BERICHT VOM 20. EXPERTENTREFFEN „PRO UND CONTRA“ · Komplettabbau der Vergleichswirkstoffe...

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BERICHT VOM 20. EXPERTENTREFFEN „PRO UND CONTRA“ Austauschbarkeit von Arzneimitteln mit komplex zusammengesetzten Wirkstoffen (Non-biological complex drugs, NBCD) Der Begriff „Non-biological complex drugs“ (NBCDs) war bis vor wenigen Jahren unbekannt. In der wissenschaftlichen Literatur taucht er erstmals im Jahr 2011 auf 1 , als Resultat eines 2009 im niederländischen Leiden abgehaltenen Workshops, bei dem diese Klasse von Arzneimitteln identifiziert und anerkannt worden war. Die Autoren dieses Artikels ordnen die NBCDs wie auch die Biologika den nicht vollständig charakterisierten komplexen Arzneiprodukten mit hohem Molekulargewicht zu, die sie den vollständig charakterisierten Arzneiprodukten aus kleinen Molekülen gegenüberstellen (Abb.1) 2 . Zur Unterscheidung von den Biologika heben sie aber hervor, dass NBCDs – selbst wenn sie manchmal noch komplexer als Biologika sind – keine Proteine und nicht biotechnologisch in lebenden Organismen hergestellt worden sind. Entsprechend divers sind die Arzneimittelgruppen, die der Wirkstoffklasse der NBCDs zugeordnet werden. Sie umfassen zum Beispiel liposomale Parenteralia wie Doxorubicin, Heparine, Eisen-Sucrose-Komplexe, Nanokristalle, Eisencarboxymaltose und Glatirameracetat. Vgl. Schellekens H, Klinger E, Mühlenbach S, Brin JF, Storm G, Crommelin DJ. The therapeutic equivalence of complex drugs. Regul Toxicol Pharmacol. 2011;59(1):176-83. 1 Schellekens H, Klinger E, Mühlenbach S, Brin JF, Storm G, Crommelin DJ. The therapeutic equivalence of complex drugs. Regul Toxicol Pharmacol. 2011;59(1):176-83. 2 aus : de Vlieger JSB: Non-Biological Complex Durgs (NBCDS) and their follow-on versions: time for an editorial section. GaBI online 2 Nov 2015

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BERICHT VOM 20. EXPERTENTREFFEN „PRO UND CONTRA“

Austauschbarkeit von Arzneimitteln mit komplex zusammengesetzten Wirkstoffen

(Non-biological complex drugs, NBCD)

Der Begriff „Non-biological complex drugs“ (NBCDs) war bis vor wenigen Jahren

unbekannt. In der wissenschaftlichen Literatur taucht er erstmals im Jahr 2011 auf1, als

Resultat eines 2009 im niederländischen Leiden abgehaltenen Workshops, bei dem

diese Klasse von Arzneimitteln identifiziert und anerkannt worden war. Die Autoren

dieses Artikels ordnen die NBCDs wie auch die Biologika den nicht vollständig

charakterisierten komplexen Arzneiprodukten mit hohem Molekulargewicht zu, die sie

den vollständig charakterisierten Arzneiprodukten aus kleinen Molekülen

gegenüberstellen (Abb.1)2. Zur Unterscheidung von den Biologika heben sie aber

hervor, dass NBCDs – selbst wenn sie manchmal noch komplexer als Biologika sind –

keine Proteine und nicht biotechnologisch in lebenden Organismen hergestellt worden

sind. Entsprechend divers sind die Arzneimittelgruppen, die der Wirkstoffklasse der

NBCDs zugeordnet werden. Sie umfassen zum Beispiel liposomale Parenteralia wie

Doxorubicin, Heparine, Eisen-Sucrose-Komplexe, Nanokristalle, Eisencarboxymaltose

und Glatirameracetat.

Vgl. Schellekens H, Klinger E, Mühlenbach S, Brin JF, Storm G, Crommelin DJ. The therapeutic equivalence of

complex drugs. Regul Toxicol Pharmacol. 2011;59(1):176-83.

1 Schellekens H, Klinger E, Mühlenbach S, Brin JF, Storm G, Crommelin DJ. The therapeutic equivalence of

complex drugs. Regul Toxicol Pharmacol. 2011;59(1):176-83.

2 aus : de Vlieger JSB: Non-Biological Complex Durgs (NBCDS) and their follow-on versions: time for an editorial

section. GaBI online 2 Nov 2015

Bericht vom 20. Expertentreffen „Pro und Contra“

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Aus der bemerkenswerten Stellung der NBCDs zwischen kleinen Molekülen und

Biologika ergibt sich für die pharmazeutische und medizinische Praxis ein zentrales

Problem:

Wie ähnlich sind NBCD-Nachfolgeprodukte im Vergleich zu ihren Originatoren?

Aus dieser Problemstellung leiten sich im Wesentlichen drei Fragen ab:

Nach welchen Kriterien bzw. Guidelines sollen NBCD-Nachfolgeprodukte

zugelassen werden?

Können sie als therapeutische Alternative gelten?

Sind sie als zugelassene Arzneimittel mit den Originator-Präparaten

austauschbar?

