Betty Edwards - Garantiert Zeichnen Lernen

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Betty Edwards

Garantiertzeichnen lernenDas Geheimnis der rechtenHirn-Hemisphäre und dieBefreiung unserer schöpferischenGestaltungskräfte

Deutsch von Modeste zur Nedden Pferdekamp

Rowohlt Taschenbuch Verlag

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Dank

Für Anne und Brian

Ich möchte all denen danken, die mir geduldig igemacht haben, dieses Buch zu schreiben. Meingilt Dr. J. William Bergquist, der mir mit wertv<und seiner selbstlosen Hilfsbereitschaft zur SeiAuch die folgenden Personen haben mich bei mestützt:Anne Bomeisler, Brian Bomeisler,John Farrell, Winifred Wasden,Kathryn Bomeisler, Lynn Tyner,Jeremy Tarcher, Janice Gallagher, John Brogna,meine Kollegen von der Venice High School, \Trade-Technical College, von der California StLong Beach und von der University of CaliforniaAuch meinen Schülern möchte ich an dieser Streichen Beiträge zu diesem Buch danken.

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«Drawing on the Right Side of th Brain,A Course in Enhancing Creativity and Artistic Confidence»im VerlagJ. P. Tarcher, Inc., Los Angeles

Sonderausgabe Juni 2000Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH,Reinbek bei Hamburg, Juni 1998Copyright © 1982 by Rowohlt Verlag GmbH,Reinbek bei Hamburg«Drawing on the Right Side of the Brain»Copyright © 1979 by Betty EdwardsAlle deutschen Rchte vorbehaltenUmschlaggestaltung Beate BeckerGesamtherstellung Clausen & Bosse, LeckPrinted in GermanyISBN 3 499 60694 '

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Inhalt

Vorwort 9

1 Zeichnen und die Kunst des Radfahrens 132. Sich selbst zum Ausdruck bringen:

Die nonverbale Sprache der Kunst 333. Die zwei Hälften unseres Gehirns 394. Von links nach rechts, von rechts nach links:

Die Erfahrung des Hinübergleitens 615. Zeichnen aus dem Gedächtnis:

Ihr künstlerischer Werdegang 776. Die Umgehung des Symbolsystems:

Wir zeichnen Ränder und Konturen 997. Raumformen wahrnehmen:

Das Raum-Negativ wird zum Positiv 1178. Ausdehnung in alle Richtungen:

Perspektivisch zeichnen auf eine neue Art 1379. Jeder Strich ist Teil des Ganzen:

Richtige Proportionen 155

10. Von Angesicht zu Angesicht:Wir zeichnen Porträts 177

11. Vorstoß in die dritte Dimension:Wir sehen Licht und zeichnen Schatten 205

12. Das Zen des Zeichnens:Der Künstler in uns erwacht 217

Anhang 223Postskriptum 224Glossar 230Bibliographie 233

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Vorwort

Dieses Buch ist das Ergebnis einer zehnjährigen Suche nach einerneuen Methode des Kunstunterrichts für Menschen der verschie-densten Altersstufen und Berufe. Ich wollte, als ich mich auf dieSuche begab, ein Rätsel lösen, das mir keine Ruhe ließ: Warumfiel es eigentlich der Mehrzahl meiner Schüler so schwer, zeichnenzu lernen, während es mir selbst stets leicht von der Hand gegan-gen war und großen Spaß gemacht hatte?

Schon als Kind, mit acht, neun Jahren, konnte ich ganz anstän-dig zeichnen. Ich war wohl eines von den wenigen Kindern, diedas Glück hatten, auf jene besondere Art und Weise zu sehen, diezum Zeichnen befähigt. Ich kann mich noch genau entsinnen, wieich als Kind, bevor ich etwas zeichnete, im stillen zu mir sagte, erstmuß ich «so» machen. Dieses «So» habe ich nie genauer zubestimmen versucht, doch ich wußte, daß ich den Gegenstand,den ich abzeichnen wollte, nur eine Zeitlang «anzuschauen»brauchte, bis dieses «So» eintrat. Dann ging es «wie von selbst».

Natürlich wurde ich von allen, die meine Zeichenkünste sahen,bewundert und gelobt. «Großartig», sagten die Leute, «wie be-gabt Betty ist. Sie ist ein Naturtalent.» Wie alle Kinder fand ich esschön, für etwas Besonderes gehalten zu werden, und war ernst-haft in Gefahr, auch daran zu glauben. Doch im stillen empfandich solches Lob als unangebracht. Zeichnen war doch so leicht —man brauchte ja nichts weiter zu tun, als die pinge auf jenebesondere Weise anzuschauen.

Jahre später, als ich zu unterrichten begann, versuchte ich, dieSchüler mit meinen Ansichten über das Zeichnen vertraut zumachen. Doch wollte das nicht so recht funktionieren, und in einerKlasse mit etwa dreißig Schülern lernten zu meiner Verzweiflungimmer nur einige wenigej richtig zu zeichnen.Angesichts dieser unbefriedigenden Ergebnisse begann ich,mich selbst beim Zeichnen zu beobachten; ich versuchte heraus-finden, was ich eigentlich tat, sobald sich diese andere Sehweisein mir einstellte. Zugleich fing ich an, meine Schüler zu befragen.Auffallend war, daß die wenigen, die es zu etwas brachten, esnicht

allmählich lernten; vielmehr kam der Durchbruch plötzlich.Ich nahm diese Schüler ins Verhör: «Was macht ihr jetzt beimZeichnen anders als in der letzten Woche, als es noch nicht so

gutging?» Sie gaben mir fast alle dieselbe Antwort: Sie würden jetzt

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Zschauen.Doch so viele Fragen ich ihnenn nicht in der Lage zu sein, mit Worten zuerändert hatte.ine neue Spur. Ich zeichnete beim Unter-l meinen Schülern zu erklären, was ich tafimerk richtete und warum ich bestimmtemte Weise wiedergab und nicht anders,äufig, daß ich mitten im Satz steckenbliebFaden. Ihn wiederanzuknüpfen fiel mireigentlich wollte ich es in solchen Augen-tlich. Doch riß ich mich schließlich zusam-Satz fort — und mußte dann feststellen, daßng zur Zeichnung verloren hatte; sie er-md machte mir Schwierigkeiten. Auf dieseIch konnte entweder sprechen oder zeich-sugleich.über den Vorgang des Zeichnens ergabenh Zufall. Als sich meine Schüler einmal mitbesonders abmühten, verteilte ich Repro-hnung eines alten Meisters und schlug vor,;u stellen und es umgekehrt abzuzeichnen,berraschung (der ihren wie der meinen)ere Zeichnungen zustande. Wie war das:gal, ob richtig oder falsch herum — blieben

iber auch Fragen, ergaben sich aus demden mit dem leeren Raum. Es stellte sichlülern wirklichkeitsgetreuere Zeichnungennicht auf die Form konzentrierten, die sie;rn auf den sie umgebenden leeren Raum,inem Rätsel. Warum sollte das Zeichnender Zwischenräume zwischen den Gegen-en Darstellung ihrer Umrisse führen? Icheigenes Vorgehen beim Zeichnen nach,

Hedenstellende Antwort auf diese Fragen,lemühte — es gelang mir nicht, das Prinzip: diese Beobachtungen in eine Ordnung

n begann ich, eine ganze Reihe von Unter-:reich der Gehirnforschung, insbesondereHlirnspaltungs-Forschung zu lesen, die mziger Jahren von dem Neurophysiologendizin-Nobelpreisträger 1981) und seinen

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- Vorwort

Mitarbeitern betrieben worden waren. Dieses Forscherteam hattefestgestellt, daß beide Gehirnhälften (Hemisphären) an der Steue-rung der höheren kognitiven Funktionen des Menschen beteiligtsind und daß sie Informationen auf unterschiedliche Weise verar-beiten.

Bei der Beschäftigung mit den Untersuchungen Sperrys kammir unversehens die Idee, daß das zeichnerische Können einesMenschen in erster Linie von einer anderen Fähigkeit abhängenmuß - der Fähigkeit nämlich, von der «normalen» Informations-verarbeitung zu einer ganz anderen Form des Umgehens mitoptischen Wahrnehmungen überzuwechseln - von einer sprach-lichen, analytischen Verarbeitung (in meinem Buch «Links-Modus», «L-Modus» genannt) zu einer räumlichen, ganzheitli-chen Verarbeitung (die ich als «Rechts-Modus», «R-Modus»bezeichne). Diese Erkenntnisse - ich werde sie im dritten Kapitelgenauer darstellen - halfen mir, eine Antwort auf die Frage zufinden, warum manche meiner Schüler leichter zeichnen lerntenals andere.

Von nun an, vor allem während der Arbeit an meiner Disserta-tion, war ich damit beschäftigt, die theoretischen Voraussetzun-gen meiner Grundthese zu formulieren und die Reihenfolge derZeichenübungen festzusetzen, die den Aufbau dieses Buches be-stimmt. Meine These lautet, daß sich der Mensch eine neue Art zusehen anzueignen vermag, indem er bestimmte Funktionen seinerrechten Gehirnhälfte «anzapft», und daß er dadurch auf eineeinfache Weise zeichnen lernen kann. Auf dieses Ziel hin ist dieReihenfolge der Übungen angelegt. Ich bin davon überzeugt, daßmeine in diesem Buch modellhaft beschriebene Lehrmethode desHinundherwechselns zwischen dem verbalen, logischen Denkenund dem ganzheitlichen intuitiven Erfassen der Umwelt auch vonanderen Lehrern und Forschern - sei es auf dem Gebiet der Kunstoder auch in anderen Fächern - übernommen und weiterent-wickelt wird. Wie auch immer Wissenschaftler in zukünftigenleiten die strikte Trennungibestimmter Hirnfunktionen und ihreZuordnung zu jeweils einer der beiden Hirn-Hemisphären be-urteilen mögen - in der praktischen Arbeit mit Schülern unter-schiedlichsten Niveaus hat sich meine Methode, die auf dieserZuordnung basiert, als brauchbar und zuverlässig erwiesen. MitHilfe dieser Lehrmethode ist es mir gelungen, das Problemzulösen, das der Ausgangspunkt meiner Überlegungen war:wieman allen Teilnehmern eines Zeichenkurses das Zeichnen

beibrin-gen kann, und nicht nur einigen wenigen.

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1Zeichnen und die Kunstdes Radfahrens

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Zeichnen und die Kunst des Radfahrens

Das Zeichnen ist ein unbegreiflicher Vorgang. Es ist mit demSehen so eng verknüpft, daß beides kaum voneinander zu trennenist. Die Fähigkeit zu zeichnen hängt von der Fähigkeit ab, mit denAugen des Künstlers zu sehen - eine Sehweise, die das Leben in. erstaunlicher Weise zu bereichern vermag.

Einen Menschen in die Kunst des Zeichnens einzuführen ähneltin vieler Hinsicht dem Versuch, Unterricht im Radfahren zugeben: Beides läßt sich mit Worten kaum beschreiben. Wenn Siejemandem das Radfahren beibringen wollen, werden Sie viel-leicht sagen: «Also, jetzt steig einfach auf, tritt immer feste auf diePedale, halt die Balance, und ab geht's.»

Natürlich haben Sie damit überhaupt nicht erklärt, wie manradfährt, und so werden Sie schließlich sagen: «Laß mich malaufsteigen, ich werd's dir zeigen. Guck zu, wie ich es mache.»

So ist es auch mit dem Zeichnen. Die meisten Zeichenlehrerund Verfasser von Zeichenlehrbüchern beschwören den Anfän-ger, seine «Sehweise zu verändern» und überhaupt erst einmal«sehen zu lernen». Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, daßsich diese Sehweise ebenso schwer beschreiben läßt wie das Balan-cehalten beim Radfahren, und oft enden die Erklärungsversuchedes Lehrers damit, daß er sagt: «Sehen Sie sich dies als Vorbild anund probieren Sie einfach drauflos. Wenn Sie fleißig üben, werdenSie schon eines Tages dahinterkommen.» Während fast jederradfahren lernt, gibt es viele, die mit dem Problem des Zeichnensnicht fertig werden. Genauer gesagt: Die meisten Menschen ler-nen es nie, bewußt genug zu sehen, um zeichnen zu können.

Zeichnen - eine magische Fähigkeit?

Da anscheinend nur wenige Menschen von Natur aus die Fähig-keit besitzen, richtig zu sehen und zu zeichnen, werden Künstleroft für gottbegnadete Wesen gehalten. Vielen Menschen erscheintdas Zeichnen als eine geheimnisvolle, jenseits des menschlichenBegriffsvermögens liegende Tätigkeit.

Die Künstler selbst tun von sich aus im allgemeinen nur wenig,um diese Aura des Geheimnisvollen aufzulösen. Richten wir aneinen Künstler, der naturalistisch zu zeichnen versteht, die Frage:«Wie machen Sie das nur, daß das, was Sie da zeichnen, soaussieht wie in Wirklichkeit?» (zum Beispiel ein Porträt oder eineLandschaft), so wird er womöglich antworten: «Tja, ich hab ebeneine künstlerische Ader», oder «Weiß ich selber nicht. Ich fangeeinfach an, probier irgendwas aus und mach immer so weiter»,

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Zeichnen und die Kunst des Radfahrens

oder er sagt: «Ich schau mir den Menschen an (oder die Land-schaft), und was ich sehe, zeichne ich.» Die letzte Antwort wirktlogisch und freimütig. Doch näher betrachtet trägt sie keineswegszur Klärung unserer Frage bei, sondern vielmehr zur Bestätigungdes Eindrucks, daß Zeichnenkönnen eine unbegreifliche, magi-sche Fähigkeit ist (Abb. 1).

Die Auffassung, künstlerische Fähigkeiten seien ein Wunder,veranlaßt die Menschen zwar dazu, Künstler und ihre Werke zubestaunen, doch sie trägt keineswegs dazu bei, die Menschenselbst zum Zeichnen zu ermutigen, und sie erschwert den Lehrernihre Aufgabe, den Schülern den Zeichenvorgang zu erklären. Sokommt es, daß sehr viele Menschen glauben, sie sollten sich liebernicht zu einem Zeichenkursus anmelden, weil sie nicht zeichnenkönnen. Ist Ihnen schon mal jemand begegnet, der nicht an einemFranzösischkurs teilnehmen wollte, weil er kein Wort Französischversteht, oder jemand, der es nicht wagt, sich um eine Lehrstelleals Maurer zu bewerben, weil er keine Ahnung hat, wie man einHaus baut?

Zeichnen kann man lehren und lernen

Bald werden Sie die Entdeckung machen, daß jeder normaleMensch, der einigermaßen gute Augen hat und bei dem Augenund Hände aufeinander abgestimmt sind — der zum Beispielimstande ist, eine Nadel einzufädeln oder einen Ball aufzufan-gen —, zeichnen lernen kann. Im Gegensatz zur landläufigen Mei-nung ist die manuelle Geschicklichkeit keineswegs das Wichtigstebeim Zeichnen. Verfügen Sie über eine leserliche Handschriftoder Druckschrift, dann reicht Ihre Fingerfertigkeit vollkommenaus, um zeichnen zu lernen.

Auf die Hand, mit der Sie zeichnen, brauchen wir hier zunächstnicht weiter einzugehen, doch über das Auge können wir unsnicht gründlich genug unterhalten. Zeichnen zu lernen bedeutetmehr als die Aneignung einer gewissen handwerklichen Geschick-lichkeit. Durch die Beschäftigung mit diesem Buch werden Sie

sehen lernen. Das heißt, Sie werden lernen, mit optischen Ein-drücken auf die dem Künstler eigene besondere Weise umzuge-hen. Diese unterscheidet sich von der Ihnen gewohnten Verarbei-

tung visueller Informationen: sie scheint von Ihnen zuverlangen,

daß Sie Ihr Gehirn auf eine andere Weise betätigen als sonst.Es ist deshalb wichtig, daß Sie sich damit vertraut machen, wie

Ihr Gehirn mit visuellen Informationen umgeht.Forschungen

auf

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Zeichnen und die Kunst des Radfahrens

dem Gebiet der Neurophysiologie haben in den letzten Jahrenviele völlig neue Erkenntnisse über das menschliche Gehirn, diesesWunder an Kapazität und Komplexität, zutage gefördert. Undeines der Dinge, die wir zu verstehen beginnen, ist, wie die beson-deren Eigenschaften unseres Gehirns uns dazu befähigen, unsereWahrnehmungen bildlich festzuhalten.

Das Zeichnen und das SehenDas Geheimnis der zeichnerischen Gabe scheint zumindest teil-weise in der Fähigkeit begründet zu sein, zu einer anderen Art desSehens und Wahrnehmens überwechseln zu können. Gelingt es uns,auf jene besondere, Künstlern eigene Weise zu sehen, dann können wir auchzeichnen. Das heißt jedoch nicht, daß die Zeichnungen großerKünstler wie Leonardo da Vinci oder Rembrandt auch nur dengeringsten Teil der einzigartigen Kraft, die von ihnen ausgeht,einbüßten, nur weil wir die Vorgänge im Gehirn, die zu ihrerErschaffung führten, etwas genauer kennen. Im Gegenteil, imLichte wissenschaftlicher Forschung erscheinen solche Meister-werke sogar noch bewundernswerter, weil sie auch den Betrachterdazu anregen können, sich die Wahrnehmungsweise des Künst-lers — und sei es nur für Augenblicke — anzueignen. Wer wirklich-keitsgetreu zeichnen kann, ist noch lange kein Künstler! Doch dieGrundlagen des Zeichnens kann jeder erlernen, dem es gelingt,seine Umwelt «mit den Augen des Künstlers» wahrzunehmen.

Die Sehweise des Künstlers

Zeichnen ist wahrhaftig nicht schwer. Das Problem ist das Sehenoder, genauer ausgedrückt, das Überwechseln zu einer besonde-ren Sehweise. Im Augenblick werden Sie mir diese Behauptungvielleicht nicht glauben können. Sie meinen, Sie sähen die Dingerecht genau, und die Schwierigkeit bestehe darin, sie zu zeichnen.Doch das Gegenteil trifft zu - und deshalb habe ich die Übungenin diesem Buch mit dem Ziel entwickelt und zusammengestellt,Ihnen zu helfen, dieses geistige Umschalten zu vollziehen. Siewerden sich mit Hilfe der Übungen zwei Fähigkeiten aneignen,die beide von großem Nutzen für das Zeichnenlernen sind: Erstenswerden Sie sich den Zugang zu Ihrer rechten Hirn-Hemisphärebewußt und wissentlich eröffnen und dadurch in einen leichtveränderten Bewußtseinszustand gelangen können, und zweitenswerden Sie auf Grund dessen lernen, Ihre Umwelt auf eine andereArt zu sehen.

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Zeichnen und die Kunst des Radfahrens

Viele Künstler machen die Beobachtung, daß sie die Gegen-stände beim Zeichnen anders sehen und dabei eine leichte Verän-derung ihres Bewußtseinszustandes empfinden. In diesem subjek-tiven Zustand fühlen sie sich geistig abwesend; sie sind «mit ihrerArbeit eins». Sie erfassen und entdecken Beziehungen und Zusam-menhänge, die ihnen im alltäglichen Leben entgangen waren. Sieverlieren jedes Zeitgefühl, ihre Gedanken lassen sich kaum noch inWorte kleiden. Sie sind vollkommen wach und konzentriert unddennoch entspannt und gelöst — ein Zustand, den sie als lustvolle,fast mystische Aktivierung des Geistes empfinden.

Auf den Bewußtseinszustand achten

Der leicht veränderte, mit dem Gefühl des Abwesendseins verbun-dene Bewußtseinszustand, den fast alle beim Zeichnen, Malenoder Modellieren oder bei irgendeiner anderen kreativen, künst-lerischen Tätigkeit empfinden, ist auch Ihnen vermutlich nichtganz unbekannt. Auch Sie haben vielleicht schon einmal einesolche geringfügige Veränderung während einer ganz alltägli-chen Handlung beobachtet.

Dafür gibt es Beispiele genug: etwa das gelegentliche Hinüber-gleiten vom gewohnten Wachbewußtsein zum Tagtraum oder die«Selbstvergessenheit» bei der Lektüre eines Buches. Weitere Tä-tigkeiten, die unverkennbar ein Überwechseln in einen anderenBewußtseinszustand hervorrufen, sind zum Beispiel Meditieren,Laufen, Handarbeit, Tippen, Musikhören und natürlich auchZeichnen.

Auch das Fahren auf der Autobahn kann zu einer geringfügigveränderten geistigen Verfassung führen, die mit dem Bewußt-seinszustand während des Zeichnens einige Ähnlichkeit hat. Im-merhin haben wir es auf der Autobahn mit optischen Wahrneh-mungen zu tun, müssen wir doch die ständig sich veränderndenVerhältnisse erfassen und verarbeiten und viele komplizierteSituationen innerhalb der gesamten Verkehrslage überblicken.Viele Leute stellen fest, daß sie während des Fahrens kreativeDenkarbeit leisten, oft jedes Zeitgefühl verlieren und eine ange-nehme Gelöstheit verspüren. Vielleicht aktivieren diese geistigen

atigkeiten die gleichen Gehirnfunktionen, die wir auch beimZeichnen benutzen. Wenn allerdings dichter Verkehr herrscht,venn wir es eilig haben oder wenn der Beifahrer ständig auf uns-inredet, stellt sich der andere Bewußtseinszustand nicht ein. Die

ründe dafür werde ich im dritten Kapitel erörtern.

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Zeichnen und die Kunst des Radfahrens

Der Schlüssel zum Zeichnenlernen ist also die Fähigkeit, sichselbst die Bedingungen zu schaffen, die den Übergang zu jenemanderen Modus der Informationsverarbeitung fordern —zu jenemleicht veränderten Bewußtseinszustand, der Sie in die Lage ver-setzt, klar, genau zu sehen. Wenn Sie diesen Zustand herbeiführenkönnen, wird es Ihnen leichtfallen, mit dem Zeichenstift festzuhal-ten, was Sie sehen - auch dann, wenn Sie niemals Zeichenunter-richt gehabt haben. Ist Ihnen diese besondere Art der Wahrneh-mung und Verarbeitung optischer Eindrücke erst einmal ver-traut, werden Sie ohne Schwierigkeiten in den anderen Bewußt-seinszustand überwechseln können, wann immer Sie es wollen.

Schöpfen Sie aus Ihrem kreativen Selbst

In meinen Augen verfügen Sie über das kreative Potential, IhremSelbst zeichnerisch Ausdruck zu verleihen. Mein Ziel ist, Sie mitden Mitteln zur Freisetzung dieses Potentials zu versehen, damitSie sich bewußt Zugang zu Ihrer Intuition, Ihrer Erfindungsgabeund Vorstellungskraft verschaffen können -jenen Potentialen, dieinfolge unserer einseitig auf sprachliche Kommunikation, Wissen-schaft und Technologie ausgerichteten Kultur und Erziehungweitgehend ungenutzt bleiben. Sie werden zwar durch die Be-schäftigung mit diesem Buch zeichnen lernen, doch das ist fürmich nur ein Mittel zum Zweck. Beim Zeichnenlernen werden Sienämlich die Kräfte und Fähigkeiten der rechten Hirnhälfte anzu-zapfen beginnen, Sie werden anders zu sehen lernen und — wie dergroße Bildhauer Rodin es poetisch ausdrückte — zum Vertrautender Natur; Ihr Auge wird aufgeschlossen für die schöne Spracheder Form, so daß es Ihnen leichtfällt, sich in dieser Spracheauszudrücken.

Während des Zeichnens werden Sie tief in einen Bereich IhresGeistes eintauchen, der durch das endlose Einerlei unseres Alltagsso häufig verdeckt wird. Diese Erfahrung wird Ihnen helfen, dieDinge in ihrer Totalität neu wahrzunehmen und die ihnen zu-grunde liegenden Strukturen und zahllose Möglichkeiten zuneuen Kombinationen zu erkennen.

Mag das Zeichnen auch noch so viel Freude machen und alslohnende Beschäftigung empfunden werden, es ist doch nur einSchlüssel, der die Tür zu anderen Zielen öffnet. Ich hoffe, daß sichIhre kreativen Kräfte durch das sich erweiternde BewußtseinIhrer geistigen Fähigkeiten entfalten werden. Die Übungen indiesem Buch sollen Ihnen helfen, mehr Vertrauen zu gewinnen zu

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Zeichnen und die Kunst des Radfahrens

Ihren persönlichen Entscheidungen und zu Ihrer Fähigkeit, Pro-bleme zu lösen. Das Kräftepotential der schöpferischen, imagina-tiven Hemisphäre ist nahezu unbegrenzt. Das Zeichnen ist nur ein\Veg, diese Kräfte kennenzulernen. Es zwingt Sie, sich selbst zuoffenbaren.

Indem wir uns dieses wahre Ziel vor Augen halten, wollen wirnun darangehen, den Schlüssel zu schmieden.

Ein Weg zur Kreativität

Die Übungen und Anleitungen in diesem Buch sind für Menschengedacht, die überhaupt nicht zeichnen können und glauben, siehätten wenig oder gar kein Talent dazu, die es aber doch gernlernen möchten. Die Methode, die ich vermitteln will, unterschei-det sich insofern von den Verfahren anderer Zeichenlehrbücher,als die Übungen auf die Förderung von Fähigkeiten abzielen, überdie Sie bereits verfügen und die Sie nur zu entdecken und zu erschlie-ßen brauchen.

Jeder, der seine kreativen Kräfte - auf welchem Gebiet und zuwelchem Zweck auch immer - besser nutzen und deshalb dieBlockierung dieses Potentials lösen möchte, kann von den Übun-gen in diesem Buch profitieren. Auch Lehrern und Eltern könnenTheorie und Praxis meiner Methode hilfreiche Anregungen ge-ben, die kindliche Kreativität zu fördern. Am Ende des Buchesfinden Sie ein kurzes Postskriptum, in dem ich einige allgemeineVorschläge für die Übertragung meiner Methode auf den Unter-richt mit Kindern mache. Mit einem weiteren Postskriptumwende ich mich an Kunststudenten.

Dieses Buch basiert auf einem Kursus von neun Lektionen, denich seit ungefähr fünf Jahren für Personen der verschiedenstenAlters- und Berufsgruppen halte. Die meisten meiner Schülerbringen nur sehr geringe Vorkenntnisse mit und sind voller Zwei-fel, ob sie begabt genug sind, das Ziel des Kurses zu erreichen.Doch schon bald werden sie zuversichtlicher, und am Ende habensie fast ausnahmslos eine Fähigkeit zu zeichnen entwickelt, die sieselbst überrascht und Ihnen das nötige Selbstvertrauen gibt, ihreschöpferischen Ausdruckskräfte in anderen Kursen oder durchselbständiges Arbeiten weiter zu schulen.

verblüffend ist, jedenfalls bei der Mehrzahl der Schüler, dasschnelle Tempo ihrer Fortschritte bei der Entfaltung ihres zeich-nerischen Könnens. Wenn Menschen, die im Zeichnen ungeübt

sind, lernen, zur künstlerischen Sehweise überzuwechseln —also

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unu uic rvunst aes Kaaianrens

zum «R-Modus» (vgl. S. 56) —, dann sind sie meinen Erfahrungenzufolge auch imstande, sich ohne weitere Anleitung zeichnerischweiterzubilden. Anders ausgedrückt: Sie können bereits zeichnendoch alte Sehgewohnheiten blockieren diese Fähigkeit in IhnenMit Hilfe der Übungen in diesem Buch können Sie diese Blockie-rung beseitigen.

Durch die Übungen werden Sie bewußter wahrzunehmen ler-nen, auf welche Weise Ihr Denken funktioniert, genauer: wieIhrebeiden Gehirnhälften arbeiten - einzeln, gemeinsam oder einan-der entgegengesetzt. Wie den meisten meiner Schüler wird IhnenIhr Leben reicher erscheinen, weil Sie mehr und intensiver sehen.

Wirklichkeitsgetreu zeichnen - ein Mittel zum ZweckDie meisten Übungen, die Sie in diesem Buch finden, sind daraufausgerichtet, Ihre Fähigkeit zum wirklichkeitsgetreuen (akademi-schen) Zeichnen zu fördern. Sie werden lernen, einen Gegenstandoder eine Person möglichst so mit dem Zeichenstift abzubilden,wie Sie sie vor sich sehen, wie sie Ihnen erscheinen. Damit will ichindes keineswegs andeuten, daß eine solche naturalistische Dar-stellung höher zu werten sei als andere Arten des künstlerischenAusdrucks. In gewissem Sinne halte ich das Streben nach wirk-lichkeitsgetreuer Darstellung für eine Durchgangsphase, die einMensch zumeist bereits als Kind im Alter von etwa zehn bis zwölfJahren hinter sich läßt, wenn seine schöpferischen Ausdrucksfä-higkeiten - ein seltener Idealfall - von Eltern und Erzieherngefördert werden. Naturalistisch zeichnen zu können, ist in drei-erlei Hinsicht eine wertvolle Gabe. Erstens wird man geschult,genau und gründlich hinzusehen. Zweitens gewinnt man Ver-trauen in seine schöpferischen Fähigkeiten, die sich in den Augenvieler Laien allein in der Beherrschung der naturalistischen Zei-chenkunst kundtun. Selbst Menschen, die in künstlerischen Beru-fen arbeiten-Kunstlehrer, Designer, Graphiker, aber auch Malerund Bildhauer -, nahmen an meinen Kursen teil und vertrautenmir an, daß sie es als Mangel empfanden, nicht naturgetreuzeichnen zu können. Um diesen Mangel zu verbergen, mußten siesich bisweilen komplizierter, komischer und zugleich traurigerStrategien und Winkelzüge bedienen. Eine wirksame Hilfe, umdiesem Dilemma zu entgehen, besteht darin, die blockierte Fähig-keit zum realistischen Zeichnen freizusetzen. Die in diesem Buchdargelegten Methoden können dazu beitragen, diese Blockierun-gen zu durchbrechen und Ihnen Mut zu machen, Ihr neu gewon-nenes kreatives Potential auch in anderen Bereichen künstleri-schen Schaffens, mit anderen Darstellungsformen und -mittein, zu

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erproben. Drittens werden Sie lernen, zu einer neuen Art zudenken überzuwechseln, dem R-Modus, der Ihnen helfen wird,Probleme - welcher Art auch immer - auf eine kreative undklarsichtige Weise zu lösen.

Warum Gesichter?Eine Reihe von Übungen und Lernsequenzen in diesem Buchsollten Sie in die Lage versetzen, Porträts zu zeichnen, die IhremModell gleichen. Lassen Sie mich erklären, weshalb ich der Mei-nung bin, daß Porträtzeichnen auch gerade für den Anfänger vonNutzen ist. Generell gilt: Jede Art zu zeichnen ist gleich schwer. AlleAufgaben haben den gleichen Schwierigkeitsgrad. Ob es sich umdas Zeichnen von Stilleben, von Landschaften, Figuren, Gegen-ständen aller Art — auch imaginäre — oder um Porträts handelt,stets ist dasselbe Können und dieselbe Sehweise notwendig. Es istimmer der gleiche Vorgang: man sieht etwas «da draußen» (imagi-näre Gegenstände werden mit dem geistigen Auge «gesehen»),und dann zeichnet man, was man sieht.

Warum nun habe ich für bestimmte Übungszwecke das Por-trätzeichnen ausgesucht? Aus dreierlei Gründen. Erstens: VieleAnfänger glauben, das Schwerste von allem sei, das Gesicht einesMenschen zu zeichnen. Wenn sie feststellen, daß sie durchausimstande sind, ein Porträt zu zeichnen, fühlen sie sich ermutigtund machen schnellere Fortschritte. Ein zweiter Grund, wichtigernoch, ist der, daß die rechte Hemisphäre des Gehirns auf dasWiedererkennen von Gesichtern «spezialisiert» ist. Da wir ja ge-rade zur rechten Gehirnhälfte Zugang finden möchten, liegt esnahe, sich für einen Gegenstand zu entscheiden, mit dem umzu-gehen sie gewohnt ist. Und drittens sind Gesichter faszinierend.Erst wenn Sie einen Menschen zeichnen, werden Sie sein Gesichtwirklich wahrnehmen. Einer meiner Schüler sagte einmal: «Eheich zu zeichnen anfing, habe ich niemals ein Gesicht wirklichgesehen. Nun aber finde ich seltsamerweise jedes Gesichtschön.»

ZeichenmaterialFür die Übungen in diesem Buch brauchen Sie nur ganz einfachesMaterial: normales, saugfähiges Schreibmaschinenpapier (eineSorte, die nicht zum Radieren geeignet ist, da Bleistiftstriche dar-auf leicht verschmieren) oder einen einfachen Zeichenblock. Fer-ner brauchen Sie einen Bleistift und einen Radiergummi. Ambesten geeignet ist ein Bleistift Nummer 4B, dessen Mine weich istund eine klare dunkle Linie zeichnet, doch ein gewöhnlicherSchreibstift Nummer 2 ist fast ebenso gut. Später werden Sie noch

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anderes Material dazunehmen wollen — vielleicht Kohle odereinen Filzstift oder grau und braun getönte Zeichenstifte und sofort. Doch für die meisten Übungen reichen Papier, Bleistift undRadiergummi vollkommen aus.

Immer nur ein Schritt auf einmalIm Verlauf meiner Lehrtätigkeit habe ich mit den verschieden-sten Schritt für Schritt aufeinander aufbauenden Übungen, Lern-sequenzen und Übungskombinationen experimentiert. Die in die-sem Buch aufgeführten Sequenzen haben sich in meinen Kursenals die erfolgreichsten erwiesen. In den ersten drei Kapiteln gebeich einen Teil der Theorie wieder, die meiner Unterrichtsmethodezugrunde liegt, darunter eine kurze Darstellung neuester Er-kenntnisse der Hirnforschung, die ich mir bei der Lösung desProblems, wie man Menschen auf eine einfache und effektiveWeise das Zeichnen beibringen kann, zunutze gemacht habe.

Wenn Sie im vierten Kapitel mit den Übungen beginnen,werden Sie bereits über ein Vorwissen verfügen, auf Grund dessenSie erkennen können, wie ich diese Übungen entwickelt habe undwarum sie zu den jeweils notwendigen Lernschritten führen. DieÜbungsfolge ist so angelegt, daß man auf jeder Stufe Lernerfolgeerzielt und Zugang zu jenem bereits beschriebenen neuen Modusder Informationsverarbeitung erhält. Es ist wichtig, daß bei die-sem Lernprozeß die gewohnte Art zu denken so wenig wie mög-lich verunsichert wird. Deshalb bitte ich Sie, die Übungen in derhier festgelegten Reihenfolge durchzuführen.

Ich habe die Zahl der Übungen, die ich Ihnen empfehle, auf einMinimum beschränkt, doch wenn es Ihre Zeit erlaubt, zeichnenSie mehr, als verlangt wird: Wählen Sie sich selbst Gegenständeaus und erfinden Sie eigene Übungen hinzu. Je mehr Sie auseigenem Antrieb zeichnen, desto schneller werden Sie vorankom-men. Zu diesem Zweck schlage ich in der Randspalte häufigÜbungen vor, die die im Text gestellten Aufgaben ergänzen.

Es ist bei den meisten Übungen wichtig, daß Sie die Anleitungganz durchlesen, ehe Sie zu zeichnen beginnen, und sich auch dieabgebildeten Zeichnungen anderer Schüler genau ansehen, wennich Ihnen dies empfehle. Noch ein Tip: Bewahren Sie alle IhreZeichnungen auf, damit Sie am Ende des Buches überblickenkönnen, welche Fortschritte Sie gemacht haben.

Definition der FachausdrückeAm Ende meines Buches finden Sie ein Glossar. Manche Begriffewerden schon im Text ausreichend erklärt. Im Glossar habe ich

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deshalb vor allem Ausdrücke zusammengestellt, die ich vorhernicht so präzis definiert habe, zum Beispiel die Begriffe «Valeurs»oder «Komposition», die längst Eingang in unsere Umgangsspra-che gefunden haben, jedoch in der Terminologie der bildendenKünste bisweilen eine ganz andere Bedeutung haben. Daher emp-fehle ich, zunächst einen Blick auf das Glossar zu werfen, ehe Siesich in den Text vertiefen.

Zeichnungen vor Kursusbeginn:Der Beweis Ihrer künstlerischen Fähigkeiten

Ehe Sie weiterlesen, möchte ich Sie nun bitten, vier Zeichnungenanzufertigen, die den Stand Ihres zeichnerischen Könnens de-monstrieren, bevor Sie von der im folgenden dargelegten Theorie«infiziert» werden. Anfängern ist diese Bitte meist recht unange-nehm: Sie werden noch befangener, als sie es sowieso schon sind.Doch wenn Sie ihr jetzt folgen, werden Sie bei der ersten Aufgabeim vierten Kapitel zuversichtlicher sein, daß Sie wirklich zeichnenlernen können, und Sie werden eine größere Bereitschaft spüren,sich auf die Übungen einzulassen.

Viele meiner Schüler waren im nachhinein froh, daß sie dieseersten Zeichnungen angefertigt hatten. Sie waren für sie einegroße Hilfe, die Entwicklung ihres zeichnerischen Könnens abzu-schätzen. Sobald sie nämlich Fortschritte machen, werden sieanscheinend von Gedächtnisschwund befallen. Sie vergessen, wieihre Zeichnungen aussahen, ehe sie mit dem Kursus begannen.Und mit dem Fortschritt wächst auch ihre Kritik gegenüber deneigenen Werken. Sie sind nie ganz zufrieden. Die «Vorher»-Zeichnungen liefern einen recht zuverlässigen Maßstab für IhreFortschritte. Bewahren Sie alle Ihre Zeichnungen auf. Späterwerden wir sie wieder betrachten und sehen, wie Sie Ihre Fähig-keit zu zeichnen weiterentwickelt haben.

Zeichnungen meiner Schüler -vor und nach dem Kursus

Nun möchte ich Ihnen gern einige Zeichnungen meiner Schülervorlegen, die typische Veränderungen ihres zeichnerischen Kön-nens während des etwa zwei Monate laufenden Kurses erkennenlassen. Die meisten Schüler, deren Zeichnungen auf den folgendendrei Seiten abgebildet sind, nahmen an einem Neun-Wochen-

Die ersten vier ZeichnungenNehmen Sie Bleistift und Papier, ijede Zeichnung dürfen Sie zehn, fzehn, zwanzig Minuten oder längverwenden, je nach Wunsch. Verjsen Sie nicht, Ihre Zeichnungen neinem Datum zu versehen.

Erste Aufgabe: Zeichnen Sie einenMenschen. Wichtig ist, daß Sie bedieser Übung keine Vorlage, keindell zum Abzeichnen verwenden.Zweite Aufgabe: Zeichnen Sie denKopf eines Menschen ab — zum Bispiel während er schläft oder vor cFernsehgerät sitzt. Sie können sielauch vor einen Spiegel setzen undIhr eigenes Gesicht zeichnen. Benzen Sie keine Fotografie als Vorlai

Dritte Aufgabe: Zeichnen Sie Ihre <gene Hand! Die Haltung ist belietSind Sie Rechtshänder, zeichnen !Ihre linke, sind Sie Linkshänder,zeichnen Sie Ihre rechte Hand ab

Vierte Aufgabe: Stellen Sie einen Stvor sich hin, und zeichnen Sie ihnBenutzen Sie keine Fotografie alsVorlage!Wenn Sie fertig sind: Schreiben Siedie Rückseite jedes Blattes eine kuBewertung — was Ihnen an IhrerZeichnung gefällt und was.nicht.Diese Bemerkungen werden in eingen Wochen, wenn Sie alle Übunghinter sich gebracht haben, von grßem Interesse für Sie sein.

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Zeichnen und die Kunst des Radfahrens

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Zeichnen und die Kunst des Radfahrens

Kursus teil. Sie zeichneten einmal wöchentlich drei Unterrichts-stunden lang unter meiner Anleitung und bekamen in etwa diegleichen Aufgaben gestellt, die Sie in diesem Buch finden.

Die «Vorher»- und «Nachher»-Zeichnungen sollen deutlichmachen, daß sich sowohl die Sehweise der Kursusteilnehmer alsauch ihre zeichnerischen Fähigkeiten drastisch veränderten. DerUnterschied ist so auffällig, daß man meinen könnte, die Zeich-nungen stammten jeweils von zwei verschiedenen Personen.

Bewußt wahrzunehmen — das ist die Grundfähigkeit, die sich dieTeilnehmer im Verlauf des Kurses aneignen. Die deutliche Ver-besserung ihres zeichnerischen Könnens spiegelt eigentlich nurdie rasche Entfaltung ihrer Beobachtungsgabe, ihre Fähigkeit,genau hinzusehen, wider. Betrachten Sie die Zeichnungen unterdiesem Aspekt - als einen sichtbaren Beweis für die Verfeinerungder Wahrnehmungsfähigkeit.

Machen Sie sich mit dem Zeichenpapier vertraut

Nichts wirkt einschüchternder auf einen Anfänger, aber auch aufviele erfahrene Künstler, als weißes, unberührtes Zeichenpapier.Eine Möglichkeit, diese Hemmung zu überwinden, besteht darin,einfach munter draufloszuzeichnen. Damit Sie sich an das Zei-chenmaterial gewöhnen und Ihre Scheu vor dem leeren Papierverlieren, empfehle ich Ihnen die folgenden Übungen. Sie dienenzugleich auch zur Erholung von Ihren ersten Zeichenversuchenund zur Lockerung der Hand.

Legen Sie einen weißen Bogen vor sich hin, und nehmen Sieeinen Bleistift zur Hand. Ziehen Sie, beginnend an einem Randdes Blattes, freihändig eine deutliche Linie, ziehen Sie sie immerweiter, um alle vier Ecken herum, wo Sie sie ein wenig abrunden.Nehmen Sie den Bleistift nicht vom Papier! Überziehen Sie nunallmählich das Blatt zunächst mit senkrechten, dann mit waage-rechten Linien (Abb. 2). Achten Sie dabei immer auf den Abstandder Linie zum Blattrand und zu den daneben verlaufenden Li-nien. Führen Sie den Stift noch einmal über einige Linien zurück,so daß diese dunkler erscheinen, betont werden. Spielen Sie mitden auf diese Weise entstehenden Mustern. Denken Sie sich,während Sie weiterzeichnen, Bewegungen für Ihre Hand aus, dieden Stift führt, und machen Sie sich bewußt, daß Sie die Linieerschaffen und daß die Linien, das Papier und die Formen, die Sieda zeichnen, Sie auf eine ganz natürliche Weise zu Ihrer nächstenBewegung hinführen.

Abb. 2

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Nehmen Sie ein neues Blatt Papier, und spielen Sie auf dieselbeWeise mit diagonalen, aber zugleich auch — wie bei der erstenÜbung- mit senkrechten und waagerechten Linien, die die Rän-der des Bogens betonen (Abb. 3). Dann machen Sie auf jeweilsneuen Blättern die gleichen Versuche mit Kreisen und mit Karosoder Rhomben. Und zum Schluß zeichnen Sie irgendwelche Li-nien, wie sie Ihnen gerade in den Sinn kommen. Die Zeichnungdes großen französischen Malers Eugene Delacroix (Abb. 4) sollIhnen die Ausdruckskraft spielerischer Linien demonstrieren.

Abb. 4: <Une Femme d'Alger>. Nach einer Lithographie von Eugene Delacroix.Das kapriziöse Spiel der Linien fugt sich hier zum Bild.Mit freundlicher Genehmigung des Metropolitan Museum of Art,Harris Brisbane Dick Fund, 1928.

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Zusammenfassung

Ich habe Sie mit der grundlegenden Prämisse dieses Buches be-kannt gemacht: daß Zeichnen eine Fähigkeit ist, die man lehrenund lernen kann und die in zweifacher Hinsicht sehr nützlich seinkann. Indem Sie sich Zugang zu dem Teil Ihres Gehirns verschaf-fen, der die schöpferischen, intuitiven Geisteskräfte steuert, eignenSie sich eine Grundvoraussetzung der Zeichenkunst an: die Fähig-keit, aufs Papier zu bannen, was Sie vor Ihren Augen sehen.Zweitens: Wenn Sie nach der in diesem Buch dargestellten Me-thode zeichnen lernen, werden Sie die Fähigkeit erwerben, auchin anderen Bereichen Ihres Lebens schöpferischer zu sein.

Wie weit Sie Ihre Fähigkeiten nach Abschluß dieses Kursesweiterentwickeln, wird von anderen Faktoren — von Ihrer Energieund Wißbegier zum Beispiel - abhängen. Doch das Wichtigsteimmer zuerst! Das schöpferische Potential ist jedenfalls vorhanden- ein Keim, den wir zum Wachsen bringen wollen. Vielleicht istes ein Trost für uns zu wissen, daß auch ein Shakespeare mit demSchreiben einfacher Sätze beginnen, daß auch ein BeethovenTonleitern üben und daß — wie auf den Abbildungen 5 und 6 zusehen ist — auch ein van Gogh zeichnen lernen mußte.

Nur in den letzten zehn Jahren vor seinem frühen Tod, vomsiebenundzwanzigsten bis zum siebenunddreißigsten Lebensjahr,schuf van Gogh seine Kunstwerke. Während der ersten zweiJahre dieser Dekade hat er nur gezeichnet — er brachte es sichselbst bei. An seiner Zeichnung <Zimmermann) (Abb. 5) kann manerkennen, wie er in seinen ersten Versuchen noch mit Problemender Proportion und der formalen Anordnung gerungen hat. Dochzwei Jahre später- an der Zeichnung von der trauernden Frau istdas deutlich festzustellen - hatte van Gogh diese Schwierigkeitenüberwunden. Seine Zeichnungen hatten nun eine ungeheure Aus-druckskraft.

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Abb. 5: Vincent van Gogh (1853-1890): <Zimmermann), Zeichnungaus dem Jahre 1880.Mit freundlicher Genehmigung des Rijksmuseum Kröller-Müller, Otterlo.

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AM. 6: Vincent van Gogh: (Trauernde) (1882). Mit freundlicher Genehmigungdes Rijksmuseum Kröller-Müller, Otterlo.

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2Sich selbstzum Ausdruck bringen:Die nonverbale Spracheder Kunst

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Die nonverbale Sprache der Kunst

Dieses Buch soll Ihnen einen Weg zeigen, wie Sie die grundlegen-den Fähigkeiten des Sehens und Zeichnens erwerben können. Ichhabe jedoch nicht die Absicht, einen «Leitfaden für jedermann» zuschreiben mit dem Thema «Wie bringe ich am besten meinePersönlichkeit zum Ausdruck?». Ich möchte Ihnen lediglich hel-fen, sich von stereotypen Formen des Sich-selbst-zum-Ausdruck-Bringens zu befreien. Dieser Lernprozeß wiederum kann Ihnen denWeg zum individuellen Ausdruck Ihrer selbst öffnen — zu Ihremeigenen persönlichen Zeichenstil.

Betrachten wir einmal unsere Handschrift als zeichnerischeAusdrucksform: Wir entdecken, daß wir bereits in der Lage sind,unsere Persönlichkeit durch ein zeichnerisches Mittel zum Aus-druck zu bringen - und zwar mit Hilfe eines Grundelements derKunst: der Linie.

Schreiben Sie Ihren Namenszug auf ein Blatt Papier. Versu-chen Sie nun, Ihre Unterschrift zu «sehen»: Sie erblicken eineZeichnung vor sich, die Sie selbst geschaffen haben. Freilich, sie istgeprägt von den kulturellen Einflüssen Ihrer Umwelt. Doch wel-che künstlerischen Schöpfungen unterliegen nicht solchen Ein-flüssen?

Jedesmal wenn Sie Ihren Namen schreiben, geben Sie sichselbst mit den vielfach geschwungenen Linien der Unterschrifteinen ganz persönlichen Ausdruck. Auch in dem SkizzenblattPicassos (Abb. 7) ist die Linie das Grundelement, das der Künstlerhier verwendet, um eine Zeichnung zu «schreiben». Wenn SieIhren Namenszug viele Male übereinander «zeichnen», wird erebenso Ausdruck Ihrer selbst, wie Picassos Linien Ausdruck Picas-sos sind. Die Linien können also «gelesen» werden, weil Sie sichbeim Schreiben Ihres Namens der nonverbalen Sprache derKunst bedienen. Versuchen wir einmal, das folgende System vonLinien zu lesen. Und nun sagen Sie mir, was für ein Mensch dasist.

Vermutlich werden Sie meinem Eindruck zustimmen können,daß Dale G. Smith ein eher extravertierter als introvertierterMensch ist, zumindest dem Anschein nach leicht aus sich heraus-kommt, gesprächig ist, ja sich bisweilen sogar theatralisch gibt.

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Abb. y: <Skizzenblatt> von Pablo Picasso (1881—1973). Mit freundlicher Geneh-migung des Museum of Fine Arts, Boston, The Arthur Mason Knapp Fund.

Freilich, es ist möglich, daß diese Annahmen falsch sind. Woraufes jedoch ankommt, ist, daß die meisten Menschen dies demnonverbalen Ausdruck des Namenszuges entnehmen würden,weil es das ist, was Dale G. Smith (ohne Worte) in ihm mitteilt.Sehen wir uns nun andere Unterschriften an.

Die nonverbale Sprache der Kunst

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Die nonverbale Sprache der Kunst

Bei der ersten der drei Unterschriften würden Sie vermutlichden Eindruck haben, daß es sich um einen konservativen, ruhi-gen, zuverlässigen, wahrscheinlich nicht sehr risikofreudigen Typhandelt. Und wie steht es mit den anderen beiden Dale G. Smith?Lassen Sie diesmal die nonverbale Sprache der beiden Unter-schriften auf sich wirken, ohne die Informationen, die sie Ihnenvermitteln, in Worte zu fassen.

Nun betrachten Sie Ihren eigenen Namenszug und lassen Siesich, wie bei den vorigen Unterschriften, von seiner nonverbalenBotschaft ansprechen. Schreiben Sie Ihren Namen auf dreierleiverschiedene Weise, und lassen Sie die Botschaft jeder dieser dreiUnterschriften auf sich wirken. Nun vergegenwärtigen Sie sich,wie unterschiedlich Sie auf die Namenszüge reagiert haben. Hal-ten Sie sich vor Augen, daß die «Zeichnungen» auf der verbalenEbene immer dieselbe Information vermittelten: Ihren Namen.Worauf aber haben Sie dann eigentlich reagiert?

Sie sahen und empfanden die individuellen Eigenarten jeder«gezeichneten» Linie beziehungsweise Linienanordnung. Sie rea-gierten gefühlsmäßig auf den Schwung der Schrift, auf Größe undAbstand der einzelnen Zeichen, auf eine durch Druckstärke undAnspannung beziehungsweise durch eine kraftlose, weichlicheLinienführung gekennzeichnete Schrift, auf die einheitliche bezie-hungsweise unregelmäßige Schriftlage — kurz: auf den Schriftzugals Ganzes sowie auf alle seine einzelnen Elemente zugleich. DerSchriftzug eines Menschen ist ein so einmaliger individueller Aus-druck des Schreibers, daß er juristisch als allein dieser einenPerson «eigen» anerkannt wird.

Ihr Namenszug dient jedoch nicht nur dazu, Ihre Identitätfestzustellen oder zu beweisen. Er bringt vielmehr Sie selbst, IhreIndividualität und Ihre Kreativität zum Ausdruck. Ihre Unter-schrift ist eine wahrheitsgetreue Aussage Ihrer selbst. In diesemSinne beherrschen Sie bereits die nonverbale Sprache der Kunst:Sie verwenden die Linie, den Strich — Grundelemente jeder Zeich-nung — auf eine Ihnen eigentümliche ausdrucksvolle Weise.

Links oben: Torii Kiyotada (schuf zwischen 1723 und 1750): (Tanzender Schauspie-ler). Darunter: Torii Kiyonobu (1664-1729): <Tänzerin> (ca. 1708). Mit freund-licher Genehmigung des Metropolitan Museum of Art, Harris Brisbane DickFund, 1949. Die Linienführung bringt in diesen japanischen Holzschnittenzwei verschiedene Arten des Tanzes zum Ausdruck. Versuchen Sie, sich dieseTänze bildlich vorzustellen. Können Sie vielleicht sogar die Musik hören, nach derdie Figuren tanzen? Versuchen Sie sich vor Augen zu fuhren, wie die charakteri-stische Anordnung der Linien die Eigenart der Musik wiedergibt und IhreReaktion auf die Zeichnung bestimmt.

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Die nonverbale Sprache der Kunst

In den folgenden Kapiteln werden wir daher nicht bei demverweilen, was Sie schon können. Statt dessen ist es mein Ziel, Sieso sehen zu lehren, daß Sie mit den Strichen und Linien, durch dieSie sich selbst auf eine ganz individuelle Weise zum Ausdruckbringen, das zeichnen können, was Sie wahrnehmen.

Die Zeichnung - Spiegel und Ausdruckder Künstlerpersönlichkeit

In einer Zeichnung bilden Sie nicht nur die von Ihnen wahrge-nommene Außenwelt ab, sondern immer auch zugleich sichselbst. Und je deutlicher Sie Ihre Umwelt wahrzunehmen und dasWahrgenommene zu zeichnen vermögen, desto deutlicher — soparadox es klingt — kann der Betrachter Ihrer Zeichnungen Sieerkennen, und desto mehr erfahren Sie über sich selbst. Daher istjede Zeichnung zugleich auch Metapher, bildlicher Ausdruck derPersönlichkeit des Künstlers, der sie geschaffen hat.

Da unsere Übungen sich auf die Erweiterung Ihrer Wahrneh-mungsfähigkeit konzentrieren sollen, wird Ihr persönlicher Stil —Ihre einmalige Art zu zeichnen — unangetastet bleiben. In demMaße, wie Ihre Fähigkeit zu sehen zunimmt, wächst auch IhreFähigkeit zu zeichnen, was Sie sehen, und Sie werden beobachten,wie sich Ihr Stil von selbst zu entwickeln beginnt. Hegen undpflegen Sie ihn, ist er doch Ausdruck Ihrer Person. Wie derZen-Meister in der Kunst des Bogenschießens sind Sie beimZeichnen selbst Ihr Ziel.

Abb. 8: <Winterlandschaft> (um 164g) von Rembrandt van Rijn (1606—1669).Mit freundlicher Genehmigung des Fogg Art Museum. Rembrandt zeichnetediese kleine Skizze mit den flüchtigen Strichen eines Kalligraphen. Bei derBetrachtung der Zeichnung spüren wir, wie der Künstler die Landschaft wahrge-nommen hat und wie er emotional auf ihre Ruhe und Stille reagiert.

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3Die zwei Hälften unseresGehirns

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Die zwei Hälften unseres Gehirns

Ein Mensch ist kreativ, wenn er imstande ist, die ihm unmittelbarzufließenden Informationen - die gewohnten Sinneseindrücke -auf eine neue Weise zu verarbeiten. Ein Schriftsteller verwendetWorte, ein Musiker Noten, der bildende Künstler setzt optischeWahrnehmungen um, und alle müssen sie über das in ihrer Kunstjeweils notwendige handwerkliche und technische Geschick verfü-gen. Doch das allein macht noch keine kreative Persönlichkeitaus. Sie sieht intuitiv immer neue Möglichkeiten, die alltäglichenGegebenheiten in eine neue, schöpferische, die pure Faktizitättranszendierende Sprache umzuwandeln.

Schon immer haben schöpferische Naturen zwischen derWahrnehmung ihrer Umwelt und der kreativen Umsetzung die-ser Wahrnehmungen unterschieden. Die neuesten Entdeckungender Hirnforscher erhellen diesen zweifachen Vorgang in den letz-ten Jahren mehr und mehr. Es ist für die Freisetzung Ihres krea-tiven Potentials wichtig, daß Sie sich mit den beiden Hälften desGehirns vertraut machen.

In diesem Kapitel möchte ich von jüngsten Untersuchungs-ergebnissen der Hirnforschung berichten, die unser theoretischesWissen über das menschliche Bewußtsein um gänzlich neuartigeErkenntnisse erweitert haben. Diese neuen Entdeckungen lassensich unmittelbar auf unser Vorhaben, die Freisetzung kreativerKräfte, anwenden.

Wir lernen beide Hälften unseresGehirns kennen

Von oben gesehen ähnelt das menschliche Gehirn den zwei Hälf-ten einer Walnuß. Es sind zwei gleich aussehende, gewundene undgefurchte, abgerundete Hälften, die in der Mitte des aus ihnenbestehenden Ganzen miteinander verbunden sind (Abb. 9). Diesebeiden Hälften nennt man «linke Hemisphäre» und «rechte He-misphäre».

