BEWUSSTSEIN SCHAFFT Ressourcen - Deutscher Musikrat€¦ · in Form von Workshop-Proben,...

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Christian Höppner Redaktionsleitung EDITORIAL MUSIK ORUM 3 „HEUTE ZUKUNFT GESTALTEN“ fällt mir bei einer Fahrt durch Berlin ins Auge. Auf dem Plakat sitzt ein Junge mit einem Notebook auf dem Boden. In einem leeren Zimmer. Darüber die Headline, das Postulat. Vor meinem geistigen Auge ordne ich prima vista ein Instrument hinzu, ein Saxofon, ein Alphorn vielleicht. Hinzu kommt auch rasch ein Gedanke: So wichtig der Erwerb medialer Kompetenz ist, so sehr steht dieses Plakat für das Ungleichgewicht zwischen der kognitiven und der musisch-ästhetischen Erziehung. Bewusstsein schaffen für den Wert der Kreativität ist eine Aufgabe, der sich immer mehr gesellschaftliche Gruppen stellen. Allen voran der Bundespräsident. Denn: Bewusstsein schafft Ressourcen. Dass sich Johannes Rau über das Ende seiner Amtszeit hinaus weiterhin für die musisch-kulturelle Bildung einsetzen wird, stimmt hoffnungsfroh. Und es motiviert, wenn Rau im Interview mit dem MUSIKFORUM die mögliche Aufgabe „verlockend“ nennt, als Ehrenbotschafter Musik des Deutschen Musikrats zu wirken. Der Grundgedanke, dass musikalische Bildung alle angeht, lässt sich mit einer Schwer- punktausgabe des MUSIKFORUM selbstverständlich nur ansatzweise darstellen. Gerade in der Kombination mit den Themen, die nicht unmittelbar im Fokus dieses Hefts stehen, wird aber deutlich, wie stark verknüpft das Sujet musikalische Bildung mit anderen Aspekten des Musik- und Kulturlebens ist. Mit der Zusammenstellung der Themen und Autoren hoffen wir Impulse für die weitere Diskussion geben zu können – und freuen uns auf Ihre Meinung. Jens Michow hat mir die Leitung des MUSIKFORUM übergeben. Ich hoffe, gemeinsam mit dem Redaktionsteam den eingeschlagenen Weg ebenso erfolgreich fortsetzen zu kön- nen. Musik bewegt nicht allein unsere Redaktion, sondern immer mehr Menschen, die sich Gedanken um die Prioritätensetzung von heute für morgen machen. Ihr Christian Höppner BEWUSSTSEIN SCHAFFT Ressourcen

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Christian HöppnerRedaktionsleitung

EDITORIAL

MUSIK�ORUM 3

„HEUTE ZUKUNFT GESTALTEN“ fällt mir bei einer Fahrt durch Berlin ins Auge.

Auf dem Plakat sitzt ein Junge mit einem Notebook auf dem Boden. In einem leeren

Zimmer. Darüber die Headline, das Postulat. Vor meinem geistigen Auge ordne ich prima

vista ein Instrument hinzu, ein Saxofon, ein Alphorn vielleicht. Hinzu kommt auch rasch

ein Gedanke: So wichtig der Erwerb medialer Kompetenz ist, so sehr steht dieses Plakat

für das Ungleichgewicht zwischen der kognitiven und der musisch-ästhetischen Erziehung.

Bewusstsein schaffen für den Wert der Kreativität ist eine Aufgabe, der sich immer

mehr gesellschaftliche Gruppen stellen. Allen voran der Bundespräsident. Denn:

Bewusstsein schafft Ressourcen. Dass sich Johannes Rau über das Ende seiner Amtszeit

hinaus weiterhin für die musisch-kulturelle Bildung einsetzen wird, stimmt hoffnungsfroh.

Und es motiviert, wenn Rau im Interview mit dem MUSIKFORUM die mögliche Aufgabe

„verlockend“ nennt, als Ehrenbotschafter Musik des Deutschen Musikrats zu wirken.

Der Grundgedanke, dass musikalische Bildung alle angeht, lässt sich mit einer Schwer-

punktausgabe des MUSIKFORUM selbstverständlich nur ansatzweise darstellen. Gerade

in der Kombination mit den Themen, die nicht unmittelbar im Fokus dieses Hefts stehen,

wird aber deutlich, wie stark verknüpft das Sujet musikalische Bildung mit anderen

Aspekten des Musik- und Kulturlebens ist. Mit der Zusammenstellung der Themen und

Autoren hoffen wir Impulse für die weitere Diskussion geben zu können – und freuen

uns auf Ihre Meinung.

Jens Michow hat mir die Leitung des MUSIKFORUM übergeben. Ich hoffe, gemeinsam

mit dem Redaktionsteam den eingeschlagenen Weg ebenso erfolgreich fortsetzen zu kön-

nen.

Musik bewegt nicht allein unsere Redaktion, sondern immer mehr Menschen, die sich

Gedanken um die Prioritätensetzung von heute für morgen machen.

Ihr

Christian Höppner

BEWUSSTSEIN SCHAFFT

Ressourcen

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MUSIK�ORUM4

„Musik ist alles, was ich habe“Modellbeispiel Sozialarbeit plus Musikpädagogik: Kerstin Unseld überdie Musikschule in einem chilenischen Armenviertel.

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„Komponieren ist eineSpezialform des Denkens“Mit der Künstlerin Juliane Klein sprachUlrike Liedtke über Neue Musik undlängerfristige Konzepte des Hörens. 51

Das Potenzial dermittelständischenMusikwirtschaftKulturelle Vielfalt stärken: SusanneBinas über die „Creative Industries“. 54

IM FOKUS:MUSIKA-LISCHEBILDUNGUND PÄDA-GOGIK

Teach the teachers:Zwei Weiterbildungsprojekte der Pop-akademie für Musikpädagogen. 64

Hamburger Popkurs:Ausbildungsangebot gefährdet. 66

Lernen ab Windelalter:50 Jahre Yamaha-Musikschule. 67

Forum Thomanum:Kultur-Kooperationen in Leipzig. 69

Kulturmanagement:Die Relevanz eines Aufbaustudiums. 71

t i t e l themen

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INHALT

neuetöne ausb i ldung

…zum „Bild von Musik“Aller Anfang ist Theorie: Hermann J. Kaiser „unterfüttert“ den Diskurszur musikalischen Bildung mit einer Deutung des Bildungsbegriffs.

Was ist musikalische Bildung? Studenten befragten Bürger. ab 9

Investitionen in die Köpfe junger MenschenJohannes Rau zieht im Interview Bilanz aus seinen Initiativen gegendie „musikalische Versteppung“ in Deutschland.

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Titelbild: Musikerziehung für Kinder in der Yamaha-Musikschule / Fotomontage

Die Kreativität derFehler im System„turning sounds 2“: Michael Bölterüber das Warschauer Treffen vonKomponisten und DJs. 58

Multimediale KompositionHamburger Hochschule für Musik undTheater begegnet mit neuem Master-studiengang den Herausforderungender Medienwelt. 61

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MUSIK�ORUM 5

Musikhochschule: Woher kommt, wohin geht sie?Die Qualität der Musikausbildung ist überzeugend, doch deutsche Hoch-schulen sehen sich in Frage gestellt. Hans Bäßler zeigt Perspektiven auf.

Beiträge„inventio“-Preis für Coole Streicher:Gespräch mit Initiatorin Gesa Riedel. 26

Jazz-Legende als Pädagoge:Peter Herbolzheimer im Interview. 38

Elementare Musikpädagogik:Möglichkeiten musikalischer Bildung. 41

Musik und Tanz ein Leben lang:Musikalische Bildung für Senioren. 44

Ort musikalischen Lebens: HamburgsGrundschule Eulenkrugstraße 47

Wenn der Hausmeister den Ton angibt. 49

wir t schaf tZwischen Existenzbedrohungund neuer ZuversichtBerliner Kongress Musik als Wirtschaftfordert Gesetzgeber zum Handeln auf. 56

por t rä tKünstler des sparsamen StilsKurt Schwaen zum 95. Geburtstag. 62

präsent ier tProjekte und Initiativen im deutschenMusikleben. 74

rubr ikenEditorial 3

Nachrichten 6

Rezensionen: Neue CDs und Bücher 78

Finale, Impressum 82

3sat: 20 Jahre Spielraum für MusikMusik ist eines der wichtigsten Elemente in der Planung des gemeinsamen Kultur-programms von ZDF, ORF, SRG und ARD. Zur konzeptionellen Ausrichtung von3sat gehört nicht nur die Pflege des traditionellen Musikrepertoires, auch die zeit-genössische Musik und Jazz und Pop haben hier ihre festen Programmplätze. 76

dokumentat ion

22„Große Freiheit“Appell für ein ganzheitliches Bildungsverständnis: Kongress befasste sichmit den Chancen von Musik in der Ganztagsschule. Von Brigitta Ritter.

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MUSIK�ORUMjuli–september 2004___3

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Musikakademien: ein gesellschaftliches PhänomenRaum und Zeit für Begegnungen und den musikalisch-schöpferischenProzess: Ulrike Liedtke skizziert das Angebot deutscher Musikbildungsstätten.

Orale Lernkulturen: Raimund Vogels über Wissenstransfer der anderen Art. 40

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NACHRICHTEN

MUSIK�ORUM6

Bundesweite Initiierung vonOrchesterpatenschaftenDie Deutsche Orchestervereinigung (DOV) und JeunessesMusicales Deutschland (JMD) werden ihre gemeinsame Ar-beit für den Erhalt und die Entwicklung der deutschen Orches-terlandschaft und ihre Verankerung in der Gesellschaft intensi-vieren. Eine entsprechende Kooperationsvereinbarung unter-zeichneten der JMD-Bundesvorsitzende Martin Redel undHartmut Karmeier, Vorsitzender des Gesamtvorstandes der DOV, in Anwesenheit vonBundespräsident Johannes Rau, Kulturstaatsministerin Christina Weiss, der Vorsitzen-den des Bundestagsausschusses für Kultur und Medien, Monika Griefahn, und Vertre-tern des deutschen Musiklebens im Schloss Bellevue (Bild). Vorgesehen sind u. a. diebundesweite Initiierung und Motivation von so genannten Orchesterpatenschaften.Diese sollen vornehmlich zwischen Profi- und Jugendorchestern einer Region gebildetwerden und beinhalten einen regelmäßigen Austausch zwischen den Ensembles, z. B.in Form von Workshop-Proben, gemeinsamen Konzerten oder fachlicher Mentorenbe-treuung durch die Profimusiker. Als weiteres Projekt wurde der „Junge Ohren“-Preisins Leben gerufen, mit dem besonders gelungene Konzerte, Konzertspielpläne odersonstige Orchesterprojekte für Kinder und Jugendliche ausgezeichnet werden sollen.

Berliner Symphonikermachen weiter

Die Berliner Symphoniker werden dieSpielzeit 2004/2005 auf Projektbasis alsArbeitslosenorchester durchführen. Sowohldie Berliner Philharmoniker als auch dasDeutsche Symphoni-Orchester (DSO) wol-len den Fortbestand durch Benefizkonzerteund -aktionen unterstützen. Weitere Berli-ner Ensembles wurden um ähnliche Unter-stützungsmaßnahmen gebeten.

Die Symphoniker, Pioniere auf dem Feldder musikalischen Bildung von Kindern undJugendlichen, wollen auf jeden Fall das Jahr2006 erreichen; dann steht die nächsteWahl des Abgeordnetenhauses an. Der Trä-gerverein verklagt gegenwärtig den Senatauf eine Übergangsfinanzierung. Im Märzhatten die Regierungsparteien von SPD/PDS gegen die Stimmen der Opposition dieEinstellung der Zuschüsse für das Orchesterbeschlossen.

— Kulturausgaben: Der größteTeil geht an Theater und MusikBund, Länder und Gemeinden haben imJahr 2001 insgesamt 8,35 Mrd. Euro fürdie Kultur aufgewendet. Die öffentlichenHaushalte stellten damit 1,66 Prozent ihresGesamtetats bzw. 101,5 Euro je Einwohnerzur Verfügung. Das geht aus dem Kulturfi-nanzbericht 2003 hervor, mit dem die Sta-tistischen Ämter des Bundes und der Län-der in Zusammenarbeit mit der Kultusminis-terkonferenz, der Beauftragten der Bundes-regierung für Kultur und Medien und demDeutschen Städtetag Auskunft über die öf-fentliche Kulturfinanzierung geben.

Der größte Teil der öffentlichen Kultur-ausgaben wurde mit 3,08 Mrd. Euro für denBereich Theater und Musik ausgegeben.Das entspricht einem Anteil von 36,9 Pro-zent an allen Kulturausgaben.

— VdM fordert ein Grundrechtauf musikalische Bildung„Der Zugang zu musikalischer Bildungist ein grundsätzliches Recht für alle Kin-der und Jugendlichen und daher durch ge-setzliche Grundlagen für die Förderung deröffentlichen gemeinnützigen Musikschulenzu verankern.“ Dies fordert die Bundesver-sammlung der im Verband deutscher Mu-sikschulen (VdM) zusammengeschlossenenTräger der öffentlichen Musikschulen vonden Kommunal- und Landesparlamenten.Eine entsprechende Resolution wurdejüngst in Erfurt verabschiedet. „MusikalischeBildung“, so der VdM-Vorsitzende Gerd Ei-cker, „formt und prägt die Persönlichkeit derKinder und Jugendlichen nachhaltig. Aufdiesem Weg wirkt Musikerziehung als weit-reichende Form der Sozialprävention in dieGesellschaft hinein.“

Der ehemalige Chefdirigent und künstlerische Leiter desBerliner Philharmonischen Orchesters, Claudio Abbado,

erhielt für seine Verdienste um die Förderung des Musiker-nachwuchses die Ernst-Reuter-Plakette, Berlins höchste Aus-zeichnung. Mit der Ernst-Reuter-Plakette werden seit 1954

in- und ausländische Persönlichkeiten für Verdienste aufkommunalem politischem, wissenschaftlichem, wirtschaft-

lichem oder künstlerischem Gebiet geehrt.

Ernst-Reuter-Plakette an Claudio Abbado

Rau: „Geld für Kulturist keine Subvention“

Zu einer Bilanz der gemeinsamen Arbeitlud Bundespräsident Johannes Rau die vonihm berufene Arbeitsgruppe „Bündnis fürTheater“ ein. In der Diskussion rief Rau dazuauf, Kultur als Pflichtaufgabe auf allen staat-lichen Ebenen zu verankern. Kunst und Kul-tur zu fördern sei keine Aufgabe unter „fer-ner liefen“, sondern müsse zu den Kernauf-gaben aller staatlichen Ebenen gehören. DerBundespräsident forderte daher eine Gleich-berechtigung der Kultur bei der Verteilungöffentlicher Gelder.

Laut Rau sei es falsch zu behaupten, eshandle sich um Subventionen, wenn Bund,Länder und Gemeinden Geld für Theaterund andere Kultureinrichtungen ausgäben.Subventionen orientierten sich an Einzel-interessen, Kultur diene jedoch dem Ge-meinwohl.

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Jugend musiziert

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MIZ bietet Internet-System zur Recherchevon Musik-Kursen und -Kongressen:

Schnelle Hilfe im Dschungelder Weiterbildung

Das Deutsche Musikinformationszent-rum (MIZ) des Deutschen Musikratsbietet mit seinem Kursinformationssys-tem die Möglichkeit, effektiv nach öf-fentlich ausgeschriebenen Kursen, Se-minaren, Kongressen und Fort- und Wei-terbildungsangeboten zu recherchieren.

Im Internetportal des MIZ finden sich ak-tuelle Kursangebote von Bundes- und Lan-desakademien für musisch-kulturelle Bil-dung, Meisterkurse von Musikhochschulenund Workshops von Verbänden und Verei-nen sowie von privaten Anbietern.

Grundlage des Kursinformationssystemsist eine Datenbank, in der die Jahrespro-gramme und Sonderprospekte von Veran-staltern zusammengeführt werden. Für dasJahr 2004 verzeichnet die Datenbank rund1500 Einträge. Die Angebote lassen sich mitHilfe vielfältiger Recherchemöglichkeitennach inhaltlich-systematischen Kriterien,Stichworten, regionalen Gesichtspunkten

oder gewünschtem Termin filtern. Aucheine Suche nach bestimmten Veranstaltern,Dozenten oder Zielgruppen ist möglich.

Kursveranstalter können dieses zentraleMedium zur Präsentation ihres Angebots ge-bührenfrei nutzen, indem sie ihre Daten fürdas Kursinformationssystem elektronischaufbereiten.

www.miz.org

„Jugend musiziert“:Simone Wahl und Frank Riedel aus Rhein-land-Pfalz gewannen – in der Sonderwer-tung Zeitgenössische Musik – mit Höchst-punktzahl den 1. Bundespreis in der Kate-gorie „Klavier und ein Blasinstrument“.

¶Die Deutsche Orchestervereinigung (DOV)

hat gemeinsam mit dem Verband Deutscher Schulmusiker (vds)und dem Arbeitskreis für Schulmusik und allgemeine Musikpäda-

gogik (AfS) das neue „Netzwerk Orchester & Schulen“gegründet. Ziel dieses Netzwerks: die Kontaktaufnahmezwischen Schulen und Schulmusikern mit Orchestern,

Rundfunkensembles und Musiktheatern.¶

Unter dem Titel „European Forum for Music Education andTraining“ koordiniert der Europäische Musikrat ein von der EUgefördertes Projekt zur musikalischen Bildung und Ausbildung.Absicht ist die Einrichtung einer Plattform europäischer

Organisationen, um den Informationsaustausch untereinanderzu verbessern und Kooperationen anzuregen.

Spielerische Auseinandersetzung mitMusik auf höchstem NiveauMit dem traditionellen Abschlusskonzert endete in Trossin-gen der 41. Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“. NeunTage lang hatten 1904 Jugendliche aus Deutschland und ausdeutschen Schulen im Ausland in Villingen-Schwenningen undTrossingen um Prädikate, Punkte und Preise musiziert. DieJurygremien beurteilten insgesamt 1106 Wertungsspiele undvergaben 301 erste, 315 zweite und 307 dritte Bundespreise.

Den Bogen zur gesamtgesellschaftlichen Relevanz von„Jugend musiziert“ schlug Bundesministerin Renate Schmidt inihrer Rede beim Abschlusskonzert: „Die Förderung von Bega-bung hat stets zwei Seiten, die individuelle und die gesell-schaftsorientierte, denn wenn ein Land seine Begabungennicht fördert, wird es arm – arm an Wissen, an Geist, an Kunstund gestaltender Kraft.“

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NACHRICHTEN

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Beste Schulband gesuchtZur 3. Staffel des bundesweiten Schüler-bandfestivals SchoolJam rufen der Deut-sche Musikrat und der MM-Musik-MediaVerlag – in Zusammenarbeit mit MTV-Net-works und der Frankfurter Musikmesse – dieSchülerbands Deutschlands auf. Der Sieger-band winkt ein Auftritt als Beste Schüler-band Deutschlands 2004/05 beim größtendeutschen Open-Air-Festival „Rock amRing“. Sieger der 2. Staffel wurde die reineMädchenband „C-Flow“ (Bild).

Info/Bewerbung: www.schooljam.de www.musikrat.de/dow/

Hohes OrchesterniveauDer 6. Deutsche Orchesterwettbewerb inOsnabrück war der teilnehmerstärkste inder 18-jährigen Geschichte der Veranstal-tung. Insgesamt präsentierten sich 137 En-sembles mit 5400 Musikerinnen und Musi-kern. Die Orchester hatten sich zuvor inVorausscheidungen in den 16 Bundeslän-dern für den Wettbewerb qualifiziert.Insgesamt wurden 31 erste Preisträger aus-gezeichnet.

Preisträgerlisten und weitere Informatio-nen:

Erfolgreiche WiederbelebungZur 16. European Conference of Sympho-ny Orchestras (ECSO) trafen sich – nachneunjähriger Pause – rund 35 Intendantenund Orchesterdirektoren aus 18 europäi-schen Ländern in Dresden. Neben der finan-ziellen Situation der Orchester waren dieMusikerausbildung, Nachwuchsproblemeund Fragen des Marketings zentrale The-men. Künftig soll die ECSO wieder jährlichin wechselnden europäischen Städten statt-finden.

Mehr Info unter: www.klassik-heute.de

Kritikerpreis für Musikakademie RheinsbergDer begehrte „Kritikerpreis für Musik“, jährlich vom Verband der deutschen Kritikervergeben, ging für 2004 an die Musikakademie Rheinsberg. Gewürdigt wurden dieVielzahl angebotener Kurse auf allen Gebieten der Profi- und Amateurmusik in Berlin,Brandenburg und im gesamten Bundesgebiet, die Forschungsarbeit der Akademie beider Erschließung von musikalischen Schätzen aus der Zeit der einstigen Residenz derPreußenprinzen Friedrich und Heinrich, die sich auch auf die Herausgabe von Notenma-terial und Dokumentationen erstreckt, sowie ihre Veranstaltungstätigkeit im wiederaufgebauten Schlosstheater, die bis hin zu Experimenteller Musik reicht. Bild links:Akademieleiterin Ulrike Liedtke bei der Übergabe des Preises durch Dieter Schnabel.

— Raubkopien: Schaden inMillionenhöhe für AutorenDie deutschen Musikverleger haben er-hebliche Existenzsorgen, weil immermehr Musik unerlaubt kopiert wird. Wäh-rend Musikstücke häufig illegal gebranntbzw. aus dem Internet heruntergeladen wer-den, kopieren viele Chöre und Orchesterihre Noten einfach selber, ohne zu wissen,dass sie sich damit rechtswidrig verhalten.Dieses millionenfache illegale Kopieren fügeden Komponisten und Textdichtern Scha-den in Millionen Euro-Höhe zu und gefähr-de die musikalische Vielfalt in Deutschland,erklärte die Präsidentin des Deutschen Mu-sikverleger-Verbandes (DMV), Dagmar Si-korski, auf der Jahresversammlung des Ver-bands.

Pianist Alfred Brendel (Bild)– im Zentrum seiner interpreta-torischen Tätigkeit steht derKanon der Werke aus Klassikund Romantik – wurde mit deminternationalen Ernst vonSiemens Musikpreis ausgezeich-net. +++ Wolfgang Bötschwurde auf der 11. Vollversamm-lung der BundesvereinigungDeutscher Musikverbände (BDMV) inStuttgart einstimmig zum neuen Präsiden-ten gewählt. +++ Kirsten Harms wirdmit Beginn der Spielzeit 2004/2005 neueIntendantin der Deutschen Oper Berlin.Der bisherige GeneralmusikdirektorChristian Thielemann wird seinen bis2007 laufenden Vertrag vorzeitig beenden,

nachdem keine Einigung überseine Forderung zu erzielen war,den Etat für das Orchester derDeutschen Oper aufzustocken.+++ Der Dresdner MusikerWolfgang Katschner erhieltden Händel-Preis der Stadt Hallefür seine Verdienste um dieAufführung von Werken GeorgFriedrich Händels sowie für sein

Engagement zum Gelingen der Händel-Festspiele. +++ Udo Dahmen, Leiterder Popakademie Baden-Württemberg,verzeichnet steigende Bewerberzahlen:„Um die 55 Studienplätze in den Studien-gängen Musikbusiness und Popmusik-design haben sich 800 Kandidaten bewor-ben.“

personalia

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Von Birgit JankProfessorin für Musikpädagogik undMusikdidaktik an der Universität Potsdam

Studierende der UniversitätPotsdam haben eine Umfrage

durchgeführt, in der sie Menschenunterschiedlichen Alters und ver-schiedener Berufe nach ihremganz persönlichen Verständnisvon „Musikalischer Bildung“ be-fragt haben.

Hintergrund der Interview-Aktion: Seiteinigen Jahren bestimmen Diskussionen umVerständnisweisen und Effektivierungs-modelle von Erziehung und Bildung, vonReformen im Schul- und Hochschulsystemund von Perspektiven im Bildungsbereichüberhaupt den öffentlich-gesellschaftlichenDiskurs.

Ist hier nicht ein offener Verständigungs-prozess vonnöten, da jeder Mensch einesehr individuelle Vorstellung und Erfahrungvon und mit Musik, vom Umgang mit Mu-sik und letztlich von musikalischer Bildunghat?

˜ „Was verstehen Sie unter Musi-kalischer Bildung?“

So fragten die Potsdamer Studenten„ganz normale“ Bürger. Das Ergebnis: eineimmense Breite und Unterschiedlichkeit inden Antworten und Positionen – was sicher-lich zu neuen Fragestellungen anregen wird.

Eine Auswahl ebenso interessanterwie verblüffender Aussagen finden Sie– bunt gestreut – in diesem Heft…

Eine Umfrage unter „ganz normalen“ Menschen

»Musikalische Bildung«?WAS IST DAS EIGENTLICH?

Ob sich Schule und Hochschule wirklichzum Besseren ändern werden und können,ist gegenwärtig nicht abzusehen. Der affir-mative Charakter in den öffentlichen Dis-kussionen reicht sicherlich nicht aus, umReformen herbeizuführen. Konzeptionelleund praktische Bemühungen um Verände-rungen sind notwendig und werden derzeitauch im Musikbereich vollzogen: in musik-pädagogischen Verbänden, beim DeutschenMusikrat, in Hochschulen durch eine Viel-zahl hochrangiger politischer Ereignisse (z. B.„Musik bewegt“) und nicht zuletzt durcheine Vielzahl regionaler Projekte an Schulenund Musikschulen, die durch engagierteMusikpädagogen initiiert und getragen wer-den.

˜ Was aber denken Menschenzur Musikalischen Bildung, die außer-halb eines professionellen Zusam-menhangs zur Musik und zur Musik-pädagogik stehen?

Ralf Daleske,Logistiker

Unter musikalischerBildung verstehe ichChorsingen, Noten lesenund Tonleitern lernen.

❞❞

❝❝ Torsten Schwonke,Versicherungsvertreter

Das Spielen vonInstrumenten und Singenim Musikunterrichtsind unwichtig.

❞❞

❝❝

Beim Umgang mitMusik kommt es daraufan, neugierig zu seinund zu bleiben.

❞❞

❝❝Kirsten vom Lehm,Diplom-Bibliothekarin

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HerzensBILDUNG,CharakterBILDUNG

MUSIK�ORUM10

FOKUS

VON»MUSIKALISCHER BILDUNG«

ZUM

Zu behaupten, dass „Bildung“in diesen unterschiedlichen

Zusammenfügungen ein unddasselbe bedeute, dürfte kaumbegründbar sein. Haben wir folg-lich so viele Bildungen, wie esderartige Begriffskombinationengibt? Macht es dann überhauptnoch Sinn, von Bildung, an dieserStelle: von „musikalischer Bil-dung“ zu sprechen? Zeigen nichtauch Befragungen von Bekann-ten, Kollegen und Freunden, dassein jeder unter musikalischer Bil-dung etwas anderes zu verstehenscheint?

»Bild von Musik«

Hermann J. Kaiser untersucht die Aufladung eines Begriffs zwischen

schultheoretischer Debatte und allgemeiner Vieldeutigkeit

Klassische BILDUNG,naturwissenschaftliche BILDUNG, informations-

technische GrundBILDUNG Ästhetische BILDUNG,literarische BILDUNG,

musische BILDUNG Formale BILDUNG,materiale BILDUNG, SchulBILDUNG,

BILDUNGsanstalt

… und in dieser Aufzählung zuletzt, aber keineswegs am Ende einer weiter fortschreibbaren Kette von Bildungen: die musikalische Bildung.

Lexikalisch gesehen ist in allen oben an-geführten Verbindungen das Wort „Bil-dung“ identisch. Bedeutungsmäßig lassensich allerdings beträchtliche Unterschiedefeststellen. Man erkennt das sehr gut amBegriff „Informationstechnische Grundbil-dung“ aus der jüngeren schultheoretischenDebatte. Darin fällt unmittelbar die – be-griffsgeschichtlich gesehen – problematischeVerbindung von Technik und Bildung auf.Es lässt sich nämlich zeigen, dass in der Ge-schichte des Begriffs „Bildung“ sehr früh allepragmatischen, technischen und ökonomi-schen Einschlüsse aus ihm herausfallen.Dadurch erst konnte er jene emphatischeBedeutung gewinnen, die ihn für das Bil-dungsbürgertum bis weit ins 20. Jahrhun-dert so anziehend machte. Er wurde zu ei-nem typisch deutschen, unübersetzbarenBegriff.

Verfolgt man die Geschichte des Deu-tungsschemas „Bildung“, so lässt sich festhal-ten, dass mit der Aufladung des Begriffs

Bildung zu einer unübersetzbaren Lebens-formel eine Zerfallsgeschichte des Bildungs-begriffs einsetzt. Belegt wird sie in ihremEndprodukt: „Bildung“ zerfällt in viele „Bil-dungen“.

Der soeben verwandte Begriff „Deu-tungsschema“ bedarf einer Erklärung. Mankann Begriffe definieren, ihrer Etymologienachgehen und sie schließlich in ein Lexi-kon eintragen. In solchen Bemühungen aberverschwindet ein zentrales Moment vonBegriffen: Wortgeschichte blendet die Ent-stehungsgeschichte und die historisch sichwandelnden, sozial determinierten Verwen-dungszusammenhänge von Begriffen unddamit ihre wechselnden Bedeutungszusam-menhänge aus. Kurz: Sie erreicht nicht diekommunikative Funktion von Begriffen.

„Musische Bildung“ zum Beispiel, dieserBegriff wurde in der reformpädagogischenÄra ohne Vorbehalte verwendet, währender heute historisch bewussten Musikpädago-gen – auf Grund seiner missbräuchlichen

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Verwendung in der Vergangenheit – kaumnoch ohne Bauchschmerzen über die Lip-pen geht; andererseits finden wir ihn heuteim politischen, fachpolitischen und alltägli-chen Sprachgebrauch an allen Ecken undEnden. Es kommt also sehr darauf an, inwelchen sozialen Zusammenhängen Begrif-fe auftauchen und Verwendung finden. Be-griffe, als Deutungsschemata verstanden, lei-ten unsere Wahrnehmungen, sie zeigen, wieWahrgenommenes gedeutet und dadurchunser Verhalten motiviert und geleitet wird.

Symbolische Vergesellschaftung

Indem wir Begriffe in spezifischer Bedeu-tung verwenden, übernehmen wir derensoziale Konstruktion, machen uns – ohne,dass uns dies bewusst ist – sozial vorgegebe-ne Verwendungsregeln zu Eigen, bringen siein ganz bestimmten sozialen Situationen zurGeltung, identifizieren uns darüber mit be-stimmten gesellschaftlichen Gruppen und

setzen uns damit zugleich auch von ande-ren ab.

Was ich mit den letzten Überlegungenund Darstellungen sagen will? Ganz einfach:Die Übernahme des Verständnisses und desGebrauchs von Deutungsschemata, d. h.von als solchen fungierenden Begriffen, bil-det ein grundlegendes Moment unsererExistenz als gesellschaftliche Wesen. Sie sind„Instrumente“, mit denen wir in unsere Ge-sellschaft hineinwachsen bzw. schon hinein-gewachsen sind. Gleichzeitig prägen wir un-sere Gesellschaft gerade auch dadurch, dasswir uns dieser Deutungsschemata bedienen.Anders ausgedrückt: Wir vergesellschaftenuns in und mit ihnen. Und da diese Verge-sellschaftung im Medium der Sprache er-folgt, wollen wir diesen Prozess „symboli-sche Vergesellschaftung“ nennen.

Hinter der zuvor angedeuteten Zerfalls-geschichte verbirgt sich aber auch eine Ver-fallsgeschichte des Deutungsschemas „Bil-dung“. Seine Fähigkeit zur symbolischen

Historisch bewusstenMusikpädagogen gehtder Begriff „musischeBildung“ kaum noch

ohne Bauchschmerzenüber die Lippen

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FOKUS

Vergesellschaftung einerseits und zur Selbst-deutung andererseits büßt der Begriff ein.Dieses vollzieht sich in dem Augenblick, indem der Bildungsbegriff nicht mehr von ei-ner gesellschaftlich bestimmenden Schichtinhaltlich getragen wird, sondern aus einerMannigfaltigkeit von unterschiedlichen undzum Teil divergierenden gesellschaftlichenPraxen heraus ein jeweils spezifisches Ver-ständnis gewinnt. Für den Begriff „musikali-sche Bildung“ heißt das: Er kann nicht mehrals aus einer, als verbindlich unterstellten,gesellschaftlichen Musikpraxis entsprungenund von einer ihn wesentlich definierendengesellschaftlichen Schicht her gedacht wer-den.

Von Bildung zum Lernen

Die vorhergehenden Darlegungen woll-ten deutlich machen, dass der Begriff „Bil-dung“ inzwischen vielfältige und disparateKonnotationen („Einfärbungen“) enthält.Daher kann er das, was er ursprünglicheinmal leistete, nicht mehr leisten. Auchmuss man realisieren, dass seine vielzüngigeInanspruchnahme im öffentlich-politischenRaum unter Umständen eher eine Maskie-rungsfunktion hat als die Absicht, seinen ur-sprünglichen Verweisungen wieder Geltungzu verschaffen: Wenn ökonomisch dimensi-onierte gesellschaftliche Problemlagen in ei-ner Weise bedrängend werden, dass Hilf-losigkeit in deren Bewältigung entsteht,dann müssen Ersatzdiskussionen mit ande-ren Thematiken her; sie funktionieren kom-pensatorisch-verdeckend. Und in dieser Hin-sicht hat in der Vergangenheit das Thema(musikalische) Bildung vielfach „gute Diens-te“ geleistet.

Der Begriff „musikalische Bildung“ stelltin dem gerade erwähnten Zusammenhangein aufschlussreiches Beispiel für einen faszi-nierenden Sachverhalt dar: Selbst wenn Be-griffe ihre Sachdimension verlieren, so kön-nen sie ihre Sozialdimension behalten – ja,um so geeigneter scheinen sie für die Über-nahme sozial-kommunikativer Funktionensich anzubieten. Das gilt auch für „musikali-sche Bildung“. Die Vieldeutigkeit eines Be-griffs stellt sicher, dass im Umgang mit die-sem kein Disput entsteht, im Gegenteil. DieAufladung eines Begriffs, die ursprünglicheinmal durch dessen Verknüpfung mit ei-nem hoch bewerteten und „von allen geteil-ten“ Sachverhalt gegeben war, hat sich – un-geachtet des inzwischen eingetretenenSach-Verlustes – bis heute durchgehalten.Des Weiteren erlaubt die inzwischen einge-tretene Vieldeutigkeit des Begriffs eine indi-viduelle Verwendung mit der gleichzeitig

erfolgenden (unbewussten) Unterstellung,dass die Gesprächspartner alle dasselbe mei-nen wie der jeweilige Sprecher. Man ist sicheinig, genauer: Der Begriff hat kommunika-tiv einig gemacht bei gleichzeitig durchausmöglicher inhaltlicher Differenz.

Die Frage stellt sich nun, welches Wort,welcher Begriff, welches Deutungsschemaan die Stelle von „Bildung“ tritt, das nicht diespekulative Aufladung besitzt wie der Bil-dungsbegriff.

Für die musikpädagogische Fachdiskus-sion kann man (mit gewissen Einschränkun-gen) sagen, dass Begriffe wie „Musik lernen“,„musikalisches Lernen“, „musikbezogenesLernen“ den Platz des Bildungsbegriffs ein-genommen haben. Gegenüber dem Begriff„musikalische Bildung“ haben diese Begriffezweifellos für sich, dass sie spekulativ nichtaufgeladen sind. Sie verweisen auf einentechnisch-pragmatischen Verwendungs-zusammenhang, dessen Vielgestaltigkeit aufGrund der fehlenden spekulativen Aufla-dung unproblematisch ist. So kann darunterdas Erlernen des Schlagzeugspiels eines Ins-trumentalschülers gefasst sein wie auch dasinstrumentale Praxis und musikwissen-schaftliche Theorie verbindende Lernen inder Schule oder das Lernen einer Pianistinkurz vor ihrem Konzertexamen oder For-men des sozialen Lernens im Ensemble.

Vom Lernen zur Kompetenz

In engem Zusammenhang mit der Beto-nung von „Lernen“ gegenüber „Bildung“ isteine Diskussion zu sehen, die sich auch inder musikpädagogischen Diskussion nieder-geschlagen und das Ergebnis von musikali-schem Lernen, die von Schülerinnen undSchülern durch Lernen zu erwerbenden„Kompetenzen“, in den Vordergrund ge-rückt hat. Bekanntlich wurde sie durch dieinternationalen Vergleichsstudien in denBereichen Lesefähigkeit, Mathematik undNaturwissenschaft wesentlich vorangetrie-ben, wenn nicht gar überhaupt erst in Ganggesetzt. Die grundlegende Änderung derPerspektive wird programmatisch in dervom Bundesministerium für Bildung undForschung initiierten und herausgegebenenExpertise „Zur Entwicklung nationaler Bil-dungsstandards“ erkennbar. Vom bisherigenBildungssystem wird darin behauptet, dasses ausschließlich durch den Input gesteuertwurde. Input meint hier: Haushaltspläne,Lehrpläne, Rahmenrichtlinien, Bestimmun-gen für die Lehrerausbildung usw. DieseInput-Orientierung soll von einer Output-Orientierung abgelöst werden. Output wirddabei u. a. verstanden als Aufbau von Kom-

petenzen, Qualifikationen, Wissensstruktu-ren, Einstellungen, Überzeugungen, Wert-haltungen bei den Schülerinnen und Schü-lern, mit denen die Basis für ein lebenslangesLernen zur persönlichen Weiterentwicklungund gesellschaftlichen Beteiligung gelegtwerden soll. Die Lernergebnisse der Schü-lerinnen und Schüler, in ihrer Gesamtheitverstanden als Leistungen der Schule, wer-den ausschlaggebend. Der Output wird so-mit zum entscheidenden Bezugspunkt fürdie Beurteilung des Schulsystems und fürMaßnahmen zu dessen Verbesserung undWeiterentwicklung.

Entscheidend in der ganzen Debatte: DerOutput soll gemessen werden; er muss des-halb überhaupt messbar sein, und zwarüber den Aufbau von „Kompetenzen“.Kompetenzen sind die bei Individuen ver-fügbaren oder von ihnen erlernbaren kogni-tiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, bestimm-te Probleme zu lösen sowie die damit ver-bundenen motivationalen, volitionalen (wil-lentlich Handlungen steuernden) und sozia-len Bereitschaften und Fähigkeiten, die Prob-lemlösungen in variablen Situationen er-folgreich und verantwortungsvoll nutzenkönnen.

Die Vieldeutigkeit dessicher, dass darüber

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Von Kompetenzen zumBild von Musik

Wenn man, wie die Expertise es voll-zieht, Kompetenzen als kognitive Fähigkei-ten und Fertigkeiten versteht, über die Men-schen verfügen oder die sie erlernen undmit denen sie bestimmte Probleme lösenkönnen, so wird in der Formulierung desKompetenzbegriffs deutlich, dass hier eineFrage „von außen“ gestellt wird. Es sind diePlaner von Lernprozessen, welche die Formdes Lernergebnisses der Schülerinnen undSchüler im Vorhinein definieren; es sind dieLehrerinnen und Lehrer, die den Erwerboder Nichterwerb bzw. den Grad des Er-werbs von Fähigkeiten und Fertigkeiten ab-testen, nachdem Testentwickler, die mit denSchülerinnen und Schülern, den Lehrerin-nen und Lehrern vor Ort im Regelfall kei-nen Kontakt haben, die entsprechendenMessinstrumente erstellt haben. Die Zustim-mung hierzu oder die Kritik an derartigenVorstellungen kann hier ausgespart bleiben.Eine zentrale Frage aber bleibt, und sie trittan die Stelle der „alten“ Frage nach der Bil-dungsbedeutsamkeit schulischen Lernens:Wie gehen junge Menschen mit ihnen zur

Verfügung stehenden Kompetenzen bzw.mit Kompetenzen um, die sie erst noch er-lernen sollen? Und weiter: Auf welche Wei-se stellt sich so etwas wie ein Zusammen-hang, ein Bild jener »Domäne« (so derBegriff der Expertise für Fach bzw. Lernbe-reich) ein, für die Kompetenzen erworbenwerden sollen? Welche Maßnahmen er-möglichen, dass zu erwerbende Kompeten-zen als subjektiv bedeutsam für das eigeneLeben gewürdigt werden?

Mit anderen Worten: Es ist eine je indivi-duelle Leistung von (jungen) Menschen, auseiner Vielzahl von verfügbaren und zu erler-nenden Kompetenzen ein je individuellesBild von einem bestimmten Lern- undHandlungsbereich zu machen bzw. erwei-terte und erweiternde Kompetenzen in die-ses Bild zu integrieren. Das heißt: Hier wirdeine spezifische, subjektiv als einmalig zu be-stimmende Synthese zu leisten sein bzw. ge-leistet. Diese ist – wie jedes Ereignis – ein-zigartig. Sie liegt außerhalb jeglichen pla-nenden Zugriffs von außen. Sie kann nichtgelehrt, nur jeweils individuell geleistet wer-den. Aber dabei kann musikpädagogischesBemühen behilflich sein.

So kann man als Auftrag an musikpäda-gogische Bemühungen formulieren,

ˇ dafür zu sorgen, dass junge Menschenin die Lage versetzt werden, ein immerwieder überholbares, erweiterungs- undvertiefungsfähiges Bild von Musik zu ent-wickeln,ˇ junge Menschen darin zu befördern,ihr Bild von Musik rechtfertigen und ver-antworten zu können,ˇ ihr Bild von Musik für sich zuneh-mend ausfüllen und erweitern zu kön-nen undˇ damit eine Vermutung in Gewissheitzu überführen, dass die Realisation ihresBildes von Musik ein substanzielles Mo-ment ihrer Lebenspraxis bildet.Es ist nun nicht unerheblich zu fragen,

welche Determinanten die Schaffung „je in-dividueller Bilder von Musik“ in Kindernund Jugendlichen bestimmen oder wenigs-tens doch beeinflussen. In erster Näherunglassen sich folgende nennen:

ˇ die Pluralisierung gesellschaftlicherMusikpraxen;ˇ die mediale Mehrdimensionalität derPräsentations-, Vermittlungs- und Aneig-nungsprozesse von Musik;ˇ die veränderte Raum-Zeitkoordina-tion der musikalischen Wahrnehmungund des musikbezogenen Lernens;ˇ die Privatisierung, bisweilen auch Indi-vidualisierung genannt, der Situationenund Formen musikbezogenen Lernens.

Unter musikalischer Bildungverstehe ich vor allem auchMusikgeschichte…

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»Musikalische Bildung«?»Musikalische Bildung«?WAS IST DAS EIGENTLICH?

Dabei könnte man zum Beispiel mittel-alterliche Musik in moderner Form zei-gen (es gibt ja einige Musikgruppen, diedas machen), sodass die Kinder daswieder erkennen können. Auch Ge-schichtswissen über Instrumente solltevermittelt werden.

Der Musiklehrer muss wissen, woherunsere Musik kommt, was Musik ur-sprünglich für eine Bedeutung hatte. Unddass Musik früher für jedermann war undes erst später eine Abgrenzung von Elitengab. Das sollte er den Kindern nahe brin-gen.

Auch völkerkundliche Musik sollte imMusikunterricht vorkommen, besondersMusik von Naturvölkern. Die Kindersollten wissen, welche Musik verschiede-ne Völker haben. Man könnte auch Diaseinbeziehen, beispielsweise um zu sehen,wie bemalte Indianer tanzen.

Maik Grimm,Heilerziehungs-

pfleger

Es ist an dieser Stelle nicht möglich, die-sen Einflussfaktoren auf die Schaffung einesje individuellen Bildes von Musik bei Kin-dern und Jugendlichen detailliert nachzuge-hen. Ich beschränke mich auf einige not-wendige, doch keineswegs erschöpfendeAnmerkungen dazu:

1 Die lange geltende U-E-Differenzie-rung gesellschaftlicher Musikpraxen löst sichzunehmend auf. Der Begriff des Crossoverist in dieser Hinsicht als ein bezeichnendesDokument zu werten. Je weniger sich einebildungsbürgerliche Schicht in der Tradition

Bildungsbegriffs stelltkein Disput entsteht

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FOKUS

des 19. und frühen 20. Jahrhunderts durch-setzen kann, desto weniger behalten derenmusikbezogene Geschmacksstandards undQualitätskriterien Vorbildfunktion und dasöffentliche Leben prägenden Charakter. So-ziale Umstrukturierungen, Internationalisie-rung der Musikszene und des Musikmarktes– insbesondere nach dem Zweiten Welt-krieg – haben eine zuvor in dieser Intensitätund Breite nicht gekannte Diversifikationeiner als besonders wertvoll behauptetengesellschaftlichen Musikpraxis hin zu einerVielfalt gesellschaftlicher Musikpraxen zurFolge gehabt.

standen. Die Präsenz unterschiedlicher kul-tureller (Musik-)Traditionen hat die Fragenach der Vielfalt historischer Wurzeln, nachKontinuität und Diskontinuität, Offenheitoder Geschlossenheit, nach der Integrations-fähigkeit derjenigen Musikpraxis, in derman sich beheimatet weiß und die in demje individuellen Bild von Musik ihre grund-legenden Strukturen eingelassen hat, neugestellt.

Gleichzeitig damit aber erhält jenes Fak-tum erneut Gewicht, dass Musik keineswegsnur – wie so häufig beschworen – grenz-überschreitend verbindend wirkt. Im Gegen-

Aber nicht allein zwischen und innerhalbtraditioneller mehr oder weniger wohl ab-gegrenzter Musikpraxen des europäischenRaums hat sich eine Komplexitätssteigerungvollzogen. Ganz neue Anforderungen an dieRezeption und Produktion von Musik unddamit an die Erstellung eines je individuel-len Bildes von Musik sind, zumindest in denGroßstädten, durch das Eindringen vonTraditionen aus anderen Kulturkreisen ent-

teil: Bilder von Musik, wie sie sich „in denKöpfen und Herzen“ von Menschen finden,können durchaus Grenzen ziehende Funk-tion haben. Das heißt: Bilder von Musik ge-winnen eine Abgrenzungsfunktion gegen-über anderen gesellschaftlichen Gruppen,ein Faktum, das für Jugendkulturen einge-hend untersucht und beschrieben wordenist. Die assoziativen und dissoziativen Funk-tionen von Musiken bilden hohe Anforde-

rungen an die Ausformung eines Bildes vonMusik – und darin eingeschlossen: an iden-titätsbildende Prozesse bei Kindern undJugendlichen.

2 Musik ist schon lange nicht mehr einenur durch das Ohr vermittelte und zur Gel-tung gebrachte Angelegenheit. Das an dieMusik gekoppelte, sich mit ihr, neben ihrbzw. gegen sie bewegende Bild ist ein neueskonstitutives Moment in der Rezeption vonMusik (selbstverständlich auch in deren Pro-duktion). „Das an die Musik gekoppelteBild“ meint hier nicht eine optische Einklei-dung musikalischer Prozesse, sondern die

für ein Gesamt(kunst)werk neuer und neues-ter Provenienz charakteristische konstitutiveEinbindung von Auge, Ohr und Körper.Musik wird so eben nicht nur durch dasrhythmische Wippen des Fußes begleitet,sondern die Präsentation des bewegten undbewegenden Körpers verschmilzt im Bildmit dem klanglichen Substrat zu einem neu-en, andere Rezeptionsformen und Rezep-tionsmodalitäten fordernden Ereignis.

Klassische Lernräume wie die Schule haben ihrenbevorzugten Platz als Ort des Lernens aufgegeben

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Der Musikunterricht in derSchule war für uns immerselbstverständlich – und solltees auch bleiben…

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»Musikalische Bildung«?»Musikalische Bildung«?WAS IST DAS EIGENTLICH?

Musikalische Bildung umfasst für michsowohl das „praktische Musizieren“ undSingen als auch die Vermittlung musik-theoretischer und -historischer Grund-lagen im Rahmen des Allgemeinwissens.

Musik ermöglicht Kommunikation unddas Ausdrücken von Stimmungen undGefühlen auf einer anderen Ebene. Ichglaube, dass Musik nicht nur Freude brin-gen und verbreiten kann, sondern eine imweitesten Sinne „heilende“ Wirkung hat,was sich bei der unterstützenden musik-therapeutischen Behandlung schizophre-ner und depressiver Patienten zeigt.

Im Musikunterricht lassen sich Theorieund Praxis wie in kaum einem anderenFach verknüpfen. Dabei sollte das ge-meinsame Singen der Schüler im Klassen-verband meiner Meinung nach denSchwerpunkt bilden. Daneben spieltnatürlich auch die „kulturelle Bildung“ imSinne des musikgeschichtlichen Grund-wissens (Epochen, Komponisten etc.) einewichtige Rolle. Wünschenswert und ab-wechslungsreich ist die Integration zeit-gemäßer und moderner Musikrichtungen(Black Music, Rock, HipHop u. a.), wasdas Interesse und die Motivation derSchüler im Unterricht steigert.

Stefan Büttner,Medizinstudent

Aber es ist nicht allein die Polymedialitätder Musikpräsentation, die ganz neue, Ler-nen und Bild generierende Anforderungenstellt. Die Produktion von Musik selbst hatsich – und das in besonderer Weise im Be-reich der „Jugendmusik“ – grundlegend er-weitert und damit ganz andere Beteiligungs-strukturen bereitgestellt. Der Computer alsMusikinstrument, das vielen Kindern undJugendlichen eine ganz neue Form eigenerMusikpraxis erlaubt, hat das Instrumenta-rium kreativen Selbstausdrucks substanziellerweitert, ja, bisweilen eine eigene Musik-praxis überhaupt erst möglich gemacht. Mu-sikbezogene Prozesse der „Selbstsozialisa-tion“ haben hier ganz neue Möglichkeitenzugeführt bekommen.