Das 20. Expertentreffen „Pro und Contra“, das erstmals von der Deutschen

Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG) in Kooperation mit dem House of Pharma &

Healthcare auf dem Campus Westend der Goethe Universität Frankfurt durchgeführt

wurde, widmete sich am 8. September 2016 in der über viele Jahre bewährten

Moderation durch Henning Blume (SocraTec C&S, Oberursel) unter dem Titel

„Austauschbarkeit von Arzneimitteln mit komplex zusammengesetzten Wirkstoffen“

zwar vor allem der dritten dieser Fragen, nahm als Voraussetzung für deren Diskussion

in einer umfassenden Perspektive aber auch die beiden anderen Fragen in den Blick.

Beispielhaft stellte das Round-Table-Gespräch die zwei Wirkstoffklassen der

niedermolekularen Heparine und des Glatirameracetats auf den Prüfstand. Zur Debatte

standen ihr Herstellungsprozess, ihre analytische Charakterisierung, ihre

Pharmakokinetik, ihr klinisch-therapeutisches Profil und die für sie geltenden

Anforderungen der Zulassungsbehörden.

Die Einordnung der niedermolekularen Heparine (low molecular weight heparins =

LMWH) in die Gruppe des NBCDs wurde angesichts ihres biologischen Ursprungs aus

Schweinemucosa von Susanne Alban (Universität Kiel) kritisch kommentiert. Allerdings

soll der international eingeführte Name NBCDs diese Arzneimittel von den

biotechnologisch hergestellten Produkten ("Biologicals") abgrenzen. Dennoch machte

Henrike Potthast (BfArM, Bonn) darauf aufmerksam, dass LMWH aus Sicht der

europäischen Zulassungsbehörde EMA als Biosimilars behandelt werden, was aus einem

Bericht vom 20. Expertentreffen „Pro und Contra“

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produktspezifischen Concept Paper der EMA eindeutig hervorgeht. Die amerikanische

Zulassungsbehörde FDA stuft LMWH dagegen nicht als Biologika ein. Sie erteilte

dementsprechend bereits 2010 auf dem Weg des Verfahrens einer bezugnehmenden

Zulassung von Generika einem Nachahmerpräparat von Enoxaparin ohne Vorlage von

klinischen Sicherheits- und Wirksamkeitsdaten die Zulassung.

Henning Blume wies als deren Co-Autor in seiner Einführung auf die im Februar 2014

veröffentlichte revidierte Fassung der Leitlinie „Gute Substitutionspraxis“ der DPhG hin,

deren 6. Kapitel eindeutig zu NBCDs Stellung nimmt: „Wegen der molekularen

Komplexität dieser recht neuen Wirkstoffklasse rät die DPhG von einer Substitution ab.“

In Bezug auf die Nachahmerprodukte von dem NBCD Copaxone® mit dem Wirkstoff

Glatirameracetat zur Behandlung der Multiplen Sklerose war dieser Rat damals noch

verfrüht. Das Patent für Copaxone® lief zuerst in den USA im Mai 2014 aus, das erste

von der FDA zugelassene Nachahmerpräparat Glatopa kam dort im Juni 2015 auf den

Markt. Inzwischen hat auch die EMA in einem dezentralisierten Zulassungsverfahren

ebenfalls ein Nachahmerpräparat mit dem Wirkstoff Glatirameracetat zugelassen. In

Deutschland soll es, wie Blume zitierte, gemäß einer Ankündigung vom 1. September

2016 demnächst auf den Markt kommen. Das Problem der Austauschbarkeit dieses

NBCDs wird sich also nun tatsächlich auch hierzulande zeitnah in der therapeutischen

Praxis stellen, sagte Blume. Die betroffenen Patienten, Ärzte und Apotheker seien

besorgt darüber, dass die Kostenträger auch in diesem Fall „in einer Substitution bis zum

Beweis des Gegenteils kein Problem sehen“. Es sei deshalb besonders bedauerlich, dass

kein Vertreter der Kostenträger der Einladung zu diesem Expertentreffen gefolgt sei, um

sich der Diskussion zu stellen und ihre Position zu verteidigen. Auch Vertreter der

Hersteller von Nachahmerprodukten nahmen an dem Treffen nicht teil.

Herstellung: The product is the process

Dass der Herstellungsprozess das Produkt bestimmt, gilt für LMWH und

Glatirameracetat (GA) genauso wie für Biologika, wenngleich beide Wirkstoffklassen

völlig verschieden sind, die eine (LMWH) nicht klar charakterisierten biologischen

Ursprungs, die andere (GA) aus klar definierten Ausgangssubstanzen chemisch

synthetisiert.

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Joachim Burschäpers (sanofi, Frankfurt) betonte, dass jedes einzelne LMWH-Produkt

einen „einzigartigen biologischen Fingerabdruck“ habe. Unfraktioniertes Heparin, das

infolge der BSE-Krise nur noch aus der Darmmucosa von Schweinen gewonnen werden

darf, ist ein Polysaccharid aus Glykosaminoglykanen. Zur Herstellung von LMWH wird es

mit chemischen oder enzymatischen Verfahren aufgespalten, also depolymerisiert. Je

nach Depolymerisationsmethode und Prozessführung (Temperatur, pH-Wert)

entstehen unterschiedliche Produkte mit unterschiedlichen biochemischen

Eigenschaften. Wichtigen Einfluss haben auch andere Prozessparameter, wie die

Mischungsreihenfolge und Reaktionstechnik. Die LMWH sind also keine einheitliche

Stoffklasse. Jedes Herstellungsverfahren führt letztlich zu einem ganz spezifischen

Produkt.