Das Nervensystem ist kreuzweise mit dem Gehirn verbunden,so daß die linke Hemisphäre die rechte Körperhälfte und umge-kehrt die rechte Hemisphäre die linke Körperhälfte steuert. Erlei-den Sie einen Schlaganfall oder einen Hirnschaden, der die linkeHemisphäre in Mitleidenschaft zieht, so wird sich das auf Ihrerechte Körperhälfte auswirken und umgekehrt. Auf Grund dieserkreuzweisen Verbindung der Nervenbahnen mit dem Gehirnwird die linke Hand von der rechten Hemisphäre, die rechteHand von der linken Hemisphäre gelenkt (vgl. Abb. 10).

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Abb. 10: Die linke Hand ist mit der rechten Gehirnhälfte, die rechte Hand mit derlinken Gehirnhälfte verbunden.

Das doppelte Gehirn

Bei Tieren gleichen sich die Hirn-Hemisphären. Die funktionaleVerbindung zwischen Gehirn- und Körperhälfte verläuft symme-trisch. Die menschlichen Hirn-Hemisphären entwickeln sich hin-sichtlich ihrer funktionalen Zuordnung zu den Körperhälftenasymmetrisch. Der auffallendste Ausdruck der asymmetrischenEntwicklung bestimmter Nervenzentren des menschlichen Ge-hirns ist die Rechts- beziehungsweise Linkshändigkeit.

Bereits seit etwa hundertfünfzig Jahre"h ist der Wissenschaftbekannt, daß das Sprachzentrum und alle mit ihm verbundenenFähigkeiten und Funktionen bei den allermeisten Menschen - beietwa 98 Prozent der Rechtshänder und etwa zwei Dritteln derLinkshänder - in der linken Hemisphäre liegt. Diese Erkenntnishatte man hauptsächlich aus der Beobachtung der Auswirkungenvon Hirnverletzungen gewonnen. Es fiel zum Beispiel auf, daßVerletzungen der linken Hemisphäre weit häufiger den Verlustder Sprechfähigkeit zur Folge hatten als eine ebenso schwerwie-gende Schädigung der rechten Hemisphäre.

Da Sprache und Sprechen so eng mit dem Denken, dem Ver-stand und den höheren geistigen Funktionen, durch die sich Men-

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sehen grundsätzlich von den anderen Geschöpfen unseres Plane-ten unterscheiden, verbunden sind, hielten die Wissenschaftler des19. Jahrhunderts die linke Hemisphäre für die dominante undgaben ihr die Zusatzbezeichnung major; die rechte hingegen hiel-ten sie für untergeordnet und klassifizierten sie als minor. Nach derbis in die jüngste Zeit allgemein vorherrschenden Ansicht war dierechte Gehirnhälfte weniger entwickelt und ausgebildet als dielinke, ein stummer Zwilling mit geringwertigeren Fähigkeiten,der von der linken Hemisphäre gelenkt und «mitgeschleppt»wurde.

Schon seit langem konzentrierte sich die Forschung der Neuro-physiologen auf die noch unbekannten Funktionen eines aus Mil-lionen von Nervenfasern bestehenden Stranges, der die beidenHemisphären miteinander verbindet. Diese Verbindung wirdCorpus callosum oder Balken genannt (vgl. Abb. 11). Die auffal-lende Größe dieses Stranges, die ungeheure Zahl von Nervenfa-sern, aus denen er zusammengesetzt ist, und die Tatsache, daß erals das einzige Bindeglied zwischen den beiden Hemisphärenfungiert, legten den Schluß nahe, daß es sich um ein wichtiges Teildes Gehirns handelt. Doch zum Erstaunen der Wissenschaftlerstellte sich heraus, daß der Balken vollständig durchtrennt werdenkonnte, ohne daß sich irgendwelche bedeutsamen Folgen zeigten.Durch eine Reihe von Tierversuchen, die vor allem im California

Abb. 11: Graphische Darstellung einer Hälfte des menschlichen Gehirns mit demCorpus callosum (Balken) und den dazugehörigen Verbindungsbahnen.

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Institute of Technology von dem Neurophysiologen Roger W.Sperry, seinen Schülern Ronald Myers, Golwyn Trevarthen undanderen in den fünfziger Jahren durchgeführt wurden, stellte manfest, daß eine der Hauptfunktionen des Corpus callosum darinbesteht, die Kommunikation zwischen den beiden Hemisphären zugewährleisten und im Gedächtnis gespeicherte Informationen underlerntes Wissen zu übermitteln. Darüber hinaus zeigte sich, daßdie beiden Hemisphären nach einer Kommissurotomie, der Durch-trennung des Balkens, unabhängig voneinander weiter funktionier-ten — eine Entdeckung, auf Grund derer man wenigstens zum Teillas Ausbleiben jeglicher Auswirkung der Operation auf das Ver-lalten und die Körperfunktionen erklären konnte.

In den sechziger Jahren begann man, ähnliche Untersuchun-gen bei Patienten in neurochirurgischen Abteilungen durchzu-führen. Diese Forschungen führten zu gänzlich neuen Erkenntnis-sen über die Funktionen des Corpus callosum. Sie zwangen dieWissenschaftler zu einer Revision ihrer Auffassungen über dieFähigkeiten der Hirn-Hemisphären: Beide Gehirnhälften sind anhochentwickelten kognitiven Prozessen beteiligt, wobei beide aufunterschiedliche', höchst komplexe Denkmodi «spezialisiert» sind,die sich gegenseitig ergänzen.

Da sich aus dieser gewandelten Sicht für Erziehung und Bil-dung im allgemeinen und für das Zeichnenlernen im besonderenwichtige Folgerungen ergeben, möchte ich hier kurz auf die Er-kenntnisse der sogenannten Split-brain-Forschung eingehen, dieebenfalls im wesentlichen von Sperry und seinen Schülern, vorallem Michael Gazzaniga, Jerre Levy, Colwyn Trevarthen undRobert Nebes, durchgeführt wurden.

Sie konzentrierten ihr Forschungsinteresse auf eine kleine Pro-bandengruppe - auf jene Menschen, die unter der Bezeichnung«Split-brain-Patienten» in die Medizingeschichte eingegangensind. Es waren Epileptiker, die unter so schweren Anfällen litten,daß beide Gehirnhälften stark in Mitleidenschaft gezogen wur-den. Wenn alle anderen Mittel versagten, führten die Ärzte Phil-lip Vogel und Joseph Bogen an diesen Patienten eine Operationdurch, bei der sie das Corpus callosum und die dazugehörigenKommissuren, die Querverbindungen zwischen den beiden He-misphären, durchtrennten. Auf diese Weise wollten sie verhin-dern, daß der von einer Gehirnhälfte ausgehende Anfall auch aufdie andere übergeht und damit den Epileptiker vollkommenhandlungsunfähig macht. Die Operation führte tatsächlich zudem erhofften Erfolg: Es gelang, die Anfälle unter Kontrolle zubringen. Die Patienten wurden wieder gesund. Trotz seiner Ra-

«Die wichtigste Erkenntnis, die siherauszukristallisieren scheint, isdaß es anscheinend zwei Denkwfgibt die verbale und die nonveibale —, die weitgehend getrennt \einander von der linken und derten Hemisphäre repräsentiert weden. Unser Bildungssystem wie aunsere Wissenschaft allgemein n«dazu, die nonverbale Form der Iligenz zu vernachlässigen. Das h;zur Folge, daß die rechte Gehirnhälfte seitens unserer Gesellschafkriminiert wird.»

Roger W. Sperry<Lateral Specializaüon ofCerebralFunctions in the Surgically SeparatedHemispheres>.

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dikalität wirkte sich dieser Eingriff nur geringfügig auf das äußereErscheinungsbild der Patienten, auf ihre Lebensart und ihre Kör-perbeherrschung aus, und bei unsystematischer Beobachtungschien es, als habe sich ihr Alltagsverhalten kaum verändert.

Sperry und seine Mitarbeiter setzten ihre Untersuchungen anden Split-brain-Patienten mit einer Reihe von sorgfältig vorberei-teten, eigens zu diesem Zweck entwickelten Tests fort. Es gelangihnen, die verschiedenen, voneinander getrennten Funktionender beiden Hemisphären aufzudecken. Zu ihrer eigenen Überra-schung konnten sie beweisen, daß jede Gehirnhälfte in gewissemSinne ihr eigenes Bild von der Realität wahrnimmt. Die linke,Denken und Sprechen steuernde Hemisphäre dominierte bei denoperierten Personen zumeist ebenso deutlich wie bei Menschenmit intaktem Gehirn. Als die Wissenschaftler jedoch die abge-trennte rechte Hemisphäre testeten, zeigte sich, daß auch sie aufSinneswahrnehmungen und Gefühle reagiert und — auf ihre Weise— Informationen verarbeitet. In unserem eigenen intakten Gehirnmit einem unversehrten Corpus callosum werden die beiden un-terschiedlichen Wahrnehmungen durch die Kommunikation zwi-schen den Hemisphären so vermischt und aufeinander abge-stimmt, daß uns das Empfinden, eine einzige Person zu sein,erhalten bleibt.

Doch die Wissenschaftler gaben sich nicht mit der Beobachtungzufrieden, daß durch den chirurgischen Eingriff eine Trennungzwischen dem rechts- und dem linkshemisphärischen geistigenErleben hervorgerufen wird. Sie gingen darüber hinaus der Fragenach, welche Unterschiede hinsichtlich der Art der Informations-verarbeitung zwischen den beiden Hemisphären bestehen. DieUntersuchungen ergaben, daß die linke Hemisphäre verbal undanalytisch, die rechte hingegen auf eine nonverbale, ganzheitlicheWeise mit Sinneswahrnehmungen umgeht. Außerdem konnteJerre Levy im Verlauf der Vorarbeiten zu ihrer Dissertationnachweisen, daß die Verarbeitung der rechten Hirnhälfte blitz-schnell in einer komplexen, ganze Strukturen räumlich-bildlichaufnehmenden Weise abläuft - ein Modus, der sich zwar von demder linken Gehirnhälfte grundlegend unterscheidet, ihr jedochhinsichtlich seiner Komplexität durchaus gleichwertig ist. Dar-über hinaus stieß Jerre Levy auf Anzeichen dafür, daß sich diebeiden Verarbeitungsweisen leicht gegenseitig überlagern undstören und dadurch ihre Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Siestellte die These zur Diskussion, daß diese Neigung zur gegensei-tigen Behinderung ein möglicher Grund dafür sei, daß sich imLaufe der Evolution die Asymmetrie des menschlichen Gehirns

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entwickelt habe - als ein Mittel, jede der beiden Verarbeitungs-weisen auf ihre jeweilige Hemisphäre zu beschränken.

Auf Grund der Ergebnisse der Hirnspaltungsforschung setztesich allmählich die Auffassung durch, daß beide Hemisphärenüber hochentwickelte Formen der kognitiven Verarbeitung vonSinneswahrnehmungen verfügen, die — bei aller Unterschiedlich-keit — beide zum Denken und verständigen Urteilen, zu kom-plexen geistigen Leistungen befähigt sind. In den letzten Jahren -seit der ersten Veröffentlichung von Levy und Sperry im Jahre1968 — haben Wissenschaftler eine Fülle von Beweisen zusammen-getragen, die diese Erkenntnisse und Hypothesen belegen undzeigen, daß sie nicht nur für Patienten mit einem Gehirnschadenzutreffen, sondern, wichtiger noch, ebenso für Menschen, derenGehirn normal funktioniert.

Durch die Schilderung einiger eigens für die operierten Patien-ten entwickelten Tests möchte ich verdeutlichen, wie jede Hemi-sphäre unabhängig von der anderen «ihre» Realität erfaßt undaufweiche besondere Weise jede die Wahrnehmungen verarbei-tet. Bei einem Test würden zum Beispiel für einen Moment zweiBilder nebeneinander auf eine Leinwand projiziert. Der Blick derVersuchsperson - einer der Split-brain-Patienten - war genau aufeinen Punkt in der Mitte zwischen den beiden Bildern fixiert.Dadurch wurde verhindert, daß der Patient die Bilder mit beidenAugen «abtasten» konnte. Auf diese Weise empfing jede Hemi-sphäre ein anderes Bild. Auf der linken Seite des Schirms war einLöffel zu sehen, auf der rechten ein Messer (vgl. Abb. 12). Als manden Patienten hinterher befragte, gab er zwei verschiedene Antwor-ten: Auf die Bitte hin, den Gegenstand, der auf der Leinwanderschienen war, zu nennen, gab die sprachkundige linke Hemi-sphäre, die sich ihrer Sache ganz sicher war, dem Patienten dieAntwort ein: «Ich hab ein Messer gesehen.» Vor der Versuchs-person war ein Vorhang angebracht, hinter dem verborgen aufeinem Tisch verschiedene Gegenstände lagen, darunter auch einMesser und ein Löffel. Der Patient wurde nun aufgefordert, mitder linken Hand (rechte Hemisphäre) hinter den Vorhang zugreifen und den Gegenstand auszuwählen, dessen Bild auf demSchirm erschienen war. Daraufhin griff der Patient den Löffelheraus. Als er gebeten wurde, den Gegenstand, den er — hinterdem Vorhang — in der Hand hielt, zu benennen, schien er einenMoment lang verwirrt zu sein, sagte dann jedoch: «Ein Messer.»Die rechte Hemisphäre, die wußte, daß die Antwort falsch war,aber nicht über die sprachlichen Mittel verfügte, um die linkeHemisphäre zu korrigieren, griff in den Dialog ein, indem sie den

Abb. 12: Skizze der Testanordnungzur Feststellung der Assoziationen vonSplit-brain-Patienten auf optischeWahrnehmungen und Tastempfin-dungen. Nach Michael S. Gazza-niga, <The Split Brain in Man>.

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Patienten veranlaßte, stumm den Kopf zu schütteln. Daraufhinwunderte sich die linke Hemisphäre laut: «Warum schüttele ichdenn den Kopf?»

Bei einem anderen Test, der zeigte, daß sich die rechte Hemi-sphäre besser auf Probleme der räumlichen Anordnung versteht,gab man einem männlichen Patienten verschiedene Holzstücke indie Hand, die er zu einer bestimmten Form zusammensetzensollte. Seine Versuche, diese Aufgabe mit der rechten Hand (linkeHemisphäre) zu lösen, mißlangen wieder und wieder. Seinerechte Hemisphäre versuchte ständig, ihm dabei zu helfen — mitder linken Hand, die immer wieder eingreifen wollte. Die rechteHand schlug nach ihr, als ob sie sie verscheuchen wollte, doch sieließ sich von ihren Annäherungsversuchen nicht abhalten.Schließlich blieb dem Patienten nichts anderes übrig, als sich aufseine linke Hand draufzusetzen, um sie von den Holzstückchenfernzuhalten. Als die Wissenschaftler dem Probanden schließlichvorschlugen, es mit beiden Händen zu versuchen, mußte die imUmgang mit räumlichen Strukturen äußerst «gewandte» Linkedie in dieser Hinsicht «unbegabte» Rechte beiseite schieben, da-mit sie ihr nicht in die Quere kam.

Ein wichtiges Ergebnis dieser in den vergangenen fünfzehnJahren durchgeführten Untersuchungen ist die Erkenntnis, daßwir — unbeschadet unseres Empfindens, eine Person zu sein — miteinem Gehirnpaar ausgestattet sind und daß jede der beidenHälften ihr eigenes Erkenntnisvermögen, ihr eigenes Wissen, ihreeigene Wahrnehmungsweise besitzt. Mit anderen Worten: Injedem von uns existieren zwei geistige Welten, zwei verschiedeneBewußtseinsformen, die sich durch einen Strang aus Millionenvon Nervenfasern einander vermitteln und ergänzen.

Wir haben erfahren, daß die beiden Hemisphären auf die ver-schiedenste Weise zusammenzuarbeiten vermögen, bisweilen inder Form, daß jede Hälfte ihre speziellen Fähigkeiten beisteuertund den für ihren Modus der Informationsverarbeitung geeigne-ten Teil der Aufgabe übernimmt. Ein andermal kann eine Hemi-sphäre allein arbeiten, wobei die eine Hälfte «ein-», die anderemehr oder weniger «ausgeschaltet» ist. Und es scheint, daß dieHemisphären auch in Widerstreit geraten können — und zwardann, wenn die eine Hälfte eine Aufgabe auszuführen versucht,von der die andere «weiß», daß sie sie besser zu lösen versteht.Darüber hinaus könnte es sein, daß jede Hemisphäre eine Mög-lichkeit hat, der anderen bestimmte Kenntnisse vorzuenthalten,und es ist durchaus möglich, daß — wie es in einer Redensart heißt- die rechte Hand wirklich nicht weiß, was die linke tut.

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Die doppelte Realität der Split-brain-PatientenDoch was hat dies alles, werden Sie fragen, mit dem Zeichnenler-nen zu tun? Neuere Forschungen über die Funktionen der Hirn-Hemisphären lassen daraufschließen, daß Ihr zeichnerisches Ver-mögen davon abhängt, ob Sie Zugang zu den Fähigkeiten der durchunsere Erziehung in eine untergeordnete Rolle gedrängten rechtenGehirnhälfte haben - ob Sie in der Lage sind, die dominante, verbalelinke Hemisphäre «aus-» und die rechte «einzuschalten». Wie solleinem das helfen, zeichnen zu lernen? werden Sie fragen. Es sieht soaus, als ob das rechte Hirn visuelle Informationen auf die Weise auf-nimmt und verarbeitet, die notwendig ist, um sehen und zeichnen zukönnen, während das linke Hirn die Außenwelt auf eine Weisewahrnimmt, die dem Zeichnenkönnen zuwiderläuft.

Die Sprache gibt Aufschluß

Unter den Gesichtspunkten, die ich in den vorangegangenenAbschnitten erläutert habe, fällt es uns leicht, Beweise dafür zufinden, daß die Menschen schon immer ein Gespür für die Unter-schiedlichkeit der beiden Hirnhälften gehabt haben. Das geht ausunserer Sprache hervor. Sie enthält zahlreiche Wörter und Rede-wendungen, die zum Beispiel der linken und der rechten Körper-hälfte charakteristische Eigenschaften zusprechen, die sich deut-lich voneinander unterscheiden. Die Wörter «rechts» und «links»bezeichnen nicht nur verschiedene Richtungen oder Seiten, son-dern werden zugleich auch häufig als qualitative Wertungenverwendet. Wir sprechen von «linkischem» Verhalten, vom«rechten» Lebenswandel und so weiter. Übertragen wir dieseWertungen auf die Gehirnhälften, so schneidet —entsprechend derlinken Körperhälfte, der linken Hand usw. — die rechte Hemisphärebei diesen Sprachassoziationen schlechter ab.

Sprache und Sitten bringen unsere Vorurteile zum AusdruckUnsere Sprache und unser Denken sind mit Wörtern und Rede-wendungen durchsetzt, die unsere Auffassungen über «links» und«rechts» kundtun. Das Rechte (also der linken Hemisphäre Zu-geordnete) wird mit «gut, gerecht, moralisch, richtig» verbunden.Alles, was «links» ist (und damit der rechten Hemisphäre ent-spricht), löst Vorstellungen von Anarchie und unkontrolliertenGefühlen aus und ist daher schlecht, unmoralisch, gefährlich.

Das uralte Vorurteil gegen die linke Hand und damit gegen dierechte Hemisphäre hat sich bis in jüngste Zeit erhalten und ver-

«Nasreddin unterhielt sich bei hereinbrechender Dunkelheit mit ein*Freund. <Zünde eine Kerze an>, sader Mann, <es ist schon dunkel.Gleich zu deiner Linken liegt eine<Du Narn, sagte der Mullah, <wieich im Dunkeln rechts von links uiterscheiden?>»

Idries Shah<Die verblüffenden Weisheiten und Spades unübertrefflichen Mullah Masreddi

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anlaßte Eltern und Lehrer dazu, linkshändige Kinder zur Benut-zung ihrer rechten Hand beim Schreiben, Essen usw. zu zwingen— eine Praxis, die oft Probleme verursachte, die dem Kind selbstals Erwachsenem noch zu schaffen machten.

Seit Menschengedenken und in fast allen Sprachen gibt es dieseNebenbedeutungen: gut für die rechte Hand beziehungsweiselinke Hemisphäre und schlecht für die linke Hand beziehungsweiserechte Hemisphäre. Das lateinische Wort für links heißt «sinister»,was auch «schlecht», «finster», «unheilvoll» bedeutet. Das latei-nische Wort für rechts hingegen ist «dexter», aus dem sich zumBeispiel das englische Wort «dexterity» herleitet, was soviel wie«Geschicklichkeit» und «Erfahrenheit» bedeutet.

Das französische Wort für «links» lautet «gauche», was demenglischen «awkward», zu deutsch «ungeschickt», «tölpelhaft»oder sogar «mißlich» entspricht und aus dem sich auch das Wort«gawky» gleich «einfältig», «dumm» herleitet. Und «rechts»heißt auf Französisch «droit», was wiederum auch in der Bedeu-tung von «gut», «gerecht», «richtig» verwendet wird.

Das englische «left» kommt vom angelsächsischen «lyft», was«schwach» oder «wertlos» bedeutet, und tatsächlich ist die linkeHand bei den meisten Rechtshändern schwächer. Doch begriffdas Wort ursprünglich noch den Mangel an moralischer Stärkeein. Daß man dem Wort «links» einen geringschätzigen Beiklangverlieh, mag ein Vorurteil der Mehrheit der Rechtshänder gegen-über einer Minderheit widerspiegeln, die anders - eben linkshän-dig- war. Der gleichen Tendenz folgend, bedeutet das angelsäch-sische Wort für «rechts», «reht» (oder «riht»), auch «rechtschaf-fen» oder «gerecht». Aus diesem «reht» und dem ihm analogenlateinischen Wort «rectus» leitete sich das englische «correct» her,das den deutschen Wörtern «korrekt» und «richtig» entspricht.

Diese Vorstellungen wirken sich auch auf unser politisches Den-ken aus. Die Rechte begeistert sich für nationale Stärke, ist konser-vativ und widersetzt sich dem sozialen Wandel. Die Linke dagegenstrebt nach Autonomie für den einzelnen und nach Veränderung,oft einer radikalen. Im Extrem neigt die politische Rechte zumFaschismus, die politische Linke dagegen zur Anarchie.

Kulturellen Bräuchen und Anstandsregeln zufolge gebührtdem ranghöchsten Gast bei einem formellen Essen der Ehrenplatzzur Rechten des Gastgebers. Bei einer Trauung steht der Bräuti-gam rechts, die Braut links — eine Sitte, die auf eine nonverbaleWeise die Unterschiede im sozialen Status von Mann und Frauzum Ausdruck bringt. Wir geben uns die rechte Hand; es würdeuns seltsam vorkommen, wenn wir uns die linke schüttelten.

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Die zwei Hälften unseres Gehirns

Das Wörterbuch der Synonyme führt unter «linkshändig» die«falsche Hand», «linkisch», «ungewandt», das engliche Wörter-buch aber auch «unaufrichtig» und «boshaft» an. Unter «rechts-händig» finden wir die «schöne Hand», für «rechts» im Engli-schen «zuverlässig» und «unentbehrlich». Hierbei sollten wir unsvor Augen halten, daß all diese Ausdrücke entstanden, als sich dieSprache einst in der linken Gehirnhälfte des Menschen zu ent-wickeln begann. Die linke Hemisphäre machte die rechteschlecht! Und die rechte — das Opfer dieser Diskriminierung — warsprachlos und nicht in der Lage, sich dagegen zu wehren.

Zwei Erkenntnisweisen

Doch darüber hinaus haben auch Weise, Philosophen und Wis-senschaftler der verschiedensten Zeiten und Kulturen das Prinzipdes Dualismus — der «Zweiseitigkeit» — alles Irdischen als gegebenbetrachtet. Dieser Auffassung liegt die Vorstellung zugrunde, daßder Mensch über zwei verschiedene, parallele «Erkenntniswei-sen» verfügt.

Vermutlich ist Ihnen dieses dualistische Prinzip bereits ver-traut. Wie die Begriffe «rechts» und «links» ist es in unsere Spra-chen und Kulturen eingebettet. Die Hauptgegensätze bestehenfür uns zwischen Denken und Fühlen, zwischen Intellekt undIntuition, objektiver Analyse und subjektiver Erkenntnis. Sozial-wissenschaftler behaupten, daß die Menschen eine Frage zwarmeist auf ihre guten und schlechten Seiten hin prüfen, sie dannaber doch nach ihrem Gefühl zu beurteilen pflegen. Die Ge-schichte der Wissenschaften kennt zahlreiche Fälle, in denen For-scher sich lange mit einem Problem herumschlugen, bis ihnen dieLösung schließlich im Traum in bildlicher Form erschien und vonihnen intuitiv erfaßt wurde. Der berühmte französische Mathe-matiker und Physiker Henri Poincare hat diesen Vorgang einmalsehr lebendig beschrieben (vgl. S. 50).

Manchmal denken wir während eines Gespräches oder nach-dem wir einen Menschen kennengelernt haben: «Was er (sie) sagt,hört sich richtig an, doch ein inneres Gefühl rät mir, ihm (ihr)nicht zu trauen.» Oder: «Ich kann zwar nicht sagen, woran esliegt, aber irgend etwas an diesem Menschen gefallt mir (gefälltmir nicht).» Solche Feststellungen beruhen auf unwillkürlichen,intuitiven Beobachtungen - beide Gehirnhälften sind dabei inAktion, verarbeiten jedoch ein und dieselbe Information auf unterschied-liche Weise.

Parallele Erkenntnisweisen

Verstand intuitives Erfassenkonvergent divergentdigital analogsekundär primärabstrakt konkretzielgerichtet freischweifendpropositional imaginativanalytisch relationallinear nichtlinearrational intuitivsequentielles multiplesErfassen Erfassenanalytisch ganzheitlichobjektiv subjektivsukzessiv simultanJoseph E. Bogen<Some Educational Aspects qfH i hSpecialization>

Der Dualismus von Yin und Yang

Yin Tang

weiblich männlichnegativ positivMond SonneDunkelheit Lichtnachgiebig aggressivlinke Seite rechte Seitewarm kaltHerbst FrühlingWinter Sommerunbewußt bewußtrechtes Hirn linkes HirnGefühl VerstandEmotion Vernunft

(I Ging> (<Buch der Wandlungen)

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Die zwei Hälften unseres Gehirns

Zwei Arten der Informationsverarbeitung

Unterhalb unserer Schädeldecke befindet sich also ein Hirnpaarmit zwei verschiedenartigen Erkenntnisweisen. Dieser «Doppel-existenz» und den unterscheidbaren Eigenschaften der beidenHälften liegt eindeutig eine physiologische Basis zugrunde. Da dasCorpus callosum, der verbindende Nervenstrang, in einem unver-sehrten Gehirn seine Funktionen unbeeintrachtigt erfüllt, werdendie Konflikte zwischen den Hemisphären, wie sie sich bei denerwähnten Tests an Menschen mit durchtrenntem Balken zeigen,von einem Gesunden nur selten bewußt erfahren.

Wenn auch jede der Hemisphären die gleichen Sinneswahrneh-mungen speichert, so können sie sie doch auf unterschiedlicheWeise verarbeiten. Entweder teilen sich die beiden Hemisphärendiese Aufgabe - wobei jede den Teil der in den Wahrnehmungenvermittelten Informationen verarbeitet, der ihrem spezifischenModus entspricht —, oder eine der Hemisphären, oft die domi-nante linke, reißt die Führung an sich und hindert die andereHälfte daran, aktiv zu werden. Die linke Hemisphäre analysiert,abstrahiert, zählt, mißt Zeit, plant schrittweise Operationen,formt in Sprache um und macht rationale, logisch begründeteFeststellungen. Zum Beispiel: «Angenommen, wir haben die dreiGrößen a, b und c, und a ist größer als b und b größer als c, dannist a notwendigerweise auch größer als c.» Eine solche Implikationveranschaulicht den Modus der linken Hemisphäre: Sie gehtanalytisch, verbal, rechnerisch, folgerichtig, linear und objektivvor.

Wir verfügen jedoch noch über eine andere Erkenntnisweise -den Modus der rechten Hemisphäre. Durch ihn «sehen» wirDinge, die imaginär sind, also nur vor unserem «geistigen Auge»existieren, und Dinge, die tatsächlich vorhanden sind oderwaren und die wir uns mit Hilfe des R-Modus in unsere Erinne-rung zurückrufen. (Können Sie mir zum Beispiel auf Anhiebsagen, wie Ihre Eingangstür aussieht?) Wir sehen, wie die Dingeim Raum existieren und wie sich ihre Teile zu einem Ganzenzusammenfügen. Wenn wir uns der rechten Hemisphäre bedie-nen, können wir Bilder verstehen, träumen, neue Ideenverbin-dungen herstellen. Wenn etwas zu komplex ist, um es zu be-schreiben, werden wir es mit Hilfe von Gesten mitteilen: Ver-suchen Sie mal, eine Wendeltreppe zu beschreiben, ohne eineSpirale in die Luft zu zeichnen. Machen wir von dieser rechtenHemisphäre Gebrauch, sind wir auch fähig, Bilder von unserenWahrnehmungen zu zeichnen.

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Die zwei Hälften unseres Gehirns

Der «Ich hab's»-EffektWenn wir unsere Sinneseindrücke mit Hilfe der rechten Hemi-sphäre verarbeiten, bedienen wir uns also der Intuition; unsereEinsichten erfolgen plötzlich. Es gibt Augenblicke, in denen es uns«wie Schuppen von den Augen fällt», in denen sich «alles vonselbst zusammenfügt», obwohl es uns nicht gelungen war, dieeinzelnen Teile in eine logische Ordnung zu bringen und in dieserOrdnung zu begreifen. «Ich hab's!» — «Jetzt ist's mir klar!» rufenwir in solchen Momenten aus. Das klassische Beispiel für diesenVorgang ist Archimedes' freudiger Ausruf «heureka!» («Ich hab'sgefunden»). Der Überlieferung zufolge war ihm beim Baden blitz-artig eine Erkenntnis gekommen, die ihm die Formulierung desberühmten Archimedischen Prinzips ermöglichte.

Dies ist ein typisches Beispiel für die Verfahrensweise der rech-ten Hemisphäre. Der R-Modus (und zugleich «linkshändige Mo-dus») ist ein intuitives, subjektives, relationales, ganzheitliches,zeitloses Erfassen. Er wird in unserer westlichen Kultur weitge-hend mißachtet und ig»oriert. So ist zum Beispiel unser ganzesBildungswesen allein auf die Förderung der sprachlichen, ratio-nalen, zeitgemäßen linken Hemisphäre ausgerichtet. Das halbeHirn eines jeden Schulkindes bleibt buchstäblich ungenutzt.

Ein ganzes Gehirn ist besserals ein halbes

Im herkömmlichen Schulunterricht mit seinen vor allem auf densicheren Umgang mit Wörtern und Zahlen ausgerichteten Lern-sequenzen - so, wie Sie und ich ihn hinter uns gebracht haben -fehlen alle Voraussetzungen, um den Gebrauch der rechten^He-misphäre zu fördern. Sie ist nun einmal in sprachlicher Hinsichtnicht gerade leicht zu überprüfen und unter Kontrolle zu bringen.Mit ihr läßt sich nicht argumentieren. Sie ist nicht dazu zubewegen, logische Behauptungen aufzustellen. Sie ist, bildlichgesprochen, ein «Linkshänder» mit sämtlichen Nebenbedeutun-gen dieser Bezeichnung. Ferner hat sie nicht viel Sinn für Syste-matik. Sie fängt einfach irgendwo an oder mit allem zugleich.Zudem hat die rechte Hemisphäre kein Zeitgefühl und scheintnicht zu begreifen, was «Zeitverschwendung» ist (die gute, ver-nünftige linke Hemisphäre weiß das hingegen sehr genau). Sie istauch nicht gut im Kategorisieren und Benennen. Sie scheint dieDinge einfach so zu nehmen, wie und was sie gerade sind, in ihrerganzen faszinierenden Komplexität. Auch im Analysieren und

Die Zweigeteiltheit unseres Hirnsscheint von schöpferischen Menschebisweilen intuitiv erfaßt zu werden.Rudyard Kipling zum Beispielschrieb schon vor mehr als fünfzigJahren die folgenden Gedichtzeilen:«Ich danke dem Boden, der michgebar,Und dem Leben, das mich genährt,Doch am meisten Allah, der meinenKopfZwei verschiedene Seiten beschert.Lieber verlöre ich Hemd und SchuhUnd Freunde und Tabak und TopfAls nur für einen AugenblickEine Seite von meinem Kopf.»

Rudyard Kipling<Kim>

«Mich den Vierzig nähernd, hatte iieinen seltsamen Traum, in dem ich dBedeutung dessen, was in vergeudetZeit zerstörerisch wirkt, beinahe er-faßte und seine Wesensart verstand.

Cyril Connolly(Pseudonym Palinuris)<Das Grab ohne Frieden)

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Die zwei Hälften unseres Gehirns

Abstrahieren deutlich erkennbarer Merkmale ist sie völlig unta-lentiert.

Obwohl sich die Erzieher heute zunehmend der Bedeutung desintuitiven und schöpferischen Denkens bewußt zu werden begin-nen, sind Unterricht und Lehrpläne weiterhin im wesentlichenauf die Ausbildung der linkshemisphärischen Fähigkeiten zuge-schnitten. Der Unterricht ist in aufeinanderfolgende Lernschrittestrukturiert, die der Schüler nachvollziehen muß, um schließlichzum erwünschten Lernziel zu gelangen. Das tägliche Einmaleinsder Schüler, die Voraussetzung des Lernerfolgs, sind Wort undZahl — Lesen, Schreiben, Rechnen. Stundenpläne sind einzuhal-ten. Die Schüler sitzen in Reih und Glied. Im Abrufen der glei-chen — erwarteten — Antworten wird ihr Denken in einanderähnliche begrenzte Bahnen gelenkt. Die Lehrer verteilen Noten.Und jeder spürt, daß an der ganzen Sache etwas faul ist.

Die rechte Hirn-Hemisphäre —die des Träumers, des Künstlers,des Schöpfers und Erfinders —: In unserem Unterrichtssystem istsie verloren; sie durchläuft diesen Unterricht weitgehend ununter-richtet. Wir mögen im Lehrplan ein paar Stunden Kunstunter-richt, ein paar Stunden «Werken», ein wenig Musikunterrichtund vielleicht etwas, das «kreatives Schreiben» genannt wird,aufgeführt finden; doch ist es höchst unwahrscheinlich, daß wirirgendwo auf Unterrichtspläne stoßen, die das Ziel haben, diePhantasie, die Fähigkeit, sich etwas bildlich vorzustellen, dasGefühl für räumliche Strukturen, das Empfindungs- und Wahr-nehmungsvermögen im allgemeinen, kreatives, intuitives, erfin-derisches Denken und Handeln zu fördern. Dennoch legen dieErzieher Wert auf solche Fähigkeiten. Vermutlich glauben sie,daß Schüler und Studenten durch die Ausbildung ihrer verbalen,analytischen Fähigkeiten ganz von selbst auch ihre Phantasie,ihre intuitiven Kräfte und ihre Fähigkeit, die Welt bewußt undumfassend wahrzunehmen, entfalten.

Zum Glück finden diese Anlagen häufig Wege, sich trotz derLehrpläne zu entwickeln. Ein dreifach Hoch auf die Überlebens-fähigkeit der rechten Hemisphäre! Doch ist unsere Kultur sonachdrücklich darauf ausgerichtet, die Fähigkeiten der linkenGehirnhälfte zu belohnen, daß so mancher einen Großteil der vonder rechten Hemisphäre gesteuerten Fähigkeiten einbüßt. JerreLevy hat einmal - nur halb im Scherz - eine Zukunft ausgemalt,in der die herkömmliche wissenschaftliche Ausbildung an denHochschulen die rechte Hemisphäre vollkommen zerstört habenwerde. Natürlich sind wir uns der Auswirkung eines unzureichen-den Trainings im Lesen, Sprechen, Schreiben und Rechnen be-

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Die zwei Hälften unseres Gehirns

wußt. Die linke, für das Denken und Sprechen «zuständige»Hemisphäre scheint nie wieder vollends aufholen zu können, wassie einmal versäumt hat — eine Tatsache, die sich als schweresHandicap im Leben eines Menschen auswirken kann. Wie steht esnun in dieser Hinsicht mit der rechten Hemisphäre, die so gut wiegar nicht trainiert wird?

Nachdem die Neurologie eine begriffliche Basis für das Trai-ning der rechten Hemisphäre geschaffen hat, könnten wir jetztdarangehen, einen Lehrplan zu entwickeln, der die Förderungaller Gehirnfunktionen anstrebt. Sicher würde ein Schwerpunktdieses Lehrplans ein neuer Zeichenunterricht sein - als effizientesMittel, uns die Fähigkeiten der rechten Hemisphäre zu erschlie-ßen.

Bildliche Vorstellung in rechter Manier

Eine der wunderbarsten Fähigkeiten der rechten Hirn-Hemi-sphäre ist die Vorstellungskraft — die Fähigkeit, ein imaginäresBild vor dem geistigen Auge zu sehen. Das Gehirn hat die Kraft,ein Bild heraufzubeschwören und es dann «anzusehen», es zu«erblicken», als wäre es real. Die Fachausdrücke für diese Fähig-keit, Visualisation und Imagination, bedeuten fast das gleiche. Den-noch beinhaltet der Ausdruck Visualisieren für mich Bewegung,Imaginieren hingegen ist in meinen Augen das Sichvorstelleneines unbewegten Bildes.

Beide Vorgänge, das Visualisieren wie das Imaginieren, sindwesentliche Komponenten des Zeichnens. Der Künstler sieht denGegenstand oder die Person an, die er zeichnen will, «nimmt» eingeistiges Bild von seinem Objekt «auf», hält dieses Bild in seinemGedächtnis fest und beginnt zu zeichnen, den Blick auf das Papiergeheftet. Nach einer Weile wirft er wieder einen Blick auf dasModell, um das Bild erneut «festzuhalten», dann fährt er mit demZeichnen fort, und so weiter.

Um diese Fähigkeit der rechten Gehirnhälfte zu demonstrieren,habe ich ein paar kurze Vorübungen entwickelt, die Ihnen dieVorstellungskraft als Mittel zum Verstehen und Erinnern kom-plexer Inhalte und Informationen verdeutlichen sollen. Zur Ver-einfachung der Terminologie bediene ich mich das ganze Buchhindurch der Abkürzungen «L-Modus» und «R-Modus». BeimImaginieren wird Ihnen aufgehen, was damit gemeint ist.

Zuerst machen Sie sich ein geistiges Bild (ein «Foto») von denfolgenden Schriftzeichen:

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Die zwei Hälften unseres Gehirns

Der L-Modus ist der «rechtshändige»Modus der linken Hemisphäre. Das L istfest und aufrecht stehend, leicht erfaß-bar, gerade, korrekt, kantig, phantasie-los, kraftvoll.

Der R-Modus ist der «linkshändige»Modus der rechten Hemisphäre. Das Rist schräg gestellt, geschwungen, bieg-sam, in seinen überraschenden Kurvenund Bögen verspielter, komplexer, phan-tasievoller.

Mit diesen beiden «Schriftbildern» möchte ich Ihnen die bei-den verschiedenen Bewußtseinszustände veranschaulichen, beidenen jeweils die eine oder die andere Art der Informationsverar-beitung das Übergewicht zu haben scheint. Bei allen unserenTätigkeiten benutzt das Gehirn beide Hemisphären zugleich,wobei zuweilen die eine, zuweilen die andere die «Führung»übernimmt. Manchmal wirken auch beide zu gleichen Teilen ander Lösung einer Aufgabe mit. Die Eigenschaften und Funktio-nen, die ihnen gemeinhin zugeordnet werden, habe ich in demKasten auf Seite 56 noch einmal zusammengefaßt. Bitte sehen Siesich diese Übersicht genau an.

Haben Sie sich diese beiden Modi fest eingeprägt, wird es Ihnenleichter fallen, die Anleitungen in den nächsten Kapiteln zu ver-stehen. Führen Sie deshalb die folgenden Imaginations-Übungensorgfältig durch.

1. Stellen Sie sich das wuchtige, dicke L, seine geraden Seitenund seinen rechten Winkel vor. Sehen Sie es vor Ihrem geistigenAuge. Vergrößern Sie das Bild, und fügen Sie von sich aus eineweitere Form hinzu, damit Sie einen Größenvergleich ziehenkönnen. Stellen Sie sich das L als Pyramide oder als Wolkenkrat-zer vor. Sehen Sie das L nun in Farbe vor sich, ganz gleich inwelcher. Als nächstes fügen Sie dem L auf eine beliebige WeiseDinge hinzu, die für den Stil des L-Modus charakteristisch sind:Wörter, Zahlen, Zeitangaben, mathematische Gleichungen, Dia-gramme, Landkarten, Bücher, eventuell auch Bilder von Mathe-matikern, Juristen, Wissenschaftlern, Buchhaltern — ganz nach

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Die zwei Hälften unseres Gehirns

Ihrer Wahl. Sie werden sich die Bilder länger und genauer mer-ken, wenn Sie sie selbst zusammengestellt haben. Sehr wichtig ist:Lokalisieren Sie den Sitz des L-Modus, indem Sie Ihre Hand(ganz gleich welche) an die linke Seite Ihres Kopfes legen. Jetzt lassenSie Ihr Vorstellungsbild vom L-Modus zusammenschrumpfenund stellen sich vor, Sie legten es in Ihre linke Hirnhälfte.

2. Jetzt stellen Sie sich das geschwungene R vor. Versuchen Sie,es mit seinen vielfachen Windungen vor sich zu sehen. Wenn Siewollen, können Sie es vergrößern oder verkleinern. Dann fügenSie einige für den Stil der rechten Hemisphäre typischen Tätigkei-ten in Ihr Vorstellungsbild ein: Stellen Sie sich Leute beim Malen,Zeichnen, Musizieren, Modellieren, Träumen vor, die dabei jedesZeitgefühl verlieren. Da sich diese Tätigkeiten nicht so klar umris-sen festlegen lassen (typisch L-Modus!), mag dies Ihre Vorstel-lungskraft auf eine harte Probe stellen. Wie soll man sich zumBeispiel Nicht-Zeit vorstellen? Vielleicht frei nach Art des surrea-listischen Malers Dali: als eine Uhr ohne Zifferblatt. Wie soll mansich analoge — einander gleichende oder ähnliche — Dinge vorstel-len? Und wie imaginiert man den «Ich hab's»-Effekt? Lassen Siesich Zeit. Wenn Sie Ihr Vorstellungsbild vom R-Modus richtigvor sich sehen, legen Sie Ihre Hand an die rechte Seite Ihres Kopfesund stellen Sie sich wieder den zusammenschrumpfenden R-Mo-dus vor, der in Ihrer rechten Hirnhälfte Platz findet.

Nun lassen Sie die beiden Bilder von einer Seite zur anderenwechseln. Kreative Mathematiker, Wissenschaftler und andereDenker können sich über den Corpus callosum hinweg bewußtZugang zum R-Modus verschaffen, um mit Hilfe von Imagina-tion und Traum zu neuen Einfällen und Ideen zu gelangen. /Umgekehrt sind Künstler und musisch begabte Menschen in derLage, zum L-Modus überzuwechseln, wenn sie ästhetisch-künstlerische Probleme analysieren wollen.

3. Wiederholen Sie dies mehrmals, bis Sie merken, wie Sie voneinem Bild zum anderen schalten, von der linken Gehirnhälfte mitIhrem Bild vom L-Modus zur rechten Hälfte mit Ihrem Bild vomR-Modus und zurück. Diese Übung wird Ihnen beim Zeichnenzustatten kommen, bei dem Sie ja auch dieses geistige Überwech-seln zum R-Modus vollziehen müssen.

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Die zwei Hälften unseres Gehirns

L- und R-Modus: Typische Eigenschaften und Funktionen im Vergleich

Verbal: Gebraucht Wörter zur Bezeich- Nonverbal: Innewerden der Dinge, äu-nung, Beschreibung und Definition. ßerst geringer Bezug zu sprachlichem

Ausdruck.Analytisch: Wahrnehmungen werden Synthetisch: Wahrnehmungen werdenSchritt für Schritt und Teil um Teil zer- zu einem Ganzen zusammengefügt.gliedert.Symbolisch: Benutzt Symbole, die für et- Konkret: Bezieht sich auf die Dinge inwas anderes stehen, zum Beispiel das Zei- ihrem jeweils gegenwärtigen Zustand.chen <■> für Auge, das Zeichen + für dieAddition.Abstrakt: Wählt einen kleinen Teil der in Analog: Entdeckt Übereinstimmungeneiner Wahrnehmung enthaltenen Infor- und versteht bildliche Zusammenhänge.mation aus und benutzt ihn zur Wider-gabe des wahrgenommenen Ganzen.Zeitlich: Achtet auf Zeit und Reihen- Nichtzeitlich: Ohne Zeitgefühl.folge; macht stets eins nach dem ande-

ren.R ti l Zi ht S hl ßf l it

Nichtrational: Bedarf keiner rationalen

Hilfe des Verstandes auf der Grundlage oder faktischen Basis; ist bereit, auf einevon Fakten. Entscheidung oder Beurteilung zu ver-

zichten.Digital: Rechnerische Verwendung von Räumlich: Erschaut Dinge in ihrem Ver-Zahlen. hältnis zu anderen Dingen und Teile in

ihrem Verhältnis zum Ganzen.Logisch: Zieht Schlußfolgerungen auf Intuitiv: Schließt vorhandene Lücken.der Basis logischer Gesetze: Eins folgt in Erschaut Systeme, Modelle oder Bilderlogischer Ordnung aus dem anderen, durch plötzliche Eingebung.zum Beispiel ein mathematischer Lehr-satz oder eine unumstößliche Beweisfüh-rung.Linear: Verkettet Gedanken — aus einem Ganzheitlich: Erfaßt etwas auf einmalfolgt immer direkt der nächste —, was zu und als Ganzes, nimmt durchgehendekonvergenten Schlüssen führen kann. Muster und Strukturen wahr, was oft zu

divergierenden Schlüssen führt.

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Die zwei Hälften unseres Gehirns

Wir stellen uns die Verbindungen zwischenGehirn- und Körperhälften vor

1. Stellen Sie sich vor, zwischen Ihrer linken Hemisphäre undIhrer rechten Körperhälfte bestünden Verbindungsbahnen:Drähte, elektrischer Strom - was immer Sie wollen. Nun geben Siediesen Verbindungsbahnen eine Farbe — sagen wir Blau oder Rot— und stellen sich vor, wie sie sich, von der linken Seite des Gehirnsausgehend, in alle Teile Ihrer rechten Körperhälfte erstrecken.

2. Wechseln Sie auf die andere Seite über. Stellen Sie sich dieBahnen, die Ihre rechte Gehirnhälfte mit Ihrer linken Körperseiteverbinden, in einer anderen Farbe vor, vielleicht Grün oder Gelb.

3. Nun stellen Sie sich das Gesamtsystem der über Kreuz ver-laufenden Verbindungen vor.

Der verzauberte Webstuhl*

Ein bekanntes «Wort-Bild» für das Gehirn stammt von dem eng-lischen Wissenschaftler Sir Charles Sharrington: Das Gehirn sei«ein verzauberter Webstuhl, auf dem Millionen von blitzendenSchiffchen ein sich immer wieder auflösendes Muster weben, einstets bedeutungsvolles Muster, aber nie von Dauer . . .»

1. Stellen Sie sich den Zauberwebstuhl bildlich vor, mit seinenMilliarden von blitzenden Schiffchen, die sich einen Moment langin einem Teil Ihres Gehirns vereinigen, dann wieder verlöschen,dann zu einem anderen Teil hinüberströmen in ewig wechseln-dem Muster: ständig aufblitzend und wieder verlöschend.

2. Nun stellen Sie sich vor, Sie könnten das Muster bestimmenund die zahllosen blitzenden Schiffchen dazu veranlassen, sich aneiner Stelle zu sammeln, sich dann wieder aufzulösen und an eineranderen Stelle erneut zu vereinigen, und zwar erst auf der einen,dann auf der anderen Seite Ihres Gehirns. Stellen Sie sich weitervor, dieses Zusammenziehen der Schiffchen verursache eine kaumwahrnehmbare physische Empfindung in Ihrem Gehirn, einenleichten Druck, eine winzige Gewichtsverlagerung, eine minimaleErwärmung oder Abkühlung oder einen schwachen summendenTon.

Wir sehen dem Webstuhl zuPsychologen haben entdeckt, daß viele Menschen imstande zu seinscheinen, aus sich «herauszutreten» und sich ihrer wechselndenGeisteszustände bewußt zu werden, als sähen sie ihrem Gehirn bei

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58 Die zwei Hälften unseres Gehirns

In seinem Buch über wechselnde Be-wußtseinszustände schreibt der Psy-chologe Charles T. Tart: «Viele Me-ditations-Schulen vertreten denStandpunkt, daß . . . der Mensch ei-nen <Beobachter> besitzt (oder ent-wickeln kann), der das persönlicheVerhalten mit einem hohen Grad anObjektivität betrachtet. Da dieser(Beobachten seinem Wesen nach diereine Aufmerksamkeit und Bewußt-heit ist, hat er selbst keine individuel-len Merkmale.» Manche Menschen,die einen ziemlich gut entwickelten«Beobachter» zu haben glauben,meinen, «daß dieser (Beobachter)fortgesetzt in Aktion sei, nicht nurwährend eines besonderen, diskretenBewußtseinszustandes, sondern auchwährend des Übergangs zwischenzwei oder mehreren solcher diskretenZustände.»Charles T. Tart<Putting the Pieces Togethen

«Das Schlimmste, was man beimSchreiben von Prosa tun kann, ist, sichden Worten zu unterwerfen. Denktman an einen konkreten Gegen-stand, denkt man nicht in Worten;will man dann aber beschreiben, wasman sich bildlich vorgestellt hat, mußman erst lange herumsuchen, bisman die Worte findet, die man fürtreffend hält. Denkt man an etwas Ab-straktes, wird man eher dazu neigen,von Anfang an Worte zu benutzen,und dann — es sei denn, man versucht,es bewußt zu verhindern - wird derjeweilige Jargon durchbrechen unddie Sache für einen erledigen, aufKosten des Sinnes, den sie verdunkeltoder gar entstellt. Vielleicht sollte manauf die Benutzung von Worten solange wie möglich verzichten undsich über den Sinn zunächst, so gutman kann, mit Hilfe von Bildern undEmpfindungen klarwerden.»George Orwell<Politics and the English Language>

der Arbeit zu. Die vorangegangenen Imaginationsübungen wer-den Ihnen zusammen mit einigen der folgenden Zeichenübungenhelfen, die Rolle dieses heimlichen «Beobachters» einzuüben undsomit auf bewußterer Ebene des sanften Hinundherwechselns zwi-schen den Bewußtseinszuständen gewahr zu werden. Dies wie-derum wird Ihnen helfen, den R-Modus «einzuschalten».

Voraussetzungen für das Umschalten

Anhand der Übungen im nächsten Kapitel werden Sie das Über-wechseln vom L- zum R-Modus trainieren können. Diesen Übun-gen liegt die Annahme zugrunde, daß es von der Art der Aufgabeabhängt, welche der Hemisphären ihre Ausführung «über-nimmt» und kraft dieser «Führungsposition» die andere Hemi-sphäre daran hindert, aktiv zu werden. Wie bereits erwähnt,nehmen viele Wissenschaftler an, daß die Hemisphären entwederin der Form wechselweise tätig werden, daß das «Einschalten» dereinen Hemisphäre das «Ausschalten» der anderen verursacht,oder beide sind «eingeschaltet», aber eine von ihnen dominiertund bestimmt das Handeln (das sichtbare Verhalten) des Indivi-duums. Die Frage lautet nun: Welche Faktoren entscheiden dar-über, welche der Hemisphären «eingeschaltet» wird beziehungs-weise die führende Rolle übernimmt?

Auf Grund von Tierversuchen, Untersuchungen an Split-brain-Patienten und an Menschen mit einem gesunden Gehirnnehmen die Wissenschaftler an, daß die Frage, welche Hemi-sphäre eine Handlung jeweils lenkt, durch zwei Faktoren ent-schieden wird: zum einen durch die Schnelligkeit (Welche Hemi-sphäre findet am raschesten Zugang zu der Aufgabe?), zum an-deren durch die Motivation (Welche der Hemisphären interessiertsich am meisten für die Aufgabe oder mag sie am liebsten?).

Da das Abzeichnen einer wahrgenommenen Form weitgehendin den Funktionsbereich der rechten Gehirnhälfte fällt, müssenwir die linke Hemisphäre davon abhalten, sich einzumischen.Unser Problem ist nur, daß die linke Hemisphäre dominant undblitzschnell ist und dazu neigt, mit Wörtern und Symbolen «her-beizustürzen» und sogar Aufgaben an sich zu reißen, die ihreigentlich gar nicht liegen. Sie spielt sich gern als Chef auf und istdarauf bedacht, keine Aufgaben an ihren «tumben» Partner ab-zutreten, es sei denn, sie hat keine Lust, sich um sie zu kümmern— entweder weil die Arbeit zuviel Zeit in Anspruch nehmen würdeoder zu umständlich ist oder einfach, weil die linke Hemisphäre

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Die zwei Hälften unseres Gehirns

nicht fähig ist, sie auszuführen. Und genau das ist es, was wirbrauchen: Aufgaben, die die dominante linke Gehirnhälfte vonsich weisen wird. Die folgenden Übungen sind so angelegt, daß siedas Gehirn vor eine Aufgabe stellen, die die linke Hemisphäre nicht erfüllenwill oder nicht zu erfüllen vermag.

Links- und RechtshändigkeitEhe wir nun mit den Zeichenübungen beginnen, möchte ich nochdie Frage zu beantworten versuchen, wie sich Linkshändigkeit aufdas Zeichnen und auf die Tätigkeit der Hemisphären auswirkt.

Eines scheint klar zu sein: daß in den westlichen Nationen etwafünf bis zwölf Prozent der Bevölkerung ausgeprägte Linkshändersind. Dies scheint auch für die meisten anderen Kulturen zuzutreffen,doch gibt es Hinweise darauf, daß in vor- und frühgeschichtlichenKulturen die Rechtshändigkeit weit weniger deutlich überwog.

Früher hat man geglaubt, daß bei Linkshändern die Organisationdes Gehirns einfach umgekehrt sei wie bei Rechtshändern: da dieverbalen Funktionen (Sprache, Schrift usw.) bei Rechtshändern vonder linken Hemisphäre ausgehen, nahm man an, daß sich bei Links-händern das Sprachzentrum in der rechten Hemisphäre befände.Doch neuere Forschungen haben ergeben, daß die verbalen Funk-tionen bei der Mehrzahl der Linkshänder ebenfalls von der linkenHemisphäre gesteuert werden. Eine Ausnahme bilden jene Links-händer, deren Mütter schon linkshändig waren; bei ihnen übernimmtmöglicherweise die rechte Hemisphäre verbale Funktionen.

Ob die Linkshändigkeit den Zugang zu Funktionen der rechtenHemisphäre — zum Beispiel zum Zeichnen — erleichtert, ist nochungeklärt. Eine Frage jedoch — sie wird mir oft in den Kursengestellt — scheint eindeutig verneint werden zu können: ob derRechtshänder die Kräfte der rechten Hirnhälfte «anzapfen»kann, wenn er beim Zeichnen die linke Hand benutzt. DieSchwierigkeit, die manche Menschen daran hindert, zeichnen zulernen, besteht darin, daß sie nicht fähig sind zu sehen. DiesesProblem verschwindet nicht einfach, indem man die andere Handbenutzt; dadurch wird die Zeichnung höchstens noch ungeschick-ter. Ein Mensch mit zeichnerischem Geschick kann auch dannzeichnen, wenn er den Bleistift mit den Zähnen oder zwischen denZehen festhalten muß — weil er zu sehen gelernt hat.

Meine Anleitungen in den folgenden Kapiteln richte ich anRechtshänder. Sie gelten jedoch in gleicher Weise für Linkshän-der, ausgenommen jene, deren Mütter bereits linkshändig waren.Diese wenigen bitte ich, die Angaben, die die Hemisphärenfunk-tionen betreffen, einfach umzukehren.