3 Die Veränderung gesellschaftlicherMusikpraxen hat tief greifende Veränderun-gen der Wahrnehmungs- und Rezeptions-modi und damit im Hinblick auf die Formie-rung eines je individuellen Bildes von Musikmit sich gebracht. Dabei spielt die Raum-Zeit-Disposition als Moment sozialer Deter-mination der Wahrnehmung und Rezeptionvon Musik eine erhebliche Rolle. Musikentauchen einerseits auf in privaten Räumen,allein oder mit anderen wahrgenommen,genossen, aufgenommen; andererseits alsein an das Starten eines Düsenjägers erin-nerndes, mit einer bis an die Schmerzgrenzegesteigerten Lautstärke kaum noch gehör-tes, sondern körperlich „in sich hineingezo-genes“ Schallereignis in der Disco. Diesesbleibt, trotz seiner offenkundigen sozialenEinbettung, dissoziierend, sprachliche Ver-ständigung verunmöglichend.

Das zeigt zweierlei: Das Bild von Musikentsteht innerhalb eines architektonischenund eines sozialen Raums, darüber hinausbestimmt durch die Zeit, in der sie gegen-wärtig wird. Bestimmte Formen der Aneig-nung von Musik sind nahezu zu jeder Zeitmöglich, andere erhalten das Flair des Ex-zeptionellen durch ein spezifisches Timing,das dann auch in seiner spezifischen Aktua-lität nicht wiederholbar, sondern nur durchÄhnliches duplizierbar wird.

4 In dem vorhergehenden Hinweis istder vierte wesentliche Determinationsfaktordes Bildes von Musik, welches Menschen

für sich erstellen, angesprochen: die Privati-sierung oder auch Individualisierung musik-bezogenen Lernens. „Klassische“ Lernräu-me, Familie und Schule, haben ihren be-vorzugten Ort als Ort des Lernens aufgege-ben. An ihre Stelle sind die Medien getreten,derer man sich bedient. Diese Notwendig-keit, selbst über den eigenen Musikgebrauchund damit auch über das eigene musikbezo-gene Lernen entscheiden zu können, hat alsKehrseite das Entscheiden-Müssen. Dasheißt: Die Bild-Gestaltung, die Schaffung ei-nes eigen-artigen Bildes von Musik ist mehrdenn je eine Leistung des einzelnen Kindesoder Jugendlichen. Damit sind Eingriffe vonaußen, oder sagen wir es deutlich: musik-pädagogische Bemühungen z. B. in derSchule mit einem sehr viel höheren Risikoverbunden, an diesen Leistungen von Kin-dern und Jugendlichen vorbeizusehen.Dann aber wird Musik in der Schule zurSchulmusik, eine Musik, die höchstens inNegativform in das Bild von Musik eingeht,das sich das Kind, der Jugendliche schafft.

Vielleicht aber schafft die gegenwärtigeDiskussion um und die Einrichtung vonGanztagsschulen jenen Raum und jene Zeitfür eine (musik)pädagogische Gelassenheit,die in einer ganz anderen Weise, als dasbisher möglich war, musikpädagogisches Be-mühen in die „musikbezogene Bild-Gestal-tung“ von Kindern und Jugendlichen ein-bringen kann.

Der Autor:

Prof. Dr. Hermann J. Kaiser,

Professor für Musikpädagogik an der

Universität Hamburg, ist Mitglied des

Instituts für Musikpädagogische For-

schung der Hochschule für Musik und

Theater Hannover und Vorsitzender

des Arbeitskreises Musikpädagogische

Forschung (AMPF). Er gehört dem

Advisory Board der Musikhochschule/

Universität Göteborg (Schweden) an,

ist Mitglied des Nordic Research in

Music Education sowie der Research

Alliance of Institutes for Music Education.

Schafft die Einrichtung vonGanztagsschulen Raum für mehrpädagogische Gelassenheit?

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FOKUS

Der kleine Vorort Achupallas ist eineSiedlung von Allegados, von Hinzugezoge-nen, die sich irgendwann in der GroßstadtViña del Mar eine bessere Zukunft verspra-chen und nun in ärmlichen Verhältnissenleben. Hier spürt man deutlich die wachsen-de ökonomische Ungleichheit in der chileni-schen Gesellschaft, den wachsenden Unter-schied zwischen Arm und Reich. Nochschwieriger sind die Lebensbedingungen inden Siedlungen weiter oben in den Hügeln,wo in so genannten Tómas, den illegalenLandbesetzungen, viele Familien abge-schnitten von jeder Infrastruktur ohneWasser- und Stromanschluss wohnen.

So ist es für Victor vor allem im Winter –wenn sich Straßen in Schlammspuren ver-wandeln und der Regen alles wegspült –mühsam, von der Tóma in die Musikschule„Escuela Popular de Música“ nach Achupal-las zu kommen. Er lebt mit seiner Mutterund zwei Brüdern in der Tóma Reñaca Alta.Alle würden lieber heute als morgen vonhier wegziehen. „Ich habe ein superhartesLeben,“ sagt Victor ziemlich nüchtern, „undmir ist noch nie etwas Gutes oder Besonde-res passiert. Ich suche Gott, aber ohne anihn zu glauben. Ich glaube manchmal, Gotthat mich weggeworfen. Musik ist mir da ein-fach ein Fluchtpunkt, eine Erleichterung –Musik ist wirklich alles, was ich habe.“

Eigenanteil: Energie

Der 17-jährige kommt, wie 110 weitereKinder aus dieser Gegend, zwei-, dreimalwöchentlich in die Musikschule nach Achu-pallas zum Einzel- oder Gruppenunterricht.Angefangen hat er vor ein paar Jahren mitGitarre, heute lernt er mit großer Begeiste-

Musik als Erleichterungund Fluchtpunkt:

Viktor (17), Stipendiat derEscuela Popular de Música.

»MUSIK IST

Wo Musik die Lebensperspektive

ändert: Kerstin Unseld über die

bemerkenswerte Musikschule in

einem chilenischen Armenviertel

Mit dem klapprigen Linien-bus ist es eine ziemliche

Kurverei, bis man Achupallaserreicht. Vom Häusermeer dermondänen Hafenstadt Viña delMar aus, 100 Kilometer westlichder chilenischen HauptstadtSantiago, fährt der Bus etwa 15Minuten die Hügel hinauf – undkommt in eine andere Welt.

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rung Saxofon. Das Instrument darf er vonder Schule leihen, den Unterricht ermöglichtihm ein Stipendium der Kindernothilfe. Seineigener Anteil ist die Energie und Freude,die er in diese Ausbildung steckt. „Musik istmir alles“ – auf diesen einfachen Nennerbringt es Victor und spricht damit für diemeisten der Kinder und Jugendlichen.

Michaela Weyand, die deutsche Entwick-lungshelferin und Leiterin der „Escuela Po-pular de Música“ betont, wie wichtig diefreie, kreative Atmosphäre in dieser nicht-staatlichen Musikschule ist. Denn an denstaatlichen Schulen herrscht – auch Jahrenach dem Ende der Diktatur in Chile –noch ein strenges, autoritäres System. Mi-chaela Weyand kam 1991 zum ersten Malnach Achupallas, lernte dort das Leben derKinder und Jugendlichen von innen undvon unten kennen.

„Zum einen habe ich ihr großes Engage-ment und ihr Interesse an kulturellen undsozialen Aktivitäten gespürt,“ so die Ent-

wicklungshelferin, „zum anderen aber auchdie Härte der sozialen Bedingungen diesergesellschaftlichen Ausgrenzung.“ Und sogründete sie im April 1998 die Escuela, umMusikprojekte langfristig durchführen zukönnen, Musikpädagogik und Sozialarbeitbeispielhaft und nachhaltig miteinander zuverbinden. Die „Escuela Popular de Música“ist in zwei kleinen, flachen Wohnhäusernuntergebracht. Wände und Mauern habendie Schüler bunt bemalt. Um das Geländeführt ein fantasievoller, blau lackierter Zaunmit Musikmotiven aus alten Metallteilen.

Gegen die Perspektivlosigkeit

Hier treffen sich die Kinder und Jugendli-chen nicht nur zum Unterricht: Die Musik-schule ist eine Begegnungsstätte, ein Ortzum gemeinsamen Musikmachen gegen diePerspektivlosigkeit. Im Zentrum der Arbeitvon Michaela Weyand und ihrem Team auszwölf Musiklehrern, Sozialarbeitern und

Psychologen steht die Persönlichkeitsent-wicklung sozial benachteiligter Kinder undJugendlicher. Mit der Förderung von Kreati-vität, künstlerischem Ausdruck und Kom-munikation wird hier ein wichtiger Beitragzur Drogen- und Krisenprävention geleistet.Sinnvolle Freizeit-Alternativen zur Escuelagibt es für die Kinder und Jugendlichen inAchupallas keine. Nüchterne Zahlen offen-baren die großen Probleme der Jugendli-chen: Fast 30 Prozent der Schüler brechenvorzeitig die staatliche Schule ab, ein Drittelder Kinder stammt aus Familien mit allein-erziehenden Müttern, 18 Prozent der Ju-gendlichen nehmen Drogen, 25 Prozentkonsumieren Alkohol.

„Für viele Kinder ist die Schule zu einemzweiten Zuhause geworden,“ zieht Michae-la Weyand nach fünf Jahren Musikschule inAchupallas Bilanz. „Sie fühlen sich wohl, dasie hier ernst genommen werden, da nachihrer Meinung gefragt und ihre ökonomi-sche Situation akzeptiert wird. Sie müssen –anders als in den staatlichen Schulen – beiuns keine andere Wirklichkeit vortäuschen.Und das ist der Ausgangspunkt für unsereArbeit.“ !

alles, WAS ICH HABE«

Oase freier Kreativität in einem immer noch autoritärenSystem: Die Musikschule von Achupallas. Fotos: Unseld

Modellbeispiel: Sozialarbeit plus Musikpädagogik

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Musikalische und sozialeFörderung

Wer sich zu Schuljahresbeginn im Märzan der Escuela anmeldet, kann sich für einStipendium bewerben. Das Sekretariat vonRosa Figueroa ist winzig, im Fensterrahmensteckt eine vergilbte Postkarte mit dem Port-rät von Pablo Neruda. Mütter mit ihren Kin-dern in Schuluniform kommen vorbei. Obein Kind Pan-, Block- oder Querflöte, akusti-sche Gitarre, Klavier, Latin Percussion, Sa-xofon, Schlagzeug, Kontrabass, Geige oderE-Gitarre lernen möchte, wird bei der An-meldung von Rosa Figueroa genauso aufge-schrieben wie die Lebenssituation und dieEinkommensverhältnisse der Familie. Bevordie Kinder schließlich in den Musikunter-richt kommen, treffen die Eltern in einemausführlichen Gespräch den Sozialarbeiter.Es geht um die Bewilligung von Stipendienoder Teilstipendien, aber auch um die ge-samte schwierige Lebenssituation des jewei-ligen Kindes und ihre mögliche Verbesse-rung. Stipendien-Anträge werden genaugeprüft, und im Laufe des Schuljahres ver-folgen Musikpädagogen und Psychologenmittels eines ausgefeilten Evaluierungsbo-gens detailliert die Entwicklung des Schülers.

Musikalische und soziale Förderung wie-gen stets gleich viel. Das Team um Michae-la Weyand arbeitet Hand in Hand. LucíaSuarez ist ausgebildete Sängerin, sie hatCanto Popular an der Universität inValparaiso studiert, später zusätz-lich Psychologie. In der Musik-schule arbeitet sie seit 2001,zunächst als Gesangslehrerin,mittlerweile aber nur noch alsPsychologin. Nebenbei „jobbt“sie im Gefängnis der Stadt. DasGeld kann sie gut gebrauchen, dennsie muss noch zehn Jahre lang ihr Uni-stipendium zurückzahlen. Studierenin Chile ist eine teure Angelegenheitund für die meisten Kinder ausAchupallas unerschwinglich.

FOKUS

Alle Mitarbeiter der „Escuela Popular deMúsica“ haben ungewöhnliche, mehrfach-qualifizierte Berufswege und arbeiten imTeam fachübergreifend. Zum Beispiel Guil-lelmo Panz, der Latin Percussion-Lehrer. Erhat Toningenieur gelernt, ehe er nach Kölnund Rotterdam zum Studium ging, weil erin Chile am Konservatorium nur klassischesSchlagzeug und nicht Jazz- oder Popularmu-sik hätte studieren können. Oder María Ca-rolina López, die noch in Valparaiso studiertund zweimal in der Woche nach Achupallaskommt, um eine Hand voll Geigenschülerzu unterrichten. Wenn es sich ergibt, arran-giert sie auch eine Komposition, dirigierteine spontane Ensembleprobe oder spieltmit einem Schüler im Hof der Escuela einigeFolklorelieder auf der Gitarre.

„Jeder ist willkommen“

Von Deutschland aus gesehen, liegt die-se kleine Musikschule in den chilenischenHügeln tatsächlich am anderen Ende derWelt. Dennoch rückte sie nicht grundlos indas Interesse des Deutschen Musikrats(DMR). Generalsekretär Christian Höppnerbesuchte die Einrichtung in Achupallas:„Die erste, ganz spontane Botschaft, die ichvon dort mitgenommen habe, ist, dass jederwillkommen ist in dieser Schule, dass es kei-nerlei Eingangsvoraussetzungen und Barrie-ren gibt. Jeder hat eine Chance, eine Berei-cherung für sich zu erfahren. Das sind allesDinge, die für die individuelle Persönlich-keitsentwicklung enorm wichtig sind.“

Es lässt aufhorchen, wenn Vertreter desMusikrats hier einen Besuch in eigener Sa-che unternehmen. „Pionierhaft und beispiel-

los ist das, was in Achupallas an musikpäda-gogischer Arbeit geleistet wird“, betont HansBäßler, Professor für Musikpädagogik undDMR-Vizepräsident. Entsprechend habe derMusikrat in seinem neuen Aktionspro-gramm – im Bereich der musikalischen Bil-dung – eine neue Leitlinie entwickelt. Manwerde darauf aufmerksam machen, dass zu-künftig die Frage der musikalischen Breiten-bildung auch eine soziale Dimension hat.Bisher sei in Deutschland der Umstand un-terschätzt worden, dass musikalische Arbeitgleichzeitig auch Sozialarbeit ist. „Natürlichkann es nicht der einzige Sinn und Zweckvon Musikpädagogik sein, das Sekundärzielder Sozialarbeit zu verfolgen“, ergänzt Bäß-ler. „Doch vor dem Hintergrund der Schlie-ßung von Musikschulen in Deutschland undder zunehmenden Einschränkungen desMusikunterrichts an allgemein bildendenSchulen wollen wir deutlich darauf hinwei-sen, dass überall dort, wo musikalische Er-fahrungen gestrichen werden, gleichzeitigauch eine wesentliche Beeinträchtigung so-zialen Lernens stattfindet. Positiv ausge-drückt: Wo Musik in die Sozialarbeit integ-riert wird, Sozialarbeit durch Musik kon-sequent und sehr direkt in das Leben derKinder und Jugendlichen eingreift, verän-dern sich schlagartig die Lebensperspekti-ven. Und zwar für alle.“

SelbstverständlicherUmgang mit Musik

Am Beispiel der „Escuela Popular de Mú-sica“ von Achupallas könne man sehen, dassMusikerziehung nicht zwangsläufig und aus-schließlich mit der Förderung von Begabung

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Musikalische Bildung ist fürmich zweierlei: über Musikund Komponisten Bescheidwissen und selbst ein Instru-ment spielen…

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»Musikalische Bildung«?»Musikalische Bildung«?WAS IST DAS EIGENTLICH?

Das ist sehr wichtig, denn Musik gehörtzu unserem Leben. Der Mensch hatschon immer gesungen, Musik ist einTeil von uns. Alle Teile sollten beisam-men sein.

In der Schule sollte musikalischeBildung nicht nur bedeuten, Klassik zuhören und zu analysieren. Sie muss aufein musikalisches Erleben gerichtet sein.Ich finde hierbei einen wichtigen Aspekt:Was macht Musik mit uns? Der Schulefehlt oft der Bezug zum Leben. Kinderbrauchen aber den Zusammenhang.

Musik spielt im Alltag eine wichtigeRolle. Das Fernsehen ist voller Musiksen-dungen, und wenn sich junge Leutekennen lernen, fragen sie einander:„Welche Musik hörst du?“

Gunhild Haderlein,Einzelhändlerin

und Hochbegabung Einzelner zu tun hat.Dort pflege man den so genannten usuellen,den ganz selbstverständlichen Umgang mitMusik, wenn es um musikalische Breitenar-beit und letztlich um eine Form sozialer Effi-zienz geht. „Musik machen!“ als Appell anKinder und Jugendliche aller sozialer Schich-ten bedeute, Musikerziehung nicht in dieHöhe, sondern in die Breite wirken zu las-sen. Bäßler: „In Achupallas erlebt man, wiewichtig es ist, wenn Jugendliche täglich aktivmiteinander musikalische Erfahrungen ma-chen können. Dies verändert ganz wesent-lich die sozialen Bezüge. Als Musikpädago-

ge habe ich hier einen Beleg dafür, dass ge-meinsames Musikmachen tatsächlich zuVeränderungen führen kann. In Deutsch-land erleben wir dagegen häufig ein Rezipie-ren von Musik, das ausschließlich orientiertist an bestimmten musikalischen Parame-tern. Da kommt die Musik selbst oft kaumnoch ins Spiel.“

Weil die deutsche Kindernothilfe in die-sem Projekt Entwicklungshilfe besonders ef-fektiv und ungewöhnlich realisiert sieht, fi-nanziert sie seit 2000 fast vollständig dieMusikstipendien an der „Escuela Popular deMúsica“ – auf Basis einer Projektpartner-schaft mit jährlich über 40000 Euro. Indi-rekt wird damit auch die breite soziokultu-relle Gemeinwesenarbeit auf Kommunal-und Stadtteilebene gefördert, die die Musik-schule leistet, indem sie offene Veranstaltun-gen und Kurse, Ferienaktivitäten oder Festeorganisiert. Kleine Konzerte und Aktivitäten

jugendlicher Gruppenleiter unterstützen an-dere soziale Organisationen, Jugendgruppenund Schulen. Victor unterrichtet zum Bei-spiel an seiner staatlichen Schule die Jünge-ren im Saxofonspiel. So ist SchulleiterinMichaela Weyand inzwischen stolz darauf,dass viele ihrer Schüler mittlerweile einebessere Instrumentalausbildung haben alsmancher staatliche Musiklehrer.

Bei all dem ist die Elternarbeit in Achu-pallas ein selbstverständlicher Bestandteildes musikschulischen Alltags. Die Escuela istfür die Kinder und deren Familien ein zent-raler Punkt in ihrem Leben geworden, für

den sie auch Verantwortung tragen. Dabeigeht es nicht um eine finanzielle Verpflich-tung, sondern um eine emotionale und sozi-ale Verantwortung für die Entwicklung derMusikschule.

Im Kleinen bewirkt diese „Escuela Popu-lar de Música“ in Achupallas wahre Wun-der. Alltagswunder. Sie schafft musikalischeWunderkinder anderer Couleur. Sie schafftmit Musik Lebensperspektiven.

Beeindruckt von der Sozialarbeit in der chilenischen Musikschule: Die Vertreter des DeutschenMusikrats, Christian Höppner und Hans Bäßler, mit Mitarbeiterinnen der Escuela Popular deMúsica.

Mehr Informationen zur Musikschule in Chile:www.kindernothilfe.de

Unterstützen Sie das Projekt mit Ihrer Spende:KNH-Projektnummer „92003“,Spendenkonto Nr. Nr. 454540,BLZ 350 601 90,Bank für Kirche und Diakonie, Duisburg.

Die Autorin:

Kerstin Unseld, Musikwissenschaft-

lerin und Diplomrundfunkmusikjourna-

listin, arbeitet als Musikredakteurin

beim Bayerischen Rundfunk sowie als

freie Autorin für diverse ARD-Anstal-

ten, Printmedien und Konzertveranstal-

ter. Ferner ist sie als Violinistin aktiv

und hat eine Lehrtätigkeit an der

Frauenakademie Baden-Baden.

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FOKUS

Herr Bundespräsident, sind heute,nach den Initiativen von 2003, Ihre Erwar-tungen in Erfüllung gegangen?

Johannes Rau: Wenn ich die Fragevorschnell mit „Ja“ beantworte, besteht dieGefahr, dass ich der Initiative ein wenigvon dem Schwung nehme, den sie zurzeithat. Ich bin aber froh darüber, dass einigesin Bewegung gekommen ist. Von Aufbruch-stimmung ist die Rede. Die könnten wirauch in anderen Bereichen gut brauchen.

Viele haben sich angestiftet gefühlt,selber etwas zu tun. Das Festival „stadt –klang – fluss“ der Städte Bonn, Köln, Düs-seldorf, Duisburg und Pulheim in diesemSommer ist ein hervorragendes Beispieldafür. Ein anderes Beispiel war der Tag dermusikalischen Bildung auf der Musikmessein Frankfurt am 1. April. Er war deshalb sowichtig, weil an einem Ort, an dem Instru-mente ausgestellt und verkauft werden,einmal über die Grundlagen musikalischerBildung diskutiert wurde.

Ich habe mich auch darüber gefreut,dass die „Jeunesses Musicales“ und dieDeutsche Orchestervereinigung vor weni-gen Wochen bei mir im Schloss Bellevueeine Kooperationsvereinbarung unter-schrieben haben.

Mit dem Kongress „Musikbewegt!?“, für den er die

Schirmherrschaft übernahm, undseinem Projekttag „Musik fürKinder“ hatte der kürzlich ausseinem Amt ausgeschiedeneBundespräsident Johannes Rauim September des vergangenenJahres den Startschuss für eineallgemeine Mobilmachung gegenden Abbau musischer Ausbildunggegeben.

Das MUSIKFORUM fragte im Juni beiRau nach, ob er inzwischen eine erste Ver-besserung der Rahmenbedinungen musika-lischer Bildung ausmachen könne.

Alt-Bundespräsident Johannes Rau zur

Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft:

Nach dem Abschied vom Amt zieht Rau eine erste

Bilanz aus seinen Initiativen gegen die „musikalische

Versteppung“ in Deutschland.

Das Interview führte Christian Höppner

»FÜR MICH SIND BILDUNG

Investitionen in die

Was muss noch passieren, damittatsächlich alle Bürger ein bezahlbares underreichbares Bildungs- und Kulturangebotnutzen können?

Rau: Zunächst müssen wir den Eigen-sinn der Kunst und Kultur achten undschätzen. Wir sollten nicht immer gleichfragen, was das nützt und ob es sich rech-net. Erst wenn wir uns darüber und daraufverständigt haben, können wir eine bessereTeilhabe aller an Bildung und Kultur er-reichen. Die musikalische Bildung hat da-bei besondere Bedeutung, und die mussman sich auch leisten können, sonst bleibtsie wirkungslos.

Weil Musik Menschen einander näherbringt, wirkt sie über den unmittelbarenBereich, in dem sie entsteht, weit hinaus.Sie überwindet vermeintliche Schrankenund Grenzen, und es gibt nicht wenige, diesagen, musikalische Bildung sei auch nebenallem anderen hervorragende Sozialarbeit.

Rechts: Johannes Rau bei derVerleihung des „inventio“-Preises an die„Coolen Streicher“, begleitet von DMR-

Präsident Martin Maria Krüger (2. v. r.)und dem Vorsitzenden der Jury, Hans

Bäßler (2. v. l.). Siehe Artikel auf Seite 26.

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UND KULTUR

Köpfe junger Menschen«Fehlt bei diesem Appell nicht die

Basis, die Verankerung von Bildung undKultur als Staatsziel?

Rau: Wenn ich mir etwas wünschenkönnte, dann wäre es die Verankerungvon Kultur als Pflichtaufgabe auf allenstaatlichen Ebenen. Das bringt zwar keinenEuro mehr, führt aber dazu, dass in diesemBereich der Rotstift nicht kräftiger schreibt.Das ist in diesen Zeiten nicht wenig.

Ich freue mich auch darüber, dass dieDiskussion mit großer Ernsthaftigkeit ge-führt wird und dass die Forderung, Kulturzur Pflichtaufgabe zu machen, so vielUnterstützung findet.

Musikalische Bildung ist eine Gemein-schaftsaufgabe aller gesellschaftlichen Grup-pen: Traum oder ein realistisches Ziel?

Rau: Geist und Talent fallen nicht vomHimmel. Sie wollen gepflegt und vermehrtwerden. Zunächst aber muss man sie ent-

decken. Sie müssen im Elternhaus entdecktwerden oder in der Schule. Das gelingtumso besser, je stärker ein gesamtgesell-schaftliches Bewusstsein dafür besteht, wiewichtig Bildung und Kultur sind. Für michsind Bildung und Kultur Investitionen indie Köpfe junger Menschen und damit einwichtiges Stück Zukunftsfähigkeit unsererGesellschaft.

Der Frage nach Ihren praktischenErfahrungen mit dem Musizieren begegnenSie gerne mit dem Hinweis auf die Lärm-schutzverordnung. Sollten denn Erwachsene,zumal am Ende eines Berufslebens, keinenWiedereinstieg oder gar Neuanfang beimSingen oder mit einem Instrument mehrwagen?

Rau: Für das Musizieren, mit Stimmeoder Instrument, ist es nie zu spät. DieLärmschutzverordnung sollte im Übrigenniemanden abschrecken. Ich wollte damit

nur ausdrücken, dass meine stimmlichenMöglichkeiten gelegentlich im Wider-spruch zur außerordentlichen Freudestehen, die ich am Singen habe.

Und was das Instrument angeht: Siespielen auf meine Erfahrungen im Schulor-chester an – da hatte ich schon seit vielenJahren viel zu wenig Zeit zum Üben. Obsich das jetzt ändert, da wage ich nochkeine Prognose. Das ändert aber nichtsdaran, dass Alter wahrlich kein Hinde-rungsgrund dafür ist zu singen oder einInstrument zu spielen.

Vielen Bürgerinnen und Bürgernerscheint es unvorstellbar, dass mit dem EndeIhrer Amtszeit die so wichtige Stimme Johan-nes Rau zum Thema kulturelle Bildung ver-stummt. Können Sie sich vorstellen, weiterhinIhre Stimme für ein Bildungs- und KulturlandDeutschland zu erheben – zum Beispiel alsEhrenbotschafter des Deutschen Musikrats?

Rau: Mit dem Ende einer Amtszeit gibtman ja seine Stimme nicht ab, schon garnicht bei einem Thema, das mir meinganzes Leben schon besonders wichtig istund das viele Menschen berührt undbewegt.

In welcher Weise ich mich in Zukunftfür Kunst und Kultur, für musikalischeBildung einsetzen werde, das werde ichmir jetzt nach dem Abschied vom Amtüberlegen. Die Aufgabe klingt verlockend.Und an der Wortwahl merken Sie bereits,wenn etwas verlockend klingt, dann sindwir schon mitten in der Musik.

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FOKUS

MUSIK�ORUM22

Es sind ja nicht nur die Musik-hochschulen, die sich um

eine professionelle Ausbildungvon Orchestermusikern undSchulmusikern, von Solisten undRhythmikern, von Kirchenmusi-kern und Musikschullehrern küm-mern. Und doch sind sie es, dieals akademisch-künstlerisch-pädagogischer Gemischtwaren-laden einerseits ein Ort der Inno-vation, andererseits aber aucheiner bildungspolitisch nichtimmer nachvollziehbaren Beharr-lichkeit waren.

Dass sich seit 1968 sehr vieles in derZielsetzung in den Hochschulen und Uni-versitäten verändert hat, ist eher ein Ge-meinplatz. Förderung der Exzellenz und be-rufsbezogene Kompetenz sind nur zwei deraktuellen Schlagworte, die beschreiben, waseigentlich schon immer galt oder hätte gel-ten sollen. Ein anderer Aspekt aber istgenauso wichtig: Die Strukturen der Hoch-schulen haben sich in doppelter Weise ge-wandelt. Zum einen sind eine Reihe vonhochinteressanten Studiengängen mit Vor-bildcharakter für die Entwicklung andererHochschulen hinzugekommen, zum ande-ren haben die neuen Hochschulgesetze Ver-änderungen gebracht, die in der Zeit nach1968 kaum denkbar gewesen wären.

Damals fraktionierten sich mittwochs dieMitglieder des Senats, rieben sich anei-nander, um schon am Donnerstag rechtoder schlecht wieder zusammenarbeiten zumüssen.

Die in dieser Phase entstandene Verant-wortung aller Hochschulmitglieder für dasGanze schlug sich in Senatsbildungen nie-der. Mit dem Vorteil, dass nicht jeder Un-sinn oder jeder Alleingang einfach vonHochschulleitungen durchgezogen werdenkonnte. Doch: Eine Konsensbildung war inder damaligen Zeit schwer zu bewerkstelli-gen. Eher ging es um Zahlenverhältnisse beiAbstimmungen unter Verzicht eines Aus-tauschs von Argumenten – der Tod jedersinnvollen Lösung. Heute jedoch installiertman wieder als letztentscheidendes Gremi-um Präsidien, die sich von den Hochschul-senaten zwar beraten lassen, jedoch auf die-sen Rat nicht hören müssen.

Inzwischen haben sich aber die Zeiten –gerade auch unter dem Gesichtspunkt per-manenter Sparzwänge – in einem weiterenPunkt massiv geändert: Jede notwendige,sinnvolle, interessante und von allen getra-gene Innovation kann allein deswegen ge-kippt werden, weil man ihr nachweist oderauch nur unterstellt, sie sei nicht bezahlbar.Das war früher anders: Nur wenige wolltenInnovationen, denn man hat sich gut ein-richten können in der klassischen Hoch-schule, die aus der Konservatoriumsidee er-wachsen ist (und die so schlecht auch nichtwar). Sie war für die Bereiche praktischenMusikmachens und des Theater-Spielensberufsleitend und berufsbringend, wenn derkünstlerische Unterricht nur auf einem sehrhohen Niveau erteilt wurde. Die Wissen-schaften spielten kaum eine herausragende

Rolle in dem damaligen Konzept, sie hattenmit wenigen Ausnahmen eher eine beglei-tende Funktion.

Der ganz wesentliche Unterschied aberzwischen Vergangenheit und Gegenwart:Die gesellschaftliche Akzeptanz der Künsteim Allgemeinen, der Musik, der Musikaus-übung und der musikalischen Bildung durchdie Musikhochschulen war unbestritten.

Die Probleme

Keine Frage, alle Hochschulen und Uni-versitäten in Deutschland, nicht allein dieMusikhochschulen, kämpfen seit einigenJahren in unterschiedlicher Weise um ihrSelbstverständnis, manchmal auch um ihrÜberleben. Ausbildungsgänge werden ge-schlossen (wie in Chemnitz oder an derUniversität Essen), Institute abgewickelt (wiein Magdeburg schon fast beschlossene Sa-che) oder fusioniert (in Münster oder inHalle). Und überraschenderweise sind dieProbleme immer die gleichen, wenn sieauch nicht immer mit der gleichen Intensitätzuschlagen. Meist steht im Vordergrund diemangelhafte oder zurückgehende Finanzie-rung, die sogleich nach der (gesellschaftli-chen) Bedeutung von Studiengängen, Insti-tuten und ganzen Einrichtungen fragen lässt.Während sich die Naturwissenschaften spä-testens seit der PISA-Debatte kaum überLegitimationsprobleme beklagen müssen,wird die Lage für die Geisteswissenschaftenund auch für die Kunsthochschulen immerenger.

Die Frage, wie viel Kultur sich ein Bun-desland leisten könne, beantworten Ent-scheidungsträger meist aus Sicht ihrer eige-nen Sozialisation – aus dem Bauch heraus

Trotz hohem Ausbildungsstandard sehen sich deutsche Musikhochschulen

mehr und mehr in Frage gestellt. Hans Bäßler zeigt Perspektiven auf

WOHER SIE KOMMT,WOHIN SIE GEHT

Musikhochschule:

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und ohne eine wie auch immer geartetekulturpolitische Position, die von einem klarumrissenen Kulturbegriff ausgeht. Kultur,kulturelle Erziehung, flächendeckendes mu-sik-kulturelles Angebot – sie gehören zumschnellen Einsparungspotenzial, egal obman sich mit dem Rotstift über den Etat ei-nes Stadttheaters, über die Rundfunkgebüh-ren oder gar die gesamte Kreisjugendmusik-schule (wie gerade in Neustadt a. R.) her-macht.

Von daher haben es auch die Musik-hochschulen schwer, in der augenblickli-chen Debatte mit Sachargumenten durch-zudringen, so z. B. gegenüber der Forderungder Hamburger Expertenkommission, dieEingangszahlen der Hochschule für Musikund Theater von 90 auf 80 Studierende ab-zusenken. Eine Logik für die Absenkung istnicht erkennbar.

Oft muss man sich in Diskussionen mitArgumenten auseinander setzen, die kaumnachvollziehbar sind. Da werden auf einmalKosten unterschiedlicher Hochschulen oderzwischen Universitäten und Hochschulenmiteinander verglichen, die eher an denÄpfel-Birnen-Vergleich erinnern, weil einesaubere Parameter-Abstimmung für die po-litische Argumentation anscheinend zu an-strengend oder nicht opportun wäre.

Natürlich sind musikbezogene Studien-gänge finanziell aufwändig; natürlich er-schließt sich der Nutzen mancher Ausbil-dung nicht unmittelbar, weil es um sozio-psychologische Langzeitwirkungen geht.Natürlich muss evaluiert werden, ob dieMittelverwendung angemessen ist. Dochkann dies alles nicht dazu führen, dass derehemalige Konsens, dass kulturelle Bildung(und zu ihr gehört auch die musikalische

Bildung) unverzichtbar ist, jetzt von Politi-kern gern zur Disposition gestellt oder garaufgekündigt wird.

Ein zweiter Problemkomplex kommthinzu: Die Veränderung des Kulturbegriffs.War man sich vor etwa 40 Jahren einig, dassdie tradierte Musikkultur als gegenwärtigeKulturerfahrung unverzichtbar ist und damiteiner Legitimierung nicht bedarf, hat sichdieses Bewusstsein inzwischen ins Gegenteilverkehrt. Die breite gesellschaftlich-kulturel-le Praxis verweigert sich geradezu dieserTradition, lebt in gewissem Sinn zeitlos undreduziert sie auf das, was dem Mainstreamentspricht.

So scheint gerade das, was vor 30 Jahrendenunziatorisch als „Hochkultur“ gezeichnetwurde, nur noch für Eliten sinnvoll zu sein.Genau damit aber werden die Musikhoch-schulen mehr als die Universitäten einemLegitimationsdruck ausgesetzt, dem sie –mangels eines breiten gesellschaftlichenKonsenses – kaum begegnen können.Kaum gesehen oder gar anerkannt wird,dass die Hochschulen – ähnlich den öffent-lich-rechtlichen Rundfunkanstalten – zuwichtigen und innovativen Konzertveran-staltern geworden sind, die in die Öffentlich-keit gehen und damit ihren Beitrag zu musi-kalischer Bildung in der Breite leisten oderleisten könnten.

Daraus entwickelt sich noch ein Prob-lem, über das kaum offen auf den Fluren derHochschulen gesprochen wird (obwohl esjeder spürt, der dort arbeitet): dass nämlichbei einzelnen Hochschullehrern eine sichernachvollziehbare, aber wenig hilfreiche Re-signation eintritt. Und die führt dazu, dassder Impetus für die Gesamtverantwortung,beispielsweise in der Gremienarbeit, einemSich-auf-den-eigenen-Unterricht-Beziehenweicht. Wenn die Verhältnisse schon sosind, wie sie sind, dann soll wenigstens dieeigene Lehrsituation nicht betroffen sein.

Man spürt diese Haltung immer dann,wenn es um die Diskussion von neuenStrukturen, wie jüngst im Zusammenhangmit der bevorstehenden Einführung vonBachelor- und Masters-Studiengängen geht.Was dann für diese Kolleginnen und Kolle-gen allein wichtig bleibt: das eigene Fachnicht gefährdet zu wissen. Hier bedarf esschon großer Disziplin von Kollegen, umsich noch für das Ganze verantwortlich zufühlen, einzelne Handlungsschritte von ei-ner Zielvorstellung abzuleiten und immerwieder rückzufragen, wie sich die mögli-cherweise neuen Einzelinhalte zum Gesam-ten verhalten.

Selbstverständlich kann nicht geleugnetwerden: Es geht der deutschen Musikhoch-

Wie viel Kultur können wir uns leisten?Politiker antworten aus dem Bauch heraus

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FOKUS

* Leider gehen Berlin und Thüringen mit schlechtem Beispielvoran und bleiben bei dem dreijährigen Modell.

schullandschaft im Vergleich zu anderenLändern immer noch sehr gut. Die Vielfaltmit 24 Einrichtungen, die in der Regel aufeinem sehr hohen Niveau ausbilden, ist be-achtlich. Deswegen kann man auch punktu-ell wegsehen und den Eindruck gewinnen,es sei doch alles in Ordnung. Vor diesemWegsehen ist allerdings zu warnen. Im Hin-blick auf die musikalische Bildung an unse-ren Schulen hat man bereits vor etwa 20Jahren weggesehen – die Folgen lassen sichheute in aller Schärfe beobachten.

Nun klingt diese Beschreibung der Prob-lemlage eher allgemein. Sie ergibt sichzwangsläufig, will man die knappe zur Ver-fügung stehende Zeit nicht mit Beispielenfüllen, die dann im einen oder anderen Fallnicht oder zumindest nicht ganz auf die Si-tuation dieser Hochschule für Musik undTheater zutreffen.

Diskussionslage undLösungsansätze

Die Diskussion um die Zukunft derHochschulen ist längst im Gange und wirdweiter anhalten, so lange die Politik vonaußen die Musikhochschulen oder zumin-dest Teile ihrer Ausbildungsgänge in Fragestellt.

Die aus meiner Sicht wichtigste struktu-relle Frage überhaupt, mit der sich die Hoch-schulen befassen oder befassen werden, ist

die Frage nach der Einführung konsekutiverStudiengänge. Oder kurz gesagt: die Fragenach der Einführung von Bachelor- undMasters-Abschlüssen (BA/MA). Verbundensind damit die Forderungen nach einer in-ternational gültigen Anerkennung von Ein-zelteilen des jeweiligen Studiengangs (waseine Vergleichbarkeit voraussetzt) und nacheinem berufsqualifizierenden Abschlussbereits nach der ersten Studienphase.

Sicher wird keiner heute behaupten, dasssich die Musikhochschulen von den Bolog-na-Beschlüssen abkoppeln könnten; dieenglischen und amerikanischen Parallelein-richtungen führen das Gegenteil vor. Aber:Was sich in den Natur- und Geisteswissen-schaften nach einem „1:1-Prinzip“ bei derUmwandlung lösen lässt, hat noch keineGültigkeit für künstlerische Hochschulen.Überall dort in den Musikhochschulen, woman sich bereits jetzt an die Planung einerBA/MA-orientierten Ausbildung gemachthat, musste man feststellen, dass das Prob-lem im Detail liegt – besonders in den schul-orientierten Ausbildungsgängen.

Immerhin, die Dohnany-Kommission inHamburg macht einen sehr guten Vor-

schlag, um der notwendigen Debatte nochein wenig Zeit zu geben: Zwei parallele Aus-bildungswege (nämlich den bisherigen in-tegrativen und den neuen konsekutivenBA/MA-Weg).

Wenn man, wie von den Rektoren derMusikhochschulen zu Recht gefordert, dievier- statt der dreijährigen Bachelor-Phaseeinführt*, auf die eine zweijährige Masters-Phase folgt, dann erhielte man eine Lösung,die der von allen Hochschullehrern immerwieder betonten schwierigen Hochschulein-gangsphase Rechnung trägt. Man käme zueinem „1+3+2-Modell“, das zunächst diemusikalische Grundbildung (= ein Studien-jahr) für das Hochschulstudium absichert,um dann auf einem abgesicherten Plateaumit dem eigentlichen BA/MA-Konzept (dreiStudienjahre mit einem ersten Abschlusssowie zwei weiteren Jahren mit einem wei-teren Abschluss) fortzufahren.

Spitzen- und Breitenförderung unter einemDach!? Konsensbildung ist notwendig

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Für mich ist es wichtig, dassdie Schulen die Grundlagenfür eine musische Bildunglegen, um eine Motivation füreine intensivere Auseinander-setzung mit Musik und ande-ren ästhetischen Bereichen zuschaffen…

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»Musikalische Bildung«?»Musikalische Bildung«?WAS IST DAS EIGENTLICH?

Meinem Naturell entsprechend glaubeich, dass Wissen über Strukturen, formaleAspekte und geschichtliche Hintergründeden Kunstgenuss wesentlich fördernkönnen. Gerade in den Bildungsberei-chen, die meinem eigenen Berufsumfeldferner liegen, profitiere ich immer nochvon dem in der Schule Gelernten.

Eine musische Ausbildung in derSchule sollte ein Verständnis der verschie-densten Bereiche der Musik, wie derKlassischen Musik oder der Neuen Musik,vermitteln. Insbesondere wo vom Eltern-haus solche Impulse ausgehen, kann einemusische Bildung in der Schule aber aucheine gute Motivation und Ermutigungschaffen, sich selbst aktiv mit Musik zubeschäftigen.

Hermann Kolanoski,Professor für Physik

Andere offene Punkte gelten sicher nichtfür die Musikhochschulen: nämlich die Fra-gen…ˇ nach der Auswahl der Studierenden (dieswird durch die Aufnahmeprüfungen gere-gelt),ˇ nach der Internationalität (keine Einrich-tung in Deutschland bildet so viele ausländi-sche Studierende aus wie die Musikhoch-schulen, viele Hochschulen entwickeltenüber Kooperationsverträge mit ausländi-schen Hochschulen Austauschprogramme),ˇ nach den Studienabbrechern (etwa 50Prozent an den Universitäten, nur 20 Pro-zent bei den Musikhochschulen).

Doch es gibt noch weitere berechtigteForderungen: In den künstlerischen Ausbil-dungsgängen, die vorrangig das Erlernen desInstruments im Auge haben müssen, wirdman vermutlich nur dort Interdisziplinaritätanstreben können, wo es um wissenschaftli-che Fächer geht.

Wichtiger scheint mir, dass man endlichzu einer besseren Nutzung von Ressourcenin den Ausbildungskonzepten gelangt. Hierstellen sich die Fragen:ˇ Wie können physiologische, psychologi-sche und soziologische Einsichten allen Stu-dierenden vermittelt werden?ˇ Wie kann eine bessere Zusammenarbeit– immer auf das eigene Haus bezogen –zwischen Musikwissenschaft und Musik-theorie gelingen?ˇ Warum können musikpädagogischePraktika nicht in Kindertagesstätten, Senio-renheimen und alternativen Kommunika-tionszentren abgeleistet werden – in Zusam-menarbeit mit den Fächern Ensemblelei-tung, Musiktheorie (Arrangements!), Musik-pädagogik?ˇ Was spricht eigentlich gegen eine engeKooperation zwischen den Theaterstudien-gängen und der Schulmusik auf dem Hin-tergrund einer immer größer werdendenNachfrage gerade der allgemein bildendenSchulen, um das Fach Darstellendes Spielangemessen zu versorgen?ˇ Und warum setzen wir nicht stärker Life-Long-Learning-Modelle an den Hochschu-len um, indem Fort- und Weiterbildung deneigenen und natürlich auch fremden Studie-renden angeboten werden? Was in der Me-dizin selbstverständlich ist, sollte ebenso füralle Hochschulen gelten.ˇ Und sollten wir nicht noch mutiger an dieGründung von Instituten für Frühförderunggehen, nicht nur wegen des internationalenWettbewerbs, sondern um Begabungenbereits sehr früh aufzuspüren?

Perspektiven

Die Musikhochschulen sind in ihrer jetzi-gen Konzeption durch die historische Vor-gabe sicher eine Art von „Zwitter“. Auf dereinen Seite fördern sie wie keine andere Ins-titution die Exzellenz, indem sie Spitzenbe-gabungen auf höchstem Niveau ausbilden.Auf der anderen Seite aber besteht seit Endeder 20er Jahre des vergangenen Jahrhun-derts ihre Aufgabe zusätzlich darin, dass sieauch für die musikalische Breitenbildung zu-ständig sind, sei es in der Musikerziehung,sei es in der Schul- oder auch in der Kirchen-musik. Wenn man den Weg der Aufsplitte-rung nicht gehen will – und dafür gibt essehr einleuchtende Gründe –, dann mussman in der Zielperspektive jedem der Berei-che die je eigene Professionalisierung zubilli-gen, die sich in unterschiedlichen Kompeten-zen abbildet. Der unsägliche Streit, der aneinigen Hochschulen Deutschlands zu un-überwindbaren Gräben geführt hat, liegt al-lein darin begründet, dass die eine Gruppeder anderen immer wieder mitteilen und

Der Autor:

Prof. Dr. Hans Bäßler, Vizepräsident

des Deutschen Musikrats und Bundes-

vorsitzender des Verbands Deutscher

Schulmusiker, hat einen Lehrstuhl für

Musikpädagogik an der Hochschule für

Musik und Theater Hannover.

vorschreiben möchte, was sie zu tun habe.Käme man dazu, Spitzenförderung undBreitenförderung als zwei sich notwendigaufeinander beziehende Arbeitsbereiche zudefinieren, dann würde damit ein gesell-schaftlicher Akzent gesetzt werden, der inZeiten kulturellen Abbaus unbedingt erfor-derlich wäre. Hochschulen könnten vorfüh-ren, was anderen Ausbildungssystemen häu-fig fehlt: Eine Konsensbildung auf dem Hin-tergrund ihres gesellschaftlichen Auftrags.

Insofern sehe ich die vordringlichste Auf-gabe der Hochschulen eher darin begrün-det, dass sie – selbst wenn dies als herkulei-sche Aufgabe erscheint – zu einer breitenKonsensbildung zwischen den einzelnenGruppen und Interessen führen müssen. EinKonsens kann nur gebildet werden, wo sichdie Bereitschaft ergibt, dass Veränderungensich nicht von eigenen Erfahrungen alleinableiten, sondern wo diese in einem ratio-nalen und transparenten Prozess immerwieder befragt werden.

So bleibt am Ende die Frage nach der Rele-vanz von Musikhochschulen, die sich nur

dann positiv beantworten lässt, wenn es denHochschulen gelingt, sich gesellschaftlich of-fen – das heißt: kulturell offen! – zu entwer-fen. Ohne Ängste und ohne Scheuklappenin einer dienenden Funktion. Eine Gesell-schaft, die sich eine Vielzahl von Musik-hochschulen leistet, hat ein Anrecht daraufzu wissen, warum sie dies tut. Sie könnteüberzeugt werden, wenn wirklich allen Bür-gern die Investitionen zu Gute kämen.

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FOKUS

Mit dem gemeinsamenneuen Förderpreis „inven-

tio 2004“ unterstützen und ver-stärken der Deutsche Musikratund die Stiftung „100 JahreYAMAHA“ den Ruf für ein größe-res Engagement in der musikali-schen Bildung. Der insgesamt mit25000 Euro dotierte und in diesemJahr erstmals verliehene Preis, derherausragende musikpädagogi-sche Innovationen würdigt, gingu. a. an das Orchesterprojekt„Coole Streicher“ aus Hamburg.

Die drei Initiatorinnen des Projekts, An-gelika Bachmann, Iris Siegfried und GesaRiedel, sind Geigen- und Cellolehrerinnen.Sie wollten ihren Schülern nicht die am ei-genen Leib negativ erfahrene Lernsituationzumuten: allein üben, allein spielen, ganzelitär und isoliert.

Die Coolen Streicher sind ein 24-köpfi-ges Streichorchester. Die jüngste Musikerinist gerade einmal fünf Jahre alt, die älteste21 Jahre. Mit Gesa Riedel, einer der Leite-rinnen des Ensembles – sie ist auch Dozen-tin für Violoncello an der MusikhochschuleRostock und Mitglied des Ensembles „SalutSalon“ – sprach Hans Bäßler.

Wie groß ist die Freude als Lehrerinder Coolen Streicher, wenn man damit einenPreis wie den „inventio 2004“ gewonnen hat?

Gesa Riedel: Es ist ein tolles Gefühl,weil man als Lehrer gar nicht damit rech-net, dass die Arbeit, die man als selbstver-ständlich erachtet, für die man sich einsetztund die man auch mit Spaß und Freudeausführt, einen Preis wert ist und dass esüberhaupt einen Preis für solche Arbeitgibt. Wir haben uns beworben und tatsäch-lich den ersten Preis gewonnen.

„inventio 2004“:Anlässlich der Preisverleihung bei der

Veranstaltung „Musik bewegt“ in Frank-furt am Main gaben die Coolen Streicher

eine Kostprobe ihres Könnens ab.

Stolz darauf?

Riedel: Natürlich ist man stolz. Wobeidas nicht ein Preis ist, den wir allein alsLehrer erarbeitet haben. Die Kinder sindbei unseren Projekten sehr engagiert dabei.Wir teilen daher unseren Stolz mit ihnen.

Worin besteht der Unterschied inIhrer Tätigkeit als Dozentin für Violoncello ander Hochschule, wo Sie junge Musiker in dieProfessionalität führen, und Ihrer Arbeit beiden Coolen Streichern?

Riedel: Das ist auf der einen Seite eingroßer Unterschied, da sich das Niveau aufeiner ganz anderen Ebene bewegt, obgleichbei den Coolen Streichern auch Schülerdabei sind, die ambitioniert sind Musik zustudieren. Auf der anderen Seite ist dieArbeit auch sehr vergleichbar, weil wir beiden Coolen Streichern sehr früh anfangen,über Klangentwicklung und KlangerlebnisFarben zu produzieren, was für einen Strei-cher fast das wichtigste Element ist. Da lie-

gen die Problemstellungen sehr dicht bei-einander, auch wenn das intellektuelleNiveau, auf dem gearbeitet wird, unter-schiedlich ist. Wir versuchen bereits sehrfrüh Streicherfarben zu entwickeln. DasRepertoire der Coolen Streicher ist deshalbbewusst breit gefächert. Ein Tango stehtbei uns genauso auf dem Programm wieein Vivaldi-Doppelkonzert oder beispiels-weise ein Stück wie Orange BlossomSpecial. Unterschiedliche Streicherfarbenentwickeln sich durch diese Vielfalt anCharakteren spielerisch von selbst.

Sie spielen nicht Originaltext, sondernaus Arrangements. Können Sie kurz begrün-den, warum die Noten arrangiert werdenmüssen?