Glatirameracetat sei entgegen seines vertrauten Klangs beileibe kein einfaches Salz

eines kleinen Moleküls, sagte Manfred Schubert-Zsilavecz (House of Pharma &

Healthcare, Frankfurt). Es handele sich vielmehr um eine komplexe Mischung aus

zahllosen Peptiden, die in einem fein gesteuerten chemischen Prozess aus den vier in

einem bestimmten Verhältnis zugegebenen Aminosäuren Alanin, Glutaminsäure, Lysin

und Tyrosin copolymerisiert werden. Das als Arzneimittel wirkende Gemisch könne bis

zu einer Million verschiedener Polypeptide enthalten. Es ähnelt Bestandteilen der

Myelinscheiden von Nervenfasern. Das erkläre wohl auch die Entwicklungshistorie des

Präparates. Denn diese Peptidsequenzen seien ursprünglich entwickelt worden, „um in

einem Tiermodell die Erkrankung zu erzeugen, die heute damit behandelt wird“. Der

Herstellungsprozess sei so komplex, dass man ihn nicht ohne weiteres kopieren könne.

„Wie sorgen die Hersteller dafür, dass Wirkstoffcharge für Wirkstoffcharge konstant

bleibt?“, fragte Henning Blume. „Ist es nicht so, dass die Kriterien des

Herstellungsprozesses um so strenger festgelegt und überprüft werden müssen, je

komplexer das Produkt ist?“

Für das LMWH Enoxaparin gebe es im Herstellungsprozess weit über 50 Kontrollpunkte,

„um sicherzustellen, dass es auch reproduzierbar das Enoxaparin ist, das wir haben

wollen“, sagte Burschäpers. Das sei ein sehr aufwändiger Prozess, der schon in den

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Schlachthöfen anfange und nach dem Heparin-Skandal des Jahres 2008 durch

zusätzliche Prüfpunkte verschärft worden sei. Damals hatten chinesische Zulieferer

eines amerikanischen Unternehmens in krimineller Absicht Heparin mit

übersulfatiertem Chondroitinsulfat (OSCS) verschnitten, eine allergene Verunreinigung,

die mit den zu dieser Zeit üblichen Qualitätskontrollen nicht nachweisbar war und

weltweit Hunderte von Todesopfern forderte.

„Was ist, wenn ich als Hersteller bei kritischen Prozessparametern außerhalb der

Spezifikation liege?“, fragte Blume. Der Originator könne das meist schnell erkennen

und gegensteuern, weil er den Prozess genau kenne; dem Nachahmer, der nach bestem

Wissen und Gewissen handelt, aber nicht jedes Detail kenne, falle das möglicherweise

schwerer, veranschaulichte Susanne Alban (Universität Kiel) am Beispiel der Epoxide,

die bei der LMWH-Produktion als unerwünschte hochreaktive Nebenprodukte

entstehen können. Unter welchen Umständen das geschehe, wisse ein Nachahmer oft

nicht genau. Er muss, wie Blume erinnerte, in einem reverse engineering zunächst das

Endprodukt charakterisieren und von dort aus den Herstellungsprozess rückwärts

aufzurollen, um ab initio zu beginnen.

Im Fall von Copaxone®, sagte Gerhard Tischler (Teva, Berlin), wisse man zwar, dass schon

„leichte Abänderungen des Produktionsprozesses Toxizitäten hervorrufen könnten“.

Wie der Produktionsprozess gesteuert und kontrolliert wird, um dies zu verhindern,

konnte er jedoch nicht sagen. Bedauerlicherweise konnte keiner der Wissenschaftler,

die an der Produktentwicklung von Copaxone® und der Etablierung von dessen

Herstellungsprozess beteiligt waren und somit aus erster Hand hätten Auskunft geben

können, an der Diskussion teilnehmen. So blieb auch die Frage ungeklärt, wieviele

Änderungen es im Herstellungsprozess im Lauf der letzten 20 Jahre gegeben habe.

Tischler betonte aber, dass man das Originalprodukt aus gutem Grund seit jeher nur an

einem Standort, nämlich in Israel, wo es entwickelt wurde, herstelle.