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4Von links nach rechts,von rechts nach links:Die Erfahrungdes Hinübergleitens

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Die Erfahrung des Hinübergleitens

Eine wahrgenommene Form abzuzeichnen ist weitgehend Sacheder rechten Hemisphäre. Dies ist inzwischen empirisch überprüftund belegt worden. Wie schon erwähnt, lassen wir beim Zeichneneiner wahrgenommenen Form den L-Modus weitgehend «aus-»und den R-Modus «angeschaltet», was einen leicht verändertensubjektiven Zustand hervorruft — den Zustand, in dem die rechteHemisphäre «führt». Von diesem typischen Zustand sprechenauch die Künstler: von intensiver «Hingabe» an die Arbeit, vomVerlust des Zeitgefühls, von der Unfähigkeit, zu sprechen odergesprochene Worte anderer aufzunehmen, von einem Gefühl derZuversicht, vom Vergessen aller Ängste, von tiefer Aufmerksam-keit für Umrisse, Zwischenräume und Formen, die namenlos bleiben.Es ist wichtig, daß Sie dieses Überwechseln vom einen Moduszum anderen bewußt erleben. Wenn Sie die Voraussetzungen fürdieses geistige Umschalten schaffen und den dadurch hervorgeru-fenen winzigen Unterschied im Fühlen spüren, werden Sie diesenZustand bald erkennen und fördern können.

Vasen und Gesichter:Eine Übung für unser zweigeteiltes Gehirn

Die folgenden Übungen sollen Ihnen helfen, von Ihrem dominan-ten L-Modus auf Ihren unterdrückten R-Modus umzuschalten.Ich könnte damit fortfahren, dieses Umschalten wieder und wie-der zu beschreiben, doch nur Sie selbst können es wirklich erfahren.«Wenn du anfängst zu fragen, was Jazz ist», hat Fats Wallereinmal gesagt, «wirst du es niemals begreifen.»

Vasen-Gesichter (i)Vermutlich haben Sie sich diese Zeichnung mit der auf demGrundprinzip des Vexierbildes beruhenden optischen Täuschungder Vasen-Gesichter schon angesehen: Betrachtet man sie auf einebestimmte Weise, sieht man zwei Gesichter im Profil. Schauen Siesie länger an, scheinen sie sich zu verwandeln; sie bilden dieUmrisse einer Vase (vgl. Abb. 13).

Ehe Sie zu zeichnen beginnen: Lesen Sie erst alle Anweisungen fürdie Übung durch.

1. Zeichnen Sie auf die linke Seite Ihres Bogens das Profil einesGesichtes, das zur Mitte blickt (Abb. 15). Sind Sie Linkshänder,zeichnen Sie das Profil auf die rechte Seite, ebenfalls zur Mitteblickend (Abb. 14). Wenn Sie wollen, denken Sie sich selbst einProfil aus. Es scheint für das Zeichnenlernen sehr hilfreich zu sein,

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Die Erfahrung des Hinübergleitens

wenn Sie Ihre eigenen, im Gedächtnis gespeicherten Symbole fürein menschliches Profil verwenden.

2. Als nächstes ziehen Sie, ausgehend vom oberen und vomunteren Ende Ihrer Profilzeichnung, zwei gerade waagerechteLinien: den Rand und den Boden der Vase (Abb. 14 und 15).

3. Nun ziehen Sie die Linie des Profils mit dem Bleistift nocheinmal nach. Während der Bleistift über die Züge gleitet, nennenSie sie im stillen beim Namen: Stirn, Nase, Lippen, Kinn, Hals.Wiederholen Sie dies mindestens einmal. Das Benennen symboli-scher Formen ist eine Funktion des L-Modus.

4. Als nächstes zeichnen Sie auf der anderen Hälfte des Blatteseine analog zur ersten, aber umgekehrt verlaufende zweite Profilli-nie. Ziehen Sie auch diese Linie von oben nach unten. Dadurchvervollständigen Sie die Vase. Das zweite Profil sollte nach Mög-lichkeit dem ersten in den Proportionen genau entsprechen, sodaß die Vase symmetrisch wird. (Werfen Sie noch einmal einenBlick auf die Abbildung 13.) Achten Sie auf die leisen Signale, diedarauf hindeuten, daß Sie von einem Modus auf den anderenumschalten. Es ist möglich, daß Sie beim Zeichnen des zweitenProfils an bestimmten Stellen einen inneren Konflikt spüren. Be-obachten Sie sich dabei, und achten Sie darauf, wie Sie das Problemlösen. Sie werden feststellen, daß Sie das zweite Profil auf eineandere Weise zustande bringen. Das ist die ^eichenmethode des R-Mo-dus. Bevor Sie nun weiterlesen, führen Sie bitte diese Übungdurch.

Wenn Sie fertig sind: Denken Sie darüber nach, wie Sie dieVasen-Gesichter-Zeichnung zustande gebracht haben. Das ersteProfil haben Sie höchstwahrscheinlich ziemlich schnell gezeichnetund auch schnell während des Benennens der einzelnen Teilenachgezogen. l

Dies war ein Vorgehen nach dem L-Modus: Sie haben aus derErinnerung symbolische Formen gezeichnet und sie benannt.

Beim Zeichnen des zweiten Profils, bei dem sich die Umrisseeiner Vase ergaben, haben Sie vielleicht — wie ich es angekündigthabe — einen inneren Konflikt, eine leichte Verwirrung gespürt.Um die' Zeichnung von der Vase zu vollenden, mußten Sie bei derzweiten Profillinie anders vorgehen. Vielleicht haben Sie dabeigar nicht mehr das Gefühl gehabt, ein Profil zu zeichnen, und sichdabei ertappt, daß Sie zwischen den beiden Profilen hin und herguckten und die Winkel, die vorspringenden und zurückweichen- -den Kurven und die Länge der einzelnen Linienabschnitte inihrem Verhältnis zu den gegenüberliegenden Umrissen verglichen,die nun unbenannt und unbenennbar waren. Anders ausgedrückt: Sie

Abb. 15: Für

Rechshänder

«[Es] drängte sichdessen Richtigkeitschütten geblieberdaß unser normalesein — unsei rationwie wir es nennenbestimmte Art vonund daß um dasseltielle Bewußtseinsfganz andersartig udurch ganz dünnesind. Wir können chen, ohne ihr Das«wenn nur das nötiiwendet wird, so zeleisesten Berührunlichkeit: bestimmteLebens, die aller Vnach eine - uns freBedeutung und Whaben.»

William James<Die religiöse Erfahrfaltigkeil>

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Die Erfahrung des Hinübergleitens

haben die Linie beim Zeichnen ständig korrigiert und daraufgeachtet, wo Sie mit dem Stift entlangglitten und wie die Linie weiterge-führt werden mußte. Sie haben sich am Zwischenraum zwischen demersten Profil und dessen entstehender Umkehrung orientiert.

Wir zeichnen nach der «Navigationsmethode»des R-Modus

Beim ersten Profil sind Sie — wie der europäische Seemann — nachdem L-Modus vorgegangen: Sie haben Abschnitt für Abschnittgeplant, berechnet, beim Namen genannt. Beim Zeichnen deszweiten Profils hingegen sind Sie — wie der Südseeinsulaner — nachdem R-Modus verfahren: Sie haben sich am Raum orientiert, umden «Kurs» Ihrer Linie zu ermitteln. Vielleicht haben Sie auchbeim Zeichnen des zweiten Profils versucht, die einzelnen Teile zubenennen, und dabei eine leichte Verwirrung gespürt. Es gingbesser, wenn Sie nicht daran dachten, daß Sie ein Gesicht zeich-neten. Es war leichter, sich nach den Umrissen des Raums zwischen denbeiden Profilen zu richten. Anders ausgedrückt: Das Zeichnen istIhnen wahrscheinlich leichtergefallen, wenn Sie überhaupt nichtdenken mußten, jedenfalls nicht in Worten. Wenn Sie beim Zeich-nen nach dem R-Modus dennoch in Worten denken, dann be-schränken Sie sich nur auf Fragen wie: «Wo setzt dieser Bogenan?» — «Wie groß ist der Winkel im Vergleich zum Rand desBogens?» - «Wie lang ist diese Linie im Vergleich zu jener?» -«Wie weit ist dieser Punkt vom oberen und vom unteren Randmeines Blattes entfernt?»

Diese Fragen entsprechen dem R-Modus: Sie beziehen sich aufden Raum und die Größenverhältnisse und beruhen auf demVergleich. Denken Sie immer daran: Die einzelnen Teile werden nichtbenannt. Weder werden Feststellungen getroffen, noch Schlüssegezogen wie: «Das Kinn muß sich ebensoweit vorwölben wie dieNase» oder: «Nasen sind auf eine bestimmte Weise geformt.»

Denken Sie bei der nächsten Übung an die nichtsprachlichen,die Verhältnisse betreffenden Faktoren. Mischt sich Ihre linkeHemisphäre mit verbalen Äußerungen ein, versuchen Sie, sie zumSchweigen zu bringen. Ihr verborgener Beobachter kann zu ihrsagen: «Halte dich da bitte raus. Die andere Hälfte wird mit dieserAufgabe gut fertig. Bald wenden wir uns dir wieder zu.»

(Dies mag sonderbar klingen, doch es ist notwendig, weil dielinke Hemisphäre nicht daran gewöhnt ist, ausgeschlossen zuwerden. Daher muß man sie gewissermaßen beschwichtigen.)

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Die Erfahrung des Hinubergleitens

Vasen-Gesichter (2)Die Barockvase und das MonstergesichtSie sollen nun eine zweite Vasen-Gesichter-Zeichnung anfertigen.Lesen Sie auch diesmal die Anweisungen genau durch, bevor Siebeginnen.

1. Zeichnen Sie — als Rechtshänder auf die linke, als Linkshän-der auf die rechte Seite des Blattes — ein Profil. Diesmal zeichnenSie das abwegigste Profil, das Sie sich nur vorstellen können - eineHexe, einen Dämon, ein Monster. Wieder zählen Sie die einzelnenTeile des Gesichts von oben nach unten beim Zeichnen auf,ebenso alle «Ausschmückungen» wie Falten, Warzen, Doppel-kinn usw. Die Abbildungen 16 und 17 liefern Ihnen ein Beispieldafür, doch erfinden Sie möglichst ein eigenes Profil.

2. Wenn Sie mit diesem ersten Profil fertig sind, fügen Sie obenund unten waagerechte Linien an, so daß sich Boden und Randeiner Vase ergeben.

3. Nun zeichnen Sie wie bei der ersten Übung ein entsprechen-des umgekehrtes Profil. Und schon ist die Vase fertig — diesmal istes eine Barockva.se.

Wie bei der vorangegangenen Übung ist das erste Monsterprofilnach dem R-Modus entstanden; Sie zeichneten symbolische For-men, die ein Gesicht bilden. Zumal bei diesen kompliziertenVasen-Gesichtern kann man das zweite Profil am besten — viel-leicht sogar überhaupt nur — zustande kriegen, indem man zumR-Modus überwechselt. Es ist die Kompliziertheit der Form, die Siezum Umschalten auf den R-Modus zwingt. Es kommt bei dieser Übungnicht auf die Vollkommenheit Ihrer Zeichnung an. Wichtig istvielmehr, daß Sie versuchen, dieses Hinüberwechseln zu spüren.Versuchen Sie, sich der Verschiedenheit der Modi bewußt zuwerden. Wenn es Ihnen gelingt, das Umschalten wahrzunehmen,haben Sie den ersten wichtigen Lernschritt zu unserem Ziel hinvollzogen, das in der Fähigkeit zur bewußten, willentlichen Entschei-dung darüber besteht, welche Seite Ihres Gehirns Sie bei einerbestimmten Aufgabe jeweils aktivieren wollen.

Wenn wir uns bemühen, eine Form mit Hilfe des L-Modusabzuzeichnen, so entspricht das dem Versuch, mit dem Fuß einenFaden durch ein Nadelöhr zu ziehen. Es funktioniert nicht. WasSie lernen müssen, ist, die linke Hemisphäre «auszuschalten» unddie rechte zu aktivieren. Dazu müssen Sie die Blockierung derrechten beseitigen oder, wie Aldous Huxley es ausdrückte, «dieTür in der Mauer» öffnen. Die nächste Übung soll Ihnen ein nochvollständigeres Umschalten auf den R-Modus ermöglichen.

Abb. ly: Für Rechtshänder.

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Die Erfahrung des Hinübergleitens

Auf den Kopf gestellt:So schaltet man auf den R-Modus um

Vertraute Dinge sehen ganz anders aus, wenn man sie auf denKopf stellt. Automatisch schreiben wir den Dingen, die wir wahr-nehmen, ein Oben, ein Unten und mehrere Seiten - links, rechts,vorne, hinten usw. — zu, und wir gehen davon aus, daß wir dieDinge immer auf diese gewohnte Weise sehen: mit der oberenSeite nach oben. Denn auf Grund des «richtigen» Obens undUntens sind wir in der Lage, bekannte Dinge wiederzuerkennen,zu benennen und durch Vergleich mit unseren gespeichertenErinnerungen und Vorstellungen zu kategorisieren.

Abb. 18:

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Die Erfahrung des Hinübergleitens

Steht ein Bild auf dem Kopf, stimmen unsere optischen An-haltspunkte nicht mehr. Die Botschaft wird verfremdet, das Hirnverwirrt. Wir sehen Formen und Flächen aus Licht und Schatten.Wir werden es nicht gerade ablehnen, auf den Kopf gestellteBilder zu betrachten — nur darf man uns nicht auffordern, zuidentifizieren, was wir sehen. Diese Aufgabe brächte uns zurVerzweiflung:

Auf den Kopf gestellt, sind selbst sehr bekannte Gesichter kaumwiederzuerkennen. Wer ist zum Beispiel der berühmte Amerika-ner auf dem Foto (Abb. 18)? Erkennen Sie ihn sofort?

Vermutlich mußten Sie erst das Foto - wenigstens im Geist -um 180 Grad drehen, um zu sehen, daß es John F. Kennedydarstellt. Selbst nachdem Sie wissen, um wen es sich handelt, wirktdas Gesicht noch immer fremd.

Alle Bilder und Gemälde sind schwer zu erkennen, wenn sie um180 Grad gedreht werden (vgl. Abb. 19 und 20). Selbst Ihreeigene Handschrift wird, auf den Kopf gestellt, für Sie kaum zulesen sein, obwohl Sie sie doch seit Jahrzehnten kennen. Um diesnachzuprüfen, suchen Sie sich einen alten Einkaufszettel odereinen alten Brief heraus, drehen ihn «verkehrt herum» und versu-chen ihn so zu entziffern.

Eine komplizierte Zeichnung wie die von Tiepolo (Abb. 20) ist,wenn man sie auf den Kopf dreht, kaum zu enträtseln. Das (linke)Gehirn muß hier einfach «passen».

Wir drehen ein Bild auf den Kopfund zeichnen es ab

Diese Lücke in den Fähigkeiten der linken Hemisphäre wollen wirnutzen, um dem R-Modus die Chance zu geben, für eine Weile diedominierende Rolle zu übernehmen.

Das auf Seite 68 abgebildete Porträt des Komponisten IgorStrawinsky, das Picasso 1920 gezeichnet hat, steht auf dem Kopf.Ihre Aufgabe besteht nun darin, diese umgedrehte Zeichnung zukopieren, das heißt von oben nach unten — so, wie sie hier abgebildetist - abzuzeichnen. Mit anderen Worten: Sie sollen die Picasso-Zeichnung genau so kopieren, wie Sie sie sehen.

Ehe Sie anfangen: Lesen Sie zunächst die folgenden Instruktionen.1. Suchen Sie sich einen ruhigen Ort, wo niemand Sie stören

wird. Sie können während dieser Übung Musik hören, wenn Siewollen. Wenn Sie in den R-Modus umschalten, werden Sie die

Abb. 19: Fälscher pflegen beim Kpieren von Unterschriften das Oinal auf den Kopf zu drehen, um <Form der Buchstaben exakter wanehmen zu können.

Abb. 20: <Der Tod des Seneca> vonvanni Battista Tiepolo (1696—17'Mit freundlicher Genehmigung cArt Institute of Chicago, JosephHelen Regenstein Collection.

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Abb. si: Pablo Picasso (1881—1973): (Portrat von Igor Strawinskj», aus dem Jahre1920. Privatbesitz.

Musik nicht mehr bewußt wahrnehmen. Führen Sie die Zeich-nung in einem Durchgang zu Ende und lassen Sie sich dafürmindestens dreißig bis vierzig Minuten Zeit. Stellen Sie sich einenWecker oder eine Stoppuhr, wenn Sie wollen, damit Sie nicht andie Zeit zu denken brauchen (was ja eine Funktion des L-Modusist). Und wichtiger noch: Drehen Sie Ihr Bild erst richtig herum, wennSie fertig sind. Sie würden sonst einen «Rückfall» in den L-Moduserleiden, was wir ja gerade vermeiden wollen.

2. Betrachten Sie eine Minute lang die auf dem KopfstehendeZeichnung (Abb. 21). Sehen Sie sich die Umrisse, die Winkel und

Die Erfahrung des Hinübergleitens

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Die Erfahrung des Hinübergleitens

Linien an. Sie werden feststellen, daß alle Linien zusammentref-fen: Wo eine Linie aufhört, fängt eine andere an. Die Linienbilden untereinander und zu den Rändern des Blattes bestimmteWinkel. Gebogene Linien grenzen genau bestimmte Leer- undZwischenräume ab. In der Tat ergeben sich aus den Linien dieUmrisse der Zwischenräume. Achten Sie auf die Formen derLeerräume, die durch die Linien eingeschlossen werden.

3. Beginnen Sie oben mit dem Abzeichnen (vgl. Abb. 22), undkopieren Sie jede einzelne Linie, gehen Sie von einer Linie zurangrenzenden weiter, und fügen Sie das Ganze wie ein Puzzlezusammen. Versuchen Sie keinesfalls, die einzelnen Teile zu be-nennen. Das ist nicht nötig - im Gegenteil: stoßen Sie auf Teile,die Sie vielleicht benennen könnten, zum Beispiel die H-ä-n-d-eoder das G-e-s-i-c-h-t (Achtung: Wir nennen die Dinge nicht beimNamen!), dann konzentrieren Sie sich weiterhin allein auf formaleKriterien: «Diese Linie formt sich zu einem Bogen - eine zweiteLinie verläuft quer zur ersten - beide zusammen bilden die Um-risse jener kleinen Form» usw. Ich wiederhole: Denken Sie nichtdaran, was diese Formen bedeuten sollen, verzichten Sie auf alleBemühungen, die einzelnen Teile zu erkennen und zu benennen.

4. Beginnen Sie jetzt mit dem Abzeichnen. Arbeiten Sie sichlangsam vor - von einer Linie zur anderen, von einem Teil zumangrenzenden Teil.

5. Haben Sie erst einmal begonnen, werden Sie entdecken, wieinteressant es ist, dem Gefüge der Linien zu folgen. Mit der Zeit -je mehr Sie sich ins Zeichnen versenken - wird sich Ihr L-Modusvon selbst ausschalten (auf den Kopf gestellte Bilder abzuzeichnengehört nicht zu den Aufgaben, die die linke Hemisphäre bereit-willig übernimmt; die Sache geht ihr zu langsam, und es ist allesso schwer zu erkennen). Jetzt hat sich Ihr R-Modus eingeschaltet.

Bedenken Sie, daß Sie beim Zeichnen über nichts anderesBescheid zu wissen brauchen als über das Bild, das Sie unmittelbarvor Augen haben. Es enthält für Sie alle Informationen, die Siebenötigen - und das erleichtert Ihnen die Sache. KomplizierenSie die Dinge nicht. Es ist tatsächlich so einfach.

Wenn Sie fertig sind: Wenn Sie Ihre Zeichnung nach Beendigungder Übung richtig herum drehen, werden Sie vermutlich über-rascht sein, wie gut sie gelungen ist. Sehen Sie sich die auf eineähnliche Weise (bei einem kontrollierten Experiment mit Col-lege-Studenten, die nach dem Zufallsprinzip ausgewählt wurden)entstandenen Zeichnungen an (Abb. 23). Die Zeichnungen linkslassen das zeichnerische Geschick zur Zeit des Experiments erken-

Abb. 22: Das Abzeichnen eines aufden Kopf gedrehten Bildes erzwingtdas Umschalten vom L- auf denR-Modus.

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70 Die Erfahrung des Hinübergleitens

Sehen Sie sich die Zeichnungen in derrechten Spalte der Abbildung 23 an.Die Studenten A und B kopierten diePicasso-Zeichnung richtig herum. WieSie sehen, sind ihre Zeichnungen kei-neswegs besser als die von C und D,und sie weisen die gleichen stereoty-pen symbolischen Formen auf wieihre zum Vergleich in der linkenSpalte abgebildeten, freihändig ge-zeichneten Figuren. An der Kopie desStudenten B wird erkennbar, welcheVerwirrung der verkürzte Stuhl undStrawinskys übergeschlagenes Beinausgelöst haben.Die Studenten C und D dagegen, dieetwa das gleiche zeichnerische Ge-schick besaßen, kopierten die Picasso-Zeichnung umgekehrt, auf dem Kopfste-hend. Die Abbildungen zeigen dasErgebnis: Überraschenderweise las-sen die Kopien des auf den Kopf ge-stellten Bildes eine viel präzisereWahrnehmung erkennen. Sie schei-nen von einem geübteren Zeichnerangefertigt worden zu sein.Wie läßt sich das erklären? DiesesPhänomen widerspricht dem gesun-den Menschenverstand. Auch Siewürden wahrscheinlich nicht ohneweiteres glauben können, daß eineauf den Kopf gestellte Figur weit bes-ser zu beobachten und zu zeichnen istals «richtig herum» auf normaleWeise. Die Linien bleiben die glei-chen. Daß man die Picasso-Zeich-nung auf den Kopf stellte, verändertedie Linien überhaupt nicht undmachte sie auch nicht leichter zuzeichnen. Auch hatten die beidenStudenten nicht schlagartig mehr«Talent».

Abb. 23: Ergebnisse der Übung«Zeichnen Sie einen Menschen»

Strawinsky

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Die Erfahrung des Hinübergleitens

nen. (Die Studenten wurden aufgefordert, irgendeinen Bekanntenaus dem Gedächtnis zu zeichnen.) Wie Sie sehen, befinden sichalle auf dem Niveau von Zehn- bis Zwölfjährigen, was bei Er-wachsenen unserer Kultur, deren zeichnerische Fähigkeiten nichtausgebildet worden sind, als Normalfall betrachtet werden muß.

Das linke Hirn im «Aus»Die vorangegangene Übung hat die linke Gehirnhälfte aus demRennen geschlagen. Wo kam plötzlich dieses zeichnerische Kön-nen her, wo man doch sie, die allwissende linke Hemisphäre, vomSpielplatz gewiesen hatte? Da sie jeden bewundert, der seineSache gut macht, muß sie nun in Erwägung ziehen, daß diegeringgeschätzte rechte Hemisphäre «gut im Zeichnen» ist.

Im Ernst - eine plausible Erklärung für dieses der Logik wider-sprechende Resultat liefert die Vermutung, daß die linke Hemi-sphäre die Verarbeitung des auf dem. Kopf stehenden Bildes ab-lehnte. Vermutlich schaltete sie — verwirrt und blockiert durch dasihr ungewohnte Bild und damit außerstande, es zu benennen oderin ihre Symbolsprache umzuwandeln — einfach ab, und so gingdiese Aufgabe an die rechte Hemisphäre über. Und das war gut!Denn die rechte Gehirnhälfte ist für die Ausführung zeichnerischer Aufgabenwie geschaffen. Sie ist darauf «spezialisiert» und empfindet solcheAufgaben daher nicht als schwer. Es macht ihr Spaß, sie zu lösen.

Bewußtes Umschalten lernen

Zwei wichtige Fortschritte lassen sich als Erfolg der vorangegan-genen Übung erkennen. Erstens ist es Ihnen jetzt möglich, sich insGedächtnis zurückzurufen, wie Ihnen zumute war, nachdem Sieauf die Funktionen der rechten Gehirnhälfte umgeschaltet hatten.Der Bewußtseinszustand des R-Modus ist anders beschaffen alsder des L-Modus. Diese Unterschiede kann man jedoch erst wahr-nehmen, nachdem man das Umschalten selbst erfahren hat. Selt-samerweise sind wir nicht in der Lage, den Augenblick des Über-wechseins von einem Bewußtseinszustand in den anderen wahrzu-nehmen. Wir merken zwar zum Beispiel, wie wir vollkommenwach und wenig später in einen Tagtraum versunken sind, dochder Moment des Umschaltens selbst entgeht uns. Die Unter-schiede zwischen den beiden Bewußtseinszuständen hingegenkönnen wir sehr wohl erkennen, nachdem wir sie selbst erlebthaben. Dies wird uns helfen, das Umschalten bewußter zu steu-ern. Und das ist ja eines unserer wichtigsten Ziele.

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Die Erfahrung des Hinübergleitens

Lewis Carroll

Der zweite Gewinn aus dieser Übung ist die Erfahrung, daß dasUmschalten auf den R-Modus Sie befähigt, mit den Augen einesKünstlers zu sehen - und nun auch zu zeichnen, was sie wahrneh-men.

Es versteht sich von selbst, daß wir die Dinge, die wir zeichnenwollen, nicht immer auf den Kopf stellen können. Ihre Modellewerden nicht für Sie Kopfstand machen, noch wird die Land-schaft das Unterste zuoberst oder ihr Inneres nach außen kehren.Deshalb sollen Sie lernen, wie Sie auch beim Abzeichnen vonDingen und Personen umschalten können, die «richtig herum»stehen. Sie werden sich eine künstlerische Sehweise aneignen,

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Die Erfahrung des Hinübergleitens

indem Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Wahrnehmungen richten, diedie linke Gehirnhälfte nicht verarbeiten will oder kann. Mit an-deren Worten: Sie sollten versuchen, Ihrem Gehirn so oft wiemöglich Aufgaben zu präsentieren, die die linke Hemisphäreablehnt, und so der rechten die Chance geben, mit ihren zeichne-rischen Fähigkeiten einzuspringen.

Ein Rückblick auf die R-Modus-Erfahrungen

Es kann eine große Hilfe für Sie sein, wenn Sie sich noch einmalIhre gefühlsmäßigen Erfahrungen während des eingeschaltetenR-Modus vergegenwärtigen. Blicken Sie zurück. Das Umschaltenist Ihnen schon mehrmals gelungen- bei Ihren Vasen-Gesichternund beim Abzeichnen des Strawinsky-Porträts.

Als die rechte Hirn-Hemisphäre aktiv wurde, merkten Sie nichtoder kaum, wie die Zeit verging. Sie hatten das^Zeitgefühl verlo-ren und stellten erst nach der Übung fest, wie lange Sie gebrauchthatten, um die Zeichnung anzufertigen. Und wenn Menschen inIhrer Nähe waren, konnten Sie ihnen zuhören? Wollten Sie über-haupt verstehen, was sie sagten? Sie mögen ihre Stimmen gehörthaben, aber die Bedeutung ihrer Worte war Ihnen wahrscheinlichvollkommen gleichgültig. Und haben Sie gespürt, wie aufmerk-sam und doch entspannt Sie sich fühlten, was für eine Zuversicht,was für ein Interesse in Ihnen wach war?

So oder ähnlich haben jedenfalls die meisten meiner Schüler dieWirkungen des R-Modus beschrieben, und diese Charakterisie-rungen stimmen mit meinen eigenen Erfahrungen und mit denSchilderungen bekannter Künstler überein. Ein Maler erzähltemir einmal: «Wenn ich so richtig am Arbeiten bin - das ist fürmich eine Erfahrung, die sich mit nichts anderem vergleichenläßt. Ich fühle mich eins mit der Arbeit: Maler und Malen, sie sindeins. Ich spüre eine tiefe Erregung und bin doch ruhig, ich bin inHochstimmung und habe mich doch ganz unter Kontrolle. Das istkein Glücksgefühl mehr, das ist fast schon Seligkeit.»

Nach dem R-Modus zu arbeiten ist eine schöne Erfahrung, undes läßt sich gut zeichnen unter der Leitung der rechten Hemi-sphäre. Darüber hinaus befreit Sie das Umschalten auf denR-Modus eine Zeitlang von der Herrschaft des sprach- und sym-oolbesessenen L-Modus. Den meisten ist diese zeitweilige Los-losung sehr willkommen. Die Freude, die Sie empfinden, magdarauf beruhen, daß Sie die linke Hemisphäre zur Abwechslungma-l zum Schweigen gebracht haben, daß Sie endlich einmal nicht

«Ich weiß nur zu gut, daß es mir nunin glücklichen Augenblicken gelingt,mich in meiner Arbeit zu verlieren.Maler und Dichter spüren genau,daß ihr wahres unwandelbares We-sen jenem unsichtbaren Reich ent-stammt, das ihnen ein Bild der ewigeWirklichkeit vermittelt . . . Ich habedas Gefühl, als ob ich nicht in der Zeexistiere, als ob vielmehr die Zeit inmir existiere. Ich bin mir auch dar-über klar, daß es mir nicht gegebenist, das Rätsel der Kunst vollständigzu lösen. Nichtsdestoweniger gelang!ich fast zu dem Glauben, daß ich imBegriff bin, mit meinen Händen dasGöttliche zu berühren.»

Carlo Carrä<The Quadrant ofthe Spint>

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Die Erfahrung des Hinübergleitcns

Unsere Köpfe frei zu machen vonallen Gedanken und in die Leereeinenanderen, uns weit überragendenGeist einströmen zu lassen heißt,un-ser Bewußtsein auf einen Bereichaus-zudehnen, der dem herkömmlichenrationalen Denken unzugänglichist.»Edward Hill<The Language qf Drawing>

Abb. 24: <Der Hofzwerg> (um 1535). Mit freundlicher Genehmigung des Fogg ArtMuseum, Harvard University, Mr. E. Schroeder and Coburn Fund.

auf ihr Geplapper hören müssen. Dasselbe Bedürfnis, den L-Mo-dus abzuschalten, liegt zumindest teilweise auch den jahrtau-sendealten Praktiken der Meditation und anderen Methoden zurHerbeiführung veränderter Bewußtseinszustände wie Fasten,Drogen- und Alkoholgenuß zugrunde. Das Zeichnen nach demR-Modus führt zu einer Veränderung der Bewußtseinslage, dieStunden andauern kann und uns zutiefst beglückt.

Bevor Sie weiterlesen, fertigen Sie bitte mindestens noch zweiweitere Zeichnungen nach einer auf den Kopf gestellten Vorlagean. Sie können dazu die Abbildung 24 benutzen, aber auchZeichnungen nach dem eigenen Geschmack auswählen. Versu-

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Die Erfahrung des Hinübergleitens

chen Sie dabei stets, die mit dem Umschalten auf den R-Modusverbundenen Gefühle bewußt zu empfinden, damit Sie mit ihnenvertraut werden.

Erinnern Sie sich Ihrer Kinderzeichnungen

Im nächsten Kapitel werden wir auf Ihre künstlerische Entwick-lung in der Kindheit zurückblicken. Die Malerei der Kinder isteine Phase, die eng mit entwicklungsbedingten Veränderungendes Gehirns verbunden ist. In den ersten Jahren der Kindheit sinddie Hirn-Hemisphären noch nicht auf gesonderte Funktionenspezialisiert. Die Verteilung spezieller Funktionen auf die eineoder andere Gehirnhälfte — die Lateralisierung — geht beim Kindnur allmählich vor sich.

Erst im Alter von etwa zehn Jahren ist die Lateralisierungvollständig ausgebildet. Dieser Moment fällt mit einer Periodezusammen, in der das Kind beim Zeichnen ständig in Konfliktegerät: Sein Symbolsystem scheint in dieser Entwicklungsphase dieOberhand über die Wahrnehmung zu gewinnen und die erschei-nungsgetreue Abbildung der Wahrnehmungen zu behindern. DieVermutung liegt nahe, daß der Konflikt dadurch entsteht, daßdie Kinder die «falsche» Gehirnhälfte — die linket— zur Lösungeiner Aufgabe benutzen, für die eigentlich das rechte Hirn «zu-ständig» ist. Vielleicht gelingt es ihnen einfach nicht, sich eineneigenen Zugang zur rechten Hemisphäre zu verschaffen. Darüberhinaus behauptet die sprachlich orientierte linke Hemisphäre indiesem Alter bereits ihre dominierende Rolle. Dadurch wird dieLage noch komplizierter, denn das Benennen von Gegenständenund ihre Darstellung durch festgelegte Symbole erhalten Vorrangvor der ganzheitlichen räumlichen Wahrnehmung.

Aus verschiedenen Gründen ist es wichtig, daß Sie mit mir aufdie Entwicklung Ihrer Kinderzeichnungen vom Kleinkindalteran zurückschauen - damit Sie sich die wachsende Kompliziertheitder Zeichnungen bei Herannahen der Jugendjahre vergegenwär-tigen, damit Sie sich die Diskrepanz zwischen Ihren Wahrneh-mungen und Ihrem zeichnerischen Können ins Gedächtnis zu-rückrufen, damit Sie Ihre Kinderzeichnungen mit weniger kriti-schen Augen als noch in diesem Moment betrachten und damitSie schließlich die Symbolik Ihrer Kindheit hinter sich lassen undhinsichtlich der gestalterischen Wiedergabe optischer Eindrückedas Niveau eines Erwachsenen erreichen, indem Sie sich des geeig-neten Modus — des «rechten» Modus — beim Zeichnen bedienen.

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5Zeichnenaus dem Gedächtnis:Ihr künstlerischerWerdegang

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Ihr künstlerischer Werdegang

Die meisten Erwachsenen der westlichen Kulturen gelangen inihrer künstlerischen Entwicklung nie über das Niveau hinaus, dassie als Neun- bis Zehnjährige erreicht hatten. Nahezu alle geisti-gen und körperlichen Fähigkeiten entwickeln und verändern sichim Laufe der Jahre, in denen ein Kind erwachsen wird — zumBeispiel die Sprache und die Handschrift. Die Entwicklung derzeichnerischen Fähigkeiten jedoch scheint für die meisten Men-schen schon in frühen Jahren beendet zu sein. In unserer Kulturzeichnen Kinder eben wie Kinder, doch die meisten Erwachsenenzeichnen gleichfalls wie Kinder, unabhängig davon, welche Fähigkei-ten sie auf anderen Gebieten, in anderen Lebensbereichen ausge-bildet haben. Die folgenden Zeichnungen (Abb. 25 und 26) ver-deutlichen dieses Verharren auf einem kindlichen Darstellungs-niveau. Sie stammen von einem außerordentlich klugen jungenMann, der zur Zeit ihrer Entstehung an seiner Doktorarbeitschrieb.

Abb. 25 Abb. 26

Ich sah dem Mann zu, als er diese Zeichnungen anfertigte,beobachtete, wie er auf die Vorlage schaute, ein paar Striche zog,sie wieder wegradierte und es noch einmal versuchte, etwa zwan-zig Minuten lang. Allmählich wurde er unruhig, wirkte ange-spannt und frustriert. Hinterher berichtete er, daß er seine Zeich-nungen abscheulich fände und daß ihm das Zeichnen überhauptverhaßt sei.

Wollten wir diese Unfähigkeit klassifizieren — wie zum BeispielPädagogen Leseschwierigkeiten als «Dyslexie» bezeichnen -,könnten wir sie «Dyspiktorie» oder «Dysartistie» nennen. Dochbislang ist noch niemand auf diese Idee gekommen. Das ist auchnicht verwunderlich, denn das Zeichnen gehört — im Gegensatzzum Lesen und Schreiben — in unserer Kultur nun einmal nicht zuden lebenswichtigen Fähigkeiten. Daher scheint es kaum jeman-

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Ihr künstlerischer Werdegang

den zu stören, daß so viele Erwachsene nur Kinderzeichnungenzustande bringen und daß die meisten Kinder mit neun oder zehnJahren das Zeichnen einfach aufgeben. Aus diesen Kindern wer-den dann später Erwachsene, die behaupten, sie hätten über-haupt kein Talent zum Zeichnen und könnten noch nicht einmaleinen graden Strich ziehen. Doch geben diese Erwachsenen dannoft zu, daß sie gern zeichnen gelernt hätten — um endlich dieSchwierigkeiten beim Zeichnen zu überwinden, die ihnen in ihrerKindheit so arg zu schaffen gemacht hätten. Sie glaubten, mitdem Zeichnen aufhören zu müssen, weil sie das Gefühl hatten, daßsie es ja doch nie lernen würden.

Die Folge dieses frühen Abbruchs der künstlerischen Entwick-lung ist, daß sehr tüchtige und selbstsichere Erwachsene plötzlichverlegen, unsicher und ängstlich werden, wenn man sie auffor-dert, einen Menschen oder nur ein Gesicht zu zeichnen. In solchenSituationen heißt es dann oft: «Brauch ich gar nicht erst zuversuchen kann ich sowieso nicht. Dabei kommen doch nurKinderzeichnungen heraus.» Oder: «Ich mag nicht zeichnen. Ichkomme mir dabei so dumm vor.» Ähnliches werden vielleichtauch Sie empfunden haben, als Sie bei den Vorübungen die erstenvier Zeichnungen anfertigen sollten. ^

Die kritische Phase

Zu Beginn der Reifezeit geraten Kinder in eine gestalterischeKrise - in einen Konflikt zwischen ihrer ständig komplexer wer-denden Wahrnehmung der Welt ringsum und ihrem zeichneri-schen Können.

Im Alter von neun bis elfjahren etwa haben die meisten Kindereine ausgeprägte Vorliebe für möglichst wirklichkeitsgetreuesZeichnen und Malen. Sie beginnen in dieser Hinsicht sehr selbst-kritisch zu werden und zeichnen bestimmte Lieblingssujets wiederund wieder, um ihrem Idealbild möglichst nahe zu kommen.Alles, was nicht absolut «wie in Wirklichkeit» aussieht, halten siefür mißlungen.

Vielleicht können Sie sich entsinnen, wie Sie selbst in jenemAlter versuchten, die Dinge «richtig» zu zeichnen, und wie ent-täuscht Sie waren, wenn es Ihnen nicht gelang. Zeichnungen, aufdie Sie vorher stolz gewesen wären, schienen Ihnen nun hoff-nungslos unzulänglich und beschämend. So haben Sie wahr-scheinlich - wie viele andere Kinder auch - nach einigen Versu-chen und kritischen Blicken auf die Ergebnisse gesagt: «Schreck-

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Ihr künstlerischer Werdegang

lieh! Ich habe kein Talent. Es hat mir sowieso nicht viel Spaßgemacht - besser, ich lasse es jetzt ganz.»

Leider gibt es noch einen anderen Grund, der Kinder sehrhäufig dazu veranlaßt, das Zeichnen und Malen aufzugeben: dieabfälligen oder spöttischen Bemerkungen gedankenloser Erwach-sener über die kindlichen Kunstprodukte. Viele Erwachsene ha-ben mir erzählt, wie sich in ihrer Kindheit ältere Leute über ihrezeichnerischen Bemühungen lustig gemacht hatten, was ihnennoch schmerzhaft deutlich in Erinnerung* war. Leider suchenKinder die Ursache für ihren Schmerz oft in ihrer vermeintlichenUnzulänglichkeit anstatt in der unbedachten Kritik. Um ihr nochungefestigtes Ich vor weiterem Schaden zu schützen, reagieren sieverständlicherweise meist defensiv. Nur selten unternehmen sie jewieder den Versuch, zeichnen zu lernen.

Kunstunterricht in der Schule

Selbst einfühlsame Lehrer, die sich über ungerechte Kritik an denZeichnungen der Kinder entrüsten und ihnen wirklich helfenwollen, fühlen sich dann doch oft entmutigt durch die in diesemAlter bevorzugte Art zu zeichnen: mit Details überladene, kom-plizierte Bilder, angestrengte Bemühungen um eine wirklichkeits-getreue Wiedergabe, endlose Wiederholung der Lieblingsthemenwie Rennwagen und dergleichen. Die Lehrer erinnern sich derFreiheit und des bezaubernden Reizes, den die Zeichnungen desKindes hatten, als es noch jünger war, und fragen sich, was dapassiert sein mag. Sie bedauern, was sie für «Verklemmtheit» und«Mangel an Kreativität» halten. Oft entwickeln sich die Schülerselbst zu ihren unerbittlichsten Kritikern. Infolgedessen nehmendie Pädagogen ihre Zuflucht zu mehr handwerklichen Aufgaben- Papiermosaiken, Collagen, Schnurbilder und ähnliche Übun-gen im Umgang mit vorgefundenem Material-, die ihnen verläß-licher erscheinen und den Schülern weniger Qualen bereiten.

Die Folge ist, daß die Mehrzahl der Schüler der Unter- undMittelstufe nie zeichnen lernt. Ihre Selbstkritik verfestigt sich, undnur sehr wenige unternehmen später noch einmal einen Versuch,ihre zeichnerischen Fähigkeiten auszubilden. Wie der bereits er-wähnte Doktorand bilden sie ihr Können in den verschiedenstenGebieten aus; bittet man sie indes, einen Menschen zu zeichnen,so entstehen die gleichen kindlichen Darstellungen, an denen siebereits im Alter von zehn Jahren verzweifelt waren.

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Ihr künstlerischer Werdegang 81

Vom Kleinkindstadium bis zur Reifezeit

Für die Mehrzahl meiner Schüler hat es sich als große Hilfeerwiesen, sich an die Kinderjahre zu erinnern und sich vor Augenzu halten, wie sich ihre bildlichen Vorstellungen beim Zeichnenvom Kleinkindalter bis zur Reifezeit entwickelten. Haben sie ersteinmal erfaßt, wie das Symbolsystem ihrer Kinderzeichnungenzustande kam, scheinen sie ihre künstlerischen Fähigkeiten leich-ter freisetzen und sich ein dem Erwachsenenalter angemessenesDarstellungsvermögen aneignen zu können.

Das KritzelstadiumSchon mit etwa anderthalb Jahren haben Sie Striche auf ein BlattPapier gemacht, wenn Sie einen Stift in die Hand bekamen. Siehaben diese Striche aus eigenem Antrieb gezogen. Schwerlich kön-nen wir uns das Erstaunen eines Kindes vorstellen, wenn es einenStrich unter dem Stift hervorkommen sieht, eine Linie, deren Ver-laufes selbst lenken kann. Sie und ich, wir alle haben diese Erfahrungeinmal gemacht.

Nach den ersten Versuchen werden Sie vermutlich voller Ent-zücken jede Ihnen zugängliche Fläche bekritzelt haben, ein-schließlich der Lieblingsbücher Ihrer Eltern und der Schlafzim-mertapeten. Zuerst war Ihr Gekritzel ein ganz ungezieltes Her-umfahren mit dem Stift (vgl. Abb. 27). Doch bald begann es,bestimmte Formen anzunehmen. Eine der grundlegenden Krit-zelbewegungen ist die kreisförmige, die sich wahrscheinlich auto-matisch aus dem Zusammenwirken von Schulter, Arm, Handge-lenk, Hand und Fingern ergibt. Die kreisförmige Bewegung isteine natürliche Bewegung — natürlicher zum Beispiel als die Arm-bewegungen, die zum Zeichnen eines Vierecks notwendig sind.

Das Stadium der SymbolikNach einigen Tagen oder Wochen machen Kleinkinder- anschei-nend alle Menschenkinder — die grundlegende künstlerische Ent-deckung: Man kann alles, was man in seiner Umgebung sieht, durch eingezeichnetes Symbol abbilden. Das Kind zeichnet ein kreisförmigesGebilde, betrachtet es, fügt zwei Zeichen als Augen hinzu, weistauf die Zeichnung und sagt: «Mami» oder «Papi» oder «das binich» oder «mein Hund» oder was auch immer. Auf diese Weisehaben wir alle den einzigartigen Erkenntnissprung vollzogen, derdie Grundlage aller Kunst bildet, von den prähistorischen Höh-lenzeichnungen bis hin zu den Gemälden eines Leonardo daVinci, eines Rembrandt, eines Picasso.

«Die Kritzeleien des Kleinkindes las-sen deutlich erkennen, wie sehr es sichden Empfindungen während der ziel-losen Bewegungen seiner Hand hin-gibt, die mit dem Stift über die Zei-chenfläche gleitet und dabei eine Liniehinterläßt. Schon allein dies muß ihmwie ein Zauber vorkommen.»

Edward Hill<The Language 0/Drawing>

Abb. 27: Kritzelzeichnung einesZweieinhalbjährigen.

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Ihr künstlerischer Werdegang

Abb. 2g: Achten Sie darauf, wie sich die Formen bei allen Figuren gleichen, sogarbei der Katze. Das kleine Hand-Symbol dient auch zur Darstellung der Katzen-pfoten.

Entzückt versieht das Kind seine Kreise erst mit Augen undMund, dann mit Strichen, die Arme und Beine, später auchFinger darstellen sollen (Abb. 28). Dieser symmetrische, kreisför-mige Umriß ist eine von allen Kindern auf der Welt benutzteGrundform. Sie kann — mit geringfügigen Variationen — fast allesdarstellen: eine Katze, die Sonne, eine Qualle, einen Elefanten,eine Blume, eine Knospe. Als Sie ein kleines Kind waren, stelltedas Bild dar, was immer Sie wollten, wenn Sie auch vermutlichrührende, äußerst feine Veränderungen an der Grundform vor-nahmen, um Ihre Vorstellung auch richtig zu vermitteln.

Allmählich, etwa im Alter von dreieinhalb Jahren, werden dieDarstellungen des Kindes komplexer. Sie spiegeln das wachsendeBewußtsein und die sich verfeinernde Wahrnehmung der Umweltwider. Dem Kopf wird nun ein Körper angefügt, mag er auchkleiner sein als der Kopf. Die Arme wachsen manchmal noch ausdem Kopf heraus, meist aber schon aus dem Körper — bisweilenzunächst unterhalb der Taille. Die Beine werden an den Körperangehängt.

Im Alter von vier Jahren wird sich das Kind vieler Einzelheitender Kleidung bewußt; auf den Zeichnungen erscheinen Knöpfeund Reißverschlüsse. Am Ende der Arme und Hände tauchenFinger auf, am Ende der Beine und Füße Zehen. Ihre Zahl variiertje nach Phantasie. Ich habe bis zu 31 Finger an einer Handgezählt. Manche Hände oder Füße dagegen müssen mit einemFinger oder einem Zeh auskommen (vgl. Abb. 28).

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Ihr künstlerischer Werdegang 83

Obwohl Kinderzeichnungen sich in vieler Hinsicht ähneln,erwirbt sich doch jedes Kind durch ständiges Probieren undKorrigieren («trial and error») eine eigene, von ihm bevorzugteDarstellungsform, die es allmählich verfeinert. Kinder werdennicht müde, ihre Lieblingsbilder immer wieder zu zeichnen. Sieprägen sie sich auf diese Weise ein und fügen ihnen im Laufe derZeit immer mehr Einzelheiten hinzu. Durch diese Lieblingsdar-stellungen verfestigen sich bestimmte Bildelemente im Gedächt-nis, die sich über Jahre hinweg als außerordentlich beständigerweisen (vgl. Abb. 29).

Bilder, die Geschichten erzählenMit etwa vier bis fünf Jahren beginnt das Kind, in seinen Zeich-nungen Geschichten zu erzählen und Probleme zu verarbeiten,wobei es kleine, aber auch schon gröbere Veränderungen derGrundformen entwickelt, um die gewünschte Bedeutung zumAusdruck zu bringen. Zum Beispiel hat der junge Künstler, vondem die Zeichnung auf Abb. 30 stammt, den Arm, der den Schirmhält, im Vergleich zum anderen Arm riesengroß gemacht: derArm mit dem Schirm ist das, worauf es ihm ankommt.

Ein anderes Beispiel für die Art und Weise, wie Kinder in ihrenZeichnungen Gefühle ausdrücken, ist das auf dieser Seite in seinenEntstehungsphasen gezeigte Familienbild eines schüchternenFünfjährigen, der anscheinend von morgens bis abends von seinerälteren Schwester herumkommandiert wird.

Selbst Picasso hätte eine Empfindung kaum stärker zum Aus-druck bringen können. Nachdem das Kind seine Gefühle für seineSchwester gezeichnet, den gestaltlosen Empfindungen Gestalt ge-geben hatte, wird es wohl in der Lage gewesen sein, sich bessergegen seine übermächtige Schwester zu wehren.

Seine symbolische Grundform füreine Figur benutzend, zeichnete derFünfjährige zunächst sich selbst.

Unter Anwendung der gleichenGrundform, mit nur geringfügigen» Wanderungen - langes Haar undKleid -, zeichnete er daneben seineMutter.

Dann fügte er noch den Vater hinzu,der kahl ist und eine Brille trägt.

Zum Schluß zeichnete er seineSchwester - mit gewaltigen Zähnen.

Abb. 30

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Ihr künstlerischer WerdegangDie LandschaftIm Alter von etwa fünf bis sechs Jahren haben Kinder bereitseineReihe von Landschaftssymbolen entwickelt. Auch hier entschei-det sich das Kind nach einer Probierphase meist für eine einzigeLandschaftsversion, die es ständig wiederholt. Vielleicht könnenSie sich noch an die Landschaft erinnern, die Sie mit fünf odersechs Jahren gezeichnet haben.

Woraus setzte sich diese Landschaft zusammen? Zunächst ein-mal aus Himmel und Erde. Da das Kind in Symbolen denkt, weißes, daß der Boden unten und der Himmel oben ist. Daher ist deruntere Rand des Blattes der Boden, der obere der Himmel (vgl.Abb. 31). Wenn Kinder mit Farbe arbeiten, heben sie dieseUnterscheidung hervor, indem sie einen zumeist grünen Strichentlang des unteren Randes und einen blauen entlang des oberenRandes malen.

Die meisten Kinderlandschaften enthalten die gleiche Haus-Version. Versuchen Sie einmal, sich zu entsinnen, welche Art vonHaus Sie gezeichnet haben. Hatte es Fenster? Mit Vorhängen?Und was noch? Wie war die Tür, hatte sie einen Türgriff? Natür-lich, denn nur so kommt man in das Haus hinein. Ich habe noch nie eineKinderzeichnung von einem Haus gesehen, an dem ein Türgrifffehlt.

Vielleicht erinnern Sie sich jetzt langsam an die übrige Land-schaft: an die Sonne (war sie viereckig oder rund, gingen Strahlenvon ihr aus?), an die Wolken, den Schornstein, die Blumen, denBaum (hatte er Äste, Blätter?), den Fluß, die Berge. Was gab es danoch? Einen Weg, der in die Landschaft oder zum Haus führte?Einen Zaun? Oder Vögel?

Ehe Sie nun weiterlesen, nehmen Sie bitte ein Blatt Papier undversuchen Sie, Ihre Kinder-Landschaft aus der Erinnerung nach-zuzeichnen. Versehen Sie das Ergebnis mit einer Bezeichnungwie: «Landschaftszeichnung aus meiner Kindheit, aus dem Ge-dächtnis wiedergegeben». Möglicherweise erinnern Sie sich IhrerKinder-Landschaft als ganzes Bild mit überraschender Deutlich-keit, mit all ihren einzelnen Elementen; oder aber sie taucht erstallmählich wieder in Ihrer Erinnerung auf, wenn Sie zu zeichnenbeginnen.

Versuchen Sie sich während dieser Übung daran zu erinnern,welche Freude Ihnen das Zeichnen als Kind gemacht hat, welcheBefriedigung ausging von dem Gelingen eines jeden Symbols undvon dem Gefühl, daß jedes Symbol innerhalb der Zeichnungseinen rechten Platz erhielt. Erinnern Sie sich daran, daß nichtsausgelassen werden durfte, und an Ihr Empfinden, daß das Bild

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Ihr künstlerischer Werdegang

Abb. 32 Abb. 33

fertig war, wenn Sie allen Symbolen ihren Platz zugewiesen hat-ten.

Wenn Sie sich im Moment nicht mehr an Ihre Kinder-Land-schaft erinnern können, machen Sie sich keine Sorgen. Vielleichtfällt sie Ihnen später wieder ein. Wenn nicht, ist das wahrschein-lich ganz einfach ein Zeichen dafür, daß Sie den Zugang zu dieserErinnerung aus irgendeinem Grund gesperrt haben. Etwa zehnProzent meiner Schüler sind gewöhnlich nicht in der Lage, sichihrer Kinderzeichnungen zu erinnern.

Bevor es weitergeht, wollen wir einen Moment lang innehalten,um einige von Erwachsenen aus der Erinnerung wiedergegebeneKinderzeichnungen zu betrachten. Als erstes werden Sie bemer-ken, daß alle Landschaften sehr persönlich gestaltete Bilder sind,die sich deutlich voneinander unterscheiden. Achten Sie auch aufdie Komposition (die Art und Weise, wie die Elemente eines Bildesauf der gegebenen Fläche zusammengefügt beziehungsweise ver-teilt sind): sie scheint genau richtig in dem Sinne zu sein, daß keineinziges Element hinzugefügt oder entfernt werden kann, ohnedas Gleichgewicht des Ganzen zu stören. Die Abbildungen 32 und33 sollen Ihnen dies veranschaulichen. Vergleichen Sie die beidenZeichnungen und sehen Sie, was geschieht, wenn man eine Form(in diesem Fall den Baum) wegnimmt. Probieren Sie dies selbst anihren erinnerten Landschaften aus, indem Siejeweils ein Elementder Zeichnung mit der Hand oder mit einem Stück Papier ab-decken. Sie werden feststellen: Das Gleichgewicht des Bildes istdadurch zerstört.

Kinder scheinen zunächst mit einemstark entwickelten Sinn für Komposi-tion ausgestattet zu sein, den sie je-dö^h meist in der Jugend verlierenund den sie sich später erst wiedermühsam aneignen müssen. DerGrund dafür besteht meiner Mei-nung nach darin, daß ältere Kinderihre Aufmerksamkeit auf einzelneDinge in einem undifferenziertenRaum richten, während sich dasKleinkind eine in sich ruhende, vonden vier Rändern des Blattes be-grenzte Vorstellungswelt schafft. Da-gegen scheinen für ältere Kinder dieRänder des Blattes kaum zu existie-ren, so wie es auch im offenen realenRaum keine Begrenzungen gibt.

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Abb. 34: Landschaftszeichnung einesSechsjährigen. Das Haus steht sehrweit vorn. Der untere Rand des Blat-tes dient gleichzeitig als Boden. Fürein Kind scheint jedes Teil der Flächeeine symbolische Bedeutung zu ha-ben: Der leere Raum stellt Luft dar, indie Rauch aufsteigt, durch die Son-nenstrahlen dringen und Vögel flie-gen.

ibb. 35: Landschaftszeichnung einesSechsjährigen. Hier liegt das Hausveiter hinten und wird von einemRegenbogen umschlossen. Es strahltine große Selbstzufriedenheit aus.

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Die Abbildungen 34 bis 36 zeigen einige andere charakteristi-sche Merkmale kindlicher Landschaftszeichnungen. NachdemSie sich diese Beispiele angesehen haben, betrachten Sie Ihreeigene Kinder-Landschaft. Beachten Sie die Komposition. Ach-ten Sie auf den Abstand zwischen den einzelnen Bild teilen, der einwichtiger Aspekt der Komposition ist. Versuchen Sie zu beschrei-ben, was das Haus für Sie ausdrückt - zunächst im stillen ohneWorte, dann in einigen gesprochenen oder geschriebenen Sätzen.Decken Sie ein Element ab, und stellen Sie fest, wie sich das auf dieKomposition auswirkt. Erinnern Sie sich daran, wie Ihnen ebenbeim Zeichnen der Kinder-Landschaft zumute war. Fühlten Siesich nicht absolut sicher bei der Entscheidung, wohin jedes Teilgehörte? Haben Sie nicht für jedes Element ein in sich vollkom-menes Symbol gefunden, das genau zu den anderen Symbolen

Ihr künstlerischer Werdegang

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paßte? Vielleicht haben Sie sogar die gleiche Befriedigung ge- spürt, die Sie als Kind empfanden, wenn alle Formen den rechtenPlatz hatten und somit das Bild fertig war.

Die Stufe der KomplexitätNun bitte ich Sie, sich in die Phase Ihrer kindlichen Entwicklunghineinzuversetzen, die der eben geschilderten folgt. Möglicher-weise können Sie sich noch an einige der Zeichnungen erinnern,die Sie als neun- und zehnjähriges Kind angefertigt haben — etwain der dritten, vierten oder fünften Klasse.