Riedel: Es ist notwendig, die Noten zuarrangieren, da das technische Können beiden Coolen Streichern sehr unterschiedlichist. Es gibt Kinder, die schon mit fünf Jah-ren im Ensemble mitspielen. Sie bekom-men eine Stimme arrangiert, die ihrem

GEMEINSAMEKlangerlebnisse

Das Hamburger Orchesterprojekt „Coole Streicher“ setzt auf eine

und erhielt dafür den Förderpreis „inventio 2004“. Ein Gespräch mit

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Stand entspricht, und zupfen dann eineleere Saite, streichen nur wenige Töneoder klopfen auch mal Rhythmen. Auf deranderen Seite gibt es 18- bis 20-jährige, dieauch gefordert werden müssen und des-halb eine anspruchsvolle, virtuose Stimmebekommen. Insofern geht es nicht ohneArrangements, weil die Bandbreite so großist. Es gibt ja auch noch die Mitte, die 10-und 12-Jährigen, jeder hat andere Voraus-setzungen nach seinem persönlichen Kön-nen, aber auch nach dem Alter.

Das Ungewöhnliche an den Auftrit-ten der Coolen Streicher in Frankfurt undauch beim Fest des Bundespräsidenten imvergangenen Jahr in Berlin war wohl, dass Siedie Schüler zusätzlich in eine Choreografieoder Raumerfahrung hineinbringen, die fürStreichorchester alles andere als üblich ist.

Die Schülerinnen und Schüler stehen beimMusizieren und bewegen sich dabei – ist daseigentlich eine Erschwerung oder unter päda-gogischen Gesichtspunkten sogar eine Not-wendigkeit?

Riedel: Es mag auf der einen Seite eineErschwerung sein, auf der anderen Seiteauch eine pädagogische Notwendigkeit.Einfach deswegen, weil es eigentlich ganznormal ist, dass man sich zur Musik bewe-gen mag. Dass wir als Streicher oft so„festgewurzelt“ sind, ist nicht natürlich. EinGeiger ist von seiner Haltung her veranlagtzu stehen und kann sich dadurch ganzanders zur Musik bewegen.

Es ist eines unserer Ziele, das Musik-erlebnis eines Werkes insgesamt zu forcie-ren. Es soll ein körperliches Erlebnis seinund gleichzeitig ein technisches, geigeri-sches oder cellistisches, eben ein ganzheit-lich musikalisches Erlebnis. Ein Cellist kannnur schwer im Stehen spielen. Bei einemStück wie Orange Blossom Special habenwir das ausprobiert. Allerdings wird dieBassstimme dann nur gezupft. Die Celliwerden um die eigene Achse gedreht, undam Schluss aufs Knie geworfen – ein Rie-senspaß, nicht nur für die Musiker, son-dern auch für die Zuschauer. Bei vielenanderen Stücken ist so etwas nicht mög-lich, aber auch auf seinem Stuhl kann einCellist vieles choreografisch untermalen.

Ein wenig scheint mir das in Wider-spruch zu den Probenbedingungen zu stehen– der Probenraum ist oft das Wohnzimmer.Erschweren solche Umstände oder machen sieeinen zusätzlichen Charme aus?

Riedel: Ich glaube, dass das zusätzli-chen Charme bringt. Die persönliche At-mosphäre eines Wohnzimmers ist docheine ganz andere als die eines kargenSchulraums, der von sich aus wenig Aus-strahlung hat. Das ist eine schöne Sache,zumal man zwischendurch auch mal einePause macht und die Kinder sich dann freiim Zuhause der Lehrer bewegen können.Auf der anderen Seite haben die CoolenStreicher mittlerweile eine solche Dimen-sion angenommen, dass es mit den pri-vaten Räumen schwierig wird. Die Kindersollen sich ja auch bewegen und die Bewe-gungsfreiheit kann dann aufgrund vonPlatzmangel durchaus einmal eingeschränktsein. Das ist dann doch erschwerend.

Zu diesen unkonventionellen Bedin-gungen gehört ja auch, dass Sie außerhalbvon jeglicher Institution arbeiten. Ungewöhn-lich deswegen, weil man in Deutschlandmusikalisch-pädagogische Praxis eigentlichimmer in Zusammenhang mit einer Musik-schule bringt. Bringt das Vorteile oder Nach-teile, dass Sie außerhalb von Institutionen aufindividueller Initiative basierend arbeiten?

Ausbildung in der Gemeinschaft

Initiatorin Gesa Riedel

Die Leiterin der Coolen Streicher,Gesa Riedel, beim Cellounterrichtmit einem jungen Ensembletalent.

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FOKUS

Wir sind von einigen Dingen einfach begeis-tert und können unsere Ideen direkt um-setzen, ohne dass unsere Arbeit erschwertwird. Insofern finde ich unseren Stand-punkt außerhalb von Institutionen positiv.

Streben Sie eine institutionelle Ein-bindung an?

Riedel: Wenn das eine sehr reizvolleInstitution wäre, die auf der Ebene unsererArbeit liegt, dann wäre das zu überdenken,weil es organisatorisch eine Erleichterungwäre. Unser Aufwand ist schon ziemlichgroß. Wir streben so etwas aber nicht wirk-lich an. Es geht uns nicht darum, einfachirgendeine Institution im Rücken zu haben.Wenn die Einrichtung nicht in unsereRichtung passt, würden wir das nicht ma-chen. Ich denke, das ist offen, wir werdensehen, was die Zukunft bringt.

Ohne Eltern geht es vermutlich nicht.

Riedel: Das stimmt, bei Kindern imAlter zwischen fünf und zehn Jahren wärees ohne Eltern schwierig. Aber wenn dieKinder erst mal durch die Eltern in dieGruppe eingeführt sind und mehrere Pro-ben oder die eine oder andere Reise mit-gemacht haben, dann werden die Elterndeutlich entlastet. Bei den Coolen Strei-chern gibt es innerhalb der Gruppe Paten.Die älteren Mitglieder des Ensembles sindfür die Jüngeren zuständig, wenn es bei-spielsweise um die Vorbereitung eines Auf-tritts geht oder die Instrumente vor einerProbe gestimmt werden müssen. Schonnach kurzer Zeit soll die Einbindung in dieGruppe so funktionieren, dass die Anwe-senheit der Eltern nicht mehr zwingendnotwendig ist. Dieses soziale Gefüge ge-hört zu unserem pädagogischen Konzept.

Sie haben mit dem Preis auch 6000Euro Preisgeld bekommen. Verraten Sie uns,was damit passiert?

Riedel: Endlich können wir es sagen:Es wird ein Projekt mit der chilenischenMusikschule von Achupallas geben (siehehierzu auch den Bericht auf Seite 16). Diejungen Musiker aus Chile werden nachHamburg reisen und wir werden hiergemeinsam proben. Dann werden wirschauen, wo wir miteinander konzertierenkönnen. Das ist für alle ein wahnsinnigaufregendes und tolles Projekt. Alle sindbegeistert, weil man von den unterschiedli-chen Kulturen, von der unterschiedlichenArt zu musizieren natürlich viel profitierenkann. Unsere Kinder können es kaum er-warten. Wir werden von ihnen jede Woche

Musikalische Bildung ist dieVoraussetzung, um Musik zuverstehen…

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»Musikalische Bildung«?»Musikalische Bildung«?WAS IST DAS EIGENTLICH?

Im Grunde genommen erfährt mandiese Bildung in der Familie, in der Schuleund der Gesellschaft. Doch die heutige,durch Konsum von Musikkonservengeprägte Gesellschaft leistet kaum nochmusikalische Bildung. Die Charts bestim-men, was gute oder schlechte Musik ist.Auch finanzielle Gründe machen eskaum möglich, gute Musik zum Beispielin Konzerten zu hören. Wenn doch, dannsind Programmhefte so, dass man eigent-lich keine musikalische Bildung braucht,um die Musik zu verstehen.

Durch eine gute musikalische Bildungsollte jeder in der Lage sein, sich seineeigene Meinung über gute oder schlechteMusik bilden zu können und dabei nichtvon Charts, Programmheften und Musik-kritikern beeinflusst zu werden.

Siegfried Schmidt,Rentner

gefragt, ob es wirklich stattfindet. Das Preis-geld reicht für ein solches Projekt bei wei-tem nicht aus, aber viele liebe Menschenhaben in den vergangenen Wochen undMonaten dafür gesorgt, dass die Finanzie-rung zustande kommt.

Das Projekt steht ja im Kontext einerAktion des Deutschen Musikrats unter demTitel „Musik bewegt“. Es geht darum zu zei-gen, dass musikalische Arbeit auch Sozial-arbeit sein kann. Sehen Sie diesen Zusam-menhang ähnlich?

Riedel: Auf jeden Fall. Das gilt geradein unserer heutigen Zeit, nicht nur fürChile, auch für Deutschland. Wenn mansieht, aus welch schwierigen Verhältnissenauch in Deutschland Kinder kommen kön-nen, seien es geschiedene Ehen oder ande-re familiäre Probleme, dann kann Musikmehr bewegen, als wir oft glauben.

Können Sie konkretisieren, inwiefernmusikalische Arbeit Sozialarbeit sein kann?In Deutschland wird ja nicht gehungert.

Riedel: Das beste Beispiel hierfür istunsere Gruppe. Eine Gemeinschaft, in dersich die Kinder gegenseitig unterstützen.Sie können über Probleme, die sie bei-spielsweise zu Hause haben, offen reden.Die Gruppe ist eine wichtige Kommunika-tionsbasis, viel wichtiger und schöner, alssich mit seinen Problemen „einzuigeln“. Ineiner Musikgruppe kann und darf ein Kindauf dem Instrument seine Gefühle ausdrü-cken, auch Wut, Enttäuschung, Traurigkeit.Man hat die unterschiedlichsten Möglich-keiten zu kommunizieren. Von Bedeutungist der Kontakt mit uns Lehrern. Bei unse-rer Arbeit spielt das persönliche Verhältniszum Schüler eine sehr große Rolle. ImEinzelunterricht lässt man das ThemaMusik hin und wieder auch mal für einenMoment sein und redet über persönlicheProbleme oder Schwierigkeiten.

! Riedel: Ich glaube, das Bedürfnis ist beijedem individuell verschieden. Viele Men-schen brauchen eine Institution, in der siearbeiten können. Vielleicht auch, um eineAutorität im Rücken zu haben. Anderefühlen sich durch solche Institutionen ein-geengt. So würde ich das bei uns aucheher sehen. Wir haben so viele Ideen, diewir einfach realisieren möchten, ohnebürokratische Wege durchlaufen zu müs-sen oder Genehmigungen abzuwarten. Indem Moment, in dem wir frei arbeiten,können wir das tun, wozu wir Lust haben.

Neben den Coolen Streichern wurden folgendeProjekte mit dem „inventio 2004“ ausgezeichnet:19,4 – das junge Klassik-Magazin des BayerischenRundfunks • das Musikschulmodell der Hofer Sym-phoniker • das klingende Museum in Berlin • dasProjekt „Eine Reise in die Musik des 21. Jahrhun-derts“/Landesmusikrat Hamburg • das MünchnerProjekt „Musik zum Anfassen“ • der Tag des Sin-gens in Grundschulen/Landesmusikrat Sachsen-Anhalt • der Modellversuch zur Kooperation vonMusikschulen und allgemein bildenden Schulen/Landesverband der Musikschulen Hessen • die Pro-jekte „Oper in der Schule“ und „Response 2004“/Landesmusikrat Hessen sowie • der internationalausgeschriebene Wettbewerb „Verfemte Musik“.

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GANZTAGSSCHULE

Die Zukunft musikalischer Bil-dung in ganztägigen Schul-

systemen umreißen – das war dasZiel des internationalen Kongres-ses „Musik in der Ganztagsschule“,der vom 20. bis 22. Mai in König-stein im Taunus stattfand.

Über 230 Teilnehmer folgten der Einla-dung, um neben möglichen Kooperationenmit Schulen auch den Begriff der musikali-schen Bildung grundsätzlich neu auszuloten.So war es nur folgerichtig, dass der Präsiden-tin der Kultusministerkonferenz, Doris Ah-nen, am Ende des Kongresses ein Positions-papier als Resolution der Mitgliedsverbändedes Deutschen Musikrats (DMR) überreichtwurde. In diesem Papier, das die Ergebnisseder Tagung zusammenfasst, werden Leitpers-pektiven für das SchulentwicklungsprojektGanztagsschule formuliert. Die Leitlinien be-tonen die immanente „große Freiheit“ undfordern ein „ganzheitliches Bildungsver-ständnis“, das dem tieferen Ziel der Ganz-tagsschule entspricht.

— Lesen Sie das DMR-Positionspapier auf S. 33

Der Kongress stand im Zeichen des grup-penweisen Austauschs von Erfahrungen,Wünschen, denkbaren Möglichkeiten, aberauch allgemeiner Befürchtungen. InhaltlichePerspektiven möglicher Kooperationenaußerschulischer Musikbildungsträger mitGanztagsschulen standen ebenso im Blick-punkt wie die verschiedenen Schulformenund ihre unterschiedlichen Bedürfnisse. DieErgebnisse der Arbeitsgruppen waren viel-seitig und ideenreich und lassen sich so zu-sammenfassen:

Ein internationaler Kongress befasste sich mit den Perspektiven und Chancen

von „Musik in der Ganztagsschule“. Brigitta Ritter berichtet aus Königstein

UND GANZHEITLICHESBILDUNGSVERSTÄNDNIS

»Große Freiheit«

ˇ Kooperationen sollten nicht um jedenPreis eingegangen werden. Es müssen immersinnvolle Konzepte ausschlaggebend blei-ben.

ˇ Der Musikunterricht der allgemein bil-denden Schulen soll ergänzt, keinesfalls er-setzt werden.

ˇ Die außerschulischen Kooperations-partner möchten die aktive Aneignung desMusikerlebnisses in den Vordergrund rü-cken. Das eigene Tun und dessen Reflexionstehen, den traditionellen Musikunterrichtder Schulen ergänzend, im Mittelpunkt.

ˇ Kooperationen sollten personenunab-hängig und mittel- bis langfristig angelegt

sein. Einzelne Projekte sind zwar erwünscht,sollten aber nicht die Regel von Kooperatio-nen bilden.

ˇ Kooperationen sollten regional konzi-piert sein: Das heißt einerseits, dass spezifi-sche regionale Angebote gemacht und ge-nutzt werden sollten, u. a. weil die Brei-tenwirkung auch in der Öffentlichkeit effek-tiver wirkt, und andererseits, dass meistenssolche regional arbeitenden Konzepte fürSchüler den Reiz des unmittelbareren Le-bensumfeldes bedeuten, etwa in Hinsichtder Anerkennung außerschulischer Leistun-gen und Fähigkeiten oder spätere Berufspers-pektiven eröffnend. !

Das Teilnehmerplenum bei der Eröffnung des Kongresses in Königstein.

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ˇ Kooperationskonzepte sollten ge-meinsam von beiden Partnern entwickeltwerden und das ohne Konkurrenzgedan-ken. Nur so könnte es zu einer tatsächlichenIntegration des außerschulischen Partners inden gemeinsam zu leistenden Lern- und Er-ziehungsprozessen kommen.

ˇ Für die Kooperationsangebote sollte –wie für die Ganztagsschule generell – gel-ten, dass sie eine Angebotsschule ist: Nichtalle Schüler müssen sich zwanghaft demgleichen Rhythmus unterwerfen.

ˇ Die Wahrnehmung von Koopera-tionsangeboten bedeutet auch Lernen amanderen, nichtschulischen Ort. Es sollte je-weils darüber nachgedacht werden, ob dasAngebot besser in schulischen Räumlichkei-ten stattfinden sollte oder ob der Ort desPartners besser geeignet ist.

ˇ Der Aspekt der Ganzheitlichkeit desBildungsprozesses wird von den Koopera-tionspartnern betont.

ˇ Kooperationen sollten nicht nur zwei-dimensional gedacht werden, sondern durch-aus auch einen dritten Partner einbeziehen,wenn dies sinnvoll erscheint. Beispiel: Schu-le – Musikschule – Verein.

ˇ Es ist notwendig, gemeinsam ein mu-sikpädagogisches Gesamtkonzept zu entwi-ckeln.

Informationsstruktur mussverbessert werden

Weitere Aspekte einzelner Kooperations-partner wurden in den Diskussionen ange-sprochen: So bieten die Musiktheater undKulturorchester bereits jetzt vorzugsweiseProjekte vor Ort, wünschen sich aber einebessere Nutzung möglicher Zusammenar-beit. Auch die Medien, vor allem der Rund-funk, betonen, dass es zahlreiche Angebotegäbe, die dann aber nicht abgerufen wür-den. In den Arbeitsgruppen zeichnete sichab: Die Informationsstruktur muss deutlichverbessert werden – sowohl, was die regio-nalen wie auch die landesweiten Möglich-keiten betrifft. Die Priorität des HessischenRundfunks mit der „Stiftung Zuhören“ undden Hörclubs liegt beispielsweise beim ver-stehenden Hörenkönnen, ein Angebot, dassich vorzugsweise an den Grundschulbe-reich richtet. Wünschenswert wären fest ter-minierte Medienstunden, die als Angebotefür Schüler verlässlich täglich zu einer be-stimmten Uhrzeit auf verschiedenen Kanä-len wahrgenommen werden könnten.

Die Arbeitsgruppe „Musik und Bewe-gung“ hob hervor, dass Rhythmus- undTanzangebote nicht nur projekthafte Repro-duktion von Bewegungen mit dem Ziel ei-

ner Bühnenaufführung bedeuten sollten,sondern ebenfalls langfristig angelegt wer-den müssten, um altersdifferenziert stilisti-sche und kulturelle Vielfalt vermitteln zukönnen. Bewegung diene nicht nur der Ge-waltprävention, sondern es müsse deutlichwerden, dass eine Ausdrucks- und Kunst-form transportiert werde.

Von der Arbeitsgruppe „vokale Laienmu-sik“ wurde propagiert, dass gemeinsamesSingen wieder selbstverständlicher werdenmüsse. Hier könnten Partner vielgestaltig Fa-cetten des Singens anbieten, fachfremdeLehrer (vor allem in den Grundschulen)professionell begleiten und das Repertoireverbreitern, um u. a. ein Gegengewicht zumjugendlich präferierten Rock-Pop-Bereich zuschaffen. Gemeinsame Projekte, etwa ge-meinsame Konzerte des Chors des Deut-schen Sängerbundes und des Schulchors,seien denkbar.

Rau war SchirmherrDer internationale Kongress „Musik inder Ganztagsschule“ wurde – im Auftragdes Deutschen Musikrats – vom VerbandDeutscher Schulmusiker organisiert, Alt-Bundespräsident Johannes Rau über-nahm die Schirmherrschaft. Inhaltlichvom Präsidialausschuss „MusikalischeBildung“ des Musikrats vorbereitet, si-cherten die Mainzer Strecker-Stiftung,die Ernst von Siemens Musikstiftung(München) und der Stiftungsfond derDresdner Bank (Frankfurt/Main) die Fi-nanzierung.

Verwies auf positiveOptionen der Bundes-

Initiative „ZukunftBildung und Betreu-

ung“: Katrin Höhmann.– Begrüßte in seinemTagungsprolog denbildungspolitischen

Willen zur Einführungder Ganztagsschule:DMR-Vizepräsident

Hans Bäßler

projekthaft ausgelegt sein werden, stehenQualität und Kreativität im Mittelpunkt desLernens: Nicht nur um Reproduktion aktu-eller Pop- und Rocksongs kann es gehen,auch der notenfreie Umgang mit Musik, dieImprovisation sollten vermittelt werden. Da-mit könnten sich Jugendliche in ihrer Ex-pressivität erfahren.

Chancen der Kooperationin diversen Schulformen

Schulformspezifische Überlegungen zuKooperationschancen resultierten in folgen-den Aspekten:

ˇ Ziele des Musikunterrichts der Grund-schulen sind das Vermitteln von Freude ander Musik sowie Orientierung zu schaffen:Öffnung von und für Kultur. Dieses nach-haltig zu initialisieren, kann von qualifizier-ten Kooperationspartnern geleistet werden.

ˇ Für die Gesamtschule gilt, dass sie einebreite Klientel bietet und dass diese Schul-form – hinsichtlich der Personal- und Sach-ressourcen – auf die Heterogenität der Schü-ler eingerichtet ist.

ˇ Für die Haupt-, Förder- und Sonder-schulen gilt, dass sie meistens wenig oderkeine Fachräume besitzen, dass es nicht dasFachlehrerprinzip gibt und dass Versagens-ängste auf allen Seiten existieren. Geradehier liegt ein notwendig zu versorgendes,breites Betätigungsfeld für Kooperationen.Schüler könnten über ihr aktives Musiziereneinen Lebensbezug gewinnen und ihre Be-rufsperspektiven stärken. Lernen könnteunverbogener auf ihrer emotionalen Ebenestattfinden.

ˇ Die Realschule kennzeichnet das Spe-zifikum, dass die Schüler sich einerseits fürdie gymnasiale Oberstufe qualifizierenmöchten und andererseits ihre Berufschan-cen wahrnehmen müssen. Angebote solltendies berücksichtigen.

ˇ Die Gymnasien wünschen sich eineflexiblere Stundentafel, die Kooperationenerst vielgestaltig ermöglichen könnte, eineVereinheitlichung von Bildungs- und Quali-

Für die „Populäre Musik / Musikproduk-tion“ und die „Rock-Jazzgruppen“ ist esselbstverständlich, im Team-Teaching zu ar-beiten: Der Lehrer der allgemein bildendenSchule lernt von den Musikern, und derMusiker lernt den Umgang mit Klein- undGroßgruppen. So wird gemeinsam gestalte-ter Unterricht tätige Fortbildung. Auchwenn diese Kooperationen vorzugsweise

FOKUS

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MUSIK�ORUM 31

Wir versuchen Bildungbeizubringen, aber nicht denMenschen zu bilden…

❞❞

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UM

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»Musikalische Bildung«?»Musikalische Bildung«?WAS IST DAS EIGENTLICH?

Derzeit besteht ein Übergewicht derNaturwissenschaften gegenüber derMusik, Kunst, Religion und Philosophie.Dieses Übergewicht engt den Menschenin seiner ganzheitlichen Bildung ein, weildie Naturwissenschaften nicht musischeTiefendimensionen wecken können, diedas menschliche Dasein ausmachen. DieMusik vermag menschliche Werte zu ver-mitteln, die Naturwissenschaften sie zuverdrängen aufgrund ihrer wirtschaftli-chen Orientierung. In der Schule gilt es,dieses Gleichgewicht herzustellen und dieFächer zu verbinden, damit die Wertever-mittlung gestärkt wird und die Schülerlernen, die Zusammenhänge zu erken-nen. Beispiel „Urknall“: Er ist Bewegung,Schwingung, die sich in einer Kurve dar-stellen lässt, aber Schwingung, die auchgleichzeitig Ton ist. In der Natur selbstliegt also die Ganzheit, die wir durchunsere wissenschaftliche Betrachtungvoneinander zu trennen versuchen, mitder Folge, dass unser „Schubladenden-ken" verhindert, Zusammenhänge wahr-zunehmen.

Der Musikunterricht sollte die Fragebeantworten: Was macht Musik in mei-nem Leben aus? Die Musik wird erst Be-deutung für den Schüler erlangen, wenndie Freude an der Musik erfahrbar wird.Noten und Tonleiter allein werden dasnicht vermitteln können. Schüler müssenin Kleingruppen Klänge ausprobierenkönnen und sie mit ihren Mitschülernkombinieren lernen. So werden sie dieWirkung der Musik auf sich selbst er-fahren und ihre Hörfähigkeit stärken.

Claus Friedemann,Religionslehrer

tätsstandards und die Möglichkeit der Über-nahme von Best-Practise-Modellen.

ˇ Die musikbetonten Schulen schaffenRäume in vielerlei Hinsicht: Meistens sindLokalitäten, Ausstattungen, Zeitkontingenteund Freiräume, auch innerhalb der Curricu-la, gegeben. Aber diese Schulen dürftennicht als Entschuldigung für Missstände ananderen Schulformen dienen.

Die von DMR-Generalsekretär ChristianHöppner moderierte Abschlussdiskussionund Tagungskritik formulierte noch einmalsehr deutlich den Wunsch, den mit demKongress initialisierten Erfahrungsaustauschnun zu institutionalisieren. Der HamburgerMusikpädagoge Hermann J. Kaiser betonte,es sei notwendig, auf Basis der Kongress-ergebnisse, des deutlich artikulierten Infor-mationsbedürfnisses und des Wunschs nacheiner bundesweit vernetzten Struktur miteiner Pilotstudie zu beginnen, die – musik-pädagogisch-analytisch und empirisch-wis-senschaftlich – die von der Bundesregierunggestartete Initiative zur Ganztagsschulent-wicklung für das Fach Musik begleitet.

Am Kongressende deutete sich die Mög-lichkeit der Auslobung eines „Best-Practise-Preises“ an, mit dem – über drei Jahre in Fol-ge – jeweils eine im Bereich Musik innovativwirkende Ganztagsschule ausgezeichnetwerden soll.

Ganztagsschulen mit vierMilliarden gefördert

Der Eröffnungstag des Königsteiner Kon-gresses hatte zunächst der Information ge-dient: Nach einführenden Worten des Vize-

präsidenten des Deutschen Musikrats, HansBäßler, verwies Katrin Höhmann vom Insti-tut für Schulentwicklungsforschung der Uni-versität Dortmund detailreich auf bildungs-politische und institutionelle Möglichkeitender vom Bund seit September letzten Jahresgestarteten Initiative „Zukunft Bildung undBetreuung“. Über diese Initiative werde dieEinrichtung von Ganztagsschulen in dennächsten Jahren mit vier Milliarden Eurogefördert.

— Lesen Sie Katrin Höhmanns „10-Punkte-Programm“ für die Kooperation schulischerund außerschulischer Partner auf S. 32

Timo Veijola, Leiter des Espoo Music Ins-titute in Finnland, stellte das finnische staatli-che Musikschulsystem und die Kooperatio-nen mit den Schulen vor. FaszinierendeFacetten an Musikschulkooperation mit in-dividuellen Schulbedürfnissen führte RogerDurston vor Augen, der die englische Regie-rung bei der Entwicklung innovativer Schul-formen berät.

Vier bundesdeutsche exemplarische Bei-spiele gelingender Kooperation machtenMut: so ein Modellprojekt in Nordrhein-Westfalen, bei dem Offene Ganztagsgrund-schulen und Musikschulen kooperieren unddie Zusammenarbeit der Eisenberger Blas-kapelle in Rheinland-Pfalz mit der dortigenPestalozzischule; die Kooperation von „Let'smake music e. V.“ in Baden-Württembergund der Hauptschule Landau (Rheinland-Pfalz) geht im nächsten Schuljahr unter demNamen „1st Class Rock“ in ihre Pilotphase;hoffnungsvoll ist auch das Konzept der Don-Bosco-Schule, einer Regional-Schule imrheinland-pfälzischen Herdorf, die freieKünstler wie Sänger und Tänzer für Musi-cal-Projekte engagiert.

Die Zukunft der musikalischen Bildung liefer-te in Königstein reichlich Diskussionsstoff.

Die Autorin:

Brigitta Ritter studierte Schulmusik,

Violine, Musikwissenschaft und Germa-

nistik in Hannover und war in den 90ern

Leiterin des Theatermuseums und

-archivs sowie Opern- und Konzert-

dramaturgin der Niedersächsischen

Staatstheater Hannover. Sie ist heute

als Musik- und Deutschlehrerin tätig

und publiziert zur Musik- und Theater-

geschichte.

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MUSIK�ORUM32

Das Thema „Ganztagsschule“ ist eines der zentralen bildungs-politischen Themen der Gegenwart. Mit ihm verbinden sich ver-schiedenste Reformfantasien. Es geht dabei ebenso um die Ver-besserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf wie um dieFörderung von ausländischen Kindern, ebenso um eine Entschär-fung der Selektionsmechanismen wie um die Vermittlung von So-zialkompetenzen, ebenso um Betreuung wie um Bildung. Wäh-rend sehr viele Ganztagsschulen, die bis August 2003 inDeutschland gegründet wurden, gebundene Ganztagsschulensind, also Ganztagsschulen, die verbindlich sind für alle Kinderund Jugendliche der Schule, werden nun – angestoßen durch dasInvestitionsprogramm Zukunft Bildung und Betreuung des Bun-desministeriums für Bildung und Forschung – in allen Bundeslän-dern eine Vielzahl von Halbtagsschulen in offene Ganztagsschu-len umgewandelt. Bei diesen findet im Allgemeinen der Unterrichtwie gewohnt am Vormittag statt. Am Nachmittag kommen Arbeits-gruppen (AGs) und Freizeitangebote hinzu. Die Länder haben un-terschiedliche Ganztagsprogramme entwickelt: In Hamburg liegtbesonderes Augenmerk auf den Gymnasien, in Nordrhein-Westfa-len auf den Grundschulen, in Baden-Württemberg auf den Haupt-schulen – um drei Beispiele zu nennen.

Die Ganztagsschule bietet gute Voraussetzungen, die Möglich-keiten der ästhetischen Bildung in der Schule zu erweitern undzusätzlich zum Musik- und Kunstunterricht vielfältige andere An-gebote zu etablieren. Dabei geht es sowohl um Breitenförderungwie um die Förderung besonderer Begabungen. Damit das „Hausdes Lernens“ wirklich auch zu einem Haus kultureller Bildung wer-den kann, ist es wichtig, einige Aspekte zu berücksichtigen:

1 Sämtliche schulischen Bildungsangebote aufeinander ab-stimmen: Es sollte nicht allein darum gehen, ein Nachmittagsange-bot zusammenzustellen und mit einer Fülle von Angeboten bereitszufrieden zu sein. Nicht nur die Schulen und ihre außerschulischenKooperationspartner müssen zueinander passen, auch die Unter-richtsangebote und die AG- und Freizeitangebote solltenaufeinander abgestimmt werden.

2 Die Lehr- und Lernkultur weiterentwickeln: Ganztagsschuleist etwas anderes als den ganzen Tag Schule im traditionellen Sin-ne. Es ist auch eine Aufgabe aller der in Ganztagsschule Tätigen,die Lehr- und Lernkultur so weiter zu entwickeln, dass individuelleFörderung sinnvoll möglich wird. Dies betrifft Lehr- und Lernme-thoden ebenso wie Organisationsstrukturen.

3 Tagesablauf und Schuljahr rhythmisieren: Sinnvolles Ler-nen braucht einen rhythmisierten Tagesablauf, Lern- und Freizeit-

MACHT SCHULE

10 Punkte für die Kooperation schulischer undaußerschulischer Partner im Dienste der ästheti-schen Bildung am Beispiel des Musikunterrichts.

Von Katrin Höhmann vom Institut für Schulent-wicklungsforschung der Universität Dortmund

angebote, Phasen von Anspannung und Entspannung; eher kogni-tiv und an der Erarbeitung von Wissensbestandteilen orientierteFächer und kreative, handlungsorientierte Fächer sollten sich sinn-voll abwechseln. Eine Rhythmisierung gilt für den Tagesablaufebenso wie für das Schuljahr.

4 Qualifiziertes (pädagogisches) Personal unterschiedlichs-ter Professionen einstellen: Schule sollte von Menschen unter-schiedlichster Professionen gestaltet werden. Neben Lehrer(innen),Sonder- und Sozialpädagog(innen) könnten dies auch Musiker(innen), Mitarbeiter(innen) der Theater und Museen oder engagier-te Laien aus Musikvereinen sein. Wichtig: Sie müssen in der Arbeitbegleitet und in pädagogischen Fragen fortgebildet werden.

5 Verlässliche Trägerstrukturen schaffen: Verträge bzw. Ko-operationsvereinbarungen sind hierfür eine wichtige Basis. DieZahl der Träger des Nachmittags sollte nicht zu groß sein, die derVerhandlungspartner für die Schule überschaubar bleiben. Idealwäre, wenn ein Träger sich verbindlich um den Nachmittag küm-mert und die Angebote zusammenstellt.

6 Kooperationen zwischen den Beteiligten verbindlich ge-stalten: Kooperation braucht Verlässlichkeit, sie muss Zuständig-keiten und Verantwortlichkeiten klären. Dies betrifft auch den In-formationsfluss innerhalb der Schule und das Einhalten vonVereinbarungen. Und bedeutet, dass Regelungen gefunden wer-den müssen, um Informationen über Schüler auszutauschen.

7 Die finanzielle Grundausstattung für alle Bildungsbereichesichern: Sowohl der Unterrichts- wie der Freizeit- und AG-Bereichbrauchen eine finanzielle Grundausstattung, die sinnvolles Arbei-ten ermöglicht. Wichtig wäre, dass der finanzielle Rahmen über ei-nen längeren Zeitraum garantiert ist, um Planungssicherheit zuschaffen.

8 Schule nicht weiter verschulen und bewusst Freiräumeschaffen: Wenn Schule ganztägig geführt wird, muss sie sich über-legen, wo sie Freiräume für Schüler(innen) schafft, in denen es un-gebundene Angebote gibt, und wie sie zum Beispiel die Pausenzei-ten gestalten möchte.

9 Räume kreativ und sinnvoll nutzen: Gut ausgestattete Räu-me sind ideal, aber auch im vorhandenen Bestand, der vielleichtnicht den Maßstäben entspricht, ist mit Kreativität und guter Pla-nung sinnvolle Arbeit unter Umständen möglich.

0 Die gebundene Ganztagsschule für alle schaffen: Die ge-bundene Ganztagsschule schafft günstigere Voraussetzungen fürBildung und Förderung. Der höhere Grad an Verbindlichkeit, diestabileren Lerngruppen, die Möglichkeit, den Tag rhythmisieren zukönnen, sind dabei nur einige Aspekte. Die Qualität offener Ganz-tagsschulen liegt darin, ein hochwertiges Betreuungsangebot bie-ten zu können. Beide Modelle bieten den Vermittlern ästhetischerBildung einen Rahmen, um kulturelle Werte, künstlerische Praxisund die theoretische Auseinandersetzung mit Kunst und Musikverstärkt in die Schulen tragen zu können. Die gebundene Ganz-tagsschule gewährleistet, dass alle Schülerinnen und Schülerhiervon profitieren.

Wenn es den Beteiligten gelingt, kreativ und kompetent, syste-matisch und verlässlich, mit dem Blick für das Machbare undohne die pädagogische Vision einer grundsätzlich verändertenSchule für alle Kinder aus den Augen zu verlieren an Ganztags-schule mitzuarbeiten, dann könnte es gelingen, Schule wieder imumfassenden Sinne zu einem gesellschaftlich zentralen Ort derBildung werden zu lassen – auch der ästhetischen Bildung.

Ästhetische Bildung

FOKUS

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MUSIK�ORUM 33

Die Bestrebungen zur Einführung der Ganztagsschule (in dergebundenen, halboffenen oder offenen Form) sind zu sehen vordem Hintergrund des in den letzten Jahrzehnten eingetretenen ge-sellschaftlichen Wandels (Veränderung der ökonomischen Rah-menbedingungen, der Arbeitsmarktsituation, des sozialen Gefü-ges, der zunehmenden kulturellen Vielfalt in der BundesrepublikDeutschland).

Diese gesellschaftlichen Veränderungen wird auch die Schulein Rechnung stellen müssen. Das heißt, das System allgemein bil-dende Schule wird sich zunehmend intensiver im Hinblick auf einekomplexer gewordene Gesellschaft in differenzierter Form öffnenmüssen. Die Bildungspolitik hat Konsequenzen aus diesen Verän-derungen u. a. in der Weise gezogen, dass sie erneut die Ganztags-schule (in den zuvor erwähnten Formen) in die öffentliche Diskus-sion eingebracht hat.

Für Musik in der Schule bedeutet dieses beispielsweise, dassdie gesamte vielgestaltige Breite der in unserer Gesellschaft vor-handenen musikalischen Praxen auch in der Schule ihren Ort ha-ben muss und dass sie ein Moment ist, an der die Qualität vonSchule überhaupt gemessen werden wird. Denn die in der musika-lischen Praxis und Reflexion von den Schülerinnen und Schülernzu gewinnenden Fertigkeiten und Einsichten entscheiden über de-ren Bild von Musik in unserer Gesellschaft und überschreiten – wiewir inzwischen genauer wissen – den Bereich des „Nur-Musikali-schen“. Insofern gewinnt auch der Begriff der „musikalischen Bil-dung“ einen ganz neuen Inhalt.

Aber nicht allein für das System allgemein bildende Schule undfür die darin verortete Musik zeichnen sich grundlegende Verän-derungen ab. Die Ganztagsschule wird neue Lern- und Lehrformenin das System Schule einbringen, u. a. auch dadurch, dass bisherin der Schule nicht vertretene, jedoch unabdingbar notwendigeästhetische und pädagogische Perspektiven durch die Einbezie-hung von unterschiedlichen Kooperationspartnern zur Geltungkommen. In diesem Zusammenhang ist nicht nur an eine Koopera-tion mit den Musikschulen gedacht, sondern auch an freie und ins-titutionelle Partner aus der gegenwärtigen kulturellen Szene:Theater, Orchester, Chöre, Kirchen, Kulturbüros, Rundfunk undFernsehen sowie freie Musikgruppen und Vereine bieten ein bishernicht einbezogenes breites und perspektivenreiches Angebot füreine Zusammenarbeit mit der Schule.

Mit den im Rahmen der Ganztagsschule ermöglichten neuenLern- und Lehrformen verbindet sich andererseits gerade auch fürSchülerinnen und Schüler ein bisher nicht ausgeschöpftes Erfah-

MUSIKBILDUNG

Der Deutsche Musikrat begrüßt den bildungs-politischen Willen, das System Ganztagsschuleeinzuführen.

Hier sein aktuelles Positionspapier, das auf demKongress in Königstein präsentiert wurde

rungsspektrum. Denn außerschu-lisch geprägter Umgang mit Musikbildet ein notwendiges Pendant zummusikbezogenen Lernen in derSchule. Der Deutsche Musikrat(DMR) ist der Auffassung, dass diegebundene Form der Ganztagsschu-le durch die spezifische Form ihrerStruktur und Organisation (Variabi-lität des Zeitbudgets, Rhythmisie-rung des Schulalltags, erhöhte Flexi-bilität und Planungssicherheit beimusikalischen Projekten) beson-ders gut die ihr zugedachten musik-pädagogischen Aufgaben erfüllenkann.

Der DMR hat auf seinem Kon-gress „Musik in der Ganztagsschule“folgende Leitperspektiven entwi-ckelt, die es in der Entwicklung von Kooperationen mit außerschu-lischen Partnern zu berücksichtigen gilt. Diese angesteuerten Ko-operationen können nicht in der Weise realisiert werden, dass derschulische Musiklehrer durch außerschulische Kooperationspart-ner bzw. der Musikunterricht durch Instrumentalunterricht (der einMoment des Musikunterrichts sein kann) ersetzt wird.

Die DMR-Leitperspektiven:1 Nachhaltigkeit: Kooperationen können nicht darauf hinaus-

laufen, dass einzelne Highlights präsentiert werden, die Eventcha-rakter tragen, aber in ihrer Wirkung äußerst begrenzt sind. Viel-mehr geht es darum, dass durch Kooperationen Projekte ent-stehen, die auf eine längerfristige Wirkung für „Musik in der Schu-le“ und damit auch auf das Leben der betreffenden Schule ins-gesamt zielen.

2 Kontinuität ist ein entscheidendes Moment der Bildung vonnachhaltigen musikpädagogischen Maßnahmen, die darauf abzie-len, in den Kindern und Jugendlichen ein vielgestaltiges Bild vonmusikbezogener Erfahrung zu entwickeln und damit einen ent-scheidenden Beitrag zu einer neu formulierten musikalischen Bil-dung leisten.

3 Qualitätsstandards können nicht von außen dekretiert wer-den, sondern müssen von den unterschiedlichen Partnern gemein-sam entwickelt werden. Sie orientieren sich entscheidend an dergesellschaftlichen Musikpraxis unserer Zeit und leisten damit ihrensubstanziellen Beitrag zu einem sinnvollen und verantwortetenUmgang der Schülerinnen und Schüler mit Musik in ihrer ganzenBreite.

4 Integrative Formen der Kooperationen: Musikalisch-ästheti-sches Lernen und Arbeiten zielen in gleichem Maße auf die Aus-bildung von Handlungsfähigkeit und Reflexion. Ihre Mehrgestaltig-keit erzwingt ein kooperatives Handeln aller an den schulischenErziehungsprozessen beteiligten Partner. Es lassen sich eine additi-ve und eine integrative Form denken. Der DMR votiert für eine imRegelfall integrative Kooperation, die die Notwendigkeit der Mehr-gestaltigkeit sicherstellt.

5 Entwicklung von Rahmenvereinbarungen: Kooperationenbedürfen in jedem Fall eines inhaltlichen und institutionellen Rah-mens. Dieser ist in Absprache der Kooperationspartner unterei-

Neue Inhalte FÜR

GANZTAGSSCHULE

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FOKUS

MUSIK�ORUM34

nander herzustellen. Dabei ist daran fest-zuhalten, dass Spannungen zwischen denaußerschulischen Musikpraxen und derSchule als Lernort für Schülerinnen undSchüler miteinander in Übereinstimmunggebracht werden. Diese Rahmenverein-barungen müssen enthalten: Maßnah-men zur Absicherung der beteiligten Per-sonen, insbesondere aber auch Garantienim Hinblick auf die Schülerinnen undSchüler für die Sicherstellung einer konti-nuierlichen kooperativen Arbeit sowieAufgaben, Formen der Zusammenarbeit(hier insbesondere der Raumbelegungenund der vereinbarten Zeiträume), Pflich-ten und Rechte der beteiligten Personenund Institutionen.

6 Vernetzung von Initiativen: Diestärkere Einbindung von gesellschaftli-chen Musikpraxen in die Ganztagsschuleeinerseits und die Öffnung der Schule inRichtung auf die daran beteiligten Partnerandererseits macht eine Vernetzung allerAktivitäten sowohl zwischen der Schule– als musikbezogenem Lernort – und deran der musikpädagogisch verantwortetenAusgestaltung dieses Lernorts (mit)wir-kenden Partner, aber auch der Partneruntereinander sinnvoll und erforderlich.Hierbei lassen sich unterschiedliche For-men der Netzwerkbildung denken: kon-tinuierliche Arbeitskreise, Koordinatoren,Internet-Portale usw. Aufgerufen für dieNetzwerkbildung sind die Schulen selbst,die Schulverwaltungen, die Verbändeund Vereine.

7 Konsequenzen für die Aus-, Fort-und Weiterbildung: Von den angestreb-ten Kooperationen, von gemeinsam er-stellten Rahmenvereinbarungen und vonder Vernetzung unterschiedlicher Ebenenund Niveaus her gesehen, kann die Aus-bildung der Musiklehrerinnen und -lehrernicht unberührt bleiben. Auch müssenzentrale wie dezentrale Fortbildungsver-anstaltungen für bereits in der SchuleLehrende der veränderten Schulstrukturgerecht werden. Darüber hinaus ist auchan Weiterbildungsmaßnahmen für jenePersonenkreise zu denken, die von außenin die Ganztagsschule hineinkommenund mit deren Struktur, ihrer spezifischenForm sowie der unterrichtlichen und au-ßerunterrichtlichen Organisation und de-ren Aktivitäten ursprünglich nicht ver-traut sind.

Musikakademien –

Hessische Landesmusikakademie in Schlitz

Bundesmusikakademie in Rheinsberg

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Landesmusikakademie Sachsen-Anhalt

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MUSIK�ORUM 35

AKADEMIEN

EIN GESELLSCHAFTLICHES PHÄNOMEN

Fort- und Weiterbildung, Begegnungen, Probenräume unterschiedlicher

Größe, Unterbringung meist in Zweibettzimmern inklusive Verpflegung –

Ulrike Liedtke über deutsche Musikbildungsstätten

Abgeschieden von der Öffent-lichkeit in meist kleineren

Städten, in historischen Gebäudenoder funktional neu eingerichtet,bieten deutsche Musikbildungs-stätten Raum und Zeit für denmusikalischen, schöpferischenProzess.

Musikakademien sind Fort-, Weiterbil-dungs- und Begegnungsstätten für Laien-und Berufsmusiker. Sie nehmen Chöre, Or-chester, Ensembles und Theatergruppenauf, die ihre eigenen Probenphasen durch-führen. Zugleich veranstalten sie eigene Se-minare, Kurse und Tagungen, zu denen sieper Ausschreibung einladen. Jede Akademiehat im Laufe der Jahre ein eigenes Profil ent-wickelt, das sie von den anderen Einrichtun-gen unterscheidet.

Nur überblickartig und unvollständigkönnen hier Schwerpunkte der Akademie-arbeit dargestellt werden:

ˇ Die Landesmusikakademie Berlinkonzentriert sich auf Musikpädagogik fürMusikschule, Grundschule und Kindergar-ten, Singen und Laienmusik. Meisterkurse,Kurse zur elektroakustischen Klangerzeu-gung, zu Rhythmik, Perkussion und populä-rer Musik ergänzen das Programm.

ˇ Die Bundesakademie Wolfenbüttelerfüllt einen bundesweiten Auftrag zur Fort-bildung von haupt-, neben oder ehrenamt-lich tätigen Personen in Berufs- und Arbeits-

feldern, die sich auf die Ausübung und/oderVermittlung von Künsten und Kultur bezie-hen, also in den Fachbereichen BildendeKunst, Literatur, Museum, Musik und Thea-ter.

ˇ Die Bayerische MusikakademieMarktoberdorf bietet über das normaleKursangebot hinaus eine Ausbildung für Di-rigenten von Ensembles der Laienmusiknach staatlicher Prüfungsordnung an. Inter-nationale Bedeutung hat der seit 1989 inzweijährigem Turnus in Marktoberdorfdurchgeführte Kammerchor-Wettbewerbgewonnen.

ˇ In der Landesmusikakademie Nord-rhein-Westfalen in Heek erfolgt u. a. dielandeszentrale Durchführung der Qualifizie-rungslehrgänge der Laienmusik auf der Ba-sis einer landesweit gültigen Lehrgangsord-nung.

ˇ In der Landesakademie Ochsen-hausen finden Instrumental- und Vokalkur-se, Meisterkurse, Orchesterarbeitsphasen,Lehrerfortbildung und multimediale Kursestatt.

ˇ Das Festival junger Künstler Bay-reuth führt Workshops in Kammermusik,Komposition, Perkussion, Klavier, Musik-theater und Literatur durch.

ˇ Erstmals bietet die BundesakademieTrossingen einen Lehrgang „Popmusik anMusikschulen“ in Kooperation mit der neugegründeten Popakademie Baden-Würt-temberg, der Jazz & Rock Schule Frei-burg und dem Musikschul-Verband an.

ˇ Die Internationale Musikbegeg-nungsstätte Haus Marteau in Lichtenbergführt in Erinnerung an den Ausnahme-Gei-ger Marteau Meisterkurse für die professio-nelle Elite des Musikerberufs sowie – alledrei Jahre – einen Inter-nationalen Henri Mar-teau-Geigenwettbewerbdurch.

ˇ Die Villa MusicaMainz ermittelt durchProbespiel Stipendia-ten, die im Kurs ge-meinsam mit den Do-zenten musizierenund mit etwa 170Kammerkonzertenjährlich auf Kon-zertreisen zu Bur-gen und Schlös-sern gehen. !

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MUSIK�ORUM36

FOKUS

Musikakademien im Arbeitskreisder Musikbildungsstätten in Deutschland

(in Klammern: Jahr der Aufnahme der Akademiearbeit)

Bundesakademien

Akademie Remscheid für musische Bildung und Medienerziehung (1958)Bundesakademie für musikalische Jugendbildung Trossingen (1973)Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel (1986)Musikakademie Rheinsberg, Bundes- und Landesmusikakademie (1991)

Landesakademien und Landeseinrichtungen

In Baden-Württemberg:Musikakademie Kürnbach (1969)Musikakademie Schloss Weikersheim (1985)Landesakademie für die musizierende Jugend in Baden-Württembg., Ochsenhausen (1988)Internationale Musikschulakademie Kulturzentrum Schloss Kapfenburg, Lauchheim (1997)Akademie des Bundes deutscher Blasmusikverbände, Staufen (1998)

In Bayern:Bayerische Musikakademie Hammelburg (1980)Musikbegegnungsstätte Haus Marteau Lichtenberg (1980)Bayerische Musikakademie Marktoberdorf (1984)Bayerische Musikakademie Schloss Alteglofsheim (2002)Festival junger Künstler Bayreuth (1950)

In Berlin:Landesmusikakademie Berlin (1995)

In Hessen:Hessische Akademie für musisch-kulturelle Bildung, Schloss Hallenburg, Schlitz (2004)

In Sachsen Anhalt:Landesmusikakademie Sachsen-Anhalt, Stiftung Kloster Michaelstein (2002)

In Nordrhein-Westfalen:Landesmusikakademie NRW „Burg Nienborg“ Heek/Kreis Borken e.V. (1989)

In Rheinland-Pfalz:Landesmusikakademie Rheinland-Pfalz, Neuwied-Engers und Konz dezentral (1982)Villa Musica, Mainz (1986)

In Schleswig-Holstein:Nordkolleg Rendsburg (1992)

ˇ In der Musikakademie Rheinsbergliegt der Schwerpunkt auf Musik des 18.und 20./21. Jahrhunderts in Kursen, For-schungsarbeiten und Veranstaltungen, u. a.durch jährlich etwa fünf bundesweite Mu-siktheaterwerkstätten. Die Musikakademiebetreibt ganzjährig das SchlosstheaterRheinsberg.

ˇ Auch die Musikakademie SchlossWeikersheim lädt zu Opernproduktionenein und begründete erst kürzlich eine Aka-demie für zeitgenössische Kammermusik.

Kultur in der Gesellschaftist wichtiger geworden

21 Musikakademien in Deutschland stel-len ein Phänomen dar: einerseits Kultur-abbau allerorten, andererseits Neugründun-gen von Akademien. Während sich die öf-fentliche Förderung verringert, wachsen inallen Musikakademien die Teilnehmertagestetig an.

