suizid, die im SStG im Art. 115 behandelt wird. Im Wortlaut heißt es:

„Wer aus selbstsüchtigen Beweggründen jemanden zum Selbstmord verleitetoder ihm dazu Hilfe leistet, wird, wenn der Selbstmord ausgeführt oder versuchtwurde, mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit Gefängnis bestraft.“

Die Hilfe, welche sowohl Angehörige, Freunde oder Vertreter der genannten In-stitutionen bei psychisch Kranken leisten würden, gilt nicht als „selbstsüchtig“,weil keine besonderen Vorteile aus einer solchen Beihilfe zu gewinnen sind.Dies erklärt die bisherige Straffreiheit, die bis jetzt in solchen Situationen in derSchweiz geherrscht hat. Ich bin mir nicht so sicher, dass bei einer eventuellenkünftigen Anklage durch Untersuchungsbehörden oder durch andere Personenin Situationen der Beihilfe zum Suizid bei psychisch kranken Menschen dieserAnklage nicht Folge geleistet wird. Dies ist aber eine faktische Frage, die nichtunbedingt von einem Ethiker behandelt werden sollte.

Die normative Frage, ob es aus sozialethischen Gründen opportun oder so-gar notwendig ist, die aktuelle Version des Art. 115 SStG zu revidieren, bleibtoffen. Die bereits erwähnte Arbeitsgruppe des Justizdepartementes hat für dieBeibehaltung der jetzigen Version plädiert, und dies meiner Meinung nach, mitguten Gründen.

Es geht hier nicht so sehr um eine prinzipielle moralische Bewertung derBeihilfe zum Suizid, sondern um eine Regulierung, welche diese Handlung un-ter vordefinierten Umständen (es dürfen keine Vorteile für den Täter oder Täte-rin entstehen) entschuldigt, ohne sie zu rechtfertigen, oder ohne sogar darauseinen Rechtsanspruch ableiten zu wollen (zur Unterscheidung zwischen Recht-fertigung und Entschuldigung im Strafrecht vgl. [3]). Die besondere Situationder Suizidenten, welche zugleich psychisch krank sind, wird nicht im Detailreguliert, und man kann sich fragen, ob eine solche spezifische Erwähnungmehr Vorteile bzw. mehr Nachteile mit sich brächte. Es sind hier Vor- und Nach-teile festzuhalten, sowohl für die betroffenen Personen als auch für die Gesamt-gesellschaft in ihrer moralischen Integrität.

Mit Blick auf die betroffenen Personen kann man anmerken, dass die(Re)kriminalisierung der Beihilfe zu einem größerem Zwang im Bereich derPsychiatrie bei allen Suizidgefährdeten führen könnte, was sicherlich nicht imSinne einer Humanisierung der Psychiatrie wäre und insofern in ethischer Hin-sicht nicht leicht zu begründen.

Man kann auch nicht behaupten, die jetzige Version des Art. 115 habe zueiner gesamtgesellschaftlichen Indifferenz psychisch Kranken und Suizidwilli-gen gegenüber geführt, und sei insofern abzuschaffen oder zu revidieren. Dievon Bahro und Strnad erwähnten Fälle sind als Episoden einzustufen, die sicher-lich nicht begrüssenswert, aber auch nicht Anlass für eine rechtliche Reformu-lierung des Art. 115 sind. Ich bin mit den genannten Autoren einig, im Suizidüberhaupt keine Handlung zu sehen, die als « ein Recht » postuliert werdenkönnte. Ich distanziere mich aber immer von Autoren, die grundsätzlich für eineverschärfte Verrechtlichung dieses Problems eintreten.

Die ethische Reflexion über die Aufgaben der Allgemeinheit in diesem spe-zifischen Bereich der Psychiatrie im Zusammenhang mit dem Suizid liegt zum

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Teil noch vor uns. Man sollte diese Materie also nicht vorschnell verrechtlichenwollen. In der Schweiz soll Anfang nächsten Jahres eine Nationalethikkommis-sion für Probleme der Humanmedizin ihre Arbeit aufnehmen. In solchen Gremi-en, welche zwar in der Nähe des Rechtes und der Politik stehen, zugleich aberautonom über diese Probleme nachdenken, ist der ideale Ort für eine angemes-sen Reflexion gefunden worden. Möge ein solches Gremium Wege der gutenklinischen Praxis und der angemessenen rechtlichen Regulierung empfehlen undentsprechend begründen können.

Literatur

1. Baertschi B (1999) Respect de l’autonomie et bienfaisance : la médecine face au suicide.Folia Bioethica, Genève

2. Bondolfi A (1999) Zur rechtlichen Stellung der Sterbehilfeaus ethischer Sicht. In: BondolfiA, Münk HJ (Hrsg) Theologische Ethik heute. Festschrift für Hans Halter. NZN Buch-verlag, Zürich, S 245–265

3. Holderegger A (1980) Suizid und Suizidgefährdung. Humanwissenschaftliche Ergebnisseund anthropologische Grundlagen. Herder (Studien zur theologischen Ethik 5) Freiburg i. Ue., Freiburg i. Br.

4. Holderegger A (Hrsg) (1999) Das medizinische assistierte Sterben. Zur Sterbehilfe ausmedizinischer, ethischer, juristischer und theologischer Sicht. Herder (Studien zur theolo-gischen Ethik 80) Freiburg i. Ue., Freiburg i. Br.

5. Sterbehilfe. Bericht der Arbeitsgruppe an das Eidgen. Justiz- und Polizeidepartement.Justiz und Polizeidepartement, Bern 1999

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