In dieser Phase bemühen sich die Kinder beim Zeichnen zuneh-mend um die Darstellung von Details in der Hoffnung, auf dieseWeise eine möglichst erscheinungsgetreue Abbildung des Gesehe-nen zu erreichen. Dieser «Naturalismus» ist jetzt ein Ideal, dasihnen sehr imponiert. Sie achten immer weniger auf die Kompo- sition, die Formen werden fast auf gut Glück auf der Flächeverteilt. Das Aussehen der Dinge wird für das Kind offensichtlichwichtiger als ihre Placierung auf dem Zeichenblatt. BesondereAufmerksamkeit widmet es den Details seiner Formen. Durchwegwerden die Zeichnungen älterer Kinder komplexer, zugleich aberdeuten sie auf eine geringere Sicherheit hin als die Landschafts-zeichnungen der frühen Kindheit.

Etwa in diesem Alter kann man auch die ersten geschlechtsspe-zifischen Unterschiede von Kinderzeichnungen feststellen. Wahr-scheinlich sind es die Wirkungen kultureller Einflüsse, die hierinzum Ausdruck kommen. Jungen zeichnen nun mit Vorliebe Autos- vor allem Rennwagen -, Schiffe, Flugzeuge, Kriegsszenen mitBombern und Panzern und Raketen, fiktive und historische Hel-dengestalten — bärtige Piraten, Fernsehstars, Bergsteiger, Tiefsee-taucher, Supermänner. Auffällig ist auch die Verwendung vonBlockbuchstaben, insbesondere Monogrammen. Bestimmte selt-same Phantasien, zum Beispiel (ein Prachtexemplar!) ein Aug-apfel mit eingestochenem Degen und Blutpfützen, scheinen eine besondere Anziehungskraft auszuüben.

Mädchen hingegen bevorzugen harmlosere Themen: Vasenmit Blumen, Wasserfälle, Berge, die sich in stillen Seen spiegeln,hübsche Mädchen, die rennen oder im Gras sitzen, Mannequinsmit unglaublich langen Augenwimpern, mit schicken Frisuren,Wespentaillen und winzigen Füßen, die Hände auf dem Rücken,weil Hände «so schwer zu zeichnen» sind.

Die Abbildungen 37 bis 40 sollen hier als Beispiele für diese Zeichnungen aus der beginnenden Adoleszenz dienen; zu ihnengehört auch eine Comic-Zeichnung. Comics werden von Jungen

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Abb. 38: Komplexe Zeichnung einesZehnjährigen — ein Beispiel für jeneArt von Zeichnungen, die viele Leh-rer als unschöpferisch verurteilen.Diejungen Künstler strengen sich je-doch sehr an, Bilder dieser Art so de-tailliert und vollkommen wie möglichzu gestalten. Sie erproben dabei dieunterschiedlichsten Symbole undDarstellungsformen. Achten Sie aufdie geduldige Wiederholung desSymbols für «Gesicht in der Menge».Doch wird das Kind sehr bald aufdieses Symbol verzichten, weil es ihmhoffnungslos unzureichend erscheint.

Abb. 3g: Komplexe Zeichnung einerNeunjährigen. Durchsichtigkeit - Ge-genstände unter Wasser oder durchGlasfenster gesehen, oder, wie in die-ser Zeichnung, in durchsichtigen Va-sen — das ist ein immer wiederkehren-des Lieblingsthema in Kinderzeich-nungen aus dieser Phase. Obwohlman hieran die verschiedensten psy-chologischen Hypothesen anknüpfenkönnte, ist es doch viel wahrscheinli-cher, daß diejungen Künstler andiesem Motiv ausprobieren wollen,ob sie es schaffen, eine Zeichnung zu-stande zu bringen, auf der alles «wiein echt» aussieht.

Abb. /jo: Komplexe Zeichnung einesZehnjährigen. Die Comic-Zeichnungist eine sehr beliebte Kunstform unterHeranwachsenden dieses Alters. DieKunstpädagogin Miriam Lindstromschreibt, daß das Geschmacksniveaubei Kindern dieser Altersstufe allge-mein recht niedrig ist.

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Ihr künstlerischer Werdegang

und von Mädchen gezeichnet und sind hoch angesehen. Ichglaube, sie üben auf Kinder dieser Altersstufe deshalb eine beson-ders große Anziehungskraft aus, weil in ihnen vertraute Symbol-formen in hochentwickelter Manier verwendet werden, was denHeranwachsenden hilft, den Gedanken von sich zu weisen, daßihre Zeichnungen «kindisch» sind.

Die «realistische» PhaseEtwa im Alter von zehn bis elf Jahren sind die Kinder vollständigvon der Leidenschaft für realitätsnahe Darstellungen (vgl. Abb.41 und 42) ergriffen. Wenn sie meinen, ihre Zeichnungen «stim-men nicht richtig» - was bedeutet, daß sie ihnen nicht wirklich-keitsgetreu genug erscheinen -, verlieren Kinder oft den Mut und

Abb. 41: Wirklichkeitsnahe Darstellung eines Zwölfjähri-gen. Zehn- bis zwölfjährige Kinder suchen nach Wegen, dieDinge so wiederzugeben, daß sie «wie in Wirklichkeit aus-sehen». Besondere Anziehungskraft üben figürliche Dar-stellungen auf sie aus. In dieser Zeichnung wurden Sym-bole einer früheren Phase in die neue Wahrnehmungsweiseeingepaßt. Beachten Sie das von vorn gesehene Auge in derDarstellung des Profils und die Tatsache, daß das Wissendes Kindes um die Form einer Stuhllehne es nicht darangehindert hat, sie in der Seitenansicht zu zeichnen.

Abb. 42: Wirklichkeitsnahe Zeichnung eines Zwölfjähri-gen. In dieser Altersstufe geben sich die Kinder die aller-größte Mühe, erscheinungsgetreue Darstellungen zustandezu bringen. Das Bewußtsein für die Fläche und ihre Begren-zung durch den Rand verblaßt. Die Aufmerksamkeit kon-zentriert sich hier auf einzelne, zusammenhanglose For-men, die auf gut Glück willkürlich auf der Fläche verteiltwerden. Jedes Teil hat eine Funktion für sich. Kompositio-nelle Gesichtspunkte sind unberücksichtigt geblieben.

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Ihr künstlerischer Werdegang

bitten ihre Lehrer um Hilfe. Dann erhalten sie vielleicht dieAntwort: «Du mußt eben ganz genau hinsehen», doch eine solcheAufforderung hilft ihnen kaum weiter; denn Kinder wissen nicht,was sie sich genau ansehen sollen. Ich möchte das an Hand einesBeispiels verdeutlichen.

Nehmen wir an, ein zehnjähriges Kind hat sich vorgenommen,einen Würfel zu zeichnen, vielleicht einen dreidimensionalenHolzklotz. Damit der Würfel möglichst «wie in Wirklichkeit»aussieht, versucht es, ihn aus einem Winkel zu zeichnen, der zweioder drei seiner Seiten erkennen läßt — also nicht direkt von vorn,denn dann würde der Würfel aussehen wie eine quadratischeFläche.

Um diesen Plan in die Tat umzusetzen, muß das Kind die ausseiner Perspektive recht seltsam gewinkelten Formen nach ihremErscheinungsbild zeichnen - das heißt: genau so, wie das Bild aufdie Netzhaut trifft. Diese Formen jedoch sind nicht quadratisch. DasKind muß also sein Wissen, daß der Würfel quadratisch ist, unter-drücken und Formen zeichnen, die ihm «komisch» vorkommen.Der Würfel, den es zeichnet, wird nur dann wie ein Würfel ausse-hen, wenn er sich aus nichtquadratischen, Formen zusammen-setzt. Mit anderen Worten: Das Kind muß ein Paradoxon, einenan sich unlogischen Umsetzungsprozeß akzeptieren, der seinemrationalen Verständnis zuwiderläuft. (Vielleicht erklärt dies zumTeil Picassos Bemerkung, daß die Malerei eine Lüge sei, die dieWahrheit ausdrücke.)

Wenn das Wissen des Schülers um die wirkliche Form desWürfels die Oberhand über seine optische Wahrnehmung ge-winnt, dann kommt es zu «falschen» Darstellungen. Zeichenauf-gaben, bei denen es diese Art von Gestaltungsproblemen zu be-wältigen gibt, bringen Heranwachsende zur Verzweiflung (vgl.Abb. 43). Da Schüler wissen, daß Würfel rechtwinklige Eckenhaben, beginnen sie ihre Darstellung eines Würfels gewöhnlichmit einem rechten Winkel. Da sie wissen, daß der Würfel auf einerglatten Fläche ruht, ziehen sie an seiner Unterseite eine geradeLinie. Beim Weiterzeichnen häufen sich ihre Fehler, und so wer-den sie immer verwirrter.

Obwohl ein Experte und erfahrener Betrachter von Kunstwer-ken, der mit Bildern des Kubismus und der abstrakten Kunstvertraut ist, die «falschen» Zeichnungen (Abb. 43) vielleicht in-teressanter findet als die «richtigen» auf Abb. 44 (dies gilt sicheriür viele in diesem Buch abgebildete Kinder- und Anfängerzeich-nungen, die der «wahre Künstler» als «wahre Kunst» bejubelnmag)> ist es für einen jungen Schüler unfaßbar, wenn man seine

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Abb. 43: «Falsche» Darstellungen eines Würfels (Schülerzeichnungen).

«falschen» Darstellungen lobt. Das Kind wollte ja den Würfel so«wirklich» wie möglich darstellen. Daher ist diese Zeichnung inseinen Augen mißlungen. Eine positive Beurteilung erschiene ihmebenso absurd wie der Versuch, die Behauptung, daß «zwei undzwei gleich fünf» sei, als eine beifallswürdige, schöpferische Lö-sung zu werten.

Aus solchen «falschen» Darstellungen beim Zeichnen einesWürfels wird so mancher Schüler seine Konsequenz ziehen. «Ichkann nun mal nicht zeichnen», wird er sagen. Doch das Gegenteilist wahr: Er kann sehr wohl zeichnen. Seine gezeichneten Formenverraten, daß er hinsichtlich seiner manuellen Geschicklichkeitdurchaus zum Zeichnen befähigt ist. Die Schwierigkeit bestehtdarin, daß sein Wissen, das in anderen Verwendungszusammen-hängen von großem Nutzen ist, ihn daran hindert, die Dinge so zusehen, wie sie ihm erscheinen.

Bisweilen versucht der Lehrer, das Problem zu lösen, indem erden Schülern zeigt, wie sie es machen müssen — indem er es ihnenvorzeichnet. Das Vorzeichnen ist eine altehrwürdige Methode desKunstunterrichts, die auch funktioniert, vorausgesetzt, der Leh-rer kann gut zeichnen und besitzt genügend Selbstvertrauen, umvor der Klasse sein zeichnerisches Können zu demonstrieren.

Abb. 44: «Richtige» Darstellungen eines Würfels.

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Unglücklicherweise haben Lehrer in dieser Hinsicht oft ein ebensoroßes Gefühl von Unzulänglichkeit wie die Kinder, denen sie daswirklichkeitsgetreue Zeichnen beibringen wollen.

Viele Lehrer sind der Meinung, daß Kinder in diesem Alterfreier in ihrem Schaffen und weniger um realitätsnahe Darstel-lung bemüht sein sollten. Doch sosehr auch manche Lehrer dasBeharren ihrer Schüler auf diesem naturalistischen Ideal bekla-gen die Kinder selbst sind in dieser Hinsicht unnachgiebig. Siewollen wirklichkeitsgetreue Abbildungen schaffen oder aber dasZeichnen für immer aufgeben. Sie wollen, daß ihre Zeichnungendem entsprechen, was sie sehen, und sie wollen wissen, wie mandas macht.

Meiner Meinung nach neigen Kinder dieser Altersstufen zumRealismus (der für sie natürlich eine ganz andere Bedeutung alsder kunsttheoretische Begriff «Realismus» hat), weil sie sich be-mühen, sehen zu lernen. Und sie sind bereit, sehr viel Energie undAnstrengung zu investieren, wenn die Ergebnisse ermutigend sind. Nurwenige Kinder haben das Glück, das Geheimnis durch Zufall zuentdecken: nämlich, wie man die Dinge außeine andere Weise — durch«Einschalten» des R-Modus — sieht. Wie ich bereits im Vorworterwähnt habe, glaube ich, daß ich zu den Kindern gehörte, denendieser Wahrnehmungsvorgang in den Schoß fällt. Doch die mei-sten Kinder müssen das «Umschalten» erst lernen. Glücklicher-weise sind wir heute im Begriff, neue Unterrichtsmethoden zuentwickeln, die auf den Ergebnissen der modernen Gehirnfor-schung basieren. Sie werden die Lehrer in die Lage versetzen, dasVerlangen der Kinder nach einer Ausbildung ihres Wahrneh-mungsvermögens und ihres zeichnerischen Könnens zu befriedi-gen.

Das Symbolsystem des Kindesprägt die Sehweise des Erwachsenen

rücken wir dem eigentlichen Problem und seiner Lösunglangsam näher. Die naheliegende Frage lautet: Was hindert einenMenschen daran, die Dinge so genau anzusehen, daß er sie zeichnenkann?

Teil können wir diese Frage durch den Hinweis daraufbeantworten, daß wir von Kindheit an gelernt haben, die Dingeals Wörter, als Begriffe zu erfassen und in unser Sprachsystemeinzufügen: Wir benennen sie und eignen uns ein faktisches Wis-sen über sie an. Die dominante linke Hemisphäre ist nicht an der

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Sobald das Kind mehr als ein Ge-kitzel zustande bringt, im Alter vondrei bis vier Jahren, erhalten dieDinge ihren Namen, und im Geistdes Kindes beginnt die Bildung derBegriffe, und das ist es: an Stellederkonkreten Bilder treten dieBegriffe,das sprachlich formulierte begriff-liche Wissen beherrscht sein Ge-dächtnis und sein zeichnerischesWerk . . .Die Zeichnungen des Kindes sindingewissem Sinne graphische Erzäh-lungen . . . Je mehr die HerrschaftderSprache, die den menschlichenGeistnach ihren Bedürfnissen modelt . . .die Oberhand gewinnt, gibt esseinenatürlichen Zeichenversuche auf. ..die Sprache hat das Zeichnen erstverrdorben und dann verschluckt.»Karl BühlerGrundriß der geistigen Entwicklung

des Kindes-

ganzen Vielfalt der Informationen interessiert, die in unserenWahrnehmungen enthalten sind. Sie möchte nur gerade so vielvon den Dingen wissen, daß sie sie zu erkennen und zu kategori-sieren vermag. Sie hat gelernt, einen raschen Blick auf das Objektzu werfen und festzustellen: «Richtig, das ist ein Stuhl (oder einSchirm, ein Vogel, ein Baum, ein Hund usw.).» Da unser Gehirndie meiste Zeit mit hereinströmenden Informationen überfüttertwird, scheint eine seiner Funktionen darin zu bestehen, einengroßen Teil der Wahrnehmungsvielfalt auszufiltern. Dies ist not-wendig, damit wir unser Denken auf bestimmte Dinge konzentrie-ren können. Allgemein betrachtet, ist dieser Filter eine sehr wich-tige, nützliche Einrichtung. Doch das Zeichnen erfordert ein lan-ges, gründliches Hinsehen, bei dem eine große Zahl von Einzel-heiten wahrgenommen, so viele Informationen wie möglich ge-

Abb. 45: Studie zum (Heiligen Hieronymus> (1521) von Albrecht Dürer.

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neichert werden — im Idealfall alle. Die Abbildung 45 zeigt einenVersuch Dürers, dieses Ideal zu verwirklichen.

Die linke Hemisphäre bringt nicht die Geduld für eine solchedetaillierte Wahrnehmung auf. Sie macht es sich in dieser Hin-sicht leicht und versucht, ihre Kollegin zur Rechten von ihrenAnsichten zu überzeugen: «Es ist ein Stuhl, und damit basta.Mehr brauchen wir doch gar nicht zu wissen. Gib dich bloß nichtso lange mit diesem bescheuerten Stuhl ab — du verdirbst dir ja dieAugen. Hier hab ich ein fertiges Symbol für dich. Wenn du willst,kannst du ja noch ein paar Details hinzufügen, aber laß mich bittemit diesem ganzen verdammten Sehkram zufrieden.»

Woher stammen diese Symbole? Sie sind in den Jahren derKinderzeichnungen entstanden. Jeder Mensch entwickelt in dieserZeit ein Symbolsystem. Die Symbole prägen sich dem Gedächtnisein und können somit jederzeit abgerufen werden — was auch beiIhnen geschah, als Sie Ihre Kinder-Landschaft zeichneten.

Ebenso stehen Symbole auf Abruf bereit, wenn Sie zum Beispielein Gesicht zeichnen. Das tüchtige linke Hirn sagt dann: «Augen —kein Problem. Hier hab ich das Symbol für Augen, das du schonimmer benutzt hast. Und eine Nase? Schau hin, so macht man's.»Mund, Haare, Wimpern? Für alles steht ein fertiges Bildsymbolbereit.

Um es zusammenzufassen: Erwachsene, die zeichnen lernenwollen, sind gewöhnlich nicht in der Lage, wirklich zu sehen, wassich vor ihren Augen abspielt ~ sie nehmen ihre Umwelt nicht auf diebesondere Weise wahr, die allein sie zum Zeichnen befähigt. Sieregistrieren, was sie erblicken, und übersetzen diese Wahrneh-mung dann auf der Stelle in Wörter und Bildsymbole, die vorwie-gend auf dem in ihrer Kindheit entwickelten Symbolsystem undauf ihrem Wissen über das wahrgenommene Objekt beruhen.

Wie können wir diese Schwierigkeit überwinden? Der Psycho-loge Robert Ornstein meint, der Künstler müsse die Dinge «spie-geln», wenn er sie zeichnen wolle, sie also genau so wahrnehmen,wie sie sind. Wenn Sie dieser Prämisse folgen, so müssen Sie Ihrendominanten L-Modus — die sprachlichen Kategorisierungsme-chanismen — «abschalten» und den R-Modus «einschalten». Solernen Sie, mit den Augen eines Künstlers zu sehen.

Wieder lautet die Schlüsselfrage: Wie bringt man dieses Um-schalten zustande? Wie bereits im vierten Kapitel dargelegt,scheint dies am besten zu gelingen, wenn man das Gehirn vorAufgaben stellt, mit denen die linke Hemisphäre weder umgehenkann noch will. Mit einer Reihe solcher Aufgaben haben Sie esschon zu tun gehabt: das Vasen-Gesichter-Zeichnen und das Um-

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«Kunst ist eine Art äußerst feinen Be-wußtseins . . . bedeutet Einssein, inÜbereinstimmung mit seinem Ge-genstand sein . . . Das Bild muß ganzaus dem Innern des Künstlers kom-men . . . Das ist das Vorstellungsbild,das im Bewußtsein lebendig ist, le-bendig wie eine Vision, doch unbe-kannt.»D. H. Lawrence

«Die Entwicklung eines inneren Be-obachters kann einem Menschen dieWahrnehmung unterschiedlicherIdentitätszustände ermöglichen.Auch ein äußerer Beobachter ist inder Lage, von seinen Wahrnehmun-gen auf solche verschiedenen Identi-tätszustände zu schließen. Doch einMensch, der diese Beobachter-Funktion nicht besonders gut ent-wickelt hat, wird niemals etwas vonden vielen Übergängen von einemIdentitätszustand in den anderenbemerken.»Charles T. Tart(Alternative States of Consciousness>

gekehrt-herum-Abzeichnen. Und bis zu einem gewissen Gradehaben Sie ja den anderen Bewußtseinszustand bei «eingeschalte-tem» R-Modus bereits bewußt erlebt und auch wiedererkannt. Viel-leicht haben Sie dabei schon festgestellt, daß Sie in diesem Zu-stand fähig sind, genauer hinzusehen.

Wenn Sie an Ihre neuen Zeichenerfahrungen seit Beginn derLektüre dieses Buches und an Ihr Erleben leicht veränderterBewußtseinsstände zurückdenken, die Sie vielleicht auch bei an-deren Tätigkeiten (beim Fahren auf der Autobahn, beim Lesenusw.) bewußt empfunden haben, dann versuchen Sie sich diecharakteristischen Merkmale dieses Zustandes zu vergegenwärti-gen. Es ist wichtig, daß Sie Ihren verborgenen Beobachter nochintensiver ausbilden und sich so langsam die Fähigkeit aneignen,diesen Zustand zu erkennen.

Ich möchte an dieser Stelle ein letztes Mal die Charakteristikades R-Modus aufzählen. Zunächst einmal verlieren Sie das Gefühlfür Zeit. Sie werden sich des Vergehens der Zeit nicht im Sinne derUhrzeit bewußt. Zweitens widmen Sie Worten, die man an Sierichtet, keine Aufmerksamkeit. Sie mögen sie hören, können ihrenSinn jedoch nicht aufnehmen. Wenn jemand Sie anspricht, habenSie das Gefühl, Sie müßten sich sehr anstrengen, um wiederumzuschalten, wieder in Worten zu denken und zu antworten.Zudem erscheint Ihnen alles, was Sie tun, enorm interessant. Siesind aufmerksam und konzentriert bei der Sache und fühlen sich«eins» mit den Dingen, auf die Sie sich konzentrieren. Sie sindvoller Energie, dabei ganz ruhig, aktiv und angstfrei. Sie spürenein großes Selbstvertrauen und die Zuversicht, daß es Ihnengelingen wird, die Aufgabe, mit der Sie beschäftigt sind, gutauszuführen. Sie denken nicht in Worten, sondern in Bildern, undzumal beim Zeichnen wird Ihr Denken von dem Objekt IhrerWahrnehmung «gefesselt». Es ist ein höchst angenehmer Zu-stand. Wenn Sie ihn verlassen, sind Sie nicht ermüdet, sondernerfrischt.

Wir stehen nun also vor der Aufgabe, diesen Zustand klarererkennen und bewußter lenken zu lernen. Die Übungen im näch-sten Kapitel sollen Sie tiefer in ihn hineinführen. Unser Ziel ist,Ihrem Beobachter den Rücken zu stärken. Zugleich soll IhreFähigkeit, das Umschalten zu steuern, gefördert werden. Aufdiese Weise lernen Sie, sich bewußt und absichtlich in einen Zustandzu versetzen, in dem sich dieses Hinübergleiten in den R-Moduswie von selbst vollzieht.

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Ihr künstlerischer Werdegang

Einen ähnlichen Übergang schildertLewis Carroll in seinem Buch <Alicehinter den Spiegeln): «Ach, Mieze! Wieschön das wäre, wenn wir in dasSpiegelhaus hinüber könnten! Sicher-lich gibt es dort, ach! so herrlicheDinge zu sehen! Tun wir doch so, alsob aus dem Glas ein weicher Schleiergeworden wäre, daß man hindurch-steigen könnte. Aber es wird ja tat-sächlich zu einer Art Nebel! Da kannman mit Leichtigkeit durch . . .»

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6Die Umgehungdes Symbolsystems:Wir zeichnen Ränderund Konturen

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Wir zeichnen Ränder und Konturen

Wir haben auf unsere Kinderzeichnungen und auf die Entwick-lung einer Reihe von Bildsymbolen zurückgeblickt, die die Spra-che unserer Kinderzeichnungen bestimmten. Diese Entwicklungverlief parallel zu der Herausbildung anderer Symbolsysteme, wieSprechen, Lesen, Schreiben und Rechnen. Während diese undandere Symbolsysteme eine nützliche Grundlage für die spätereEntwicklung verbaler und rechnerischer Fähigkeiten bilden,scheinen die zeichnerischen Symbole der Kinderzeit die späterekünstlerische Entwicklung eher zu behindern.

Das zentrale Problem beim Unterricht im naturgetreuenZeichnen besteht also vom zehnten Lebensjahr an darin, daß dielinke Hemisphäre hartnäckig darauf besteht, von ihren im Ge-dächtnis gespeicherten Symbolen beim Zeichnen auch dann Ge-brauch zu machen, wenn sie für die Aufgabe nicht mehr geeignetsind. In gewissem Sinne «denkt» das linke Hirn unglücklicher-weise immer noch, es könne zeichnen, lange nachdem die Fähig-keit zur Verarbeitung von Informationen, die räumliche Struktu-ren und Relationen zwischen Dingen betreffen, in das rechte Hirnverlagert worden ist. Sieht sich die linke Hemisphäre mit einerZeichenaufgabe konfrontiert, stürzt sie sich mit ihren an die Spra-che gebundenen Symbolen darauf; und ironischerweise ist geradesie zu abfälligen Bemerkungen nur allzu bereit, wenn die Zeich-nung nachher kindlich oder naiv wirkt.

In den vorigen Kapiteln habe ich zu zeigen versucht, daß manganz leicht die dominante linke Hemisphäre «ab-» und stattdessen die rechte «anschalten» kann, wenn man sich eine Aufgabestellt, die die linke Gehirnhälfte weder erfüllen kann noch mag.Nach den Vasen-Gesichtern und dem Abzeichnen einer auf denKopf gedrehten Vorlage, werden wir uns nun einer noch drasti-scheren Methode bedienen, um den L-Modus «matt zu setzen»und uns den Zugang zum R-Modus zu erschließen.

Dieses Verfahren ist das «reine Konturenzeichnen». Ihrer lin-ken Hemisphäre wird es vermutlich ein Greuel sein. Der Kunst-pädagoge Kimon Nicolaides hat das reine Konturenzeichnen inseinem 1941 erschienenen Buch < The Natural Way to Draw> zu einerUnterrichtsmethode ausgearbeitet, die von zahllosen Kunsterzie-hern in den USA aufgegriffen wurde. Auf Grund der Ergebnisseder modernen Gehirnforschung können wir uns heute erklären,warum diese Methode so außerordentlich erfolgreich ist. Nico-laides glaubte damals offensichtlich, die Effektivität seines Verfah-rens beruhe darauf, daß die Schüler veranlaßt würden, beimZeichnen von zwei Sinnen Gebrauch zu machen: vom Sehen undvom Tastsinn. Er empfahl ihnen, sich bei der Arbeit vorzustellen,

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Haß sie die Formen während des Zeichnens abtasten. Da wir inzwi-schen wissen, wie das Gehirn seine Arbeitslast auf seine zweiHälften verteilt, scheint mir die Wirksamkeit dieser Methode eherin einer anderen Ursache begründet zu liegen: Die linke Hemi-sphäre sperrt sich gegen das langsame, überaus sorgfältige, viel-schichtige Erfassen räumlicher Strukturen und läßt deshalb dieVerarbeitung dieser Wahrnehmungen nach dem R-Modus gernzu. Kurzum, das genaue Nachzeichnen von Konturen entsprichtnicht der Arbeitsweise der linken, wohl aber der der rechtenGehirnhälfte, was uns sehr gelegen kommt.

Bevor ich nun diese Methode beschreibe, möchte ich die Bedeu-tung einiger Begriffe klären.

Unter Kontur verstehe ich die Begrenzung einer Form, so wie wirsie wahrnehmen. Die Methode des Konturenzeichnens, die ichIhnen vorstellen will, erfordert insofern eine besonders genaue,intensive Beobachtung, als Sie die Ränder «blind» zeichnen sol-len, das heißt ohne beim Zeichnen aufs Blatt zu schauen. -

Ein Rand entsteht dort, wo zwei Dinge aneinandergrenzen.Betrachten Sie Ihre Hand: Überall dort, wo sie von Luft umgebenist (die in einer Zeichnung als Hintergrund oder Zwischenraumerscheint), aber auch an den Stellen, wo Fingernagel und Hautaneinandergrenzen oder zwei Hautfalten eine Runzel bildenusw., ergibt sich ein Rand, eine Begrenzung. Diese gemeinsameGrenze von zwei nebeneinanderliegenden Formen kann mit einereinzigen Linie dargestellt werden: der sogenannten Kontur- oderUmrißlinie. (Mit den Rändern werden wir im nächsten Kapitelaufs neue zu tun bekommen.)

Diese Vorstellung von der gemeinsamen Begrenzung ist einfundamentales Element, ja vielleicht das wichtigste Prinzip derbildenden Kunst, da sie mit der inneren Geschlossenheit einesBildes, mit seiner Einheit zusammenhängt. Diese Einheit kommtzustande, wenn alle Teile einer Komposition ineinandergefügt einzusammenhängendes Ganzes ergeben, wobei ein jedes sein eigenesGewicht in die Ganzheit des Bildes einbringt.

«Sehen allein reicht. . . nicht aus.Man muß in einen anregenden, leb-haften, physischen Kontakt mit demGegenstand treten, den man zeich-net, mit Hilfe so vieler Sinne wie mög-lich — vor allem mit dem Tastsinn.»Kimon Nicolaides< The Jiatural Way lo Draw>

Übung zum Erfassen von Rändern

Damit Sie sich die Vorstellung von den durch gemeinsame Rän-der miteinander verbundenen Formen und Zwischenräumen festeinprägen, empfehle ich Ihnen die folgenden Übungen. Mit ihrerHilfe können Sie Ihre Fähigkeit trainieren, Ränder, Begrenzun-gen von Formen zu sehen und sich vorzustellen.

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1. Stellen Sie sich die verstreut herumliegenden Einzelteile —etwa sechs bis acht — eines Puzzles für Kinder vor. Die Stückelassen sich zu einem Bild zusammenfügen, das ein Segelboot aufeinem See zeigt. Stellen Sie sich weiter vor, daß jedes Puzzle-Teilimmer nur einen Gegenstand abbildet, und zwar genau mit denUmrissen, in denen er im Gesamtbild erscheint. Ein weißes Stückstellt das Segel dar, ein rotes Stück das Boot usw. Denken Sie sichdie übrigen Teile nach Belieben aus — das Ufer, einen Bootssteg,eine Wolke oder etwas Ähnliches.

2. Nun passen Sie die Stücke in Ihrer Vorstellung ineinander.Sehen Sie, wie immer zwei Ränder aneinandergrenzen und eineeinzige Linie bilden (natürlich muß das Puzzle Präzisionsarbeitsein). Diese jeweils zwei Formen gemeinsamen Grenzen bildenUmrisse oder Konturen. Alle Stücke zusammen — Raum (Himmelund Wasser) und Formen (Boot, Segel, Ufer etc.) — ergeben dasPuzzle-Bild.

3. Als nächstes betrachten Sie bitte Ihre Hand und schließendabei ein Auge, um eine plastische, räumliche Wahrnehmung zuverhindern. Was Sie sehen, wirkt jetzt flächig. Stellen Sie sich IhreHand mit dem sie umgebenden Raum als Puzzle vor. Achten Siedarauf, wie die Zwischenräume zwischen den Fingern und dieFinger selbst, wie der Fingernagel und die ihn umgebende Haut,wie zwei Hautpartien an den Falten jeweils gemeinsame Ränderbilden. Das aus Formen und Zwischenräumen bestehende Ganzedes Bildes ist wie ein Puzzle zusammengefügt.

4. Nun richten Sie Ihren Blick auf irgendeine der zahlreichenRandlinien, aus denen sich Ihr Bild von Ihrer Hand zusammen-setzt. Stellen Sie sich vor, daß Sie diesen Rand in Gestalt einereinzigen präzisen Linie langsam auf einem Stück Papier nach-zeichnen. Während Ihr Blick langsam an der gewählten Randli-nie entlanggleitet, stellen Sie sich vor, daß sie im selben Moment —wie von einem Zauberseismographen — gezeichnet wird.

«Blindes» Konturenzeichnenals Weg zur Umgehung des Symbolsystems

In meinen Kursen führe ich das «blinde» Konturenzeichnen aneinem Beispiel vor und beschreibe dabei, wie man es machen soll- wenn es mir gelingt, weiterzureden (eine Funktion des L-Modus)und gleichzeitig beim Zeichnen meine rechte Gehirnhälfte einzu-setzen. Meistens geht das zunächst gut, doch nach etwa fünfMinuten gerate ich mitten im Satz ins Stocken. Doch glücklicher-

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weise haben meine Schüler bis dahin zumeist schon erfaßt, was ichihnen zeigen wollte. Im Anschluß an diese Erläuterungen zeigeich den Kursteilnehmern Beispiele für Konturenzeichnungen, dievon früheren Schülern stammen.

Bevor Sie beginnen: Damit Sie sich Startbedingungen schaffen,die mit der Ausgangssituation in meinen Kursen weitgehend iden-tisch sind, versäumen Sie nicht, den folgenden Anleitungstextgenau zu lesen und die Schülerzeichnungen (S. 108 f) eingehendzu betrachten.

1. Suchen Sie sich einen Platz, wo Sie mindestens zwanzigMinuten lang ungestört sein werden.

2. Stellen Sie sich, wenn Sie wollen, einen Wecker, so daß Sienicht auf die Zeit zu achten brauchen. Wenn Sie jedoch viel Zeithaben und es Ihnen gleich ist, wie lange Sie mit der Durchführungder Übung beschäftigt sind, verzichten Sie auf einen Zeitmesser.

3. Legen Sie einen Bogen Papier auf den Tisch, und befestigenSie ihn mit Klebstreifen. Das Festkleben ist notwendig, damit derBogen beim Zeichnen nicht hin und her rutscht.

4. Sie sollen nun Ihre eigene Hand zeichnen - wenn Sie Rechts-händer sind, Ihre linke, sind Sie Linkshänder, Ihre rechte. SetzenSie sich so hin, daß sich Ihre Zeichenhand ungehindert auf demPapier bewegen kann.

5. Jetzt wenden Sie Ihr Gesicht vom Papier und dem Zeichen-stift ab und blicken auf die Hand, die Sie abzeichnen wollen.Halten Sie diese Hand bequem und stützen Sie sie irgendwie auf,denn Sie werden in dieser Stellung eine ganze Weile verharrenmüssen. Sie sollen Ihre Hand zeichnen, ohne daß es Ihnen möglich ist,zu sehen, was Sie zeichnen (vgl. Abb. 46). Dieses Wegsehen ist ausmehreren Gründen wichtig: Erstens konzentrieren Sie dadurchIhre ganze Aufmerksamkeit auf die visuellen Informationen, diedas Anschauen Ihrer Hand erbringt. Zweitens lenken Sie IhreAufmerksamkeit von der Zeichnung selbst ab und verhinderndadurch, daß sich Ihre alten, in der Kindheit entwickelten undgespeicherten Symbolmuster — «so zeichnet man eine Hand» —plötzlich selbständig machen. Sie wollen nur das zeichnen, was Sie(mit Hilfe des R-Modus) sehen, und nicht, was Sie (auf Grund desL-Modus) wissen. Sich ganz abzuwenden ist notwendig, da derImpuls, beim Zeichnen auf das Papier zu sehen, zuerst überwäl-tigend stark ist. Wenn Sie in der - sicher bequemeren - normalenHaltung zeichnen, werden Sie - gegen alle guten Vorsätze versto-ßend — wahrscheinlich doch irgendwann einen kurzen Blick ausden Augenwinkeln riskieren, und das würde den L-Modus reak-tivieren und damit den Zweck der Übung zunichte machen.

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A. 46: Abgewandte Haltung beim «blinden» Konturenzeichnen.

6. Fixieren Sie in dieser abgewandten Haltung den Blick aufeine bestimmte Stelle Ihrer Hand, und nehmen Sie eine Randlinieaufs Korn. Gleichzeitig setzen Sie die Spitze Ihres Stiftes aufsPapier (irgendwohin mit einem ausreichenden Abstand vomBogenrand).

7. Ganz langsam, Millimeter um Millimeter, lassen Sie IhrenBlick an der gewählten Randlinie entlanggleiten; beachten Sie dabeiauch die winzigsten Abweichungen und Biegungen der Linie. Im gleichenlangsamen Tempo bewegen Sie Ihren Bleistift über das Papier undverzeichnen dabei alle Abweichungen oder Biegungen der Rand-linie, die Sie zur selben Zeit mit den Augen wahrnehmen. Ver-trauen Sie darauf, daß die Informationen über den beobachtetenGegenstand (in diesem Fall Ihre Hand) bis in alle Einzelheitenvon Ihnen optisch wahrgenommen und gleichzeitig vom Stiftaufgezeichnet werden. Er registriertjedes Detail, das Sie im Augenblickbeobachten.

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8. Schauen Sie auf keinen Fall auf das Papier. Bleiben Sie in derPosition sitzen, die Sie zu Beginn der Übung eingenommen ha-ben. Während Sie Ihre Hand ansehen, ziehen Sie jeweils Ab-schnitt für Abschnitt die Ränder nach, die Ihnen in den Blickgeraten. Ihre Augen werden wie Ihr Stift Stück um Stück jedeVeränderung der Konturen vermerken. Zugleich versuchen Siesich bewußt zu machen, in welchem Verhältnis die Kontur, dieSie gerade zeichnen, zu dem sich aus dem komplizierten Linien-spiel ergebenden Ganzen steht. Sie mögen Außen- oder Innen-konturen zeichnen oder zwischen ihnen hin und her wechseln.Machen Sie sich keine Sorgen über die Frage, ob Ihre Zeichnungnachher auch wirklich wie eine Hand aussieht. Wahrscheinlichnicht, da Sie ja die Proportionen nicht überprüfen können. Da-durch, daß Sie Ihre Wahrnehmung auf jeweils nur ganz kleineTeilchen beschränken, lernen Sie, die Dinge genau so zu sehen, wiesie sind.

g. Passen Sie die Bewegungen Ihres Stiftes genau den Bewegun-gen Ihrer Augen an. Die Augen oder der Zeichenstift könntenversuchen, Ihnen «davonzulaufen». Solche «Fluchtversuche»dürfen Sie nicht zulassen. Zeichnen Sie alles, was Sie irgendwo anden Konturen wahrnehmen, im gleichen Augenblick auf, ohneauf das Papier zu sehen. Halten Sie beim Zeichnen nicht inne,sondern fahren Sie in langsamem, gleichmäßigem Tempo fort.Zunächst fühlen Sie sich vielleicht ein wenig unbehaglich — man-che Schüler klagen über plötzlich auftauchende Kopfschmerzenoder Angstgefühle. Meiner Meinung nach treten derartige Be-schwerden immer dann auf, wenn die linke Hemisphäre ihredominante Rolle ernsthaft gefährdet sieht. In solchen Momentenfühlt sie sich vielleicht schmählich behandelt. Wenn Sie das kom-plizierte Gewirr der Linien Ihrer Hand in einem derart langsa-men Tempo verfolgen, gehen die Leitungs- und Kontrollfunktio-nen für eine lange Zeit an die rechte Gehirnhälfte über. Deshalbreagiert die linke Hemisphäre ausgesprochen ungnädig: «Höresofort mit diesem dummen Zeug auf! So genau brauchen wir unsdie Dinge nicht anzusehen. Ich habe sie doch bereits alle für dichbenannt, selbst diese mickrigen kleinen Falten. Nun sei vernünftig,und laß uns etwas anderes machen, das nicht so langweilig ist.Aber wenn du nicht auf mich hören willst, werde ich dir anstän-dige Kopfschmerzen bereiten.»

Ignorieren Sie diese Beschwerde. Halten Sie einfach durch.Während Sie weiterzeichnen, werden die Proteste der linken Ge-hirnhälfte allmählich verstummen, und in Ihnen wird es ganz still.Sie werden entdecken, daß Sie diese wunderliche Komplexität des

Krishnamurh: «Wo also beginnt dieWelt? Beginnt sie, wo das Denken auf-hört? Haben Sie jemals versucht, mitDenken aufzuhören?»Fragesteller: «Wie macht man das?»Knshnamurti: «Ich weiß es nicht, aberhaben Sie es jemals versucht? Zu-nächst einmal: Wer ist das Wesen, dasdem Denken Einhalt zu gebietensucht?»Fragesteller: «Der Denker.»Knshnamurti: «Es ist ein anderesDenken, nicht wahr? Das Denkenversucht sich selbst Einhalt zu gebie-ten, und so kommt es zum Kampfzwischen Denker und Denken . . .Das Denken sagt: <Ich muß aufhörenzu denken, dann werde ich eines wun-derbaren Zustands teilhaftig.) . . .Der eine Gedanke sucht den anderenGedanken zu unterdrücken. Sokommt es zum Konflikt. Wenn ich diesals eine Tatsache betrachte, es ganzsehe, restlos verstehe, in seinem We-sen erkenne . . . dann ist der Geiststill. Und wenn der Geist still ist, umzu beobachten, zu schauen, zu erken-nen, geschieht es auf eine ganz natür-liche und leichte Weise.»J. Krishnamurti<Tou Are the World)

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Dinges, das Sie da vor sich sehen, immer mehr fasziniert, und Siewerden den Wunsch haben, immer noch tiefer in diese Linien-und Formenvielfalt vorzudringen. Geben Sie diesem Wunschnach. Sie haben nichts zu befürchten und brauchen sich nicht zubeunruhigen. Auf jeden Fall wird Ihre Zeichnung die Tiefe IhrerWahrnehmung auf eine schöne Weise wiedergeben. Es geht unsnicht darum, ob das, was dabei herauskommt, tatsächlich aussiehtwie eine Hand. Uns geht es um die Aufzeichnung Ihrer Wahrneh-mungen.

Wenn Sie fertig sind: Denken Sie nun daran zurück, wie Sie sich zuBeginn der Übung gefühlt haben und wie Ihnen dann später, alsSie tief in die Arbeit versunken waren, zumute war. Was haben Sieempfunden? Hatten Sie nicht jedes Gefühl für den Ablauf der Zeitverloren? Waren Sie nicht fasziniert von dem, was Sie sahen?Wenn Sie in diesen Zustand zurückkehren, werden Sie ihn wie-dererkennen?

Bei den meisten Menschen ruft das «blinde» Konturenzeichnenvor allen anderen Übungen das weitgehendste «Umschalten», dietiefste Versenkung in den Bewußtseinszustand des R-Modus her-vor. Der L-Modus ist während dieser Übung vom Zeichenvor-gang abgeschnitten — und damit auch vom visuellen «Input», daseine Benennung, Kategorisierung und Umsetzung in Symbolegestatten würde. Die linke Hemisphäre wird gezwungen, sich aufetwas zu konzentrieren, was sie als ein unzumutbares Zuviel anInformationen empfindet. Sie fühlt sich zurückgewiesen, ihre Ri-valin übernimmt den Job. Die Tatsache, daß das Zeichnen solangsam vonstatten geht, scheint den L-Modus mehr und mehr zuneutralisieren und «auszuschalten». Das Konturenzeichnen über-haupt hat sich als ein derartig wirksames Mittel erwiesen, dasGehirn zum «Umschalten» zu zwingen, daß viele Künstler rou-tinemäßig ihre Arbeit zumindest mit einer kurzen Vorübung nachdieser Methode beginnen.

Haben Sie bei dieser eben durchgeführten Zeichenübung dasUmschalten auf den R-Modus noch nicht gespürt, so seien Siegeduldig mit sich selbst. Bei manchen Menschen ist die linkeHemisphäre sehr hartnäckig, oder sie hat Angst, ihre Leitungs-und Kontrollfunktionen ganz an die rechte abtreten zu müssen.Sie sollten sie daher beruhigen. Reden Sie ihr gut zu. Sie wolltenja gar nicht ganz auf sie verzichten, Sie wollten nur etwas auspro-bieren.

Allmählich wird die linke Hemisphäre das Hinübergleiten inden R-Modus zulassen. Machen Sie ihr aber unmißverständlich

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klar, daß Sie ihr nicht gestatten werden, Ihre Konturenzeichnunglächerlich zu machen, sie zu kritisieren und damit Ihren Gewinnzu schmälern. Zur Zeit wollen wir ihre Kritik noch nicht hören.Bald jedoch werden wir auch ihr Urteil beim Zeichnen hinzuzie-hen, und dann werden Sie besser zeichnen können als je zuvor.

Schülerzeichnungen -Zeugnisse eines anderenBewußtseinszustandes

Auf den Seiten 108 und 109 finden Sie einige Konturenzeichnun-gen abgebildet, die von Schülern in meinen Kursen angefertigtworden sind. Was für wunderbare «Gravuren» sind dabei heraus-gekommen! Daß einige der Zeichnungen mehr, andere wenigereiner Hand gleichen, spielt hier keine Rolle. Um die erscheinungs-getreue Gestaltung werden wir uns erst in der nächsten Übung,dem «modifizierten Konturenzeichnen», kümmern.

Beim «blinden» Konturenzeichnen geht es uns um Güte undCharakter der einzelnen Striche. Diese lebendigen Hieroglyphensind Aufzeichnungen von Wahrnehmungen. Nirgends entdecken wireine Spur von dem glatten, flotten, stereotypen Strich, der bei derunbekümmerten, auf die Umsetzung des Wahrgenommenen infertige Symbole abzielenden Verarbeitung nach dem L-Modusentsteht. Statt dessen sehen wir eine Vielfalt von tiefgründigenStrichen vor uns, empfindsame Reaktionen auf das unverstellt,unverfälscht vor den Zeichnenden Liegende, auf die Dinge inihrem So-Sein. Blinde Schwimmer, die gesehen haben — undsehend zeichneten.

Diese Bilder halte ich für Visualisierungen des Bewußtseinszu-standes, in den der Zeichnende hinüberwechselt, wenn derR-Modus «eingeschaltet» ist. Als eine meiner Freundinnen, dieSchriftstellerin Judi Marks, das erste Mal eine solche Konturen-zeichnung zu sehen bekam, sagte sie spontan: «Keiner würde soeine Zeichnung unter Einfluß der linken Hemisphäre zustandebringen!»

Fertigen Sie nun weitere Konturenzeichnungen nach der ge-schilderten Methode an. Natürlich können Sie diese Übung ab-brechen, wann immer Ihnen danach zumute ist, doch versuchen'Sie, wenigstens dreißig Minuten lang zu zeichnen, ohne innezu-halten oder auf Ihre Zeichnung zu blicken. Wenn Sie ein Um-schalten auf den R-Modus deutlich bemerken, können Sie weiter-zeichnen und immer weiter, eine Stunde und mehr.

In seinem Buch <Die Pforten der Wahr-nehmung) beschreibt Aldous Huxley,auf welche Weise sich das Meskalinauf seine Wahrnehmung alltäglicherDinge, zum Beispiel der Falten seinergrauen Flanellhose, ausgewirkt hat:«Für den Künstler wie für den Mes-kalinnehmenden sind Faltenwürfelebendige Hieroglyphen, die auf einebesonders ausdrucksvolle Weise dasunergründliche Geheimnis des reinenSeins versinnbildlichen . . . die Fal-ten meiner grauen Flanellhose [wa-ren] mit <Istigkeit> geladen.»An einer anderen Stelle schreibtHuxley: «Die Fähigkeit, das, was wirübrigen nur unter dem Einfluß vonMeskalin sehen, allezeit zu sehen, istdem Künstler angeboren.»

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Wir zeichnen Ränder und Konturen

Schülerzeichnungen: Ergebnisse des «blinden» Konturenzeichnens.

Ergänzende Übungen6a. Nehmen Sie eine Blume mit einermöglichst komplizierten Linien- undFormenvielfalt in die Hand, zum Bei-spiel eine Iris, eine Chrysantheme,eine Rose oder eine Geranie. Be-trachten Sie sie genau. Dann zeich-nen Sie sie ab, ohne auf das Zeichen-blatt zu sehen. Folgen Sie dabei derAnleitung für das «blinde» Kontu-renzeichnen. Nehmen Sie sich fürdiese Übung mindestens dreißigMinuten Zeit.

Modifiziertes Konturenzeichnen

Nachdem Sie gelernt haben, wie Sie sich Zugang zur rechtenHälfte Ihres Gehirns verschaffen — wie Sie die Pforten der Wahr-nehmung öffnen -, beginnen Sie, mit den Augen des Künstlers zusehen. Wenn Sie sich darüber hinaus mit der Methode des «mo-difizierten Konturenzeichnens» vertraut gemacht haben, werdenSie fast schon in der Lage sein, ein wirklichkeitsgetreues Bild zuzeichnen.

Doch ehe wir mit dieser neuen Übung beginnen, möchte ichIhnen empfehlen, die nebenstehenden Übungen 6a, b und cdurchzuführen. Überspringen Sie sie nicht. Sie helfen Ihnen, dieErfahrung des Umschaltens zu vertiefen. Der R-Modus-Zustandsoll Ihnen angenehm und vertraut werden. Dann wird Ihnen derÜbergang zum modifizierten Konturenzeichnen leichter fallen.

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Wir zeichnen Ränder und Konturen 109Beth Glick

Schülerzeichnungen: Ergebnisse des «blinden» Konturenzeichnens.

Das modifizierte Konturenzeichnen gleicht dem reinen Kontu-renzeichnen - mit dem einzigen Unterschied, daß Sie dabei hinund wieder auf Ihre Zeichnung blicken dürfen — aber nur dann,wenn es darum geht, Größen-, Längen- und Winkelverhältnissefestzulegen. Sie werden lernen, zur Überprüfung von Linienver-lauf, Proportionen usw. kurze Blicke auf Ihre Zeichnung zu wer-fen und zugleich die langsame, intensive Beobachtung fortzuset-zen, die den R-Modus-Zustand herbeigeführt hat und aufrechter-hält.

Bevor Sie beginnen: Lesen Sie den ganzen Anleitungstext.1. Sorgen Sie dafür, daß Sie mindestens eine halbe Stunde

langungestört bleiben.

6b. Zeichnen Sie jetzt irgendeinenNaturgegenstand (keinen Menschen,kein Tier!), z. B. eine Muschel, einenFelsen oder ein Stück Treibholz.Suchen Sie sich wieder ein kompli-ziertes Objekt aus. Gehen Sie genausovor wie bei der vorigen Übung.Schauen Sie nicht auf Ihr Zeichen-blatt. Nehmen Sie sich mindestensdreißig Minuten Zeit.6c. Knüllen Sie ein Stück Papier zu-sammen und zeichnen Sie es ab, wie-der ohne auf Ihren Bogen zu sehen.Wenn möglich, nehmen Sie sich eineStunde Zeit für diese Übung.

Judy

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Wir zeichnen Ränder und Konturen

2. Setzen Sie sich bequem an einen Tisch, diesmal in derüblichen Haltung (vgl. Abb. 47). Wieder befestigen Sie das Papiermit Klebstreifen auf dem Tisch, damit es nicht rutschen kann. Wiein der vorigen Übung sollen Sie Ihre eigene Hand zeichnen.Machen Sie aus Ihrer Hand eine möglichst komplizierte Form -mit gekreuzten, gebogenen oder gespreizten Fingern, was immerSie wollen. Eine schwierige Stellung der Hand dient unserenZwecken besser als eine einfache, offene, denn die rechte Hemi-sphäre scheint komplizierte Aufgaben zu bevorzugen.

3. Achten Sie darauf, daß Sie weder die Stellung Ihrer Handnoch Ihre Kopfhaltung verändern, wenn Sie einmal mit demAbzeichnen angefangen haben. Behalten Sie die von Ihnen ge-wählte Kopfhaltung bei, versuchen Sie nicht, Teile Ihrer Hand zusehen, die Ihnen aus Ihrem Blickwinkel verborgen bleiben. Wirbrauchen nur eine einfache Ansicht von der Hand, keine mehr-fache; sie würde Ihre Zeichnung verderben.

4. Fixieren Sie Ihren Blick auf die Hand. Das ist die besteVorbereitung, weil es das «Umschalten» auf den R-Modus inGang setzt. Stellen Sie sich vor, daß in unmittelbarer Nähe der Hand

Abb. 47: Die Haltung beim modifizierten Konturenzeichnen gleicht der üblichenHaltung beim Zeichnen.

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eine senkrechte und eine waagerechte Linie verläuft. BeobachtenSie in welchem Verhältnis ein beliebiger durch die Linien derHand gebildeter Winkel entweder zur Senkrechten oder zur Waa-gerechten steht. Nun blicken Sie auf Ihren Zeichenbogen undstellen sich vor, der Winkel wäre bereits darauf gezeichnet. Dannwählen Sie sich einen Zwischenraum aus — zum Beispiel zwischenzwei Fingern. Schauen Sie sich ihn so lange intensiv an, bis Sieseine Ränder genau sehen - dort, wo er an die Finger grenzt.Versuchen Sie zu spüren, wie Sie in Ihrem Innern auf den R-Mo-dus überwechseln.

5. Heften Sie Ihren Blick an irgendeiner Stelle fest auf eineKontur. Überprüfen Sie den Winkel, den die Kontur hier zu denvorgestellten Senkrechten und Waagerechten bildet. Während IhrBlick langsam die Kontur entlanggleitet, zeichnet Ihr Stift sie in demgleichen langsamen Tempo auf das Papier. Nehmen Sie sich dann dienächstliegende Kontur vor. Zeichnen Sie nicht erst den ganzenUmriß der Hand, und dann die innen liegenden Formen. Es istviel leichter, von einer Form zur jeweils angrenzenden überzuge-hen. Wie beim reinen Konturenzeichnen wird Ihr Stift auch hieralle Ränder registrieren, wird auch die geringsten Richtungsän-derungen und Biegungen der Umrißlinie verzeichnen. Dies gehtstumm vor sich. Sprechen Sie nicht mit sich selbst. Nennen Sie die Teile, dieSie gerade zeichnen, nicht beim Namen. Sie setzen sich ausschließlichmit den visuellen Informationen auseinander; Worte sind dabeiunnütz- Alle logischen Unterscheidungsversuche sind überflüssig,denn alle Informationen, die Sie brauchen, können Sie direkt mitden Augen wahrnehmen. Konzentrieren Sie sich auf das, was Siesehen, empfinden Sie wortlos, wie lang oder wie breit ein Teil imVerhältnis zu dem anderen ist, den sie gerade gezeichnet haben, wieklein oder wie groß ein Winkel im Vergleich zu einem anderen istund wo eine neue Kontur aus einer anderen, soeben gezeichnetenhervorzugehen scheint.

6. Blicken Sie nur auf das Papier, wenn Sie die Position einesbestimmten Punkts feststellen oder eine Proportion überprüfenwollen. Etwa neunzig Prozent der Zeit sollten Sie Ihre Augen aufden Gegenstand richten, den Sie zeichnen - fast genauso wie beimreinen Konturenzeichnen.

7- Wenn Sie bei den F-i-n-g-e-r-n-ä-g-e-1-n angelangt sind(denken Sie daran, daß wir die Dinge nicht beim Namen nennen),zeichnen Sie die Formen, die an die Nägel grenzen — nicht dieiN|agel selbst. Auf diese Weise werden Sie vermeiden, irgendwelcheSymbole aus Ihrer Kindheit auszugraben. Denn das linke Hirntnnt keine Bezeichnung für Formen, die Fingernägel umgeben.

In einem Gespräch erzählte mir Pro-fessor Elliot Elgart, der Leiter desKunstinstituts der California Univer-sity in Los Angeles, er habe des öfte-ren beobachtet, daß Anfanger, diezum erstenmal ein liegendes Modellabzeichnen, den Kopf ganz weit zurSeite beugten. Warum? Weil sie dasModell in aufrechter Stellung sehenwollten — so wie sie es gewohnt waren.

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Gehen Sie überhaupt jedesmal, wenn Sie mit irgendeinem TeilSchwierigkeiten haben, zum angrenzenden Umriß beziehungs-weise Zwischenraum über, der mit dem schwierigen Teil diegemeinsame Randlinie bildet, die Sie zeichnen wollen.

8. Denken Sie noch einmal daran, daß sich alles, was Sie überIhre Hand zu wissen brauchen, um sie abzuzeichnen — alleerforderlichen visuellen Informationen —, unmittelbar vor Ihren Au-gen befindet. Ihre Aufgabe besteht einfach darin, Ihre Wahrneh-mungen zu Papier zu bringen, so wie Sie sie sehen - mit Strichen,die Aufzeichnungen Ihrer Wahrnehmungen sind. Dazu ist das Denkennicht erforderlich. Sie brauchen lediglich zu empfinden, zu beob-achten und aufzuzeichnen, was Sie sehen. So wird Ihnen dasZeichnen nicht schwerfallen. Sie werden zuversichtlich, ent-spannt, vollkommen mit der Sache beschäftigt sein. Es wird Siefaszinieren, wie sich alle Teile, wie bei einem Puzzle, ineinander-fügen.

Beginnen Sie nun zu zeichnen. Innerhalb weniger Minutenwerden Sie in den R-Modus-Zustand übergewechselt sein. DochSie brauchen nicht daran zu denken. Sie haben günstige Bedin-gungen für dieses Umschalten geschaffen, und es wird sich mühe-los von selbst vollziehen. Das modifizierte Konturenzeichnen ist,wie die anderen Übungen, eine Aufgabe, die das linke Hirnzurückweisen wird, wodurch Ihnen der Zugang zum Modus derrechten Hemisphäre offensteht.

Wenn Sie fertig sind: Lassen Sie vor Ihrem Geist noch einmalRevue passieren, wie Sie beim Zeichnen verfahren sind, wie es sichanfühlte, im Bewußtseinszustand des R-Modus zu sein, wie Sie indiesen Zustand hinüberglitten, nachdem Sie absichtlich die Be-dingungen für das «Umschalten» geschaffen hatten.