ˇ infolge des Zusammenwachsens un-terschiedlicher Identitäten und Nationalitä-ten in Europa, einschließlich neuer Bedin-gungen für den Mitgliedsstaat Deutschland,

ˇ infolge eines Wendepunktes deut-scher gesellschaftlicher Entwicklung und

ˇ notwendigen Umdenkens (soziale undpolitische Reformen, Bildungsreformen,Schutz der Umwelt usw.),

ˇ infolge des Auseinanderbrechens gro-ßer Menschengruppen (Parteien, Gewerk-schaften, Kirchen) und der notwendigenneuen Bindungsformen von Menschen

durch Kultur,ˇ infolge der nicht bewältigten Anglei-

chung zwischen Ost und West,ˇ infolge des veränderten Freizeitverhal-

tens von Arbeitslosen,ˇ infolge der vielen jungen, leistungsfä-

higen „Alten“,ˇ infolge neuer, noch ungeahnter Gene-

rationskonflikte,ˇ infolge einer multikulturellen Entwick-

lung und notwendigen Auseinandersetzungmit allen Formen von Rassismus, Fanatismusund der Gewaltandrohung.

Wie erklärt sich der Zuwachs an Akade-mien und Teilnehmerzahlen? Die Musik-akademien in Deutschland nehmen durchvielfältige und oft genreübergreifende Kurs-inhalte für Jugendliche, Berufs- und Laien-musiker gesellschaftspolitische Aufgabenwahr. Der Bedarf an Musikakademien spie-gelt eine gesellschaftspolitische Situation wi-der: Ökonomische Zwänge verhindern dieFunktion von Kultur in der Gesellschaft undfür den Einzelnen. Aber Kultur in der Ge-sellschaft ist notwendiger geworden:

ˇ infolge einer neuen weltpolitischenLage, die den Dialog der Kulturen erfordert,

SteigendeTeilnehmerzahlen

Alle deutschen Musikbildungsstätten ver-zeichnen seit ihrer Gründung steigendeTeilnehmerzahlen, die Mehrzahl hat auchzwischen 2000 und 2003 deutliche Zu-wachsraten erlebt: So erhöhten sich indiesem Zeitraum die Kursteilnehmertagez. B. in der Landesakademie Berlin von10000 auf 17600, in der Bayrischen Musik-akademie Alteglofsheim von 13000 auf16649 und in der Musikakademie Rheins-berg von 17600 auf 18785. Dabei sinddie Teilnehmertage abhängig vom Aka-demiekonzept und von der Aufnahme-fähigkeit des jeweiligen Gästehauses, so-mit also nicht miteinander vergleichbar.In allen Akademien mit höheren Teilneh-merzahlen sind nun die Kapazitäten aus-geschöpft – mehr Betten, mehr Kurse kön-nen nicht angeboten werden.

Landesmusikakademie Ochsenhausen

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MUSIK�ORUM 37

Die Autorin:

Dr. Ulrike Liedtke, Musikwissenschaft-

lerin und Leiterin der Bundesmusikaka-

demie Rheinsberg, ist Präsidiumsmit-

glied im Deutschen Musikrat und Mit-

glied im Rundfunkrat des Rundfunk

Berlin-Brandenburg (rbb). Sie veröffent-

licht regelmäßig Aufsätze zum Musik-

theater und zur Neuen Musik.

Während die Musikhoch-schulen in Deutschland nochimmer den Musiker ganz imphilharmonischen Gedankenerziehen, gründen sich Spezial-ensembles auf dem Gebiet derAlten oder Neuen Musik. DieTätigkeit im Spezialensemblefordert ihnen individuelle Ent-

scheidungen zur Aufführungspraxis undSpielweise der Stücke ab, wissenschaftlicheArbeiten müssen studiert und Notationenentziffert werden. Meisterkurse in Musik-akademien füllen eine von den Musikhoch-schulen verursachte und von ihnen auchnicht zu deckende Ausbildungslücke.

Vera Schmidt, Vizepräsidentin des Bran-denburgischen Chorverbandes, lieferte in ei-ner politischen Diskussion in Potsdam eineweitere Begründung für den Erfolg der Mu-sikakademien: Auf die Feststellung der an-wesenden Diskutanten, dass sich die Selbst-mordrate im Osten Deutschlands drastischerhöht habe, entgegnete Vera Schmidtselbstsicher: „Wer im Chor singt, bringt sichnicht so schnell um.“

Wo es keine soziale Bindung über denArbeitsplatz mehr gibt, gewinnt dasMiteinander in einer Chorgemeinschaft, ei-nem Musikverein oder Orchester an Bedeu-tung. Kultur und Kunst – und in ihrer um-fassenden Arbeit die Musikakademien –sind mehr denn je zentrale gesellschaftlicheEntwicklungspotenziale. Kultur ist nicht nurBeiwerk, Luxus, freiwillige Aufgabe, son-dern Grundversorgung.

en werben mit ihrem Standort, vielleichtauch mit dessen musikgeschichtlicher Be-deutung. Alle geben CDs mit herausragen-den Mitschnitten oder Musikproduktionenheraus. Nicht zu unterschätzen sind die je-weiligen Bibliotheksbestände und Notenar-chive an den Akademien, ausgerichtet nachdem Profil des Hauses. Auch die techni-schen Ausstattungen mit Ton- und Video-studios halten den multimedialen Entwick-lungen stand.

Der Arbeitskreis derMusikbildungsstätten

Im Arbeitskreis der Musikbildungsstättenin Deutschland sind nichtkommerzielleLandesmusikakademien, Bundesakade-mien und andere Fortbildungsstätten mitbesonderen musikalischen Schwerpunk-ten und Orientierungen zusammenge-schlossen. Der Arbeitskreis ist Mitgliedim Deutschen Musikrat.

Konzentriertes Fachwissen

Musikakademien begründen Netzwerkevon Kulturträgern weit über Deutschlandhinaus. Rund 100 der jährlich stattfinden-den Kurse und Arbeitsphasen einer Musik-bildungsstätte sind das Ergebnis von Koope-rationen mit Musikverbänden und -verei-nen, mit Mitgliedern des Deutschen Musik-rats, mit Theater- und Konzertkünstlern, mitDozenten der Musikhochschulen und Uni-versitäten und zahlreichen internationalenKapazitäten. Im Wechselverhältnis lehrenDirektoren auch an Musikhochschulen undUniversitäten; und mancher Akademiemit-arbeiter hat sich auf seinem Spezialgebietdurch eigene Publikationen hervorgetan.Die tägliche Begegnung der Direktoren undMitarbeiter von Musikbildungsstätten mitVerbänden und Vereinen, Schulen, Hoch-schulen und Musikschulen führt an denAkademien zu einem konzentrierten Fach-wissen und intensiver Kenntnis der jeweili-gen Musikkultur, nutzbar in verschiedenstenGremien des deutschen oder internationa-len Musiklebens.

Jeder Kursteilnehmer einer Musikakade-mie ist zugleich ein Gast der Stadt, in der dieAkademie wirkt. Musikakademien werdenso zum ganzjährig verlässlichen Wirtschafts-und Kulturfaktor für ihren Standort. Veran-staltungen in der jeweiligen Region stellendie Ergebnisse aus Arbeitsphasen vor. Mu-sikbildungsstätten existieren somit nicht nurfür die jeweiligen Kursteilnehmer, sondernbereichern den Standort durch kulturelleund touristische Anziehungspunkte. AuchPublikationen fassen Ergebnisse aus den je-weiligen Kursen zusammen. Alle Akademi-

Während mehr Berufsmusiker denn jeauf Honorartätigkeiten angewiesen sind,steigt das Freizeitvolumen der Bürger. DerSchriftsteller Rolf Hochhuth spricht davon,dass innerhalb eines überschaubaren Zeit-rahmens Gesetze beschlossen würden, dieeine Arbeitszeit von vier Stunden pro Ar-beitnehmer festschreiben. Nur so sei esmöglich, dass Leben der Menschen sinnvollauszufüllen. Blieben also die übrigen vierStunden für eine sinnvolle Freizeitbetäti-gung, z. B. in einer Musikakademie, angelei-tet von einem Berufsmusiker auf Honorar-basis.

Kursteilnehmer an den Musik-akademien – wie hier an derLandesmusikakademie Sachsen-Anhalt – profitieren von einerprofunden Kenntnis derDozenten über unterschiedlicheMusikkulturen.

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FOKUS

MUSIK�ORUM38

Man schätzt ihn als Jazz-Legende, als Posaunisten,

Komponisten und Arrangeur, derdafür gesorgt hat, dass der deut-sche Jazz international anerkanntwird. Dass Peter Herbolzheimerauch Pädagoge ist – und das vonhöchsten Graden –, wird häufignicht in gleicher Weise gewichtet.

Immerhin ist es sein „Baby“, das BuJazzO,das Bundesjazzorchester – ein Spitzenen-semble, das unverwechselbaren Bigband-Sound durch die Lande trägt. Ohne harteProbenphasen, ohne das Bemühen um je-den einzelnen Musiker, aber auch ohne daspädagogische Fingerspitzengefühl und denbe- sonderen Witz seines Leiters hätte dasBuJazzO nicht den hohen Stellenwert. MitPeter Herbolzheimer sprach Hans Bäßler.

Auf dem Bläserklassenkongress inOberursel haben Sie einen Kurs für Lehrergegeben. Was hat Sie gereizt, mit Lehrernzusammenzuarbeiten und was wollen Siedamit bewirken?

Peter Herbolzheimer: Ich sehe in derArbeit mit Lehrern die Multiplikator-Wir-kung, denn jeder Lehrer hat so viele Schü-ler oder Studenten um sich herum. Da istder Multiplikatoreffekt enorm. Theoretischwäre das Lehrerseminar der beste Ort fürsolche Kurse. Leider gibt es diese Angebo-te aber nur in Ausnahmefällen.

Ihre andere pädagogische Perspektiveist das BuJazzO, dem sie nicht nur pädago-gische Überlegungen, sondern auch ihr gan-zes Herzblut widmen. Sie arbeiten dort engmit jungen Menschen zusammen, die nochkeine Profis sind. Inwieweit unterscheidet sichdiese pädagogische Arbeit von der „normalen“Arbeit mit pädagogischen Profis?

Herbolzheimer: Die Arbeit im BuJazzOist etwas ganz anderes, dort werden stilisti-sche Fragen gelöst bzw. den jungen Leutennahe gebracht. Es kommt hauptsächlichauf die Interpretation eines Arrangementsan. Natürlich gibt es Charakteristika, dieeine Band oder ein Orchester von anderenunterscheiden. Merkmale, bei denen mansagen kann „das ist unsere Stilistik“, diekann man anhand von verschiedenen Bei-spielen festlegen. Da muss sich ein Leiteroder Arrangeur – in diesem Falle ich –Gedanken machen, um eine eigene Stilistikzu entwickeln. Beim BuJazzO muss manaber viel mehr über Stilistik und Präzisionreden. Man muss auch Spielern erklärenkönnen, warum etwas nicht zusammen ist.Es ist wichtig, den Musikern ihre Stimmenim Kontext der anderen Stimmen zu erläu-tern, sonst können zum Beispiel Phrasenverschiedener Spieler, die auf einer Zähl-zeit zusammenlaufen, nicht exakt sein. Daszeige ich dann auch anhand von Bildern,

Die Jazzlegende als Pädagoge: Peter Herbolzheimer im Interview

»JEDER MUSIKER MÖCHTE

„Es ist etwas Außergewöhnliches,solch ein intensives Verhältnis

zu jungen Menschen zu haben“:Peter Herbolzheimer mit „seinem“ BuJazzO.

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das ist einfach grundlegend. Man darf nichtvergessen, dass die Spieler des BuJazzOkeine Profis sind, sie haben viele professio-nelle Merkmale, sind aber professionellnoch nicht versiert. Das bedeutet, dass sieim Gesamterfassen einer Musik noch nichtso weit sind.

Wenn man das BuJazzO hört, dannist man begeistert von der Präzision, aberauch von der Leidenschaft, mit der gearbeitetwird. Da entsteht schnell der Wunsch, dassdies bei den Bläserklassen im gleichen Maßeimplementiert werden müsste. Kann man daspädagogische Credo des BuJazzO, das starkaus der Sache selbst erwächst, auf die Arbeitin der Schule übertragen?

Herbolzheimer: Das kann man ohneweiteres. Ich habe, als ich vom Bläserklas-senkurs zurückkam, viele euphorische E-Mails erhalten, die Teilnehmer waren be-geistert. Ich bin überzeugt davon, dass man

dieses Gefühl durch Wiederholung sogarnoch vertiefen kann. Eigentlich war das janur eine sehr kurze Phase. Wir haben nurzweimal eine Stunde gearbeitet, währenddas BuJazzO an insgesamt 24 Tagen im Jahrmorgens bis nachts probt. Das ist eine reinquantitative Angelegenheit. Die Instrumen-tenbeherrschung bei den Lehrkräften konn-te ich kaum beurteilen, wir sind gar nichtdazu gekommen, die Potenziale auszuloten.Es hat mich aber sehr angenehm berührt,mit wie viel Begeisterung die Teilnehmerdabei waren. Sie brachten einen großen Teilan Eigeninitiative mit, wobei ich nicht vonIdealismus sprechen will – für mich ohnehinein obskures Wort, das nicht den Prozesstrifft, wenn jemand an irgendetwas teil-nimmt und ihm neue Perspektiven eröffnetwerden. Vielleicht ist es auch, altmodischgesprochen, der Drang nach Vollkommen-heit. Ich glaube, dass jeder, der Musikmacht, „der Beste der Welt“ werden will.

DER SEIN«Beste der WeltEin wunderbarer Satz, den ich als

Ihr pädagogisches Credo stehen lassen will.Unabhängig davon gibt es aber noch einenAspekt, der mir aufgefallen ist: So radikalSie in der Forderung nach musikalischerQualität sind, so weit denken und arbeitenSie gleichzeitig pädagogisch über das reinMusikalische hinaus. Ich kenne das sehrinnige Verhältnis des BuJazzO mit Ihnen.Ist nicht vielleicht –über das Musikalischeund das Pädagogische hinaus – das Mensch-liche ein Teil des Erfolges?

Herbolzheimer: Das kann ich schlechtbeurteilen. Für mich ist das Menschlicheein wesentlicher Bestandteil des Musizie-rens, denn gemeinsam musizieren heißt jaeine Gemeinschaft einzugehen. Wir spre-chen im BuJazzO auch viel über andereSachen, über Politik oder gesellschaftlicheAspekte. Es ist immer interessant, andereMeinungen zu hören, damit man selbernicht verknöchert. Je älter man wird, desto

mehr neigt man zu Verkürzungen in die-sem Aspekt, teils aus Ungeduld, teils auseiner gewissen Enttäuschung heraus. Des-halb ist das Korrektiv dieser jungen Men-schen sehr wichtig. Der Ältere hat immerzwei Blickwinkel: Er erinnert sich einerseits– wobei Erinnerungen zusehends verblas-sen – und er hat andererseits das Augen-blickliche. Der junge Mensch dagegen hatnur das Augenblickliche, deswegen istdieses gemeinsame Betrachten aus meinerSicht von eminenter Bedeutung.

Wenn Sie ans BuJazzO denken,freuen Sie sich dann so richtig? Und worinbesteht dann diese Freude?

Herbolzheimer: Ganz ehrlich gesagt,der Anteil an Freude ist bei weitem der-jenige, der überwiegt. Aber es gibt auchDinge, die mich nicht so begeistern. Es gibtMomente, in denen man sich fragt, warum

reagiert jetzt der andere so. Und dann gibtes hin und wieder auch Momente, in de-nen man einen Egoismus zu spüren meint,der andere Menschen nicht genügend ein-bezieht. Letztlich aber ist das Resultat ent-scheidend. Wenn zum Beispiel jemandkurzfristig absagt, dann respektiert er ausmeiner Sicht nicht die Gemeinschaft. Daskommt manchmal vor, wenn auch selten.Die Freude überwiegt am Ende immer.Es ist einfach etwas Außergewöhnliches,solch ein intensives Verhältnis zu jungenMenschen zu haben. Schon die Aussichtauf eine Probenphase bereitet mir Freude.Um es zusammenzufassen: Die Freudeüberwiegt, aber nur Freude kenne ichnicht.

MUSIK�ORUM

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Was du schwarz auf weißbesitzt, kannst du getrost

nach Hause tragen.“

Es sind Sprüche wie dieser, dievon früh an unser ungebrochenesVerhältnis zur Schrift zementieren;andere, mit ähnlichem Inhalt, wie„Man muss nicht alles wissen, manmuss nur wissen, wo es steht“verraten allerdings, dass das Ver-hältnis von „Wissen“ und „ver-schriftlichtem Wissen“ kein ganzunproblematisches ist.

Jeder, der Prüfungen an der Uni ab-nimmt, hat schon mal den Satz gehört: „Dassteht in dem Buch mit dem blauen Rückenim zweiten Regal rechts.“ Aber was da ge-nau steht, hat der Student leider vergessen.Im Zeitalter moderner Medien- und Kom-munikationstechnik erarbeiten Studierendeihre Referate durch data mining – sie müs-sen nicht nur wissen, wo es steht, sondernvor allem auch, wie sie es im endlosenWorld Wide Web bergen können. Die Stra-tegie, Wissen für den Moment aufzuberei-ten, um im nächsten wieder anderes Wissenzu sammeln, hat sich zur zentralen Arbeits-technik entwickelt. Ein gesellschaftlicherKonsens zum „Was-man-weiß, was-man-wissen-sollte“ ist weitgehend verloren ge-gangen.

Im Umkehrschluss dient uns das Fehlenvon Schriftlichkeit in vielen Kulturen außer-halb Europas geradezu als Beleg für derenoffensichtliche kulturelle Rückständigkeit.Wir verweisen sie gedanklich in eine ver-meintlich vorgeschichtliche Zeit des „nochnicht so weit“. Fast selbstverständlich wirddas Bildungsniveau von Menschen an derenFähigkeit festgemacht, lesen und schreiben

Je mehr sich jedoch das Symbolzeichenvon der mündlich vermittelten Konventionentfernt, um so problematischer gestaltetsich auch seine Dechiffrierung; das australi-sche Sandbild in der New Yorker Galerieerhält eine neue Bedeutung, die so gut wienichts mit der ursprünglichen gemeinsamhat.

Ähnlich verhält es sich mit der Musik:Der historische Abbruch einer im Notenbildverfestigten Konvention reduziert den No-tentext zu einer nur bedingt aussagekräfti-gen Oberfläche. Sowohl die musikalischeBedeutung des Notentextes, die er für sei-nen Schreiber einst hatte, als auch dessenklangliche Umsetzung geben uns mehr Rät-sel auf, als wir im Vertrauen auf die Schriftgerne wahrhaben wollen. Immerhin hat diesGenerationen von Musikwissenschaftlernzu Lohn und Brot verholfen.

Es mag dieser Einsicht geschuldet sein,dass sich die meisten Musiker Afrikas undAsiens gar nicht erst die Mühe gemacht ha-ben z. B. ihre Trommelpatterns und Ragasniederzuschreiben. Hätten sie es gewollt,und wäre es für sie von Bedeutung gewe-sen, hätten sie auch die Schrift erfunden.Das Gegenteil war aber der Fall: Eine Ver-festigung ihrer Musik im Notentext hätte zueinem Verstoß gegen ihr Hauptanliegen ge-führt, nämlich für die Zuhörer im orts- undzeitgebundenen Diskurs bedeutungsvoll zusein!

Also konzentrieren sie sich auf die Etab-lierung eines engen Lehrer-Schüler-Verhält-nisses, in dem sie ihr Wissen oral weiterge-ben, interpretieren und mit den Schülernpraktizieren. So können sie sicher sein, dassihr Wissen, solange es kognitiv und emotio-nal bedeutungsvoll gehalten wird, Bestandhat und den nachkommenden Generatio-nen noch etwas sagt.

zu können. Dagegen sind die unterschiedli-chen grafischen und mündlichen Formen,mit denen kulturelles Wissen von Genera-tion zu Generation weitergegeben und densich wandelnden Bedingungen angepasstwurde, völlig aus dem Blickfeld verschwun-den: so etwa Lieder, Märchen, Epengesän-ge, Sprichwörter, Erzählungen und Orna-mente an allen erdenklichen Gegenständen.

In der westlichen Wahrnehmung fallendiese Praktiken der Wissensweitergabe und-bewahrung unter die ästhetischen Katego-rien „Musik – Literatur – Kunst“ und werdengerade dadurch ihres kulturellen Wissens,das sie transportieren, beraubt. So berichtendie Sandbilder australischer Aborigines demEingeweihten z. B. von den Pfaden derTraumzeit, in der New Yorker Kunstszeneerzielen diese Bilder aber aus ganz anderenGründen Höchstpreise.

Zentrale Rolle der Oralität

In den unterschiedlichen Systemen derWissensweitergabe spielt, unbeschadet un-serer Fixierung auf die Schrift, die Oralitätdie zentrale Rolle: Kinder lernen nicht ausden Büchern ihre Muttersprache und nichtaus den Notentexten ihre Kinderlieder. Esist das Prinzip der mündlichen Weitergabevon Eltern zum Kind und vom Lehrer zumSchüler, das in unserer Zeit, in unserer Kul-tur, überall und immer schon die entschei-dende Grundlage für Lernen, Wissen undBildung schafft. Die Herstellung gesellschaft-licher und kultureller Konventionen, alsGrundlage für jede weitere Form von Sym-bolsprache, vom Sandbild über das Trom-melpattern bis zum Schriftzeichen, bedarfder angemessenen Erklärung, Deutung, Kor-rektur und beständigen Anpassung: All diessind jedoch primär mündlich ablaufende,bedeutungsstiftende Prozesse.

VOM WISSENSTRANSFERDER ANDEREN ART:

Orale LernkulturenVon Generation zu Generation: Musikethnologe Raimund Vogelsüber die Weitergabe von Wissen und kulturellem Erbe

FOKUS

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Dass Bildung mehr ist alsverstandesmäßiges Wissen

oder dessen Anhäufung, ist keineNeuigkeit – Philosophen, Pädago-gen und Didaktiker vieler Epochenhaben über Bildung als eine viel-schichtige, den ganzen Menschen„ergreifende“ Seins-Qualitätnachgedacht.

Die Realisierung umfassender Bildungs-konzepte im erzieherischen „Alltag“ scheintjedoch äußerst schwierig, da Isolierung,Spartierung und Spezialisierung eher in un-ser institutionalisiertes Schulsystem zu pas-sen scheinen als die Suche nach Verbindun-

gen und Gemeinsamkeiten aufgrund vonbasic principles. Das würde nicht nur Fächer-vernetzung bedeuten, sondern auch odervor allem eine mehrdimensionale Anspra-che der menschlichen Verhaltensmöglich-keiten.

Im Folgenden begeben wir uns auf eineSpurensuche nach den grundlegenden Vo-raussetzungen von ästhetischer Bildung amBeispiel der Elementaren Musikpädagogik(EMP). Diese scheint besonders geeignet,einen Einblick in den Bildungswert der Mu-sik zu geben, da sie prinzipiell

ˇ anthropologische Ausrichtung hat,1

ˇ in sich Musik und Bewegung auf vie-len verschiedenen Äußerungsebenen ver-bindet, also Körper, Körperinstrumente,

Stimme, Sprache, (Schlag-)Instrumente so-wie Materialien aller Art zur musikalischenDarstellung einsetzt, 2

ˇ sich im Gruppenunterricht an Men-schen aller Altersstufen richtet – vom vorge-burtlichen Leben bis ins hohe Alter, von derArbeit mit Schwangeren bis zum Einsatz imPflegeheim.3

Mensch und Musik – eineelementare Beziehung

Grundanliegen der EMP ist eine Verbin-dung von Mensch und Musik. Zur Konkre-tisierung dieses Anliegens setzt sich die EMPsowohl mit grundlegenden Verhaltenswei-sen des Menschen als auch mit Grunder-

Juliane Ribke auf Spurensuche nach Hintergründen

und Möglichkeiten musikalischer Bildung

BEISPIEL: ElementareMusikpädagogik

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FOKUS

scheinungen der Musik auseinander. BeideSysteme sollen in einen ästhetischen, gestal-terischen Bezug zueinander gesetzt werden.

Das menschliche Leben ist vom erstenMoment an musikalisch geprägt; bereits vor-geburtlich sind alle Sinnessysteme funktions-fähig.4 Für einen späteren aktiven Umgangmit Musik sind besonders der Hör-, Bewe-gungs- sowie der Tast- bzw. Berührungssinn(auditives, kinästhetisches und cutanes Sys-tem) von Bedeutung. Beim „offiziellen“ Ein-tritt ins Leben sind bereits unzählige Wahr-nehmungen als Erfahrungen gespeichert:Klänge in vielen Schattierungen, Lautstär-ken, Dauern, Abfolgen und Überlagerun-gen, Metren und Rhythmen, Bewegungender Mutter und eigene Bewegungen in ver-schiedenen Tempi, Rhythmen und Artikula-tionen, Berührungen und Berührtwerden inunterschiedlichen Intensitätsgraden u. v. m.

Diese frühen sensomotorischen Erfah-rungen hinterlassen Erlebnisspuren – senso-rische und psychische Urmatrizen5 –, die imnachgeburtlichen Leben nach Anbindungsuchen durch Stimulation und Differenzie-rung der Sinne, durch aktiven, explorieren-den Umgang mit Klängen in allen ihren Pa-rametern, durch rhythmische Bewegung inzunehmend erweitertem Sozial- und Raum-bezug. Hier und in der affektgesteuertenWeltwahrnehmung der Lebensphase vordem Spracherwerb ist die Quelle von Musikund Tanz zu finden,6 aus der sich auch mu-sikpädagogische Konzepte ableiten lassen,wenn wir es wagen, den Bildungsanspruchmit den Wurzeln der menschlichen Existenzzu verbinden und ihn nicht ausschließlichfür die Übernahme eines jeweils normge-rechten „Kulturguts“ reservieren.

Ein Blick auf die tiefste Ebene der Musik,d. h. auf die Ebene der Grundphänomenedes musikalischen Materials, zeigt uns, dasshier eine innige Verbindung zu den Grund-erfahrungen des Menschen besteht. Wasbleibt übrig, wenn wir Musikwerke allerspiel- und instrumentationstechnischen, vir-tuosen sowie stilistischen Eigenheiten ent-kleiden, wenn wir die Grundsubstanz desMaterials betrachten?

Die Basis von Musik

ˇ Klang: Eigenklang von Instrumenten,Stimme, Materialien; Klangmischungen(vertikal), Klangverbindungen (horizontal),Klangveränderungen (kontinuierlich oderabrupt), Einbettung von Klängen (Vorder-grund und Hintergrund), Tonhöhen, Inter-vallspannungen, Artikulationen.

ˇ Dynamik: Energie der Klangbewe-gungen, Intensität, Fülle, Dichte, Lautstärke.

ˇ Zeit: Dauer, Tempo, Metrum, Rhyth-mus.

ˇ Formung: Anordnung der Grunder-scheinungen auf der Zeitachse; Gruppierun-gen (Gestaltbildung, Über- und Nebeneinan-der von Gestalten, Überlappung, Reihung),Strukturierung, Phrasierung, Wiederholung,Fortspinnung, Variation, Kontrast.

Diese musikalischen Grundphänomenesind ein plastisches Material, das offen ist fürindividuelle Formungsprozesse. EMP befasstsich neben anderen Inhalten sehr intensivmit derartigen Formungsprozessen, in de-nen das Klangmaterial in einem zeitlichenVerlauf modelliert wird. Dabei werden indi-viduelle und interindividuelle Grunderfah-rungen in gestaltungsfähiges Material einge-bunden, sodass eine hohe Affektivität undIdentifikation zwischen Mensch und Klang-produkt entsteht. Ein hoher Anteil der EMPbesteht aus Improvisation und selbst ent-worfenen Gestaltungen.

Ästhetische Bildung alsmusikpädagogischer Auftrag

Damit bezieht sich die EMP auf einenBildungsbegriff, der der Persönlichkeitsbil-dung verpflichtet ist. Die musikpädagogi-sche Realisierung findet im Kontext ästheti-scher Erfahrungsräume statt, zu derenInstallierung die Bedeutung des griechischenStammworts (aisthesis) wertvolle Hinweiseliefert, da es mehrere Persönlichkeitsebenenmiteinander verbindet: Gefühl, Wahrneh-mung, Empfindung, Sinn, Feingefühl, Er-kenntnis, Kenntnis, Verständnis und Be-wusstsein. Im Laufe der Jahrhunderte ist derÄsthetik-Begriff schillernd geworden undimmer mehr als Maßstab für äußere Erschei-nungen von Objekten verwendet worden.Heute wird er fast nur noch als Synonymfür schön, gut gestylt und angenehm ver-wendet oder als Oberbegriff für etwas, das„irgendwie“ mit künstlerischem Tun in Zu-sammenhang steht.

Damit droht der Mensch aus dem Blick-feld zu geraten, der aber durch eine beson-dere Art der Begegnung mit einem Gegen-stand entscheidenden Anteil daran hat, eineSituation als ästhetische zu konstituieren:„Ästhetische Erfahrungen setzen eine ästhe-tische Einstellung voraus. Diese persönlicheDisposition ist durch Offenheit, Sensibilitätund Empfindsamkeit gekennzeichnet.“ 7 Äs-thetische Erfahrungen sind nur dann als sol-che zu bezeichnen, wenn sie die Komplexi-tät der ursprünglichen Wortbedeutung insich tragen, wenn sie den Menschen sowohlemotional als auch sensorisch ansprechenund sich auf dieser Basis zu einer Erkenntnis

– vielleicht zu einer intuitiven, nicht eindeu-tig mitteilbaren – verdichten. Deshalb istnicht jede Beschäftigung mit Musik per seschon ein Beitrag zur ästhetischen Bildung.

Die Darstellung der menschlichen Ur-matrizen sowie der musikalischen Grund-phänomene und die Diskussion der zentra-len Begriffe Bildung und Ästhetik erlaubenim Fokus der EMP folgende musikpädagogi-sche Auswertung:

ˇ Musikerziehung verbindet sich mitdem, was an sensorischen Möglichkeiten,Klang- und Bewegungserfahrung im Men-schen von Anfang an vorhanden ist. In derEMP werden diese Grunderfahrungen auf-gegriffen, ausdifferenziert und zunehmendkünstlerisch ausgeformt. Dabei reicht dieSpannweite des Fachs vom Kinderlied biszur professionellen Bühnenperformance.

ˇ Musik ist mehr als das, was an tradier-ten Kunstwerken oder gedruckter Spiel-oder Singliteratur vorliegt. Musik ist alles,was vom Menschen in ästhetischer Einstel-lung intentional zum Klingen gebracht undals Zeitverlauf organisiert wird. Ziel ist eineaffektive Verbindung zwischen Mensch undKlang.

ˇ Darum ist unter musikalischer (Aus-)Bildung mehr zu verstehen als die Orientie-rung an bestehender Musikliteratur und antradiertem musiktheoretischem Sachwissen.

ˇ Neben motivisch strukturierter Musikgibt es das in der Musikpädagogik viel zuwenig wahrgenommene Terrain frei organi-sierter Klangverläufe, das außerhalb eines fi-xierten Zeitpulses, außerhalb von gewohn-ten Patterns, Formschemata, Skalen etc.liegt. Hier besteht eine Verbindung zumzeitgenössischen Kunstschaffen, die es zu in-tensivieren gilt.

ˇ Musikalische Bildungsprozesse bedür-fen eines pädagogischen Rahmens, in demdas Individuum Gelegenheit hat, auf der Ba-sis seines jeweiligen handwerklichen Kön-nens selbstbestimmt zu handeln, Gewohn-tes in neue Zusammenhänge zu stellen,eingefahrene Wege zu verlassen, kreativeProzesse zu durchlaufen und mitgestaltendzu wirken.

ˇ Solche Bildungsprozesse sind bei sorg-fältiger Vorbereitung der Teilnehmer undBereitstellung von Materialien und Fertigkei-ten auf jeder Altersstufe möglich, wenn dieLehrperson in der Lage ist, unter Wahrungder Prinzipien der EMP die Inhalte und Me-thoden altersspezifisch einzurichten.

Die EMP verbindet musikalische Zielset-zungen mit allgemeinen Erziehungszielen.Kein Fachgebiet ist frei von Kontexten undjede Vermittlungssituation ist eingebettet invielfältige psychosoziale Prozesse. Die EMP

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erkennt dieses an und versucht, für Säuglin-ge (und deren Eltern), Kleinkinder, Vor-schulkinder, Schulkinder, Jugendliche, Er-wachsene und ältere Erwachsene Situatio-nen zu schaffen, in denen sie musikalisch,psychisch und sozial wachsen können.

Geltungsbereich

Da die EMP ein relativ junges Ausbil-dungsfach an Musikhochschulen ist, musssie sich über wissenschaftliche Hintergrün-de, über künstlerische Ansätze, pädagogi-sche Konzeptionen, über Ziele, Zielgrup-pen, Inhalte und Methoden fundierteGedanken machen. Das Bedürfnis, einenwissenschaftlich und künstlerisch-pädago-gisch reflektierten Standort einzunehmen,verspüren andere musikalische Ausbildungs-fächer weniger: Wer, wie z. B. die instrumen-talen und vokalen Ausbildungszweige, aufeine lange historisch gewachsene Traditionzurückblickt und die heutige künstlerischesowie pädagogische Tätigkeit an dieser His-torie ausrichtet, meint die Notwendigkeitnach substanziellen Innovationen ignorierenzu können. Das bedeutet aber nicht, dass all-gemeine Prinzipien und Ziele der EMP (dieübrigens mit denen des „Schwesternfachs“Rhythmik verwandt sind) nicht auch in an-dere musikpädagogische BetätigungsfelderEingang finden könnten.

In sensiblen Bereichen tätig

Da die EMP sich nicht in Bewunderungund Nacheiferung einer Virtuosenvergan-genheit feiern kann, muss sie wach sein fürdie Gegenwart und die Zukunft. Ihre Absol-ventinnen und Absolventen arbeiten beruf-lich in äußerst sensiblen Bereichen unsererGesellschaft, die von nicht unerheblicherTragweite für das Individuum und die So-zialgemeinschaft sind:

In Eltern-Kind-Gruppen wird im musika-lische Spielraum die Eltern-Kind-Beziehunggestärkt, 8 Vorschulkinder und Grundschul-kinder werden in der Entwicklung ihrer Fan-tasie, ihrer Klang- und Bewegungsideen, inder Differenzierung von Wahrnehmungund Motorik sowie ihrer Interaktionsfähig-keit gefördert, sodass von einer Steigerungder Selbstwahrnehmung und der sozialenKompetenzen gleichermaßen auszugehenist. Jugendlichen wird ein Betätigungsfeldgeboten, das auch kompensatorische Funk-tion haben kann, wenn z. B. in projektorien-tierter Arbeit Gestaltungen mit unkonventi-onellen Mitteln entworfen werden, wennsie an Entwurf und Realisierung maßgeblichbeteiligt werden und die Thematik sie emo-

tional betrifft. 9 Hier kann besonders dieEMP durch ihre Offenheit in der Wahl derThemen und Mittel einen Beitrag zur Ge-waltprävention und zur Stabilisierung derPersönlichkeit leisten. Erwachsene schließ-lich erhalten in den fantasiebetonten, kreati-ven Prozessen der EMP die Möglichkeit,sich selbst neu zu entdecken und ihr „Funk-tionieren“ in Arbeitswelt und Familie zu re-lativieren, indem sie sich selbst als Mitgestal-terinnen und Mitgestalter erleben undmerken, dass sie „etwas können“, dass siesogar viel können, ohne im traditionellenSinne über „Wissen“ oder „Vorwissen“ zuverfügen. Sie können sich „herabüben“10

zum ursprünglichen Fluss des musikalischenGeschehens. Und älteren Erwachsenenschließlich eröffnet die EMP Gelegenheit,ihre Lebensfreude und Lebensqualität zuerhalten oder wieder zu entdecken, da fürsie das aktive Musizieren vielerlei Anknüp-fungspunkte an positive persönliche Lebens-erinnerungen in sich birgt. 11

Achtung: Qualitätssicherung!

Aber Vorsicht: Wir sind keine Sozialpäda-goginnen/-pädagogen mit musikalischemTouch ! Wir transportieren ein genuin mu-sikalisch-künstlerisches Anliegen, aber wir sinduns des komplexen Rahmens bewusst, indem dieser Transport stattfindet, und versu-chen, mit dieser Komplexität bewusst um-zugehen. Wer die oben skizzierten Tätig-keitsfelder substanzreich und professionellausfüllen will, muss über eine musikalischeAusbildung auf hohem künstlerischen undpädagogischen Niveau verfügen. Deshalb istaus fachlicher Sicht vor einer vorschnellenÜbernahme bunter „Light-Konzepte“ zu war-nen , hinter denen das industrielle Interesseeiner üppigen kommerziellen Verbreitungsteht und mit denen es musikalischen Laienleicht gemacht werden soll, z. B. Eltern-Kind-Gruppen oder Kindergruppen zu leiten.

Die für das Studienfach EMP zuständigenFachleute – seit 1994 organisiert im AEMP(Arbeitskreis Elementare Musikpädagogikan Ausbildungsinstituten in Deutschland) –sind sich des Dilemmas, das sich durch dieDiskrepanz zwischen der Absolvierenden-zahl und dem Bedarf im Berufsfeld ergibt,durchaus bewusst. Sie müssen die Existenzvon Weiterbildungsmaßnahmen akzeptie-ren, fordern hierfür aber eine strenge Quali-tätssicherung. Optimale Voraussetzungenfür Weiterbildungsmaßnahmen wären gege-ben, wenn die Teilnehmenden über ein ab-geschlossenes Musikstudium verfügen,wenn die mehrstufigen Arbeitsphasen aneine Musikhochschule angebunden und

von einer Aufnahme- und einer Abschluss-prüfung gerahmt sind. Der AEMP hat Krite-rien zur Qualitätssicherung entworfen undveröffentlicht;12 allerdings bleibt festzuhal-ten, dass eine wirkliche Professionalisierungfür die musikalisch-ästhetische Bildungsar-beit mit Gruppen verschiedenen Alters nur imRahmen eines Diplomstudiums im Haupt-fach EMP erlangt werden kann.

In den Ausbildungsstrukturen der Musik-hochschulen ist über eine Erweiterung derEMP-Studiengänge sowie eine verstärkteVernetzung von EMP mit instrumentalpäda-gogischen Schwerpunkten sowie der Schul-und Kirchenmusik nachzudenken – dennden dargelegten Ansatz einer musikalisch-ästhetischen Bildungstheorie auf der Basisanthropologischer Voraussetzungen hat dieEMP nicht gepachtet. Sie hat ihn detaillier-ter und praxisbezogener ausgearbeitet alsandere musikpädagogische Sparten, würdesich aber freuen, wenn möglichst viele An-wendungsbereiche davon profitierten.

Fußnoten:1 vgl. Juliane Ribke: Elementare Musikpädagogik. Persönlich-

keitsbildung als musikerzieherisches Konzept. Regensburg1995.

2 vgl. Juliane Ribke: „Ensemblespiel in der Elementaren Mu-sikpädagogik“, in: Rolf-Dieter Kraemer/Wolfgang Rüdiger(Hg.): Ensemblespiel und Klassenmusizieren in Schule undMusikschule. Augsburg 2001, Kap. 2.

3 vgl. Seeliger, Küspert, Greiner, Hartmann-Hilter, Friedhofen,Fröhlich, Lee, in: Juliane Ribke/Michael Dartsch (Hg.):Facetten Elementarer Musikpädagogik. Erfahrungen – Ver-bindungen – Hintergründe. Regensburg 2002, S. 35-122.

4 vgl. Katharina Zimmer: Das Leben vor dem Leben. München1984.

5 vgl. Maria Seeliger: Das Musikschiff. Kinder und Eltern er-leben Musik. Von der pränatalen Zeit bis ins vierte Lebens-jahr. Regensburg 2003, S. 166-177 und Ribke, ElementareMusikpädagogik, a. a. O., S. 81-97.

6 vgl. Seeliger, Das Musikschiff. Kinder und Eltern erlebenMusik, a. a. O., S. 83-95 und Juliane Ribke: „ÄsthetischeBildungsprozesse als Resonanz früher Lebenserfahrung“, in:Nicolai Petrat/Renate Kafurke/Karla Schöne (Hg.): Mit Spaßdabei bleiben. Musikästhetische Erfahrungen aus der Pers-pektive der Forschung. Essen 2003, S. 64-75.

7 Claudia Meyer: „Inszenierung musikalisch-ästhetischer Er-fahrungsräume in der Elementaren Musikpädagogik“, in:Juliane Ribke/Michael Dartsch (Hg.): Gestaltungsprozesseerfahren – lernen – lehren. Texte und Materialien zur Ele-mentaren Musikpädagogik. Regensburg 2004, i. Dr.

8 vgl. Maria Seeliger: „Du, Ich und Wir – Soziale Gestaltungs-prozesse in einer Eltern-Kind-Gruppe erfahren“, in: Ribke/Dartsch, Gestaltungsprozesse erfahren – lernen – lehren,a. a. O. !

Die Autorin:

Prof. Dr. Juliane Ribke, Vorstandsmitglied

des europäischen Netzwerks „Music Educa-

tors and Researchers of Young Children“

(MERYC), leitet den Studienschwerpunkt

Elementare Musikpädagogik an der Hoch-

schule für Musik und Theater Hamburg.

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MUSIK UND

9 vgl. Claudia Meyer: „Vorführen – Aufführen? Ein BeispielElementarer Musikpraxis mit Jugendlichen“, in: Ribke/Dartsch, Gestaltungsprozesse erfahren – lernen – lehren,a. a. O.

10 vgl. Charlotte Fröhlich: „Herabüben oder: von der wieder-auffindbaren Fähigkeit, sich in präsentativen Kommunika-tionsformen zurechtzufinden“, in: Ribke/Dartsch (Hg.): Fa-cetten Elementarer Musikpädagogik. Erfahrungen – Verbin-dungen – Hintergründe, a. a. O.

11 vgl. Insuk Lee: „Elementare Musikpädagogik für Senioren.Aspekte der musikalischen Arbeit in einem Seniorenheim“,in: Ribke/Dartsch (Hg.): Facetten Elementarer Musikpädago-gik. Erfahrungen – Verbindungen – Hintergründe, a. a. O. ,und Johanna Metz/Regina Pauls: „Künstlerisch-musikali-sche Arbeitsfelder mit Gruppen im späten Erwachsenenal-ter“, in: Ribke/ Dartsch (Hg.): Gestaltungsprozesse erfahren– lernen – lehren, a. a. O.

12 vgl. Juliane Ribke: Artikel „Fortbildung allein schafft keineProfessionalisierung. Zur Qualitätssicherung bei der Ele-mentaren Musikpädagogik“, in: nmz 2/04.

Klänge hinter der Tür – vor-sichtiges Öffnen: Im Kreis

15 alte Menschen zwischen 84und 99 Jahren, zwei Männerdarunter, manche sitzen im Roll-stuhl, für andere sind die Geh-hilfen in einer Ecke abgestellt.

Jeder einzelne wird musikalisch begrüßtmit Tönen, Klanggesten und einem herzli-chen Willkommen. Hände wandern aufund ab. Sie geben den gesungenen Silbeneine sichtbare Gestalt. Manche tasten sichnoch zaghaft in die Höhe, bei anderen istdie Sicherheit des gewohnten „Einsinge-Rituals“ zurückgekehrt. Für alle jedoch istnach Minuten das Erstaunen groß, zu wel-cher Stimmhöhe – scheinbar von selbst –die Gruppe diesmal wieder gelangte. Dannwird erzählt, gesungen, gelacht, gespielt,gelauscht, „getanzt“…

Eindrücke aus einem Leipziger Alten-und Pflegeheim von einer „Musikstunde“– wie die Seniorinnen und Senioren ihrwöchentliches Zusammensein mit denKunstpädagogen selbst benannt haben.Allerdings ist diese „Stunde“ nicht wörtlichzu nehmen, da Gespräche und individuel-le Kontakte hinzukommen, Abholen oderHinausbegleiten gewissermaßen Vorspielund Nachsatz sind.

Das Lehr- und Lernangebot „Musika-lisch-künstlerische Arbeit mit Gruppen imspäten Erwachsenenalter“ wurde im Jahr2001 an der Hochschule für Musik undTheater Leipzig für Studierende des FachesElementare Musikpädagogik (EMP) einge-richtet. Zunächst gedacht als Jahresprojekt,um Absolventen und Absolventinnen fürein neues Tätigkeitsfeld zu sensibilisieren,hat es inzwischen einen nicht mehr wegzu-denkenden Stellenwert in der hiesigenAusbildung erhalten – interessiert aufge-nommen von den jungen Leuten und Kol-legen der Hochschule, unterstützt von derLeitung des Pflegeheims, aber auch wach-send in der Nachfrage bei den Heimbe-

Literatur zum Thema:• Fröhlich, Charlotte: „Herabüben oder: von der wieder-auffindbaren Fähigkeit, sich in präsentativen Kommuni-kationsformen zurechtzufinden“, in: Ribke/Dartsch (Hg.)2002, S. 94-110.• Lee, Insuk: „Elementare Musikpädagogik für Senio-ren. Aspekte der musikalischen Arbeit in einem Senio-renheim,“ in: Ribke/Dartsch (Hg.) 2002, S. 111-122.• Metz, Johanna /Pauls, Regina: „Künstlerisch-musika-lische Arbeitsfelder mit Gruppen im späten Erwachse-nenalter“, in: Ribke/Dartsch (Hg.) 2004, i. Dr.• Meyer, Claudia: „Inszenierung musikalisch-ästheti-scher Erfahrungsräume in der Elementaren Musikpäda-gogik“, in: Ribke/Dartsch (Hg.) 2004, i. Dr.• Dies.: „Vorführen – Aufführen? Ein Beispiel Elemen-tarer Musikpraxis mit Jugendlichen“, in: Ribke/Dartsch(Hg.) 2004, i. Dr.• Ribke, Juliane: Elementare Musikpädagogik. Persön-lichkeitsbildung als musikerzieherisches Konzept. Re-gensburg 1995.• Dies.: „Ensemblespiel in der Elementaren Musikpäd-agogik“, in: Kraemer, Rolf-Dieter/Rüdiger, Wolfgang(Hg.): Ensemblespiel und Klassenmusizieren in Schuleund Musikschule. Augsburg 2001, S. 47-64.• Ribke, Juliane/Dartsch, Michael (Hg.): Facetten Ele-mentarer Musikpädagogik. Erfahrungen – Verbindun-gen – Hintergründe. Regensburg 2002.• Ribke, Juliane: „Ästhetische Bildungsprozesse alsResonanz früher Lebenserfahrung“, in: Petrat, Nicolai /Kafurke, Renate/Schöne, Karla (Hg.): Mit Spaß dabeibleiben. Musikästhetische Erfahrungen aus der Pers-pektive der Forschung. Essen 2003, S. 64-75.• Dies.: Artikel „Fortbildung allein schafft keine Profes-sionalisierung. Zur Qualitätssicherung bei der Elemen-taren Musikpädagogik“, in: nmz 2/04, S. 47.• Ribke, Juliane/Dartsch, Michael (Hg.): Gestaltungs-prozesse erfahren – lernen – lehren. Texte und Mate-rialien zur Elementaren Musikpädagogik. Regensburg2004, i. Dr.• Rolle, Christian: Musikalisch-ästhetische Bildung.Über die Bedeutung ästhetischer Erfahrung für musika-lische Bildungsprozesse. Kassel 1999.• Schwenk, Bernhard: „Bildung“, in: Dieter Lenzen,(Hg.): Pädagogische Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart1983, S. 208-221.• Seeliger, Maria: Das Musikschiff. Kinder und Elternerleben Musik. Von der pränatalen Zeit bis ins vierte Le-bensjahr. Regensburg 2003.• Dies.: „Du, Ich und Wir – Soziale Gestaltungsprozes-se in einer Eltern-Kind-Gruppe erfahren“, in: Ribke/Dartsch (Hg.) 2004, i. Dr.• Zimmer, Katharina: Das Leben vor dem Leben. Mün-chen 1984.

Wie sinnstiftend gemeinsames Musizieren auch im

hohen Alter sein kann, beschreibt Johanna Metz

FOKUS

Elementare musikalische Bildung für Senioren

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wohnern selbst. Längst können nicht mehralle Teilnahmewünsche berücksichtigt wer-den, Raum- und Gruppengröße sind zwangs-läufig begrenzt. Denn: Es soll nicht um Kon-zerte gehen, wenn Berufskünstler, Schülereiner benachbarten Musikschule oder einesKindergartens für die alten Menschen spie-len, sondern darum, wirklich miteinander zumusizieren, die Musik als Kommunikations-mittel zu erfahren – auch als Hochbetagteim Altenheim!

„Abstellgleis“ Altenheim

Hintergrund dieses Projekts sind die de-mografischen Veränderungen und die sichweltweit vollziehenden Umbrüche mit Aus-wirkungen auf alle Bereiche des gesellschaft-lichen Lebens. Bekanntermaßen verschiebtsich die Generationen-Pyramide – dankMedizin und Technik – nach oben. Erstmalsin der Geschichte der Menschheit wird es innicht einmal 50 Jahren weltweit mehr alteals junge Menschen geben, also eine zuvornoch nie dagewesene Bevölkerungsstruktur,in der die Grenzen zwischen den Lebens-

altern immer fließender werden und Alterund Tod ständig weiter auseinander rücken.

Während in den Zeitungen Negativ-Schlagzeilen über Pflegenotstand, Alterslastund Inaktivenquote zu lesen sind, scheinendie Pharmaindustrie, Freizeitbranche, Schön-heitschirurgie und Gentechnologie zu boo-men. Konnte in vergangenen Generationendie Familie noch Stütze im Älterwerdensein, sind es heute zerbröckelnde oder terri-torial weit auseinander gerissene Familien-strukturen, die einsam werden lassen. Alten-heime werden da schnell zu „Abstellglei-sen“. Hektik, rasante Beschleunigung, kaumnoch beherrschbare Technik und schrump-fende medizinische Versorgung stehen demWunsch nach sozialer Absicherung, nachGlück und seelischem Wohlbefinden im Al-ter gegenüber. Eine ausweglose Situation fürjetzige und kommende Generationen?