Wirkstoffcharakterisierung: Möglichkeiten und Grenzen

Gemäß der Rahmenmonographie des Europäischen Arzneibuchs sind LMWH mit einer

großen Variabilität bezüglich ihrer Anti-FaktorXa-Aktivität und ihres

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Molekulargewichtes definiert, betonte Susanne Alban (Universität Kiel). Die Faktor Xa-

Aktivität sei als analytischer Maßstab aber nur „eine Notlösung oder Krücke“. Man

behelfe sich dadurch mit einer Wertbestimmung statt einer Gehaltsbestimmung, man

messe in Einheiten statt in Gramm. „Wir glauben zu verstehen, was bei den LMWH wirkt,

wir wissen es aber nicht“. Die anti-Xa-Einheiten werden als Surrogatparameter

verwendet, sie seien aber eine „black box“ und repräsentierten letztlich nur 10 – 15 %

der LMWH-Aktivität, während der Rest nicht erfasst werde. Deshalb gebe es auch keine

Korrelation zwischen der anti-Xa-Aktivität und der Wirksamkeit und Sicherheit von

LMWH, wie der Heparinskandal belegt habe. Obwohl Heparin bereits vor 48 Jahren zum

ersten Mal mittels NMR analysiert worden sei und es besonders in den vergangenen

zehn Jahren große analytische Fortschritte gegeben habe, gelte bis heute: „no single

technique is adequate to identify all LMWH peculiarities“3. Selbst bei dem am besten

charakterisierten LMWH Enoxaparin sei die Molekülstruktur noch zu 30 % unbekannt.

Trotz der beachtlichen Erfolge in der Charakterisierung der chemischen Struktur könne

man also beim zugelassenen Generikum "m-Enoxaparin" allenfalls von einer

„pseudoexzellenten Übereinstimmung“ mit dem Originator sprechen und habe nur

spärliche Kenntnisse über pharmakologische Konsequenzen und klinische Relevanz

möglicher Abweichungen. Wenn der FDA für die Zulassung des Generikums limitierte

Surrogatparameter ausgereicht hätten, dann müsse man fragen: Widerspricht das dann

nicht dem precautionary principle, den Anforderungen der Pharmakovigilanz, und der

Tatsache, dass die Zulassungsbehörden bei neuen Arzneimitteln Surrogatparameter

ansonsten nur selten als Beleg der therapeutischen Wirksamkeit anerkennen?

Für die Zulassung des Glatirameracetat-Nachahmerproduktes Glatopa® hätten der FDA

die vergleichende Evaluation von vier Kriterien ausgereicht, erläuterte Michael

Lämmerhofer (Universität Tübingen): die Ausgangsmaterialien; die strukturellen

Signaturen für Polymerisation, Depolymerisation und Reinigung; die physikochemischen

Eigenschaften sowie die biologischen und immunologischen Eigenschaften.4 Wolle man

3 Guerrini M, Bisio A. Low-molecular-weight heparins: differential characterization/physicla characterization.

Handb Exp Pharmacol. 2012; 207; 127-57 4 Anderson J et al Demonstration of equivalence of a generic glatiramer acetate (Glatopa)

Journal of the Neurological Sciences 359 (2015) 24-34

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den Wirkstoff Glatirameracetat charakterisieren und mit einem ähnlichen oder einem

Nachahmer vergleichen, dann stünden einem drei Strategien zur Verfügung: der

Komplettabbau der Vergleichswirkstoffe durch Hydrolyse zum Nachweis, dass nur die

fraglichen vier Aminosäuren enthalten sind; die Untersuchung der intakten Wirkstoffe,

um deren durchschnittliches Molekulargewicht festzustellen und die Aufspaltung in

Fragmente, die es einem erlaube, Peptide zu analysieren. Letztere Strategie verspreche

am meisten Erfolg, denn in den Peptidsequenzen könnten sich am ehesten Unterschiede

verbergen. Lämmerhofer stellte ein beeindruckendes Arsenal modernster analytischer

Methoden vor, um molekulare Profile von Wirkstoffen wie Glatirameracetat zu

erstellen. „Besonders die mehrdimensionale Chromatographie wird immer wichtiger

werden.“ Man könne durch solche Methoden einen relativ klaren Eindruck davon

gewinnen, ob zwei Peptidgemische einander ähnlich seien. Sie seien aber sehr

aufwändig und man dürfe bezweifeln, ob sie für die Routineanalytik im Zuge der

Qualitätskontrolle eines vermarkteten Fertigarzneimittels geeignet seien.

„Manche Wissenschaftler auf diesem Gebiet träumen davon, dass eine

Qualitätskontrolle gar nicht mehr gebraucht werde, wenn es gelänge, den

Herstellungsprozess so präzise zu steuern, dass eine bestimmte Qualität des Produktes

dabei herauskommen muss“, gab Henning Blume zu bedenken. „Dann würde das

Produkt letztlich durch den Prozess charakterisiert werden und dies durch analytische

Verfahren unterstützt.“

Produktverhalten in vivo: Optionen der Pharmakokinetik

Seinen Überblick über die Möglichkeiten der pharmakokinetischen Untersuchung von

LMWH eröffnete Martin Lorenz (Sanofi, Frankfurt) mit einem Blick auf den bekannten

Teil ihres Wirkmechanismus: Sie verstärken die Wirkung des endogenen

Gerinnungshemmers Antithrombin III, der im Blut zirkuliert, bis zu 1000-fach. ATIII

wiederum wirkt über die Hemmung der Faktoren Xa und IIa (Thrombin) der

Blutgerinnungskaskade. Für die Bestimmung der Stärke dieser Hemmung gibt es einen

internationalen Standard, mit dessen Hilfe man das System eichen und folglich die

Aktivität eines unbekannten LMWH messen kann. Wichtig sei auch das Verhältnis von

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Xa/IIa-Inhibition. Für Enoxaparin liege es zwischen 3.3 und 5,3. Bei unfraktioniertem

Heparin betrage es dagegen 1:1, was womöglich die geringere Blutungsgefahr bei

Behandlung mit LMWH erkläre.