Ihre erste Zeichnung mag einige Fehlwahrnehmungen hin-sichtlich der Proportionen und der Winkelverhältnisse bloßlegen.Die Übungen im nächsten Kapitel werden Ihnen helfen, mit ■Problemen der Proportion fertig zu werden.

Das Zeichnen ähnelt in dieser Phase dem Lernprozeß einesFahrschülers. Zuerst machen Sie sich mit den einzelnen Vorgän-gen vertraut: Gas geben, Bremsen, Blinker betätigen, auf Autosachten, die vor, hinter und neben einem fahren. Im Laufe der Zeitlernen Sie, alle diese Handlungen zu verbinden. Beim erstenVersuch fällt es Ihnen schwerer als beim zweiten, bei der drittenFahrt geht es schon leichter als bei der zweiten. Bald haben Sie alleTätigkeiten und Fähigkeiten zu einem Ganzen integriert.

So ähnlich ist es auch mit dem Zeichnen. Es ist ein ganzheitli-ches Tun, bei dem man eine Reihe von Vorgängen, Verfahren,

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Bewegungen zu koordinieren hat. Binnen kurzem wird diese Ver-fahrensweise ebenso automatisch ablaufen wie Gas geben oderBremsen oder Blinken.

Damit Sie noch mehr praktische Erfahrungen sammeln und eingrößeres Selbstvertrauen gewinnen, sollten Sie sorgsam die Übun-gen 6d bis 6g auf Seite 115 ausführen. Ehe Sie damit beginnen,versuchen Sie sich immer die Bedingungen zu schaffen, die denÜbergang in den Bewußtseinszustand des R-Modus erleichtern.Besonders wichtig dabei ist, Vorsorge zu treffen, daß Sie nichtgestört werden.

Schülerarbeiten:Ergebnisse des modifizierten Konturenzeichnens

Wenn Sie sich die folgenden Schülerarbeiten ansehen, werden Sieden Eindruck haben, daß die Hände von Personen gezeichnetworden sind, die beträchtliche Übung im Zeichnen haben. DieHände wirken dreidimensional, plastisch, echt. Sie scheinen ausHaut und Knochen, Fleisch und Muskeln zu bestehen. Auch ganzfeine Einzelheiten sind wiedergegeben, zum Beispiel der Druckeines Fingers auf den anderen, die Spannung gewisser Muskelnund die Struktur der Haut.

Der nächste Schritt: Die linke Hemisphärewird mit dem leeren Raum überlistet

Mittlerweile haben wir also einige Lücken in den Fähigkeiten derlinken Hemisphäre entdeckt: Sie hat Probleme, Bilder widerzu-spiegeln (beim Zeichnen der Vasen-Gesichter); sie kann mit aufden Kopf gestellten Bildern nichts anfangen (wie beim Stra-winsky-Porträt); sie verweigert eine langsame, sorgfältige Verar-beitung komplexer Wahrnehmungen (wie beim «blinden» undbeim modifizierten Konturenzeichnen). Wir machen uns ihreSchwächen zunutze, um der rechten Hemisphäre die Chance zugeben, visuelle Informationen ohne Einmischung der dominantenlinken zu verarbeiten.

Im nächsten Kapitel sollen Sie das am Ende Ihrer Kindheitverlorengegangene intuitive Gefühl für Komposition, für das Zusam-menfügen von Räumen und Formen zu einer Einheit, zurückgewinnen.Das Schwergewicht wird daher auf dem Umgang mit dem negati-ven (leeren) Raum liegen.

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Schülerarbeiten: Ergebnisse des modifizierten Konturenzeichnens.

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Ergänzende ÜbungenBevor Sie beginnen: Zeichnen Sie fünfbis zehn Minuten lang irgendeinenformenreichen Gegenstand nach demVerfahren des «blinden» Konturen-zeichnens. Auf diese Weise bereitenSie das Umschalten auf den R-Mo-dus vor. Die folgenden vier Übungensollen nach dem Verfahren des modifizier-ten Konturenzeichnens durchgeführtwerden.6d. Zeichnen Sie einen Tannenzap-fen ab. Sehen Sie sich vorher dieZeichnung von Martha Kalivas(Abb. 48) als Beispiel an.6e. Zeichnen Sie eine Papiertüte ab.Es ist egal, in welchem Zustand siesich befindet und ob sie steht oder liegtusw. (vgl. Abb. 49).6f. Zeichnen Sie irgendein Küchen-gerät ab, zum Beispiel einen Quirl,einen Korkenzieher oder einen Büch-senöffner. Denken Sie daran, daß dierechte Hemisphäre komplizierte Ge-genstände vorzuziehen scheint (vgl.

Abb. 50).. Zeichnen Sie Ihren Fuß ab,

mitoder ohne Schuh (vgl. Abb. 51).(Wenn Sie Ihr Knie so, wie Sie es beimBlick auf den Fuß sehen, mit zeich-nen, beachten Sie seine Größe imVerhältnis zur Größe des Fußes.)Wenn Sie fertig sind: Betrachten Sie

Ihre R-Modus-Zeichnungen.Beach-ten Sie, welche Stellenerkennen las-sen, daß Sie von ihnenwährend des

Zeichnens besonders «gefesselt»wa-ren. Dies spiegelt sich in der«Genau-igkeit» Ihrer Wahrnehmungenwider.Versuchen Sie sich denBewußtseins-zustand zu vergegenwärtigen, indem Sie sich befanden, als Siediese

Stelle gezeichnet haben.

Abb. 49 Georgette Zuleski

• 48 Martha Kalivas

Abb. 5/ Charlotte Doctor

Abb. 50 Nora Thomas 6g

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7Raumformen wahrnehmen:Das Raum-Negativwird zum Positiv

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118 Das Raum-Negativ wird zum Positiv

Mit dem Ausdruck Komposition ist in unserem Zusammenhang dieAnordnung der Elemente (oder Komponenten) einer Zeichnung(eines Gemäldes usw.) gemeint. Hauptelemente der Kompositionsind unter anderem die positive Form (Gegenstände oder Perso-nen) , der negative (leere) Raum sowie Form und Format der Bildflä-che, die Länge und Breite der Zeichenblattränder. Die Komposi-tion eines Werkes erschafft der bildende Künstler also, indem erpositive Formen und den negativen Raum innerhalb des Bildformatsineinanderpaßt.

Das Format bestimmt die Komposition. Anders ausgedrückt: DieForm der Bildfläche, beim Zeichnen gewöhnlich ein rechteckigerBogen Papier, beeinflußt weitgehend die Verteilung der Formenund des Leerraums innerhalb des Bildrandes (der Ränder derjeweiligen Fläche). Um sich dies klarzumachen, schalten Sie bitteauf den R-Modus um und stellen sich einen Baum vor, vielleichteine Eiche oder eine Kiefer. Nun versuchen Sie, diesen einenBaum nacheinander in jedes der nebenstehenden Formate (Abb.52) einzusetzen. Sie werden feststellen, daß Sie automatisch dieUmrisse des Baumes beziehungsweise des ihn umgebenden leerenRaumes bei jedem Format verändern wollen. Versuchen Sietrotzdem, wirklich die gleichen Umrisse in jedes Format einzupas-sen. Sie werden feststellen, daß eine Form, die zum einen Formatpaßt, bei einem anderen falsch wirkt.

Ein Künstler ist sich der Bedeutung des Formats vollauf be-wußt. Anfänger im Zeichnen und Malen hingegen berücksichti-gen die Begrenzungen der Bildfläche meistens zuwenig. Sie rich-ten ihre Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf die Personen oderObjekte, die sie gerade abzeichnen. Die Ränder des Blattes schei-nen für sie nicht zu existieren.

Diese mangelnde Beachtung der Zeichenblattränder, die so-wohl den leeren Raum als auch die Formen auf der Zeichenflächebegrenzen, verursacht fast allen Anfängern erhebliche Schwierig-keiten. Das größte Problem ergibt sich, wenn es einem mißlingt,Form und Raum, die beiden Grundkomponenten eines Bildes, inEinklang zu bringen.

Abb. 52: Einige Bildformate.

«Sie können niemals das Innere einerTasse ohne die Außenseite benutzen.Innen und Außen gehören zusam-men. Sie sind eins.»Alan Watts

Kinder haben ein sicheres Gefühl für Komposition

Im fünften Kapitel haben wir festgestellt, daß Kleinkinder eintiefes Verständnis für die Bedeutung des Bildformats besitzen. IhrBewußtsein für die Bildgrenzen bestimmt die Art und Weise, inder sie Formen im vorgegebenen Raum verteilen. Kindern gelin-

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Das Raum-Negativ wird zum Positiv 119

Abb. 53: <Personnages ä £toile> (1933) vonjoan Miro. Mit freundlicher Genehmi-gung des Art Institute of Chicago.

gen oft nahezu einwandfreie Kompositionen. Die Bildkomposi-tion, die die hier abgebildete Zeichnung eines Sechsjährigen(Abb. 54) auszeichnet, hält einem Vergleich mit der Kompositioneines Bildes von Joan Miro (Abb. 53) recht gut stand.

Wie bereits erwähnt, läßt diese Fähigkeit unglücklicherweisenach, wenn die Kinder sich der Adoleszenz nähern. Der Grundfür diese Entwicklung ist vermutlich die zunehmende Herrschaftder linken Hemisphäre und deren Hang zum Definieren, Benen-nen und Kategorisieren. Das Interesse für die einzelnen Dingescheint an die Stelle der weitgehend ganzheitlichen Weltsicht deskleineren Kindes zu treten, für das alles gleich wichtig ist, ein-schließlich der negativen Räume: des Himmels, des Bodens undder alles umgebenden Luft. Gewöhnlich bedarf es eines jahrelan-gen Trainings, um Erwachsene, die zeichnen lernen wollen, da-von zu überzeugen, daß die negativen Räume innerhalb desBildgefüges das gleiche Gewicht haben und genauso sorgfältigberücksichtigt werden müssen wie die positiven Formen. Das istein Prinzip, das Künstlern sehr geläufig ist. Anfänger dagegenpflegen zunächst ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Personenoder Formen, die sie zeichnen wollen, zu verwenden und dann erstsozusagen «den Hintergrund auszufüllen». Auf die Gefahr hin,daß Sie es mir im Augenblick noch nicht glauben, behaupte ich,

Abb. 54

James Lord berichtet, wie der be-rühmte Bildhauer, Maler und Zeich-ner Alberto Giacometti auf den lee-ren Raum reagierte:«Er fing aufs neue zu malen an, dochnach einigen Minuten wandte er sichum und blickte auf die Stelle, wo dieBüste gestanden hatte, als wolle ernoch einmal einen Blick auf sie wer-fen. <Ach, sie ist ja weg!> rief er. Icherinnerte ihn daran, daß Diego siefortgenommen hatte. <Ja>, sagte er,«aber ich dachte, sie ist noch da. Ichhab hingeguckt und plötzlich dieLeere gesehen. Ich hab sie wirklichgesehen. Es ist das erste Mal in meinemLeben, daß mir das passiert.)»

James Lord<A Giacometti Portrait>

«Nichts ist wirklicher als nichts.»

Samuel Beckett<Malone stirbt)

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120 Das Raum-Negativ wird zum Positiv

Abb. 55: <Der Jockey> von Henri deToulouse-Lautrec (1864-1901). Mitfreundlicher Genehmigung desCleveland Museum of Art, Mr. andMrs. Charles G. Prasse Collection.

«Der Ausdruck steckt für mich nichtetwa in der Leidenschaft, die auf ei-nem Gesicht losbricht oder sich durcheine heftige Bewegung kundgibt. Erist vielmehr in der ganzen Anord-nung meines Bildes: der Raum, dendie Körper einnehmen, die leerenPartien um sie, die Proportionen:dies alles hat seinen Teil daran.»

Henri Matisse(Notizen eines Malerst

daß sich die Formen von selbst ergeben, wenn der leere Raum vonAnfang an in die Komposition einbezogen wird. Ich will Ihnendas an einigen Beispielen erläutern.

Die Zitate des Schriftstellers Samuel Beckett und des Zen-Philosophen Alan Watts fassen das Prinzip in komprimierterForm zusammen. In der Kunst, sagt Beckett, ist das Nichts (derleere Raum) real. Das Innen und das Außen sind eins, schreibt AlanWatts. Im vorigen Kapitel habe ich darzustellen versucht, daßsich die Gegenstände und der sie umgebende Raum zusammenfü-gen wie die Teile eines Puzzles. Jedes einzelne Teil ist gleichwichtig, und nur, wenn man sie alle ineinanderfügt, füllen sie dieFläche innerhalb der Zeichenblattränder — das vorgegebene For-mat — restlos aus.

Sehen Sie sich zur Verdeutlichung dieses Grundsatzes an, wiesich Raum und Form in der Zeichnung von Henri de Toulouse-Lautrec (Abb. 55), in dem Stilleben von Paul Cezanne (Abb. 56)und in der Aktzeichnung von Albrecht Dürer (Abb. 57) zusam-menfügen.

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Das Raum-Negativ wird zum Positiv 121

Wenn der leere Raum Gestalt annimmt

In der folgenden Übung wollen wir uns eine andere Schwäche desL-Modus zunutze machen: Die linke Hemisphäre kann nicht gutmit dem leeren Raum umgehen. Es fällt ihr schwer, ihn zu benen-nen und zu definieren. Die Kategorien und vorgefertigten Sym-bole, über die sie verfügt, passen nicht so recht auf ihn. Der leereRaum scheint die linke Hemisphäre sogar zu langweilen; sie lehntes ab, sich mit ihm zu beschäftigen. So fällt diese Aufgabe demrechten Hirn zu — und das kommt uns sehr gelegen.

Die linke Hemisphäre scheint den leeren Raum nicht zu beach-ten. Die rechte Hemisphäre dagegen findet alle Gegenstände undK-äume interessant — egal, ob sie bekannt sind oder unbekannt, obsie benannt werden können oder nicht. Je unvertrauter und kom-plizierter eine über das Auge vermittelte Information ist, destoneugieriger wird sie.

Das müssen wir ausprobieren! Um den L-Modus nicht gleich zuverstimmen, fangen wir mit einigen Gegenständen an.

Abb. 56: < Tulpen und Äpfeb von PaulCezanne (1839—1906). Mit freundli-cher Genehmigung des Art Instituteof Chicago. Indem Cezanne die For-men den Bildrand berühren läßt, be-grenzt er den negativen Raum undteilt ihn auf. Die auf diese Weise ent-standenen negativen Formen tragenzum Reiz des Bildes und zum Gleich-gewicht der Komposition ebensovielbei wie die positiven Formen.

Abb. 57: (Weiblicher Akt mit Stock vonAlbrecht Dürer (1471-1528). Mitfreundlicher Genehmigung der Na-tional Gallery of Canada (Ottawa).Auch der negative Raum, der die Fi-gur umgibt, ist in seinen Ausmaßenund seiner Anordnung sehr abwechs-lungsreich gestaltet.

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Wenn der leere Raum Gestalt annimmt

In der folgenden Übung wollen wir uns eine andere Schwäche desL-Modus zunutze machen: Die linke Hemisphäre kann nicht gutmit dem leeren Raum umgehen. Es fällt ihr schwer, ihn zu benen-nen und zu definieren. Die Kategorien und vorgefertigten Sym-bole, über die sie verfügt, passen nicht so recht auf ihn. Der leereRaum scheint die linke Hemisphäre sogar zu langweilen; sie lehntes ab, sich mit ihm zu beschäftigen. So fällt diese Aufgabe demrechten Hirn zu - und das kommt uns sehr gelegen.

Die linke Hemisphäre scheint den leeren Raum nicht zu beach-ten. Die rechte Hemisphäre dagegen findet alle Gegenstände undRäume interessant — egal, ob sie bekannt sind oder unbekannt, obsie benannt werden können oder nicht. Je unvertrauter und kom-plizierter eine über das Auge vermittelte Information ist, destoneugieriger wird sie.

Das müssen wir ausprobieren! Um den L-Modus nicht gleich zuverstimmen, fangen wir mit einigen Gegenständen an.

Das Raum-Negativ wird zum Positiv

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122 Das Raum-Negativ wird zum Positiv

Wolle man eine Dichtung verstehen,müsse man - schreibt der DichterJohn Keats - bereit sein, sich in einebestimmte Verfassung zu versetzen.Er nannte sie die «negative Capabi-lity», die «Fähigkeit zum Negativen»,die er als Fähigkeit des Menschen de-finiert, «in Ungewißheiten, Rätselnund Zweifeln zu verweilen, ohne ner-vöses Verlangen nach Tat und Ur-sache».

Helmut Viebrock<John Keats>

1. Zeichnen Sie einige große Formen auf ein Blatt Papier: zweiSeesterne, drei Pfeifen, Musikinstrumente, ein paar abstrakte For-men - was immer Ihnen einfällt. Das sind positive Formen. Betrach-ten Sie die Seesterne auf Abbildung 58. Achten Sie darauf, daßIhre Formen - wie die Seesterne - zumindest an zwei Stellen denBildrand berühren. Die die Seesterne umschließenden leerenRäume ergeben den negativen Raum.

2. Damit Sie sich die Vorstellung fest einprägen, daß die Teiledes leeren Raumes einer Zeichnung ebenfalls als Formen zu be-trachten sind, ziehen Sie bitte sorgfältig und aufmerksam dieUmrisse der leeren Räume - einschließlich der Ze/ichenblattränder,durch die ja teilweise die negativen Räume/Formen entstehen ~ mit kräfti-gen Strichen nach. Wiederholen Sie das mehrmals (vgl. Abb. 59).

3. Nun schauen Sie sich bitte eines dieser nachgezogenen Teileso lange konzentriert an, bis Sie es als eigenständige Form hervor-treten sehen. Dazu brauchen Sie ein wenig Zeit, denn die linkeHemisphäre muß sich, wenn sie mit einer unbenannten Formkonfrontiert wird, erst einen Augenblick besinnen, ob sie sie kenntoder nicht. Da sie den leeren Raum nicht in die ihr bekanntenDinge einzuordnen vermag, sagt sie schließlich zu ihrer Kollegin:«Ich weiß nicht, was das ist. Ich kann damit nichts anfangen, undwenn du da weiter so hinstarrst, mußt du damit fertig werden. Ichbin nicht daran interessiert.» Gut! Genau das haben wir unsgewünscht. Starren Sie nur unbeirrt weiter auf eines der Raum-teile, und es wird sich für Sie als Form abzuzeichnen beginnen.

4. Schraffieren Sie die Teile des negativen Raums, so daß siedeutlich dunkler werden als die Formen (vgl. Abb. 60). So prägtsich Ihnen die Tatsache noch fester ein, daß die einzelnen Teile

Abb.Abb. 58

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Das Raum-Negativ wird zum Positiv

Abb. 60 Abb. 61

des leeren Raums und der Raum insgesamt Formen sind. FixierenSie diese Formen noch einmal, eine nach der anderen, bis Sie siewirklich als Formen wahrnehmen.

5. Nehmen Sie nun eine Schere zur Hand, und schneiden Sie dieschraffierten negativen Teile Ihrer Zeichnung aus. Betrachten Siedie Formen dieser Ausschnitte. Drehen Sie sie in verschiedeneRichtungen. Dann fügen Sie sie auf einem neuen Bogen, der nachMöglichkeit eine andere Farbe hat, mit Klebstoff wieder mit dernichtschrafFierten/>o.nta7; Form (es können auch mehrere Formensein) zusammen. Da negative und positive Formen dort, wo sieaneinandergrenzen, dieselben Randlinien haben, würde sich diepositive Form (des Seesterns) auch von selbst ergeben, wenn mannur die Teile des negativen Raums auf den neuen Papierbogenkleben würde (vgl. Abb. 61).

Dieser Teil der Übung ist wichtig. Schon beim Konturenzeich-nen haben Sie feststellen können, daß die positiven Formen unddie negativen Räume gemeinsame Grenzen haben. Wenn Sie dieeinen zeichnen, haben Sie unversehens auch die anderen dargestellt. Probie-ren Sie das im stillen noch einmal aus. Sehen Sie sich irgendeinenGegenstand an - zum Beispiel die Schere, die Sie benutzt haben.VVenn Sie die Umrisse der beiden Löcher der Scherengriffe ab-zeichnen, ergeben die Ränder dieser negativen Räume zugleich dieinneren Ränder der Scherengriffe.

Eine AnalogieIch möchte Ihnen dieses Prinzip noch auf andere Weise verdeut-lichen. Sicherlich haben Sie im Kino oder im Fernsehen schoneinnmal einen Zeichentrickfilm gesehen, in dem eine derFiguren

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Das Raum-Negativ wird zum Positiv

einen langen Gang hinunterrast, an dessen Ende durch eine ge-schlossene Tür kracht und in der Tür ein Loch hinterläßt, das denUmriß der Figur hat. Stellen Sie sich dieses scheinbare Paradoxonvor: daß die innere Umgrenzung der positiven Form der TürZugleich den Umriß einer negativen Form — der des von der Trick-film-Figur hinterlassenen Loches - bildet. Mit anderen Worten:Das Loch - eine Leere, ein Nichts - und die feste Tür habengemeinsame Ränder, und wenn Sie das eine abzeichnen, habenSie zugleich das andere gezeichnet.

Richten Sie nun Ihren Blick auf ein Möbelstück mit offenenZwischenräumen - auf einen Schemel zum Beispiel oder auf einenSchaukelstuhl. Stellen Sie sich vor, daß der Stuhl (oder was immerSie sich anschauen) plötzlich verschwunden ist, daß die Teile desnegativen Raums jedoch, die ihn umgeben hatten, unverändertund greifbar zurückgeblieben sind.

Behalten Sie diese Vorstellung im Sinn, und fixieren Sie nuneinen der Zwischenräume, die am Stuhl (Abb. 62 und 63) durchPfeile markiert sind. Lassen Sie Ihren Blick fest auf dieser Stelleruhen, und warten Sie so lange, bis Sie den Zwischenraum als Formhervortreten sehen. Bitte denken Sie daran, daß dies ein oder zweiMinuten dauern wird. Die linke Hemisphäre erblickt den Zwi-schenraum vermutlich ebenfalls, stellt aber fest, daß diese Formfür ihren Verarbeitungsstil ungeeignet ist, und läßt deshalb derrechten Hemisphäre den Vortritt.

Üben Sie dieses Wahrnehmen der negativen Räume mehrereMale. Gehen Sie von einem Zwischenraum auf den anderen über,warten Sie, bis sich der Umriß des jeweiligen Zwischenraums abhebt,bis Sie also den Zwischenraum als Form hervortreten sehen. Ichempfehle Ihnen, zusätzlich die Übung 7a (S. 126) durchzuführen,bevor Sie weiterlesen.

Benutzung eines Motivsucherszur Wahl des Ausschnitts

Nun wollen wir die Wahrnehmung des Ganzen - positive Formund negativen Raum — auf einen bestimmten Ausschnitt begren-zen. Wir nehmen dazu einen Motivsucher zu Hilfe.Diesen Motivsucher können wir leicht selber machen:1. Schneiden Sie sich einen dünnen Karton zurecht (es kannauch starkes Papier sein), der das gleiche Format hat wie IhrZeichenbogen.

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Das Raum-Negativ wird «um Positiv

2. Verbinden Sie die Ecken des Kartons durch zwei Diagona-len Durch den Schnittpunkt werden die Diagonalen in vier gleichlange Geraden aufgeteilt. Markieren Sie auf allen vier Geradenjeweils den Punkt, der 1,5 Zentimeter vom Schnittpunkt entferntliegt. Wenn Sie diese vier Punkte durch zwei senkrechte und zweiwaagerechte Linien verbinden, erhalten Sie ein Rechteck, dessenProportionen dem Verhältnis der Seiten des Kartons und damitauch des Zeichenbogens entsprechen (vgl. Abb. 64).

3. Als nächstes schneiden Sie das kleine Rechteck aus. HaltenSie den Karton hoch, und vergleichen Sie die Form der ausgeschnit-tenen Öffnung mit der Form des Kartons. Wie Sie sehen, sind eszwei gleiche Formen, die sich nur hinsichtlich ihrer Größe unter-scheiden. Diesen Karton mit dem Ausschnitt nennt man — wiebeim Fotoapparat - Sucher. Er wird Ihnen helfen, den negativenRaum bewußter wahrzunehmen, indem er dem die Formen um-gebenden Raum einen Rahmen — also Außenränder — gibt.

4. Nun halten Sie Ihren Sucher vor ein Auge, und schließen Siedas andere (oder halten Sie eine Hand davor). Sehen Sie sichdurch die Öffnung den Stuhl an. Vielleicht müssen Sie den Suchernäher ans Auge heran oder weiter weg halten. Der Stuhl mußmöglichst vollständig in dem durch den Ausschnitt gegebenenRahmen zu sehen sein. Bewegen Sie den Sucher so lange hin undher, bis der Stuhl mindestens an zwei Stellen den Rand desRahmens berührt (vgl. Abb. 66).

5. Nun fixieren Sie mit Ihrem Blick einen der negativen Räume,die den Stuhl umgeben. Warten Sie, bis Sie ihn als Form hervortre-ten sehen, so wie Sie es beim Seestern geübt haben.

6. Jetzt stellen Sie sich vor, daß der Stuhl verschwindet und daß- wie bei der von der Trickfilm-Figur durchstoßenen Tür — nurdie negativen Räume als Form übrigbleiben. Was Sie in IhrerVorstellung sehen - den negativen leeren Raum -, werden Sie in Kürzeabzeichnen. Zunächst möchte ich jedoch weitere Beispiele anführenund dann zu erklären versuchen, warum diese Technik so gutfunktioniert und ein so wertvolles Hilfsmittel beim Zeichnen ist.

Verkehrte Welt: Wir zeichnen «etwas», indem wir «nichts» zeichnenDie Abbildungen 67 und 69 zeigen einen Stuhl und einen Roll-tisch, auf dem ein Filmprojektor steht. Die Gegenstände sind nurim Umriß wiedergegeben. Dennoch sieht es beinahe so aus, alsseien sie vollständig dargestellt, denn sie haben mit dem leerenRaum der sie umgibt, gemeinsame Randlinien. Zeichnet man dieUmrisse dieses leeren Raumes ab, zeichnet man ungewollt auch denGegenstand, und zwar mühelos. Und wenn man den Leerräumen

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Das Raum-Negativ wird zum Positiv

Ergänzende Übung:7a. Üben Sie sich im Sehen des nega-tiven Raums, indem Sie ein Foto auseiner Zeitschrift oder die Zeichnungeines alten Meisters wie die von Bou-cher (vgl. Abb. 65) auseinander-schneiden. Fügen Sie nur die Teile desnegativen Raums wieder aneinander,und kleben Sie diese auf ein Blattschwarzes Papier. Aus diesenStücken des negativen Raums wer-den sich die Umrisse der Figur vonselbst ergeben: Sie hat mit dem Raumgemeinsame Randlinien.

Abb. 65: Weiblicher Akt von Francois Boucher (1703 1770 . Mit freundlicherGenehmigung des Rijksmuseum, Amsterdam.

das gleiche kompositorische Gewicht zuerkennt wie den gegen-ständlichen Formen, dann ergibt sich zumeist aus irgendeinemGrund eine Zeichnung, die man sich gern anschaut. Das erwähntekompositorische Problem ist damit gelöst: Indem wir jedes«Puzzle-Teil» innerhalb der begrenzenden Randlinien des Zei-chenblattes gleichrangig behandeln, verbinden wir Formen und Raumzu einer kompositorischen Einheit.

Warum fällt uns das Zeichnen leichter, wenn wir die Umrissedes leeren Raums wiedergeben? Ich glaube, daß die linke Hemi-sphäre, die ja über keinen gleichwertigen Begriff, keine passendeKategorie für den negativen Raum verfügt, mit ihrem Wissen überdie Gegenstände wegen der Konzentration des Zeichnenden aufden Leerraum nicht mehr in den Vorgang eingreift und demrechten Hirn das Feld überläßt. Das Problem beim Zeichnen vonStühlen und Tischen und all den anderen Gegenständen, die wirnoch zeichnen möchten, ist: Wir wissen zuviel über sie. Wir wissen,daß Tischplatten flach und viereckig, oval oder rund sind, daßTische gleich hohe Beine haben, daß der Sitz eines Stuhles meistflach oder leicht gewölbt ist, daß der Stuhlrücken etwa rechtwink-lig zum Sitz angebracht ist usw.

Macht sich nun der Anfänger daran, einen Stuhl oder einenTisch zu zeichnen, steht ihm dieses gespeicherte sprachlich-analy-tische L-Modus-Wissen beim Wahrnehmen der visuellen Infor-

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Das Raum-Negativ wird zum Positiv

mationen im Wege. Sieht er den Stuhl oder den Tisch aus einemschrägen Blickwinkel, weist der Gegenstand unter Umständenkeine der ihm zugeschriebenen Eigenschaften sichtbar auf: Tisch-ecken verwandeln sich in schräge Winkel, runde Flächen in Ovaleoder gar in grade Linien, die Tisch- beziehungsweise Stuhlbeinekönnen drei oder sogar vier verschiedene Längen haben (vgl.Abb. 67).

Daher versucht der Neuling, das Problem der Darstellung vonTischen und Stühlen usw. auf zweierlei Weise zu lösen. Er bedientsich zweier widersprüchlicher Informationssysteme und gerät da-durch in Konflikte. Vergegenwärtigen Sie sich noch einmal Ihreimaginäre Stuhl-Zeichnung. Vielleicht können Sie in ihr Hin-weise auf Ihre eigenen Bemühungen entdecken, das, was Siewissen, mit dem, was Sie sehen, in Einklang zu bringen.Wahrnehmungen im Widerstreit

Die Zeichnungen vom Projektortisch (Abb. 68 und 69) sindinter--ssante, anschauliche Wiedergaben dieses Konfliktes und seinerösung. Auf der ersten Zeichnung hatte der Schüler noch großeSchwierigkeiten, sein gespeichertes Wissen —wie ein Projektor undder dazu gehörende Tisch «auszusehen haben» - mit dem, was er

Abb. 67

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128 Das Raum-Negativ wird zum Positiv

Abb. 6g Robert Dominguez

sah, in Einklang zu bringen. Beachten Sie, daß die Beine desTischchens alle gleich lang und daß die Räder durch ein Symboldargestellt sind. Als er dann aber auf den R-Modus umschaltete,einen «Sucher» zu Hilfe nahm und nur die Umrisse des leerenRaums zeichnete, gelang ihm die Wiedergabe sehr viel besser. Dievisuellen Informationen konnten offensichtlich ungehindert auf-genommen und auf die Zeichnung projiziert werden. Sie wirktüberzeugend und ungezwungen. Und so war es tatsächlich: DerSchüler hatte seine linke Hemisphäre «ausgetrickst» und zumSchweigen gebracht.

Dabei sind die visuellen Informationen, die die Betrachtung desnegativen Raumes erbringt, keinesfalls weniger komplex als dieEindrücke, die das Anschauen einer gegenständlichen Form ver-mittelt. Schließlich haben Raum und Form gemeinsame Gren-zen. Doch indem wir unseren Blick auf den Raum fixieren, setzenwir ein Sehen nach dem R-Modus in Gang und wirken der Herrschaß desL-Modus entgegen. Anders ausgedrückt: Indem wir uns auf Infor-mationen konzentrieren, die dem Arbeitsstil der linken Hemi-sphäre nicht entsprechen, schalten wir den dominanten L-Modusab, und die Verarbeitung der optischen Wahrnehmungen wirdvon der für das Zeichnen zuständigen rechten Hemisphäre über-nommen. Damit hat aller Widerstreit ein Ende, denn nach demR-Modus kann das Gehirn Informationen über räumliche Struk-turen und über Beziehungen zwischen Dingen im Raum vielleichter verarbeiten.

Es ist soweit: Zeichnen Sie einen Stuhl

Sie sind jetzt in der Lage, selbst die Negativ-Zeichnung einesStuhles anzufertigen.

Bevor Sie beginnen: Lesen Sie die folgenden Anweisungen.1. Suchen Sie sich einen zum Abzeichnen geeigneten Stuhl aus

— einen wirklichen Stuhl, kein Foto.2. Schauen Sie mit einem Auge — das andere soll geschlossen

oder verdeckt sein — durch Ihren Sucher hindurch auf den Stuhl(vgl. Abb. 66). (Sieht man nur mit einem Auge, wirkt das Wahr-genommene flächig. Erst das binokulare Sehen — das Wahrnehmenmit zwei Augen zugleich -, bei dem zwei sich leicht überschnei-dende Bilder aufeinander projiziert werden, ermöglicht uns dieräumliche, dreidimensionale Sicht.) Wenn es Ihnen unangenehmist, nur mit einem Auge zu sehen, so können Sie ruhig das andere

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Das Raum-Negativ wird zum Positiv

wieder öffnen. Doch ist es um einiges leichter, ein flaches, zweidi-mensionales Bild auf flache, zweidimensionale Zeichenbogen zuübertragen. Die meisten Künstler bedienen sich zumindest gele-gentlich dieser Technik. \

3. Richten Sie den Sucher so auf den Stuhl, daß dieser denRand der Öffnung mindestens an zwei Stellen berührt.

4. Betrachten Sie diesen Ausschnitt eine Weile, so als wollten Sieihn sich fest einprägen.

5. Nun schauen Sie auf Ihren Zeichenbogen. Stellen Sie sich vor,daß die Form des Stuhls auf dem Blatt erscheint, so wie Sie ihndurch den Sucher gesehen haben. _

6. Sehen Sie wieder durch den Sucher. Fixieren Sie mit IhremBlick den negativen Raum an einer der Stuhlseiten. Warten Sie,bis Sie ihn als Form hervortreten sehen. Nun schauen Sie wiederauf den Zeichenbogen und stellen sich die Umrisse des Raums aufdem Papier vor. Denken Sie daran, daß die Ränder des Suchers denRändern Ihres Bogens entsprechen.

7. Ihre Aufgabe ist es nun, lediglich die Teile des den Stuhlumgebenden leeren Raumes abzuzeichnen. Sie können mit denäußeren Raumteilen beginnen und dann zu den Zwischenräumenübergehen oder umgekehrt. Womit Sie anfangen, ist insofernunwichtig, als alle Formen wie die Stücke eines Puzzles zusam-menpassen. Über den Stuhl selbst brauchen Sie sich gar keineGedanken zu machen. Vergessen Sie ihn am besten. Und fragenSie sich nicht, warum die Umrißlinie eines Raumteils in diese oderjene Richtung verläuft, warum sie hier eine scharfe Ecke bildetund sich dort sanft wölbt. Zeichnen Sie den Umriß einfach so ab, wie Sieihn sehen.

8. Biegt die Umrißlinie um die Ecke, fragen Sie sich: «WelchenWinkel bildet sie im Verhältnis zum vertikalen Seitenrand desSuchers?» Wenn Sie dann von der entsprechenden Vertikalen amRand Ihres Zeichenbogens ausgehen, können Sie den Winkel so,wie Sie ihn sehen, auf das Papier übertragen.

Ich möchte versuchen, diesen wichtigen Punkt noch etwasanschaulicher darzustellen. Nehmen wir an, Sie sehen im Aus-schnitt Ihres Suchers, daß der negative Raum einen eckigen Randhat (vgl. Abb. 71). Auf Ihrem Zeichenpapier ziehen Sie dieseRandlinie des Raumes in dem Winkel, den Sie durch den Suchergesehen haben. Dabei orientieren Sie sich an den Rändern desZeichenbogens (vgl. Abb. 72 und 73). Mit anderen Worten: DieRänder Ihres Suchers und die Ränder Ihres Bogens stehen stell-vertretend für «senkrecht» und «waagerecht» - Dimensionen, indenen Ihnen auch Ihre reale Wahrnehmungswelt erscheint.

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Das Raum-Negativ wird zum Positiv

9. Schätzen Sie auf die gleiche Weise auch die Horizontallinienab: In welchem Winkel verlaufen sie im Verhältnis zu den Hori-zontalen (zu den oberen und unteren waagerechten Begrenzungs-linien Ihres Sichtfeldes und Ihres Zeichenbogens)?

10. Versuchen Sie wieder bewußt zu spüren, was Sie währenddes Zeichnens fühlen - ob Sie jedes Zeitgefühl verlieren, vom Bild«gefesselt», von der Schönheit des Wahrgenommenen tief ergrif-fen sind usw. Sie werden beim Zeichnen feststellen, daß der nega-tive Raum Sie auf Grund seiner ungewöhnlichen, komplexenStruktur mehr und mehr zu interessieren beginnt. Wenn Sie beimZeichnen auf irgendeine Schwierigkeit stoßen, dann fragen Siesich: «Welche Form begrenzt diese Linie (in welchem Winkelverläuft sie, wie lang ist sie usw.)?» Warten Sie, bis sich IhrR-Modus auf das Problem eingestellt hat. Und vergessen Sienicht: Alles, was Sie beim Zeichnen wissen müssen, liegt vor IhrenAugen und ist Ihnen uneingeschränkt zugänglich.

Wenn Sie fertig sind: Zur weiteren Förderung Ihrer Fä-higkeit, mit dem leeren Raum umzugehen, empfehleich Ihnen die Übungen 7b-f (Seite 133 f).

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Das Raum-Negativ wird zum Positiv

Schülerarbeiten:Stühle, Sessel, Hocker

Solche Negativzeichnungen finde ich außerondentlich reizvoll,selbst wenn es sich um ganz banale Gegenstände handelt. DerGrund für diesen Reiz liegt vielleicht darin, daß diese Art derzeichnerischen Darstellung die Einheit von positiven Formen undnegativen Räumen bewußter werden läßt. Ein weiterer Grund istvielleicht, daß dieses Vorgehen zu besonders interessanten Raum-aufteilungen führt. Alle diese Schülerzeichnungen heben sichdurch eine reizvolle Gliederung von Raum und Form hervor.

Während Sie durch das Zeichnen bewußter zu sehen lernen,bilden Sie zugleich Ihre Fähigkeit aus, darstellerische Problemezu erkennen und die Dinge in der rechten Perspektive zu sehen.Der perspektivischen Darstellung werden wir uns im folgendenKapitel zuwenden.

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Das Raum-Negativ wird zum Positiv

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Das Raum-Negativ wird zum Positiv 1:

Wendy Pickercll

Ergänzende Übungen:

7b. Benutzen Sie Ihren Sucher, uVnden Ausschnitt einzurahmen. Zeichnen Sie den negativen Raum einerPflanze, die einen möglichst komplizierten Umriß haben sollte (vgl.Abb. 74).

Abb. J4 Ed Gonzales

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134 Das Raum-Negativ wird zum Positiv

7c. Benutzen Sie den Sucher, um denRahmen genau festzulegen. ZeichnenSie den negativen Raum eines Haus-haltgeräts ab, zum Beispiel einesSchneebesens, eines Bügelbretts odereines Büchsenöffners (vgl. Abb. 75).7d. Zeichnen Sie den negativenRaum um einen Menschen auf einemFoto ab. Suchen Sie sich eine Gestaltaus, die gerade eine komplizierte Be-wegung ausfuhrt, zum Beispiel einenFußballspieler, eine Ballettänzerinoder einen Bauarbeiter. KombinierenSie diesmal beide Zeichenmethoden:Stellen Sie das Foto auf den Kopf undzeichnen Sie den leeren Raum ab.Die Ränder des Fotos entsprechenIhrem Bildrahmen. Achten Sie dar-auf, daß die Proportionen IhrerZeichnung mit denen des Fotos über-einstimmen (vgl. Abb. 76).7c Schauen Sie sich an, aufweicheWeise Winslow Homer den negativenRaum in seiner Zeichnung (vgl.Abb. 77) verwendet. Versuchen Sie,sie abzuzeichnen.7f. Kopieren Sie die Zeichnung vonPeter Paul Rubens (vgl. Abb. 78).Drehen Sie dazu die Abbildung aufden Kopf, und zeichnen Sie die nega-tiven Räume ab. Drehen Sie danndie Zeichnung wieder richtig herum,und zeichnen Sie die Details innerhalbder Formen ab. Diese «schwierigen»verkürzten Formen lassen sich vielleichter wiedergeben, wenn Sie sichauf den leeren Raum konzentrieren,der die Formen umgibt.

Abb. y6 Urba Dean BuryAbb. 75 Fay Conn

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Das Raum-Negativ wird zum Positiv

Abb yy: <Kind, im Ro/intuhl silzend' 1874; von Winslow Abb. y8: Arm- und Beinstudien von IHomer (1836—191 o). Mit freundlicher Genehmigung des (1577 1640). Mit freundlicher Gene]Sterling and Francine Clark Art Institute. Boymans-Van Beunigen Museum, R

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8Ausdehnungin alle Richtungen:Perspektivisch zeichnenauf eine neue Art

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138 Perspektivisch zeichnen

Einer der ersten Schritte zur Lösung eines Problems besteht ge-wöhnlich darin, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen und dieDinge «in die rechte Perspektive» zu rücken. Dazu bedarf es derFähigkeit, die verschiedenen Aspekte eines Problems in ihremwahren Verhältnis, das heißt in ihrer tatsächlichen Bedeutung, zusehen.

Um das perspektivische Zeichnen zu erlernen, bedarf es einerFähigkeit, in der Sie sich schon geübt haben: die Dinge in derAußenwelt so wahrzunehmen, wie sie sind. Wir müssen unsereVorurteile, unsere im Gedächtnis gespeicherten Klischees undDenkgewohnheiten ablegen. Wir müssen Fehldeutungen über-winden, die oft nur auf unserer Meinung darüber beruhen, wieetwas sein müßte, obwohl wir uns dieses «etwas» vor unseren Augenniemals wirklich genau angesehen haben.

Jahrhundertelang haben Künstler nach Wegen gesucht, wiesich die dreidimensionale, räumliche Welt auf der zweidimensio-nalen Zeichen- oder Bildfläche darstellen läßt. Es sind in denverschiedenen Kulturen unterschiedliche perspektivische Sy-steme entwickelt worden. Die Bezeichnung «Perspektive» leitetsich von dem lateinischen Wort perspicere her, was etwa «in dieWeite blicken» bedeutet. Die Linearperspektive (oder Zentral-perspektive) ist in der Renaissancezeit Von europäischen Künst-lern zur Vollkommenheit ausgestaltet worden. Sie ist die unsvertrauteste Darstellungsform. Mit Hilfe der Linearperspektivevermochte der Künstler nun sichtbare Veränderungen von Li-nien und Formen so darzustellen, wie sie im dreidimensionalenRaum erscheinen.

Abb. 79: <Der Zeichner des liegenden Weibes> (1538) von Albrecht Dürer. Mit freund-licher Genehmigung des Metropolitan Museum of Art, New York. Stiftung vonFelix M. Warburg, 1918.

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Perspektivisch zeichnen

In anderen Kulturen — in der ägyptischen und orientalischenzum Beispiel — entwickelten Künstler eine Art gestufte Perspek-tive, bei der die räumliche Anordnung der Gegenstände undFiguren durch ihre Placierung zwischen dem oberen und demunteren Bildrand dargestellt wurde. Nach diesem oft auch vonKindern angewandten System sind die am weitesten oben ange-ordneten Formen, unabhängig von ihrer Größe, als die am weite-sten entfernt liegenden anzusehen. In neuerer Zeit haben dieKünstler gegen die starren Konventionen hinsichtlich der_per-spektivischen Gestaltung rebelliert und neue Systeme erfunden, indenen sie sich abstrakte räumliche Eigenschaften von Farbe,Struktur, Linien und Umrissen zunutze machen.

Die traditionelle Perspektive der Renaissance-Kunst stimmtindes am genauesten mit der Wahrnehmungsweise der Menschenin unserer westlichen Kultur überein. Unserer Wahrnehmungzufolge scheinen parallele Linien am Horizont (in Augenhöhe desBetrachters) zusammenzulaufen, und Formen wirken um so klei-ner, je weiter sie von uns entfernt sind. Aus diesem Grund wirdeine naturgetreue Darstellung in hohem Maße durch diese beidenPrinzipien bestimmt. Der Holzschnitt von Albrecht Dürer (Abb.79) kann uns dieses Wahrnehmungssystem veranschaulichen.

Dürers Zeichenschema

Dürers Holzschnitt stellt einen Zeichner dar, der mit einer starren,gleichbleibenden Kopfhaltung (beachten Sie den seitlich vor sei-nem Gesicht stehenden Augenpunktmarkierer) an seinem Ar-beitstisch sitzt und aufmerksam durch ein vor ihm aufgestelltesDrahtgitter schaut. Der Körper des liegenden Modells erscheintaus seiner Perspektive stark verkürzt. Die senkrechte Körperachseder Frau verläuft genau in Augenhöhe des Künstlers. Aus dieserSicht erscheinen die am weitesten entfernten Körperteile (Kopfund Schultern) kleiner, als sie in Wirklichkeit sind, während dienäher gelegenen Teile (Knie und Unterschenkel) größer wirken.Vor dem Zeichner auf dem Tisch liegt ein Bogen Papier, derdieselben Ausmaße hat wie das Drahtgitter und - entsprechenddem Muster des Gitters - mit parallelen, senkrechten und waage-rechten Linien überzogen ist, die zahlreiche Quadrate bilden. DerKünstler beginnt nun zu zeichnen, was er durch das Quadratnetzerblickt. Er richtet auf seiner Zeichnung die Ecken und Rundun-gen der Linien und die Länge der einzelnenAbschnitte genau anden Horizontalen und Vertikalen des Netzes aus. So ergibt sich

Abb. 80: So ungefähr hat DürersZeichner die Frau gesehen.

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auf dem Papier die verkürzte Ansicht des Modells. Die sich dabeiergebenden Proportionen, Formen und Ausmaße werden im Wi-derspruch stehen zu dem, was der Künstler über Proportionen,Formen und Maße des menschlichen Körpers weiß. Doch nurwenn er die verzerrten Proportionen wiedergibt, die er wahr-nimmt, wird seine Zeichnung erscheinungsgetreu wirken.

Was hat Dürers Künstler durch dieses Gitternetz gesehen? Ichhabe es zu skizzieren versucht (vgl. Abb. 80). Wenn Sie sich diesesBild Teil für Teil ansehen, werden Sie schnell feststellen, daß diemeisten Formen der liegenden Figur nicht den uns bekanntenmenschlichen Körperformen entsprechen. Wenn wir es jedoch alsein Ganzes betrachten, deuten wir die gezeichneten Linien alseine von einem bestimmten Blickpunkt aus wahrgenommene,dreidimensionale, liegende Gestalt. Die Verzerrungen nehmenwir gar nicht zur Kenntnis, weil wir das, was wir erblicken, imGeist dem anpassen, was wir wissen.

Die Schwierigkeiten, die uns das Zeichnen verkürzter Formenbereitet, rühren nun daher, daß diese geistige Anpassung desoptisch Wahrgenommenen sich zunächst hemmend auswirkt,und so zeichnen wir, was wir wissen, und nicht, was wir sehen. Daszu verhindern war der Zweck der von Dürer dargestellten (undauch selbst verwendeten) Vorrichtung: Indem der Künstlerdurch das Gitternetz blickt und sich und seinen Blickpunkt starrbeibehält, zwingt er sich dazu, die Form genau so wiederzugeben, wieer sie sieht — mit all ihren «falschen» Proportionen.

Die große Leistung der Renaissance-Perspektive besteht alsodarin, daß sie den Künstlern eine Methode zur Ausschaltung ihresWissens von den Dingen geliefert hat und es ihnen ermöglichte,Formen so darzustellen, wie sie dem Auge erscheinen — einschließ-lich der durch den Blickpunkt des Betrachters beeinflußten opti-schen Verzerrungen.

Dieses Verfahren funktionierte ausgezeichnet. Es war «die»Lösung des Problems, wie die Illusion der räumlichen Tiefe aufder zweidimensionalen Bildfläche erzeugt werden könne — eineNeuschöpfung der sichtbaren Welt. Dürers einfache Vorrichtungzog die Entwicklung eines komplizierten, geradezu mathemati-schen Systems nach sich, das uns in die Lage versetzt, den geisti-gen Widerstand gegen die optische Verzerrung der Dinge zuüberwinden und erscheinungsgetreue Darstellungen hervorzu-bringen.

Doch brachte dieses Verfahren auch Probleme mit sich. Diegetreue Projektion der Linearperspektive setzt die Einhaltungeines festen Standpunktes, das Verharren auf einem einmal ein-

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genommenen Blickwinkel voraus, und Künstler pflegen beim Ar-beiten ihre Augen eben nicht starr auf einen Punkt gerichtet zuhalten. Zudem kann eine strikte Anwendung der perspektivischenRegeln zu recht langweiligen, leblosen Ergebnissen führen.

Doch das schwerwiegendste Problem im Umgang mit der Li-nearperspektive besteht darin, daß sie so ausgeprägt «linkslastig»ist. Beim Vorgehen nach diesen Regeln ist der Verarbeitungsmo-dus der linken Hemisphäre eingeschaltet, das analytische, rechne-rische, logische, theoretische Denken. Hier geht es um Flucht-punkt und Horizontlinie (vgl. Abb. 81), um perspektivische Dar-stellungen von Kreisen und Ellipsen und so fort. Das Verfahren istumständlich und mühsam, der genaue Gegensatz zum künstleri-schen R-Modus und dessen ebenso bizarren wie ernsthaften,tranceartigen Wesen.

Doch hat man die Regeln der perspektivischen Darstellung ersteinmal in ihren Grundzügen erfaßt, braucht man sie zum Glücknicht mehr zu beachten. Wenn Sie erst einmal in der Lage sind, inder von mir immer wieder so nachdrücklich erwähnten Weise zusehen, brauchen Sie sich um die Perspektive nicht zu kümmern.

Das Visieren: Winkelbestimmung mit Hilfeder Zeichenblattränder

Die meisten Künstler machen heute, selbst wenn sie naturalistischzeichnen oder malen, kaum noch Gebrauch von perspektivischenSystemen. Die durch die räumliche Anordnung hervorgerufeneVerzerrung der Formen wird von ihnen optisch erfaßt: Sie zeichnennach Augenmaß, sie gehen also nicht nach einem vorgegebenenstarren Regelsystem vor, sondern nach einer bestimmten metho-dischen Art zu sehen. Diese nenne ich Visieren.

Mit Hilfe des Visierens kann man die Verhältnisse messen, indenen Winkel, Punkte, Formen und Räume zueinander stehen.Beim Visieren mißt der Künstler die Perspektive mit dem Auge; esist ein unmittelbares optisches Wahrnehmen visueller Informatio-nen, die vom Künstler unverändert in die Zeichnung umgesetztwerden. Für das Peilen brauchen wir keine Reißschiene, keinLineal, keine Dreiecke oder Winkelmesser - nur Papier und Blei-stift müssen zur Hand sein. Die einzige Bedingung, die darüberhinaus noch erfüllt sein muß, ist ein L-Modus, der sich nichteinmischt und auch nicht protestiert, wenn Sie die Dinge sowiedergeben, wie sie wirklich aussehen, und nicht statt dessen daszeichnen, was Sie von ihnen wissen.

Der Kunstprofessor Graham Collieschreibt, in der Kunst der Frühren;sance sei die Perspektive auf eine seschöpferische und phantasievolleWeise angewandt worden und habein intensiveres Raumgefühl vermitelt. Er fährt fort: «So wirkungsvolldie Perspektive auch sein mag, ist sdoch für die natürliche Sehweise d<Künstlers tödlich, sobald sie, als System akzeptiert, zum Dogma gewoden ist.»Graham Collier<Form, Space and Vision>

Abb.87: Eine klassische perspek-tivische Darstellung. Beachten Sie,daß die vertikalen Linien vertikalbleiben und daß die horizontalenRandlinien im Fluchtpunkt auf deHorizontlinie zusammentreffen (distets in Augenhöhe des Zeichners vläuft). Das ist, in nuce, die Ein-Punkt-Perspektive. Perspektiven mitzwei oder drei Fluchtpunkten, die iweit jenseits der Ränder des Zeichtpapiers liegen, zählen bereits zu dekomplizierten Systemen. Für siebraucht man einen großen Zeichertisch, eine Reißschiene, gerade Ka:ten usw. Das Anvisieren nach demR-Modus ist viel einfacher und rei<in den meisten Fällen vollkommen

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«Was Eugene Delacroix über dasStudium der Anatomie sagte, giltauch für die perspektivische Kon-struktion: Man soll sie Jemen - undsie dann wieder vergessen. Was vondem Gelernten übrigbleibt ein Ge-fühl für Perspektive -, schlagt sich inder Wahrnehmung nieder, die vonMensch zu Mensch verschieden istund durch die jeweiligen Empfin-dungsbedurfnisse bestimmt wird.»Nathan Goldstein<The Art of Responsive Drawing>

Im fünften Kapitel habe ich bereits erwähnt, daß die meistenAnfänger dazu neigen, den Rand ihres Zeichenbogens zu ignorie-ren, so als existiere er überhaupt nicht. Doch die Zeichenpapier-ränder sind für die perspektivische Darstellung von großer Bedeu-tung. Sie helfen Ihnen, die dreidimensionalen Formen, die Sie vorAugen haben, auf der zweidimensionalen Papierfläche räumlichwiederzugeben.

Die Ränder des Bogens stehen stellvertretend für die senkrechten undwaagerechten Begrenzungslinien unserer Wahrnehmung. Die meistenKleinkinder erfassen dies — wie wir gesehen haben intuitiv. BeiKinderzeichnungen ist der Boden auch zugleich der untere, derHimmel zugleich der obere Rand des Papiers. Ragen Dinge in dieLuft — eine Leiter zum Beispiel oder ein Gebäude —, zeichnenKinder sie parallel zu den Seitenrändern ihres Blattes.

Künstler benutzen die Ränder des Blattes auf eine andere Weise— nicht als die tatsächlichen oberen, unteren und seitlichen Rän-der des Blickfeldes, sondern als Umgrenzung des Bildes, als einMaß für Horizontale und Vertikale, als Orientierungsrahmen zurAbmessung der durch die Perspektive gebildeten Winkel und derRichtung der Linien. Mit anderen Worten: Sie benutzen denR-Modus, um Winkel und Linienverläufe im Verhältnis zu denHorizontalen und Vertikalen ihrer Blickrichtung wahrzunehmenund dann in Relation zu den Rändern des Papierbogens, die dieHorizontalen und Vertikalen repräsentieren, abzuzeichnen.

Versuchen Sie nun für eine Weile, diese Methode selbst zupraktizieren. Halten Sie Ihren Bleistift genau senkrecht vor IhrGesicht. Schließen Sie ein Auge, und beobachten Sie mit demanderen den Winkel, den ein Gegenstand, zum Beispiel ein Stuhl,im Verhältnis zur Vertikalen, zu Ihrem Bleistift, bildet (vgl. Abb.

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Ergänzende Übungen:8a. Beobachten Sie, wenn Sie mitjemandem sprechen, den Neigungswin-kel seines Kopfes im Vergleich zu einer(gedachten oder wirklich vorhande-nen) Vertikalen.8b. Kopieren oder fotografieren Siedie Inneneinrichtung eines Zimmersoder eine Landschaft mit einer Straßeund mit Gebäuden. Schauen Sie sich dieWinkel im Verhältnis zu den Rändern desFotos an. Zeichnen Sie dann die glei-chen Winkel auf Ihren Bogen.

Abb. 86: (Tänzerin, ihren Schuh richtend) (1873) von Edgar Degas (1834-1917).Mit freundlicher Genehmigung des Metropolitan Museum of Art,The H. O. Havemeyer Collection.

82). Dann zeichnen Sie diesen Winkel auf Ihr Zeichenpapier.Benutzen Sie dabei nun an Stelle des Stiftes den linken Rand IhresBogens als Meßlinie (vgl. Abb. 83).

Nun halten Sie Ihren Bleistift genau waagerecht in Augenhöhevor Ihr Gesicht. (Fassen Sie ihn an beiden Enden an, dann ist esleichter.) Schließen Sie wieder ein Auge und beobachten Sie, inwelchem Verhältnis ein anderer Teil des Stuhls zu der durchIhren Bleistift gebildeten Horizontalen steht (vgl. Abb. 84). Obdieser Stuhlteil, wie in Abbildung 84, aus Ihrer Sicht waagerechteund damit parallel zu Ihrem Stift verlaufende Linien oder einenWinkel zur Bleistifthorizontalen bildet (vgl. Abb. 85), spielt dabei Abb. 85

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keine Rolle. Was immer Sie sehen, stets werden Sie nun denrichtigen Winkel beim Zeichnen durch Vergleich mit dem oberenbeziehungsweise unteren Rand Ihres Zeichenbogens ermittelnund abzeichnen können. Damit Sie sich diese Methode einprägen,empfehle ich Ihnen, zusätzlich die Übungen 8a und 8b durchzu-führen.