Zur Beantwortung dieser Frage sindFachleute gefragt, Fachleute für das Alter(n):Mediziner, Theologen, Sozialwissenschaft-ler, Therapeuten, Psychologen, Philoso-phen, Politiker und – provokante Behaup-tung – auch Künstler und Musikpädagogen!

Im jüngst erschienenen und viel disku-tierten Buch von Frank Schirrmacher DasMethusalem-Komplott ist von einer Ver-schwörung gegen den biologischen und so-zialen Terror der Altenangst durch positiveGegenbilder die Rede. Die „schöpferischeKraft des Alters und die Bewahrung, dieHege und Pflege von Lebenszeit“ sollte sei-ner Meinung nach verstärkt ins Bewusstseingerückt werden.

Diese Aussage bestätigt damit ganz aktu-ell den Forschungsansatz und alle vorausge-gangenen Studien für das Leipziger Hoch-schulprojekt „Musikalische Bildung imspäten Erwachsenenalter“. Gerade für Hoch-betagte sind Angebote und Impulse wichtig,die ihnen Gelegenheit geben, sich selbst zubetätigen, das Leben zu spüren und zu ge-nießen, sich in Würde und Mündigkeit an-erkannt zu wissen. !

TANZ –

ein Leben lang…

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Dafür bietet die Musik, die Kunst gene-rell einen Reichtum an passenden Möglich-keiten. Sie kann mit ihrer elementarenKraft den Menschen tief berühren, Emo-tionen und Erinnerungen wecken, alle Sub-systeme aufrufen. Sie geht unter die Haut.

Natürlich mutet der Begriff Musikpäda-gogik im Pflegeheim (noch) etwas unge-wöhnlich an. Und zugegebenermaßen istmusikalisches Arbeiten mit betagten Men-schen immer eine Schnittfläche von Bil-den, Unterhalten, Helfen und Heilen. Daist keine eindeutige Grenze zu ziehen zwi-schen therapeutischem und künstlerisch-pädagogischem Zugang. Aber, entspre-chend der Ausbildung, soll das musika-lische Lernen im Mittelpunkt stehen. Ler-nen miteinander und voneinander.

Wie man sich das vorstellen kann?Keinesfalls als Unterweisung zum Beherr-schen eines „klassischen“ Instruments! Viel-mehr als einen Zugang zur Musik, derimmer auch mit Bewegung, Sprache, Ma-terialien und Medien verbunden bleibt; alseine Angehensweise (der Elementaren Mu-sikpädagogik), bei der zunächst die Personselbst das Instrument ist mit allen Klang-möglichkeiten und Resonanzräumen, mitder Sing- und Sprechstimme, mit den indi-viduellen, unmittelbaren Ausdrucksqualitä-ten. Nicht das Agieren für sich allein, son-dern das gemeinsame Tun in einer Grup-pe steht im Mittelpunkt, ebenso das Ler-nen „über die Ohren“, nicht das Noten-ablesen. Gefragt ist das eigene Gestalten,nicht ausschließlich das Nachspielen kom-ponierter Stücke. Ein Ansatz, der auch(oder gerade) in der künstlerischen Arbeitim späten Erwachsenenalter wunderbarzum Tragen kommen kann.

Und wie ließe sich hier die besondereKompetenz eines Musikpädagogen einbin-den? Stellen wir ihn uns etwa mit demHauptfach Posaune vor: Er könnte einenhistorischen Tanz spielen, kulturgeschicht-liche Hintergründe erzählen, Bilder zeigenund auf Verbindungen zur gewohnten hei-matlichen Umgebung verweisen. Sucht erfür sein Live-Spiel Begleitung, würden sichSchellentrommeln anbieten. So kann sichjeder, der möchte, mit Klängen, Geräu-schen, eigenen Rhythmen ins Spielgesche-hen einbringen. Ein Richtig oder Falsch gibtes dabei nicht. Tanzen im Raum ist kaummehr möglich, also werden die Fußbewe-gungen zu Handgesten. Schwingen undVerbeugen beim (historischen) Sitztanzsind auch im Rollstuhl machbar.

Natürlich kann die Posaune bekannteMelodien intonieren, zum Sommerlied

eine zweite Stimme spielen oder den Ka-noneinsatz übernehmen. Und dann ist danoch das Instrument selbst: zum Greifenund Begreifen, zum Erzählen über die Po-saunenchortradition in der eigenen Fami-lie, zum stolzen Berichten über einen Ur-enkel, der Trompete spielt, bis hin zumNachfragen, wie viel ein solches Instru-ment kostet, wie lange denn täglich geübtwerden muss – ohne den Zorn des Nach-barn zu wecken. Kommunikation, die nichtkünstlich durch verordnetes Gedächtnis-training initiiert wird, sondern über diemusikalische Tätigkeit des Musikpädago-gen mit den betagten Menschen entsteht.

In den „Musikstunden“ wird viel gesun-gen: Bekanntes aus der Kinder- und Ju-gendzeit, alte Schlager, Filmmusik, Volks-und Kunstlieder, zusammengestellt je nachJahreszeit, Thematik oder Vorlieben derSenioren. Es wird aber auch Neues gelernt:ein Kanon, ein Sprechvers, ein Ostinatozum bereits vertrauten Lied, eine Bordun-begleitung auf zwei Bassklangstäben, einSitztanz, auch musikalische Fachbegriffe,historische Erklärungen oder Anekdotenzur Musik, zum Tanz, zum Komponisten.

Es wird Musik gehört, ein Instrumentvorsichtig erkundet, es werden Liedstro-phen gedichtet, Texte erfunden, Blumen-duft geschnuppert, Steine ertastet, Erinne-rungen ausgetauscht, Erlebnisse erzählt,Ängste formuliert, das Tagesgeschehenkommentiert, gelächelt, gestaunt, geseufzt– manchmal auch einfach nur dabei geses-sen, denn nicht alles ist immer für alle mög-lich. Intonieren, Texte merken, Instrumenthalten, all das kann bereits ungeahnteSchwierigkeiten bereiten. Zurücklehnen,Augen schließen – alles ist erlaubt. Umsomehr Wachheit fordert es vom Pädagogen.Er muss seinerseits sehr achtsam auf dasGruppengeschehen eingehen, und manch-mal verlangt die Tagesverfassung der Seni-oren auch, etwas ganz anderes zu machen,als eigentlich geplant war.

Resümee nach über drei Jahren: Die„Musikstunden“ im Pflegeheim zählennoch immer zu den besonderen Mo-menten der Woche. Sie sind anstren-gend und bereichernd zugleich. Füralle Beteiligten ist es faszinierend zuerleben, wie Musik die betagten Men-schen in ihrer ganzen Persönlichkeitanspricht, wie sinnstiftend musikali-sche Tätigkeit im hohen Alter seinkann. Manches ist für Außenstehen-de kaum zu bemerken, die strahlen-den Augen bei der Verabschiedungallerdings sind unübersehbar.

Musikalische Bildung darfnichts Abgeschlossenes be-deuten, denn beim Umgangmit Musik kommt es daraufan, neugierig zu sein und zubleiben, Kreativität zu ent-wickeln…

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»Musikalische Bildung«?»Musikalische Bildung«?WAS IST DAS EIGENTLICH?

Man macht zusammen Musik, istaktiv. Musikalische Bildung sollte daherdie Grundlagen für eine weitere Entwick-lung bieten: Noten kennen, Instrumente,die abendländisch-klassische Musiktradi-tion, Jazz ect. Am wichtigsten aber ist diePraxis. Ohne sie findet man selten denZugang zur Musik. In den Schulen wirdleider oft zu wenig Praxis vermittelt, da-bei kann man als Kind am leichtesten einInstrument erlernen.

Musik bietet später ein notwendigesGegengewicht zum Alltag, auch Entspan-nung. Das Künstlerische fördert zudemdie eigene Ausdrucksfähigkeit.

Kirsten vom Lehm,Diplom-

Bibliothekarin

FOKUS

Die Autorin:

Johanna Metz , diplomierte Kultur- und Instru-

mentalpädagogin sowie Musik- und Tanzerzie-

herin, leitet den Studienbereich Elementare

Musikpädagogik an der Hochschule für Musik

und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“

Leipzig und ist eine der Sprecherinnen des

Arbeitskreises „Elementare Musikpädagogik an

Ausbildungsinstituten in Deutschland“.

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Als wir unseren ältesten Sohnan der Eulenkrugschule

anmeldeten, ahnten wir nochnicht, wie sehr Musik in denfolgenden Jahren unser Leben inder Familie begleiten würde“,sagen die Eltern von Max.

Max lernte in der ersten Klasse Blockflö-te, spielte im zweiten Schuljahr im Schul-orchester, sang, wie fast alle seiner Klassen-kameraden, als Drittklässler außerdem imSchulchor mit und entschied sich nach ei-nem Schnupperkurs auch noch für das Er-lernen der Geige. Bald brachte er dieses Ins-trument so zum Klingen, dass er seinerMutter, wie diese berichtet, täglich „einekleine Hausmusik bescherte“. All das, soMaxens Mutter, sei „ein prima Ausgleich zurTechno-Musik, die Max sonst in seiner Frei-zeit hört“. Angesichts zahlreicher Chor- undOrchesterwochenenden, Proben für Schul-aufführungen, schulinterner und öffentli-cher Auftritte und weiterer außerschulischerMusikaktivitäten ihres Sohnes dürfte sichallerdings Max Techno-Konsum in Grenzenhalten.

„ Während Max inzwischen an einer wei-terführenden Schule in einem renommier-ten Jugendorchester spielt, hat seine jüngereSchwester in einem Schnupperkurs derSchule Eulenkrugstraße das Cello als Lieb-lingsinstrument entdeckt und Till, aufstre-bender Erstklässler, liebäugelt nach demBlockflötenkurs schon mit dem Kontrabass.

„Dank der Eulenkrugstraße spielen wiralle ein Instrument und interessieren uns fürChor, Orchester und Tanzen. Das hört sichvielleicht ein bisschen geschwollen an, doches stimmt“, resümiert Max.

Max musikalischer Werdegang ist wederdas Schicksal eines Hochbegabten noch einschulischer Einzelfall, sondern das Ergebniseiner außergewöhnlichen musikpädagogi-schen Arbeit an der Grundschule Eulen-krugstraße in Hamburg. Eindrucksvolle Zah-len belegen deren Erfolg: Fast jedes Kind derSchule spielt ein Instrument, etwa 80 Pro-zent der Schüler spielen Blockflöte, rundzehn Prozent ein Streichinstrument undweitere zehn Prozent andere Instrumente(darunter u. a. Harfe und Tenorhorn). 90Prozent aller Dritt- und Viertklässler singenim Chor. Die Schule bietet neben dem zwei-stündigen Fachunterricht mit starkem Pra-

MUSIK ALS EMPFINDENzugehörig

xisbezug, neben einem Streichorchester, ei-ner Streichergruppe, einem Blasorchester(mit 45 Mitgliedern), zwei Chören mit übereinhundert Kindern auch Streicherprojekte,Schnupperstunden und Schnupperzeitenan, die zum Erlernen eines Instruments an-regen. Dabei werden pro Schuljahr zwölf bis

Uve Urban über die im Bundeswettbewerb „musik gewinnt!“

ausgezeichnete Hamburger Grundschule Eulenkrugstraße

Schule: ein Ort musikalischen Lebens

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FOKUS

13 Kinder gewonnen. Die Schule stellt Leih-instrumente für den Anfang zur Verfügungund vermittelt Instrumentallehrer.

„Mini-Musikschule“ nennt MarianneSteinfeld, Initiatorin und Motor des Projekts,das Modell, in dem nicht nur Einzelunter-richt gegeben wird, sondern auch Ensemble-arbeit stattfindet und die Lehrerinnen derSchule mit ihren außerschulischen Kollegin-nen und Kollegen in enger pädagogischerAbsprache arbeiten und musikalische Ge-meinschaftsveranstaltungen planen und vor-bereiten.

Die Grundschule Eulenkrugstraße hatkeinen Sonderstatus, weder in Bezug auf dasEinzugsgebiet der Schule oder ihre personel-le Ausstattung noch hinsichtlich spezifischerinstitutioneller Rahmenbedingungen Dievor zehn Jahren gegründete, dreizügigeSchule mit 320 Schülerinnen und Schülernhat mit denselben bildungs-, schul- und fach-politischen Problemen zu kämpfen wie an-dere Hamburger Schulen auch, derzeit u. a.mit der neuen „Lehrkräfte-Arbeitszeit-Ver-ordnung“, die pädagogische Arbeit nachvorgegebenen Arbeitszeitwerten bemisstund aufgrund massiver Finanzprobleme desStaats außerunterrichtliche Aktivitäten garnicht oder nur unzureichend honoriert.

Das Besondere der Grundschule Eulen-krugstraße liegt also nicht in ihrer Ausrich-tung als Spezialschule, sondern darin – wiedie Eltern von Max es erleben –, „dass diemusikalischen Anregungen sich direkt ausdem Schulzusammenhang entwickeln unddie Kinder Musik nicht als zusätzlich, son-dern als zugehörig empfinden“.

Musik als prägendes Element des Schul-lebens und als bildendes Element der Unter-richts- und Erziehungsarbeit – so sieht esauch die Schulleiterin, Maria Rhea Schäfer:„Von Beginn an war es für uns ein wesentli-ches Ziel unserer pädagogischen Arbeit, aufganzheitlicher Basis alle Fähigkeiten und Sin-ne der Kinder anzusprechen und zu entwi-

ckeln. So sind hier, besonders auch im musi-kalischen Bereich, die unterschiedlichstenAktionen entstanden. Sie helfen mit, unsereKinder gerade im seelischen Bereich zu stär-ken.“

Neben diesem pädagogischen Programmsind es vor allem drei Prinzipien, die dieseSchule zu einem Ort musikalischen Lebensgemacht haben:

1. Kooperation: Die Schule arbeitet engmit privaten Instrumental- und Musikschul-lehrern zusammen, regt Instrumentalunter-richt an, fördert und organisiert diesen undintegriert dessen Ergebnisse in das schuli-sche Musikleben. Schulintern kooperierendie Kolleginnen und Kollegen in fachüber-greifenden Unterrichtsvorhaben, bei denenMusik in außer- und überfachliche themati-sche Zusammenhänge eingebettet ist.

2. Öffnung: Die Schule bezieht außer-schulische Musikangebote und außerschuli-sches Musikleben mit ein: So musiziertemehrfach das Junge Philharmonische Orches-ter Wuppertal, gastierte das polnische Tanz-und Gesangsensemble Resovia Saltans, agier-te der im Stadtteil ansässige weltberühmte

Der Autor:

Uve Urban war Musiklehrer am Gymna-

sium und Fachleiter für Musik am Staat-

lichen Studienseminar Hamburg und

unterrichtet jetzt als Lehrbeauftragter an

der Musikhochschule Lübeck. Er ist

Vorsitzender des vds-Landesverbandes

Hamburg.

Mit der Zuerkennung des 1. Preises in demvom Verband Deutscher Schulmusikerausgeschriebenen Wettbewerb „musikgewinnt! – Musikalisches Leben in Schu-len“ an die Hamburger Grundschule Eulen-krugstraße wollten die Juroren ein Zeichenfür die Musikpädagogik in Deutschlandsetzen und ein Modell vorstellen, das an-dere Schulen musikalisch motivieren undzu ähnlichen Aktionen anregen kann.

Der Verband Deutscher Schulmusiker(vds) hatte den Wettbewerb mit Unterstüt-zung der Strecker-Stiftung und gemeinsammit dem Kulturradio WDR 3 unter derSchirmherrschaft von Alt-BundespräsidentJohannes Rau ausgeschrieben. Der Preisversteht sich als direkte Reaktion auf denAktionstag „Musik für Kinder“, zu dem Rauim September des vergangenen Jahres

eingeladen und den der Deutsche Musik-rat mit seinem vielbeachteten Kongress„Musik bewegt!?“ begleitet hatte.

Dem Bundespräsidenten wie auch demDeutschen Musikrat war es mit dieser ge-koppelten Gesamtveranstaltung ein Anlie-gen, ein gesellschaftspolitisches Signal zusetzen für die Bedeutung musikalischerBildung und damit zugleich gegen den be-ängstigend wachsenden Abbau musischerAusbildung an deutschen Schulen.

Die Preisverleihung an die GrundschuleEulenkrugstraße fand am 17. Juni im Rah-men eines WDR-Jugendkonzerts mit demWDR Sinfonieorchester Köln statt. Weitereacht Gymnasien und Grundschulen wur-den mit Einkaufsgutscheinen für Musikalienausgezeichnet.

Auszeichnung „musik gewinnt!“ an die Eulenkrugstraße

Bariton Andreas Schmidt als Schulmeister inder gleichnamigen Telemann-Kantate zu-sammen mit dem Schulchor, wirkte der inder Nachbarschaft wohnende Hochschul-Gesangsprofessor Hartmut Ochs bei einerHamburg-Revue mit, schrieb ein jungesKomponisten- und Texterteam ein eigenesSingspiel für den Chor der Schule. Umge-kehrt präsentiert die Schule ihre musikali-sche Arbeit – außer in regelmäßigen Kon-zerten und Aufführungen im eigenen Haus– bei Auftritten in der Kirche, bei Stadtteil-festen, im Altersheim, bei Begegnungskon-zerten in anderen Schulen, selbst in der Mu-sikhochschule und in der Hamburger Mu-sikhalle.

3. Kontexte: Die Schule schafft Verbin-dungen zwischen dem Unterrichtsfach Mu-sik und dem Lebensraum Schule: In monat-lich stattfindenden Foren, an denen alleSchülerinnen und Schüler teilnehmen, wer-den Unterrichtsergebnisse präsentiert. Dabeispielt Musik, angefangen vom gemeinsamenForumslied bis hin zu musikalischen Beiträ-gen unterschiedlichster Art, eine wichtigeRolle. Einmal in der Woche wird eine Pausezur Tanzpause: Vom Vorschulkind bis zumViertklässler versammeln sich alle, die Lustzum Tanzen haben, in der Turnhalle, wodann bis zu hundert Kinder ihre Pause tan-zend verbringen.

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Wenn an einer Förderschule Musik zum „Lebensmittel“ der Schüler wird –

dank eines guten Geistes und engagierter Lehrer

HIER GIBT DER

DEN TON ANHausmeister

Hannover, eine ganz normaleFörderschule, sozialer Brenn-

punkt. Also: hoher Ausländer-anteil, massive Sprachprobleme,keine Lebensperspektive in bür-gerlichem Sinn, Kleinkriminalität,Körperverletzung, Abziehen vonKlamotten. Das Glück gerade die-ser Schule: eine Sozialarbeiterin,der Kontaktbeamte der Polizeiund – der Hausmeister!

Ja, der Hausmeister: Herr Goetz! Eine fes-te Bank im schwierigen Einerlei des Alltags– ebenso wie die Sekretärin. Diese Schulehat Glück! Das pädagogische Engagementder Lehrer stößt immer auf die Überlegun-gen des Hausmeisters: Wo kann er helfen,wo fehlt etwas, wo läuft etwas falsch? Einespannende Konstellation: Herr Goetz denktmit, er arbeitet mit, er leidet mit. Auch mitdem Fach Musik.

Diesem Fach geht es an dieser Schulewie an allen anderen Förderschulen auch:kein ausgebildeter Musiklehrer, aber einigeLehrer(innen), die sich einer Situation erbar-men, die von der Bezirksregierung schonseit Jahren tatenlos als gegeben angesehenwird. Da gäbe es voll ausgebildete Musik-lehrer, die nur zu gern dieser Schule zuge-wiesen worden wären. Doch versetzt mansie lieber an Schulen, an denen sie dannkaum Musik erteilen. Augenscheinlich gibt

es das sehr häufig: Lehrer, teuer im Mangel-fach Musik ausgebildet, anschließend aberin Fächern eingesetzt, für die es mehr alsausreichend Kollegen gibt. !

Von Hans Bäßler

Mülltonnen und Besen – in der Hannoveraner Förderschuledienen auch sie als Musikinstrumente.

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! So geht das landauf, landab in vielenFörderschulen: Schulen in sozialen Brenn-punkten werden von den Schulverwaltun-gen nicht wirklich ernst genommen, päda-gogisch wichtige Fächer wie Kunst, Musikoder Sport haben dort fast keine Bedeutung,Förderstunden werden gestrichen, AG-Stun-den gegen Null gefahren. Der Resignationvon Lehrern sieht man zu, fordert immermehr, ohne gleichzeitig zu fördern.

In dieser vertrackten Situation Musik er-teilen? Dazu gehört viel Mut, viel Wissenum all das, was dieses Fach tatsächlich leis-ten kann. Dazu gehört die Erfahrung, dassdie musikalische Grammatik diese Kindernicht erreicht, wohl aber die Musik selbst –auch die so genannte klassische. Und hierwird es leichter, wenn man tatsächlich päda-

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»Musikalische Bildung«?»Musikalische Bildung«?WAS IST DAS EIGENTLICH?

gogisch arbeiten kann – mit der Musik undfür die erweiterten musikalischen Erfahrun-gen: Musik und Bewegung, Rockband, tür-kischer Tanz, Schwarzlichttheater, Improvi-sation mit Perkussionsinstrumenten.

Und dann der Kinderchor! Man will eskaum glauben: Diese Schule besitzt einenkleinen Kinderchor, den eine Lehrerin lei-tet, die nie Musik studiert hat, die aber ge-nau weiß, dass gerade für ihre Schüler musi-kalische Erfahrungen mehr bringen könnenals vieles andere.

Das sehen die Kollegen ebenso – undauch der Hausmeister. Ist der Verstärkerdefekt und damit die Schuldisko gefährdet,dann löst er das Problem. Geht es um T-Shirts für den Chor, dann besorgt er siesofort. Fehlen für Stomp Besen und Müllton-nen, dann stehen diese am nächsten Tag inausreichender Anzahl bereit. Ein Hausmeis-ter, der ununterbrochen mitdenkt. Der denMusikraum streicht, weil Kinder aus seiner

Programm gegen den alltäglichen Irrsinn

Sicht sonst nicht vernünftig Musik machenkönnen, der mitleidet, wenn mal wieder ein-gebrochen wurde und die Musikanlagefehlt. Der dafür kämpft, dass der Flügel vonden Restmitteln des Bezirks repariert wer-den kann, der auch mal auf eine Schüler-gruppe aufpasst, wenn im Musikunterrichtdifferenziert werden muss.

Herr Goetz ist stets in doppeltem Sinnbesorgt: Um „seine“ Schüler, um „seine“ Leh-rer, um „seine“ Schule, um „seinen“ Musik-unterricht. Sonderpädagogin Anna-Luise vonKrosigk: „Hat erst ein Hausmeister begriffen,warum das Fach Musik für diese Klientel sowichtig ist, dann wird das Arbeiten in Musikwesentlich leichter. Die ganz normalen Hür-den des Das-haben-wir-noch-nie-gemachtund des Das-haben-wir-doch-schon-immer-so-gemacht, mit denen jede pädagogischeArbeit im Keim erstickt wird, entfallen.“ EineIdee aus der Lehrerfortbildung könne siesofort umsetzen, so von Krosigk, denn mög-liche Hindernisse würden vom Hausmeisterumgehend aus dem Weg geräumt. „Er enga-giert sich, wenn ich Probleme mit dem Ma-terial habe, wenn etwas herangeschafft wer-den muss.“

Umgekehrt ist es für Goetz das schönsteErlebnis, wenn „seine“ Band es schafft, aufdem Abschlussfest zu spielen, als wären sieProfis: Der coole Achmet am Schlagzeug,Yassin am E-Bass, Dennis an der Gitarre unddie Sängerin Marie. Sie sind auf einmal ganz

andere in einer Schule, die sich nicht auf-gibt, sondern kämpft gegen die Resignation,gegen das So-ist-es-nun-mal, gegen die alltäg-liche Gewalt; gegen Respekt- und Perspek-tivlosigkeit.

Schule kann auch ganz anders sein. Die-sen Gedanken versucht die Sonderpädago-gin von Krosigk immer wieder durchzuset-zen. Und das mit zunächst einmal eherschwachen Mitteln – mit Musikinstrumen-ten statt Gewalt, mit Ideen statt Verboten,mit Klarheit statt Hoffnungslosigkeit. Mit La-chen gegen die Trauer. Die Förderschulenim Lande sind meistens die Endstation, indenen selbst die Sorgen unsinnig gewordensind, weil sich keiner noch sorgt. Musik aber,das kann man fast täglich beobachten, ist einProgramm gegen den alltäglichen Irrsinn.

Ohne den Hausmeister Goetz, ohne denPfadfinder in aller Wirrnis, würde sich aller-dings solch ein Programm nicht verwirkli-chen lassen. Er sorgt immer wieder dafür,

dass der Erziehungsauftrag der Schule auchrealisiert werden kann, indem er mit seinenMitteln hilft, den Rahmen zu schaffen (eineFormulierung, die abstrakt gegenüber demklingt, was sich an vielen kleinen Dingen imAlltag abspielt). Musik ist in diesem Zusam-menhang eher ein (wichtiges) Mittel derSelbsterfahrung und der Fremderfahrung.Denn, was Schüler in diesem Musikunter-richt (eigentlich müsste es heißen, mit derMusik) erleben, ist kaum mit dem zu ver-gleichen, was an den Sekundarstufen sonstgelehrt wird. Hier gibt es tatsächlich nichtsanderes als das praktische Musikmachenund das Hören von Musik. Übrigens ins-besondere von klassischer Musik. Denn dasgehört genauso zu dem musikpädagogi-schen Programm: Zuhören lernen – auch ei-ner Musik gegenüber, die einem sehr fremdist. Schweigen und Hören. Diese Zauber-worte kontrastieren mit einer laut-diffusenUmgebung. Zuhören-können in Räumen,die selbst gestaltet werden – und sich dabeinur auf die Musik konzentrieren.

In dieser Förderschule ist alles anders, siepasst in kein gestanztes Konzept der Schul-planer. Dort unterrichten nur wenige Leh-rer das Fach Musik und nur wenige Schülerlieben das Fach von Anfang an. Aber es gibteinige, die wie Hausmeister Goetz daranglauben, dass Musik zu einem Lebensmittel„ihrer“ Schüler werden kann.

FOKUS

Unter musikalischer Bildungverstehe ich Singen, Instru-mente spielen und Bewegungzur Musik…

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Es soll schon in den Kinderkrippenmit Bewegung zur Musik, Klatschen undSingen angefangen werden. Das Ganzesoll natürlich erst einmal spielerisch,zum Beispiel mit Kreisspielen, vermitteltwerden. Die Musiklehrerin sollte lockerund aufgeschlossen sein, ordentlichsingen und ein paar Instrumente spielenkönnen. Pädagogische Kenntnisse musssie auch haben.

Die klassische Musik soll hervorgeho-ben werden.

Ute Ullrich,Kindergärtnerin

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Sparsame, aber mit Genauigkeit gesetzte Gesten;

Sorgfalt der Wahl und Sorge für das Gewählte;

Vertrauen in die Kraft des einzelnen Ereignisses und

den Raum der Stille, in dem es entsteht:

Darin liegt die Eigenständigkeit der Musik von

Juliane Klein begründet.

Wolfgang Fuhrmann in der Berliner Zeitung

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Juliane Klein steht mit beiden Beinen mitten im Leben und istKomponistin. Sie hat ihren Beruf ordentlich studiert, Komposition,Tonsatz und Klavier an der Hochschule für Musik Hanns Eisler inBerlin (1984-1989), in Stuttgart komplettierte sie ihre kompositorischeAusbildung bei Helmut Lachenmann (1993-1997). Seither erhielt sieeine Vielzahl von Aufenthalts- und Kompositionsstipendien, u. a.Akademie Schloss Solitude Stuttgart, Puschkinskaja Desjat, St. Peters-burg, Cité des Arts Paris, Künstlerinnenhof „Die Höge“ in Bremen,Musikakademie Rheinsberg, Villa Massimo Rom sowie Arbeitsstipen-dien des Deutschen Musikrats, der Stadt Darmstadt, der StiftungKulturfonds, der Akademie der Künste und des Kultursenats in Berlin.

Seit acht Jahren reist Emilia mit, die konzert- und opernerfahreneTochter. Wo die beiden hinkommen, ergründen sie die Musik desOrtes und bringen Eigenes ein: In Schreyahn hat Juliane Klein miteinem Laienchor gearbeitet und mit Schülern. Sie organisierte einKonzert in einem unbestuhlten Saal und bat die Besucher, als Eintrittein Sitzutensil von zu Hause mitzubringen. Das machte Spaß und jederbrachte etwas mit – schon deswegen, weil auch der Nachbar seinenSessel, Hocker oder Melkschemel durch den Ort trug. Natürlichwollten alle nur auf dem eigenen Utensil sitzen.

Damit war die erste Aktion schon gelungen, Neue Musik ganznormal, mehr noch auf dem eigenen Sitzpolster. Juliane Klein berich-tet, dass ihre Besucher zwar anfangs skeptisch auf das Programmguckten, als ob das nichts für sie wäre. Wie eine Jacke, die nicht passtund die man dann nicht anzieht, weil sie zu eng ist. Wenn die Jackeaber doch wärmt, ist sie vielleicht nicht so schlecht, geht ja, kratzt garnicht. Eine Bäuerin sagte der Komponistin, sie sei so angespanntgewesen während des Konzerts und dann sei dieser Knoten in ihrgeplatzt. „Was für ein Erlebnis!“ sagt Juliane Klein. !

KOMPONIEREN IST EINE

»Spezialform des Denkens«Neue Musik und längerfristige Konzepte des Hörens:

Mit Komponistin Juliane Klein sprach Ulrike Liedtke

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Was bedeutet „Komponistin“ sein?

Juliane Klein: Nachzudenken und tätigzu sein. Für mich ist Komponieren eineSpezialform des Denkens. Nachdenkenheißt ja: sich interessieren für das Unbe-kannte, etwas ans Licht bringen, das nochnicht ans Licht gebracht wurde, aber letzt-lich – höchstwahrscheinlich – irgendwoexistiert. Man hat eine Vision, weit überdie Zeit hinaus, und versucht sie nach undnach in Töne und Worte zu fassen. Das istdann das Tätigsein.

Welche Rolle spielt Publikum dabei?

Klein: Ich gehe immer davon aus, dasses ein Publikum gibt, dass die Stücke ge-hört werden müssen, also auch gespielt.Deswegen habe ich 1987 das „Kammer-ensemble Neue Musik Berlin“ gegründet.Mein erster Auftritt als Komponistin erfolg-te gleich mit Interpreten, nicht herausgelöstaus dem Team. Dabei interessieren mich

„Ich halte esüberhaupt für unmöglich,dass kreative Tätigkeit ge-

hemmt werden könnte. Ob sienun als NEU oder ALT einge-schätzt wird, sagt nichts überihren Gehalt. KünstlerischeProdukte sind solchen Zeit-

Urteilen gegenüberimmun!“

Juliane Klein in „Blickwechsel“ *

Konzertprogramme, die strukturiert gebautsind, nicht zufällig zustande kommen. Esgeht nicht um den Wunsch des Komponis-ten, dass sein neues Werk uraufgeführtwird, sondern um längerfristige Konzeptedes Hörens. Mit dem „KammerensembleNeue Musik Berlin“ hatten wir immer einPublikum, das viel geklatscht hat, schöne,bewegende Konzerterlebnisse von Anfang

* in: Juliane Klein, hg. von Eva-Maria Houben, Pfau-Verlag,Saarbrücken 2002.

Seit 1999 ist Juliane Klein auch als Verlegerin in der „Edi-tion Juliane Klein“ tätig , die auch Kompositionen von Micha-el Hirsch, Hermann Keller, Peter Köszeghy und Eva-Maria Hou-ben verlegt. Eine Porträt-CD der Komponistin erscheint imSeptember 2004 bei WERGO im Rahmen der „Edition Zeitge-nössische Musik“ des Deutschen Musikrats.

an. Ein Programm hieß „Überbleibsel“ –das war so extrem, ganz viele neue Klänge,ohne Pause, auch Stücke, die nicht wirk-lich komponiert waren. Die Begeisterung,auch bei Besuchern von sonst klassischerMusik, war groß, so etwas hatten sie nochnie gehört. Je konsequenter man mitNeuer Musik und Publikum verfährt, destosinnvoller ist es. Man darf gar nicht erstdenken, es würde nicht gehört werdenwollen. Das ist genauso, wie wenn ein Inter-pret auf die Bühne geht und meint, er wür-de diese oder jene Stelle nicht gut spielen– da braucht er gar nicht erst anzufangen!Eine Komposition für Oboe, Violoncello,Percussion und Klavier heißt einfach nur„mit“ – der Hörer findet etwas, wo er sicheinhaken kann. Ich gehe nie davon aus,dass der Hörer ungebildet ist, leider garnicht mit der Neuen Musik vertraut unddeshalb alle möglichen Hilfen braucht. Einvorgekautes Brötchen, am besten nochschön süß mit viel Schokolode – das er-zeugt doch kein Wohlbehagen. Ich haltenichts von Vorher-Urteilen.

Schließt Neue Musik logisch an diemusikgeschichtliche Entwicklung an?

Klein: Ich würde sagen ja. Ich hatteauch eine ganz traditionelle Ausbildung.So experimentell meine Stücke vielleichtwirken – ich kann sie ganz traditionell er-klären. Heute im Konzert bewunderte je-mand den Schlagzeuger, der 36-mal ein Cin verschiedener Art und Weise auf seinemMarimbafon spielte. Man merkte dieknisternde Spannung im Publikum. Dawurde mir klar: Du hast so viele Saltandiin diesem Stück komponiert und Tremoli,das ist jetzt das Riesensaltando, in einemTeil strukturiert und geordnet. Diese Stellekann nicht zusammenbrechen, sie wirdgetragen von allen anderen vorher. Das istKomposition, egal ob in Alter oder NeuerMusik.

Woher kommt das Tonmaterial?

Klein: Sehr unterschiedlich. Anfangswollte ich Konsonanzen vermeiden, daskam noch aus dem Studium heraus. Mankann drüber lächeln, aber ich glaube, dasses noch immer manches Tabu in NeuerMusik gibt – das darf man nicht und jenesdarf man nicht, keine Dur-Dreiklänge, kei-ne Quinten, so war es vor etwa 20 Jahren.Ich habe ganz bewusst in KompositionenGegendarstellungen gefunden, Quarten,Quinten, Oktave, Melodien, deren Struk-tur auch dissonant oder geräuschhaft seinkann. Manchmal entsteht ein Stück aus

einer Material-Idee, etwa aus aufwärts ge-wandten Quarten, richtig wie man sie vomLied her kennt. Bei so einer Aufgabenstel-lung überlege ich, was ich mit dem Mate-rial alles machen könnte.

Trifft Neue Musik heute den Nervder Zeit?

Klein: Manchmal mehr als geplant.Ich hatte für die Staatsoper Hannover 2001„westzeitstory. Tischoper im Maßstab H-Null“ für Mezzosopran, Tenor, Trompete,Percussion, Keyboard, Sprecher und vierTischspieler als „Zeitoper“ komponiert, amTisch aufzuführen, klein aber fein. Nächs-ter Auftrag: „Flughafenoper“, 20 Tage Zeitzum Komponieren. Spielzeitthema: Ame-rika. Dann kam der 11. September. Auf-führungsort: der Flughafen Hannover, wojeder Klang geschluckt wird. Für so einenRaum Musik zu schreiben ist nicht geradedas, was man sich wünscht. Wir haben dasStück „Arabische Pferde“ genannt. Es gehtum Flugangst, die Reiseindustrie, umIdentität, sich verändern wollen, wennman in ein anderes Land fliegt. Die Staats-oper hat jeden Abend ihre 80 Karten ver-kauft. Es war offiziell immer ausverkauftund da die Oper von Szene zu Szene überden Flughafen zog, hatten wir in derletzten Szene immer 200 Leute, die unsfolgten.

Die Vision Komponieren heißt auch,Menschen verändern durch Musik?

Klein: Kürzlich wurde ich eingeladennach Wien, um mit alten Leuten zu arbei-ten, 60, 70, 80 Jahre alt, alles Laien, füreine Musik- und Modeperformance imMuseum für Angewandte Kunst. Die Mode-designerin Lena Kvadrat hatte Kleidungaus Vergangenheit und Gegenwart für äl-tere Leute entworfen. Wir stellten uns dieFrage, ob wir die Erfahrungen der Altennoch brauchen oder ob unsere Informatio-nen nur noch im Internet zu finden sind.Ich musste die Interpreten in die Situationversetzen, eine Arbeit zu leisten, von der

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alle vorher noch nichts wussten. Es hat sichein Chor formiert von 18 Leuten, dazuvom Mischpult vorhandene, vorgefertigteMusik, gekoppelt mit meiner eigenen Mu-sik. Zu den ersten Proben kamen zerfurch-te Gesichter, misstrauisch im Blick, nachund nach änderten sich die Physiognomi-en: die Augen strahlten, Ideen kamen. DasPublikum fragte nach der Aufführung, wo

und haben sich gedreht, mit Aufhören desTrommelschlagens fielen die Kinder um.Eine andere Szene animiert Langeweile,eine andere Wut und Aggression usw.Es gab kein Libretto, nur eine Anordnungvon Szenen, auf die die Kinder reagiertenund woraus das Musiktheater entstand.Beim Proben waren Wiederholungen vonszenischen Abläufen nicht möglich, aber dieKinder erinnerten sich bestens an die

Klänge, kritisierten, das sei „aber gesternschneller gewesen“ oder hätte sich

„anders angehört“ – und tatsächlichhatte der Dirigent ein anderesTempo gewählt oder ein Musi-ker die Dynamik nicht vollausgespielt. Das Projekt„HypOp“ von 2003 geht mitKunst über die Wirkung vonMedizin hinaus, schafft Frei-raum, in dem mehr darstell-

bar ist, als verbal darstellbarwäre.

Und aktuelle Projekte?

Klein: Für das Freiburger Barock-orchester schreibe ich ein Stück mit

neuen Klängen für alte Instrumente, einProjekt des Siemens art program. Ein Mär-chen für Sprecher und Klavier entsteht fürdie Herrenhäuser Festwochen. Es geht umeinen Zauberer, der Kinder in Juwelenverzaubert, weil sie das kostbarste auf derWelt sind.

Das Gespräch führte Ulrike Liedtke währendder Rheinsberger Pfingstwerkstatt „Neue Mu-sik 2004 – SCHNITTMENGEN“.

denn die alten Leute seien, es sei doch alsProjekt mit Alten angekündigt worden.Wer war denn alt? Der Älteste war 78,einige konnten tanzen, singen, Zither spie-len, ich hatte alles Können integriert, dasmir angeboten worden war. Im ORF gibtes eine Dokumentation des Projekts. ImFilm fragt der Redakteur Emilia, die dieRolle der Enkelgeneration spielte, wie siedas alles fände. Ihre Antwort: ‚Das ist sehrschön, die sind immer sehr nett, fast so wieKinder und haben viele Ideen.‘

Was kann Neue Musik für Kinderleisten?

Klein: Ein Beispiel: An der StaatsoperBerlin entstand die Idee, sich mit hyperak-tiven Kindern zu befassen, diese Diag-nose ernst zu nehmen. Kann manmit hyperaktiven Kindern arbeiten,die ausgegrenzt werden an denSchulen, die – rein medizinischbetrachtet – vieles nicht kön-nen? Sich konzentrieren, lang-same Bewegungen ausführen,selbst entscheiden, Konfliktsitu-ationen bewältigen ohne inAggression zu geraten? Ich habedie Kinder beobachtet im Um-gang mit Musik: Zum schnellenpermanenten Schlagen der großenTrommel sind sie aufgesprungen

„Ich gehe niedavon aus, dass der

Hörer nicht mit der NeuenMusik vertraut ist und deshalballe möglichen Hilfen braucht.

Ein vorgekautes Brötchen,am besten noch schön süß

mit viel Schokolode –das erzeugt doch kein

Wohlbehagen.“

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Die Propagandafilme aus Nazideutsch-land und die Erfahrungen im amerikani-schen Exil nährten beider Skepsis gegen-über den Resultaten einer Produktion kul-tureller Güter, die industriell organisiert warund deren Herstellung der Logik von Kapi-tal und Märkten folgen. Kultur habe nur

dann einen Wert, wenn sie kommerziellnicht verwertbar sei. Qualität offenbare sichvor allem dort, wo die Erwartungshaltungendes Publikums enttäuscht werden, Kunstsich verweigert.

Das Verhältnis von Kultur und Ökono-mie, Kunst und Geld oder öffentlicher Kul-turförderung und privatwirtschaftlich orga-nisierter Finanzierung gestaltet sich nicht zu-letzt vor diesem Hintergrund noch heuteausgesprochen problematisch. Kultur bzw.Kunst erscheinen als ein Gegenpol zu einervon rationalen Normen geprägten Markt-logik. Gespeist aus romantischen Traditio-nen, gilt der Künstler als das von Gott inspi-rierte Genie. Im Reich der Freiheit schöpfter seine Werke, wohingegen im Reich derÖkonomie das Prinzip der Notwendigkei-ten herrscht.

Tatsächlich entzieht sich Kultur Effizienz-kriterien und Messbarem. Ihr Erfolg oder Miss-erfolg lässt sich kaum kalkulieren, Gewinn-erwartungen und Rentabilitätsvorschauensind immerfort der kulturellen Dynamikund sozialen Unwägbarkeiten ausgesetzt.Weder künstlerische Kreativität noch kultu-relle Trends lassen sich plausibel in Gewinn-und Verlustrechnungen darstellen. Die Kul-turmärkte gehören wohl zu den schwierigs-ten, weil auf ihnen nicht Zahnbürsten, son-dern Symbole gehandelt werden.

Wer sich in Deutschland mit den so genannten Creative Industries(CI) beschäftigt, macht sich verdächtig, eine Tradition zu brechen.

Es waren Adorno und Horkheimer, die mit ihrer Publikation Dialektik derAufklärung (1947) langfristig den Begriff der Kulturindustrie negativ besetz-ten und als das Feld kultureller Zusammenhänge beschrieben, in demMenschen mit den minderwertigen, immer gleichen Waren kulturellerMassenproduktion manipuliert würden.

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DAS POTENZIAL DERMITTELSTÄNDISCHEN

Musikwirtschaft„Creative Industries“ stärken die kulturelle Vielfalt und bedürfen – so die

Autorin und Kulturmanagerin Susanne Binas – der strukturellen Förderung

Der Begriff und der politische Hand-lungsraum der Creative Industries beziehtsich nun genau auf dieses Spannungsfeld.Kreativität wird zur zentralen Voraussetzungund Definition von Produkten und Dienst-leistungen, die in diesem Sektor gehandeltwerden. In den 80er Jahren tauchte der Be-griff der Cultural Industries (Vorläufer desKonzepts der Creative Industries) zunächst inGroßbritannien auf. Mit ihm wurden zweisignifikante Entwicklungen markiert: „First-ly, that those cultural activities which felloutside the public funding system […] andoperated commercially were important ge-nerators of wealth and employment. Second-ly, a more directly cultural-political point –that of the whole range of cultural goodsand objects which people consumed, thevast majority (TV, radio, film, music, books,concerts) had nothing at all to do with thepublic funding system.“ (O’Connor 1993).

Die damals vom Greater London Councilinitiierten Projekte und Programme, Netz-werke und Plattformen folgten einer festumrissenen Zielsetzung: der Förderung deswirtschaftlichen Aufschwungs von bestimm-ten Regionen und Städten. So verwundertes nicht, dass dieses Konzept auch andern-orts in Europa aufgegriffen wurde, z. B. inNordrhein-Westfalen. Dort erforderten diemassiven Deindustrialisierungsprozesse einUmdenken in der Wirtschaftspolitik alsStandortförderung.

Als Mitte der 90er Jahre die digitalenTechnologien Einzug in Büros, Medien undPrivathaushalte nahmen, veränderten sichdie Möglichkeiten der Entwicklung, Herstel-lung und des Vertriebs kultureller Güterganz erheblich. Industriell organisierte Pro-zesse verloren weiter an Bedeutung, Kleinst-unternehmen konnten professionell amMarkt agieren, flexibilisierte Organisations-einheiten reagierten auf die sich zunehmenddiversifizierenden Märkte. Aus kulturellenSzenen heraus entstanden Agenturen,

Ihre Kritik an industriell produzierter Kulturwirkt noch immer nach: Die Soziologen undPhilosophen Theodor W. Adorno und MaxHorkheimer (kleines Bild).

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»Musikalische Bildung«?»Musikalische Bildung«?WAS IST DAS EIGENTLICH?

Clubs, Designbüros oder Labels, die sichwirtschaftliche Handlungsfelder erschlossen.Derartige Akteursnetzwerke stellen einehochgradig verschaltete Kommunikations-struktur dar, nicht für die Ewigkeit gemacht,sondern meist geboren aus der besonderenSituation. Wirtschaftliche Wertschöpfung istdabei immer auch eine kulturelle.

Creative Industries meinen ein weites Feldheterogener Wirtschaftszweige, zu derenwichtigster Voraussetzung die Entwicklungder Multimedia- und Softwareindustrie inden 90er Jahren gehörte. Eine jüngst abge-schlossene Studie zum ökonomischen Po-tenzial der Creative Industries in Wien belegt,dass entsprechende Unternehmensstruktu-ren überwiegend dort angesiedelt sind, woein urbanes und kunstkulturelles Milieuexistiert sowie eine hohe Dichte an Ausbil-dungseinrichtungen und eine gut ausgebau-te Forschungslandschaft. Stadtentwicklungund der öffentlich finanzierte Kunst- undKulturbereich fungieren dabei in nicht un-wesentlichem Maß als Auftraggeber bzw.Partner von CI-Unternehmen. Die Beschäf-tigten von CI-Unternehmen sind hoch qua-lifiziert, oft aber Seiten- bzw. Quereinsteiger.Das Gros der Unternehmen wurde in denletzten zehn Jahren gegründet und weisteine hohe Innovationsneigung auf. Die Ent-wicklung der Nachfrage verzeichnete in derzweiten Hälfte der 90er Jahre enorme Zu-wächse. Derzeit sind aber die Umsätze – vorallem in den Unternehmen der Musikwirt-schaft (Labels, Vertriebe) – eher rückläufigbzw. stagnierend (Veranstaltungssektor).

Massive Finanzprobleme

Creative Industries – auch diejenigen imSektor der Musikwirtschaft – zählen über-wiegend zu den klein- und mittelständi-schen Unternehmen. Besagte Studie zu denCreative Industries in Wien hat ergeben, dassdie durchschnittliche Betriebsgröße bei 6,7Personen liegt und knapp die Hälfte der Un-ternehmen als Ein-Mann-Betrieb arbeiten.Daraus ergeben sich auch erhebliche Proble-me: Zielkonflikte zwischen persönlicherSinnstiftung und kommerziellen Motiven,Kapitalschwäche und Managementdefizite.Ferner finden viele Unternehmen kaum Zu-gang zu Fördermitteln (Wirtschaftsförde-rung, Banken etc.) und sehen sich vor massi-ve Probleme gestellt bei der Finanzierungihrer Geschäftstätigkeit und Ideen.

Aufgefangen werden derartige Problemeintern durch die Bildung von kooperativenCluster-Strukturen bzw. sozioökonomischenNetzwerken. Die Club- und Labelszene Ber-lins z. B. ist anders nicht denkbar und über-

lebensfähig. Derartige Cluster-Strukturenüben zugleich eine standortpolitische Sog-wirkung aus. Auch dafür ist Berlin ein exzel-lentes Beispiel.

Interessant ist ferner, dass – so AmkeBlock – es in erster Linie die kleinen undmittleren Unternehmen (KMUs) der Musik-branche sind, die sich dem so genanntendomestic repertoire widmen, d. h. dem Auf-bau und der Präsentation von Künstlern,Musikern, Ensembles aus dem Inland. Da-mit garantieren sie kulturelle Vielfalt, entde-cken Künstler, machen Künstler öffentlichund sorgen für ein hohes Identifikations-potenzial von Künstlern und Publikum. DieGrenzen zwischen beiden sind oftmals flie-ßend, kulturelle und ökonomische Wert-schöpfung gehen in eins. Oder anders for-muliert: sozioökonomische Netzwerke bildendie Grundlage für eine kreative Szene, dieimmer auch unternehmerisch orientiert ist.

Unternehmen dieser Art reagieren sehrsensibel auf Verschiebungen von kulturellenInteressen, Technologieentwicklung, unter-nehmenseigenen Ressourcen, Kaufkraft etc.Eine Förderung (keine Zuwendung im Sin-ne von Fehlbedarfsfinanzierungen) derarti-ger Strukturen hätte also weit reichende Wir-kungen. Allerdings muss sie – so z. B. diewirtschaftliche Kulturförderung – sich des-sen gewahr sein, dass kulturelle Unterneh-mensplanung Kriterien folgt, die nicht hun-dertprozentig in Produkten und der lang-fristigen Planung von strategischen Ge-schäftsfeldern aufgeht. Die Logik von Kul-tur und Markt besteht in ihrem spannungs-reichen Verhältnis mit- und gegeneinander.

Die Förderung von KMUs und CreativeIndustries ermöglicht den Künstleraufbauund stärkt kulturelle Vielfalt. Aus wirtschafts-und kulturpolitischer Perspektive ergebensich daher folgende Herausforderungen:

ˇ verbesserter Zugang zu externen Fi-nanzierungsquellen (kulturelle Wirtschafts-förderung),

ˇ Förderung sektorspezifischer Plattfor-men, um Interaktion zwischen CIs, Wirt-schaft, Stadtentwicklung, Kulturförderung,Ausbildung/Qualifizierung zu verbessern,

ˇ Innovationsförderung und Know-how-Transfer für urheberrechtlich basierteVerwertungsstrategien,

ˇ Maßnahmen zur Erhöhung der Aus-landspräsenz/Exporthilfen („Musikexport-büro“, Integration in internationale Ver-triebssysteme) und

ˇ Ausbau der Kooperationen zwischenWirtschafts- und Kulturressorts, Überden-ken öffentlicher Auftragspolitik, Induktionkulturwirtschaftlicher Wertschöpfung (ko-operative Politikmodelle).