All diese Erkenntnisse dürften aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass LMWH einen

multifunktionellen Wirkmechanismus hätten. Sie besitzen Wirkbestandteile, die über

die ATIII-Aktivierung mit ihren Konsequenzen hinausgehe. So werde vermutet, dass der

tissue factor pathway inhibitor (TFPI) für 20 bis 30% der LMWH-Wirkungen

verantwortlich sei und sowohl die Blutgerinnung an initialer Stelle hemmen als auch

entzündungshemmende Effekte haben könne. Er werde bisher in die Charakterisierung

aber nicht einbezogen. Seine Sekretion sei aber signifikant unterschiedlich von

denjenigen Molekülen der LMWH, die wegen bestimmter Pentasaccharidsequenzen

über den ATIII-Pfad wirkten.

Nach heutigem Wissensstand sei also nur eine indirekte Bestimmung der

Pharmakokinetik der LMWH über Surrogatparameter möglich. „Aber je nachdem,

welchen Parameter ich messe, sehe ich auch dann nur einen bestimmten Ausschnitt aus

der gesamten Pharmakokinetik, die ich eigentlich ermitteln will.“

Das Wirkstoffgemisch eines LMWH sei letztlich so komplex, dass eine umfassende

Pharmakokinetik und pharmakologische Charakterisierung aller Wirkkomponenten

zurzeit technisch nicht möglich ist, sagte Lorenz und schlussfolgerte: „Die

therapeutische Äquivalenz – und damit auch die Austauschbarkeit von zwei LMWH in

der Apotheke – kann daher nur dann erreicht werden, wenn identische

Ausgangsmaterialien und Herstellungsverfahren verwendet werden.“

Kurzen Prozess machte Fritz Sörgel (IBMP, Heroldsberg) mit Blick auf die

Pharmakokinetik von Copaxone®. Wenn man die Publikationen des Herstellers Teva

lese, dann sei darin von 100.000 oder sogar einer Million verschiedener Peptide die

Rede, die in dem Wirkstoffgemisch des Arzneimittels enthalten seien. „Solche Gemische

kann man niemals genau analysieren“, sagte Sörgel. „Eine in-vivo-Analyse der

Pharmakokinetik ist somit völlig ausgeschlossen.“

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Klinische Performance und therapeutische Äquivalenz

Aus der Sicht des Klinikers widersprach Sebastian Harder (Universität Frankfurt) seinen

Vorrednern. Der Treiber der Wirkung der niedermolekularen Heparine sei

„unzweifelhaft die Xa-Aktivität und die IIa-Aktivität“. Harder belegte das auch durch

einen Vergleich mit direkten oralen Antikoagulantien (DOAK). Der direkte Faktor Xa-

Inhibitor Rivaroxaban und Enoxaparin sind sich demnach hinsichtlich ihrer Wirkungen in

der jeweiligen Prophylaxedosis sehr ähnlich, mit dem einzigen Unterschied, dass unter

Rivaroxaban eine etwas geringere Inzidenz tiefer Venenthrombosen, unter Enoxaparin

eine geringere Inzidenz von Blutungen vorkämen.

Die Faktor Xa-Aktivität sei ein etabliertes Surrogat der Wirksamkeit. „Ich würde nicht

annehmen, dass große andere Effekte im Hintergrund zu dieser Wirksamkeit beitragen“.

Der tissue factor pathway inhibitor zum Beispiel sei „etwas, was die FDA nicht hinter

dem Ofen hervorlockt“. Die Behörde habe deutlich gesagt, dass TFPI-Profile für den

Vergleich von LMWH-Originator und Nachahmer nicht „substantiated“ seien und keine

klinische Relevanz hätten. „Auch ich selber bin in dieser Hinsicht skeptisch.“ Bis ihm

jemand das Gegenteil beweise, halte er den Beitrag anderer LMWH-Bestandteile auf die

Wirksamkeit („nicht auf die Sicherheit!“) für unwahrscheinlich.

Im Gegensatz zur FDA verlangt die EMA klinische Studien, am besten in Indikationen mit

einer hohen Wahrscheinlichkeit von Venenthrombosen, also zum Beispiel der

Kniechirurgie. Solche Studien, vorwiegend exploratorischer Art mit kleinen

Patientenzahlen, gibt es bisher vorwiegend in Brasilien. Sie zeigten faktisch keinen

Unterschied zwischen originalen und nachgeahmten LMWH. „Aus den verfügbaren

Daten sehe ich keinen wesentlichen Wirksamkeitsunterschied von generischem

Enoxaparin“, sagte Harder. „Es wäre problematisch, zusätzliche klinische Studien zu

verlangen.“ Es gebe genügend analytische Möglichkeiten, um relevante Unterschiede

im Sinne der von der EMA geforderten „sameness“ aus dem Produktionsprozess heraus

darzustellen. Ohnehin sollten aus dem Produktionsprozess resultierende Risiken vor

dem klinischen Einsatz gefunden werden und sich nicht erst in klinischen Studien

bemerkbar machen. Eine Patientenstudie wäre nach Ansicht Harders nur begründbar,

wenn sie der Risikoabwehr dient. Dafür würde man aber – weil insbesondere die

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heparininduzierte Thrombozytopenie nur selten auftritt – sehr hohe Patientenzahlen

benötigen. Das wäre auch ethisch fragwürdig, weil es ja "nur" um den Vergleich mit

einem preiswerteren Präparat gehe, das den teilnehmenden Patienten aber keinerlei

Vorteile verspreche. Besser sei es, die Sicherheit in umfangreichen post authorisation

safety studies (PASS) zu überprüfen.