Visieren beim figürlichen ZeichnenDiese Methode ist eine wichtige Grundlage beim figürlichen undgegenständlichen Zeichnen. Auf vielen Skizzen bekannter Malersind Spuren solcher leicht angedeuteten Hilfslinien zu erkennen,wie zum Beispiel in Edgar Degas' Zeichnung von einer Tänzerin(Abb. 86). Degas hat vermutlich die Lage der linken (vom Be-trachter aus gesehen rechten) Zehenspitze im Verhältnis zum Ohranvisiert und den Winkel des Arms nach der Ohr und Fuß verbin-denden Vertikalen bestimmt.

Dürers Zeichenschema heute

Als nächstes wollen wir das Visieren an Hand einer modernenVersion des Dürerschen Zeichenschemas ausprobieren.

1. Nehmen Sie einen Bogen Butterbrotpapier oder ein recht-eckiges Stück Klarsichtfolie. Legen Sie die Folie glatt auf eineFensterscheibe, durch die man auf eine Straße blicken kann, undbefestigen Sie sie an der Scheibe. Zeichnen Sie nun mit einemFilzstift ein Netz aus waagerechten und senkrechten Geraden, dieim Abstand von etwa fünf Zentimetern parallel zueinander ver-laufen, auf die Folie.

2. Stellen Sie sich in Armeslänge vom Fenster entfernt hin,schließen Sie ein Auge, und schauen Sie mit dem anderen auf dieStraße. Bewegen Sie jetzt nicht mehr den Kopf. Nun zeichnen Sie dieUmrisse von Straße, Gebäuden, Autos, Bäumen — das gesamteBild vor Ihren Augen — auf Ihrem durchsichtigen Bogen nach.

3. Auf diese Weise erhalten Sie eine perspektivische Zeichnung.Lösen Sie die Folie vorsichtig vom Fenster ab und legen Sie sie aufeine helle Fläche, so daß Sie die Linien deutlich erkennen. Jetztnehmen Sie einen Bogen Zeichenpapier und unterteilen auch ihnmit ganz leichten Bleistiftstrichen in Quadrate, die denen derFolie genau gleichen. Übertragen Sie nun bitte die Zeichnung aufder Folie auf Ihr Zeichenpapier.

4. Nun treten Sie mit dieser Zeichnung wieder vor das Fensterund visieren die Winkel an, wobei Sie Ihren Bleistift als Peilgerät

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benutzen. So können Sie mit Hilfe Ihrer Zeichnung überprüfen,wie genau Sie bei der Übertragung von der Folie auf das Zeichen-blatt Linien und Winkel abgemessen haben.

5. Stellen Sie sich wieder genau an dieselbe Stelle vor demFenster wie beim Anfertigen Ihrer ersten Umrißzeichnung. Nunhalten Sie Ihren Bleistift mit ausgestrecktem Arm vollkommensenkrecht und parallel zur Fensterscheibe und decken mit ihm dieSeitenkante eines Gebäudes ab. Es ist eine Vertikale. Prüfen Siedas an Ihrer Zeichnung nach: Die seitliche Umrißlinie des Hausesmuß parallel zu den Seitenrändern Ihres Zeichenbogens verlau-fen. Alle lotrecht zum Boden verlaufenden Linien bilden vollkom-mene Vertikalen.

6. Peilen Sie nun eine der gewinkelten Formen an, die Siegezeichnet haben — vielleicht die Straßenecke oder die Spitze einesDachgiebels. Berühren Sie dabei den Umriß dieser Form mit demwaagerecht gehaltenen Bleistift an irgendeiner Stelle.

7. Betrachten Sie den Winkel zwischen Ihrem waagerecht ge-haltenen Bleistift und der Umrißlinie, beachten Sie ihre Richtungim Verhältnis zur Horizontalen. Nun sehen Sie sich den gleichenWinkel auf Ihrer Zeichnung an, und prüfen Sie, wie Sie ihn (mitHilfe der Dürerschen Methode) gezeichnet haben. VergleichenSie die beiden Winkel. Das Gezeichnete sollte mit dem, was Siedurchs Fenster sehen, übereinstimmen.

8. Nun überprüfen Sie auf die gleiche Weise noch andere Win-kel und Linienrichtungen.

Um es zusammenzufassen: Auf diese Weise gehen die meisten Künst-ler beim perspektivischen Zeichnen vor. Da sie wissen, daß vertikaleLinien immer vertikal verlaufen (wenn man von der Sicht aus derVogel- oder der Froschperspektive einmal absieht) und daß waa-gerecht verlaufende Ränder von Formen oder Flächen im Flucht-punkt auf der Horizontlinie (der Augenhöhe des Betrachters)zusammenlaufen, können sie durch einfaches Peilen jeden belie-bigen Winkel in seinem Verhältnis zu den horizontalen oder vertikalenKonstanten bestimmen und ihn in eben diesem Verhältnis aufsZeichenpapier übertragen. Worauf es ankommt, ist, daß man sichden Bleistift mit ausgestrecktem Arm genau horizontal oder ver-tikal vor die Augen hält; dann kann man die Winkel genaubestimmen. Auf diese Weise kann jeder Winkel gemessen undüberprüft und auf das Zeichenpapier übertragen werden, ohnedaß es irgendwelcher komplizierter Verfahren der perspektivi-schen Darstellung bedarf. Sie brauchen nur die Dinge, die Sie vorAugen haben, mittels des R-Modus in ihrer relativen Lage wahr-zunehmen.

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Abb. 87: Visieren der Winkel mit Hilfedes waagerecht gehaltenen Bleistifts.

Visieren zum Vergleich von Längen und Breiten

Das Visieren kann man auch dazu benutzen, das Verhältnis derLängen und Breiten von Formen zu bestimmen. Wenn Sie zumBeispiel einen Tisch aus schräger Sicht zeichnen wollen, bestim-men Sie zunächst nach der Peilmethode Winkel und Ränder inihrem Verhältnis zur Horizontalen und Vertikalen (vgl. Abb. 87).Als nächstes müssen Sie (vom selben Blickpunkt aus) die Breite desTisches im Verhältnis zu seiner Länge feststellen. Diese scheinbareBreite im Verhältnis zur Länge wird von Blickpunkt zu Blick-punkt variieren. Sie hängt von der Relation zwischen der Höhedes Tisches und der Augenhöhe des Betrachters ab. (Vgl. Abb. 88,wo verschiedene Ansichten eines Tisches dargestellt sind.)

Im folgenden möchte ich Ihnen zeigen, wie Sie auch Größen-verhältnisse mit Hilfe dieser Methode bestimmen können.

1. Den Bleistift mit ausgestrecktem Arm in Augenhöhe haltend,den Ellbogen durchgedrückt, damit Sie den gleichen Maßstab beibe-halten, messen Sie jetzt die Breite des Tisches: Halten Sie denBleistift so, daß sich sein stumpfes Ende mit einer Tischecke deckt,und legen Sie Ihren Daumen an der anderen Tischecke an(Abb. 89).

2. Lassen Sie Ihren Ellbogen durchgedrückt, und messen Sienun die Längsseite des Tisches ab. Halten Sie dabei den Bleistiftweiterhin in Augenhöhe (vgl. Abb. 90). Wie lang ist der Tisch imVerhältnis zu seiner Breite? Sagen wir, er ist um ein Viertel länger.

3. Kennzeichnen Sie auf einer der beiden Schenkellinien einesrechten Winkels, den Sie gezeichnet haben, die Breite des Tischesdurch einen Punkt. (Sie können ihn an eine beliebige Stelle setzen— Sie bestimmen, wie breit der Tisch, den Sie zeichnen wollen, seinsoll.) Seine Länge jedoch soll in jedem Fall relativ zu der von Ihnenabgesteckten Breite bestimmt werden, in unserem Beispiel also umein Viertel länger sein als die Breite. Markieren Sie entsprechenddiesem relativen Maßstab die Länge des Tisches auf der anderenSchenkellinie des Winkels. Zeichnen Siejetzt bitte die Tischplatte.

4. Als nächstes visieren Sie die Tischbeine an. Halten Sie dabeiden Bleistift senkrecht (vgl. Abb. 91), und stellen Sie fest, inwelchem Winkel das Bein zu der durch den Stift sichtbar gemach-ten Vertikalen steht. Sind die Beine vollkommen senkrecht oderschräg? Zeichnen Sie zuerst die Beine, die Ihnen am nächstensind. Die Länge der Beine im Verhältnis zur Breite können Siewiederum durch Visieren ermitteln. Wenn Sie dann Ihren Blei-stift so in waagerechter Stellung halten, daß er mit dem Fuß desIhnen am nächsten gelegenen Tischbeins zusammenläuft, können

Abb. 89

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Sie, ebenfalls durch das Anvisieren der Winkel, auch die Längeder anderen Tischbeine festlegen (vgl. Abb. 92).

Üben Sie das Visieren von Größenverhältnissen bei jeder mög-lichen Gelegenheit. Der wesentlichste Vorgang bei dieser Me-thode ist die Ausschaltung Ihres L-Modus-Wissens über die tat-sächlichen Größenverhältnisse. Zum Beispiel können Sie von be-stimmten Blickpunkten aus zu einem Breiten-Längen-Verhältnisgelangen, das Ihrer Meinung nach bestimmt nicht richtig seinkann: etwa ein Verhältnis von eins zu zehn (vgl. Abb. 93). Ihrsprachliches Wissen sagt Ihnen, daß der Tisch bestimmt nicht solang und so schmal ist. Dennoch: Eins zu zehn ist das wahrgenom-mene Verhältnis, und genau so müssen Sie es zeichnen. Sie müssenglauben, was Sie sehen, und zeichnen, was Sie wahrnehmen, ohnees Ihrem Wissen gemäß zu verändern oder zu überprüfen. Dannwird der Tisch paradoxerweise so breit wirken, wie er IhremWissen zufolge tatsächlich ist.

Ecken

In der folgenden Übung werden Sie Ihre neue Fähigkeit zurrelationalen Winkelbestimmung an der Darstellung von Raum-ecken erproben und weiter schulen können.

Bevor Sie beginnen: Lesen Sie die gesamte Anleitung durch, undsehen Sie sich die Schülerzeichnungen auf Seite 150 f an, ehe Siemit dem perspektivischen Zeichnen beginnen. Sorgen Sie dafür,daß Sie genug Zeit haben — mindestens eine halbe Stunde. Dadiese Art des relationalen Zeichnens dem Arbeitsstil der rechtenHemisphäre entspricht, werden Sie wieder in den leicht veränder-ten Bewußtseinszustand des L-Modus hinübergleiten. Ihre Wahr-

nehmungen

werdenkomple

xer unddamit

interessantersein,undSiewerdenentdecken,daß esIhnenVergnügen

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bereitet, wiesichalleTeilezueinemGanzenzusammenfügen.

1. Setzen Siesich sohin, daßSiegenauauf eineZimmereckeblicken.

2. RahmenSie mitIhremSucherdieEckeein.Schieben Sieihnso langehin undher, bisalles indemAusschnittenthalten ist,wasSiegern inIhrerZeichnungdarstellenmöchten.

3. Stellen Siesichvor, dieEcke seiso, wie

Sie sie wahrnehmen,bereits auf das Papier gezeichnet. Und vergessen Sie nicht, daß dieRänder Ihres Bogens die Konstanten darstellen - Vertikale undHorizontale.

Abb. 90Abb.

Abb. $2

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Perspektivisch zeichnen

r

L

4. Visieren Sie zuerst die obere Ecke des Zimmers an. Halten Siedazu Ihren Bleistift mit den Fingerspitzen beider Hände (vgl. Abb.94), und strecken Sie beide Arme in voller Länge aus. Sie benut-zen beide Hände, weil Sie den Bleistift auf diese Weise leichterkonstant parallel zur Augenhöhe halten können. Der häufigste Feh-ler, den Schüler beim Peilen machen, besteht darin, daß sie denBleistift parallel zum angepeilten Winkel anstatt zur Augenhöhehalten. Vielleicht hilft es Ihnen, wenn Sie sich vor Ihrem Gesichtim Abstand einer Armeslänge eine Fensterscheibe vorstellen -ähnlich der, auf die Sie die Straßenansicht gezeichnet haben - unddann den Bleistift parallel zu dieser gedachten Scheibe halten.Liegt der Bleistift genau waagerecht zwischen Ihren Fingern,führen Sie ihn ein wenig nach oben beziehungsweise nach unten,bis er die obere Ecke zu berühren scheint — dort, wo die Decke mitzwei Zimmerwänden zusammentrifft (vgl. Abb. 94). Jetzt sollte esIhnen möglich sein, die Winkel der oberen Kanten der beidenWände im Verhältnis zu der durch den Stift dargestellten Horizonta-len zu sehen.

5. Zeichnen Sie die beiden Kanten und die senkrechte Ecklinie(vgl. Abb. 95). (Die Ecke verläuft natürlich vertikal, weil sie einelotrecht zur Erdoberfläche verlaufende Linie ist, und diese Liniensind immer vertikal. Nur die horizontalen Linien — das heißtLinien, die parallel zur Erdoberfläche verlaufen — verändern jenach der Perspektive des Betrachters ihre Winkel.)

6. Fahren Sie mit dem Abzeichnen der Wände fort. ÜberprüfenSie dabei jeden Winkel, jede Kante (von Leisten, Bildern, Türöff-nungen usw.) im Verhältnis zur Vertikalen und Horizontalen.

7. Benutzen Sie zusätzlich zum Visieren von Winkeln die Vi-siertechnik zur Bestimmung von relativen Breiten und Längenbeim Abzeichnen von Bücherbrettern, Schränken, Stühlen oder

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anderen Möbelstücken, die sich möglicherweise in der Zimmer-ecke befinden. Zeichnen Sie dabei so oft wie möglich die Umrissedes negativen leeren Raumes, indem Sie von einer Form zurnächsten, von einem Raum zum angrenzenden übergehen. Be-mühen Sie sich, die Dinge nicht beim Namen zu nennen. Versu-chen Sie, überhaupt nicht in Worten zu denken, weil dadurch dasÜberwechseln in den R-Modus behindert werden würde. Begin-nen Sie nun mit der Übung.

Wenn Sie fertig sind: Sie sind womöglich überrascht, daß Ihnen dasZeichnen so leicht fiel. Viele meiner Schüler sind richtig er-schrocken, wenn ich sie bitte, eine Ecke zu zeichnen; sie trauen essich nicht so recht zu, weil Ecken «so kompliziert» sind. Gelingt esjedoch, auf den R-Modus «umzuschalten», ist es immer leicht undmacht Spaß, und so spiegelt auch die Auswahl der hier gezeigtenSchülerzeichnungen etwas von diesem anderen Bewußtseinszu-stand wider. Wenn Sie während des Zeichnens mit dem L-Modusin Konflikt geraten, fangen Sie noch einmal von vorn an. Sowerden Sie die linke Hemisphäre schließlich zum Schweigen brin-gen.

Die Methoden, die ich in diesem Kapitel vorgestellt habe,haben sich als außerordentlich nützlich erwiesen. Wenn Sie sicherst einmal an diese Techniken gewöhnt haben, werden Sie sehrschnell deutliche Fortschritte beim Zeichnen machen und schonbald auf sie verzichten können. Auch beim Zeichnen von Stille-ben, von Landschaften und Gestalten ist sie eine wesentliche Hilfe.

Schülerzeichnungen:Kanten, Ecken, Zimmerwände

Die Ecken, die die Schüler zum Abzeichnen auswählen, sind vonsehr unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad. Auf manchen Zeich-nungen sind nur wenige Gegenstände dargestellt, andere wie-derum sind reich an Formen und Details. Schrecken Sie nichtdavor zurück, sich eine komplizierte Ecke auszusuchen — sehrinteressant sind zum Beispiel Küchen. Beim Betrachten der fol-genden Zeichnungen fällt Ihnen vielleicht auf, daß einige Schülervom negativen Raum ausgegangen sind und sich zugleich desperspektivischen Visierens bedient haben. Alle haben bei denEcken angefangen und sich dann von Umriß zu Umriß, von Liniezu Linie vorangetastet, bis sie die Formen wie bei einem Puzzlezusammengefügt hatten.

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Martha Kalivas

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Ergänzende Übungen:Bevor Sie beginnen: Üben Sie dieWahrnehmung von Verkürzungen,indem Sie eine Hand vor Ihre Augenhalten. Fixieren Sie einen der Finger-nägel, und warten Sie, bis Sie ihn alsUmriß hervortreten sehen (schließenSie ein Auge, damit Sie die Hand alsFläche sehen).8c. Zeichnen Sie erst den Fingerna-gel, dann den Finger, dann die an-grenzenden Finger, Daumen undHand. Gehen Sie von den Umrissendes leeren Raums aus, und ermittelnSie die Winkel der Teile Ihrer Handim Verhältnis zur Vertikalen und Ho-rizontalen durch Visieren (vgl. alsBeispiel die Schülerzeichnung aufAbb. 96).8d. Legen Sie drei gleich große Ge-genstände auf einen Tisch, zum Bei-spiel drei Äpfel. Legen Sie den einendicht an den vorderen Tischrand, denzweiten in die Mitte und den drittenan den hinteren Tischrand. MessenSie ihre relative Größe durch Peilenund zeichnen Sie Abschnitt für Ab-schnitt die Äpfel und die Tischplatteab (vgl. Abb. 97 als Beispiel).8e. Auf Abb. 98 sehen Sie eine Zeich-nung von Charles White. Sie zeigtstarke Verkürzungen. Betrachten Siediese Darstellung eingehend. Kopie-ren Sie sie. Wenn es Ihnen notwen-dig erscheint, drehen Sie sie dafür aufden Kopf. Je öfter Sie die Erfahrungmachen, daß das genaue Abzeichnendessen, was Sie sehen, die Illusionder Räumlichkeit auf der Fläche Ih-res Papiers entstehen läßt, desto siche-rer werden Sie sich diese Methode alspersönliche Sehweise zu eigen ma-chen. Es ist die Sehweise des Künst-lers.

Ein Rückblick auf das Kapitel

1. Imaginäre senkrechte und waagerechte Linien sind die Konstantenmit deren Hilfe Sie beim Zeichnen alles abzuschätzen vermögen.Erinnern Sie sich daran, daß die Ränder Ihres Bogens stellvertre-tend für die Horizontale und die Vertikale stehen, die die Grundli-nien Ihrer Wahrnehmung der Außenwelt sind.

2. Die einfachste Möglichkeit, den genauen Winkel zu bestim-men, den eine Form, die Sie abzeichnen wollen, bildet, bestehtdarin, einen Bleistift entweder senkrecht oder waagerecht an denWinkel anzulegen. Wichtig ist dabei, daß Sie den Bleistift parallelzu Ihrer Augenhöhe halten. Ich empfehle Ihnen, den Bleistift mitausgestreckten Armen zwischen beiden Händen vor Ihr Gesicht zuhalten. Übertragen Sie dann den Winkel, den Sie auf diese Weisegemessen haben, auf das Zeichenblatt.

3. Bedenken Sie beim Anvisieren der jeweiligen Längen undBreiten, daß Sie stets relative Größen messen. Fragen Sie nicht, wieviele Zentimeter eine Strecke mißt — das wäre ja eine L-Modus-Methode. Wenn Sie nach dem R-Modus vorgehen, wählen Siesich einen «Abschnitt 1» aus, irgendeine Form oder auch nureinen Teil von ihr. Zeichnet man eine Figur, kann beispielsweiseder Kopf «Abschnitt 1» sein. Wichtig ist, daß dann alle anderenTeile des Körpers in einem bestimmten Größenverhältnis zu ihmstehen. Auf diese Weise erhalten die Dinge die «richtige Propor-tion», das heißt, die Größenverhältnisse der einzelnen Teile unter-einander sind — jeweils unter Rückbeziehung auf den «Ab-schnitt 1» — gewahrt worden.

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal die Bedeutung des Dürer-schen Experiments hervorheben. Das perspektivische Zeichnenbringt gewöhnlich eine Schwierigkeit mit sich, die Dürer genial zulösen verstand: die Verkürzung. Charles Whites Zeichnung einesschwarzen Predigers (Abb. 98) ist ein anschauliches Beispiel füreine stark verkürzte Darstellung. Wir nehmen solche perspektivi-schen Verzerrungen ständig mit dem Auge wahr. Anfängerscheuen davor zurück, sie mit dem Zeichenstift wiederzugeben.Doch wir brauchen sie uns nur genau anzusehen.

Damit Sie Ihr Gefühl für Perspektive weiter vertiefen, empfehleich Ihnen, die Übungen 8c, d und e durchzuführen, bevor Sie zumnächsten Kapitel übergehen.

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9Jeder Strichist Teil des Ganzen:Richtige Proportionen

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Richtige Proportionen

Eine der wichtigsten Voraussetzungen beim Sehen, Denken, Ler-nen und Lösen von Problemen ist die richtige Wahrnehmung derGrößenverhältnisse — der Verhältnisse jedes Teils zu den anderenund zum Ganzen. Beim Zeichnen nennt man diese VerhältnisseProportionen. Die Wahrnehmung von Proportionen — insbesondereder räumlichen — gehört zu den Funktionen der rechten Hirn-Hemisphäre. Personen, deren Beruf die Fähigkeit zum richtigenAbschätzen von Größenverhältnissen erfordert - Tischler, Zahn-ärzte, Chirurgen, Schneider, Teppichverleger usw. —, entwickelnim Laufe der Zeit eine große Sicherheit im Wahrnehmen undAbschätzen von Proportionen. Für alle kreativ denkenden Men-schen ist ein geschärftes Bewußtsein für das Verhältnis, in demTeile zu einem Ganzen stehen, von großem Vorteil. Mit seinerHilfe gelingt es ihnen, beides zu sehen: die Bäume und den Wald.Zeichnen hat immer mit Proportionen zu tun. Dabei spielt eskeine Rolle, ob wir ein Stilleben, eine Landschaft, eine Gestaltoder ein Gesicht darstellen und ob wir naturgetreu, abstrakt oderungegenständlich (das heißt Formen, die wir in unserer sichtba-ren Außenwelt nicht wahrnehmen) zeichnen wollen. Dochscheint mir die Stimmigkeit der Proportionen bei naturgetreuenZeichnungen am wichtigsten zu sein, und ich glaube, daß dasAnfertigen solcher Zeichnungen eine besonders gute Übung fürdas Auge ist, die Dinge zu sehen, wie sie sind - in ihren jeweiligenGrößenverhältnissen.

Wir sehen, was wir glauben

Fast alle Anfänger haben Schwierigkeiten mit den Proportionen:oft zeichnen sie einzelne Teile zu groß oder zu klein im Verhältniszu anderen Teilen oder zum Ganzen. Das scheint mir daran zuliegen, daß die meisten von uns dazu neigen, die Teile einesGegenstandes in einer hierarchischen Ordnung zu sehen: Diewichtigen Teile (jene, die uns viele Informationen vermitteln) be-ziehungsweise die Teile, die wir für größer halten oder die unsererMeinung nach größer sein sollten, sehen wir auch größer, als sietatsächlich sind. Umgekehrt sehen wir unwichtige Teile bezie-hungsweise die Teile, die wir für kleiner halten oder die unsererMeinung nach kleiner sein sollten, auch kleiner, als sie tatsächlichsind.

Ich möchte Ihnen einige Beispiele für solche Fehleinschätzun-gen geben. Auf Abbildung 99 sehen Sie eine schematische Land-schaftsskizze mit vier Bäumen. Der rechte Baum scheint der

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Richtige Proportionen

Abb. gg

größte zu sein. Doch in Wirklichkeit ist er genauso groß wie deram weitesten links stehende Baum. Sie können die Richtigkeitdieser Behauptung prüfen, indem Sie die Höhe der beiden Bäumemit einem Lineal oder Bleistift abmessen. Doch selbst nach einersolchen Messung — nachdem Sie sich selbst den Beweis erbrachthaben, daß die beiden Bäume gleich groß sind, wird Ihnen derrechte Baum weiterhin größer erscheinen als der linke.

Diese proportionale Fehleinschätzung ist das Resultat IhresWissens und Ihrer Erfahrung, daß sich die Distanz zwischen Ihnenund einem Gegenstand auf Ihre Wahrnehmung von seiner Größeauswirkt: Wenn sich zwei gleich große Gegenstände in einemverschieden großen Abstand von Ihnen befinden, so wird Ihnender weiter entfernt liegende Gegenstand kleiner erscheinen. Diesist eine sinnvolle Art der Wahrnehmung, die wir keineswegs an-zweifeln wollen. Doch kommen wir auf unser Landschaftsschemazurück: Selbst nachdem wir die Bäume gemessen und unwiderleg-lich bewiesen haben, daß sie gleich groß sind, erscheint uns der rechteKaum fälschlicherweise noch immer größer als der linke. Damit beharrenWir in übertriebener Weise auf einem an sich sinnvollen Wahrneh-mungsprinzip! Und genau diese Art der Übertreibung bereitet

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Richtige Proportionen

Anfängern Probleme bei der Darstellung von Proportionen: Wirschieben unsere im Gedächtnis gespeicherten begrifflichen Vor-stellungen wie ein Raster vor unsere optischen Wahrnehmungen.Was geschieht aber, wenn Sie die Abbildung auf den Kopfdrehen? Ihre linke Hemisphäre weist diesen für sie ungewohntenAnblick zurück — der R-Modus wird aktiviert —, Sie stellen ohneSchwierigkeiten fest, daß die Baume gleich groß sind. Dieselbe visuelleInformation löst zwei ganz unterschiedliche Reaktionen aus. Die rechteGehirnhälfte läßt sich offensichtlich weniger von der Regel beein-flussen, daß die Größe eines Gegenstandes proportional zu seinerEntfernung vom Beobachter abnimmt. Sie erfaßt die Größenver-hältnisse richtig.

Wir glauben nicht, was wir sehenEin weiteres Beispiel: Stellen Sie sich so vor einen Spiegel, daß Sieihn mit ausgestrecktem Arm berühren können. Wie groß ist dasBild Ihres Kopfes im Spiegel? Ist es ebenso groß wie Ihr Kopf?Nehmen Sie einen Filzschreiber oder ein Stück Kreide, strecken

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Richtige Proportionen

Sie Ihren Arm aus, und markieren Sie mit zwei Strichen auf demSpiegel den höchsten und den tiefsten Punkt des Umrisses IhresKopfes (vgl. Abb. ioo). Messen Sie den Abstand zwischen diesenbeiden Strichen. Er wird durchschnittlich etwa zwölf bis dreizehnZentimeter betragen. Mit anderen Worten: Das Spiegelbild IhresKopfes ist nur halb so lang wie Ihr wirklicher Kopf. Dennoch:Wenn Sie die Markierungen vom Spiegl entfernen und nocheinmal hineinschauen, möchten Sie schwören, daß das AbbildIhrem Kopf in den Maßen genau entspricht. Sie sehen also, wasSie glauben, und glauben nicht, was Sie sehen.

Wir rücken der Realität näher

Wir wollen nun versuchen, die linke Hemisphäre von ähnlichenTäuschungen hinsichtlich der Kopfproportionen abzubringen.Zu diesem Zweck müssen wir sie ein wenig mitwirken lassen undihre analytischen Fähigkeiten zur Korrektur ihrer eigenen Fehl-deutungen benutzen. Wir werden versuchen, mit Hilfe der Logikzu beweisen, daß gewisse Proportionen wirklich sind, was sie sind.

Ehe wir damit anfangen, schneiden Sie bitte einige ganz ge-wöhnliche Porträtfotos aus Zeitungen, Zeitschriften usw. aus.Fünf bis sechs solcher Fotos genügen. Wenn Sie Bücher mit Zeich-nungen bekannter Meister besitzen, ist es sehr hilfreich, wenn Sieauch daraus auswählen. Achten Sie darauf, daß die Gesichter ausverschiedenen Perspektiven fotografiert beziehungsweise gezeich-net sind. Es sollten möglichst Ansichten von vorn, im Profil und imHalbprofil darunter sein. Oder benutzen Sie das hier abgebildeteFoto von George Orwell (Abb. 101). Sie werden diese Bilderbrauchen, wenn Sie die folgende Übung durchgeführt haben.

Bei den Übungen zur Wahrnehmung der Proportionen — undauch bei einer Reihe von Zeichenübungen in den folgenden Ka-piteln — wird der menschliche Kopf als Sujet dienen, doch giltdiese Methode, Proportionen zu erfassen, ebenso für jeden ande-ren Gegenstand. Diese Übungen werden sich auf zwei entschei-dende Relationen konzentrieren, die richtig wiederzugeben allenAnfängern anhaltende Schwierigkeiten bereitet: die Augenhöhe imVerhältnis zur Kopflänge und die Lage des Ohrs bei der Darstel-lung im Profil oder im Halbprofil. Wir werden auch noch andereProportionen des Kopfes unter die Lupe nehmen.

Doch zunächst einmal lassen Sie mich genauer erklären,warum dem Zeichnen des Kopfes so viele Übungen in diesemBuch gewidmet sind.

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160 Richtige Proportionen

Von Angesicht zu Angesicht sehenDas menschliche Antlitz hat seit jeher eine unwiderstehliche An-ziehungskraft auf Künstler ausgeübt. Ein Bild von einem Men-schen anzufertigen, das diesem ähnlich sieht, ihn auf eine Weisedarzustellen, daß hinter der Maske der wahre Mensch sichtbarwird — dies haben Künstler aller Zeiten und Kulturen als einereizvolle, lohnende Aufgabe angesehen. Doch wie jede Darstel-lung eines genau beobachteten Sujets gibt auch das Bildnis einesMenschen nicht sosehr Aufschluß über Erscheinung und Persön-lichkeit des Modells als vielmehr über das Wesen des Künstlersselbst. Je genauer ein Künstler sein Modell angesehen hat, destodeutlicher sehen wir, die Betrachter, paradoxerweise jenseits derÄhnlichkeit der dargestellten Person — den Künstler.

Und weil auch wir in den Bildern, die wir schaffen, nach unsselbst suchen, sollen Sie nun Gesichter von Menschen zeichnen. Jebewußter Sie sehen, desto besser werden Sie zeichnen und destoumfassender werden Sie sich selbst Ausdruck verleihen.

Abb. 101: Der bekannte Schriftsteller George Orwell (1903 1950). Mit freundli-cher Genehmigung der BBC.

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Richtige Proportionen

Da es beim Porträtzeichnen sehr auf Ähnlichkeit ankommt, waswiederum eine äußerst sorgfältige, feine Wahrnehmung erfordert,halte ich es für ein gutes Anfängertraining. Die Richtigkeit derDarstellung kann sofort und mit Sicherheit überprüft werden,denn wir alle sehen auf den ersten Blick, ob die Zeichnung einesKopfes in den allgemeinen Proportionen stimmt oder nicht. Undwenn wir darüber hinaus das Modell noch kennen, sind wirvollends in der Lage, schnell und sicher zu beurteilen, wie genauunsere Wahrnehmungen sind.

Doch wichtiger ist vielleicht noch, daß das Zeichnen von Köp-fen uns eine besonders gute Möglichkeit bietet, uns Zugang zu denFunktionen unserer rechten Hemisphäre zu verschaffen. Denn dierechte Gehirnhälfte ist auf das Wiedererkennen von Gesichtern«spezialisiert». Viele Hirngeschädigte, deren rechte Hemisphäreverletzt wurde, haben Schwierigkeiten, Freunde, Verwandte, jasogar ihr eigenes Gesicht im Spiegel wiederzuerkennen. Patien-ten, die eine Schädigung der linken Hemisphäre erlitten haben,kennen solche Probleme nicht.

Anfänger glauben oft, daß Menschen am schwersten zu zeich-nen seien. Sie irren sich. Die visuelle Information ist ja da, direktvor unseren Augen, für jeden greifbar. Das Problem ist das Sehen.Eine der grundlegenden Behauptungen, die ich in diesem Buchvertrete, soll hier noch einmal bekräftigt werden: Es geht beimZeichnen stets um das gleiche — bewußt und genau zu sehen und dasauf diese Weise Wahrgenommene darzustellen. Das eine Sujet istnicht schwerer oder leichter zu zeichnen als das andere. Indes,bestimmte Dinge scheinen uns oft schwieriger, vermutlich weil sicheingewurzelte Symbolsysteme bei ihnen in stärkerem Maße alsStörfaktor bemerkbar machen als bei anderen.

Dafür ist gerade der menschliche Kopf ein typisches Beispiel,denn die meisten Menschen besitzen ein stark entwickeltes, dau-erhaftes System von Symbolen für das, was ein Kopf zu sein hat.Jeder von uns - ich habe im fünften Kapitel darüber geschrieben- verfügt über eine Vielzahl von Symbolen. Wir haben sie infrüher Kindheit entwickelt und im Gedächtnis gespeichert. Siesind bemerkenswert stabil und widerstandsfähig. Diese Symbolescheinen uns jetzt am Sehen zu hindern. Deshalb sind nur wenigeMenschen imstande, einen Kopf erscheinungsgetreu darzustellen,und von diesen ist wiederum nur ein Bruchteil in der Lage, einPorträt zu zeichnen, das dem Modell einigermaßen ähnelt.

Fassen wir zusammen. Porträtzeichnen ist hinsichtlich unsererZiele aus folgenden Gründen nützlich: Zunächst einmal werdenSie sich dabei die Kräfte Ihrer rechten Hemisphäre zugänglich

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Richtige Proportionen

machen, die über eine besondere Fähigkeit verfügt, Gesichterwiederzuerkennen, das heißt jene feinen Unterscheidungen vor-zunehmen, die notwendig sind, um eine Zeichnung anzufertigen,die dem Modell ähnelt. Zweitens wird das Zeichnen von Gesich-tern Ihren Sinn für proportionale Verhältnisse schärfen, da rich-tige Proportionen ein wesentlicher Bestandteil der Porträtkunstsind. Drittens ist das Zeichnen von Gesichtern eine hervorragendgeeignete Übung zur Umgehung eingewurzelter Symbolsysteme.Und viertens wird die Fähigkeit, Porträts zu zeichnen, die demModell ähneln, Ihrer stets kritischen linken Hemisphäre überzeu-gend demonstrieren, daß Sie — dürfen wir es wagen, dies auszu-sprechen? — eine Begabung zum Zeichnen besitzen. Und wie beiallen anderen Sujets werden Sie auch beim Zeichnen von Gesich-tern feststellen, daß es gar nicht so schwer ist, wenn Sie erst einmalimstande sind, zur Sehweise des Künstlers überzuwechseln.

Im zehnten Kapitel werden Sie lernen, zunächst eine Profil-,dann eine Halbprofilzeichnung und schließlich ein En-face-Bildnach dem lebenden Modell anzufertigen. Doch zuvor sollen Siesich an Ihre linke Hemisphäre wenden und sie bitten, Ihnen beider Analyse von Proportionen ein wenig zu helfen.

Die Linke darf wieder mitmachen -aber in Maßen

Wie Sie bereits beim Abzeichnen eines auf den Kopf gestelltenPorträts und beim Zeichnen des leeren Raums erfahren haben,kann man alle Proportionen ganz einfach erfassen, wenn man aufdie Größen Verhältnisse achtet. Doch habe ich entdeckt, daßmeine Schüler größere Fortschritte machen und sich ihrer Wahr-

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Richtige Proportionen

nehmungen leichter bewußt werden, wenn wir die linke Hemi-sphäre dazu zwingen, bestimmte Tatsachen, die sie falsch wahr-nimmt (wie zum Beispiel die Größe der beiden Bäume in derLandschaftsskizze oder die Größe Ihres Kopfes im Spiegel), anzu-erkennen und auch zuzulassen. Um die logische Linke nun davonzu überzeugen, müssen wir sie mittels logischer Argumente in dieEnge treiben, das heißt ihr unwiderlegliche Beweise vorlegen, ehesie zugeben wird, daß sie sich möglicherweise irren kann.

Wie man eine Leere zeichnetund besser sieht als je zuvor

1. Zeichnen Sie eine «Leerform», ein Oval, wie Künstler es zurschematischen Darstellung des menschlichen Schädels benutzen(vgl. Abb. 102). Ziehen Sie durch das Oval eine senkrechte Mit-telachse, die den Umriß in zwei Hälften teilt.

2. Nehmen Sie einen Bleistift, und messen Sie an Ihrem eigenen Kopfden Abstand zwischen Ihrem inneren Augenwinkel und demunteren Rand Ihres Kinns. Halten Sie dabei das nicht angespitzteEnde Ihres Stiftes nach oben, damit Sie das Auge nicht verletzenkönnen, und markieren Sie mit Hilfe Ihres Daumens unten amBleistift den unteren Rand des Kinns (vgl. Abb. 103). Nun schie-ben Sie den Bleistift nach oben (vgl. Abb. 104). Achten Sie darauf,daß Sie ihn weiterhin an der Stelle festhalten, die den Kinnrandanzeigte. Vergleichen Sie den ersten Abstand (zwischen Auge undKinn) mit dem Abstand zwischen dem Auge und der höchstenStelle Ihres Kopfes (ertasten Sie diese mit der Hand über dasBleistiftende hinweg). Sie werden feststellen, daß die beiden Ab-stände ungefährgleich sind.

3. Wiederholen Sie die Messung vor einem Spiegel. Betrachten SieIhr Spiegelbild. Vergleichen Sie nach Augenmaß die untereHälfte Ihres Kopfes mit der oberen. Dann nehmen Sie wiederIhren Bleistift und messen Ihre Augenhöhe ein zweites Mal aus.

4. Holen Sie die Fotos und Zeichnungen, die Sie gesammelthaben (oder benutzen Sie das Foto von George Orwell). SchätzenSie bei allen Porträts die Augenhöhe ab. Sie werden feststellen,daß die Augen in jedem Gesicht auf einer Linie liegen, die diesenkrechte Mittelachse ziemlich genau in der Mitte kreuzt unddamit das Kopfoval in etwa gleich große Hälften teilt. Wenn Siediese Proportion noch nicht deutlich wahrnehmen, messen Sie sieauf den Bildern nach (vgl. Abb. 105). Legen Sie dazu den Bleistiftflach auf die Abbildungen, messen Sie zuerst den Abstand zwi-

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sehen Augenhöhe und Kinn, dann den zwischen Augenhöhe undSchädeldecke. Nun legen Sie den Bleistift wieder beiseite, undbetrachten Sie die Gesichter noch einmal. Können Sie die Propor-tion jetzt deutlich erkennen?

Wenn Sie nun schließlich glauben, was Sie sehen, werden Sieentdecken, daß die Augen fast immer auf der halben Länge desKopfes liegen. Es gibt nur sehr wenige Gesichter, die nicht vondieser Proportion bestimmt sind. Bei vollem Haarwuchs aller-dings wirkt die obere Kopfhälfte (die Stirn-Schädel-Haar-Hälfte)länger als die untere (vgl. Abb. 106).

Das Geheimnis des abgeflachten Schädels

Den meisten Menschen fallt es schwer, Gesicht und Schädel in denrichtigen Proportionen wahrzunehmen. Der Teil oberhalb derAugen, meinen sie, entspreche nur etwa einem Drittel der gesam-ten Kopflänge. Dieser Fehlwahrnehmung liegt meiner Meinungnach ein mangelndes Interesse dieser Menschen an der Stirn- undSchädelpartie zugrunde. Vielleicht findet die linke Gehirnhälftediesen Teil des Kopfes langweilig und hat Schwierigkeiten, ihndurch gängige Symbole darzustellen. Jedenfalls ist die obereKopfhälfte den meisten Menschen offenbar weniger wichtig alsdas Gesicht und wird daher kleiner wahrgenommen. Dieser Irrtumhat zur Folge, daß die meisten Anfänger beim Porträtzeichnenvor einer großen Schwierigkeit stehen. Ich nenne sie «abgeflachterSchädel». Diese Schädelverkürzung erzeugt jene maskenähnlicheWirkung, die oft von Kinderzeichnungen und der Kunst derPrimitiven ausgeht. Die maskenhafte Vergrößerung des Gesichtsauf Kosten des oberen Schädel teils kann natürlich eine gewaltigeAusdruckskraft haben, wie zum Beispiel bei Werken von Picasso,Matisse und Modigliani. Doch der entscheidende Punkt dabei ist,daß solche Künstler dieses Mittel der Darstellung absichtlich undnicht aus Mangel an Können verwenden. Lassen Sie mich an einigenBeispielen erläutern, welche Folgen die falsche Wahrnehmung desSchädels beim Zeichnen hat.

Wir beweisen der linken Hemisphäre, wie wichtigdie obere Kopfpartie istAls sich wieder einmal einige meiner Schüler mit der richtigenWiedergabe der Proportionen des Kopfes abmühten, sagte ich:«Weiß vielleicht einer von euch eine bessere Möglichkeit, dasProblem der Proportionen oberhalb und unterhalb der Augen-

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höhe zu erklären?» Daraufhin erwiderte ein Schüler: «Wenn wires glauben können, werden wir es auch sehen.» Schließlich stießich durch Zufall auf einen Weg, meinen Schülern zum «Glauben»zu verhelfen. Ich halte ihn für sehr wirksam. Er hat vielen meinerSchüler geholfen, den gravierendsten und hartnäckigsten allerFehler beim Zeichnen eines Kopfes zu vermeiden. Ich will versu-chen, ihn zu erklären.

Ich zeichne zwei Gesichter - den unteren Teil des Kopfes -, daseine im Profil, das andere im Halbprofil (vgl. Abb. 107). Wie Sieein solches Gesicht zeichnen können, werde ich Ihnen im nächstenKapitel im einzelnen zeigen. Den meisten Schülern bereitet dasSehen und Zeichnen der Gesichtszüge nur geringe Probleme. DieSchwierigkeiten fangen erst bei der Wahrnehmung der oberenSchädelpartie an. Ihnen und Ihrer linken Hemisphäre möchte ichjetzt beweisen, wie wichtig es ist, den Gesichtszügen einen voll-ständigen oberen Kopfteil hinzuzufügen — ihn eben nicht abzu-flachen, nur weil er weniger interessant zu sein scheint als dasGesicht.

In Abbildung 108 sehen Sie zwei Reihen mit jeweils drei Zeich-nungen. Die erste Zeichnung stellt nur die Gesichtszüge dar, diezweite die gleichen Züge mit einem «platten» Schädel, die dritteschließlich das Gesicht mit einer vollständigen oberen Schädel-partie, die jenes erst richtig ergänzt und zur Geltung bringt.

Mit Hilfe Ihrer logischen linken Hemisphäre werden Sie erken-nen, daß das Problem der falschen Proportionen nicht auf die Gesichtszüge,sondern auf die obere Schädelpartie zurückzuführen ist. Schauen Sie sichauf Abbildung 5 (S. 30) noch einmal an, wie van Gogh in dieserfrühen Zeichnung offensichtlich mit dem gleichen Problem zukämpfen hatte. Auch der Zimmermann hat einen «gestutzten»Schädel. Dann sehen Sie sich die Radierung von Dürer (Abb.109) an: Auf ihr sind vier Köpfe im Profil dargestellt, deren obereSchädelpartie im Verhältnis zum Gesicht stufenweise kleinerwird.

Wenden Sie sich nun wieder den von Ihnen zusammengetrage-nen Fotos und Zeichnungen zu. Messen Sie noch einmal mit demBleistift die Strecken zwischen Augenhöhe und Kinnspitze undzwischen Augenhöhe und Schädeldecke. Vergleichen Sie das Grö-ßenverhältnis der unteren Hälfte des Kopfes mit der oberen. SindSie jetzt überzeugt? Und Ihre logische linke Hemisphäre auch? Sokönnen Sie sich die unzähligen Stunden ersparen, in denen sichdie meisten Anfänger mit den Proportionen abmühen.

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Wir füllen das leere Oval aus

Schauen Sie sich nun bitte die Abbildungen 110 und 111 an. DieOvale stellen die Umrisse von Köpfen dar. Setzen Sie sich mit demvon Ihnen gezeichneten Oval und einem Bleistift vor einen Spie-gel. In der folgenden Übung sollen Sie Abschnitt für Abschnitt dieBeziehungen der verschiedenen Teile Ihres eigenen Kopfes zuein-ander betrachten und sie schematisch darstellen. Die Zahlen inden beiden genannten Abbildungen entsprechen den numeriertenÜbungsanweisungen.

1. Gehen Sie als erstes die Augenhöhe wieder. Schauen Sie nocheinmal in den Spiegel und zeichnen Sie dann die Augenhöhe inIhr leeres Oval ein.

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2. Die senkrechte Mittelachse haben Sie ja bereits gezogen.Betrachten Sie jetzt wieder Ihr Gesicht im Spiegel und stellen sichdie Mittelachse Ihres Gesichtes und die im rechten Winkel zu ihrverlaufende Augenhöhe bildlich vor (vgl. Abb. 110). Neigen SieIhren Kopf ein wenig zur Seite (vgl. Abb. 111). Achten Sie darauf,daß die Mittelachse und die Augenhöhe, die Sie sich vorstellen,weiterhin im rechten Winkel zueinander verlaufen, in welchem Winkelauch immer Sie Ihren Kopf zur Seite neigen. (Das erscheint Ihnenvielleicht selbstverständlich. Doch viele Anfänger übersehen dieseTatsache und zeichnen die Gesichtszüge schief. Vgl. Abb. 112,aber auch Abb. 114, 115 und 116.)

3. Betrachten Sie Ihr Gesicht: Auf welcher Höhe zwischenAugenlinie und Kinn liegt der unterste Punkt Ihrer Nase? Mar-kieren Sie diesen Punkt durch einen kleinen Strich quer zurMittelachse. Er wird irgendwo zwischen dem Ende des oberenDrittels und der Mitte der Strecke liegen.

4. In welcher Höhe liegt die Mittellinie Ihres Mundes? Etwa amoberen Ende des unteren Drittels der Strecke zwischen Nase undKinn. Markieren Sie auch diese Linie durch einen Strich in IhremOval.

5. Wie groß ist der Abstand zwischen Ihren Augen im Verhältniszur Breite jedes einzelnen Auges? Der Abstand entspricht der

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Richtige Proportionen

Abb. 112: Die Schrägstellung derGe-sichtsachsen entsteht meinerMeinungnach deshalb, weil der Schüler dieNeigung des Kopfes zwar wahrnimmt,dann aber beim Zeichnen der Zügenach gewohntem Muster verfahrt:Erpasst sie gerade und parallel zu denZeichenblatträndern ein.

Breite eines Auges! Teilen Sie die Augenhöhe in fünf gleich langeAbschnitte, und markieren Sie die Mittelpunkte Ihrer Augen.

6. Wenn Sie von Ihren inneren Augenwinkeln aus je einesenkrechte Linie nach unten ziehen, worauf treffen Sie dann? Aufdie seitlichen Ränder Ihrer Nasenflügel. Nasen sind meist breiter, alsSie glauben. Markieren Sie diese Punkte in Ihrem Oval.

7. Wenn Sie von den Mittelpunkten Ihrer Augen aus je einesenkrechte Linie nach unten ziehen, worauf treffen Sie dann? AufIhre Mundwinkel. Münder sind meist breiter, als Sie glauben. Markie-ren Sie diese Punkte in Ihrem Oval.

8. Wenn Sie die Augenhöhe mit Ihrem Bleistift auf beidenSeiten ein wenig über die Umrißlinie des Ovals hinaus verlängern,worauf treffen Sie dann? Auf die oberen Ränder Ihrer Ohren.Markieren Sie diese Punkte an Ihrem Oval.

9. Wenn Sie von den Ohrläppchenspitzen ausgehend waage-rechte Linien in das Oval hineinziehen, worauf treffen Sie dann?Bei den meisten Gesichtern auf den Abschnitt zwischen Nase undMund. Ohren sind meist größer, als Sie glauben. Markieren Sie dieunteren Ränder der Ohren an Ihrem Oval.

10. Tasten Sie Ihr Gesicht und Ihren Hals ab: Wie breit ist derHals im Verhältnis zur Breite des Kiefers direkt unterhalb derOhren? Sie werden feststellen, daß Ihr Hals fast so breit ist wie IhrKiefer. Bei manchen Menschen ist er genauso breit oder sogarbreiter. Markieren Sie die Randlinien des Halses an Ihrem Oval.Merken Sie sich, daß auch Hälse zumeist breiter sind, als Sieglauben.

11. Nun überprüfen Sie Ihre Wahrnehmungen an anderenMenschen, an Fotos von Menschen, an Bildern von Menschen aufdem Fernsehschirm und so weiter. Führen Sie diese Wahrneh-mungsübungen immer wieder durch. Achten Sie darauf, in wel-chem Verhältnis die einzelnen Teile des Kopfes zueinander ste-hen. Versuchen Sie, der feinen individuellen Unterschiede zwi-schen den Gesichtern gewahr zu werden. Wenn es Ihnen notwen-dig erscheint, überprüfen Sie Ihre Beobachtungen durch Nach-messen. Sehen, Betrachten, Beobachten — nur darauf kommt esan. Gehen Sie dabei nicht analytisch nach Art der linken Hemi-sphäre vor, wie wir es vorhin getan haben; nehmen Sie die Gesich-ter der Menschen so wahr, wie sie wirklich sind, in ihrer Gänze,nicht Stück für Stück oder in hierarchischer Folge, sondern alleTeile gleichzeitig und in ihrer vollständigen Bedeutung für dasGanze. Als Beispiel sehen Sie sich die folgende Zeichnung (Abb.113) an.

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Abb. 114; Radierung <Dr. Gachet> (1890) von Vincent vanGogh. Mit freundlicher Genehmigung der National Gallery°f Art, Washington D. C, Rosenwald Collection. Ein inter-essantes Beispiel für die Wirkung schiefachsiger Gesichtszüge.

Richtige Proportionen

Abb. 113

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Abb. uj: Skizze nach Vorlage einesSelbstporträts von Lovis Corinth(1858 1925), das er zeichnete, bevorer 1911 schwer erkrankte.

Abb. 116: <Selbstporträt> ( 192 1 ) von Lovis Corinth.Der deutsche Maler Lovis Corinth erlitt infolge einesSchlaganfalls im Dezember 1911 eine schwere Schädigungder linken Gehirnhälfte. Das andere Selbstporträt (Abb.115) entstand vor dem Schlaganfall. Dieses etwa zehnJahre später gezeichnete Selbstbildnis weist schiefe Ge-sichtszüge auf.Beachten Sie, welche Ausdrucksmöglichkeiten in dieserSchrägstellung der Achsen liegen. Auch Sie werden sichvielleicht bei bestimmten Zeichnungen dieses Kunstmittelsbedienen. Entscheidend ist wiederum, daß Sie es absichtlicheinsetzen, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen.

Abb. 117 und 118: Kopfumriß vonderSeite. Achten Sie darauf, daß der Ab-stand von der Augenhöhe bis zumKinn (a) dem Abstand von der Au-genhöhe bis zum Schädeldach (b)gleicht.

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Richtige Proportionen

Wir füllen einen zweitenleeren Umriß aus und lernen dabei, einenKopf im Profil zu zeichnen

Zeichnen Sie nun eine andere gerundete Form, die etwa demUmriß eines von der Seite gesehenen Kopfes entspricht. Sie siehtein wenig anders aus als das Gesichtsoval — eher wie ein sonderbargeformtes Ei. Der menschliche Schädel (Abb. 117) hat nun ein-mal, von der Seite aus betrachtet, eine unsymmetrische Form. Sieist leichter zu zeichnen, wenn Sie sich auf die Umrisse des leerenRaums konzentrieren, der sie umgibt (vgl. Abb. 118). BeachtenSie, daß der negative Raum an jeder der vier Ecken andersaussieht.

Wenn es Ihnen beim Sehen hilft, symbolisieren Sie Nase, Au-genhöhle, Mund und Kinn durch entsprechende Umrisse. ZiehenSie jedoch zunächst durch die Mitte der Form die Augenlinie.

Ich möchte Sie nun noch einmal bitten, an Ihrem eigenen Kopfeinige Messungen vorzunehmen, die ich für besonders wichtighalte, da sie Ihnen helfen sollen, die Lage des Ohres zu bestim-men, was Ihnen wiederum die richtige Wahrnehmung der Breitedes Kopfes im Profil erleichtern wird.

Messen Sie mit Ihrem genau lotrecht gehaltenen Bleistift denAbstand zwischen den inneren Augenwinkeln und der Kinnspitze(vgl. Abb. 119). Halten Sie dieses Maß wieder mit dem Daumenfest, und legen Sie den Bleistift nun in Augenhöhe waagerecht ander Seite Ihres Kopfes an. Das stumpfe Ende des Stiftes soll dabei

Abb. 119 Abb. 120

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Ric htige Proportionen

genau mit dem äußeren Augenwinkel zusammentreffen. Sie werdenfeststellen, daß Ihr Daumen, mit dem Sie den vorher gemessenenAbstand markieren, den hinteren Ohrmuschelrand berührt. Mitanderen Worten: Der Abstand zwischen Augenhöhe und Kinn-spitze gleicht dem Abstand zwischen dem inneren Punkt der Au-genhöhle und dem hinteren Rand des Ohrs. Markieren Sie durcheinen senkrechten Strich auf der Höhe der Augenlinie die Lagedes Ohrs (vgl. Abb. 121). Vielleicht kommen Ihnen diese Propor-tionen ein wenig wirr vor, doch wenn Sie sie ausmessen undfeststellen, daß sie — entgegen ihrem Gefühl — stimmen, können Siesich dadurch einen weiteren hartnäckigen Fehler beim Zeichnendes menschlichen Kopfes ersparen: Die meisten Anfänger setzendas Ohr in ihren Profilzeichnungen zu nahe ans Gesicht heran.Sitzt das Ohr zu weit vorn, entsteht wieder der Eindruck eines«gestutzten» Schädels, diesmal am Hinterkopf. Diesem Fehler

Abb. 123: (Norbert Wein (1920) von Oskar Kokoschka(1886-1980). Mit freundlicher Genehmigung desWorcester Art Museum, Worcester, Massachusetts:

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Richtige Proportionen

mag wieder die gleiche Ursache zugrunde liegen: Die Wangen-und Kiefernfläche erregt weniger Interesse, und so nehmen An-fänger die Breite dieser Fläche nicht richtig wahr.

Auf der gegenüberliegenden Seite sehen Sie eine Schülerzeich-nung (Abb. 122), in der dieser Wahrnehmungsfehler deutlicherkennbar ist. Auch die Zeichnung von Oskar Kokoschka (Abb.123) weist diese verzerrte Darstellung auf. Hier ist sie wahrschein-lich absichtlich verwendet worden. Wie Sie sehen, liegen in derVergrößerung der Gesichtszüge beziehungsweise in der Verklei-nerung oder Verkürzung der Schädelpartie sehr vielseitige Aus-drucksmöglichkeiten und Symbolisierungseffekte. Auch Sie wer-den wahrscheinlich später, wenn Sie die normalen Proportionenbeherrschen, von diesen Möglichkeiten Gebrauch machen.

Vor einiger Zeit stieß ich auf eine ähnliche, aber einfachere undebenso zuverlässige Methode, das Ohr richtig zu placieren. Da derAbstand zwischen Augenhöhe und Kinn mit dem Abstand zwi-schen dem hinteren Punkt der Augenhöhle und dem hinterenRand des Ohrs weitgehend identisch ist, können Sie ein gleich-schenkliges rechtwinkliges Dreieck konstruieren, das diese dreiPunkte verbindet (vgl. Abb. 124). Auf diese Weise ist es ganzeinfach, das Ohr an der richtigen Stelle einzuzeichnen.

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Richtige Proportionen

Abb. 125 Üben Sie weiterhin das bewußte Wahrnehmen von proportio-nalen Verhältnissen, indem Sie sich Fotos oder Zeichnungen vonMenschen im Profil ansehen und sich dieses Dreieck bildlichvorstellen. Dies wird Sie vor vielen Fehlern beim Porträtzeichnenbewahren.

Nun müssen wir noch zwei weitere Messungen an unseremleeren Profilumriß vornehmen. Zuerst halten Sie Ihren Bleistift inwaagerechter Stellung genau unter Ihr Ohrläppchen (vgl. Abb.125). Dabei stoßen Sie mit dem Bleistiftende auf den Raumzwischen Nase und Mund. Auf dieser Höhe liegt also etwa deruntere Rand des Ohrläppchens. Markieren Sie es durch eine Linieauf dem Umriß.