Quellenangaben:

Binas, Susanne: sounds like berlin. http://www2.hu-berlin.de/fpm/popscrip/themen/pst04/index.htm

Block, Amke: Musikexportförderung. http://www.ifpi.de/news/241/studie_musikexportfoerderung.pdfKulturdokumentation (Veronika Ratzenböck, Katharina Demel)/ Mediacult (Robert Harauer, Günther Landsteiner) / Wifo (Ra-hel Falk, Hannes Leo, Gerhard Schwarz): Untersuchung desökonomischen Potentials der „Creative Industries“ in Wien,Endbericht. Wien 2004. http://www.creativeindustries.at/pdf/Endbericht.pdf

O´Connor, Justin: The Cultural Production Sector in Man-chester. Research & Strategy. Manchester/Manchester Insti-tute for Popular Culture 1998.

Die Autorin:

Dr. phil. Susanne Binas, Musik- und

Kulturwissenschaftlerin, ist wissenschaftli-

che Mitarbeiterin am Forschungszentrum

Populäre Musik der Humboldt-Universi-

tät Berlin und derzeit Geschäftsführerin

der Berliner Kulturveranstaltungs-GmbH.

Der Musikunterricht solltezunächst musikalische Grund-kenntnisse, wie zum BeispielNotenlehre, vermitteln…

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Neben dem Vertrautmachen mit Lied-gut und der Fähigkeit, sich nach Musik zubewegen, sollten die Schuler auch singenoder ein Instrument lernen. Das Wieder-erkennen von Instrumenten in Musikstü-cken finde ich ebenso wichtig wie einfa-che Grundkenntnisse von Musikstilen.

Letztlich ist weniger von Bedeutung,Schülern alle diese Punkte umfänglich zuvermitteln. Wichtiger erscheint mir, jenach persönlichen Stärken einen dieserBereiche auszubilden.

Daniela Hocke,Antiquitäten-

händlerin

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WIRTSCHAFT

Von Werner Bohl

Die deutsche Musikwirtschaftzeigt sich mit Janusgesicht:

Die Tonträgerindustrie leckt ihreWunden, Konzertveranstalterfreuen sich wieder über positiveTendenzen. Beim Ende April inBerlin veranstalteten Kongress„Musik als Wirtschaft“ gingenForderungen der Branche nachReformen des Urheberrechts undoptimierten Rahmenbedingungenan die Adresse des Gesetzgebers.

Die Musikwirtschaft – zu ihr gehörenneben dem umsatzstärksten Bereich derKonzertwirtschaft die Musikverleger und-produzenten, Künstlermanager und Kon-zertagenturen sowie die krisengeschüttelteTonträgerindustrie – ist mit einem Gesamt-umsatz von knapp vier Milliarden Euro(2003, laut GfK-Untersuchung) und einemUmsatz aller Wertschöpfenden von ge-

schätzten 15 Milliarden Euro eine bedeu-tende Wachstumsbranche. Ihre einzelnenSektoren haben sich aber in den vergange-nen Jahren aufgrund struktureller und tech-nischer Bedingungen deutlich abweichendentwickelt. Während Veranstalter von Live-Entertainment wieder Zuwachsraten ver-zeichnen, leidet die Fonowirtschaft existenz-bedrohlich unter dem „ungezügelten Raub-kopieren“ von Tonträgern. Diskussionen umdie Urheberrechte der Tonträgerhersteller,aber auch der ausübenden Künstler undAutoren bildeten daher einen Schwerpunktim Kongressverlauf.

So forderte Sony Music-Präsident Baltha-sar Schramm dazu auf, den „nicht physi-schen Eigentumsbegriff“ neu zu bestimmen:„Wir müssen lernen, wehrhaft zu sein, umsicherzustellen, dass das, was durch den Fak-tor Kreativität geschaffen wird, auch materi-ell dem Produzenten zugute kommt.“ Esmüsse ein rechtlicher Rahmen geschaffenwerden, der es ermögliche, jene Ansprücheabzusichern und praktisch durchzusetzen,

ZWISCHEN EXISTENZBEDROHUNG,ENGEREN GÜRTELN UND

neuer ZuversichtKeine Subventionen, sondern praxisgerechtere Rahmenbedingungen: Die Musikwirtschaft

fordert auf ihrem Berliner Kongress Kulturpolitik und Gesetzgeber zum Handeln auf

die sich aus geistigem Eigentum ableiteten.Schramm: „Ohne eine Anpassung des recht-lichen Rahmens geht das nicht.“

Konkretes Anschauungsmaterial zurNotlage der Tonträgerwirtschaft lieferte Pe-ter Zombik, Geschäftsführer des Bundesver-bands der Phonografischen Industrie. Zuden Wettbewerbern der Branche gehörteninzwischen vorrangig die Hersteller von Leer-tonträgern, die 325 Millionen beschreibbareCDs verkauften, während gleichzeitig nur125 Millionen Langspiel-CDs vertriebenworden seien. „Das kommt im Wesentli-chen nicht mehr denjenigen zu Gute, die dieVorinvestitionen in das Tonträgerproduktgetätigt haben“, klagte Zombik. Somit sei dieErtragsfähigkeit von Musik eine zentrale Fra-ge und hierauf müsse das Urheberrecht rea-gieren. Dieses Recht sei längst zum zentra-len Marktordnungsrecht geworden, das letzt-lich die Frage entscheide, unter welchenBedingungen Wissen, Information und Kul-tur entsteht, verbreitet wird und genutztwerden kann. Zombik: „Wenn man die In-

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»Musikrat hat Bedeutungder Branche erkannt«

vestitionsfähigkeit der Träger dieser wirt-schaftlichen Entwicklung weiter erhaltenwill, muss man in der Tat über umfassendeReformen des Urheberrechts nachdenken.“

Während auch die Präsidentin des Deut-scher Musikverlegerverbands, Dagmar Si-korski, die nachhaltige Sicherung der Auto-renrechte im digitalen Zeitalter einforderte,nahmen Vertreter der GEMA teilweise an-dere Positionen ein. Übereinstimmend ver-traten der GEMA-Vorstandvorsitzende Rein-hold Kreile und sein Stellvertreter JürgenBecker die Ansicht, dass die bestehendenRegelungen zur privaten Vervielfältigungdazu geeignet seien, auch im digitalen Um-feld für Rechtssicherheit und Rechtsklarheitzu sorgen. „Wir sind nicht der Auffassung“,so Becker, „dass die Einführung von Syste-men des Digital Rights Managements (DRM)ein Verbot der privaten Vervielfältigungrechtfertigt.“ Die GEMA begrüße grundsätz-lich jeden technischen Fortschritt bei derWeiterverbreitung von Musikwerken undder Werke ihrer Mitglieder. GEMA-ChefKreile unterstrich aber, dass bei jeder Wei-terverbreitung auch im Informationszeitalterder vom Gesetzgeber geprägte und von derRechtsprechung auch des Bundesverfas-sungsgerichts immer wieder formulierte

Grundsatz gelte, dass für jede Nutzung dieangemessene Vergütung für die Werk-schöpfer bezahlt werden muss.

Staat muss sich heraushalten

Für den derzeit wirtschaftlich vergleichs-weise gut abschneidenden Bereich der Kon-zertwirtschaft forderte der Präsident desBundesverbands der Veranstaltungswirt-schaft (IDKV), Jens Michow, eine zügigeund vor allem praxisgerechte Umsetzungdes Urteils des Europäischen Gerichtshofs(EuGH), wonach ausländische Künstler beider Besteuerung ihrer Einnahmen im Inlandnicht schlechter gestellt werden dürfen alsdeutsche Künstler. Darüber hinaus sei es einwesentliches Anliegen der Veranstaltungs-industrie, dass sich überall dort der Staat he-raushalte, wo Leistungen durch private Un-ternehmer erbracht werden könnten. „Es istnicht einzusehen“, so Michow, „dass dieBundesagentur für Arbeit mit ihren Künst-lerdiensten im Wesentlichen Künstlerver-mittlung in selbstständige Dienstverträge be-treibt, nicht jedoch in Arbeitsverhältnisse.Dies geschehe ohne Vermittlungsgebührauf Kosten der Versicherten und auf Basiseines erheblichen Bundeszuschusses. Gegen

diese Art von Wettbwerb hätten die zahlrei-chen Künstleragenturen und Künstlerver-mittler keine Chance.

In das gleiche Horn stieß Johannes Krei-le, Justiziar des Verbands Deutscher Kon-zertdirektionen, der ein faires Verhältnis derstaatlich subventionierten und frei finanzier-ten Veranstaltungen anmahnte. Das Beispielder jüngst eingeführten Vergnügungssteuerin Köln mit der Befreiung der städtischenKonzertveranstaltungen, die Ausweitungder Fremdkonzertveranstaltungen der Berli-ner Philharmoniker oder der MünchnerPhilharmonie zeige, dass öffentliche Mittel– und dies in Zeiten knapper Kassen – fehl-geleitet würden.

„Es gibt für die Veranstaltungswirtschaftkeinen Grund zum Jammern“, fasste PeterSchwenkow, Chef der Deutschen Entertain-ment AG, zusammen. „Wir können aberden Gürtel nicht mehr enger schnallen.“Man wolle auch weiter ohne Subventionenarbeiten, aber die Politik, so Schwenkow,täte gut daran, die Rahmenbedingungen desWirtschaftszweiges zu erhalten und dieseinsbesondere an den wunden Punkten derbeschränkten Steuerpflicht sowie der Künst-lersozialabgabe zu optimieren.

Signale zur Unterstützungder Musikindustrie

So angesprochen, wies der Parlamentari-sche Staatssekretär im Bundesministeriumfür Wirtschaft und Arbeit, Gerd Andres, da-rauf hin, dass die Politik bereits deutlicheSignale zur Unterstützung der Musikwirt-schaft gegeben habe, etwa mit der erfolgrei-chen Gründung der GermanSounds AG, desdeutschen Musik-Exportbüros oder der No-velle des Urheberrechtsgesetzes, das mehrrechtliche Klarheit schaffe. Zuvor hatte Mo-nika Griefahn, Vorsitzende des Ausschussesfür Kultur und Medien des Deutschen Bun-destags und Initiatorin des Kongresses, inihren Begrüßungsworten klargestellt, dassder Dialog zwischen Musikwirtschaft undKulturpolitik weiter stattfinden müsse, „umfestzustellen, was die Politik für die Stärkungder Musikindustrie tun kann und wie einevernünftige Arbeitsteilung aussehen muss“.

IDKV-Präsident Jens Michow – sein Ver-band hatte in Zusammenarbeit mit der Kul-turpolitischen Gesellschaft den Kongress or-ganisiert – machte in seinem Fazit deutlich,dass die Musikwirtschaft keineswegs umweitere finanzielle Förderungen bettele, son-dern allein praxisgerechtere Rahmenbedin-gungen einfordere: „Es geht nicht um Sub-ventionen, sondern um Investitionen in dieZukunft der Musikbranche.“

In einer Keynote vor dem Kongress„Musik als Wirtschaft“ verdeutlichteder Präsident des Deutschen Musikrats(DMR), Martin Maria Krüger, dass dieZeiten vorbei seien, in denen sich derMusikrat nur randläufig um Wirtschafts-fragen gekümmert habe.

„Immer deutlicher wird in der beste-henden Krisenphase, dass Wirtschaft undKunstförderung, ökonomische Prosperitätund mäzenatische wie bildungspolitischeLeistungsfähigkeit des Staates zusam-menhängen“, sagte Krüger. „Dies aller-dings nicht nur im Sinne der als Grundlagestaatlichen Handelns erforderlichen finan-ziellen Ressourcen, sondern auch umge-kehrt hinsichtlich der Notwendigkeit musi-kalischer Bildung und Betätigung als Ge-nerator notwendiger Schlüsselqualifikatio-nen, wie sie in der Gesellschaft allgemein,aber auch und gerade im wirtschaftlichenLeben benötigt werden.“ Die Musikwirt-schaft befinde sich demnach in einerSchlüsselposition, so Krüger. Sie sei Wirt-schaft und folge deren Gesetzen und teile

deren Bedürfnisse. „Sie ist aber auch ver-antwortlich für das Wohlergehen derKünstler; sie entscheidet wesentlich darü-ber, welche künstlerischen Impulse aufwelchen Wegen die Menschen erreichen.Der Deutsche Musikrat hat grundsätzlichdie Bedeutung dieser Branche erkanntund dies u. a. durch seine Beteiligung anGermanSounds (das deutsche „Musikex-portbüro“), einem Joint Venture der deut-schen Musikwirtschaft mit dem Deut-schen Musikrat, dokumentiert.“

DMR-Präsident Martin Maria Krüger vordem Berliner Kongress. Foto: Michow

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NEUE TÖNE

Der Begriff „Digitales Zeit-alter“, mit dem unsere

Gegenwart meist unreflektiertbezeichnet wird, suggeriert demIndividuum wie der Gesellschaftdie Uneingeschränktheit techno-logischer, kommunikativer undkreativer Möglichkeiten.

Inwiefern dieses Moment des Grenzen-losen tatsächlich Bestand hat, größtenteilssinnentleerten Überschuss produziert oderschlicht ein Trugbild ist, entworfen auf derBasis der pekuniären Interessen großer Tech-nologiekonzerne, lässt sich mit einer über-proportional anwachsenden Informations-menge im Rücken objektiv kaum beurteilen.Das Spektrum des Vertrauens in die Tech-nologien reicht vom bedingungslosen Glau-ben an die digitale Perfektion, die das medi-ale System tagein, tagaus in virtuos gestalte-ten Klang- und Bildwelten predigt, über diekritische Faszination bis hin zur panikartigenAngst vor dem Zusammenbruch der Rechen-systeme, die jene Welten stützen.

Während jeder sich zum „kreativen“ De-signer emporschwingen kann, sobald er überdie nötige Soft- und Hardware verfügt, sinddie kunstschaffenden Zeitgenossen dazuangehalten, sich fernab der standardisiertenEffektpanoramen zu bewegen, um sich dervorgeblichen „Uneingeschränktheit“ normier-ter Tools zu entziehen. Dies führt in den Rand-bereichen der Musik, in denen man sich ebennicht mittels gleichgeschalteter Sounddesign-Werkzeuge dem Mainstream unterordnet,zu einem völlig neuen Umgang mit den Mit-teln technologischer Klangerzeugung. Faszi-nierend ist dabei, dass sich gerade in diesenRandbereichen auch die tradierten Genre-Grenzen kaum mehr ermitteln lassen. Ob es

Michael Bölter über das Warschauer Treffen von Komponisten und DJs

DIE KREATIVITÄT DER

Fehler im System

sich nun um Komponisten mit akademi-schem Background oder um DJs handelt,die sich konzeptuell von der gängigenDance-Track-Produktion weg bewegen – daskünstlerische Beschäftigungsfeld ist zunächstauf die Schnittstelle zwischen Mensch undMaschine beschränkt. Daher verwundert esnicht, dass der „ernste“ Musiker wie auchder vermeintlich „unterhaltende“ Musikerbei der Erforschung jener Schnittstelle ähnli-che Prozesse und musikalische Resultateentwickeln. Die Bandbreite des Entstehen-den ist jedoch derart groß, dass der Versucheiner Bestandsaufnahme ein großes Unter-fangen darstellt.

Dem Festival „Turning Sounds 2“,dem 2. Warschauer Treffen von Kom-ponisten, DJs, Produzenten, Musiktheo-retikern und -kritikern, das im Mai statt-fand, ist dieses Vorhaben auf beeindru-ckende Weise geglückt.

Im Rahmen der Veranstaltung (organi-siert vom Österreichischen Kulturforum War-schau, der Polnischen Gesellschaft für Zeit-genössische Musik und den Förderungspro-jekten Zeitgenössische Musik der Deut-schen Musikrat Projekt gGmbH) gelang esnicht nur, die erwähnte Bandbreite zumgrößten Teil zu präsentieren, sondern auchdurch den Austausch zwischen den Teilneh-mern aus den unterschiedlichsten musikali-schen Sphären neue Ideen und Möglichkei-ten der Weiterentwicklung anzuregen. Dasvier Tage umfassende, dicht gedrängte Pro-gramm setzte sich aus Vorträgen und an-schließenden Diskussionen am Vormittag,zwei Workshops am Nachmittag und meh-reren Konzerten am Abend zusammen. Al-lein die Tatsache, dass man zwischen Vor-trags- und Werkstattraum, Konzertsaal undClub pendelte, intensivierte den Eindruck,einem wirklich genreübergreifenden Ereig-

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nis beizuwohnen, das sich jenseits ausgetre-tener Crossover-Pfade in den Klüften zwi-schen gemeinhin etablierten musikalischenKategorien situierte.

Zudem war es sehr lohnend, dass sichdas von Kurator Antoni Beksiak durchdachtzusammengestellte Programm auch der elekt-ronischen Musikszene Litauens, Ungarns,Sloweniens und selbstverständlich Polenswidmete. So konnte man einen starken Ein-druck osteuropäischer Klangexperimente„mitnehmen“, wie man ihn dergestalt imWesten nicht häufig erhält.

Seien Laptop-Performances und Auffüh-rungen elektronischer Musik für den Kon-zertbesucher visuell auch noch so gewöh-nungsbedürftig – selten ist man auf denKlang und die Musik allein derart konzent-

riert wie in einem abgedunkelten Raum, indem nur ein Spot auf einen gewissermaßenbewegungslosen Menschen, seinen Rechnerund diverse Prozessoren gerichtet ist. Sowaren die Konzerte von Mira Calix (Eng-land), Elise Kermani (USA), Klaus Filip (Ös-terreich) und Vytautas V. Jurgutis (Litauen)rein akustische Erlebnisse, die eine vielfarbi-ge Palette boten: von äußerst reduzierten,mikrotonalen Wellenschichtungen (Filip),unaufdringlich und minimalistisch remixtenAufnahmen von Klassikern der Musikge-schichte, deren rhythmische Umgestaltun-gen den Höreindruck althergebrachter Or-chesterklänge eindringlich irritierten (Kerma-ni), über die aufeinander prallenden Klang-sphären, die Mira Calix aus der elektroni-schen Verformung unterschiedlichster Ge-

räusche erzeugte, bis zu den synthetisch ge-nerierten Akkordballungen und dröhnen-den Rhythmen von Vytautas V. Jurgutis.

Dass aber das „Vortragen“ elektronischerMusik im Konzert-Kontext dem Interpretenauch physische Qualitäten abfordern kann,war unter anderem Huib Emmer (Nieder-lande) anzumerken, einem vielseitigen Kom-ponisten, der neben rein elektronischer Mu-sik auch für Ensembles zeitgenössischerMusik schreibt und zudem als Gitarrist derExperimental- und Improvisationsband Loosinterpretatorische Erfahrung hat. Seine Art,die diversen Soundgeneratoren, Sampler,Effekt- und CD-Zuspielgeräte zu traktieren,zeugte von der körperlichen „Arbeit“ einesInstrumentalisten und ging einher mit einerbeinahe tänzerischen Begeisterung für auf-keimende technoide Beats, die Emmerkompromisslos in seine komplexeren kom-positorischen Strukturen einfließen lässt,ohne eine Schelte seitens der Avantgarde zu

fürchten.Einer packenden, aus dem Pro-

zess der musikalischen Improvisa-tion hervorgehenden „Plattenteller-Choreografie“ konnte man imKonzert des Turntable-VirtuoseneRikm (Frankreich) beiwohnen, derim Übrigen auch als bildenderKünstler tätig ist. Dabei sind nichtnur die Geschwindigkeit und die

ausgefallenen Techniken begeisternd, mitder er Klänge und Geräusche auf nur zweiPlattentellern entstehen oder abreißen lässt,auf das Erklingende reagiert und es mittelseines Effektgerätes „aufbläst“ und wieder

zum „Platzen“ bringt; auch das hör-bare Resultat seiner Performancemono.face.mirror, das sich von Auf-führung zu Aufführung unterschei-det, ist von hoher Intensität undDichte. Die erzeugte Spannungführte gar zum unbeabsichtigten,von Rauch dokumentierten „Able-ben“ eines Hochtöners gegen Endedes Stücks – ein Effekt, der nicht

besser hätte inszeniert werden können.In völligem Kontrast zu diesem Soundge-

witter, das bar jeder Fessel durch Taktsche-men und strenge Formalisierung auf dasPublikum einbrach, boten die beiden deut-

schen Gewinner der „InternationalTurntablist Federation-Champion-ships“, DJ Rafik und DJ Kid Fresh,als jüngste Teilnehmer im gesamtenProgramm die altbewährteste Me-thode im Umgang mit den Platten-tellern. Doch auch sie wiesen sichals handfeste Instrumentalisten aus,deren Kunstfertigkeit im Scratchen

Turntable-Champions:DJ Rafik undDJ Kid Freshmit meister-lichen Beats

Schlussapplaus:Bernhard Lang,Franck Ollu,dieb 3 und Wolf-gang Fuchs wur-den gefeiert

Soundgewitter:eRikm brachteKlänge undHochtöner zumPlatzen

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definitiv von allen vorhergegangenen Wie-dergaben unterscheiden wird. So findet sichin den Dimensionen vom kürzesten Loop biszum mehrmaligen Hören einer komplettenSchallplattenseite immer wieder das Prinzipder Veränderung in der Wiederholung.

Das philosophische Werk Différence etRépétition – 1968 vom französischen Philo-sophen Gilles Deleuze verfasst – liefert demösterreichischen Komponisten BernhardLang seit nunmehr 16 Jahren den ideellenUnterbau für einen Großteil seiner kompo-sitorischen Arbeit. Seine Werke mit dem Ti-tel Differenz/Wiederholung sind in der Auf-zählung laut Werkliste bis dato Nr. 15gediehen. „DW8“ für Orchesterloops undzwei Turntable-Solisten, das erst AnfangMärz in München aus der Taufe gehobenwurde, gelangte im symphonischen Eröff-nungskonzert von „Turning Sounds 2“ zuseiner zweiten Aufführung. Franck Ollu lei-tete mit sehr klarer und exakter Zeichenge-bung das Philharmonische Orchester Bia-lystok, ergänzt durch die beiden DJs dieb 13und Wolfgang Fuchs, die vorproduzierteBruchstücke aus dem erklingenden Orches-termaterial remixten. Der gesamte Klang-apparat wurde somit zu einer Art giganti-schem Schallplattenspieler, der neben einerVielzahl asymmetrischer, fortwährend chan-gierender Loops sogar die Kratzer der Plat-ten durch das Schlagwerk so mechanischwie möglich reproduzierte.

Der Eindruck eines aus den Fugen gera-tenden, elektronischen Wiedergabegerätsverweist auf die eingangs erwähnte Fehler-haftigkeit und Anfälligkeit unserer technolo-gisierten Welt. Es will scheinen, als ob sichzwischen der 0 und der 1, auf die sich dasBinärsystem von Leibniz’ Rechenmaschinebis zu den heutigen Computern stützt, fak-tisch ein enormer Raum auftut, der sich –ein etwas „hinkendes“ Bild – in der Unend-lichkeit der Stellen hinter dem Komma nachder Null konstituiert. Dass sich in diesemimaginären Raum auch unendlich viele Un-bekannte und Fehlerquellen „breit machen“können, kann jeder nachvollziehen, der dieAufregung beim Auftauchen eines neuenVirus bis zum glücklich überstandenen„Jahr-2000-Problem“ miterlebt hat.

Die andere Fehlerquelle, jene, die sich ander Schnittstelle zwischen Mensch und Ma-schine auftut, wurde während des sinfoni-schen Konzerts ebenso eindrücklich veran-schaulicht. Zunächst waren elektronischeWiedergaben verschiedener Stücke von DJsdes englischen Warp Record Labels zu hö-ren. Musiker der London Sinfonietta hattensich daran gemacht, diese Stücke für En-semble zu transkribieren, wodurch sich zwi-

schen dem Original und der nun stattfinden-den Aufführung der Philharmoniker ausBialystok zwei Schnittstellen ergaben: zumeinen die Umsetzung des digitalen Materialsin eine Partitur für traditionelle Instrumente,zum anderen die Umsetzung dieser Partitu-ren durch eine Vielzahl von Einzelmusikern.Die Wahrnehmung der Differenz zwischenden gestochen scharfen Klängen und Rhyth-men der Originale und der instrumentalenInterpretation des Orchesters war zum Teilfesselnder als die Stücke selbst. Allein dieAufteilung eines vormals digital gestaltetenRhythmus auf drei Schlagzeuger verdeut-lichte den „menschlichen Faktor“, der dasdigitale Getriebe belebte.

In Heiner Goebbels Sampler Suite, derzweiten großen Aufführung des Abends,verknüpfte sich der Orchesterklang wiede-rum mit Loops und Sounds aus vorprodu-ziertem, unterschiedlichsten Quellen ent-stammendem Material; doch hier wirddieses Material deutlich vom Instrumental-klang abgehoben und unterstreicht daskünstliche, mechanistische Moment im Ge-gensatz zum beweglichen, von vielen Musi-kern zusammengetragenen Orchesterklang.Hier stehen sich der „menschliche Faktor“und die scheinbar unfehlbare, maschinelleStruktur zeitgleich gegenüber.

Die Vielschichtigkeit des – vom großen-teils jungen Publikum begeistert aufgenom-menen – Programms von „Turning Sounds2“ wurde nicht zuletzt durch diesen philhar-monischen Beitrag sehr bereichert. Die Vor-träge zu kulturtheoretischen (Christian Höl-ler), musikrechtlichen (Peter Rantasa, Öster-reichisches Musikinformationszentrum) unddas Musikbusiness betreffenden Themen(Udo Dahmen, Deutscher Musikrat, Pop-akademie Baden-Württemberg), um nur ei-nige zu nennen, untermauerten dieses breitgefächerte Programm mit notwendigemHintergrundwissen. Denn in rechtlichen undgeschäftlichen Systemen kann man wenigerkreativ mit Fehlern umgehen als in derKunst selbst.

gerade durch die Einbindung in das Korsettgeradliniger Beats zutage trat. Die vielseitigerhythmische Anreicherung einfacher Takt-schemen und das genaue Aufrechterhaltenderselben in der freien Schwebe von vier un-abhängig voneinander agierenden Händenverwiesen auf ein enormes rhythmischesGespür im Umgang mit den Turntables.

Dass ein Großteil der auftretenden Kom-ponisten und DJs in den ergänzenden Vor-trägen und Workshops ihre Methoden, Tech-niken, Denkansätze und ihr Selbstverständ-nis erläuterten, rundete die Darstellung ei-ner weit gefächerten Szene ab und ermög-lichte es den Zuhörern, auch einmal selbstHand an die diversen Klangerzeuger zu le-gen. Wer würde es sich sonst zu Hause er-lauben, den teuer erworbenen Plattenspie-ler einer absichtsvoll zerkratzten Schallplatteauszusetzen oder diese zu zerschneiden unddie Segmente neu zusammenzufügen, umzu hören, welche ungewöhnlichen Klängedaraus resultieren? So geschehen am Endedes sehr aufschlussreichen Workshops vondieb 13 (Österreich), an dem sein KollegePatrick Pulsinger, der abends noch im „Pie-karnia“ einen Clubabend gestaltete, spontandie Abmischung aller zehn dahinknattern-den Turntables übernahm. dieb 13 lieferte inseinem einführenden Vortrag einen Abrissüber die kreative Verwendung von techni-schem Schallaufnahme- und -reproduktions-Equipment, überraschend eingeleitet durchdas Abspielen einer der ersten österreichi-schen Tonaufnahmen, auf der JohannesBrahms beim Klavierspiel nicht zu hören ist.Durch das Aufdrehen der Bässe und Höhenund die Verstärkung mittlerer Frequenzen,auf denen sich „besonders schöne Kratzer“befinden, erzeugen die Mängel der Aufnah-me und des Tonträgers nun plötzlich ein kla-res Klangmuster, das durch die stete Dre-hung der Platte ein rhythmisches Loop(Schleife) produziert und aufgrund der fort-schreitenden Verkürzung der Rille sowieneu hinzutretende Störungen steter minima-ler Variation unterworfen wird. Brahms, theprogressive…

Derlei einfache Entdeckungen führen zuExperimenten, die zwar stärker in Richtungmusikalischer Konzeptkunst tendieren alszur Erneuerung akademischer Komposi-tionsverfahren. Jedoch bieten sie auf ästheti-scher Ebene ein hohes Erneuerungspoten-zial. Eine extreme Weiterführung jener Ideenfindet sich z. B. im Zusammenhang mitChristian Marclays Record without a Cover,einer Platte, die ohne Hülle, ungeschützt inden Regalen steht und bei der sich durchimmer neue Kratzer und Staubpartikel daszu Hörende bei jeder neuen Wiedergabe

Der Autor:

Michael Bölter, Musikwissenschaftler,

Anglist und Kunstgeschichtler, ist Mit-

arbeiter der Förderungsprojekte Zeitge-

nössische Musik der Deutschen Musikrat

Projekt gGmbH und als Theaterdrama-

turg und Komponist von Bühnen- und

Filmmusiken tätig.

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Der Inhalt musikalischerBildung in der Schule solltevor allem darin bestehen, dassdie Schüler verschiedene Kom-ponisten und Songschreiberaus unterschiedlichen Stil-und Zeitepochen hören, umsich dann mit dem Sinn undder Bedeutung der Werkeauseinander zu setzen…

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»Musikalische Bildung«?»Musikalische Bildung«?WAS IST DAS EIGENTLICH?

Weiterhin sollten die Schüler einenÜberblick über die verschiedenen Musik-einrichtungen erhalten, d. h. sie solltenden Unterschied zwischen einer Rock-band und einem Orchester in Bezug aufden Aufbau und deren Wirkung kennen.Dazu wäre es natürlich von Vorteil, wennauch außerschulische Aktivitäten einbezo-gen würden. Für unwichtig halte ich dasSpielen von Instrumenten und das Singenim Musikunterricht. Schüler bis zur 5.Klassenstufe sollten Rhythmusunterrichterhalten. Musiktheorie, wie z. B. Notenlesen, sollte in keine Jahrgangsstufe Ein-gang finden.

Als ein wichtiges Ziel der musikali-schen Bildung in der Schule sehe ich dasTanzen, z. B. von Standardtänzen, diejeder Schüler spätestens bis zu seinerJugendweihe bzw. Konfirmation draufhaben sollte. Die Kombination von Sport-und Musikunterricht wäre hier ratsam.Das hängt aber stark ab von der Flexibili-tät des Musiklehrers, die seine wichtigsteEigenschaft sein sollte. Im Unterrichtsollten neue Medien eingesetzt werden,z. B. könnten die Schüler, sofern die Mög-lichkeiten gegeben sind, Lieder über PC-Programme selbst komponieren.

Torsten Schwonke,Versicherungs-

vertreter

Die Hochschule für Musik undTheater Hamburg beabsich-

tigt, zum Wintersemester 2004/05den neuen MasterstudiengangMultimediale Komposition einzu-führen.

Mit der Einrichtung der Professur für Ge-org Hajdu waren im Jahr 2002 bereits dieVoraussetzungen für dieses zukunftsweisen-de und profilgebende Lehrangebot geschaf-fen worden.

Der Masterstudiengang MultimedialeKomposition wurde entworfen, um den He-rausforderungen zu begegnen, denen sichMusikerinnen und Musiker in einer sichimmer stärker medialisierenden Welt stellenmüssen. Er soll Komponisten und Medien-künstlern eine Orientierung und solide Aus-bildung ermöglichen, die sie befähigt, sicheinerseits im Bereich der experimentellenKomposition mit neuen Medien kompetentkünstlerisch auszudrücken, und ihnen an-dererseits neue Berufsperspektiven eröffnet.

Der interdisziplinäre, modulare Studien-gang ist auf zwei Jahre ausgelegt und wirdmit einem Master of Art (M. A.) abgeschlos-sen. Er steht sowohl Komponisten mit Inter-esse an Medien als auch Medienkünstlern

und Informatikern mit Interesse an Musikoffen. Neben einer Ausbildung im Bereichder experimentellen Komposition mit Neu-en Medien soll eine Breitenwirkung da-durch erzielt werden, dass Lehrinhalte inForm einer Vorlesung in die Curricula deranderen Fachbereiche übernommen wer-den und gleichzeitig die Absolventen desStudiengangs zur Zusammenarbeit mit In-terpreten, Regisseuren und Schauspielernermuntert werden.

Die Studierenden haben die Gelegen-heit, während des Studiums den Hauptfach-unterricht bei international renommiertenProfessoren wie Francis Corcoran, GeorgHajdu, Peter Michael Hamel, FredrikSchwenk und Manfred Stahnke zu belegen.Im Nebenfach unterrichten unter anderemder Komponist und Arrangeur Frank Böh-me und die Musikwissenschaftlerin BeatrixBorchard. Dadurch ist gewährleistet, dass –bei aller Tiefe der technischen Ausbildung –immer eine Verbindung zur kompositori-schen Praxis unter Aspekten der Musikver-mittlung spürbar bleibt.

Im Rahmen einer immer engeren Zu-sammenarbeit der Hamburger Universitätenund Hochschulen wird es für Studierendedes Studiengangs möglich sein, relevanteKurse auch an den Partnerhochschulen zubelegen. Inhaltlich spielen neben dem virtu-osen Umgang mit spezifischen Program-mierumgebungen sowie Programmen zurContent-Entwicklung auch die ÄsthetikNeuer Medien und der Projektbereich einegroße Rolle. Die Studierenden schließen dasStudium mit einer Hausarbeit und einem öf-fentlichen Projekt ab.

Mittelfristig sollen Promotionsmöglich-keiten im Bereich multimediale Komposi-tion mit einem D. M. A (Doctor of MusicalArt) als Abschluss geschaffen werden. Einweiteres Ziel ist die Vernetzung mit nationa-len und internationalen Hochschulen zumZweck des Studenten- und Dozentenaus-tauschs und zur Organisation gemeinsamerProjekte. Die Partnerschaft mit der in Ham-burg besonders dichten Musiksoftware-In-dustrie sowie mit anderen Initiativen im Be-reich Musik und Medien werden weiter ge-pflegt und ausgebaut.

NEUER MASTERSTUDIENGANG

Multimediale KompositionHamburger Hochschule begegnet Herausforderungen der Medienwelt

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Er kann auf ein ganzes Jahr-hundert zurückblicken – und

doch schaut er lieber nach vorn,macht Pläne, ist neugierig auf das,was gerade geschieht, und das,was noch kommen wird. Als er 75Jahre alt war, sagte er in einemInterview: „Ich habe bis auf denheutigen Tag immer Neues lernenmüssen.“

Am 21. Juni wurde der Komponist KurtSchwaen 95 Jahre alt. Der Satz trifft nochimmer zu. Als Komponist ist er nach wie vorunermüdlich tätig, geistig anregend und amliebsten von jungen Leuten umgeben. SeinWerkverzeichnis umfasst weit mehr als 600Kompositionen.

Geboren als Sohn einer angesehenenKaufmannsfamilie in der schlesischen Indust-riestadt Kattowitz, deren Bevölkerung sich1921 mehrheitlich für die Zugehörigkeit zuPolen entschied, gehört die enge Wechsel-beziehung zwischen deutscher und slawi-scher Kultur, die er in seiner Jugendzeit imheutigen Katowice hautnah erlebte, zu denprägenden musikalischen Eindrücken. Um-fassende Förderung erhielt er durch denReger-Schüler Fritz Lubrich, der ihn zu sou-veräner Beherrschung des Klaviers führte,im Orgelspiel unterwies und seine komposi-torische Begabung erkannte.

Die letzten krisenhaften Jahre der Wei-marer Republik erlebte Kurt Schwaen alsStudent in Breslau und Berlin. Er studierteMusikwissenschaft, Germanistik, Kunstge-schichte und Philosophie. Zu seinen Leh-rern gehörten Walter Vetter, Arnold Sche-ring und Curt Sachs, den er wegen seinesvon musikethnologischen Erfahrungen ge-

prägten vielfältigen methodischen Herange-hens bewunderte. Der Widerspruch jedochzwischen dem abgehobenen akademischenLeben und dem, was er an sozialen Gegen-sätzen und Verwerfungen auf der Straßevorfand, trieb ihn um. Er trat in die KPD ein,besuchte Vorlesungen in der MarxistischenArbeiterschule (MASCH), vor allem beiHanns Eisler. Nach der „Machtergreifung“der Nationalsozialisten beteiligte sich KurtSchwaen am illegalen Kampf gegen die Na-zis. Es folgten Verhaftung und drei JahreZuchthaus in Luckau und Zwickau.

Nach der Haftentlassung im Sommer1938, unter Polizeiaufsicht stehend, kam erin Kontakt mit dem modernen Ausdrucks-tanz, dem er nachhaltige Schaffensanstößeverdankt. Er begleitete die Tänzerin OdaSchottmüller bei ihren Maskentänzen amKlavier, später arbeitete er auch mit MaryWigman zusammen. Diese „Insel des Tan-zes“, wie er sie später nannte, ermöglichte

die Begegnung mit einem Repertoire, das als„entartet“ verboten war und in den Konzert-sälen kaum mehr erklang: Hindemith, Stra-winsky, Bartók, Prokofjew u. v. m. Von deneigenen Kompositionen Schwaens für dasTanzstudio sind nur wenige erhalten (FünfTanzbilder, 1939/40, KSV 8). Als ehemali-ger politischer Gefangener wurde der Kom-ponist 1943 in die Strafdivision 999 einge-zogen, seine musikalische Laufbahn erneutunterbrochen.

Gestisch vielfältige Musik

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegshalf Schwaen beim Aufbau der Volksmu-sikschulen in Berlin und wurde Musikrefe-rent der Deutschen Volksbühne. Das be-deutete schnell eine neue Herausforderungan den Komponisten Kurt Schwaen. Erschrieb, was gebraucht wurde: Musik in al-len Schwierigkeitsgraden für Zupforchester,für Akkordeon, für Blockflöte, für Laienchö-re. Und – das hatte er bei Eisler gelernt – eswar eine gestisch vielfältige Musik, die denMusikern Neues, vor allem aber musikali-sche Wachheit abverlangte.

Prägend für Schwaens Entwicklung wur-de die Begegnung mit Bertolt Brecht 1953,zu dessen Texten er Bühnenmusiken, Lie-der sowie das Lehrstück Die Horatier und dieKuriatier schrieb.

Unter den mehr als 600 Werken, dienahezu alle Genres bedienen, nimmt dieMusik für die Bühne einen besonderen Stel-lenwert ein. Neben Bühnenmusiken, in Zu-sammenarbeit mit Brecht und seinen Meis-terschülern Wera und Claus Küchenmeister,sowie der Funk- und Fernsehoper FetzersFlucht (1959) in Zusammenarbeit mit Gün-ter Kunert (ein viel versprechendes Experi-ment, das keine Fortsetzung fand, weil der

PORTRÄT

»WAS DU NICHT MIT

SAGST DU AUCH NICHT

Kurt Schwaen zum 95. Geburtstag

Über den Künstler des sparsamen Stils, der stets genügend Raum

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Der Ausdruckstanz ermöglichte ihmdie Begegnung mit dem Repertoire von

Hindemith, Strawinsky oder Bartók: Kurt Schwaen. Fotos: Thomsen

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Fernsehversion „Formalismus“ vorgeworfenwurde) entstanden Bühnenwerke für Er-wachsene wie die Kammeropern Leonceund Lena nach Büchner (1960), Der eifer-süchtige Alte nach Cervantes (1978/79) unddas Singspiel Der arme Kalifah (1992) sowieOpern für Kinder wie Pinocchios Abenteuernach Collodi (1969/70) und Alle helfenHäppi (1971).

Allein Pinocchios Abenteuer erlebte in derDDR bis 1989 über 800 Aufführungen. Die-se Opern für Kinder unterschied der Kom-ponist streng von den Kinderopern, worun-ter er Stücke verstand, die von Kindern fürKinder aufgeführt wurden. Bisher entstan-den 17 solcher szenischer Kindermusiken,von denen die Kantate König Midas (1958,Text: Günter Kunert) dazu beitrug, dass derName Kurt Schwaen fast jedem Kind in derDDR bekannt war. 1973 gründeten Schwaenund seine spätere Frau Ina Iske in Leipzigeine Arbeitsgruppe „Kindermusiktheater“, inder sie über zehn Jahre lang gemeinsam mitKindern viele Aufführungen dieser Stückeerarbeiteten. Auf einem Kolloquium in Köln1990 nannte man Kurt Schwaen den „Va-ter des Kindermusiktheaters“. Ihm wäre dassicher zu pathetisch, aber seine Leistung istdamit adäquat umschrieben.

Das besondere seiner Arbeiten für Kin-der und Jugendliche ist das Fehlen jeder Kin-dertümelei. Er nimmt sein junges Publikumernst, indem er es fordert: „Kinder sind dasPublikum von heute, Kinder haben eine un-glaubliche Fantasie, … Kinder sind aktiveZuhörer, sie können gar nicht passiv sein …Kinder lernen schnell und viel, sie vergessenwenig. Nur eins kann ihnen leicht abhandenkommen: die Fantasie. Dann sind sie für dieKunst verloren.“ Gerade für die Fantasieaber lässt Schwaens knapper, sparsamer Stilgenügend Raum: „Was du nicht mit drei

drei Tönen SAGST,

MIT HUNDERT«

Tönen sagst, das sagst du auch nicht mithundert“, steht als Motto über seiner Home-page und charakterisiert seine Werke in al-len Gattungen.

Die überschaubare Form

Fragt man ihn nach musikalischen Vor-bildern, so benennt er neben den „Gewalti-gen der Musik“ – Bach, Beethoven, Mozart–, die man mit sich herumschleppe, „vor al-lem Bartók, Strawinsky, ein bisschen Prokof-jew, Janácek“. Die „große ausladende Mu-sik, die Erlösungsmusik“ war ihm immerfremd. Das Typische seines Komponierensist „die überschaubare Form, die Kürze, derKontrast in den Bewegungen der einzelnenSätze, kleingliedrige Melodik, die Neigungzu Polytonalität, das widerborstige Einschal-ten von Haken irgendwo, wo es glatt ist,auch in der Instrumentalmusik, eine gewisseNeigung zu Querständen, auch da: auszu-weichen, abzuweichen“.

Schwaen denkt kammermusikalisch, auchin den „großen“ Gattungen, den satten Strei-cherklang sucht man vergeblich, dafür fin-det man häufig charakteristisch eingesetzteBläserkombinationen. Kammermusikwerkehat er für die verschiedensten Besetzungengeschrieben, immer in engem Kontakt zuseinen Interpreten, deren Leistung und be-sondere Fähigkeiten ihn nicht selten zu neu-en Werken angeregt haben. Das Instrument,dem er die persönlichsten Gedanken anver-traut, ist das Klavier. Für „sein“ Instrumentschrieb Kurt Schwaen etwa 100 Kompositi-onen, von denen die Toccata appassionata(1991) und das Nocturne lugubre (1992)zum Besten gehört, was Schwaen geschrie-ben hat.

Kurt Schwaen war in der DDR seit 1953als freischaffender Komponist tätig. Er über-

nahm viele ehrenamtliche Verpflichtungen,u. a. im Komponistenverband und in derAkademie der Künste, zu deren Ordentli-chem Mitglied er 1961 berufen wurde. DieLeipziger Universität verlieh ihm 1983 dieEhrendoktorwürde.

Auch für ihn waren – wie für alle Kom-ponisten der DDR – die Jahre der politi-schen Wende schwierige Jahre. Oben ge-nannte Klavierwerke mögen davon Zeugnisablegen. Wichtige Partner gab es nicht mehr,Verlag und Aufführungsinstitutionen exis-tierten nicht mehr oder orientierten sichneu. Es spricht für Schwaen, dass es ihm ge-lang, erneut eine große Zahl befähigter jun-ger Musiker um sich herum zu gruppieren,die seine Werke, in ständigem Austauschmit ihm, lebendig musiziert zur Aufführungbringen.

Wenn sein Verleger und Komponisten-kollege Walter Thomas Heyn konstatiert,dass wohl immer auch ein zwischenmensch-licher Faktor eine Rolle gespielt hat, danntrifft das einen wesentlichen Punkt. WerKurt Schwaen erlebt, in seinem MahlsdorferHaus, auf Proben, in Gesprächsrunden, istfasziniert von seinem Humor, immer mit lei-ser Selbstironie verknüpft, lässt sich anste-cken von seiner geistigen Agilität und darfprofitieren von einem unerschöpflichenFundus an Erfahrungen.

lässt für Fantasie. Von Brigitte Kruse

Die Autorin:

Dr. Brigitte Kruse, Musikwissenschaft-

lerin, lehrte bis 1984 als wissenschaftliche

Assistentin an der Humboldt-Universität

Berlin u. a. im Fach Musikgeschichte des

20. Jahrhunderts. Seit 2001 ist sie wissen-

schaftliche Mitarbeiterin der Musikakade-

mie Rheinsberg.

MUSIK�ORUM 63

ˇ

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AUSBILDUNG

MUSIK�ORUM64

gen geeignete Fortbildungsangebote gefragt,die ihnen ermöglichen, mit ihren Schülernneue musikalische Wege zu beschreiten.

Dem enormen Nachholbedarf in diesemBereich lässt sich durch eine verstärkte lan-desweite Fort- und Weiterbildungsoffensivefür Musikpädagogen nachhaltig begegnen.An dieser Stelle setzt das Pilotprojekt an,dessen Konzept in zwei Probedurchläufengetestet wird. Das Projekt begann nach Vor-arbeiten im Herbst 2003 und erstreckt sichüber die beiden Schuljahre 2003/04 und2004/05. Im Anschluss an die Fortbildungs-kurse werden die Ergebnisse evaluiert. Siesollen als Modell für künftige Fortbildungs-und Qualifizierungsangebote dienen.

Workshop-Wochenenden

Die Durchführungsphase der Fortbil-dung begann im November 2003 mit demersten Workshop-Wochenende und endeteim März 2004 mit einer gemeinsamen Ab-

Weiterbildung in populärer Musik für Musikpädagogen:

TEACH THE TEACHERS

how to teachDefizite ausräumen: Udo Dahmen über zwei Kooperations-

projekte der Popakademie Baden-Württemberg

Der Bereich der populärenMusik hat einen erheblichen

Nachholbedarf in der Fort- undWeiterbildung. Dies veranlasstedie Popakademie Baden-Würtem-berg zur Entwicklung von zweiKonzepten, die seit September2003 gemeinsam mit Koopera-tionspartnern umgesetzt werden.

Die Initiative wurde ergriffen unter demVorzeichen, dass

ˇ der Musikunterricht derzeit eher ab-als zunimmt,

ˇ man den Schüler dort abholen soll, woer steht,

ˇ sich die Ausbildung von Musikpäda-gogen erst langsam der populären Musiköffnet,

ˇ in Neigungsgruppen Popmusik nichtselten fachfremd unterrichtet wird und

ˇ die Anregung zum aktiven Musizierenauch im Bereich populärer Musik mit neuenBereichen (Computerspielen, Trendsportar-ten, Klingeltönen) konkurriert.

Mit zwei Konzepten sollen nun die Defi-zite in der Weiterbildung ausgeglichen wer-den:

1. Pilotprojekt Popmusikfort-bildung für Musikpädagogen

Das Pilotprojekt Popmusikfortbildungwird gemeinsam mit der Jazz- und Rock-schule Freiburg realisiert, an der Musikleh-rer und Multiplikatoren an allgemein bilden-den Schulen fortgebildet werden. Dazu willman in einem zweijährigen Projekt in engerZusammenarbeit mit ausgewählten regiona-len Partnern aus den verschiedenen Arbeits-bereichen (Grundschule, Realschule, Gym-nasium, Musikschule, Musikverein, Jugend-zentrum) Erfahrungen sammeln. Ein beson-deres Merkmal dieses Modellversuchs stelltdas Coaching der Musikpädagogen vor Ortdar – eine intensive Betreuung auch nachder eigentlichen zentralen Fortbildungs-phase.

Die Dozenten in diesemProjekt kommen von der Pop-akademie und der Jazz- undRockschule Freiburg. Um diefachliche Qualität zu garantieren, istein Fachbeirat mit Vertretern des Arbeits-kreises für Schulmusik (AfS), des VerbandsDeutscher Schulmusiker (VDS), des Ver-bands deutscher Musikschulen (VdM), derBundesakademie für musikalische Jugend-bildung Trossingen, der Hoch-schule für Musik Freiburg und

der Pädagogischen Hochschule Freiburg ge-bildet worden.

Die Ausgangssituation für das Pilotpro-jekt stellt sich folgendermaßen dar:

Viele Musikpädagogen sind derzeit reinklassisch ausgebildet und verfügen über kei-nerlei oder wenig Kenntnisse im populär-musikalischen Bereich. Sie erteilen als „Fach-fremde“ Musikunterricht oder leiten AGsund Neigungsgruppen an. Obgleich es ver-einzelt Musikpädagogen gibt, die ihre eige-nen praktischen Banderfahrungen erfolg-reich in den AG- oder Unterrichtsbereicheinfließen lassen, verfügen doch nur sehrwenige über die adäquaten Qualifikationenim Popbereich.

Angesichts der Tatsache, dass Rock undPop den größten Teil der Musik ausmachen,mit der Schüler sozialisiert sind, macht esSinn, dem auch im schulischen Musikunter-richt Rechnung zu tragen. Die aktuellenLehrpläne bieten hierzu zwar die Möglich-keit, können jedoch nur von Lehrern mitentsprechenden Kenntnissen umgesetztwerden. Was bislang nur selten geschieht.Hier sind für die betroffenen Musikpädago-

Workshops legtenihren Schwerpunktauf praktischeBandarbeit.

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MUSIK�ORUM 65

schlussbesprechung von Dozenten, Organi-satoren und Teilnehmern. Dazwischen la-gen drei intensive Workshop-Wochenendenfür die teilnehmenden Musikpädagogen.

Ergänzt wurden die Workshops durchweitere Veranstaltungen, in denen auch diezugehörigen Schülerbands involviert waren,sodass für die beteiligten Musikpädagogenein ganz unmittelbarer Praxisbezug zu ihrertäglichen Arbeit hergestellt wurde. Jeweilszwei individuelle Bandproben-Betreuungendurch die Fortbildungsdozenten direkt vorOrt (an den Schulen der Fortbildungsteil-nehmer) und ein gemeinsam betreuter Pro-ben-Samstag für die beteiligten Schüler-bands (an der Jazz- und Rockschule Frei-burg) wurden abgerundet durch ein öffentli-ches Abschlusskonzert mit Auftritten allerSchülerbands.