Die Multiple Sklerose (MS) ist nach Aussage von Wolfgang Brück (Universität Göttingen)

die Krankheit des jungen Erwachsenenalters, die am häufigsten zu dauerhafter

Behinderung führt. Copaxone® ist für die Behandlung der Anfangsstadien der

schubförmigen Multiplen Sklerose zugelassen (seit 1996 in den USA, seit 2001 in der

EU). Die Zulassungsstudie zeigte in der Verum-Gruppe eine signifikante Reduktion der

Schubrate um 29 Prozent gegenüber Placebo, allerdings in einer Studie mit insgesamt

nur 252 Patienten. „Das wäre heute undenkbar“, sagte Brück. Die Zulassungsbehörden

erwarten inzwischen mindestens die zehnfache Patientenzahl in einer solchen Phase-III-

Studie.

Der genaue Wirkmechanismus des Wirkstoffs Glatirameracetats ist nicht bekannt. „Wir

wissen ja nicht, was die tatsächliche aktive Komponente des Molekülgemischs ist“, hatte

Gerhard Tischler (Teva, Berlin) gesagt. Wolfgang Brück führte drei mutmaßliche

Wirkungen des Originator-Präparates an: eine periphere Immunmodulation, eine ZNS-

Immunmodulation und eine Neuroprotektion. Dem liegt offenbar zugrunde, dass

Glatirameracetat sich kompetitiv in die Bindung antigenpräsentierender Zellen

einschalten und damit die in der Genese der Autoimmunkrankheit MS überschießende

T-Zell-Antwort vom pro-inflammatorischen auf den anti-inflammatorischen Pfad

verschieben kann.5

Als Kriterien zur Beurteilung der therapeutischen Wirksamkeit von Glatirameracetat

könne man im Rahmen einer üblicherweise 2 Jahre andauernden Studie entweder den

klinischen Parameter der Schubfrequenz oder die Krankheitsprogression durch

5 Aharoni R. Immunomodulation neuroprotection and remyelination – The fundamental therapeutic effects of

glatiramer acetate: A critical review. Journal of Autoimmunity 54 (2014); 81-92

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Bestimmung der Zahl der neuronalen Läsionen mit bildgebenden Verfahren wie der

Magnetresonanztomographie heranziehen.

Die sog. GATE-Studie, die als Grundlage für die Zulassung des ersten Glatirameracetat-

Nachahmerpräparates diente, verwendete die Anzahl der Läsionen im MRT als primären

Endpunkt. Sie war dreiarmig angelegt und schloss über neun Monate hinweg insgesamt

794 Patienten ein, die entweder das Nachahmerpräparat (n=353), den Originator

(n=357) oder Placebo (n=84) erhielten. Im Ergebnis zeigte sich eine vergleichbare

Wirksamkeit, Sicherheit und Verträglichkeit zwischen Originator und Nachahmer.6 Er

halte es jedoch für nicht gerechtfertigt, ein Nachahmerpräparat auf Basis solcher Daten

zuzulassen, betonte Brück. Denn der prädiktive Wert der MRT-Befunde für die

therapeutische Wirksamkeit von Glatirameracetat sei mindestens fragwürdig. Eine

aussagekräftige Vergleichsstudie müsste seiner Ansicht nach die Frequenz der Schübe

oder der Behinderungsprogression als primären Endpunkt verwenden und mindestens

über zwei Jahre ausgedehnt werden. Um die Austauschbarkeit festzustellen, bräuchte

man dann idealerweise noch eine follow-up-Studie mit cross-over-design.

Man müsse sich freilich in diesem Zusammenhang „ins Gedächtnis zurückrufen, dass wir

hier eine comparability exercise machen, in die alle Parameter einfließen müssen“,

erinnerte Theo Dingermann (Universität Frankfurt). Es gehe nicht an, nur auf die

klinischen Daten zu schauen. „Wir haben hier zusätzlich die analytische Information, die

man nicht unterschlagen darf, dass diese Moleküle (bzw. die komplexen Gemische)

einander sehr ähnlich sind.“ Dennoch werde die Sachlage bei der Beurteilung der

Äquivalenz von Glatirameracetat -Präparaten tatsächlich dadurch kompliziert, dass man

pharmakokinetische Daten nicht erheben könne, entgegnete Henning Blume. Ihm sei

dieser Punkt deswegen so wichtig, weil bekannt sei, dass PK-Studien in der Regel für

Äquivalenzanalysen wesentlich aussagekräftiger seien als klinische Studien, die

naturgemäß unschärfere Ergebnisse erbrächten.