Halten Sie nun noch einmal Ihren Bleistift in waagerechterStellung unter Ihr Ohr und führen Sie ihn diesmal nach hinten.Dabei stoßen Sie auf die Stelle, wo der Kopf in den Hals übergeht.Der Schädelknochen und die Halsmuskulatur bilden hier eineEinbuchtung. Markieren Sie auch diesen Punkt auf Ihrem Um-riß. Er liegt höher, als die meisten Anfänger glauben. Wenn sie dieSeitenansicht eines Kopfes unter Verwendung ihrer fertigen, tiefverwurzelten Symbole zeichnen, beginnt der Hals gewöhnlichunterhalb des Schädelrunds, so daß die Nackenbeuge etwa aufderselben Höhe wie das Kinn liegt. Dieser Fehler wiederum führtzu einem weiteren Problem beim Zeichnen: Der Hals wird zudünn (vgl. Abb. 126). Achten Sie bei der Betrachtung IhresModells oder Ihrer Vorlage genau darauf, wo der Hals am Hin-terkopf ansetzt.

Trainieren Sie weiterhin Ihre Fähigkeit zur bewußten, genauenWahrnehmung. Sehen Sie sich die Menschen an. Üben Sie sich imBeobachten von Gesichtern, im Wahrnehmen der Beziehungenzwischen den verschiedenen Kopfpartien, im Erkennen der indi-viduellen Züge, die die Einmaligkeit jedes Gesichts ausmachen.

Abb. 126

Die richtige Stelleim Verhältnis zu denGesichtszügen.

Dieser Fehlerwird häufig gemacht:falsche Placierung derNackenbeuge.

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Richtige Proportionen

Jetzt verfügen Sie über alle Voraussetzungen, die notwendigsind, um ein Porträt aus der Seitenansicht zu zeichnen. Dabeiwerden Sie all das anwenden können, was Sie bisher gelernthaben:

Nur das zu zeichnen, was Sie vor sich sehen, und dabei jedebegriffliche Identifizierung und Etikettierung zu vermeiden;

nur das zu zeichnen, was Sie vor sich sehen, ohne die alten, imGedächtnis gespeicherten Symbole aus Ihrer Kindheit zu ver-wenden;

Ihre Aufmerksamkeit auf negative Räume und kompliziert ge-formte Flächen zu konzentrieren, bis Sie merken, daß Sie in denanderen Bewußtseinszustand übergewechselt sind, in dem Ihrerechte Hemisphäre die Führung übernimmt und die linke He-misphäre still sein muß (denken Sie daran, daß Sie für diesenVorgang eine zusammenhängende Zeitspanne ohne Unterbre-chungen brauchen);

die Winkel in ihrem Verhältnis zu den senkrecht und waagerechtverlaufenden Rändern Ihres Zeichenbogens abzuschätzen;

die Größenverhältnisse zu taxieren: wie lang ist diese Form imVerhältnis zu jener? — und schließlich:

die Proportionen so wahrzunehmen, wie sie wirklich sind, ohne sieIhrer vorgefaßten Meinung hinsichtlich der Bedeutung derTeile anzupassen. Sie sind alle wichtig, und jeder einzelne Teilmuß die richtige Proportion im Verhältnis zu den anderenTeilen erhalten.

Wenn Sie in diesem Moment das Gefühl haben, Sie sollten daseine oder andere Verfahren wiederholen, dann kehren Sie nocheinmal zu den entsprechenden Kapiteln zurück, um Ihre Erinne-rung aufzufrischen. Das kann für die weitere Ausbildung Ihreszeichnerischen Könnens eine große Hilfe sein. Ein besonders gutgeeignetes Training Ihrer neu entdeckten Fähigkeit, sich Zugangzu Ihrer rechten Hemisphäre zu verschaffen und die linke zumSchweigen zu bringen, bietet das reine Konturenzeichnen.

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Wir zeichnen Porträts

Eine neue Fähigkeit eignen wir uns nicht schlagartig an. Wirsetzen sie vielmehr gewöhnlich aus einzelnen Fertigkeiten zusam-men, die wir allmählich in einem Lernprozeß erwerben. Wirlernen in der Fahrschule erst einzelne Handgriffe, Wahrnehmun-gen, Bewegungen - die Bedeutung der Verkehrszeichen, das Ein-legen der Gänge, das Achten auf die anderen Fahrzeuge usw. —,und erst allmählich koordinieren wir alle diese Komponenten zuder Fähigkeit «Autofahren», bestehen die Fahrprüfung und be-weisen damit uns und den anderen, daß wir von nun an über dieseFähigkeit verfügen. So ähnlich werden wir bei den Übungen indiesem Kapitel vorgehen; wir werden die einzelnen Komponen-ten Ihrer Wahrnehmungsfähigkeit miteinander verbinden. Sokönnen Sie sich selbst und anderen an Hand Ihrer Zeichnungenbeweisen, daß Sie richtig zu sehen verstehen.

Sie sollen in diesem Kapitel Gesichter zeichnen - doch zunächstwerden Sie wieder die Bedingungen herstellen, die Ihre linkeHemisphäre dazu veranlassen, eine kleine Ruhepause einzulegen.Und Ihre rechte Hemisphäre wird ihren großen Tag haben: Siewerden Ihre Freude an der erstaunlichen Vielfalt der Konturenhaben, werden verwundert feststellen, wie eine Zeichnung ausIhrer einmaligen kreativen Linienführung entsteht. Sie werdenerleben, daß Ihre Fähigkeiten — wie einzelne Schritte sich zumTanz zusammenfügen — beim Zeichnen zu einer Tätigkeit ver-schmelzen. Sie werden mit den Augen des Künstlers das Wesender Dinge erblicken und nicht ihre Oberfläche, ihre matte, sym-bolhafte, begriffliche Hülle, ihren gespeicherten, durchanalysier-ten, tausendmal gedachten Wort-Ersatz. Sie werden die Pfortender Wahrnehmung öffnen, damit Sie bewußt sehen, was vorIhnen liegt, Sie werden Bilder zeichnen, in denen Sie sich anderenmitteilen.

Drei Ansichten

Dieses Kapitel ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil bestehtaus Anleitungen zum Anfertigen von Profilzeichnungen nacheinem Modell. Im zweiten Teil finden Sie Anleitungen zumZeichnen von Köpfen im Halbprofil, wobei der Kopf des Modellsein wenig zur Seite gewandt ist. Im dritten Teil schließlich geht esum die Darstellung des Kopfes von vorn, der En-face-Ansicht. DieEn-face-Darstellung ist nicht deshalb ans Ende dieses Kapitelsgestellt, weil sie die höchsten Anforderungen an das zeichnerischeKönnen stellt. Unser Grundprinzip lautet: Es kommt beim Zeich-

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nen stets auf dasselbe an — auf das bewußte Sehen. Diesem Grundsatzzufolge gibt es kein Motiv, das schwerer zu zeichnen ist als dasandere. Doch das aus der Kindheit stammende Symbolsystem fürdie Darstellung der Vorderansicht des Gesichts ist besonders stabilund widerstandsfähig. Doch wenn Sie erst einmal einige Profil-und Halbprofilzeichnungen angefertigt und dabei erkannt haben,daß der Schlüssel zum Gelingen im bewußten Sehen mit Hilfe desR-Modus liegt, werden Sie nach meiner Erfahrung besser im-stande sein, die Symbole unbeachtet zu lassen, und verhindern,daß sie sich beim Zeichnen so vertrauter Formen, wie die aus derFrontalperspektive gesehenen Gesichtszüge, wieder einschlei-chen.

Die ProfilzeichnungBevor Sie beginnen: Suchen Sie sich ein Modell — einen Freund,einen Nachbarn oder ein Familienmitglied. Sie können die vonIhnen ausgewählte Person beim Lesen, beim Schlafen, beim Fern-sehen oder bei irgendeiner anderen alltäglichen Handlung ab-zeichnen. Sie sollte eine ungezwungene Haltung einnehmen. Siewerden für diese Übung 30 bis 45 Minuten benötigen. Außerdemsollten Sie Ihrem Modell ein- oder zweimal eine kurze Pausegönnen.

Könnte ich Ihnen das Porträtzeichnen hier selbst vormachen,würde ich die einzelnen Gesichtsteile natürlich nicht beim Namennennen. Ich würde vielmehr beim Vorzeichnen auf die verschie-denen Flächen und Formen zeigen und von «diesem Umriß»,«dieser Kontur», «diesem Winkel» oder «dieser Kurve» sprechen.Doch der Verständlichkeit halber muß ich beim Schreiben not-gedrungen Auge, Nase, Mund und so fort beim Namen nennen.Aus dem wegen der zahlreichen Beschreibungen und Bezeichnun-gen umständlich anmutenden Vorgang wird bei Ihnen ein wort-loser «Tanz» werden, eine Forschungsreise, die Ihnen Spaßmacht und bei jeder neuen Entdeckung auf eine geheimnisvolleWeise mit der vorangegangenen und der zukünftigen verknüpftist.

Lesen Sie zuerst alle Anleitungen durch, und betrachten Sie dieSchülerzeichnungen (S. 189 f), ehe Sie zu zeichnen beginnen.

1. Befestigen Sie Ihren Bogen mit Klebstreifen oder mit Reiß-zwecken auf einem Zeichenbrett oder auf irgendeiner anderenglatten, harten, ebenen Unterlage.

2. Setzen Sie sich so vor die Person, die Sie zeichnen wollen, daßSie sie im Profil sehen. Der Abstand zwischen Ihnen und IhremAbb. 127

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Modell sollte etwa eineinviertel Meter, jedoch keineswegs mehrals 180 Zentimeter betragen. Ist die Entfernung zu groß, könnenSie die Details nicht mehr deutlich genug erkennen und laufenGefahr, wieder auf alte Symbole zu verfallen.

3. Bevor Sie den ersten Strich ziehen, umgrenzen Sie den Aus-schnitt, den Sie zeichnen wollen — entweder mit dem «Sucher»oder mit einer Hand und einem Bleistift (vgl. Abb. 127). Konzen-trieren Sie sich bei der Betrachtung des Ausschnitts zunächst aufden leeren Raum rund um den Kopf und warten Sie, bis Sie denRaum als Form hervortreten sehen. Betrachten Sie den Umriß desKopfes als eine leere Form, die von einem festen, massiven, negati-ven Raum umgeben ist — wie der leere Umriß, die die Trickfilm-Figur in der Tür hinterläßt.

4. Konzentrieren Sie jetzt Ihren Blick auf den leeren Zeichen-bogen, und stellen Sie sich den Umriß des Kopfprofils Ihres Mo-dells darauf vor - den gesamten Umriß des Kopfes (der zugleichdie innere Konturlinie des leeren Raums ist). Wenn es Ihnen nichtgleich gelingt, dieses Vorstellungsbild auf dem Papier hervorzuru-fen, ist es oft eine große Hilfe, es «im Geist zu zeichnen», das heißtmit Ihrem Bleistift über dem Zeichenbogen die Umrisse desKopfes nachzuzeichnen, ohne dabei das Papier zu berühren. Nunwissen Sie, wie groß der Kopf sein wird und wie Sie ihn auf derZeichenfläche unterbringen werden. Wenn Sie wollen, stellen Siesich den ganzen Kopf mit Gesichtszügen usw. auf dem Papier vor.

5. Fangen Sie nach Belieben irgendwo mit dem Zeichnen an.Ich beginne gewöhnlich bei der Stirn und zeichne die Umrißliniedes Profils von dort aus bis zum Hals hinunter, doch das ist nureine von vielen Möglichkeiten. Alle Formen und Räume werdenwie bei einem Puzzle ineinandergreifen, jeder Teil steht in Bezie-hung zu den anderen Teilen. Es ist daher unwesentlich, wo Sieanfangen.

6. Umgrenzen Sie noch einmal den Kopf Ihres Modells, undkonzentrieren Sie Ihren Blick auf den leeren Raum hinter Stirnund Nase. Warten Sie, bis Sie ihn als Form hervortreten sehen (dasheißt, bis die linke Hemisphäre die Aufgabe an die rechte abgetre-ten hat). Dann ziehen Sie nach dem Verfahren des modifiziertenKonturenzeichnens die innere Randlinie dieses Raumteils (dieder äußeren des Profils entspricht). Schätzen Sie, wie Sie es imfünften Kapitel geübt haben, die Winkel (zum Beispiel den derNase) ab, indem Sie ein Auge schließen und Ihren Bleistift insenkrechter Stellung an die Umrißlinie der Nasenspitze halten(vgl. Abb. 128). Welchen Winkel bildet die Umrißlinie im Ver-hältnis zur Senkrechten? Während Sie die Profillinie weiter nach

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unten verfolgen, schätzen Sie alle Punkte und Größen ab: Verglei-chen Sie die Lage des einen Punktes im Verhältnis zum anderen,die Länge der einen Konturlinie im Verhältnis zur anderen, undvergleichen Sie immer wieder die Abschnitte mit dem, was Siebereits gezeichnet haben.

7. Es folgen nun einige spezielle Anleitungen für die Darstellungeinzelner Gesichtsteile. Natürlich können Sie alle diese Beziehun-gen einfach durch ein genaues Hinschauen wahrnehmen, dochglaube ich, daß Sie sie noch bewußter zu sehen lernen, wenn ichIhnen einige Fingerzeige auf spezielle Details gebe.

Die AugenBeachten Sie, daß die Augenlider eine gewisse Dicke haben. DerAugapfel liegt hinter den Lidern (vgl. Abb. 129). Wenn Sie die Iriszeichnen, zeichnen Sie besser nicht sie, sondern das Weiß desAugapfels ab (vgl. Abb. 130). Das Augenweiß kann als negativerRaum aufgefaßt werden, der mit der Iris einen gemeinsamenRand bildet. Wenn Sie diese weiße Fläche abzeichnen, werden Sieautomatisch die Iris richtig wiedergeben; auf diese Weise umge-hen Sie Ihr im Gedächtnis gespeichertes Iris-Symbol. Diese Um-gehungstaktik ist bei der Wiedergabe alles dessen eine große Hilfe,was nach Ihrem Gefühl «schwer zu zeichnen» ist. Sie bestehtdarin, daß Sie statt der als schwierig empfundenen Form einen angrenzen-den Umriß oder Raum abzeichnen. Achten Sie darauf, daß die oberenAugenwimpern zunächst nach unten wachsen und sich (bisweilen)dann erst nach oben biegen. Schauen Sie sich genau an, wie derUmriß des Auges in einem bestimmten Winkel zur äußeren Pro-fillinie schräg gestellt ist (vgl. Abb. 131). Achten Sie bei derBetrachtung Ihres Modells auf diesen Winkel - er ist ein wichtigesDetail.

Abb. 129 Abb. 130 Abb. 131

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Die NaseAuch Nasenlöcher werden, wie die Iris, gern mit Hilfe symboli-scher Formen wiedergegeben. Bedienen Sie sich wieder der Um-gehungstaktik, und wechseln Sie von diesem symbolbefrachtetenTeil zum unmittelbar angrenzenden Teil über. Wollen Sie dieNasenlöcher richtig zeichnen, konzentrieren Sie Ihren Blick aufden Raum unterhalb des Nasenflügelrandes, und zeichnen Sie diesengenau ab (vgl. Abb. 132).

Abb. 132: Achten Sie auf die Umrisse des Raums unterhalb des Nasenflügels. Siesind bei jedem Menschen verschieden und sollten daher besonders sorgfältigbetrachtet werden.

Der MundBei vielen Gesichtern, die man im Profil betrachtet, liegen dieäußeren Punkte der Nasenspitze, der Ober- und Unterlippe unddes Kinns auf einer schräg verlaufenden Geraden (vgl. Abb. 133).Sehen Sie sich diese Punkte bei Ihrem Modell genau an, undmerken Sie sich den Winkel der Linie, die entsteht, wenn Sie diePunkte verbinden. Betrachten Sie bei Ihrem Modell zunächst dasVerhältnis dieser Partie zum gesamten Kopfumriß, dann dieBeziehungen ihrer Teile zu Teilen anderer Partien des Kopfes undschließlich die Beziehungen ihrer Teile untereinander. Auch hierleistet der negative Raum hervorragende Hilfe und bietet Ihnenneue, nicht in Stereotypen gepreßte Formen zum Zeichnen. Nunbeachten Sie bitte, daß der Umriß der Lippen nicht durch einedeutliche Randlinie, sondern durch den Farbwechsel der Hautentsteht. Sie werden feststellen, daß bei den meisten Menschendiese leichte Farbveränderung am besten mit einer ganz zarten,keinesfalls dunklen oder harten Linie wiederzugeben ist. DieTrennungslinie zwischen Ober- und Unterlippe hingegen ist klarkonturiert (hier gehen zwei Randlinien in eine über), und wennSie Ihr Modell genau betrachten, werden Sie merken, daß dieseKontur kräftiger ist als bei den Außenrändern der Lippen. Die

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Form der Oberlippe spielt eine wichtige Rolle bei der Wiedergabedes Ausdrucks Ihres Modells. Wenn Sie die Form der Oberlipperichtig abzeichnen wollen, dann zeichnen Sie nicht sie, sondern denangrenzenden Raum, den Raum zwischen Nase und Oberlippe(vgl. Abb. 134). Schauen Sie sich an, wie lang die Innenlinie desMundes ist. Wo liegt zum Beispiel der Mundwinkel im Verhältniszum vorderen Rand der Pupille? (Überprüfen Sie stets die Lagedessen, was Sie gerade zeichnen, durch Vergleich mit den Teilen,die Sie bereits gezeichnet haben.)

Das KinnÜberprüfen Sie, wo die vordere Konturlinie des Kinns im Verhält-nis zur Stirn oder zur Oberlippe liegt - beide Teile haben Sie jabereits gezeichnet. Stellen Sie die Länge des Kinns im Verhältniszu anderen Teilen fest, zum Beispiel zur Nase.

BrillenIst die Person, die Ihnen Modell sitzt, Brillenträger, dann zeich-nen Sie nicht die Brille als solche — zu ihrer Darstellung stehennämlich besonders hartnäckige Symbole bereit (vgl. Abb. 135).Zeichnen Sie statt dessen die rings um die Brille gelegenen Negativfor-men (vgl. Abb. 136). Wichtig ist bei diesem Vorgehen natürlich,daß Sie Ihre Wahrnehmung des negativen Raums nicht in Fragestellen. Zeichnen Sie, was Sie sehen.

Abb. 134: Wollen Sie die Form derOberlippe wiedergeben, dann zeichnen Sie die Umrisse des durch denPfeil markiertenRaumes genau ab.Abb. 135: Das SymbolStellung einer Brille isthartnäckig.

Abb. 136: Um das Symbol zu vermeden, betrachten Sie die die Brille um£benden Teile des Gesichts als negativiRaum und zeichnen diesen ab.

für die Dar-besonders

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Abb. 137: Vergessen Sie nicht festzu-stellen, wo der hintere Halsansatz imVerhältnis zur Nase beziehungsweisezum Mund liegt. Die Konturlinieder vorderen Halsseite bildet in fastallen Fällen einen schrägen Winkel imVerhältnis zur Vertikalen.

Abb. 138: Wenden Sie bei der Wie-dergabe von Teilen, die fest mit be-grifflichen, stereotypen, von unserenKinderzeichnungen her im Ge-dächtnis gespeicherten Symbolfor-men verbunden sind, die Umgehungs-taktik an.

Der HalsVerwenden Sie den leeren Raum vor dem Hals zur Wiedergabeder Konturlinie unterhalb des Kinns und entlang der vorderenHalsseite. Prüfen Sie, welchen Winkel die vordere Randlinie desHalses im Verhältnis zur Vertikalen bildet. Vergessen Sie nicht,den Punkt festzustellen, an dem der hintere Teil des Halses in denSchädel übergeht. Zumeist liegt dieser Punkt etwa auf der Höheder Linie zwischen Nase und Mund (vgl. Abb. 137).

Der KragenZeichnen Sie keine Kragen, denn wir neigen dazu, auch sie mitHilfe sehr widerstandsfähiger Symbole darzustellen (vgl. Abb.138). Verwenden Sie jetzt statt dessen den Hals als negativenRaum, um den oberen Rand des Kragens richtig wiederzugeben,und bedienen Sie sich auch beim Zeichnen von Kragenecken,offenen Hemdkragen und der Rückenkontur des negativenRaums. (Diese Umgehungstaktik funktioniert natürlich deshalbso gut, weil Formen wie jene, die den Kragen umgeben, nurschwer zu benennen sind und weil für sie keine fertigen Symbolebereitstehen, die die Wahrnehmungen verfälschen könnten.)

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Das OhrNachdem Sie nun mit den Gesichtszügen mehr oder weniger fertigsind, messen Sie am Modell das Größenverhältnis zwischen demunteren Teil des Kopfes (Augenhöhe bis Kinn) und der oberenKopfhälfte (Augenhöhe bis Schädeldach) ab. Halten Sie dabeiIhren Bleistift direkt an den Kopf Ihres Modells, und messen Sieihn aus (vgl. Abb. 139). Der Abstand zwischen der Augenhöheund der höchsten Stelle des Haares wird mindestens genauso großsein wie der Abstand zwischen Augenhöhe und Kinn. Wahr-scheinlich wird er —je nach Haarwuchs — sogar etwas größer sein.Diese Maße übertragen Sie nun auf Ihren Bogen. Legen SieIhren Bleistift so auf Ihre Zeichnung, daß er eine Senkrechtebildet, und messen Sie den Abstand zwischen Augenhöhe undKinn; legen Sie das stumpfe Ende des Bleistifts an den Augenwin-kel, und halten Sie ihn an der Stelle mit Daumen und Zeigefingerfest, die dem unteren Rand des Kinns entspricht. Nun schiebenSie ihn nach oben, bis der Punkt, der vorher den Rand des Kinnsanzeigte, in Augenhöhe liegt. Jetzt versetzen Sie den Bleistift zurKopfmitte hin und markieren die Stelle auf Ihrer Zeichnung, wo deroberste Punkt des Schädeldachs liegen muß. Verzichten Sie nicht aufdiese Messung, weil Sie glauben, daß Sie schon daran denkenwerden, den oberen Teil des Kopfes groß genug zu zeichnen. Als

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nächstes messen Sie die Lage des hinteren Ohrmuschelrandes aus:Legen Sie den Bleistift wieder auf Ihre Zeichnung und messen Sienoch einmal den Abstand zwischen Augenhöhe und Kinn. Über-tragen Sie dieses Maß auf die Strecke zwischen dem hintersten Punktdes Auges und dem hinteren Ohrrand (vgl. Abb. 140), oder stellen Siesich bildlich ein gleichseitiges rechtwinkliges Dreieck zwischenden drei Punkten vor (vgl. Abb. 141). Ziehen Sie an der StelleIhrer Zeichnung, wo der hintere Ohrrand liegen muß, einensenkrechten Strich.

Zeichnen Sie zuerst die Umrisse des Raums hinter dem Ohr ab.Zeichnen Sie dann das Innere der Ohrmuschel, den Blick immerauf die jeweils angrenzende Form gerichtet, die Sie als Negativ-raum verwenden. Versäumen Sie nicht, die Größe des Ohrs imVerhältnis zu den Gesichtszügen zu überprüfen: Wo liegt der obereRand des Ohres im Verhältnis zu Auge und Augenbraue? Wo dasOhrläppchen im Verhältnis zu Nase und Mund? Denken Siedaran, daß Ohren überraschend groß sind.

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Das HaarMeine Schüler bitten mich oft, ihnen zu zeigen, «wie man Haarzeichnet». Ich vermute, die meisten Anfänger meinen damit:«Zeigen Sie mir eine Methode, die schnell geht, leicht ist und beider das Haar blendend aussieht!» Mit anderen Worten: «ZeigenSie mir ein Symbol für Haar, das besser ist als mein eigenes.» Soetwas gibt es natürlich nicht. Wenn man Haar zeichnet, geht mangenauso vor wie bei allem anderen: Sie müssen es wahrnehmen,wie es ist, in seiner ganzen Komplexität, Sie müssen das wieder-geben, was Sie sehen. Das heißt nicht, daß Sie jedes Haar einzelnzeichnen sollen, doch ist es wichtig, daß Sie sich die Zeit nehmen,das Haar auf Ihrer Zeichnung zumindest zum Teil in seinerLinienvielfalt wiederzugeben. Halten Sie nach den Stellen Aus-schau, wo sich das Haar teilt, und benutzen Sie diese als negativeRäume. Achten Sie genau auf den Verlauf der einzelnen Sträh-nen, auf ihre Drehungen und Krümmungen, auf Wellenmusterusw. Da die rechte Hemisphäre komplizierte Formen liebt, wirdsie fasziniert sein vom Anblick des Haares, und so kann die Auf-zeichnung Ihrer Wahrnehmungen bei diesem Teil des Porträts

Abb. 142: <Stolze Maisie> von An-thony Frederick Augustus Sandys(1832-1904). Mit freundlicher Ge-nehmigung des Victoria and AlbertMuseum, London.

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sehr wirkungsvoll sein, wie bei Sandys' Bildnis (Stolze Maisio(Abb. 142). Vermeiden Sie dünne, oberflächliche Striche. WennSie sie verwenden, können Sie genausogut das Wort Haar inBuchstaben quer über den Schädel schreiben.

Bevor Sie zu zeichnen beginnen, denken Sie daran, daß Sieetwa dreißig bis vierzig Minuten brauchen werden. Stellen Siesich einen Wecker, der Sie daran erinnert, daß Ihr Modell einePause braucht. Und sagen Sie Ihrem Modell, daß Sie währendder Sitzung nicht fähig sein werden zu sprechen.

Nun lassen Sie Ihr Modell eine Ihren Wünschen entsprechendeStellung einnehmen, und suchen Sie sich dann selbst den Ihnenam geeignetsten erscheinenden Platz aus. Stecken Sie die Bild-grenzen ab. Stellen Sie sich das Modell auf Ihrem Papier vor.Konzentrieren Sie Ihren Blick auf den Raum rings um die Gestalt.Sie werden es spüren, wie Sie auf den R-Modus umschalten — aufjenen Bewußtseinszustand, in dem Sie genau zu sehen vermögen.

Nachdem Sie fertig sind: Seien Sie stolz auf sich — Sie haben esgeschafft! Ich hoffe, Sie sind mit Ihrer Zeichnung ebenso zufrie-den, wie meine Studenten es waren, nachdem sie ihr erstes Porträtgezeichnet hatten.

Erscheinen Ihnen einige Stellen an Ihrer Zeichnung nicht ganzstimmig, versuchen Sie auf folgende Weise herauszufinden, woranes liegt: Halten Sie die Zeichnung vor einen Spiegel. Da Sie siejetzt seitenverkehrt sehen, lassen sich die Verhältnisse objektivererfassen. Sie sehen Ihre Zeichnung mit neuen Augen und erken-nen auf den ersten Blick, wo Sie Veränderungen durchführenmüssen. Eine andere sehr nützliche Technik zum Aufspüren vonFehlern besteht darin, die Stelle, die Ihnen nicht gelungen zu seinscheint, mit der Hand oder einem Stück Papier abzudecken undsich dann vorzustellen, wie diese Stelle aussehen müßte. BehaltenSie diese Vorstellung vor Augen, während Sie auf Ihre Zeichnungblicken. Dann decken Sie die Stelle mit einem Ruck wieder auf. Istdieser Teil nicht richtig wiedergegeben - falsch placiert oder zuklein oder was auch immer —, wird Ihnen der Fehler sofort auffal-len. Eine dritte Methode besteht darin, die Zeichnung direktneben das Modell zu halten und jeden Teil des Negativraums zuvergleichen, die Winkel und die Längen zu überprüfen usw. — erstam Modell, dann auf Ihrer Zeichnung. Immer dort, wo dieUmrisse der negativen Räume von Wirklichkeit und Abbild nichtübereinstimmen, werden Sie einen Fehler entdecken.

Damit Sie nicht zu kritisch gegenüber Ihren Zeichnungen wer-den, wäre es jetzt an der Zeit, die sogenannten «Vorher»-

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Zeichnungen hervorzuholen, die Sie am Ende des ersten Kapitelsangefertigt haben. Ein Vergleich wird Sie überzeugen — genausowie die Betrachtung der «Vorher-Nachher-Zeichnungen» amEnde jenes ersten Kapitels. Und wenn Sie Ihre Zeichenversuchevor Beginn der ersten Übung mit Ihrer Zeichnung eines Men-schen aus der Erinnerung (dem Ergebnis der «Zeichne-einen-Menschen»-Aufgabe) vergleichen, werden Sie vielleicht in denGesichtszügen noch Relikte Ihrer alten Symbole entdecken. InIhrer soeben vollendeten Profilzeichnung jedoch wird keines Ih-rer alten Symbole wiederzufinden sein. Mit dieser Porträtzeich-nung sind Sie auf dem besten Weg, sich selbst auf dem zeichneri-schen Niveau eines Erwachsenen zum Ausdruck zu bringen.

Schülerarbeiten: Profilzeichnungen

Nachdem Sie die Anleitungen zu den Detailproblemen und ihrerBewältigung gelesen haben, sehen Sie sich diese Schülerarbeitenan. Während Sie den Blick über sie gleiten lassen, vollziehen Sienoch einmal im stillen die einzelnen Schritte nach, die erforderlichwaren, um diese Porträts zustande zu bringen. Wiederholen Siedie wichtigsten Messungen, indem Sie Ihren Bleistift an jedeZeichnung anlegen und den Abstand zwischen Augenhöhe undKinn, zwischen Augenhöhe und Schädelspitze, die Lage des Ohrs

Kevin Schley P. Krones

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Rona Kramer

Janice Gallagher Sheila Kalivas

Sherlyn Arch

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usw. prüfen. Versuchen Sie zu erraten, wo die ZeichenschülerUmrisse von Teilen des negativen Raums abgezeichnet haben,um schwierige Gegenstände wie Brillen, Iris, Ohr usw. richtigwiederzugeben.

Wir setzen unsere Fähigkeiten frei

Bevor Sie weiterlesen, führen Sie bitte die Übungen 10 a und bdurch.

Voraussetzung beim Zeichnen ist stets, daß Sie für eine Situa-tion sorgen, in der das kognitive Umschalten auf den R-Modusmöglich ist. Sorgen Sie dafür, daß Sie mindestens eine halbeStunde Zeit zum Zeichnen haben. Fixieren Sie mit Ihrem Blickzunächst die Negativräume. Im Laufe der Zeit wird sich IhrGehirn an diese Prozedur gewöhnen, und das Überwechseln wirdsich immer schneller vollziehen. Befinden Sie sich einmal im Zu-stand des R-Modus, bleibt nur noch ein Problem: nicht zu verges-sen, Ihrem Modell hin und wieder eine Pause zu gewähren.

Sollte die linke Hemisphäre keine Ruhe geben — das kommtbisweilen vor —, ist eine kurze Übung in reinem Konturenzeich-nen, entweder nach dem Modell oder irgendeinem kompliziertenGegenstand, das beste Gegenmittel. Das reine Konturenzeichnenscheint das Umschalten auf R-Modus zu forcieren und ist insoferneine gute Möglichkeit, sich «warmzulaufen».

Das Halbprofil

Kleine Kinder zeichnen selten Menschen mit halb zur Seite ge-wendetem Kopf — im Halbprofil, wie wir sagen. Gewöhnlichzeichnen Kinder Gesichter entweder im Profil oder von vorn.Etwa mit zehn Jahren beginnen sie, auch Halbprofile zu zeichnen- vielleicht deshalb, weil diese Ansicht besonders gut geeignet ist,die Persönlichkeit des Menschen, den sie darstellen wollen, zumAusdruck zu bringen. Die Probleme, die die jungen Künstler mitdem Halbprofil haben, sind die gleichen wie zuvor: Die optischenWahrnehmungen geraten mit den im Kindesalter beim Zeichnenvon Profilen und En-face-Ansichten entwickelten Symbolen inKonflikt.

Worauf beruhen diese Konflikte? Erstens sieht die Nase andersaus als im Profil (vgl. Abb. 144). Zweitens scheinen die beidenGesichtshälften verschieden breit zu sein — die hintere ist schmaler als

Ergänzende ÜbungenBevor Sie beginnen: Als weitere Übunempfehle ich Ihnen das Kopieren viPorträtzeichnungen alter Meister.Diese Übung gibt Ihnen die Möglickeit zu studieren, wie ein großerKünstler den Kopf eines Menschender ganzen Vielfalt seiner Proporticnen erfaßt. Während Sie eine solchiZeichnung kopieren, stellen Sie sicrvor, Sie seien selbst jener Künstler.10a. Kopieren Sie einen von einemalten Meister gezeichneten Kopf inProfil. Gehen Sie sowohl außerhalbauch innerhalb des Kopfumrisses j(weils vom negativen Raum aus(Stichwort: Umgehungstechnik).Meiden Sie die «schwierigen» Teilund zeichnen Sie die jeweils angren-zende Form. Wenn Sie wollen, könnSie das von Ihnen ausgewählte Bil<umgekehrt herum abzeichnen (vglAbb. 143).10b. Wenn Sie einen Frauenkopf agezeichnet haben, dann kopieren 5als zweites das Meisterporträt eineMännerkopfes (und umgekehrt).Wenn Sie fertig sind: Überprüfen Si<Ihre Zeichnung auf mögliche Fehlhin. Verwenden Sie dabei die bei 1seren Übungen im Porträtzeichne:geschilderten Techniken. Ich empfehle Ihnen, daraufhin alle Men-schen, die Ihnen im Laufe des Tatbegegnen, zu betrachten, als seienpotentielle Modelle. Stellen Sie sievor, wie die Porträts dieser Personim Stil jener alten Meister, derenZeichnungen Sie kopiert haben, asehen würden.

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Abb. 143: Schülerzeichnung nacheinem der < Vier Köpfe> von Dürer.

Abb. 144: Skizze nach dem Halbpro-fil-Porträt < Kopf eines Jünglings mit roterKappe> von Lucas Cranach (1472-1553)-

die vordere. Drittens erscheint auch das Auge auf der vom Be-trachter weiter entfernten Seite schmaler und anders geformt als dasvordere Auge. Viertens ist auch der Mund von der Mitte bis zumhinteren Mundwinkel kürzer und anders geformt als der vordereTeil des Mundes. Diese Wahrnehmung ungleicher Züge wider-spricht den im Gedächtnis gespeicherten Symbolen für gleichmä-ßige Züge, und so werden sie in Schülerarbeiten fast immer sym-metrisch auf jeder Gesichtshälfte angeordnet.

Die Lösung lautet auch hier wieder: Zeichnen Sie nur das, wasSie sehen, ohne zu fragen, warum es so ist, und ohne die wahrge-nommene Form den im Gedächtnis gespeicherten Symbolen fürGesichtszüge anzupassen. Die Dinge als solche in ihrer einmaligenund wunderbaren Vielfalt zu sehen — das ist der Schlüssel, mit demwir die uns Einhalt gebietende Pforte öffnen können.

Bevor Sie beginnen: Noch einmal möchte ich Ihnen zeigen, wie SieSchritt für Schritt vorgehen, und Ihnen Methoden vermitteln, mitderen Hilfe Sie die Klarheit und Bewußtheit Ihrer Wahrnehmun-gen aufrechterhalten können. Auch für die folgende Übung gilt:Wenn ich Ihnen das Zeichnen des Halbprofils in der Praxis selbstdemonstrieren könnte, würde ich kein Teil benennen, lediglich

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auf diese oder jene Stelle weisen. Nennen Sie also während desZeichnens die Gesichtsteile, die Sie wiedergeben, nicht im stillenbeim Namen. Versuchen Sie, beim Zeichnen überhaupt nicht mitsich selbst zu sprechen.

1. Bei diesem ersten Versuch lassen Sie Ihr Modell am besteneine Stellung einnehmen, bei der seine Nasenspitze beinahe dieUmrißlinie der abgewandten Gesichtshälfte berührt (vgl. Abb.'45)- Dadurch entsteht, wie Sie sehen, eine eingeschlossene Form.

2. Wie beim Profilzeichnen rahmen Sie den Kopf mit einemAusschnittsucher oder mit Hand und Bleistift ein. Fixieren SieIhren Blick so lange auf den leeren Raum, der den Kopf umgibt,bis Sie ihn als Form hervortreten sehen. Dann lassen Sie IhrenBlick auch auf dem Gesamtumriß des Kopfes ruhen, und wartenSie, bis Sie auch ihn als reine Form sehen.

3. Heften Sie nun Ihren Blick auf Ihren leeren Bogen, undstellen Sie sich die ganze Kopfform auf dem Papier vor. WennIhnen das nicht gleich gelingt, machen Sie eine «Geisterzeich-nung», das heißt, skizzieren Sie die Umrißlinie mit ganz leichtenStrichen auf die Zeichenfläche.

4. Sehen Sie sich Ihr Modell genau an. Verfolgen Sie zuerst mitden Augen die Mittelachse — die imaginäre Linie, die genau senk-recht durch die Mitte des Gesichts verläuft. Bei einem Gesicht inDreiviertelansicht passiert sie zwei Punkte: die Mitte der Nasenwur-zel und die Mitte der Oberlippe. Stellen Sie sich diesen Teil der Achseals dünnen Draht vor, der genau durch die Nase hindurchgeht(vgl. Abb. 145). Indem Sie, den Arm ausgestreckt, Ihren Bleistiftsenkrecht in Richtung des Kopfes Ihres Modells halten, verglei-chen Sie den Winkel oder die Neigung der Mittelachse mit derSenkrechten Ihres Bleistifts. Bei jedem Modell ist der Kopf ineinem anderen charakteristischen Winkel geneigt. Taxieren Siediesen Winkel im Verhältnis zur Vertikalen (Ihrem Bleistift).Stellen Sie sich wieder den ganzen Kopf auf Ihrem Bogen vor, undziehen Sie dann die Mittelachse des Kopfes im richtigen Winkel aufdem Papier nach (vgl. Abb. 145). Dieser Winkel ist ein sehrwichtiges Hilfsmittel, um die Ähnlichkeit der Zeichnung mit demModell herzustellen. Dann zeichnen Sie ganz leicht die Augen-höhe im rechten Winkel zur Mittelachse ein. So entgehen Sie der imneunten Kapitel erwähnten Gefahr, die Züge abkippen zu lassen.Messen Sie die Linien am Modell (mit ausgestrecktem Arm) undauf dem Papier nach, und vergewissern Sie sich, daß die Augen-linie genau auf der Hälfte der gesamten Kopflänge liegt.

5. Verfahren Sie nun nach der Methode des modifiziertenKonturenzeichnens: Zeichnen Sie ganz langsam, den Blick auf

Abb. 145: Beachten Sie die Neigungder Mittelachse im Verhältnis zurVertikalen Ihres Bleistiftes. Die Au-genhöhe bildet im Verhältnis zurMittelachse einen rechten Winkel.

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Abb. 146: Die Ränder Ihres Bogens stellen die Vertikale und Horizontale dar.Der Winkel der Mittelachse soll im Verhältnis zur Vertikalen (Ihres Blattrandes)gezeichnet werden.

Randlinien gerichtet. Beobachten Sie die Größenverhältnisse,Winkel usw. genau. Auch hier können Sie anfangen, wo Siewollen (ich beginne meist bei der Form zwischen dem Nasen-rücken und der Außenkontur der rückwärtigen Gesichtshälfte(vgl. Abb. 147), weil diese Form leicht auszumachen ist. Ichbeschreibe Ihnen hier eine bestimmte Reihenfolge, nach der Sievorgehen können, doch vielleicht werden Sie eine andere Reihen-folge vorziehen.

6. Heften Sie Ihren Blick auf diese Form, und warten Sie, bis Siesie als solche hervortreten sehen. Zeichnen Sie ihre äußeren Kon-turlinien. Wie Sie sehen, geben Sie damit zugleich bereits dieKontur der Nase wieder. Innerhalb dieser soeben gezeichnetenForm liegt das hintere Auge in der seltsamen Verkürzung derSchrägansicht. Wollen Sie das Auge zeichnen, zeichnen Sie es bessernicht. Zeichnen Sie statt dessen die an das Auge angrenzendenFormen. Vielleicht wollen Sie nach der auf Abbildung 148 ange-gebenen Reihenfolge vorgehen, doch ist jede andere Reihenfolgeebenso gut. Zuerst zeichnen Sie die Form über dem Auge (1) ,dann die Form neben dem Auge (2), dann die Form des weißenAugapfelteils (3), dann die Form unter dem Auge (4). Denken Sienicht darüber nach, was Sie zeichnen. Zeichnen Sie nur denUmriß jeder Form, und gehen Sie dabei stets von der einen zurangrenzenden über.

7. Als nächstes bestimmen Sie die richtige Lage des Auges aufder Ihnen näher liegenden Gesichtshälfte. Beachten Sie, daß der

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Abb. 147: Betrachten Sie bitte als erstes diese Fläche als Form. Abb. 148

innere Augenwinkel bei Ihrem Modell auf der Augenhöhe liegt.Achten Sie besonders darauf, wieweit dieses vordere Auge von derKonturlinie der Nase entfernt ist. Dieser Abstand beträgt fast aus-nahmslos eine Augenbreite; auch bei unserem Beispiel gleicht er derBreite des vorderen Auges (vgl. Abb. 148). Anfänger machenbeim Zeichnen des Halbprofils sehr häufig den Fehler, daß sie dasAuge zu dicht an die Nase setzen. Dieser Fehler macht alle übrigenBemühungen zunichte; er kann die ganze Zeichnung verderben.Warten Sie, bis Sie (durch Visieren) die Breite dieses Abstandessehen, und dann zeichnen Sie ihn, wie Sie ihn sehen.

8. Nun gehen Sie zur Nase über. Prüfen Sie am Modell, wo derRand des Nasenflügels im Verhältnis zum inneren Augenwinkelliegt: Ziehen Sie eine senkrechte Linie nach unten, die parallel zurMittelachse verläuft (vgl. Abb. 149). Nehmen Sie diese Wahrneh-mung nicht zurück. Denken Sie daran, daß Nasen größer sind, alsSie glauben. Dann zeichnen Sie den Nasenflügel. Gehen Sie dabeivon den Umrissen der rings um die Nase gelegenen Räume aus.

9. Als nächstes ist der Mund an der Reihe. Taxieren Sie imVergleich mit einem anderen, bereits gezeichneten Teil, beispiels-weise mit der Länge der Nase, wie weit unten die Mittellinie desMundes liegt (die Linie zwischen den Lippen). Markieren Siediese Stelle. Schätzen Sie, wo der Mundwinkel im Verhältnis zumAuge liegt (vgl. Abb. 149). Dann betrachten Sie die Mittelliniedes Mundes, und zeichnen Sie ihre Kurve genau so ab, wie Sie siewahrnehmen. Diese Kurve ist sehr wichtig für die Wiedergabe des

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Gesichtsausdrucks. Sprechen Sie nicht mit sich selbst. Konzentrie-ren Sie sich nur auf die optischen Wahrnehmungen. Wenn Siegenau hinsehen und exakt zeichnen, was Sie sehen, dann habenSie ja schon den Ausdruck erfaßt, auf den Sie reagieren - natürlichnach Art des R-Modus, nicht mit Worten.

Fahren Sie fort, indem Sie zuerst die Mittellinie des Mundes aufder Ihnen näher gelegenen Gesichtshälfte zeichnen, dann denoberen und unteren Rand der Lippen. Vergessen Sie nicht, daßdiese Linien zart sein müssen.

Wenn Sie die andere Hälfte des Mundes zeichnen, gehen Sienach der gleichen Negativ-Technik vor, die Sie beim Zeichnen desAuges auf dieser Seite angewendet haben. Zeichnen Sie die rundumden Mund liegenden Räume ab. Achten Sie genau auf die Biegung derMittellinie in dieser hinteren Hälfte.

10. Das Ohr: Bestimmen Sie die Lage des Ohrs durch sorgfälti-ges Visieren oder regelrechtes Messen am Modell. Überzeugen Siesich davon, daß das Ohr genügend weit hinten liegt. Der Abstand zwi-schen Augenhöhe und Kinn gleicht ungefähr dem Abstand zwi-schen dem inneren Augenwinkel und dem hinteren Rand desOhrs. Dieses Verhältnis werden Sie feststellen, wenn Sie es amModell nachmessen. Achten Sie dann darauf, wo der obere Ohr-rand liegt und wo das Ohr unten endet; dann zeichnen Sie dasOhr, indem Sie von den um das Ohr liegenden Teilen des negativenRaums ausgehen.

11. Das Haar: Zeichnen Sie den Umriß des Haares nach dergleichen Methode, die Sie beim Profilzeichnen anwandten: Neh-men Sie die Stirn als negativen Raum, dessen obere Grenze derHaaransatz ist. Dann sehen Sie sich zumindest einen Teil desHaares genau an, verfolgen Sie den Verlauf der Strähnen, ihreStruktur und die dunklen Stellen, an denen das Haar sich teilt,und so weiter.

12. Hals und Kragen: Sehen Sie sich bei Ihrem Modell genauan, wo der Umriß des Halses aus dem Umriß des Kinns hervor-geht, das Sie bereits gezeichnet haben. Wie groß ist der Winkel desHalses unterm Kinn im Verhältnis zur Vertikalen? Nun zeichnenSie dementsprechend die Konturen.

Wenn Sie den Kragen oder den Rand des Kleides am Halszeichnen, gehen Sie von den angrenzenden Formen aus: vomHals, von den Flächen rings um den Kragen und unterhalbdavon. Wie bei jeder stark mit Symbolen vorbelasteten Formmüssen Sie auch diese Umrisse umgehen, um sie bewußt zu sehen.

13. Bei dieser Zeichnung würden Sie vielleicht gern ein wenigmit Schattierungen arbeiten. Sehen Sie sich die Form der Schatten

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Wir zeichnen Porträts 19

an. Vielleicht entdecken Sie zum Beispiel unter der Unterlippe,unter dem Kinn oder unter der Nase, eventuell auch neben derNase und unter dem unteren Augenlid eine Schattenform. DieseSchatten können Sie mit dem Bleistift leicht tönen, und, wenn Siewollen, den Ton mit dem Finger vorsichtig verwischen. AchtenSie darauf, daß Sie die Schattenformen genau so tönen und an-bringen, wie Sie sie sehen. Ihre Formen verdanken sie dem Kno-chenbau und dem Lichteinfall. Im nächsten Kapitel will ichIhnen die Anwendung von Licht und Schatten genauer erklären,damit Sie die dreidimensionale Wirkung in Ihren Zeichnungennoch steigern können.

Nachdem Sie all diese Weisungen gelesen haben, sind Sie genü-gend darauf vorbereitet, mit dem Zeichnen des Halbporträts zubeginnen. Lassen Sie Ihr Modell die von Ihnen gewünschte Stel-lung einnehmen, und legen Sie Ihren Zeichenblock bereit. Um-grenzen Sie den Ausschnitt. Stellen Sie sich die Formen, die Siezeichnen wollen, auf Ihrem Bogen vor. Konzentrieren Sie IhrenBlick auf den Negativraum — und schon wechseln Sie zum R-Mo-dus über.

Abb. 150: Schülerarbeit nach der Zeichnung eines altenMeisters.Sara Clippinger.

Ergänzende Übungen:ioc. Kopieren Sie eine altmeisterli-che Zeichnung von einem Kopf imHalbprofil (vgl. Abb. 150).iod. Handelt es sich dabei um denKopf einer Frau, zeichnen Sie einenweiteren Halbprofilkopf nach einemmännlichen Modell ab.10e. Stellen Sie zwei Spiegel und ein<Lampe so vor sich hin, daß Sie Ihreigenes Gesicht im Halbprofil sehen,wobei die Lampe starke Hell-Dun-kel-Kontraste auf Ihrem Gesichthervorruft. Zeichnen Sie Ihren Kopfim Halbprofil, und schattieren Sie einige der Schattenformen. SchauenSie sich die Beispiele auf den Seiten202 und 203 an.

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Wir zeichnen Porträts

Nachdem Sie fertig sind: Beobachten Sie sich selbst: Sie lehnen sichzurück und betrachten die Zeichnung auf andere Weise, als Sie eswährend der Arbeit taten. Jetzt sehen Sie Ihre Zeichnung kriti-scher, Sie analysieren sie, und vielleicht fallen Ihnen Fehler auf,diese oder jene Unterschiede zwischen Ihrer Zeichnung und demModell. So gehen auch Künstler vor. Sie schalten nach Fertigstel-lung der Zeichnung auf den L-Modus zurück, prüfen sie kritischnach den Maßstäben der linken Hemisphäre, überlegen, welcheKorrekturen notwendig sind und welche Stellen noch einmalüberarbeitet werden müssen. Wenn sie dann aufs neue den Pinseloder den Bleistift ergreifen und sich an die Arbeit machen, wech-seln sie wieder auf den R-Modus über. Dieses Hinundherschaltengeht während der Arbeit weiter - so lange, bis sie den Eindruckhaben, daß sie nichts mehr daran zu verbessern brauchen.

Vielleicht haben Sie den Wunsch, Ihre Zeichnung noch einmalzu überarbeiten. Jedoch sollten Sie immer nach dem Modellzeichnen. Wenn Sie erst einmal anfangen, eine Zeichnung zu«verbessern», ohne auf das Modell zu schauen, schlägt die Pforteder Wahrnehmung zu, und Sie könnten die Zeichnung verderben.Vor allem bei Ihren ersten Zeichnungen müssen Sie den Gegen-stand, den Sie wiedergeben wollen, vor Augen haben.

Ehe Sie mit der nächsten Übung beginnen, rekapitulieren Siebitte noch einmal die Anweisungen zum Zeichnen eines Porträtsim Halbprofil, und führen Sie die Übungen 10 c, d und e durch.

Wir zeichnen ein Gesicht von vorn

Bevor Sie anfangen: Bitte lesen Sie wieder sämtliche Anleitungen durch.Sehen Sie sich noch einmal die Proportionen der Gesichtsteile an,wie Sie sie bei einer Übung im neunten Kapitel in das leere Ovaleingezeichnet haben. Betrachten Sie darüber hinaus die Schüler-zeichnungen auf den Seiten 202 und 203.

1. Befestigen Sie Ihren Bogen auf einer harten, glatten Unter-lage, lassen Sie Ihr Modell die von Ihnen gewünschte Stellungeinnehmen, stellen Sie sich einen Wecker und so fort. Mittlerweilewerden Ihnen diese Vorbereitungen wohl reibungslos von derHand gehen.

2. Umgrenzen Sie den Ausschnitt, den Sie zeichnen wollen, undwarten Sie, bis Sie den Negativraum und den Gesamtumriß desKopfes als Formen hervortreten sehen. Stellen Sie sich diese For-men auf Ihrem leeren Blatt vor, um das kognitive Überwechselnzum R-Modus zu beschleunigen. Machen Sie wieder eine «Gei-

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Wir zeichnen Porträts

sterzeichnung», das heißt, skizzieren Sie ganz leicht vor, wohin dieeinzelnen Partien kommen und wie groß sie sein sollen.

3. Prüfen Sie die Neigung der Mittelachse, indem Sie IhrenBleistift mit ausgestrecktem Arm senkrecht halten. Deuten Sie(ganz leicht) die Augenhöhe an. Jetzt fangen Sie an zu zeichnen.Inzwischen haben Sie auf den R-Modus umgeschaltet.

4. Wo Sie beginnen, ist beliebig. Wieder will ich, um die Sachezu vereinfachen, die Anweisungen in einer bestimmten Reihen-folge geben, die Sie jedoch später nach Wunsch abändern können.

5. Zeichnen Sie die Augen ein (beachten Sie, daß der Abstandzwischen den Augen meist genau eine Augenbreite beträgt). Be-trachten und zeichnen Sie die Konturen jedes Auges genau. Oftunterscheiden sie sich voneinander. Damit Sie diese Konturenschärfer sehen können, richten Sie Ihren Blick auf die Formoberhalb des Auges (zwischen Lid und Augenbraue), und ver-wenden Sie sie als Negativraum. Beobachten Sie genau die Formder Lider und der Wimpern. Ändern Sie nichts, verbessern Sienichts — zeichnen Sie einfach das, was Sie sehen.

6. Die Nase: Betrachten Sie Ihr Modell genau, und stellen Sie sichvor, die beiden äußeren Augenwinkel seien mit der Nasenspitzedurch ein Dreieck verbunden. Dieses Dreieck hat bei jedem Modell eineandere Form. Nun stellen Sie sich das Dreieck, das Sie im GesichtIhres Modells gesehen haben, auf Ihrer Zeichnung vor, und mar-kieren Sie den Punkt, wo die Nasenspitze liegen soll. Dies ist einesehr gute R-Modus-Methode, die Länge der Nase richtig zutreffen - was für den Anfänger oft ein Problem ist. Als nächstessehen Sie sich am Modell genau an, wie breit die Nase an denNasenflügeln im Vergleich zu den inneren Augenwinkeln ist.

Beobachten Sie Licht und Schatten, wie sie entlang der Naseverlaufen. Meistens werden Sie auf der einen Seite der Nase Lichtund auf der anderen Schatten sehen. Blicken Sie genauer hin,werden Sie feststellen, daß diese Licht- und Schattenfelder einebestimmte Form haben, die vom besonderen Knochenbau derjeweiligen Nase abhängig ist. Wenn Sie nun die Umrisse desLicht- oder des Schattenfeldes abzeichnen (entweder das eine oderdas andere), haben Sie bereits die Knochenstruktur der Nasewiedergegeben. Tun Sie das — aber nur auf einer Seite der Nase,nicht auf beiden Seiten.

Die meisten Menschen haben sich sehr beharrliche Symbole fürdie Wiedergabe der Nasenflügel und -löcher bewahrt. ZeichnenSie deshalb die Formen unter den Nasenlöchern ab.

7. Der Mund: Taxieren Sie die Länge der Oberlippe, zumBeispiel im Verhältnis zur Nasenlänge. Zeichnen Sie zuerst die

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Wir zeichnen Porträts

Mittellinie des Mundes, und achten Sie darauf, daß diese Linie imrechten Winkel zur Mittelachse des Kopfes steht. Es kann leichtgeschehen, daß man den Mund schief zeichnet, was den Gesichts-ausdruck stark verändern würde. Achten Sie besonders sorgfältigauf Lage und Form der Mundwinkel, da diese in besonderer,subtiler Weise den Gesichtsausdruck mit bestimmen. Dann zeich-nen Sie die äußeren Ränder der Lippenbögen ein. Die Unterlippewird sich vielleicht nur durch den Schatten unter der Lippe abhe-ben. Betrachten Sie Ihr Modell sehr genau. Harte Linien um dieMundwinkel sind meist auf ungenaue Beobachtung oder auf dasEindringen eines Symbols zurückzuführen. Wie bereits erwähnt,haben die Lippenränder in Wirklichkeit keine scharfe Kontur; sieentsteht lediglich durch den Farbunterschied der Haut.

8. Der Oberschädel: Messen Sie am Modell den Abstand zwi-schen Augenhöhe und dem oberen Rand des Haares im Vergleichzum Abstand zwischen Augenhöhe und Kinn. Markieren Sie sichauf dem Papier, wo der am weitesten außen liegende Kontur-linienabschnitt des Kopfes verlaufen soll. Dadurch wird es Ihnenleichter fallen, die Umrisse des Gesichts richtig darzustellen.

9. Das Gesicht: Achten Sie auf den Abstand zwischen einzelnenGesichtszügen und dem Umriß des Gesichts, wie es sich Ihnenzeigt. In welchem Verhältnis steht jeder dieser Abstände zu ande-ren, von Ihnen bereits gezeichneten Breiten, zum Beispiel derBreite des Auges, der Nase oder des Mundes? Wie lang ist dasKinn im Verhältnis zur Nase? Geben Sie auch den Umriß desGesichts nach dem Verfahren des modifizierten Konturenzeich-nens wieder.

10. Das Haar: Wieder sehen Sie sich den äußeren Umriß desHaars sowie dessen innere Randlinie, die es gemeinsam mit demGesicht bildet, genau an. Achten Sie auf den Fall des Haares, aufdie Stellen, wo sich Strähnen teilen und dunklere Töne zumVorschein kommen. Beachten und zeichnen Sie die Details - ob esgewellt ist oder glatt, auf welche Weise es um Stirn und Schläfenliegt. Versorgen Sie Ihren «Betrachter» mit genügend Informatio-nen über das Haar, so daß er wirklich weiß, wie es aussieht.Umgehen Sie Ihre Haar-Symbole, indem Sie sich beim Zeichnenin diesen oder jenen komplizierten Teil des Haares vertiefen.Bemühen Sie sich darum, das Haar im gleichen Stil, mit demgleichen Strich darzustellen, dessen Sie sich bei der Wiedergabeder Gesichtszüge bedienten. Die Eigenart der Linie, die Tönungund die Detailtreue sollten der Darstellung der Züge entsprechen.Wenn Sie das Gesicht zum Beispiel mit harten, kräftigen Strichengezeichnet haben, sollten Sie auch die Konturen der Haarpartie

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Wir zeichnen Porträts

auf diese Weise wiedergeben. So wird aus Gesicht und Haar eineEinheit. Wenn Sie das Gesicht mit kräftigen Linien, das Haarhingegen nur skizzenhaft mit leichtem Strich wiedergeben, wirdIhre Zeichnung optisch auseinanderfallen.