Was die Fortbildungsinhalte angeht, solag der Schwerpunkt der Wochenend-Workshops in erster Linie auf den prakti-schen Unterrichtseinheiten. In diesem Zu-sammenhang wäre vor allem die praktischeBandarbeit zu nennen, für die die Fortbil-dungsteilnehmer/innen in zwei Bands àsechs Personen aufgeteilt wurden. Hinzukam als weiterer Themenblock das ModulRhythmische Schulung, das zum Auftakt je-des Fortbildungstags stattfand und Klatschenbzw. Body Percussion mit dem Kennenler-nen unterschiedlicher Rhythmusinstrumen-te verband. Das dritte Standbein bildete diepraktische Instrumentenkunde, in deren Rah-men den Fortbildungsteilnehmern die In-strumente E-Gitarre, Keyboard, E-Bass undSchlagzeug sowie das Thema „P. A.“ vorge-stellt wurden.

Über die praktischen Unterrichtseinhei-ten hinaus wurden an den Workshop-Wo-chenenden auch theoretische Themen wiePopmusikgeschichte, Musikbusiness undInstant Arrangement angeschnitten. Fernerwurden ausgesuchte Computer-Themen wieMusiknotation oder Recording vorgestellt.

Die weiteren Fortbildungsaktivitäten ziel-ten durch das Miteinbeziehen der Schüler-bands auf eine individualisierte Betreuungbzw. auf den direkten Praxisbezug für dieFortbildungsteilnehmer ab. An der Schulejedes Kursteilnehmers wurden zwei Coa-ching-Termine durchgeführt, in deren Rah-men gezielt auf die Situation jedes Einzel-nen in seinem eigenen Umfeld eingegangenwerden konnte. Jeweils ein Fortbildungs-dozent der Jazz- und Rockschule nahm di-rekt vor Ort – gewissermaßen als Lehrer desLehrers – an der regulären Bandprobe teil.

Fazit: Der Bedarf an derartigen Fortbil-dungen hat sich im Zuge des direkten Kon-takts zur Zielgruppe eindrucksvoll bestätigt.

Für die Teilnehmerinnen und Teilnehmerwie auch für alle weiteren Interessentenwurde mit dem neuen Kursangebot ein gro-ßes Defizit auf dem aktuellen Weiterbil-dungsmarkt ausgeglichen. Grundidee undKonzeption der Fortbildung konnten sich imVerlauf der ersten Runde gut bewähren.Der pädagogische Ansatz erwies sich als ziel-führend und die Fortbildung ist zweifelsfreials Erfolg einzustufen.

2. Populäre Musik anMusikschulen

Teil des Projekts als zweiter Baustein istder berufsbegleitende Lehrgang „PopuläreMusik an Musikschulen“, den die Popaka-demie Baden-Württemberg in Kooperationmit den Partnern Verband deutscher Musik-schulen (VdM), der Bundesakademie fürmusikalische Jugendbildung Trossingen undder Jazz- und Rockschule Freiburg durch-führt. Der Lehrgang begann im September2003 und erstreckt sich bis Februar 2005(Prüfungsphase). In sechs fünftägigen Ar-beitsphasen werden Musikschullehrer imBereich Populäre Musik weitergebildet.Durchführung, Planung und Evaluation fin-den in Kooperation zwischen den Projekt-partnern statt.

Die Ausgangssituation des Lehrgangsstellt sich ähnlich dar wie bei der „Popmu-sikfortbildung für Musikpädagogen“: Auchunter den Musikschullehrern verfügen nurwenige über Erfahrungen im populärmusi-kalischen Bereich. Sie können damit der ste-tig steigenden Nachfrage nach Unterricht inRock- und Popmusik – und somit auch denKunden bzw. potenziellen Neukunden derMusikschulen – nicht gerecht werden. Dadie rein klassische Ausbildung zu kurz greift,soll das Fortbildungsangebot helfen, den Ak-tionsradius klassisch gebildeter Musikschul-lehrer zu erweitern und ihre beruflichen Zu-kunftschancen erheblich zu verbessern.

Die Fortbildung für Popmusik hat einenganzheitlichen Ansatz, der sich aus musik-spezifischen und pädagogischen Elementenzusammensetzt. So werden die Teilnehmerdes Lehrgangs einerseits am Instrument ge-schult, das sie unterrichten, andererseitswird die pädagogische Umsetzung im neu-en musikalischen Umfeld trainiert, u. a. mitder Durchführung individueller Lehrprobenin Einzel- und Band-Unterricht. Bei diesenProben wird sowohl auf die vermitteltenUnterrichtsinhalte als auch auf den didakti-schen Aufbau eingegangen. ObligatorischerBestandteil der Fortbildung ist zudem dertechnische Aspekt der Popmusik, der mitden Themen Live-Auftritt und Demo-Auf-

nahmen, also mit den Bereichen Studio-und Livetechnik, vertreten ist.

So lernen die Musikschullehrer die Spe-zifika der Popmusik in mehrfacher Hinsichtkennen: Sie lernen zum einen, worauf es ameigenen Instrument und im Zusammenspielder Band ankommt, zum anderen werdendie dazu gehörigen technischen Aspekte be-leuchtet. Darüber hinaus werden die Ver-mittlungsmöglichkeiten der neuen Materieim Einzel- und Combo-Unterricht konkretbehandelt. Weitere Module wie Gesang,Rhythmische Schulung und Arrangementkommen hinzu. Der Lehrgang schließt inder sechsten Akademiephase mit einer Prü-fung und einem benoteten Zertifikat ab.

Der Nachholbedarf in diesem Bereichhat sich im ersten Lehrgang „Popmusik ander Musikschule“ bereits eindrucksvoll be-stätigt. Schon im Zug der ersten drei voninsgesamt sechs Akademiephasen zeichnetsich der Erfolg des Konzepts ab, das mit sei-nem ganzheitlichen Ansatz und dem langenZeitrahmen ausdrücklich auf Nachhaltigkeitausgerichtet ist. So haben die Teilnehmerzwischen den Akademiephasen ausrei-chend Gelegenheit, das Erlernte in selbst-ständig zu erarbeitenden Hausaufgaben zuvertiefen und in ihrer täglichen Arbeit prak-tisch umzusetzen.

Dies alles erfordert von den beteiligtenMusikschullehrern ein relativ hohes Engage-ment. Doch wurden bereits in der drittenAkademiephase – seitens der Dozentenund der Musikschullehrer selbst – deutlicheFortschritte im Umgang mit der neuenmusikalischen Herausforderung verzeich-net. Die Zusammenarbeit zwischen den ko-operierenden Institutionen hat sich als be-fruchtend herausgestellt. Vor allem vor demHintergrund der Ganztagsschule werdendiese Konzepte und die daraus resultieren-den Erfahrungen als Grundlage für zukünfti-ge Modelle im populären Bereich dienenkönnen. Darüber hinaus sollen diese ideal-typischen Projekte als Best Practice-Beispieleandere zur Nachahmung anregen.

Der Autor:

Prof. Udo Dahmen, Vizepräsident des

Deutschen Musikrats, ist Vorsitzender

Geschäftsführer der Popakademie

Baden-Württemberg und Leiter des

Studiengangs „Popmusikdesign“.

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AUSBILDUNG

MUSIK�ORUM66

Als im März 2004 in Berlin derECHO verliehen wurde, der

nach dem Grammy zweitgrößteMusikpreis der Welt, gab es auchin der Musikhochschule HamburgAnlass zum Jubel. Denn die meis-ten Trophäen, insgesamt vier,erhielt die Band Wir sind Helden,deren Bandmitglieder sich im Pop-kurs der Hochschule für Musik undTheater Hamburg kennen gelerntund dort ihre erfolgreiche Zusam-menarbeit begonnen haben.

Als bester deutscher HipHop-Act erhieltdie Formation Seeed ihren insgesamt drittenEcho. Ihr Sänger und Gründer sowie derBassist sind ebenfalls Absolventen des Pop-kurses und bekamen nach eigenem Bekun-den dort die Grundlage für ihre Karriere.Nominiert in der Kategorie „Alternative“war schließlich die Band Die Happy, von dereinige Mitglieder den Popkurs besucht hat-ten.

Damit zeigt sich auf eindrucksvolle Wei-se, dass der Popkurs Hamburg als Vorreiteraller Popmusikausbildungseinrichtungen inDeutschland auch nach mehr als 20 Jahrenseines Bestehens genau das bietet, wasNachwuchskünstler und die Musikindustriegleichermaßen brauchen: künstlerische Frei-heit ohne Vermarktungsdruck in Verbin-dung mit Betreuung durch hervorragendeDozenten. Der Popkurs garantiert Ausbil-dung auf höchstem Niveau, ist aber auchKontaktbörse und Existenzgründungskurs.Er leistet wertvolle Beiträge zur Kultur, Wirt-schafts-, Arbeitsmarkt- und Jugendförderung– und das auf sehr effektive Weise: Mit ge-ringem administrativen Aufwand und ohnedie jungen Künstler aus ihrem bestehendenUmfeld herauszureißen, entstehen in nurzweimal drei Wochen pro Jahr hoffnungs-volle Bands, umfangreiches neues Songma-terial und neue Berufsperspektiven.

Ein hoch qualifiziertes, auf „Talenterken-nung“ spezialisiertes Dozententeam wählt inder Aufnahmeprüfung Bewerber aus, beidenen ein großes Entwicklungspotenzial zuerkennen ist und die in ihrer Disziplin soweit fortgeschritten sind, dass es aussichts-reich erscheint, in insgesamt sechs Wochendie Basis für eine erfolgreiche künstlerischeZukunft zu legen.

Die einzigartig effektive Arbeit währendder kurzen Studienzeit wird gewährleistetdurch die außerordentliche Fähigkeit derPopkurs-Dozentinnen und -Dozenten, denUnterrichtsbedarf der jeweiligen Teilneh-

mergruppe zu analysieren und – unter Ein-beziehung der Persönlichkeit der Künstler(-innen) sowie der Veränderungen in derPopmusikkultur und -wirtschaft – ein maß-geschneidertes, untereinander vernetztesUnterrichtsangebot zu entwickeln.

Im Zentrum des Popkurses steht die Krea-tivität der Teilnehmenden, das heißt die Ar-beit am eigenen Material. Die Musikerinnenund Musiker bilden Bands und Ensembles,in denen sie ihre selbst geschriebene Musikarrangieren, neue Sound-Ideen ausprobie-ren oder gemeinsam komponieren und tex-ten. Dabei werden sie von den Dozentenbetreut und unterstützt, ohne dass ihre Ge-staltungsfreiheit beeinflusst wird. Das The-ma „Vermarktung“ soll die kreativen Prozes-

se möglichst wenig berühren. Abgerundetwird der Talententwicklungsprozess durchFächer wie Instrumental- und Gesangsunter-richt, Komposition, Texten, Arrangement,Groove, Image, Performance, Studioarbeit,Sound/Technik, Musikbusiness (Manage-ment, Booking, Musikverlage, Tonträgerfir-men, GEMA, GVL, Rechts- und Steuerfra-gen etc.).

Am Ende des jährlichen Kurses steht eingroßes öffentliches Konzert, in dem die ofterstaunlichen Ergebnisse präsentiert wer-den. Diese Konzerte haben inzwischen Kult-charakter und sind zum Treffpunkt der am-bitionierten Popmusikszene sowie zum„Marktplatz“ für die Musikindustrie gewor-den.

Hamburger Popkurs:

HELDEN-SCHMIEDE BRAUCHT

Trotz seiner hervorragenden Leistungen und Erfolge ist das

Ausbildungsangebot gefährdet, berichtet Katja Bottenberg

Hilfe!

„Wir sindHelden“,

Absolventendes Hambur-ger Popkur-

ses, heimstenvier ECHOs

ein.

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ahin

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MUSIK�ORUM 67

Die Autorin:

Katja Bottenberg ist Sängerin, Song-

schreiberin, Produzentin, Rechtsan-

wältin und Geschäftsführerin des

Kontaktstudiengangs Popularmusik an

der Hochschule für Musik und Theater

Hamburg.

In Japan gehört die Vorstellung,dass ein Unternehmen sich der

aktiven Freizeitgestaltung seinerMitarbeiter und der Menschenallgemein annimmt, zum gemein-hin akzeptierten Gedankengut.So ist es jetzt 50 Jahre her, dassin Japan erste Yamaha-Musik-schulen gegründet wurden.

Die Eröffnung der ersten Einrichtung inEuropa erfolgte 14 Jahre später in Deutsch-land. Mittlerweile werden auf dem Konti-nent rund 50 000 Schüler nach Yamaha-Methoden unterrichtet. Dabei verfolgtYamaha mit seinem selbst entwickeltenmusikpädagogischen Angebot die Zielset-zung, dass „möglichst viele Menschendurch eine fundierte musikalische Ausbil-dung in die Lage versetzt werden, Musikzu einem attraktiven Bestandteil ihrer Frei-zeitgestaltung zu machen“.

Dazu hat man einerseits 1987 die Stif-tung „100 Jahre Yamaha“ e. V. gegründet,deren Aktivitäten insbesondere in der Aus-richtung verschiedener Wettbewerbe be-stehen und die erst jüngst – in Zusammen-arbeit mit dem Deutschen Musikrat – denWettbewerb inventio 2004 durchgeführthat (siehe Seite 26).

Zum anderen dient diesem Ziel daskonkrete Unterrichtsangebot der Yamaha-Pädagogik. Dabei geht man von demGrundsatz aus, dass der Umgang mit Mu-sik zu den Grundbedürfnissen des Men-schen gehört. Folglich wird auch Musikali-tät als eine jedem Menschen trotz gradu-eller Unterschiede zuteil werdende Fähig-keit gesehen. Musikalisches Lernen wirddaher – über eine angenommene Analo-gie zum sprachlichen Lernen – als für je-dermann gleichermaßen möglich verstan-den, unabhängig von Voraussetzungen.

Dieser Zielsetzung entspricht heute inDeutschland ein musikpädagogisches An-gebot für alle Altersstufen in den BereichenMusikschule und Schulmusik, das in derFirmenzentrale von der Abteilung MusicEducation unter der Leitung von Asmus J.Hintz koordiniert wird.

Das Unterrichtsangebot der Yamaha-Musikschulen besteht aus einer Reihe voneigens entwickelten Unterrichtsprogram-men, denen allen die Konzeption fürGruppenunterricht und eine Unterrichts-perspektive von zumeist mehreren Jahrengemeinsam ist. Kennzeichnend für dieseProgramme sind auch ihr zumeist klein-schrittiger Aufbau mit sukzessiv ansteigen-dem Schwierigkeitsgrad, die Messung desLernerfolgs an operationalisierten Lernzie-

Studienfond soll Kurs rettenTrotz seiner hervorragenden Leistungen

ist der Popkurs jedoch in seiner Existenzbedroht: Aufgrund einer Änderung desHamburger Hochschulgesetzes müssen diebisher zum größten Teil von der Staatskassegetragenen Kosten zukünftig durch Teilnah-megebühren erwirtschaftet werden. Diewürden sich auf mindestens das Vierfacheerhöhen – Beträge, die von den meisten Ta-lenten nicht aufgebracht werden können.Neben den Gebühren müssen die Studen-ten selbst für Unterkunft und Verpflegungsorgen und Einkommenseinbußen hinneh-men, weil sie während der Kurszeiten keineEngagements annehmen oder Unterrichtgeben können. Schon mit den bisherigenGebühren sind viele der noch nicht etablier-ten Künstler finanziell überfordert. Nicht sel-ten muss eine Teilnahme trotz bestandenerAufnahmeprüfung aus wirtschaftlichenGründen abgesagt werden.

Müssen also zukünftig wertvolle innova-tive und kreative Kräfte, für die es die ent-sprechende Anleitung und Unterstützungim Popkurs Hamburg gibt, unentdeckt blei-ben? Werden Talente der kulturellen undwirtschaftlichen Entwicklung in Deutsch-land verloren gehen? Steht die 20-jährige„Erfolgsstory Popkurs“ vor dem Aus?

Tatkräftig unterstützt werden der Pop-kurs und seine Studenten von der Musik-hochschule Hamburg selbst, die in den letz-ten Monaten nichts unversucht gelassen hat,ihren Popkurs von der absoluten Kosten-deckungspflicht zu befreien. Letztlich habendie gesetzlichen Vorgaben dies aber nichtzugelassen. Selbst eine Gesetzesänderungkönnte den Popkurs nicht retten. Dieser Pro-zess wäre so langwierig, dass der Studien-gang auf Jahre undurchführbar bliebe unddas bestehende Netzwerk zerstört würde.

Zur Soforthilfe wird jetzt ein Stipendien-modell entwickelt, durch das unvermeidba-re Gebührenerhöhungen bereits ab 2005aufgefangen werden sollen. Hier sind Stif-tungen, private Sponsoren und die Musikin-dustrie gefordert, einen Studienfond aufzu-bauen und den Nachwuchstalenten weitereine Chance zu geben.

50 Jahre Yamaha-Musikschule:

„Life Long Learning“ auf japanisch. Von Marc Mönig

MUSIKERZIEHUNG AB Windelalter

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Fotos: Yamaha-Musikschule

MUSIK�ORUM68

len, eine an den Kriterien Popularität undBekanntheit orientierte Musikauswahl so-wie eine weitgehend aus der Analogie vonsprachlichem und musikalischem Lernengewonnene Methodik. Für den Unterrichtmit diesen Vorgaben werden die Lehrkräftein Seminaren eigens aus- bzw. fortgebildet.

Die Lernprogramme

Zu den Besonderheiten der Yamaha-Pä-dagogik zählt der extrem frühe Lernbeginn.So bilden die beiden Programme Robbie undKrabbelkinder den Einstieg in das Musikler-nen der Yamaha-Musikschulen. Diese wen-den sich an Babys und Kleinkinder im Alterab vier bzw. 18 Monaten mit dem Ziel einerfrühkindlichen Musikalisierung. Darunterwird eine der jeweiligen Altersgruppe gemä-ße allgemeine Sensibilisierung für Musik ver-standen. So sollen den Kindern unter „Einbe-ziehung unterschiedlicher Lernkanäle undsensomotorischer Erfahrungen [...] vielfälti-ge Alternativen geboten [werden], erste Er-fahrungen mit Musik zu machen“ . Dies ge-schieht jeweils im Rahmen von Themen, dieim frühkindlichen Erfahrungsschatz liegen.

In der zweiten Kategorie finden sich Pro-gramme, die man terminologisch unter mu-sikalische Grundausbildung fassen kann. Da-zu gehören neben den Programmen Hörbieund Tönchen erleben Musik deren Weiterfüh-rung im Junior Extension Course und JuniorAdvanced Course sowie – als weniger leis-tungsorientierte Alternative – das ProgrammWunderland Musik. In den Programmen dermusikalischen Grundausbildung geht es ver-stärkt um eine Vermittlung elementarer mu-sikalischer Fähigkeiten in den BereichenHören, Singen und Instrumentalspiel.

Drittens sind die Instrumental-Program-me anzuführen, die sich ihrerseits in zweiBereiche differenzieren lassen: Auf der ei-nen Seite die Unterrichtsprogramme, die –auf traditionelle Weise – dem Erlernen derInstrumente Keyboard, Klavier, Gitarre undBlockflöte dienen, auf der anderen Seite derBereich der so genannten Popular MusicSchool mit einem Angebot für die Instru-mente Schlagzeug, E-Gitarre, E-Bass, Saxo-fon, Keyboard, Flöte und Gesang, das inhalt-lich deutlich auf das Spiel in einer Pop/Rock-Band abgestimmt ist. Nach Absolvie-ren eines Instrumentalprogramms hat derSchüler neben Solospiel Erfahrungen im ge-meinsamen Musizieren in der Gruppe ge-sammelt. Er hat Grundlagen der Musiklehreaus den Anforderungen des Lehrgangsheraus erarbeitet sowie Ausführungsvor-schriften kennen und realisieren gelernt. Erhat zudem Melodien mit Kadenzharmonien

begleitet und ist systematisch in Improvisa-tions- und Kompositionstechniken einge-führt worden.

Ergänzt wird dieses Programmangebot inden Yamaha-Musikschulen insbesonderedurch Vorbereitungskurse auf Aufnahme-prüfungen an Musikhochschulen. Darüberhinaus soll im kommenden Jahr ein Pro-gramm für Menschen ab 50 Jahren unterdem Namen MusiClub eingeführt werden.Darin wird dann nicht nur gesungen undmit verschiedenen Instrumenten musiziert,sondern auch ein allgemeiner, auf die Erfah-rungen und die Lebenssituation der Teilneh-mer abgestimmter Austausch über Musik(im Gespräch oder anlässlich von Vorträ-gen) gepflegt.

Neben den Musikschulen erstrecken sichdie musikpädagogischen Aktivitäten des Be-reichs Music Education auf die allgemein bil-denden Schulen, für die man drei Klassen-musizierkonzepte bereitstellt. Diese sindinhaltlich und methodisch ähnlich wie dieMusikschulprogramme angelegt, jedoch imAnspruch angepasst an die weniger instru-mentalpädagogisch motivierten Zielsetzun-gen der allgemein bildenden Schulen.

Das Projekt Bläserklasse wird derzeit an500 Schulen im deutschsprachigen Raumdurchgeführt und ist für die Dauer von zweiJahren ausgelegt. Während dieser Zeit er-lernt jeder Schüler in der Gruppe elementa-re Spieltechniken auf einem Blech- oderHolzblasinstrument. Regelmäßig werden imRahmen der materialen Vorgaben einesLehrbuchs gemeinsam Spielsätze musiziert.Dies gilt auch auf Grundlage des Unter-richtswerks Teamplay für die Keyboard-Klasse. Komplettiert wird das Schulmusik-Angebot der Yamaha-Pädagogik schließlichdurch das Programm Flötentöne, einem Un-terrichtswerk für den Klassenmusizierunter-richt mit C- und F-Blockflöte. Für alle dreiProgramme werden Unterrichtsmaterialienund Lehrerhandbücher mit Hinweisen zuLernzielen und Methoden angeboten. DieAbteilung Music Education führt zudem Leh-

AUSBILDUNG

Der Autor:

Dr. phil. Marc Mönig , Lehrer für Musik

und Französisch, ist Lehrbeauftragter für

Musikpädagogik an der Folkwang-Hoch-

schule Essen. Er promovierte über „Die

Pädagogik der Yamaha-Musikschulen“

an der Universität der Künste Berlin.

rerfortbildungen durch und gibt Ratschlägebei der Anschaffung von Instrumenten.

Auf diese Weise stellt Yamaha ein diegesamte Lebensspanne eines Menschenumfassendes musikpädagogisches Angebotbereit, das sowohl den schulischen wie auchaußerschulischen Sektor musikpädagogi-scher Unterweisung bedient. Deutlich wur-de, dass diese formale Kennzeichnung desKonzepts musikalischer Breitenbildung sichinhaltlich über die Ermöglichung aktivenMusizierens für alle Altersgruppen füllt. Diesbelegt auch ein Blick in die Unterrichtspra-xis der verschiedenen Programme, in derder Umgang mit den Notentexten vor-nehmlich auf die Vermittlung spieltechni-scher Fähigkeiten auf einem Instrument so-wie musiktheoretischen Wissens angelegtist. Inhaltlich füllt sich der Bildungsbegriffder Yamaha-Pädagogik weiterhin über in-tendierte Lernergebnisse. So verfügt ein Schü-ler, der konsequent nach Yamaha-Materia-lien und -Methoden unterrichtet wurde, überein sehr gut ausgebildetes Gehör, da diesesim Vermittlungsprozess stets eine zentraleRolle spielt. Gleichzeitig wird sein harmoni-sches Unterscheidungsvermögen für Durund Moll im Verlauf des Unterrichts gefes-tigt. Das Ziel musikalischer Breitenbildunggewinnt auf diese Weise auch eine inhaltli-che Dimension.

Musik zu einemattraktiven Teil

der Freizeitmachen:Gitarren-

schüler in derYamaha-

Musikschule.

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MUSIK�ORUM 69

Und sie bewegt sich doch,immer wieder und putzmun-

ter, allen finanziellen Restriktionenzum Trotz – die Kulturpolitik in denKommunen. Und das ist gut so.Beispiel Leipzig: Erst vor andert-halb Jahren gegründet, ist dasForum Thomanum als gemeinnützi-ger Verein heute ein Vorreiter fürVisionen der sinnvollen Verbindungvon Kultur- und Bildungspolitik.

Die Grundidee ist bestechend einfach:Selbstständige (Bildungs-)Institutionen undkulturelle Einrichtungen und Angebote wol-len verstärkt kooperieren, sich gegenseitigergänzen, Synergieeffekte nutzen und sichin Leipzig räumlich um einen Campus amStandort Thomasschule, Thomasalumnatund Thomaskirche gruppieren. Man weißsich dabei wohl eingebunden in die nahezu800-jährige Tradition von Thomaskirche,Thomanerchor und Thomasschule. Die Ein-beziehung von Einrichtungen mit ähnlicher,aber allgemeinerer Zielsetzung, wie z. B.Landesmusikakademie und Jugend musiziert,ist durchaus denkbar. Entstehen soll ein mo-dulares System von Institutionen mit musi-kalischen Zielsetzungen, das zwei Haupt-züge aufweist:

ˇ einen schulischen Strang, ein so ge-nanntes Paedagogicum Musicale, das sich umdie Ausbildung der Chorknaben im Thoma-nerchor gruppiert und Kindergarten, Grund-schule, Gymnasium und voruniversitäreAusbildung beinhaltet und

ˇ einen Strang Academia, der sich derWeiterbildung, internationalen Begegnun-gen, Wissenschaft und Forschung rund umdie Pflege des musikalischen Erbes von Jo-hann Sebastian Bach und seiner Zeit wid-met.

Das Paedagogicum Musicale will jungenMenschen einen umfassenden und persön-lichkeitsfördernden Bildungsgang mit einemmusischen Profil im Rahmen einer ganzheit-lichen und christlichen Grundrichtung an-bieten, der vom Kindergarten bis zum Be-rufseinstieg reicht und in dessen Zentrumder Leipziger Thomanerchor steht.

Academia umfasst folgende Zielsetzun-gen:

ˇ Jugendbewegung mit Chor-, Orches-ter- und Ensemblefreizeiten, Jugendcampsetc., verantwortet vom Leipziger Bach-Ar-chiv,

ˇ Akademieprojekte, d. h. Veranstaltun-gen und Projekte im Bereich Alte Musik,

Forum Thomanum:

KULTURPOLITIK MIT

Uli Kostenbader über die modellhafte Kooperation von

Bildungs- und Kultureinrichtungen in Leipzig

Aufführungspraxis, Chor-/Konzert-/Opern-/Schauspielproduktionen unter wissenschaft-licher und fachlicher Betreuung der For-schungsabteilung des Bach-Archivs,

ˇ universitäre Projekte als Gastuniversi-tät mit praktischen Studienangeboten in Ko-operation mit ausländischen Hochschulenund Konservatorien sowie wissenschaftli-chen Forschungsvorhaben, realisiert vonBach-Archiv, Musikwissenschaftlichem Insti-tut u. a.,

ˇ internationale Meisterkurse und Wett-bewerbe in Zusammenarbeit des Bach-Ar-chivs, der Musikhochschule, des Gewand-hauses, der Oper, des Schauspiels, derMusikschule sowie des bereits bestehendenInternationalen Johann Sebastian Bach Wett-bewerbs sowie

ˇ touristische Angebote in Zusammen-arbeit mit Tourismuseinrichtungen in denLändern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thü-ringen, den mitteldeutschen Wirkungsstäd-ten von Johann Sebastian Bach sowie derStändigen Konferenz Mitteldeutsche Barock-musik.

Trommel rühren

Ein zugegebenermaßen ehrgeiziges Pro-jekt. Es gilt, Träger für Grundstücke undBauten zu finden; es müssen Modellversu-che entwickelt und Kooperationspartner be-geistert, pädagogische und wissenschaftlicheKonzepte überprüft, Fort- und Weiterbil-dungsangebote konzipiert und erprobt wer-den; man muss Mitveranstalter suchen, be-stehende Leipziger Institutionen zusammen-führen und ihre Aktivitäten erweitern. Und:Es gilt, die Trommel zu rühren, Öffentlich-keitsarbeit zu betreiben, Investoren und Fi-nanzpartner anzusprechen.

Warum das alles so spannend und vielversprechend ist? Weil Leipzig dabei ist, einStück Kulturpolitik zu schreiben. Einige An-merkungen sind unumgänglich:

Vorbildcharakter

Der Leipziger Thomanerchor – Zentrum eines umfassenden Bildungsgangs mit musischem Profil.

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AUSBILDUNG

ˇ Erneut zeigt sicht hier: Kulturpolitikist Kommunalpolitik – auch in Zeiten lee-rer Kassen. Die sind in Leipzig nicht mehrgefüllt als anderswo. Und doch scheintman dort zu erkennen, dass kulturgepräg-te Stadtentwicklung möglich ist, wenn ge-sellschaftliche Visionen vorausgehen,wenn sich mit ihnen ein Transfer vonIdeen, Wissen, Kreativität und Image ver-bindet. Sie erlauben neue Allianzen zwi-schen Wirtschaft und Kultur, Stadt undUnternehmen, sofern sie nur tief greifen-der sind als allein auf Finanztransfers aus-gerichtet. Kultur, das heißt: Orte schaffenfür kulturelle Netzwerke und für künstle-rischen Diskurs. Kulturelle Investitionenimplizieren stets zweierlei: die Förderungvon Kunst und die Distribution von Wis-sen.

ˇ Vielfalt ist das Grundprinzip kultu-reller Weiterentwicklung. Nicht wenigerKultur, sondern Kultur von mehr und un-terschiedlichen Anbietern muss eine Ant-wort auf knappe Mittel sein. Trägervielfaltim Zusammenwirken öffentlicher und pri-vater Institutionen kann sich dann über in-haltliche und institutionelle Zwecke hi-naus auch in neuen finanziellen Verfas-sungen darstellen. Hier hat man allerdingsauch in Leipzig noch Hausaufgaben vorsich.

ˇ Neue kulturpolitische Leitideen sindim Entstehen. „Kultur für alle“ verblasst alskulturpolitisches Credo. Sie ist nicht mehrfinanzierbar und führt oft genug dazu, dass

Kultur zum Varieté verkommt an-gesichts eines leider zu beobach-tenden Verlusts dauerhafterWert- und Ordnungsstrukturensowie der Bedingungen unserer

Informationsgesellschaft mitihren multiplen Identitätensowie ihrem Manko anTraditionsbindungen.

Integration durch Partizipation und Netz-werkdenken wird stattdessen, aus der Notgeboren, zu einer neuen kulturellen Leit-idee. „Kultur für alle“, in den siebziger undachtziger Jahren gut gemeint, führte ebenauch zu einer letztlich nicht mehr finan-zierbaren kulturellen Angebotsdifferenzie-rung, zu einem unscharfen Profil dessen,was Kunst leisten kann und soll. Kurz:Strategische Zukunft hat, wer durchausauch interessensgeprägt agiert, als Künst-ler, als öffentliche Hand, als Kulturvermitt-ler und als Publikum. Die Planungen inLeipzig sind unter diesem Aspekt ehrlichund pragmatisch. Sie versprechen Erfolg.

ˇ Koordination hat Vorrang vor Kon-kurrenz. Ein bewusstes Nebeneinander öf-fentlicher und privater Kulturangebotehebt den viel beklagten Widerspruch aufzwischen staatlichen (kulturpolitischen)Zielen einerseits und „Besucherorientie-rung“ andererseits. Öffentlich finanzierteKultur, die kontinuierlich ausgerichtet blei-ben muss, kann „fördern, was es schwerhat“. Private Initiativen erweitern und dif-ferenzieren Angebote aus, bis hin zu den In-teressen eventbezogener Musikwirtschaft.Dass auch kirchliche oder kirchennaheEinrichtungen eigene Beiträge planen underfolgreich vertreten, zeigt sich jetzt erneutin Leipzig. Diese Rolle im kultur- und bil-dungspolitischen Raum ist jedenfalls nichtder schlechteste Weg, um bildungs- undkulturpolitische Initiativen in partizipati-ven Strukturen abzusichern.

Kooperation amCampus derThomaskirche:In Leipzig wollenKulturinstitutio-nen und -einrich-tungen Synergie-effekte nutzen.

Der Autor:

Dr. Uli Kostenbader, Wirtschafts- und

Sozialwissenschaftler und Vizepräsident

des Deutschen Musikrats, ist Mitglied

zahlreicher Institutionen in den Bereichen

Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft.

Was haben Kultur undManagement eigentlich

miteinander zu tun und wozugenau gibt es die Spezies der„Kulturmanager“?

Nähern wir uns dem Begriff einfach vomWortverständnis her: Ein Kulturmanagerschafft durch den Einsatz von Management-Maßnahmen die Rahmenbedingungen zurErmöglichung von Kultur in all ihren Aus-prägungen. Am Beispiel bedeutet das: Manfindet Kulturmanager in Theatern, Museen,Opernhäusern, aber auch in Unternehmens-stiftungen, Festivalbüros oder etwa Behör-den in konzipierender, organisierender, ver-waltender oder ausführender Funktion.Damit wird deutlich, dass die Tätigkeitsbe-reiche des Kulturmanagements wohl schonso lange existieren wie es kulturelle Darstel-lungsformen gibt. Einzig die Bündelungsämtlicher Tätigkeitsfelder unter der Berufs-bezeichnung ist jüngerer Natur.

Die Berufsbezeichnung Kulturmanagerweckte lange Unverständnis. So bleibt es bisheute des Öfteren zu erklären, was denn diebeiden – eigentlich fast gegensätzlichen – Be-griffe Kultur und Management miteinan-der zu tun haben. Kritische Stimmen fragenmanchmal danach, ob sich denn nicht jederso nennen könne, der schon einmal eineVeranstaltung mit Musik und Tanz organi-siert hätte, und ob es hierzu tatsächlich einergesonderten Ausbildung bedürfe.

Das stetig wachsende Bedürfnis nach zu-nehmender Professionalisierung in der Kul-turwirtschaft bestätigt die Annahme, dass indiesem Feld eine gezielte Ausbildung einnur bedingtes Muss, jedoch ein unbedingterVorteil ist. Die Vielseitigkeit, die Kulturma-nagern im Beruf abverlangt wird, reicht vomVerfassen von Pressemitteilungen über kon-zeptionelle und strategische Planung bis hinzum Aufstellen eines Kostenplans. Bei all-dem ist zusätzlich ein profundes kulturellesFachwissen unabdingbar. Darauf will undkann die Doppelausbildung vorbereiten.

Praktisch gelernt

Die Kulturmanagement-Ausbildung wirdim deutschsprachigen Raum sowohl im Auf-baustudium als auch im Erst- oder im be-rufsbegleitenden Studium in mittlerweileüber 40 Institutionen angeboten. Entschei-den sich Postgraduierte für den Besuch ei-nes meist zweijährigen Aufbaustudiums, so

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müssen sie in der Mehrheit der Fälle nichtunerhebliche Studiengebühren zahlen.Wenngleich sich die Studiengänge im Hin-blick auf ihre Ausbildungsschwerpunkte un-terscheiden, besteht das Curriculum in derRegel aus den Säulen Betriebswirtschaftsleh-re und Recht für Kulturmanager, Praxiswis-sen aus dem Bereich Verwaltung und Kul-turpolitik sowie dem schwerpunktspezifi-schen Branchenwissen wie etwa des Litera-tur-, Museums- oder Orchestermanagements.

Damit nicht genug, werden den Studie-renden des Fachs ebenso Praxisleistungenabverlangt. Die Bandbreite der praxisorien-tierten Lerneinheiten reicht vom Pflichtprak-tikum über Praxisworkshops bis hin zur Pro-jektarbeit, die von den Studierenden eigen-ständig abgewickelt werden muss. Der Viel-gestaltigkeit des Berufsbildes Rechnung tra-gend, sind diese Einheiten besonders dazu

GELEHRT,GELERNT –

da, die Studierenden auf ihre spätere Tätig-keit vorzubereiten und sie mit bevorstehen-den Berufsspezifika vertraut zu machen:Kulturmanager sind durch ihre Manage-mentausbildung einerseits Generalisten. An-dererseits sind sie Spezialisten in ihrem eige-nen Fachgebiet, dem kulturellen Schwer-punkt. In dieser Doppelrolle sind sie manch-mal der Kritik von Kulturschaffenden undKulturbetreibenden ausgesetzt, die sich nichtimmer durch die Arbeit des Kulturmanagersverstanden fühlen und dessen Praxiskompe-tenz zuweilen in Frage stellen.

Bei aller curricularen Vielfalt wird somitschnell deutlich, dass das Studium des Kul-turmanagements nicht allein durch denLehrplan und die Praxiseinheiten ausbildenkann. Um dem Ausbildungsverständnis ge-recht zu werden, kann es nur als ein sehrumfassender „Methodenbaukasten“ verstan-

den werden, der den Studierenden Techni-ken und Maßnahmen aufzeigt, die von die-sen später in der Praxis eingesetzt werdenkönnen. Nur so kann man dem Berufsbildgerecht werden: Denn kein Theater gleichtdem anderen, kein Museum funktioniertwie das andere, Unterschiede etwa zwi-schen staatlichen und privaten Kulturbetrie-ben sind markant.

Was Hänschen nicht lernt,lernt Hans nimmer mehr?

Es gilt also, die Studierenden noch aufetwas anderes vorzubereiten: Bereits wäh-rend der Ausbildung wird offenkundig, dassdie eigenmotivierte und fachspezifischeWeiterbildung nach Beendigung des Studi-ums unabdingbar ist. Kein Kulturmanagerkommt in der Ausübung seiner Tätigkeiten

gelebt

Ines Hein klärt auf über Relevanz und Potenzial eines Aufbaustudiums im Kulturmanagement

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AUSBILDUNG

ohne aktuelles Branchenwissen aus. Nebenden gängigen „Weiterbildungsfavoriten“(z. B. Fremdsprachen und Computerkennt-nisse) hat der Kulturmanager – je nach Po-sition und Branche – zudem kontinuierli-chen Weiterbildungsbedarf auf den Gebie-ten der Rechtsprechung, Wirtschaftsentwick-lung, Tagespolitik, Kulturdebatte und ande-ren fachspezifischen Wissensbereichen. Dermethodische und praktische Grundstein,der durch das Studium gelegt wurde, mussim Beruf tagtäglich durch kontinuierlicheWeiterbildung aufgebaut werden.

Nicht nur im Kulturmanagement be-weist die Berufspraxis, dass Ausbildungs-konzepte sich einen geschlossenen Charak-ter nicht mehr leisten können. Abgeschlos-senes Wissen hält den Anforderungen fle-xiblen Wissenserwerbs nicht mehr stand.Wer sich in seiner Position durchsetzenund professionelle Perspektiven entwi-ckeln will, um maßgeblich am Ausbau desBetriebserfolgs beteiligt zu sein, ist daraufangewiesen, sich sowohl in der Tiefe seinesFachgebiets als auch in der Breite des All-gemeinwissens weiterzubilden.

Des eigenen GlückesSchmied

Das klingt zunächst nach einer großen,fast unmöglichen Herausforderung. DasPrinzip des lebenslangen Lernens (life longlearning) jedoch ist praktikabler als erwar-tet. Hier geht es nicht mehr ausschließlichum den Erwerb von hermetischem Wissen,das sich in Lehrbüchern und Aufsatzsamm-lungen findet, sondern vielmehr um diekonstante Verknüpfung von bereits Ge-lerntem mit Neuem. Hier sollen beispiels-weise Grundprinzipien von Systemen er-kannt und, sofern sinnvoll, auf andereSituationen übertragen werden. Die Ver-bindung von so genannten „Wissensinseln“(Wissensbereichen mit nur partiellem Fach-wissen) und die daraus entstehenden Syn-ergieeffekte ermöglichen es dem viel zitier-ten Hans, in der Praxis Inhalte modifiziertzu erlernen und anzuwenden, die das jün-gere Hänschen noch nicht kannte.

Wie in allen anderen Disziplinen auch,hängen der Lernerfolg des Kulturmanage-mentstudiums und dessen Potenziale zur

Hat das Aufbaustudium des Kultur-und Medienmanagements zu Ihrer persönli-chen und professionellen Entwicklung beige-tragen und woran würden Sie dies fest-machen?

Daniela Rose: Jedes Studium sollte imIdealfall dazu beitragen, sich persönlichund professionell weiterzuentwickeln. Fürmich kann ich diese Frage ohne zu zögernmit Ja beantworten. Es hat mich schonimmer interessiert, wie der Kulturbetriebhinter den Kulissen – die Planung, Orga-nisation und Durchführung von Projekten– funktioniert. Während des Aufbaustu-diums war es für mich dann eine berei-chernde Erfahrung, in einer kleinen, aus-erwählten Gruppe von Kommilitonen,gleich gesinnt und hoch motiviert, genaudies zu erfahren und zu lernen. Der inter-disziplinäre Anspruch des Studiengangs,den Studierenden die komplexen Verbin-dungen zwischen Kultur und Medieneinerseits und Management andererseits

eigenen Weiterbildung in starkem Maßevon der persönlichen Lernhaltung und Ei-genmotivation des Studierenden ab. Keinnoch so gutes und praxisrelevantes Studi-um vermag es, mit Erfolg Inhalte zu vermit-teln und anwendungsgerecht zu verankern,wenn es am persönlichen Interesse des Ler-nenden mangelt. Damit gewährt das Studi-um auch keine Garantie, nach erfolgreicherBeendigung eine adäquate Position zu fin-den.

Es kann jedoch den Grundstein für dasVergnügen an der eigenen Aus- und Wei-terbildung legen und dabei fachliche Moti-vation bieten. Der Erfolg in der Umsetzungdes Gelernten liegt letzten Endes in denHänden des Lernenden selbst.

Einblick geglückt in die Mechanismen des Kulturmarkts

auf der Basis von Wissenschaft und Praxisnäher zu bringen, wurde dabei durchauserfüllt.

Anhand von konkreten Fallstudienund bei der Durchführung von Projektenwurden entstehende Probleme, die esauch im Berufsalltag zu lösen gilt, im Teamdurchgespielt, studiert und analysiert. Diesdiente auch der Herausbildung der perso-nal skills, der Team- und Kommunikations-fähigkeit. Rhetorik und verschiedene Prä-sentationsformen wurden in Workshop-Form vermittelt. Trotzdem können plane-rische und organisatorische Fähigkeiten in

Die Autorin:

Ines Hein, Sprach- und Literaturwissen-

schaftlerin, ist geschäftsführende Gesell-

schafterin der Kulturmanagementbera-

tung Birnkraut Hein Arts + Business

Consultants in Hamburg.

Erfahrungsbericht: Daniela Rose, heute Konzertreferentin der Salzburger Festspiele, bewertet ihr

Aufbaustudium in Kultur- und Medienmanagement an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg

Diplom-Kulturmanagerin Daniela Roseschloss im Jahr 2002 den Aufbaustudiengang Kultur- und Medienmanagement an derHochschule für Musik und Theater Hamburg ab. Ihr Erststudium hatte sie vorher mit demErsten Staatsexamen Lehramt im Hauptfach Musik absolviert. Seit Anfang 2004 ist sieKonzertreferentin der Salzburger Festspiele. Berufliche Stationen bei Festivals, Veranstal-tern im Bereich der Klassischen Musik, bei einem Orchester und einer Konzertagenturführten sie zu ihrer heutigen Position. Besonderes Augenmerk legt sie in ihrer professio-nellen Weiterbildung auf die Neue Musik.

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einem Studium nur ansatzweise gelehrtwerden. Dafür ließen die Berichte, Denk-weisen und interessanten Berufswege derDozenten die Studierenden an Erkennt-nissen und Erfahrungen profilierter Füh-rungskräfte teilhaben. Sie trugen dazu bei,die eigenen Ziele ständig aufs Neue zuüberprüfen, zu definieren und umzuset-zen. Nicht zuletzt lernte man im Studiumauch schnell, sich Einblick zu verschaffenin die Mechanismen des Kulturmarkts:Wo sitzen die wichtigen Personen undAnsprechpartner und wie knüpft man imInteresse der gestellten Aufgabe die rich-tigen Kontakte?

Daraus wird deutlich, dass Praxis-relevanz im Kulturmanagement unabding-bar ist. Sind denn die erlernten Inhalte, dieSie in Ihrer Ausbildung erfahren haben, fürIhre jetzige Position praxisrelevant?

Rose: Die Praktika und die bereitserwähnten Arbeiten im Team waren diesin jedem Fall, aber auch die vermittelteTheorie war durchaus praxisrelevant –seien es nun Vorlesungen über Kulturpoli-tik, Tarifvertrags-, Urheber- und Leistungs-schutzrechte, Controlling, Marketing,Sponsoring, Kommunikation, Tournee-management usw. Mit all diesen Themenund Bereichen komme ich in meiner heu-tigen Position ständig in Berührung. Erstdurch die breite Fächerung des Studiumserschlossen sich mir die großen Zusam-menhänge, die vielen Komponenten undBereiche des Kulturmanagements vollkom-men. Im Kern ging es im Studium vorallem immer wieder darum, wie man dieMittlerrolle zwischen den Welten, z. B.zwischen Künstler und Publikum, am bes-ten bewältigen kann. So spielte in der Aus-bildung auch Kompetenz im Konfliktma-nagement eine große Rolle. Das Wissenaus dem Studium und die durch Praxisgewonnene Erfahrung erleichtern mir dieArbeit als Konzertreferentin der Salzbur-ger Festspiele sehr – an einer Schnittstellezwischen künstlerischer Kreativität undkaufmännischer Ratio. Eine Grundvoraus-setzung für die eigene Befriedigung imausgeübten Beruf ist allerdings ein über-durchschnittlich hohes Interesse an derKultur selbst, was bei mir auch der Motorist und mich ständig neu motiviert.

Spüren Sie, ausgehend vom eigenenInteresse, in Ihrer Position die Notwendigkeit,sich kontinuierlich weiterzubilden? Und wietun Sie das?

Rose: Meine Tätigkeit erfordert natür-lich eine permanente Auseinandersetzungmit der Materie und neuen Arbeitsberei-chen, wodurch man sich in einem ständi-gen Weiterbildungsprozess befindet. Den-noch spüre ich die Notwendigkeit nacheiner gezielten Weiterbildung. Momentanfinde ich im Berufsalltag dazu leider nochnicht so viel Zeit, wie ich mir das wün-schen würde.

Eine allgemeine „Kulturbildung“ sollteman indes auch schon vor und währenddes Studiums verstärkt vorantreiben. Inmeiner Position gehören dazu Besuchevon Konzerten, Musiktheateraufführun-gen, wichtigen Festivals, Symposien sowiedie Lektüre der einschlägigen Feuilletons,der wichtigsten Fachzeitschriften und vonSekundärliteratur.

In erster Linie sollte man aber so oftwie möglich Musik in verschiedenenInterpretationen hören, und das am bes-ten live – zur Repertoirepflege und -er-weiterung, um up to date zu bleiben undsich eine Meinung zu bilden, aber auch,um bei Veranstaltungen Kontakte zuknüpfen und zu networken. Mit den Kul-turschaffenden ebenso wie mit den Kul-turmachern.

Wenn Sie nun mit Ihrer professio-nellen Erfahrung zurückblicken: Wie fällt Ihrpersönliches Resümee aus? Würden Sie fürIhre Tätigkeit einen anderen Ausbildungs-weg wählen, wenn Sie erneut am Anfangstünden?

Rose: Ja und nein: Heute würde ichmit Sicherheit ein anderes Erststudiumwählen, z. B. Musikwissenschaft mit denNebenfächern Betriebswirtschaftslehre,Jura, Fremdsprachen. Das AufbaustudiumKulturmanagement hingegen würde ichmit großer Freude noch einmal absolvie-ren.

Mein Resümee: Viele Wege führennach Rom – aber auch beim Aufbaustudi-um Kulturmanagement liegt es vor alleman einem selbst, an der Persönlichkeit undam Engagement, was man aus den gebo-tenen Chancen herauszuholen vermag.

Das Interview führte Ines Hein.

Der Musikunterricht, für dendas Klavier das beste, unent-behrliche, wenn nicht einzigeLehrmittel ist, gehört zum all-gemeinen kulturellen Leben...

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»Musikalische Bildung«?»Musikalische Bildung«?WAS IST DAS EIGENTLICH?

Er ist für den kultivierten Menschenebenso verbindlich wie die Ausbildung inSprachen, Gesellschaftswissenschaft,Mathematik, Geschichte, Naturwissen-schaften usw. Selbst musikalisch defektiveMenschen […] können sich sehr wohltheoretische musikalische Kenntnisseaneignen, die ihnen für ihr gesamtesgeistiges Leben ohne Frage sehr nützlichsind. Denn die Musik ist genauso einProdukt des Menschengeistes wie alles,was der Mensch geschaffen hat; hier wiedort herrschen dieselben Gesetze.

Andererseits umfasst die musikalischeErziehung auch jene ungewöhnlichBegabten, die zu Schöpfern und Interpre-ten der Musik berufen sind. Es verstehtsich von selbst, dass zwischen der zumkulturellen Leben gehörenden allgemei-nen musikalischen Grundausbildung undder Erziehung hervorragender Einzelbega-bungen ein ebensolcher Unterschiedbesteht wie der, der in der „gesellschaftli-chen Funktion“ des Klaviers zu beobach-ten ist: Das Klavier ist einmal das volks-tümliche Masseninstrument, das vieleMillionen Menschen auf der ganzen Weltbenutzen, zum anderen aber ist es daskomplizierteste, individuellste Instrument,nämlich unter den Händen großer Pia-nisten, die im Vergleich zu den vielenMillionen kaum eine Handvoll ausma-chen.

Heinrich Neuhaus(1888–1964),Klavierlehrer

u. a. vonSvjatoslav Richter

(aus: Die Kunstdes Klavierspielens,

Leipzig 1967).

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PRÄSENTIERT

Stellen Sie Ihr Musikprojekt

in dieser Rubrik vor! Mail an:

[email protected]

In der Rubrik „Präsentiert“ stellt das MUSIKFORUM kurz und bündigInitiativen aller Sparten im deutschen Musikleben vor:

˜ Der Verlag Tonsplitter hat sich der Volksmusikforschung verschriebenund archiviert Exponate aus der Tradition des volkstümlichen Liedes.