Wenn man einen klinischen Vergleich zwischen Copaxone® und einem

Nachahmerpräparat unternehme, meinte Sebastian Harder, dann müsse man nach den

6 Cohen J et al. Equivalence of generic glatiramer acetate in multiple sclerosis. A randomized clinical trial. JAMA

Neurology. 2015; 72 (12): 1433-1441

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Guidelines in diese Studie auch einen Placeboarm einzuführen, um zu zeigen, dass für

den Originator unter diesen Bedingungen die Wirksamkeit bestätigt werden kann.

„Therapeutische Äquivalenz für ein Nachahmerpräparat im Vergleich zum Originator mit

einer Studie nachzuweisen, in der die Wirksamkeit des Originators nicht bestätigt

werden konnte, würde sonst bedeuten, dass man ein Nachahmerpräparat bekommt,

dessen Wirksamkeit ebenfalls nicht bestätigt ist.“ Darüber hinaus stellte Sebastian

Harder fest, dass im vorliegenden Fall die Datenlage der Zulassungsstudie von 1995 aus

seiner Sicht ohnedies dürftig sei. Dem widersprach Wolfgang Brück insofern, als es auch

nach der Zulassung Studien wie die Combi RX oder CONFIRM gegeben habe, „die für

Copaxone® zweifelsfrei einen klaren Vorteil im Hinblick auf die Reduktion der

Schubfrequenz gegenüber Placebo belegten“.

Friedemann Paul (Charité, Berlin) unterstrich, dass die MS eine chronische Krankheit

und eine 9-Monatsstudie für die Zulassung eines Nachahmers seiner Ansicht nach „völlig

ungeeignet“, ja „geradezu gefährlich“ sei. Theo Dingermann wiederum entgegnete, dass

man hier durchaus dem „Regulativ der Regulatoren“ vertrauen könne, denen „ein body

of evidence vorliegt, der uns nicht zugänglich ist“. Ob er auch vom Originator eine

vollumfänglich neue Zweijahresstudie verlangen würde, falls dieser den

Herstellungsprozess seines Glatirameracetat -Präparates änderte, wollte Henning

Blume von Wolfgang Brück wissen. Dieser antwortete mit einem uneingeschränkten

„Ja“.

Regulatorische Anforderungen

Für die Zulassungsbehörden existiere die Kategorie NBCD bisher nicht, stellte Henrike

Potthast (BfArM, Bonn) klar. „Aus regulatorischer Sicht prüfen wir auch nicht die Frage

der Austauschbarkeit“. In Deutschland habe darüber der Gemeinsame Bundesausschuss

zu entscheiden. Aus den Zulassungsstudien gehe die Austauschbarkeit jedoch nicht

hervor, vor allem wenn es mehrere Nachahmerpräparate gebe, zu denen keine direkten

Vergleiche vorlägen.

Für die EMA und die ihr zugeordneten nationalen Behörden kämen Heparine – im

Gegensatz zur FDA – für eine generische Zulassung nicht in Frage (vgl. S.2).

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Nachahmerpräparate von LMWH gelten für sie als Biosimilars, für die eine

Austauschbarkeit per se ausgeschlossen sei. Folglich verlangten sie in der Regel klinische

Studien zum Nachweis einer vergleichbaren Pharmakodynamik. Allerdings sehe die seit

2013 als Draft vorliegende Guideline on non-clinical and clinical development of similar

biological medicinal products containing low molecular-weight-

heparins EMEA/CHMP/BMWP/118264/2007 Rev. 1 vor, dass auf klinische Studien in

Ausnahmefällen verzichtet werden könne: „The revised guideline states that biosimilars

manufacturers would not have to conduct trials to show comparable efficacy to a

reference product if similar efficacy can be ‘convincingly deduced’ from comparison of

physiochemical characteristics, biological activity and potency and pharmacodynamic

fingerprint profiles. The guideline does mention, however, that this scenario would be

the exception to the rule, as the amount of ‘reassurance from analytical data and

bioassays would be considerable’.“

Anders als LMWH sei Glatirameracetat nach Auffassung der EMA „vermutlich als NBCD“

einzustufen. Eine produktspezifische Guideline sei nicht vorgesehen, vielmehr empfehle

man den Herstellern von Nachahmerprodukten Hybridapplikationen gemäß Artikel

10(3) der Richtlinie 2001/83/EG zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes fur

Humanarzneimittel vom 6. November 2001. Diese könnten, was den Nachweis der

therapeutischen Äquivalenz betreffe, dem Ansatz für Biosimilars folgen.

Dementsprechend sei die GATE-Studie nach Auffassung der EMA ausreichend für die

Zulassung eines generischen GA-Präparates. Das gehe aus der Schlussfolgerung des

public assessment report eindeutig hervor. Dort heiße es, das Generikum „can be

regarded as therapeutic equivalent to the reference product. Therapeutical equivalence’

means that the efficacy and safety of this hybrid formulation is similar to the efficacy

and safety of the reference product. Agreement on this conclusion was reached between

Member States.“7

Insgesamt könne nicht oft genug gesagt werden, betonte Potthast, dass die

Zulassungsbehörden „niemals nur separat auf eine klinische Studie oder einzelne

Qualitätsparameter, sondern auf die „totality of evidence“ schauten. Als generellen

7 Public assessment report NL/H/3212/001/DC. 6 June 2016, p.17

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regulatorischen Rat für Vergleichsstudien empfahl sie, immer „ein hohes Maß an

Vorsicht walten zu lassen, bis wissenschaftlich aussagekräftige Daten vorliegen“.