11. Hals, Kragen und Schultern: Prüfen Sie die Breite desHalses im Verhältnis zur Breite des Gesichts. Messen Sie beidesnach, damit der Hals nicht zu dünn wird. Benutzen Sie beimZeichnen des Kragens die ihn umgebenden Teile des negativenRaums (zeichnen Sie also die Räume unter und um den Kragen).Vergewissern Sie sich, daß die Schultern breit genug sind. Zuschmale Schultern sind ein typischer Anfängerfehler. ÜberprüfenSie den leeren Raum oberhalb der Schulter, und fragen Sie sichdabei stets: «Wo liegt die Schulterkuppe im Vergleich zum un-teren Rand des Gesichts?»

12. Vervollständigen Sie diese Zeichnung mit all ihren schönen,vielfältigen Konturen nach Belieben, indem Sie die Schattenpar-tien, die Sie als Formen sehen, schattieren.

Nachdem Sie nun mit so viel Sorgfalt die Gesichter andererMenschen beobachtet haben, werden Sie gewiß verstehen, wasgemeint ist, wenn Künstler behaupten, daß ein jedes menschlicheGesicht seine eigene Schönheit habe.

Schülerzeichnungen: Gesichter von vorn

Wenn Sie jetzt die Schülerzeichnungen auf den folgenden Seitenbetrachten, versuchen Sie nachzuvollziehen, auf welche Weisejeder der Zeichner vorgegangen ist. Messen Sie alle Längen,Breiten usw. nach. Das ist ein gutes Training für Ihre zeichneri-schen Fähigkeiten und für Ihre Augen.

Ergänzende Übungen:Sehen Sie sich die folgenden Porträund Kopien von Schülern als Bei-spiele an.10f. Suchen Sie sich ein En-face-Porträt eines alten Meisters aus.Ko-pieren Sie diese Zeichnung; es wirdIhr Gefühl für Proportionen und fiden negativen Raum verfeinern.Denken Sie beim Kopieren daran,daß schon eine minimale Abweichtvon den Längen oder von der Ricrtung einer Linie oder einer Form dGesichtsausdruck verändern kann.Überprüfen Sie die gesamten Proptionen, indem Sie Ihre Zeichnungdem Bleistift Stück für Stück nachmsen. Wenn es Ihnen notwendig er-scheint, drehen Sie die Zeichnungden Kopf, dann sehen Sie die Ver-hältnisse deutlicher,log. Stellte die En-face-Zeichnungdie Sie kopiert haben, eine Frau d;suchen Sie sich nun ein männlicheModell. Zeichnen Sie es von vorn,diesmal mit einem Hut auf demKopf. Wenn Sie das Bildnis einesMannes kopiert haben, suchen Siesich eine Frau, die Ihnen Modell s:ioh. Zeichnen Sie ein Selbstbildnivor dem Spiegel, wobei Sie Ihr Gesieht von der Seite mit einer Lampanleuchten. Betrachten Sie dieUmrisse der Schatten auf IhremGesicht

Zeichnen Sie weitere Porträts

Führen Sie die Übungen 10 f, g und h durch, bevor Sie zumnächsten Kapitel übergehen. Mit ihrer Hilfe werden Sie IhreWahrnehmungsfähigkeit noch mehr entfalten.

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Wir zeichnen Portrats

Georgette ZuleskiBeispiel für Übung 10 f

Kimberly LeymanBeispiel für Übung 10 e

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Wir zeichnen Porträts

Dolores Stewart Urba Dean Bury

M. ShoursBeispiel für Übung 10g

Bob JeanBeispiel für Übung 10h

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11Vorstoßin die dritte Dimension:Wir sehen Lichtund zeichnen Schatten

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Wir sehen Licht und zeichnen Schatten

Abb. 151: Skala derTonwerte.

Eines der ersehntesten Ziele von Zeichenschülern ist die Fähig-keit, Dingen durch das sogenannte «Schattieren» ein dreidimen-sionales Aussehen zu verleihen. Beim Schattieren geht man vonder Wahrnehmung der unterschiedlichen Tonwerte zwischenHell und Dunkel aus. Diese Tonabstufungen werden Valeurs ge-nannt. Die Skala der Tonwerte erstreckt sich vom reinen Weiß biszum reinen Schwarz über buchstäblich Tausende von feinstenAbstufungen. Die Abbildung 151 zeigt eine sehr grobe Skala miteiner kleinen Auswahl der möglichen Tonwerte.

Bei einer Bleistiftzeichnung wird der hellste Ton das Weiß desPapiers sein. Der dunkelste Ton dagegen wird sich an der Stelleergeben, wo viele Lagen von Strichen übereinander die größteAnnäherung ans Schwarz erzeugen, die man mit einem Bleistifterreichen kann. Die Zwischentöne entstehen durch Anwendungverschiedener Methoden: durch mehr oder weniger kräftigesSchraffieren, durch Kreuzschraffur usw. In diesem Kapitel werdeich Ihnen zunächst zeigen, wie man Schatten sieht, und dann kurzeinige Methoden des Schattierens beschreiben.

Die Rolle der rechten Gehirnhälftebei der Wahrnehmung von Schatten

Wenn Licht auf einen Gegenstand fällt, enthüllt sich uns dessenForm: Mittels der verschiedenen Abstufungen zwischen Licht undSchatten nehmen wir die Form dreidimensional, plastisch wahr.Doch obwohl wir die Hell-Dunkel-Valeurs benutzen, um Gegen-stände zu deuten und zu erkennen, widmen wir den Umrissen undFormen der Licht- und Schattenflächen seltsamerweise nur ge-ringe Aufmerksamkeit. Sie scheinen von der linken Hemisphäreauf die gleiche Weise ignoriert oder abgelehnt zu werden, wie dieauf den Kopf gestellten Bilder und der leere Raum. Die linkeGehirnhälfte kann mit Schatten nichts anfangen — es sei denn, sievermitteln ihr Informationen über jene dreidimensionalen Ge-genstände, die sie zu benennen vermag.

Doch Licht- und Schattenfelder können ebenso als Formengesehen werden wie der leere Raum, wenn wir genauso vorgehen,wie wir es beim negativen Raum getan haben. Ich möchte Siedeshalb bitten, sich zunächst einmal einen Schatten sehr intensivanzuschauen (zum Beispiel den Schatten auf dem Gesicht desMalers Johann Heinrich Füßli, Abb. 152). Warten wir einenAugenblick, bis die linke Gehirnhälfte das Bild abgesucht hat — siewird nicht erkennen, was es darstellen soll, und die Aufgabe

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Abb. 152: (Selbstbildnis} von Johann Heinrich Füßli (1741-1825). Mit freund-licher Genehmigung des Victoria and Albert Museum, London.

deshalb an die rechte Gehirnhälfte weitergeben —, dann wird derSchatten als Form vor Ihren Augen erscheinen. Diese Form kön-nen Sie zeichnen oder malen, und sie wird auf den Betrachtergenauso wirken wie der Schatten in der realen Welt: Sie wird überden Umriß einer dreidimensionalen Form Aufschluß geben, hierzum Beispiel über den Umriß von Füßlis Nase und die Form seinerlinken Wange. (Wenn Sie das Buch auf den Kopf stellen und denSchatten auf Füßlis Gesicht betrachten, ist es ganz leicht, ihn alsForm zu sehen.)

Wir sehen Licht und zeichnen Schatten

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Wir sehen Licht und zeichnen Schatten

Abb. 153

«Jener Bruchteil einer Sekunde, indem sich Vertrautes schlagartig in et-was ganz und gar Neues, von einerverwirrend fremden Aura umgeben,verwandelt, ist einer der beglückend-sten Augenblicke des Lebens . . . Sol-che Durchbrüche ereignen sich zu sel-ten, sind eher die Ausnahme als dieRegel, denn die meiste Zeit steckenwir tief im Weltlichen und Trivialen.Schockierend ist, daß gerade diesesWeltliche und Triviale der Stoff ist,aus dem die Träume sind. Der Unter-schied besteht allein in der Perspek-tive, in unserer Bereitschaft, die Teileauf vollkommen neue Weise zusam-menzufügen und dort, wo einen Au-genblick zuvor nichts als Schatten zusein schienen, nun bedeutungsvolleMuster zu sehen.»

Edward B. Lindaman< Thinking in Future Tense>

Lassen Sie mich diesen Punkt noch etwas genauer darstellen,indem ich ihn auf eine andere Weise erkläre: Der Schatten aufFüßlis Gesicht verdankt seinen Umriß der Form von Nase undWange. Wenn Sie also den Schatten richtig abzeichnen, geben Siedamit zugleich auch die genaue Form der Nase und der mit derHand hochgeschobenen Wange wieder. Wollen Sie Ihre Zeich-nung tönen (schattieren), müssen Sie den Schatten richtig sehenund zeichnen und innerhalb der Schattenformen noch die relativenTonwerte ermitteln: welche Schattenteile am dunkelsten und wel-che am hellsten sind, und welche mittlere Töne aufweisen.

Dieses besondere Sehvermögen werden Sie leicht erwerben,wenn Sie erst einmal in der Lage sind, zur Sehweise des Künstlersüberzuwechseln. Neuere Forschungen lassen erkennen, daß dierechte Hemisphäre nicht nur auf die Wahrnehmung der Formeneinzelner Schatten «spezialisiert» ist, sondern auch auf die Erfas-sung von zusammenhängenden Schattenpartien. Patienten mitGehirnschäden an der rechten Hemisphäre hatten oft großeSchwierigkeiten, einen Zusammenhang zwischen den komplexen,bruchstückhaften Schattenpartien (vgl. Abb. 153) zu erkennen.

Wie gelangt die rechte Hemisphäre zu der schlagartigen Ein-sicht, die zum Erkennen der Bedeutung dieses Musters aus Licht-und Schattenflächen notwendig ist? Offenbar erfaßt sie die Bezie-hungen der sich zu einem Ganzen fügenden Formen. Sie läßt sichdurch fehlende Einzelheiten nicht abschrecken, sich trotz allerUnvollständigkeit «ein Bild zu machen».

Licht und Schatten - ein Gesicht

Wir wollen nun einen Versuch unternehmen. Wenn jemand be-reit ist, Ihnen Modell zu sitzen, so lassen Sie ihn eine ungezwun-gene Haltung einnehmen und stellen Sie eine Lampe neben ihn,so daß sein Gesicht hell von der Seite angeleuchtet wird und aufder unbeleuchteten Gesichtshälfte scharf abgegrenzte, dunkle

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Wir sehen Licht und zeichnen Schatten

Schatten entstehen. Wenn Sie kein Modell zur Verfügung haben,können Sie sich auch selbst im Spiegel abzeichnen oder auch eineFotografie, auf der ein stark von der Seite angestrahltes Gesicht zusehen ist.

Für die folgende Übung brauchen Sie einen Aquarellpinsel undein Fläschchen schwarze Ausziehtusche. Beides können Sie imBastelladen, im Papiergeschäft oder im Warenhaus kaufen.

Bevor Sie anfangen: Lesen Sie alle Anleitungen genau durch. SorgenSie dafür, daß Sie reichlich Zeit zur Verfügung haben, in der Sieniemand stört.

Auch hier werde ich die Formen wieder benennen. Wenn Siejedoch die Schattenformen malen - in der folgenden Übung undbei allen späteren Versuchen -, achten Sie darauf, daß Sie nichtüber die einzelnen Teile des Gesichts (Nase, Lippen usw.) nach-denken und sie dabei mit den geläufigen Bezeichnungen versehen.

1. Die angeleuchteten hellen Teile des Kopfes brauchen Sienicht zu zeichnen. Sie werden durch das Weiß Ihres Zeichen-papiers dargestellt. Die Schattenformen werden Sie mit Ihrerschwarzen Tusche oder Tinte malen. Es stehen Ihnen nur diebeiden Tonwerte Weiß und Schwarz zur Verfügung. Sie sollen aufalle Zwischentöne verzichten. Die Übung soll Sie dazu befähigen,Schattenformen zu erkennen.

2. Richten Sie Ihren Blick auf einen Schatten, vielleicht auf denSeitenschatten der Nase. Warten Sie, bis Sie ihn als Form sehenkönnen. Wenn Sie sich über die Form des Schattens klargewordensind, malen Sie sie mit Tusche und Pinsel. (Vgl. Abb. 154 - so zumBeispiel könnte eine solche Form aussehen.)

3. Richten Sie Ihren Blick auf den nächsten Schatten, etwa aufden Schatten unter der Oberlippe. Malen Sie diesen Schatten.

4. Richten Sie Ihren Blick auf den nächsten Schatten, zumBeispiel auf den unter der Unterlippe liegenden. Achten Sie aufseine Beziehungen zu den Formen, die Sie bereits gemalt haben.Malen Sie auch diesen Schatten ab (vgl. Abb. 155).

Abb. 155

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Wir sehen Licht und zeichnen Schatten

5. Da die eine Hälfte des Gesichts vollkommen im Schattenliegt, malen Sie diese große Form genauso ab, wie Sie sie sehen(vgl. Abb. 156).

6. Richten Sie Ihren Blick auf die kleinen Schatten auf derbeleuchteten Seite des Gesichts, und warten Sie, bis Sie diese alsFormen sehen. Dann malen Sie diese ab, und achten Sie dabei aufdie Größenverhältnisse zu den zuvor dargestellten Formen.

7. Betrachten Sie die Schattenformen auf der beleuchteten Seitedes Hutes. Malen Sie diese Schatten, wie Sie sie sehen - in ihrenvielfältigen Umrissen. Vermeiden Sie symbolische Formen — se-hen Sie sich die Schattenformen genau an (vgl. Abb. 157).

8. Führen Sie Ihre Tuschzeichnung zu Ende. Den leeren Raumhinter dem Kopf können Sie mit schwarzer Farbe ausmalen - Siekönnen ihn aber auch so weiß lassen, wie er ist (vgl. Abb. 158).

Abb. i58Abb. 759: (Selbstbildnis) (1634) von Rembrandt van Rijn. Mit freundlicher Ge-nehmigung des Kaiser-Friedrich-Museums, Berlin.

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Wir sehen Licht und zeichnen Schatten

Nachdem Sie fertig sind: Vielleicht waren Sie überrascht, als sichIhre Tuschzeichnung plötzlich für Sie zu einem Gesicht verdichtete.Vielleicht ist Ihnen in diesem Moment die dreidimensionale Wir-kung Ihrer Zeichnung mit einem Schlag bewußt geworden. Die-ser Vorgang scheint sich folgendermaßen abzuspielen: Sie maleneine Reihe von Formen, die anscheinend keinen Zusammenhanghaben — dann plötzlich «springt» Ihnen das Bild entgegen, undder Gedanke «Das klappt!» durchfährt Sie. Wenn Sie dies bei derersten Tuschzeichnung nicht erlebt haben, dann versuchen Sie esnoch einmal. Sie können auch das Bild eines alten Meisters, zumBeispiel Rembrandts (Selbstbildnis) (Abb. 159), kopieren —das hatsich als eine gute Möglichkeit erwiesen, sich in das Schattenmalenhineinzufinden. Leistet Ihre linke Hemisphäre immer noch Wi-derstand, stellen Sie die Abbildung des Rembrandt-Gemäldes aufden Kopf, und kopieren Sie sie aus dieser Sicht, ebenfalls mitPinsel und Tusche. Das Arbeiten mit Tusche ist besonders geeig-net, um Schatten sehen zu lernen. Da Sie hier nicht radierenkönnen, müssen Sie sich die Schattenform besonders gut einprä-gen, ehe Sie den Pinsel aufs Papier setzen.

Wir zeichnen zarte Schatten: Das Schraffieren

Wenn Sie das Gefühl haben, daß Sie die Schattenformen durch dasMalen mit Tusche zu sehen gelernt haben, dann können Sie nebenWeiß und Schwarz noch andere Tonwerte, nämlich auch graueZwischentöne, benutzen. Dazu steht Ihnen eine Reihe von Tech-niken und Mittel zur Verfügung, vor allem die Kreuzschraffur, diesich als eine der besten Möglichkeiten zur Darstellung zartererSchatten erwiesen hat. In diese Grundtechnik werde ich Sie hierkurz einführen. Da man auf verschiedenste Weise schraffierenkann, werden Sie bald Ihren eigenen Stil entwickeln, so wie Sieauch einen eigenen Stil im Umgang mit Linien gefunden haben.

1. Die sogenannte Kreuzschraffur kommt durch kurze,schnelle, parallele Striche zustande, über die - in der Richtungum einige Grade verändert - eine weitere Schicht von Strichengezeichnet wird. Man kann mehrere solcher Schichten überein-ander legen, je nachdem, wie dunkel die Tönung sein soll. FangenSie zunächst mit einer einfachen Schraffur an (vgl. Abb. 160).

2. Zeichnen Sie mit schnellen Handbewegungen über dieseeinfache Schraffur eine zweite Schicht von parallelen Strichen(vgl. Abb. 161). Ihre Richtung soll nur geringfügig von der derersten Striche abweichen.

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212 Wir sehen Licht und zeichnen Schatten

Abb. 160 Abb. 161

Ergänzende Übungen

11a. Kopieren Sie mit Zeichenkohleoder Bleistift das Selbstporträt vonKäthe Kollwitz (Abb. 165). AchtenSie auf die komplexen Schattenfor-men, die das Auge umgeben. Verges-sen Sie nicht, sich das Dreieck vorzu-stellen, damit Sie das Ohr an die rich-tige Stelle setzen.11b. Kopieren Sie mit Tusche undPinsel das Selbstbildnis von Rem-brandt (Abb. 159).11c. Schauen Sie sich genau an, aufwelche Weise Morandi in seinem Still-leben (Abb. 163) Kreuzschraffurenverwendet hat. Bauen Sie sich selbstein Stilleben auf. Beleuchten Sie es miteiner Lampe von der Seite, zeichnenSie und entwickeln Sie beim Schraffie-ren Ihren eigenen linearen Stil.11d. Zeichnen Sie mit dem Bleistifteine Papiertüte ab (vgl. als BeispielAbb. 164).

Abb. 162

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Wir sehen Licht und zeichnen Schatten

Abb. 163: (Großes Stilleben mit Kaffeekanne) (1934) von Giorgio Morandi. Mitfreundlicher Genehmigung des Fogg Art Museum, Harvard University.

3. Nehmen Sie mit Ihrer Hand eine andere Haltung ein, undsetzen Sie noch eine dritte Lage, wiederum in einer anderenRichtung, darüber.

4. Zeichnen Sie immer weitere Lagen solcher paralleler Linienübereinander, achten Sie darauf, wie der Farbton an bestimmtenStellen immer dunkler wird. Schaffen Sie, wenn nötig, durchzusätzliche Striche sanfte Übergänge zwischen helleren unddunkleren Partien. (Vgl. Abb. 162 - ein Beispiel für die Anwen-dung der Kreuzschraffur beim «Schattieren» einer Kugel.) WieSie sehen, kann man mit der Kreuzschraffur eine lebendige Ober-flächenwirkung und den Eindruck von Licht und Luft um dieKugel herum erzielen.

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Wir sehen Licht und zeichnen Schatten

11e. Zeichnen Sie mit Kohle ein Por-trät (vgl. als Beispiele Abb. 165 und166).11f. Schwärzen Sie einen Bogen Zei-chenpapier in gleichmäßigem Tonmit Kohle. Zeichnen Sie ein Selbst-porträt mit dem Radiergummi, mitdem Sie die beleuchteten Partien Ih-res Gesichts freilegen.11g. Verdünnen Sie schwarze Tu-sche mit etwas Wasser, und malen Sieein Porträt, das ein Licht-und-Schatten-Muster zeigt (vgl. Abb.168).

Ausblick

Dies war nur eine kurze Einführung in die Freuden des Zeichnensvon Licht und Schatten. Die zusätzlichen Übungen 11 a bis 11 gsind dazu gedacht, Ihre Geschicklichkeit und Ihren Blick für dieMöglichkeiten der räumlichen Darstellung mit Hilfe des Lichteszu fördern. Ein Ziel Ihrer künftigen Entwicklung zeichnet sich amHorizont ab: Diese Tuschübungen waren der erste Schritt zurMalerei und in die phantastische Welt der Farbe. Ihre Reise hatalso gerade erst begonnen.

Abb. 165: <Selbstbildnis im Profil)von Käthe Kollwitz (1867-1945).Mit freundlicher Genehmigung desFogg Art Museum.

Abb. 166 Tom Nelson

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Wir sehen Licht und zeichnen Schatten

Abb. 167 Ly ChenSreng

Abb. 168 G. Smith

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12Das Zen des Zeichnens:Der Künstlerin uns erwacht

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Das Zen des Zeichnens

Am Anfang dieses Buches habe ich geschrieben, daß das Zeichneneinem magischen Kunststück gleiche: Ist Ihr Gehirn des ständigenGeschwätzes und Geplappers überdrüssig, können Sie sich mitHilfe des Zeichnens in einen Zustand der Ruhe, des Schweigensversetzen und dabei einen flüchtigen Blick in die jenseits derBegriffswelt liegende Realität werfen. Ihre optischen Wahrneh-mungen strömen blitzschnell und ohne Umwege von der Netz-haut in die Hirn-Hemisphären und von dort über die Nervenbah-nen in die Hand- und Fingermuskulatur, wo sie, umgeformt infeinste Bewegungen, wie durch Zauber ein gewöhnliches BlattPapier in ein Bild verwandeln. Dieses Bild ist Ihr Bild. Es spiegeltdie nur Ihnen allein eigene, besondere, persönliche Art der Wahr-nehmung und des Umsetzens der Wahrnehmungen wider. DurchIhre aufs Zeichenpapier gebannte Vision hindurch erkennt derBetrachter - Sie.

Darüber hinaus können auch Sie selbst sich in Ihren Zeichnun-gen erkennen. Facetten Ihrer Persönlichkeit entdecken, die Ihnenvielleicht bislang durch Ihr sprachliches Selbst verborgen geblie-ben waren. Ihre Zeichnungen können auch Ihnen offenbaren, wieSie die Dinge sehen und empfinden. Zuerst zeichnen Sie nach demR-Modus. Sie widmen sich dieser Tätigkeit, ohne zu sprechen,ohne in Worten zu denken. Schalten Sie dann wieder auf Ihrensprachlichen Modus zurück, können Sie Ihre Gefühle und Wahr-nehmungen mit Hilfe der mächtigen Fähigkeiten Ihres linkenHirns interpretieren - Sie denken über das Geschaffene nach,gehen dabei nach den Gesetzen der Logik vor und drücken IhreGedanken in Worten aus. Ist die Bildstruktur unvollständig undWorten und rationalem Denken nicht zugänglich, schalten Sieauf den R-Modus zurück — das intuitive, analogische Erfassen desBildganzen kann zur Lösung des Problems führen. Die Hemisphä-ren haben unbegrenzte Möglichkeiten der kooperativen Zusam-menarbeit.

Die in diesem Buch beschriebenen Übungen sind natürlich nurdie allerersten Schritte auf dem Weg zu einem fernen Ziel — beideArten des Denkens kennenzulernen und ihre Kräfte zu nutzen.Nachdem Sie nun sich selbst in Ihren Zeichnungen entdeckthaben, können Sie Ihre Reise zu dem genannten Ziel allein fort-setzen.

Haben Sie einmal den Anfang gemacht, treibt Sie stets dasGefühl voran, daß Ihre nächste Zeichnung besser sein wird — daßSie wahrhaftiger sehen, das Wesen der Wirklichkeit tiefer erfassen,dem Unaussprechlichen mehr Ausdruck verleihen und das Ge-heimnis jenseits des Geheimnisses entdecken werden. Das Zeich-

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Das Zen des Zeichnens 219

nenlernen, schreibt der große japanische Künstler Hokusai, ist einVoranschreiten ohne Ende.

Nachdem Sie zu der neuen Sehweise übergewechselt sind, ent-decken Sie nun vielleicht, daß Sie das Wesen der Dinge erblickenund damit über eine Form des Erkennens verfügen, die im Zen-Buddhismus «Satori» genannt wird. (Das Zitat aus einem AufsatzSuzukis soll diesen Begriff ein wenig erläutern.) Während sich IhrWahrnehmungsvermögen entfaltet, entdecken Sie neue Wege zurLösung von Problemen, korrigieren altgewohnte Fehlwahrneh-mungen und befreien sich Schicht für Schicht von den Stereoty-pen, die Ihnen die Wirklichkeit verschleiern und Sie am bewußtenSehen hindern.

Da Ihnen nun die Kräfte beider Gehirnhälften und die zahllo-sen Schaltmöglichkeiten zwischen ihren Funktionsbereichen zurVerfügung stehen, sind alle Wege für Sie frei, eine immer umfas-sender werdende Wahrnehmungsbewußtheit zu erlangen, durchdie Sie jene verbalen Prozesse unter Kontrolle zu bringen vermö-gen, die zu Störungen des Denkens, ja sogar zu körperlichenErkrankungen führen können. Das logische, systematische Den-ken ist sicherlich eine entscheidende Voraussetzung für das Über-leben jedes einzelnen in unserer Kultur. Doch damit unsere Kulturüberlebt, ist es unbedingt notwendig zu wissen, wie unser Gehirnauf unser Verhalten einwirkt.

Dieser Frage können Sie nachgehen, indem Sie in sich selbsthineinschauen. So werden Sie zum «Beobachter» und wenigstensbis zu einem gewissen Grade verstehen, wie Ihr Gehirn funktio-niert. Wenn Sie Ihrem eigenen Gehirn bei der Arbeit zuschauenkönnen, werden sich Ihre Wahrnehmungsfähigkeiten erheblicherweitern. Sie werden die Kräfte beider Gehirnhälften zu nutzenverstehen. Es stehen Ihnen nun zwei verschiedene Wege zurVerfügung, mit einem Problem fertig zu werden: zum einen dasabstrakte, sprachliche, analytische Denken, zum andern dasganzheitliche, intuitive Erfassen, das ohne das Hilfsmittel derSprache auskommt.

Nutzen Sie diese zweifache Fähigkeit. Zeichnen Sie alles, wasIhnen in den Blick gerät. Kein Sujet ist zu schwer oder zu leicht;jedes ist so schön, daß es sich lohnt, es zu zeichnen. Alles kannIhnen als Gegenstand dienen: ein paar Quadratmeter Unkraut,ein zerbrochenes Glas, die Weite einer Landschaft, ein Mensch.

Versuchen Sie, immer etwas dazuzulernen. Die Werke großerMeister der Vergangenheit und der Gegenwart sind Ihnen jeder-zeit und zu erschwinglichen Preisen in Drucken und Kunstbü-chern zugänglich. Studieren Sie diese Bilder. Kopieren Sie nicht

«Vom sechsten Lebensjahr an warich darauf versessen, die Formen derDinge zu zeichnen. Mit fünfzig hatteich unzählige Zeichnungen veröf-fentlicht; dennoch war das, was ichvor meinem siebzigsten Jahr hervor-gebracht habe, nicht der Rede wert.Mit dreiundsiebzig hatte ich ein we-nig vom wahren Gefüge der Natur,der Tiere, Pflanzen, Vögel, Fische undInsekten begriffen. So werde ich mitachtzig ein Stück vorangekommensein. Mit neunzig werde ich in dasGeheimnis der Dinge eindringen. Mithundert werde ich eine wunderbareStufe erreicht haben; und bin ich ersthundertundzehn geworden, wird al-les, was ich mache, Punkt oder Strich,voll Leben sein.»- «Dies schrieb ich mit fünfundsieb-zig Jahren - ich, Hokusai, heuteOwakio Rojin, ein alter Mann, vomZeichnen besessen.»

«Charakteristisch für bedeutendeZeichner ist die uneingeschränkte Ak-zeptierung des eigenen Stils. Es ist, alssage die Zeichnung dem Künstler:<Da bin ich.>»Nathan Goldstein<The Art of Responsive Drawing>

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Das Zen des Zeichnens

den Stil ihrer Schöpfer, sondern lesen Sie in ihren Gedanken. LernenSie von ihnen, die Schönheit des Gegenständlichen neu zu sehen.Lassen Sie sich von ihnen zeigen, wie man neue Formen erfindetund sich neue Sehweisen erschließt.

Beobachten Sie, wie sich Ihr Stil entwickelt. Bewahren undpflegen Sie ihn. Schaffen Sie sich Zeit zum Üben, damit sich IhrStil, seiner selbst sicher, herausbilden kann. Wenn Ihnen eineZeichnung mal nicht gelingt, brauchen Sie sich nicht zu beunru-higen. Hören Sie eine Zeitlang mit Ihren endlosen Selbstgesprä-chen auf. Denken Sie daran: Alles, was Sie zu sehen brauchen,liegt vor Ihren Augen.

Lassen Sie keinen Tag vergehen, ohne etwas zu zeichnen. War-ten Sie nicht auf Inspirationen. Gehen Sie so vor, wie Sie es indiesem Buch gelernt haben: Treffen Sie Ihre Vorbereitungen, undstellen Sie sich auf das Zeichnen ein. So wird Ihnen der Übergangin den anderen Zustand zu einer gewohnten, leichten Übung.Durch stetiges Training wird Ihnen dieses Umschalten zuneh-mend leichterfallen. Wenn Sie es jedoch vernachlässigen, werdenSie die freigelegten Wege erneut blockieren.

Bringen Sie auch anderen das Zeichnen bei. Ein Rückblick aufdie einzelnen Lernschritte wird für Sie von unschätzbarem Wertsein. Indem Sie sie weitervermitteln, werden Sie nicht nur Ihreigenes Verständnis von der Zeichenkunst vertiefen, sondern zu-gleich auch anderen Menschen neue Möglichkeiten erschließen.

Entwickeln Sie Ihre Vorstellungskraft, Ihre Imagination — IhreFähigkeit, mit dem geistigen Auge zu sehen. Was auch immer Siezeichnen, es wird sich tief in Ihr Gedächtnis eingraben. Lassen Siediese Bilder noch einmal erscheinen — stellen Sie sich die vonIhnen kopierten Zeichnungen alter Meister vor, die Gesichter vonFreunden, die Sie porträtiert haben. Stellen Sie sich auch Szenenund Dinge vor, die Sie in Wirklichkeit nie gesehen haben, undzeichnen Sie, was Sie mit Ihrem geistigen Auge sehen. Das Zeich-nen wird dem Vorstellungsbild Eigenleben und Realität verlei-hen.

Benutzen Sie Ihre Vorstellungskraft zur Lösung von Proble-men. Betrachten Sie sie von mehreren Seiten, aus verschiedenenPerspektiven. Sehen Sie sich jeden einzelnen Problemfaktor imHinblick auf seinen Anteil am Gesamtproblem an. BeauftragenSie Ihr Gehirn, sich mit dem Problem zu befassen, während Sieschlafen oder Spazierengehen - oder zeichnen. Prüfen Sie dasProblem mit dem Blick eines Forschers, damit Sie es in allen seinenFacetten sehen. Stellen Sie sich Dutzende von Lösungen vor, ohnezu werten oder zu verwerfen. Spielen Sie mit den Problemen

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Das Zen des Zeichnens

unverkrampft und doch ernsthaft. Hören Sie dabei auf Ihre Intui-tion. Höchstwahrscheinlich wird die Lösung plötzlich von selbstauftauchen — in einem Augenblick, wo Sie es am wenigsten erwar-ten.

Während Sie sich der Kräfte Ihrer rechten Gehirnhälfte bedie-nen, entfalten Sie Ihre Fähigkeit, immer tiefer in das Wesen derDinge vorzudringen. Wenn Sie Menschen und Gegenstände inIhrer Umgebung betrachten, stellen Sie sich vor, daß Sie siezeichnen. Dann werden Sie plötzlich anders sehen — mit wachenAugen, mit dem Blick des Künstlers in Ihnen.

«Ein Mönch fragte seinen Meistei<Was ist das, mein Selbst?) Der Meantwortete: (Tief in deinem Selbstetwas verborgen, mit dessen verbcgenem Tun du dich vertraut maclmußt.> Darauf bat der Mönch, ermöge ihm sagen, was das für ein vborgenes Tun sei. Der Meister öff-nete nur die Augen und schloß siewieder.»Frederick Franck< The Zen of Seeing>

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Postskriptum

Für Eltern und LehrerDa ich nicht nur Lehrerin, sondern auch Mutterbin, war ich selbst stark daran interessiert, neueUnterrichtsmethoden zu finden. Wie den mei-sten Eltern und Pädagogen wurde auch mir(bisweilen schmerzlich) bewußt, daß dem Un-terricht an unseren Schulen recht verschwom-mene Konzepte zugrunde liegen, ja daß er mehroder weniger auf gut Glück geplant und durch-geführt wird. Die Schüler lernen nicht, was wirsie zu lehren glauben, und das, was sie wirklichlernen, entspricht nur allzuoft ganz und garnicht den von uns für gut befundenen und ange-strebten Unterrichtszielen.

Ein Beispiel dafür, wie schwer es ist, einemSchüler klarzumachen, was er eigentlich lernensoll, ist mir deutlich in Erinnerung geblieben.Vielleicht haben Sie selbst ähnliche Erfahrun-gen mit Schülern oder mit eigenen Kindern ge-macht. Vor Jahren war ich einmal bei einerFreundin zu Besuch, als ihr Junge aus der Schulenach Hause kam — voller Freude darüber, daß eretwas Neues gelernt hatte. Er war im erstenSchuljahr, und die Lehrerin hatte gerade mitdem Unterricht im Lesen angefangen. DerJunge verkündete, er habe ein neues Wort ge-lernt. «Großartig», sagte seine Mutter. «Wieheißt denn das Wort?» Das Kind dachte einenAugenblick nach und meinte dann: «Ich werdees dir aufschreiben.» Auf eine kleine Tafelschrieb er sorgfältig in Druckbuchstaben dasWort HAUS. «Sehr schön, mein Junge», sagtedie Mutter. «Und was heißt das?» Er sah auf dasWort, dann blickte er seine Mutter an und gabzur Antwort: «Das weiß ich nicht.»

Offenbar hatte das Kind gelernt, wie dasWort aussah ~ die mit den Augen wahrnehm-bare, schriftliche Form des Wortes hatte sichihm eingeprägt. Der Lehrerin war es jedoch umeinen anderen Aspekt des Lesens gegangen — umdas, was Wörter bedeuten, wofür sie stehen, was

sie symbolisieren. Wie so oft wichen Lernzielund Lernergebnis — das, was ein Lehrer vermit-teln will, und das, was beim Schüler «ankommt»- weit voneinander ab.

Im Laufe der Zeit stellte sich heraus, daß derSohn meiner Freundin in allen Bereichen besserund schneller über visuelle Vermittlungswegelernen konnte. Das trifft auf viele Kinder zu.Leider ist das Bildungssystem überwiegend aufden Umgang mit Sprache und Symbolen ausge-richtet, und so müssen sich viele Lernende an-passen. Sie sind gezwungen, sich die ihnen ge-mäße Weise des Lernens abzugewöhnen undsich den Lehrstoff so anzueignen, wie es dieSchulbehörden verfügen. Der Junge meinerFreundin war zum Glück imstande, diese An-passung zu vollziehen. Doch wie viele Schulkin-der bleiben dabei auf der Strecke?

Die erzwungene Umstellung des Lernstilsmuß mit der erzwungenen Umstellung von derLinks- auf Rechtshändigkeit in irgendeine Be-ziehung gebracht werden, die sie einander ver-gleichbar macht. Früher war es üblich, Perso-nen, die von Natur aus Linkshänder waren, zurRechtshändigkeit zu zwingen. Vielleicht wer-den wir in Zukunft den Zwang zur Änderungdes Lernstils gleichermaßen mißbilligen wieheute die erzwungene Rechtshändigkeit. Baldwerden wir in der Lage sein, auf Grund vonTests festzustellen, welcher Lernstil einem Kindam meisten liegt, und über Unterrichtsmetho-den verfügen, die es ermöglichen, daß Kindervisuell und verbal lernen können.

Daß Kinder über unterschiedliche Auffas-sungsgaben verfügen, haben die Pädagogenschon immer gewußt, und mittlerweile hoffenalle, die sich für die Förderung junger Menschenverantwortlich fühlen, daß die Gehirnforschungihnen helfen wird, das Problem zu lösen, wieman alle Schüler gleichermaßen fördern kann.Bis vor etwa fünfzehn Jahren schienen die neuen

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Entdeckungen der Gehirnforschung im wesent-lichen von rein wissenschaftlichem Nutzen zusein. Doch werden diese Erkenntnisse mittler-weile auf vielen verschiedenen Gebieten ange-wendet und scheinen auch einer fundamentalenVeränderung der Unterrichtsmethoden eine si-chere Basis liefern zu können.

Neben anderen Forschern hat vor allem Da-vid Galin darauf hingewiesen, daß denPädago-gen drei Hauptaufgaben gestellt sind: Erstensmüssen sie Wege finden, beide Gehirnhälften zutrainieren — nicht nur die mit Sprache, Symbo-len und logischem Denken reagierende linkeHemisphäre, die man bisher in den traditionel-len Unterrichtskonzepten allein zu fördern be-dacht war, sondern auch die Relationen undräumliche Strukturen wahrnehmende, ganz-heitlich erfassende und verarbeitende rechte Ge-hirnhälfte, die in unserem heutigen Bildungssy-stem noch weitgehend vernachlässigt wird. Diezweite wichtige Aufgabe besteht darin, denSchülern beizubringen, wie sie das der jeweiligenAufgabe angemessene kognitive Vorgehen erken-nen und ihm entsprechend handeln können.Und drittens werden sie ihnen die Fähigkeitvermitteln müssen, beide kognitive Verarbei-tungsweisen - die der linken und die der rechtenHemisphäre - bei der Problemlösung zu inte-grieren.

Werden Lehrer erst einmal imstande sein, diesich ergänzenden Modi zu einem Gespann zu-sammenzuführen oder der jeweiligen Aufgabeden entsprechenden Modus zuzuordnen, wirdder Unterricht zu einem weitaus deutlicher ura-rissenen, durchschaubaren Vorgang. Vorrangi-ges Ziel wird es sein, beide Gehirnhälften unddie von ihnen gesteuerten Fähigkeiten auszubil-den. Beide Modi sind für eine vollkommene Ent-faltung des Menschen unentbehrlich, undebenso für alle kreativen Tätigkeiten, sei es Ma-len oder Schreiben oder die Entwicklung neuerphysikalischer Theorien oder die Lösung vonUmweltproblemen.

In der Zeit, da das Bildungssystem ohnehinvon den verschiedensten Seiten unter Beschußgenommen wird, hat man leicht reden, Pädago-gen und Lehrer auf dieses Ziel zu verweisen.Doch ist unsere Gesellschaft einem immerschneller voranschreitenden Veränderungspro-zeß unterworfen, so daß immer schwerer voraus-zusehen ist, über welche Fähigkeiten die Men-schen künftiger Generationen verfügen müssen,um ihre Probleme lösen zu können. Obwohl wiruns bislang bei der Planung der Zukunft unsererKinder und bei der Lösung von Problemen, diesich ihnen auf ihrem Weg in jene Zukunft stell-ten könnten, weitgehend auf die rationale linkeGehirnhälfte verlassen haben, ist doch unserVertrauen in das technologische Denken unddamit auch in die alten Unterrichtsmethodenangesichts der Heftigkeit des sozialen Wandelsstark erschüttert. Ohne auf die traditionellensprachlichen und rechnerischen Fähigkeitenverzichten zu wollen, halten besorgte Pädago-gen doch Ausschau nach Unterrichtstechniken,die der Förderung der intuitiven und kreativenKräfte des Kindes dienen und es somit daraufvorbereiten, neuen Herausforderungen mitFlexibilität, Erfindungsgabe und Phantasie be-gegnen zu können. Dieser zukünftige Menschsoll fähig sein, komplexe Zusammenhängewechselseitig verbundener Ideen und Faktenblitzschnell zu erfassen, die einem Geschehenzugrunde liegenden Strukturen zu erkennenund die alten Probleme in neuem Licht zu se-hen.

Was können Sie als Eltern und Lehrer schonjetzt in pädagogischer Hinsicht für die Entwick-lung beider Hemisphären der Kinder und Ju-gendlichen tun? Wichtig ist, daß Sie sich ersteinmal über die spezialisierten Funktionen undVerarbeitungsmodi der Hemisphären informie-ren. Bücher wie dieses können Ihnen eine ge-wisse theoretische Grundlage und auch einigesvon der Erfahrung des kognitiven Hinund-herwechselns von einem Modus zum anderen

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vermitteln. Doch bin ich der Meinung, daß dieeigene Erfahrung in dieser Hinsicht von außer-ordentlicher, vielleicht von entscheidender Be-deutung ist. Erst wenn Lehrer das «Umschal-ten» aus eigenem Erleben kennen, können sieversuchen, dieses Wissen an andere weiterzuge-ben.

Zweitens sollten Sie sich besonders intensivmit den Wirkungen befassen, die spezielle Aufga-ben auf die Aktivierung der einen oder der ande-ren Hemisphäre haben. Versuchen Sie zunächstfestzustellen, welche Gehirnhälfte Ihre Schülerunter bestimmten, von Ihnen geschaffenen Be-dingungen benutzen und welche Aufgaben dieSchüler zum kognitiven Hinundherwechselnzwischen den beiden Modi ermuntern bezie-hungsweise zwingen. Lassen Sie zum Beispieleinen beliebigen Textabschnitt auf seinen In-halt, auf die in ihm aufgezählten Fakten hinanalysieren und bitten die Schüler, ihr Ergebnisvorzutragen oder niederzuschreiben. Dann las-sen Sie denselben Text auf seine Bedeutung,seinen tieferen, nur dem imaginativen, meta-phorischen Denken zugänglichen Sinngehaltprüfen. Das gleiche könnten Sie auch mit einemGedicht, einem Gemälde, einem Rätsel, einemWortspiel, einer Fabel oder einem Lied versu-chen. Ein anderes Beispiel: Zur Lösung be-stimmter arithmetischer und mathematischerAufgaben bedarf es des linearen logischen Den-kens. Andere können nur durch imaginäres Hin-undherschieben der Formen oder durch ge-schickten Umgang mit Zahlen gelöst werden,was am leichtesten mit Hilfe bildlicher Projek-tionen möglich ist. Versuchen Sie, durch Beob-achtung Ihrer eigenen Denkvorgänge und derIhrer Schüler festzustellen, bei welchen Aufga-ben die Verfahrensweise der rechten Hemi-sphäre und bei welchen der Modus der linkenbeansprucht wird. Beobachten Sie auch, beiwelchen Problemen verschiedenartige Verar-beitungsstile komplementär oder simultan ein-gesetzt werden.

Drittens: Versuchen Sie, andere Bedingungenim Unterrichtsraum herzustellen, wenigstens so-weit Sie darauf Einfluß nehmen können. So wer-den die Schüler zum Beispiel durch Unterrichts-gespräche oder durch einen längeren Vortragdes Lehrers dazu gezwungen, starr am Modusder linken Hemisphäre festzuhalten. Wenn esIhnen gelingt, Ihre Schüler zu einer entschiede-nen Hinwendung zum Rechts-Modus zu bewe-gen, werden Sie einen heutzutage in Unter-richtsräumen seltenen Zustand hervorrufen:vollkommene Stille. Ihre Schüler werden ruhigsein und sich zugleich intensiv und eifrig mit derjeweils gestellten Aufgabe beschäftigen. DasLernen wird zum Vergnügen. Allein diesesAspektes wegen lohnt es sich, ein Vorgehen nachdem R-Modus anzustreben. Achten Sie darauf,daß Sie selbst dieses Schweigen fördern und auf-rechterhalten.

Darüber hinaus können Sie mit der Beleuch-tung oder der Sitzordnung experimentieren.Auch Körperübungen, vor allem gleichmäßige,rhythmische Bewegungen wie zum Beispielbeim Tanzen, können das kognitive Umschaltenfördern — und in noch viel stärkerem Maße dieMusik. In diesem Buch habe ich zu zeigen ver-sucht, daß auch Zeichnen und Malen eine starkeVerlagerung zum R-Modus notwendig machenbeziehungsweise voraussetzen. Sie könnten esauch mit selbsterfundenen Sprachen versuchen,vielleicht mit einer Bildersprache, in der dieSchüler während des Unterrichts kommunizie-ren. Ich empfehle Ihnen, soviel wie möglich Ta-fel und Kreide zu benutzen, nicht nur zum Auf-schreiben von Wörtern, sondern auch zumZeichnen von Bildern, Skizzen, Schemata usw.Der Idealfall wäre, alle Informationen zumin-dest in zweierlei Form anzubieten: in sprachli-cher und in bildlicher Form. Auch könnten Sieden verbalen Anteil Ihres Unterrichts reduzie-ren und ihn durch nonverbale Kommunika-tionsformen ersetzen, wenn es Ihnen angebrachterscheint.

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Und schließlich baue ich darauf, daß Sie Ihreeigenen intuitiven Gaben zur Entwicklung vonUnterrichtsmethoden benutzen und auf Fortbil-dungsseminaren und durch Veröffentlichungenin Fachzeitschriften auch andere Lehrer davonin Kenntnis setzen werden. Vermutlich habenSie ohnehin schon längst — intuitiv oder ganzbewußt — eine Reihe von Techniken entwickelt,die das kognitive Umschalten fördern. Da wirLehrenden in einer ausgewogenen, integrativenEntwicklung des gesamten Gehirns ein gemein-sames Ziel für die Zukunft unserer Kinder se-hen, müssen wir auch unsere Entdeckungen, dieuns diesem Ziel näher bringen können, einandermitteilen.

Auch Eltern können eine Menge zur Verwirk-lichung dieses Ziels beitragen, indem sie ihrenKindern helfen, alternative Erkenntnisweisenzu entwickeln — eine sprachlich-analytische undeine visuell-räumliche. In den ersten, entschei-denden Lebensjahren der Kinder können Elternihnen Lernbedingungen schaffen, die verhin-dern, daß die Worte einen dichten Schleier bil-den, der die Wahrnehmung der sprachlich nichterfaßbaren Wirklichkeit unmöglich macht. Diein meinen Augen wichtigste Anregung, die ichEltern weitergeben möchte, betrifft den Um-gang mit Worten, besser gesagt: die Einschrän-kung der einseitigen Ausrichtung auf Spracher-werb.

Ich bin nämlich der Meinung, daß die mei-sten von uns im Umgang mit Kleinkindern zuschnell mit der Benennung von Dingen bei derHand sind. Wenn wir nämlich auf die Frage«Was ist das?» lediglich den Gegenstand, aufden das Kind dabei zeigt, beim Namen nennenund es dabei belassen, geben wir ihm zu verste-hen, daß die Bezeichnung, das Etikett das wich-tigste sei und daß es genüge, das Ding zu benen-nen. Wenn wir auf eine solche Frage die Dingeder gegenständlichen Welt nur etikettieren undkategorisieren, berauben wir unsere Kinder je-der Fähigkeit kindlichen Staunens und der Ent-

deckerfreude. Ein Beispiel: Anstatt einen Baumeinfach «Baum» zu nennen, geben Sie IhremKind die Möglichkeit, den Baum mit allen Sin-nen zu erforschen — ihn zu betasten, an ihm zuriechen, ihn aus den verschiedensten Perspekti-ven anzuschauen, ihn mit anderen Bäumen zuvergleichen, sich das Innere des Baumes und dieWurzeln unter der Erde vorzustellen, dem Rau-schen der Blätter zuzuhören. Lassen Sie dasKind den Baum mehrmals am Tag und zu ver-schiedenen Jahreszeiten betrachten, seineFrüchte einsammeln und aussäen, lassen Sie esbeobachten, welche anderen Geschöpfe - Vögel,Motten, Käfer - den Baum bewohnen und sofort. Nachdem es entdeckt hat, wie faszinierendund vielgestaltig jedes Ding ist, wird dem Kindaufgehen, daß das Etikett nur ein kleiner Teildes Ganzen ist. Wenn es diese Erfahrung ge-macht hat, wird es seine Fähigkeit zu staunenbewahren — sie wird nicht unter den Wortlawi-nen unserer modernen Zeit verschüttet.

Zur Förderung auch der künstlerischen Fä-higkeiten Ihres Kindes empfiehlt es sich, ihmschon in frühestem Alter eine Fülle von Materialzu geben und es reichlich mit Wahrnehmungs-erfahrungen nach Art der soeben beschriebenenzu konfrontieren. Die Kunst Ihres Kindes wirdetwa die vorhersehbaren, von mir beschriebe-nen Entwicklungsstufen durchlaufen. Wenn IhrKind Sie beim Zeichnen um Hilfe bittet, fordernSie es auf, sich gemeinsam mit Ihnen den Gegen-stand, den es zeichnen will, genau anzuschauen.Es wird die neuen Wahrnehmungen in seinSymbolsystem eingliedern.

Lehrer und Eltern können auch den Heran-wachsenden bei ihren von mir an früherer Stelleerörterten künstlerischen Problemen Hilfestel-lung leisten. Wie erwähnt, machen alle Kinderim Alter von etwa zehn Jahren eine «realisti-sche» Phase durch. Sie wollen sehen lernen, undsie haben Anspruch auf die Hilfe, die sie fordern.Die in diesem Buch angeführten Übungen —einschließlich der Informationen über die Funk-

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Postskriptum

tionen der beiden Hemisphären, wenn Sie sie einWenig vereinfachen — können schon von Zehn-jährigen bewältigt werden. Es sollten vor allemBilder von Gegenständen, für die sich das Kindin dieser Phase besonders interessiert, auf denKopf gestellt abgezeichnet werden. Auch dasKonturenzeichnen und das Zeichnen desleerenRaums machen Kindern in diesem Alter Spaß.Bereitwillig machen sie von diesen Technikenbeim Zeichnen Gebrauch (vgl. die Abbildungunten). Besonders beliebt bei dieser Alters-gruppe ist das Porträtzeichnen, und so sind Ju-gendliche im Porträtieren von Freunden undFamilienangehörigen meist recht geschickt. Ha-ben sie einmal ihre Angst vor dem Mißlingenüberwunden, scheuen sie keine Anstrengung,ihr Können zu vervollkommnen, und ihr Erfolgwiird ihr Selbstvertrauen stärken.

Doch wichtiger noch für die Zukunft ist, daßdas Zeichnen, wie Sie es durch die in diesemBuch beschriebenen Übungen gelernt haben,ein effektiver Weg ist, Zugang zu den Funktio-nen der rechten Hemisphäre zu finden und sieunter Kontrolle zu bringen. Kinder, die durchZeichnen sehen lernen, haben die Chance, alsErwachsene beide Gehirnhälften bewußt nut-zen zu können.

Für KunststudentenViele Maler unserer Zeit sind der Meinung daßdie Fähigkeit, naturgetreu zu zeichnen, unwich-tig sei. Allgemein gesehen trifft es sicher zu, daßin der zeitgenössischen bildenden Kunst dazeichnerische Können keine unbedingt notwen-dige Voraussetzung für das bildnerische Schaf-fen darstellt, und so manches moderne Kunst-werk trägt die Signatur eines bedeutendenKünstlers, der überhaupt nicht zeichnen kannIch vermute, daß sie diese Fähigkeit besitzenweil sie ihre ästhetische Sensibilität mit anderenMitteln als denen der traditionellen Kunstschu-len — vor allem durch das Zeichnen nach einemModell sowie von Stilleben und Landschaften -ausgebildet haben.

Da so viele zeitgenössische Künstler dasZeichnen als überflüssig abtun, gerät der Anfän-ger leicht in eine Zwickmühle. Nur wenigeernsthaft bemühte Studenten sind von ihrenkreativen Fähigkeiten und ihren Erfolgsaussich-ten in der Welt der Kunst so fest überzeugt, daßsie auf jegliche künstlerische Ausbildung ver-zichten zu können glauben. Wenn sie in Gale-rien und Museen den Werken der modernenKunst begegnen —jener Kunst, deren Schöpfer

Zeichnungen eines Schülers der vier-ten Klasse: Entwicklung innerhalbvon drei Unterrichtsstunden.

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rostsKnptum

auf alle traditionellen Fertigkeiten zu verzichtenscheinen - beschleicht sie das Gefühl, daß dasLernen nach traditionellen Schulen für sie kei-nen Sinn hat. Um aus dieser Zwickmühle auszu-brechen, unterlassen sie es oft, wirklichkeitsge-treu zeichnen zu lernen, und legen sich so baldwie möglich auf einen engen Kunststil, auf einebestimmte «Richtung» fest. Sie eifern modernenKünstlern nach, die häufig einen einzigen, leichtnachahmbaren, sofort als «Signatur» zu erken-nenden Stil pflegen.

Der zeitgenössische englische Maler DavidHockney betrachtet solche Einengung derkünstlerischen Möglichkeiten als Falle (vgl. dasZitat im ersten Kapitel). Für Kunststudenten istdie frühzeitige Festlegung mit Sicherheit gefähr-lich; zu oft verpflichten sie sich dadurch auf dieVariation einer beschränkten Zahl von Moti-ven. Sie versuchen, mit den Mitteln ihrer KunstAussagen zu machen, bevor sie überhaupt wis-sen, was sie sagen wollen.

Auf Grund meiner pädagogischen Erfahrun-gen mit angehenden Künstlern von unterschied-lichstem darstellerischem Niveau möchte ich al-len Studierenden auf dem Gebiet der Kunst,insbesondere allen Anfängern, einige Empfeh-lungen geben. Erstens: Haben Sie keine Angstdavor, naturgetreu zeichnen zu lernen. Noch niesind die schöpferischen Kräfte durch dieseszeichnerische Können, der Grundlage allerKunst, blockiert worden. Nicht nur Picasso, dervirtuos zeichnen konnte, sondern unzählige wei-tere große Künstler können hier als Beispiel undBeweis für diese Behauptung angeführt werden.Bei weitem nicht alle Künstler, die zeichnenkönnen, bringen langweilige und «unkünstleri-sche» naturalistische Bilder hervor. Und dieje-nigen, auf die diese Kritik zutrifft, würden auchdann öde, eintönige und pedantische Bilder«produzieren», wenn sie sich der abstrakten

oder nichtgegenständlichen Kunst widmeten.Ihr zeichnerisches Können wird Sie in IhrerArbeit niemals behindern, im Gegenteil, es wirdihr förderlich sein.

Zweitens: Versuchen Sie sich klarzumachen,warum das Zeichnenkönnen so wichtig ist. DasZeichnen versetzt Sie in die Lage, mit den Au-gen des Künstlers zu sehen. Ihr Ziel ist die un-verstellte Begegnung mit der Realität Ihrer Er-fahrungen. Immer bewußter, immer tiefer wer-den Sie Ihre Umwelt erfassen. Gewiß kann manseine ästhetische Sensibilität auch auf andereWeise entfalten, zum Beispiel durch Meditieren,Lesen oder Reisen. Doch meiner Meinung nachsind diese anderen Weg für einen Künstler riskan-ter und weniger effektiv. Als bildender Künstlerwerden Sie sich (höchstwahrscheinlich) visuel-ler Ausdrucksmittel bedienen, und Zeichnenschärft das visuelle Gespür.

Und schließlich: Zeichnen Sie jeden Tag. Esspielt keine Rolle, welches Sujet Sie wählen — eskann ein Aschenbecher sein, ein angebissenerApfel, ein Mensch, ein Zweig. Ich erinnere da-mit noch einmal an meine Empfehlung im vori-gen Kapitel, weil sie für Kunststudenten beson-ders wichtig ist. Mit der Kunst ist es in gewisserWeise ähnlich wie mit Gymnastik oder Sport:Wenn Sie nicht täglich üben, wird Ihr visuellesGespür bald nachlassen. Zweck des Zeichnensist nicht, irgendwelche Linien auf dem Papiererscheinen zu lassen — ebensowenig, wie es derZweck des Joggens ist, an ein bestimmtes Ziel zugelangen. Üben Sie Ihren Blick, ohne sich allzuviele Gedanken darüber zu machen, was für einErgebnis dabei herauskommt. Hin und wiederkönnen Sie Ihre besten Zeichnungen aussortie-ren und die übrigen wegwerfen — oder sogar alle,wenn Sie wollen. Zeichnen Sie jeden Tag. IhrZiel ist, die Wirklichkeit immer bewußter wahr-zunehmen.