˜ Der Arbeitskreis Studium Populärer Musik schafft im Forschungsbereichder Popularmusik ein Forum für den kontinuierlichen Gedankenaustausch.

Bewahrung von Liedtradition: Das Hamburger Archiv für Musik und Sozialgeschichte beherbergt Hunderte von Liederbüchern, Liedpostkartenund Partituren, die Archivar und „Wandervogel“ Werner Hinze (rechts) liebevoll zusammengetragen hat.

TonsplitterVerlag und Archiv für Musik undSozialgeschichte

Das Konzept des 2003 in Hamburg gegrün-deten Verlags Tonsplitter basiert auf dreiGrundpfeilern: Fundament des Projekts ist dasumfangreiche Archiv des Volksmusikfor-schers, Autors und Redakteurs Werner Hinze.Als Gründer und Leiter des Vereins „Musikvon unten“ war ihm deutlich geworden, wiewichtig die Verbindung von Wissenschaft undihrer populären Darstellung ist. Die entspre-chende Aufarbeitung volksmusikalischer The-men und ihre vielseitige Darstellung wurdensomit auch Grundlage von Tonsplitter.

Das „Archiv für Musik und Sozialgeschich-te“ verfügt über eine eigene Bibliothek mitStandardwerken und vielen Besonderheiten.Hunderte von Liederbüchern unterschiedli-cher Personen, Berufsgruppen oder Vereinenzeugen ebenso wie andere Exponate von ei-ner üppigen Liedtradition, die heute kaumnoch bekannt ist. Das vielfältige Material, zudem auch populäre Musikformen gehören,steht auch für Ausstellungen bereit.

Der Verlag verfügt über eine wissenschaft-liche Reihe, in der z. B. die Schalmeienkapel-len des Roten Frontkämpferbundes und derenmusikalisches, kulturelles wie politischesSelbstverständnis analysiert wurden. In einerLiederbuch-Reihe werden ausgewählte The-men jeweils mit einem eigenen Lexikonteilpräsentiert, in dem jedes Lied ausführlich er-klärt wird und viel Informatives zu Personen,Begriffen und Ereignissen zu erfahren ist. DieLiederbuch-Reihe wird unterstützt von zweiHeft-Reihen, in denen einerseits besondereEreignisse herausgestellt, andererseits Lied-biografien herausragender Lieder mit einerwechselhaften Geschichte angeboten wer-den. Ergänzt wird die Produktpalette durch at-traktive Liedpostkarten zu den jeweiligen The-men.

Tonsplitter bietet Hilfe bei Veranstaltun-gen, Ausstellungen, Programmen und Kon-zepten an, aber auch Vorträge und Lesungenzu Themen der Liederbücher wie „SeemannsBraut is’ die See“ oder „Lieder der Straße“ mitdem Schwerpunkt der Lieder der Vagabun-den. Seit Mai dieses Jahres hat Hinze zusätz-lich eine Liederwerkstatt in der Geschichts-werkstatt Hamburg-Eimsbüttel eingerichtet.Hier sollen die musikalischen Erfahrungen der

Bewohner dieses Stadtteils und die des For-schers eine Synthese ergeben.

Kontakt: Tonsplitter, Treptower Straße 140,22147 Hamburg, Telefon 040/6471312, E-mail:[email protected]

www.tonsplitter.de

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Arbeitskreis StudiumPopulärer Musik (ASPM)

Nach wie vor steht im Zentrum der her-kömmlichen kulturpolitischen und musikwis-senschaftlichen Arbeit die europäischeKunstmusik vergangener Zeiten. Popularmu-sikforschung hat sich in Deutschland in Ni-schen etablieren müssen, vor allem in musik-pädagogisch, aber auch in musiksoziologisch,-ethnologisch, -psychologisch und medien-wissenschaftlich ausgerichteten Studien-gängen. Um in diesem Forschungsbereich einForum für den kontinuierlichen Gedanken-austausch zu schaffen, wurde der Arbeits-kreis Studium Populärer Musik e.V. (ASPM)gegründet. Der ASPM sieht seine Aufgabeninsbesondere in der Organisation von Tagun-gen und Symposien, der Nachwuchsförde-rung in der Popularmusikforschung, der An-regung und Durchführung wissenschaftlicherUntersuchungen sowie dem kritischen Infor-mationsaustausch. Im Bereich der Popular-musikforschung gibt es in der Bundesrepub-lik zurzeit kaum vergleichbare Infrastruktu-ren und Diskussionsplattformen, die ein der-artiges Arbeitsprogramm ermöglichen.

So wurde seit 1984 auf den jährlich veran-stalteten Arbeitstagungen eine Vielfalt vonThemen diskutiert: z. B. Popmusik und Lernen(1984), Rock-Jazz-Pop: Vom Amateur zumProfi (1987), Rock-Pop und Religion (1990),Auf der Suche nach kultureller Identität(1993), Neue musikalische Trends – Neuemassenmediale Kontexte (1996), PopuläreMusik und Politik (1997), Lokale Wurzeln –Globale Vermittlungsstrategien (1997), Cross-over: Populäre Musik zwischen Wissen-schaft und Pädagogik (1998), Populäre Musikim kulturwissenschaftlichen Diskurs (1999),Heimatlose Klänge – Regionale Musikland-schaften (2001), Populäre Musik im Kontextder Video Culture (2002) und Populäre Musiknach dem 11. September 2001 (2003).

Die kommende ASPM-Arbeitstagung imOktober 2004 wird sich unter dem Thema„Keiner wird gewinnen. Populäre Musik imWettbewerb“ erstmals im Rahmen der Popu-larmusikforschung in konzentrierter Form mitden vielfältigen Aspekten von Wettbewerb inder populären Musik (musik-)wissenschaft-lich auseinander setzen.

Popularmusikforschung, wie sie derASPM betreibt, konnte – aus dem Nischen-dasein heraus – ein Konzept etablieren, dasüber den reinen Gegenstandsbereich Musikhinausweist und multidisziplinär, gesell-schaftsnah, rezipientenbezogen und praxis-

orientiert ist. Im Zentrum dieses Konzeptssteht die wissenschaftliche Auseinanderset-zung mit der Produktion, Distribution und Re-zeption von populärer Musik aller Stilrichtun-gen im konkreten Gesellschaftsbezug sowiedie ständige Neubewertung der ökonomi-schen, institutionellen und technologischenRessourcen, die diesem musikalischen Zirku-lationsprozess zugrunde liegen.

ASPM-Beiträge zur Popularmusikfor-schung und die neue Reihe texte zur populä-ren musik erscheinen im transcript-verlagBielefeld. Aktuelle Neuerscheinungen: PopSounds. Klangtexturen in der Pop- und Rock-musik. Basics – Stories – Tracks. Hg. v. Tho-mas Phleps und Ralf von Appen (Herbst 2003);in den Beiträgen zur Popularmusikforschung,hg. v. Dietrich Helms und Thomas Phleps: Bd.32: 9/11 – The World's All Out Of Tune. Popu-läre Musik nach dem 11. September 2001(Herbst 2004).

Kontakt: Alenka Barber-Kersovan, Ar-beitskreis Studium Populärer Musik e.V.,Ahornweg 154, 25469 Halstenbek, Tel. 04101/44 8 40, E-mail: [email protected]

ASPM-Vorstand Thomas Phleps, geschäfts-führender Direktor des Instituts fürMusikwissenschaft und Musikpädagogikder Justus-Liebig-Universität Gießen,veröffentlicht regelmäßig Beiträge zurPopularmusikforschung – wie die aktuelleNeuerscheinung „Pop Sounds“.

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DOKUMENTATION

Mit 560 Stunden im Jahr bildet die Mu-sik eines der wichtigsten Elemente in derProgrammplanung von 3sat. Schon baldnach seinem Start wurden neben Programm-wiederholungen aus den Archiven der Mut-terhäuser eigene Sendeformate und Über-tragungen gestellt. Bereits 1986 lud AugustEverding internationale Opernstars wie Bir-git Nilsson, Elisabeth Schwarzkopf oderWalter Berry in seine Gesprächssendung „dacapo“ ein. Ab 1987 stellte Marcel Prawy ineiner eigenen Sendung Opernkomponistenund Bühnenwerke vor. Live-Übertragungenund aktuelle Aufzeichnungen von großenFestivals, Konzerthäusern und Bühnen ausallen Regionen der deutschsprachigen Län-der bilden noch heute einen Schwerpunktim 3sat-Musikprogramm. Beispielhaft: daszehnstündige „Festival der Festivals“ imSommer 1987 mit Live-Schaltungen zuAufführungen der Festival-Metropolen Aix-en-Provence, Salzburg, Bayreuth, Glynde-bourne und Verona.

Schon vor der Wende ging 3sat musikali-sche Kooperationen mit unseren östlichenNachbarländern ein: 1987 bis 1990 wur-den Live-Konzerte und Konzertaufzeich-nungen vom Budapester Frühling gesendet,

1988 die Live-Übertragung Meister undMargarita von Rainer Kunad aus Warschau,1997 Jenufa und 1998 Rusalka als Live-Pro-duktionen aus dem Nationaltheater Prag.Eine besondere Stellung nimmt in diesem

Musik-Sendeplätze auf 3sat

Freitags und samstags Aufzeichnungen von renommierten Jazzfestivalsab 1.30 Uhr

Samstags Legendäre Konzerte mit Idolen des Rock und Popvon 13.15 bis 14 Uhr

Samstags Musik- und Tanztheater sowie Konzerte mit inter-20.15 Uhr nationaler Starbesetzung

Samstags Musikfilme, Tanzproduktionen, ausführliche Doku-ab ca. 22.30 Uhr mentationen und Porträts

Sonntags Konzertaufzeichnungen, Porträts und Gesprächeab 9.15 Uhr

Sonntags Aktuelle Klassikveranstaltungen, Musikfilme undvon 11 bis 13 Uhr Dokumentationen

Ausgewählte Deutsche Schlagergeschichte: Kult-Nächte mitProgrammtage „Disco“ und „Hitparade“

Silvester/ Musikalische Thementage, Lange NächteFeiertage

20 Jahre 3sat –

Frank Herda über Musik

in der Programmplanung

Im Dezember 1984 ging 3sat als erstes deutschsprachiges Satellitenprogramm auf Sendung.Dieses Jahr feiert das Partnerprogramm von ZDF, ORF, SRG und ARD seinen 20. Geburtstag.

Als werbefreies Kulturprogramm begleitet, informiert und kommentiert 3sat unter dem Slogan„anders fernsehen“ kulturelle Entwicklungen und Ereignisse aus der Perspektive der dreiPartnerländer Deutschland, Österreich und Schweiz.

Zusammenhang eine Koproduktion mitdem Fernsehen der DDR ein: die Übertra-gung der Uraufführung Graf Mirabeau vonSiegfried Matthus im Juli 1989 aus derDeutschen Staatsoper Berlin.

Hohe Qualität in der künstlerischen Dar-bietung und der fernsehtechnischen Umset-zung sowie Vielfalt aus allen Musikberei-chen von Klassik, Oper, Jazz, Rock und Popund Tanz bilden die Auswahlkriterien fürdie Programmplanung. Neben Live-Konzer-

FÜR MUSIKSpielraum

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Zu musikalischer Bildunggehört für mich in erster Linie,wenn man lernt, Instrumentezu spielen, wenn man sich mitTönen auskennt und sich aufdem Instrument ausdrückenkann…

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»Musikalische Bildung«?»Musikalische Bildung«?WAS IST DAS EIGENTLICH?

Dazu zählt auch, dass ich das, was ichan Musik höre, dem Interpreten und derZeit zuordnen kann. Ein allgemeines Wis-sen über Musikgeschichte und darüber,wer welche Musik macht, halte ich fürnotwendig. Musikalische Bildung beinhal-tet auch, Noten zu kennen, sie lesen undmit ihnen umgehen zu können.

Dies findet zwar heutzutage wenigerBeachtung, gehört aber zum Grundwissenim musikalischen Bereich.

Juliane Senst,Auszubildende zur

Fotografin

ten und Aufzeichnungen, die das eigentlicheMusikerlebnis vermitteln, ermöglichen Do-kumentationen und Gespräche auch denBlick hinter die Kulissen.

Inhalt und Konzeption

Musiksendungen sind im 3sat-Programmsowohl als Einzelbeiträge zu finden, könnenaber auch in umfangreiche musikalischeKontexte oder größere genreübergreifendeReihen- und Themenzusammenhänge ein-gebunden sein. Neben der erhöhten Auf-merksamkeit beim Zuschauer bietet sich mitdiesem Verfahren die Möglichkeit, der Re-zeption neue Wege zu öffnen und unge-wöhnliche Musikprojekte zu fördern. Ersteerfolgreiche Erfahrungen mit dieser Musik-konzeption machten die Programmgestaltermit den Produktionen Sonoptikum ’91 – Dietönende Jahrhundertschau und Sonoptikum’93 – Zauber und Gegenzauber und ihrenumfangreichen Begleitprogrammen an Kon-zerten und Dokumentationen. Ihnen folgteein Wagner-Special, in dem 3sat mit Doku-mentationen, Porträts und Konzertaufzeich-nungen die unterschiedlichsten Facettenund Aspekte im Leben und Werk einesMenschen zeigte, der unterschiedlicheKünste miteinander vereinte.

Ein weiterer Höhepunkt der Musikpro-grammplanung war im Jahr 2000 ein Pro-grammschwerpunkt zur Geburtstagsfeier fürJohann Sebastian Bach. Sechs Wochen langstellte 3sat Person und Werk des Kompo-nisten in repräsentativen Konzertaufzeich-nungen und Dokumentationen vor undging auf die vielfältigen Auseinandersetzun-gen anderer Musiker mit Bachs Œuvre ein.

Eine Besonderheit im 3sat-Programmsind die Thementage an Silvester. Seit vierJahren stellt 3sat herausragende Produktio-nen zu einem 24-Stunden-Non-Stop-Pro-gramm zusammen: 24 Werke klassischerKomponisten zur Jahreswende 1999/2000,die Geschichte des Jazz und die gesamteBandbreite des Tanzes in teils historischenAufnahmen im Jahr darauf, dann in den Jah-ren 2002 und 2003 eine Mischung aus sel-ten zu sehenden Konzerten von Rock-Iko-nen und „Top Acts“ der Szene in denThementagen „Pop around the clock“, die3sat 2002 die damals höchste Tagesquotein seiner Geschichte brachten.

Zur inhaltlichen und konzeptionellenAusrichtung des 3sat-Musikprogramms ge-hört nicht nur die Pflege des traditionellenMusikrepertoires: Sowohl in Oper als auchin der Instrumentalmusik gibt 3sat der zeit-genössischen Musik eine Spielfläche. Bei-spiel dafür ist die im September 2001 in ei-

ner opulenten Fernsehversion gezeigteOper Powder Her Face des KomponistenThomas Adès. Unter den Dokumentatio-nen, Porträts, Konzerten und Opern in die-sem Bereich gab es im Bach-Jahr 2000 einebesondere Leistung dieses Bemühens: dieLive-Übertragung von vier Uraufführungen,Vertonungen der Passionstexte nach denvier Evangelisten. Die Komponisten der vonder Internationalen Bachakademie Stuttgartin Auftrag gegebenen Passionen warenWolfgang Rihm, Sofia Gubaidulina, Osval-do Golijov und Tan Dun. Von dem chinesi-schen Komponisten Tan Dun produzierte3sat ein Porträt und sendete im Juni 2004die Uraufführung Secret Land, ein Auftrags-werk der Berliner Philharmoniker.

Live-Events

Live-Übertragungen steigern die Attrakti-vität des Mediums Fernsehen: Wann immereine Direktübertragung möglich ist und Sinnmacht, bietet 3sat den Zuschauern die Ge-legenheit, an einer hochkarätigen Veranstal-tung unmittelbar teilhaben zu können. Umso mehr, wenn es sich dabei um historischeEreignisse handelt. Bei der Übertragung deslegendären Konzerts von Vladimir Horowitzin Moskau, der im April 1986 nach 60 Jah-ren zurückgekehrt war und dort frenetischgefeiert wurde, wurde 3sat zum authenti-schen Chronisten.

Der steigenden Publikumszahl bei alljähr-lich wiederkehrenden Musik-Events trägt3sat immer wieder mit DirektübertragungenRechnung. Unter dem Titel „Festspielsom-mer“ sind von Juni bis August Live-Übertra-gungen, Aufzeichnungen und Impressionenvon internationalen Musikfestivals in 3sat zusehen. Konzerte vom Rheingau- und Schles-wig-Holstein Musik Festival, den SalzburgerFestspielen, der MusikTriennale in Köln, dasWaldbühnenkonzert aus Berlin, die JazzBal-tica bei Kiel oder die UNICEF-Gala am Ers-ten Advent sind Produktionen mit interna-tionalen Stars, Orchestern und Dirigenten aufrenommierten Bühnen, die dem Zuschauereine aktuelle und lebendige Kulturvermitt-lung in den eigenen vier Wänden bieten.

„Robuste Kulturangebote“

In einer Rede zum 20-jährigen Bestehenvon 3sat konstatierte KulturstaatsministerinChristina Weiss, dass der Kulturauftrag nichtnur für 3sat festgeschrieben sei, er bleibevielmehr die Existenzberechtigung für dengesamten öffentlich-rechtlichen Rundfunk.„Nur dank robuster Angebote im kulturel-len Bereich“, so Weiss, „lassen sich Bestre-

bungen auf europäischer Ebene abwehren,die Finanzierung von ARD und ZDF als un-zulässige Beihilfen einzustufen und somitden öffentlich-rechtlichen Rundfunk alsGanzes in Frage zu stellen. Es darf deshalbnicht darum gehen, die Programminhalte inZukunft noch stärker denen der privatenAnstalten anzunähern.“ Sie setze auf dieKreativität und das Verantwortungsgefühlder Programmdirektoren, erklärte die Staats-ministerin. Die programmlichen Selbstver-pflichtungen, an denen ARD und ZDF imMoment arbeiteten, sollten zu einer Stär-kung des kulturellen Profils führen. „Ich wer-de nicht müde, für die tägliche Kulturnach-richt in Tagesschau und heute zu werben,einen guten Sendeplatz für Kultursendun-gen zu erstreiten oder stärkeren Synergienmit 3sat und Arte das Wort zu reden.“

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orchester

REZENSIONEN

MUSIK�ORUM78

kammermusik

Arnold Schönberg Theodor W. Adorno

Streichquartett Nr. 1 d-Moll op. 7 Zwei Stücke für Streichquartett op. 2

Kuss Quartett. Jana Kuss (Violine), Oliver Wille (Violine), William Coleman (Viola),Felix Nickel (Violoncello).AMP 5113-2

Luigi Nono

Composizione per orchestran. 1 / Der rote Mantel

Angelika Luz (Sopran), Jörg Gottschick(Bariton), RIAS Kammerchor, DeutschesSymphonie-Orchester Berlin, Ltg. PeterHirsch.Wergo WER 66672

Wer nichts sagt, sagt alles; denndas Nichts enthält alles, die Stille birgtungeborene Klänge. „Was ist das,außer einem Widerspruch in sich?“fragt das Booklet. Wo Worte fehlen,beginnt Musik. Wie also ließe sich diemenschliche Komplexität besser be-schreiben als durch Musik, die nichtfestlegt, sondern beim Hörer auf denWiderhall seiner eigenen Geschichtetrifft, ebenso wie ein anderer Mensches tut. Aus dem Nichts steigt eine leiseBrise, erste Fetzen Klang betönenwindspielend die Leere, locken wei-tere Klänge an, die nach kurzem Auf-glühen in äscherner Unkenntlichkeiterlöschen. Plötzlich die Vereinigungaller polyfonen Teile des Nichts zueinem chaotischen Aufbäumen in ei-nem finalen Schlagzeugstrudel.

Viel wurde spekuliert über LuigiNonos Composizione per orchestra n.1(1951): Manche vermuten ein Selbst-bildnis des Komponisten hinter dennur scheinbar wahllos aneinander ge-reihten Klängen. Nono selbst wirddie Gründe für sein Schweigen übersein knapp viertelstündiges Werk ge-kannt haben, dem er die Maske einer„absoluten“ Musik aufsetzte, die wie-derum aus einer maskierten Neun-tonreihe besteht.

Zeit seines Lebens stellte er sichdie Frage, wer er sei, wohin er gehe,mit wem und warum. Nono selbstmuss sein eigenes und das Leben ansich als strengen Gesetzen folgendempfunden haben, die sich ihm je-doch in ihrer Tragweite nicht offen-barten. Dies Suchen und Spekulieren,all die offenen Fragen scheinen jeden-falls die musikalische Sprache nichtnur der Composizione zu sein, sondernauch die des Balletts Der rote Mantel.

Luigi Nono folgte als Verehrerdes andalusischen Bühnenautors

Garcia Lorca dem Wunsch von Tat-jana Gsovsky, die 1954 aus LorcasEl amor de Don Perlimplin con Belisain su jardin für die Deutsche OperBerlin ein Ballett entworfen hatte,und komponierte eine Musik nachobiger Vorlage. Anders als im Büh-nenstück geht es Nono jedoch nichtum politische Parolen, sondern umeinen poetischen Liebesreigen, derallein schon aufgrund seiner Ge-sangsteile eher oratorisch als ballet-tös anmutet. Wieder bedient Nonosich einer suchenden musikalischenGestik, die zwischen den höchstenHöhen eines Soprans, den Klängenverirrter Glöckchen und den Tiefender Streich- und „Blas“-Bässe eine un-stete klangliche Maskerade entwirft,Täuschungen und Ent-Täuschungender Liebenden nachzeichnet, als wä-ren diese traumwandelnde Schattenihrer selbst.

Die Koloratursopranistin Angeli-ka Luz meistert die enormen stimm-lichen Anforderungen der Partiturmit schwebender, glockenreinerLeichtigkeit, in die sich der RIASKammerchor hineinschleicht oderdie er weiterführt. Die Sensibilität,mit der sowohl die Solisten (JörgGottschick) und das hervorragendeSchlagwerk als auch der Chor unddas Deutsche Symphonie-OrchesterBerlin unter Peter Hirsch die musi-kalische Sprache Nonos sprechen,machen die vorliegenden Komposi-tionen zu einem nachvollziehbarenKlangkaleidoskop, einer Art „Trip“ ineine erweiterte musikalische Dimen-sion.

Die unzähligen, einer spannungs-geladenen Stille folgenden Einsätzetreffen stets die ihnen innewohnen-de Dynamik. Peter Hirsch gewährtden Motivfetzen und Klängen diesegerade hier so wichtige Zeit der Stil-le, sich in die Köpfe und Ohren derHörer zu winden und sich dort zuentladen, um nun eine Vielzahl voninneren Bildern und Momentaufnah-men heraufzubeschwören.

Dass gerade solch komplexeMusik von der Präzision und demKönnen ihrer Interpreten lebt undnur so auf Verständnis und Verste-hen hoffen kann, zeigt sich an dieserAufnahme, die sich schon durch dieErsteinspielung des Roten Mantelswegweisend nennen darf.

Kathrin Feldmann

durchführt, immer wieder durch-führt – darin liegt ein Gutteil der Fas-zination, die das Kuss Quartett hierauf den Hörer ausübt.

Die zwei quasi zugegebenenQuartettstücke des Kulturphiloso-phen, Kunsttheoretikers und Sozio-logen Theodor Adorno stammenaus seinen Lehrjahren bei AlbanBerg. Sie werfen ein Licht auf Ador-nos Auseinandersetzung mit Schön-bergs Zwölftonlehre, der sich wederBerg noch sein Schüler sklavisch un-terwarfen. Musikantischen Schwungließ sich Adorno von der Reihen-technik ebenso wenig austreibenwie die spontane Variationslust.

Lutz Lesle

Nomen est omen. Die verzückteKussgebärde, zu der sich mancheKunstenthusiasten hinreißen lassen,um einer ästhetischen Leistung dashöchste Adelsprädikat zu verleihen,ist angesichts der edlen Interpreta-tionskunst des Kuss Quartetts dop-pelt angebracht. Das nach der Primgei-gerin benannte Glückskleeblatt, wel-ches der Berliner MusikhochschuleHanns Eisler entspross, tritt seit Ende2001 in der heutigen Besetzung auf.

Der Darbietung des kammersin-fonisch angelegten, zwischen Ab-schied und Anbruch changierendenersten (gezählten) Streichquartettsvon Arnold Schönberg in weit aus-ränderndem d-Moll, 1904/05 für dasRosé-Quartett geschrieben und1950 revidiert, ist die Prägekraft je-ner Persönlichkeiten anzumerken,die das junge Quartett auf den Par-nass geleiteten: Walter Levin, ehe-mals Primarius des LaSalle StringQuartet, Christoph Poppen, Prima-rius des Cherubini Quartetts, dasCleveland Quartet und das AlbanBerg Quartett. Auf der Erfolgsleiter,die das Kuss Quartett erklommen hatund weiter hochsteigt, ist der Preisdes Deutschen Musikwettbewerbsnur eine, freilich besonders aussichts-reiche Sprosse.

Schönbergs (mit Brahms’ Ton-denken wahlverwandte) Idee des„Alles aus Einem“ – die auf die Zwölf-tonmethode zulaufende Idee, schierjede Note thematisch zu begründen– hat das Kuss Quartett derart ver-innerlicht, dass es ihm scheinbar mü-helos gelingt, die monumentale Ein-sätzigkeit des Werks als sonatenzyk-lisches Integral verständlich zu ma-chen. Mitzuerleben, wie der Kom-ponist sein Tongebäude aus weni-gen Grundgestalten variierend ent-wickelt, wie er Haupt und Gliederverklammert, rückgreift, ableitet und

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MUSIK�ORUM 79

TONTRÄGER

Ensemble Amarcord

Vokalkompositionen und Arrangementsvon Edward Elgar, Ernst Fischer, EdvardGrieg, Mia Helander, Marcus Ludwig,Francis Poulenc u. a.

Wolfram Lattke (Tenor), Dietrich Barth(Tenor), Frank Ozimek (Bariton), DanielKnauft (Bass), Holger Krause (Bass).AMP 5114-2

1992 von ehemaligen LeipzigerThomanern gegründet, ersang sichdas Ensemble Amarcord 2002 denLorbeer des Deutschen Musikwett-bewerbs. Und das aus gutem Grund,wie der kurzweilige Programm-Mixdieser tönenden Visitenkarte belegt.Amarcord vereinigt Qualitäten, diein Deutschland selten so glücklichzusammenkommen – im Gegensatzetwa zum Lande der King’s Singersund des Hilliard Ensembles, von de-ren Sangeskunst Amarcord hörbarprofitierte. Das hochprofessionelleund hochmotivierte Männerquintettist ein ebenso homogenes wie bieg-sames und wandlungsfähiges „Vo-kalinstrument“, das sich mit über-springendem Vergnügen in allen mög-lichen Genres tummelt. Eine raffinier-te, auf Abwechslung und Kontrast-wirkung setzende Programm-Drama-turgie sorgt für unausgesetzte Span-nung. Die unterhaltsame Hörreiseführt von stilhoher Chorlied- bzw.Chansonliteratur über gediegeneBach-Arrangements bis zu Volkslied-Bearbeitungen und galgenhumori-gen Soldatenliedern aus dem ErstenWeltkrieg, in denen die Moritat mitdem Küchenlied poussiert. MarcusLudwig steckte sie 2001 in ein fe-sches Klangkostüm à la ComedianHarmonists.

Lutz Lesle

vokal

Karin Haußmann

Lys / Nichts als Geräusch / Resonanzen /Weights and Measures / Schwellen / EinOrt für Zufälle

Thürmchen Ensemble, Ltg. Erik Ona;Norma Enns (Sopran); Ensemble l’Artpour l’Art; Hwa-Kyun Yim ( Klavier),Ingrid Schmidthülsen (Sopran);Musikfabrik – Ensemble für Neue Musik.WERGO 6558 2

In einer CD-Neuveröffentlichungder Reihe „Edition zeitgenössischeMusik“ des Deutschen Musikrats wirddie Komponistin Karin Haußmannporträtiert, einst Schülerin von Wal-ter Zimmermann und Nicolaus A.Huber und heute selbst als Dozentinfür Tonsatz, Gehörbildung und NeueMusik tätig.

Karin Haußmanns Zusammenar-beit mit Musikern oder Gruppen wiedem Thürmchen Ensemble oderdem Ensemble l'Art pour l'Art findetihren Niederschlag in Einspielungen,die das spezielle Interesse der Kom-ponistin für die Struktur der Klänge,ihre Analyse und Synthese verraten.Reibelaute können zum Thema wer-den (Nichts als Geräusch) oder auchdie rein als Klangmaterial jenseits ih-rer kommunikativen Funktion be-griffene menschliche Sprache (EinOrt für Zufälle und Schwellen). Reso-nanzen werden als physikalisches,aber auch wahrnehmungsästheti-sches Phänomen erkundet, und inLys ist es schließlich der Eindrucknordischen Lichts, der eine Studieüber Bündelung und Brechung vonKlängen anregte.

Abgerundet wird das künstleri-sche Porträt Karin Haußmannsdurch ihre Klavierstücke Weightsand Measures, die auf die Gattungder Etüde verweisen, aber über tech-nische Aspekte hinaus auf die „Su-che nach einer eigenen Art Poesie“gehen.

Gerhard Dietel

neue musik

Sergej Rachmaninow Duke Ellington

Sinfonie Nr. 2 e-Moll op. 27 Night Creature

Bundesjugendorchester, Bundesjazzorchester, Ltg. Gunther Schuller.MBM

diverse

1969 vom Deutschen Musikratgegründet, erfreut sich das Bundes-jugendorchester trotz oder geradewegen seiner natürlichen Fluktua-tion, die ihm ewige Jugend beschert,weltweiter Wertschätzung. Die Mu-sikerinnen und Musiker zwischen14 und 20 Jahren müssen das Na-delöhr einer gestrengen Jury passie-ren, bevor sie an den dreimal jähr-lich stattfindenden Probenphasenunter renommierten Dirigenten teil-nehmen dürfen.

Als juveniles Spitzenorchestersind das BJO und sein flottes Gegen-stück, das Bundesjazzorchester, inaller Welt begehrt, zumal als Bot-schafter einer besseren Welt an run-den, leid- oder dankerfüllten Ge-denktagen (Theresienstadt, Hiroshi-ma und Nagasaki, Berliner Luftbrü-cke).

Aber auch ohne zeitgeschichtli-che Schmuckdaten zählen ihre Auf-tritte zu den Hauptereignissen jederKonzertsaison, wie die Anfang 2003im WDR Köln produzierte Aufnah-me der zweiten, 1906/07 kompo-nierten Sinfonie von Sergej Rachma-ninow und die vom BayrischenRundfunk aufgenommene Ellington-Adaption zeigen.

Der 78-jährige amerikanischeKomponist, Dirigent, Hornist undJazzautor Gunther Schuller studiertesie ein: ein pädagogisch erfahrener,vielseitig praxisgeübter Musicus doc-tus, dessen Ausstrahlung auf die jun-gen Leute man der CD unmittelbaranhört.

Es gibt – nach Lenny BernsteinsTod – wohl kaum eine zweite Musi-kerpersönlichkeit, die fähig wäre, diejungdeutsche Musikerelite im Ab-stand weniger Tage auf die „dynami-sche Evolution“ und Kantilenenselig-keit der Zweiten Rachmaninowseinzustimmen und der blinden Wan-

ze, dem pirschenden Monster unddem blendenden Geschöpf swin-gend aufzulauern, denen Duke El-lington einst in seiner Night Creaturenachstellte.

Lutz Lesle

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REZENSIONEN

MUSIK�ORUM80

Komponisten-Lexikon

340 werkgeschichtliche PorträtsMetzler/BärenreiterStuttgart/Kassel 2003, 2. Auflage, 716 Seiten, 49,95 Euro

Richard Wagner und seine Zeit

Hg.: Eckehard Kiem und Ludwig HoltmeierLaaberLaaber 2003, 406 Seiten, 42 Euro

hat. Sie gelingt allerdings kaum,wenn man sich – wie hier gesche-hen – auf einen musiktheoretischenStandpunkt zurückzieht und außerAcht lässt, dass Wagner ein Bühnen-komponist war. Das Theater kommtin diesem Buch kaum zur Sprache.

Besondere Beachtung verdienenzwei Texte, die sich mit Themen jen-seits der Musik befassen: „Religion –Kunst – Politik“ (Stefan Breuer) und„Wehvolles Erbe. Zur ‚Metapolitik‘der Meistersinger von Nürnberg“(Hans Rudolf Vaget). Sie überzeu-gen nicht nur durch neue Aspekte,sondern auch durch die Souveräni-tät gegenüber dem jeweiligen The-ma.

Was Daten und Fakten anbetrifft,nimmt es das Buch nicht sonderlichgenau. Dass Rienzi als „komische“Oper ausgewiesen ist oder La dameblanche mit Pique dame verwechseltwird, sollte nicht vorkommen. DasVerzeichnis der „Schriften“ ist in sei-ner Unschärfe und Undifferenziert-heit ein sprechendes Indiz dafür, wieviel gerade auf diesem Sektor nochzu tun und wie dringlich eine Kriti-sche Ausgabe von Wagners Schrif-ten ist.

Egon Voss

Der Titel spannt die Erwartunghoch; denn bei welchem Komponis-ten wäre der Bezug zu „seiner Zeit“deutlicher und prägender als beiWagner? Was der Titel verspricht,wird jedoch nicht eingelöst, Wagnerund seine Zeit sind nicht die The-men des Buches, das man freilichauch kaum ein Buch nennen kann;denn es handelt sich um eine Samm-lung von 13 Aufsätzen von insge-samt neun Autoren. Dass die Textein der Mehrzahl lesenswert sind,kann nicht darüber hinwegtäuschen,dass sie sich nicht zu einem BildWagners zusammenfügen. Das zuerstellen wäre jedoch die Aufgabegewesen.

Bezeichnend ist, dass nach Um-fang und Stellung ein Text vonRichard Klein, „Über Nähe und Ab-stand Adornos zu Richard Wagner“,im Zentrum des Buches steht – alsführe der Weg zu Wagner notwen-dig über Adorno. Während Sekun-därliteratur vorherrscht – jeder Texthat seine eigene Bibliografie –, suchtman die Ausgaben der Werke Wag-ners, die doch der Gegenstand desBuches sind, vergebens. Entspre-chend fehlt auch der Hinweis auf dieKritische Gesamtausgabe, die unab-dingbare Grundlage aller Erörterun-gen.

Erfreulich ist, dass in der Mehr-zahl der Beiträge tatsächlich die Mu-sik behandelt wird, was ja sonst beiTexten über Wagner die Ausnahmedarstellt. Doch geschieht dies wedersystematisch noch auf das gesamteWerk bezogen, dessen Kenntnisgleichsam vorausgesetzt wird. Auchfehlt das in diesem Falle notwendigeWerkregister. Es sei jedoch aus-drücklich gesagt, dass so manche Er-kenntnis zutage gefördert wird, diewert ist, wahrgenommen und wei-tergeführt zu werden. Auch diesesBuch veranschaulicht, dass die Er-kundung Wagners erst begonnen

Als dieses Lexikon vor nunmehrzwölf Jahren in erster Auflage er-schien, stellte es innerhalb der deutsch-sprachigen musikwissenschaftlichenLexikografie ein konzeptionelles No-vum dar. Daran hat sich bis heutenichts geändert, sodass man die nunvorliegende zweite Auflage, die injeder Hinsicht eine Verbesserung dar-stellt, begrüßen muss.

Typologisch ist dieses Lexikonein Personenlexikon. Das für diesesGenre grundsätzliche methodischeProblem, wie Biografie und Werkdarzustellen seien, ist in vorliegen-dem Lexikon methodisch intelligent,undogmatisch und von der Darstel-lungsform mutig, innovativ und lese-freundlich gelöst.

Der Schwerpunkt der einzelnenKomponistenartikel – in der zweitenAuflage sind es an die 400 – liegt aufder werkbezogenen Darstellung,wobei diverse Kontexte wie Gat-tungstraditionen, Stilgeschichte, äs-thetische Konzeptionen und Rezep-tion (z. B. bei den KomponistenPaganini und Palestrina) je nachKomponist unterschiedlich stark ein-bezogen werden. Im engeren Sinnebiografische Informationen werdenkeineswegs ausgeblendet, spielenaber eine nebengeordnete Rolle undwerden nur dann berücksichtigt,wenn sie für das Verständnis desWerks unentbehrlich sind.

Intention des Lexikons ist nichtdie möglichst wertneutrale und voll-ständige Ausbreitung informativer De-tails – ohnehin eine Chimäre –, son-dern es beabsichtigt, dem Leser inüberschaubaren Artikeln eine mög-lichst lebendige Physiognomie, ebenein „Bild“ des jeweiligen Komponis-ten anschaulich vor Augen zu füh-ren, wobei Werturteile und subjekti-ve Spielräume durchaus zugelassensind. Aber gerade das macht dieLektüre der einzelnen Artikel auchfür ein Lesepublikum ergiebig, das

ein nicht im engeren Sinne musik-wissenschaftliches Interesse verfolgt.

Darüber hinaus haben die vomHerausgeber vorgegebenen Rah-menbedingungen eine Textsorte ge-neriert, die in der deutschsprachigenMusikwissenschaft lange vernachläs-sigt wurde: den wissenschaftlich fun-dierten, leserfreundlichen Essay. Inder Tat wollen und können die ein-zelnen Artikel problemlos in Gänzegelesen werden. Die im Vorwort zurersten Auflage überzeugend begrün-dete Schwerpunktbildung wurde inder zweiten Auflage beibehalten:Der Akzent liegt auf Komponistender Kunstmusik, wobei das 20. bzw.21. Jahrhundert besonders berück-sichtigt wurden. So findet man unterden neu aufgenommenen ArtikelnNamen wie Pintscher, Mundry,Hölsky, Villanueva und Ustvol’skaja,um nur wenige Beispiele zu nennen.

Zur Verantwortung von Wissen-schaft gehört auch der Wissenstrans-fer. Dies ist der deutschsprachigenMusikwissenschaft mit diesem Lexi-kon in besonderer Weise gelungen.So ist ein professionelles Nachschla-gewerk entstanden, das sich auchweiterhin in den Händen von Re-dakteuren, Lehrenden, Studieren-den und allgemein Musikinteressier-ten bestens bewähren wird undauch das Auskunftsinteresse derjeni-gen befriedigen dürfte, die in ande-ren Fachdisziplinen arbeiten.

Andreas Eichhorn

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MUSIK�ORUM 81

BÜCHER

Musik hat ihren Wert

100 Jahre musikalische Verwertungsgesellschaft in DeutschlandAlbrecht DümlingConBrio, Regensburg 2003, 392 Seiten, 49 Euro

1852 wurde einer Dirigentin ineiner Fachzeitschrift „Ostentation undCharlatanerie“ bescheinigt. Nicht pro-fessionell genug zu sein und sich zuauffällig zu verhalten – das könntennoch Vorurteile von heute sein. DassDirigentinnen einen besonders schwe-ren Stand haben, wenn es um die Er-oberung einer der letzten Bastionenmännlichen Überlegenheitswahnsgeht, ist hinlänglich bekannt undlässt sich historisch nachweisen underklären. Obwohl viele Orchesterlei-ter/innen heute einen eher kollegia-len als autoritären Stil pflegen, ver-bindet man allgemein das Führen ei-nes großen Klangkörpers mit Eigen-schaften wie Macht und Herrschaft,die bei Frauen traditionsgemäß ver-pönt waren. Inzwischen sind Diri-gentinnen vermehrt am Pult zu be-staunen, und die Kleidung (ob Frack,Hosenanzug, Kleid mit oder ohneAusschnitt, Schnür- oder Stöckel-schuhe) spiegelt die Probleme des„Crossover“: Soll man Männer nach-ahmen oder die weiblichen Traditio-nen betonen?

Mascha Blankenburg, selbst vomFach, will gerade nicht die Problemeoder Benachteiligungen ihrer Kolle-ginnen herausstellen, sondern imGegenteil deren Erfolge und Leis-tungen aufzeigen. In einer persönlichgehaltenen Einleitung schildert sie ei-gene Erfahrungen und stellt anschlie-ßend 79 Dirigentinnen vor. Rätsel-haft indes erscheinen die Kriteriender Auswahl. Was sprach dafür, dieeinen anzuführen und andere, aus-gewiesene und bedeutende, nicht,wie z. B. Elizabeth Schulze (Leiterindes Maryland Symphony Orchest-ra), Victoria Zhadko (Chefdirigentinder staatlichen Philharmonie vonCharkow in der Ukraine), RachelWorby (seit mehr als 20 Jahren gutim Geschäft), Xian Zhang (zahlrei-che Dirigate in China), Yip Wing Sie(Leiterin der Hong Kong Sinfonietta

Dirigentinnen im 20. Jahrhundert

Porträts von Marin Alsop bis Simone YoungElke Mascha BlankenburgEuropäische Verlagsanstalt, Hamburg 2003, 306 Seiten, 29,50 Euro

und in Asien hoch angesehen), Jan-na Hymes-Bianchi (Leiterin der Mai-ne Grand Opera) und manch weite-re? Sie haben sämtlich die „öffent-liche Präsenz“ nachzuweisen, die alsVoraussetzung für die Aufnahmeangeführt wird.

Zweifellos wurde mit der vorlie-genden Sammlung ein bemerkens-werter Anfang gemacht. Da Zitateund Quellen nicht belegt werden,wird es einer künftigen Forschungallerdings erschwert, darauf aufzu-bauen. Eine Überarbeitung nach wis-senschaftlichen Gepflogenheiten(Korrektur und Vereinheitlichungder CD-Aufstellung, Überprüfungder Namen, Ausbau der Literaturlis-te u. a.) hätte dem Buch gut getan.Dennoch gibt es eine erste Orientie-rung und wird insofern hoffentlichdazu beitragen, den Anblick einerdirigierenden Frau selbstverständli-cher zu machen.

Eva Rieger

Musik und Geld – das ist ein dau-erhaft heikles Thema. Gerade wennes um die Urheber von Musik geht,um die Komponisten. Noch immerglaubt so mancher, dass die Chance,sich künstlerisch ausdrücken zu dür-fen, Verdienst genug wäre, dass –pointiert gesagt – als Lohn fürs mo-natelange Ideenentwickeln undebenso aufwändige Partiturschrei-ben der Applaus des Publikums aus-reiche. Indes scheint sich die Gesell-schaft völlig einig darüber zu sein,den Ausführenden ein nach obenvöllig offenes Honorar zu zahlen.Nicht selten übersteigt dieses um einVielfaches die monetäre Entlohnungdes Komponisten, der etwa im Auf-trag eines Festivals Neuer Musik einWerk verfasst hat. Wer einmal dieGelegenheit hat, in den buchhalteri-schen Annalen diverser Festivalszeitgenössischer Musik zu stöbern,wird sich sehr wundern, was die Ver-anstalter bereit sind, dem Produzen-ten für seine Leistung zu bezahlen,und was dem Reproduzenten.

Dieses grobe Missverhältnis, dasin ähnlicher Form auch für den Lite-ratur- und Bildenden-Kunst-Bereichgilt, kann und konnte die GEMA, dieGesellschaft für musikalische Auf-führungs- und mechanische Verviel-fältigungsrechte, nicht aus der Weltschaffen. Ihre Aufgabe ist eine ande-re. Sie kümmert sich darum, dass,sobald Musik gespielt wird, der je-weilige Urheber auch etwas davonhat, dass sie aufgeführt wird, nämlichBares, damit er auch künftig Musikentwickeln und schreiben kann. Vielist das für das Gros der Komponis-ten leider nicht, bei den meistenreicht es nicht einmal, um die Kos-ten fürs eigene Begräbnis einzuspie-len. Aber das ist wie die finanzielleDisproportion zwischen Urheberund Interpret wieder eine andereFrage. Allerdings führt sie nun direktins Zentrum der GEMA-Praxis, näm-

lich zum Verteilungsschlüssel zwi-schen Komponist und seinem Verle-ger, den Textdichtern und ihren Ver-legern. Wobei hier nicht jeder der-selbe ist, selbst wenn er derselbenBerufsgruppe angehört. Es gibt un-terschiedliche Mitgliedschaften undhöchst komplex-komplizierte peku-niäre Aufteilungsmodalitäten dervon der GEMA treuhänderisch fürihre Mitglieder eingenommenen Auf-führungsgebühren. Sie zu begreifenist eine nie enden wollende Wissen-schaft für sich, ebenso wie die allesandere als geradlinig verlaufene Ge-schichte der musikalischen Verwer-tungsgesellschaften.

Für diejenige in Deutschland, die2003 ihren institutionell hunderts-ten Geburtstag begehen durfte, hatder Berliner MusikwissenschaftlerAlbrecht Dümling viele Jahre inten-siv geforscht und vor einigen Mona-ten ein äußerst beachtliches Buchvorgelegt. Seine umfangreiche Stu-die Musik hat ihren Wert berichtet be-merkenswert detailgenau vom jahr-hundertelangen Engagement derKomponisten für ihre Rechte, einbitterer Überlebenskampf, den nichtwenige nicht gewonnen haben.

Die mit zahlreichen Abbildungenausgestattete Publikation, die trotzihres mitunter sperrigen Gegen-stands – exakte juristische wie öko-nomische Darlegungen sind hierselbstredend unverzichtbar – sehrgut zu lesen ist und auch die dunk-len Kapitel der GEMA nicht ausspart– etwa ihre Rolle während des Na-tionalsozialismus –, ist ein wichtigesHandbuch für alle, die ihr Leben derErfindung von Musik verschriebenhaben, die mit ästhetischen Interven-tionen, mit musikalischen Kommen-taren der Gesellschaft neue, wegwei-sende Impulse verleihen.

Stefan Fricke

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MUSIK�ORUM82

MUSIK�ORUMVielstimmig…

ist der Kanon derer, die die „Unterbelich-tung“ des Musikunterrichts an nahezu allenSchultypen anprangern, die eine Wende imDenken der Gesellschaft (im Allgemeinen)und der verantwortlichen Bildungspolitiker(im Besonderen) fordern. Richtig so.Wichtig so. Die Initiativen des gerade ausdem Präsidentenamt geschiedenen Johan-nes Rau sind bekannt. Andere stoßen insgleiche Horn. Gemeinsam machen die Rek-torenkonferenz der Musikhochschulen und

diskutiert, den die Mädchen mobben undden ein paar Jungs in der Pause vermöbelthaben.“ Vorletzte Woche habe man nochdas heikle „Tüten-Thema“ behandelt –dieses verdächtige Asservat, das Robert an-geblich auf dem Schulhof im Mund gehabthaben soll. Jede dritte Musikstunde, sagtMax, wird zur Klassenleiterstunde umfunk-tioniert und „ausfallen tut Musik auch stän-dig“. Sie hätten irgendwelche Instrumenteim Schrank. Klanghölzer, kleine Trommeln.Verwendung hätten die noch nicht gefun-den. Gemeinsam singen? „Wenn überhaupt,

dann immer nur das gleiche Lied:Rock my soul – oder O du fröh-liche.“ Alles nicht so schlimm, sagtMax (schon wieder ironisch?).„Die Klassenlehrerin, die Musikgibt, hat das Fach eh nicht richtiggelernt“.

Soweit die (partielle) Wirklich-keit.

Macht es da nicht Hoffnung,dass viele kritische Stimmen undForderungen aus dem Ausbil-dungsbereich, von Verbänden undder Politik so unisono erklingen?Dass man sich im Grunde einigweiß in der Beseitigung der Defi-zite in der musikalischen Bildung?

Prima! Demnach wird die Misere ja in ab-sehbarer Zeit vom Tisch sein oder viel-mehr aus den Klassenzimmern verbannt,wird sich die deutsche Gesellschaft wiederihrer ausgeprägten Musikkultur bewusst,einem der wertvollsten und repräsentativs-ten Bereiche unseres Landes!

Ironie? Bittere Ironie.

Vielsprachig…ist die Musik allemal – Grenzen, religiöseGegensätze und Vokabelbarrieren über-windend. Das nächste MUSIKFORUMschaut – mit dem Fokusthema KulturelleIdentität und interkultureller Dialog –geografisch und kulturpolitisch über denTellerrand. Wir befassen uns – am Beispieldes Goethe-Instituts – mit der Auslandskul-turarbeit, sprechen mit Daniel Barenboimüber sein Musikerziehungsprogramm inRamallah und stürzen uns in den Karnevalder Kulturen.

Dieses und vieles mehr…Werner Bohl

DAS MAGAZIN DES DEUTSCHEN MUSIKRATS

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ISSN 0935–2562

© 2004 Schott Musik International, MainzPrinted in GermanyDas nächste MUSIKFORUM

erscheint am 15. Oktober 2004

die Deutsche Orchestervereinigung auf„eklatante Defizite“ durch den zunehmendsinkenden Stellenwert des UnterrichtsfachsMusik aufmerksam – eine Entwicklung, dieverknüpft sei mit einer Sichtweise vonErziehung, die auf bloße Ökonomie setze.Organisationen wie der Verband DeutscherSchulmusiker formieren sich, um den„Raubbau“ an der musikalischen Bildungzu stoppen. Selbst die angesprochene Poli-tik, von der ja gerade mehr Dynamik in derProblembewältigung erwartet wird, scheintmitzuziehen. So appellierte die Präsidentinder Kultusministerkonferenz, Staatsministe-rin Doris Ahnen, unlängst wieder an Schu-len, Elternhäuser und Kultureinrichtungen,Kinder und Jugendliche möglichst frühzei-tig bei der Ausbildung ihrer musischen undkünstlerischen Schlüsselkompetenzen zuunterstützen. Die Bundesregierung ihrer-seits will mit der Entwicklung der Ganz-tagsschule die ästhetischen Fächer fördern.

Soweit die Ansprüche.

Vielseitig…sei der Unterricht, sagt mein Sohn Max,auf das Fach „Musik“ am Gymnasium an-gesprochen. Er ist 13, seine Ironie kommtnoch unvermittelt. „Heute“, erklärt er,„haben wir in Musik die Sache mit Manuel