Die Sicht dreier Stakeholder

„Ich lehne die Umstellung von Patienten, die auf Copaxone® eingestellt sind und damit

gute Erfahrungen gemacht haben, auf ein Nachahmerpräparat grundsätzlich ab“, sagte

der Arzt Friedemann Paul (Charité, Berlin). Das Risiko einer Verschlechterung des

Krankheitsverlaufs sei zu groß. Man dürfe nicht außer Acht lassen, dass es bei Patienten

mit chronischen Erkrankungen oft auch einen starken Placeboeffekt ihrer

Dauermedikation gebe. Dieser würde bei einer Umstellung entfallen. Differenzierter sei

die Sachlage aus seiner Sicht bei der Neueinstellung von Patienten zu beurteilen. Aber

auch dann müsse es mehr Daten geben, damit er ein Nachahmerpräparat wählen

würde.

Der Apotheker Christian Ude (Darmstadt) schilderte die „aut-idem-Schwierigkeiten“, die

in der Praxis regelmäßig auftreten, „wenn Sie bei der Einlösung eines Rezeptes per pop-

up-Fenster zum Austausch aufgefordert werden“. Im Spannungsfeld zwischen der

Furcht vor Regress und der therapeutischen Verantwortung sei es gerade in großen

Apotheken, die auch viele PTA beschäftigten, eine Herausforderung „diejenigen

Indikationen einzugrenzen, die aut-idem-Situationen ausschließen“. Zwar könne ein

Apotheker pharmazeutische Bedenken reklamieren, primär sei es aber Aufgabe der

Ärzte, ihre Verordnungen präzise genug zu treffen.

Im Namen der großen Gruppe von MS-Patienten erklärte Lothar Jungbluth (Obertreis),

dass diese einen Austausch ihrer Dauermedikation mit einem Generikum nicht nur als

problematisch ansehen, sondern mehrheitlich rundweg ablehnten. „Sie würden im

Zweifelsfall sogar ihren Sparstrumpf anknabbern, um weiter mit dem Originalpräparat

behandelt zu werden.“

Ausblick

In der abschließenden Diskussion wurde deutlich, dass es einen „kardinalen

Unterschied“ (Blume) beim Einsatz von LMWH und Glatirameracetat und damit

Bericht vom 20. Expertentreffen „Pro und Contra“

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hinsichtlich ihrer Austauschbarkeit gibt. LMWH werden den meisten Patienten nur für

eine Woche verabreicht. „Welches Produkt dafür verwendet wird, ist den Patienten

relativ egal“ (Alban). Glatirameracetat dient dagegen der Langzeitbehandlung einer

chronischen Krankheit. Wenn man durch Substitution das „fragile Gleichgewicht der

ganzheitlichen Therapie beim Patienten stört“, riskiere man die Eskalation auf die

nächste Therapiestufe mit Medikamenten, die 50 bis 60 % teurer seien (Tischler, Teva).

Wie soll man also mit Blick auf den Austausch verfahren?

Er sei kein Freund der Substitutionsausschlussliste, sagte Theo Dingermann. Er ärgere

sich aber darüber, dass seitens der Kostenträger die ärztliche Freiheit „momentan

massiv unterlaufen“ werde. „Der Arzt muss bei der therapeutischen Entscheidung im

driver seat sitzen und die Ärzte müssen die Möglichkeit haben, auf der Basis ihrer

Erfahrung mit den Präparaten zu verordnen.“

Henning Blume verteidigte die Ausschlussliste. „Sie soll ja bezwecken, dass die

Regressdrohung wegfällt und der Arzt frei ist, zu entscheiden, ob er den Patienten

umstellt oder nicht. Wenn es inhaltliche Argumente dafür gibt, dass man den gut

eingestellten Patienten nicht einfach von einem Produkt auf das andere umstellen

möchte, dann muss der Druck der Substitution vom Arzt und vom Apotheker genommen

werden.“

„Wir befinden uns in einem Szenario, in dem the product is the process wirklich das

Leitthema ist“, bilanzierte Blume. „Wir müssen bei komplex zusammengesetzten

Arzneimitteln dafür sorgen, dass über den Prozess ein möglichst konsistentes Produkt

entwickelt wird und dass die Zulassungsentscheidungen auf einer holistischen

Betrachtung beruhen. Wenn aber der Zulassungsprozess die Austauschbarkeit nicht

garantieren kann, dann muss man dem Arzt die Entscheidung für oder gegen eine

Umstellung belassen - auch wenn es wichtig ist, das Gesundheitssystem finanzierbar zu

halten. Wenn aber Argumente dagegen sprechen, ein Arzneimittel einfach mal gegen

einen Nachahmer auszutauschen, dann muss man das im Sinne der Patienten deutlich

sagen und für Regulierungen sorgen, die einen Substitutionszwang ausschließen.“