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Der Dispens von gesetzlichen Regelungen wirft im Steuerrechtbesondere Probleme auf. Grund dafür ist der Charakter desSteuerrechts. Das Steuerrecht ist die klassische Form staatlichenEingriffsrechts. Jeder staatliche Eingriff in die Rechtssphäre desBürgers bedarf nach dem Grundsatz des Vorbehalts des Geset-zes einer gesetzlichen Grundlage. Eine Steuer kann daher nurdann erhoben werden, wenn die Besteuerung durch formellesGesetz festgelegt ist. Aus dem Legalitätsprinzip und demGleichheitssatz des Art. 3 GG ergibt sich ferner, dass die Finanz-behörden nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sind,die gesetzlich geschuldeten Steuern zu erheben. Wenn somiteine Pflicht zur Erhebung gesetzlich geschuldeter Steuernbesteht, bedarf die Nichterhebung einer gesetzlich geschuldetenSteuer ebenfalls einer gesetzlichen Ermächtigung. Die gesetzli-chen Ermächtigungen stellen die Billigkeitsvorschriften derAbgabenordnung, insbesondere die §§ 163 und 227 AO dar.

Die vorliegende Dissertation bewegt sich in dem aufgezeig-ten Spannungsfeld zwischen der Verpflichtung der Vollziehungder Steuergesetze und der Ermächtigung zur Nichterhebungeiner tatbestandlich entstandenen Steuer. Ziel der Untersuchungist es, Kriterien zu entwickeln, um eine verfassungsrechtlichkorrekte Anwendung der §§ 163, 227 AO zu ermöglichen.

Timo Wilke wurde 1974 in Flensburg geboren. Nachdem Studium der Rechtswissenschaften in Konstanzlegte er 2001 die erste juristische Staatsprüfung ab. ImAnschluss daran erfolgte die Arbeit an der Dissertation.2002 bis 2004 war er als Referendar in Koblenz, Düssel-dorf und New York tätig. Im Jahre 2006 erfolgte diePromotion an der Ruprecht-Karls-Universität Heidel-berg. Seit 2004 ist Timo Wilke als Rechtsanwalt in Düs-seldorf und Frankfurt am Main tätig.

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ISBN 978-3-86504-198-2 34 EUR

UmschlagJuraweltWilke 17.09.2007 18:09 Uhr Seite 1

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Billigkeit im Steuerrecht

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Der Dispens von gesetzlichen Regelungen wirft im Steuerrechtbesondere Probleme auf. Grund dafür ist der Charakter desSteuerrechts. Das Steuerrecht ist die klassische Form staatlichenEingriffsrechts. Jeder staatliche Eingriff in die Rechtssphäre desBürgers bedarf nach dem Grundsatz des Vorbehalts des Geset-zes einer gesetzlichen Grundlage. Eine Steuer kann daher nurdann erhoben werden, wenn die Besteuerung durch formellesGesetz festgelegt ist. Aus dem Legalitätsprinzip und demGleichheitssatz des Art. 3 GG ergibt sich ferner, dass die Finanz-behörden nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sind,die gesetzlich geschuldeten Steuern zu erheben. Wenn somiteine Pflicht zur Erhebung gesetzlich geschuldeter Steuernbesteht, bedarf die Nichterhebung einer gesetzlich geschuldetenSteuer ebenfalls einer gesetzlichen Ermächtigung. Die gesetzli-chen Ermächtigungen stellen die Billigkeitsvorschriften derAbgabenordnung, insbesondere die §§ 163 und 227 AO dar.

Die vorliegende Dissertation bewegt sich in dem aufgezeig-ten Spannungsfeld zwischen der Verpflichtung der Vollziehungder Steuergesetze und der Ermächtigung zur Nichterhebungeiner tatbestandlich entstandenen Steuer. Ziel der Untersuchungist es, Kriterien zu entwickeln, um eine verfassungsrechtlichkorrekte Anwendung der §§ 163, 227 AO zu ermöglichen.

Timo Wilke wurde 1974 in Flensburg geboren. Nachdem Studium der Rechtswissenschaften in Konstanzlegte er 2001 die erste juristische Staatsprüfung ab. ImAnschluss daran erfolgte die Arbeit an der Dissertation.2002 bis 2004 war er als Referendar in Koblenz, Düssel-dorf und New York tätig. Im Jahre 2006 erfolgte diePromotion an der Ruprecht-Karls-Universität Heidel-berg. Seit 2004 ist Timo Wilke als Rechtsanwalt in Düs-seldorf und Frankfurt am Main tätig.

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ISBN 978-3-86504-198-2 34 EUR

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Tenea (‘η Τενεα), Dorf im Gebiet von Korinthan einem der Wege in die → Argolis, etwas s. desh. Chiliomodi. Sehr geringe Reste. Kult des Apol-lon Teneates. T. galt im Alt. sprichwörtl. als glück-lich, wohl wegen der Kleinheit […]Aus: K. Ziegler, W. Sontheimer u. H. Gärtner(eds.): Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike.Bd. 5, Sp. 585. München (Deutscher Taschen-buch Verlag), 1979.

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TIMO WILKE

Billigkeit im Steuerrecht

BRISTOL BERLIN

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TIMO WILKE

Billigkeit im Steuerrecht

(Juristische Reihe TENEA/www.jurawelt.com; Bd. 127)

Zugleich Ruprecht-Karls-Universität HeidelbergDissertation 2006

© TENEA VERLAG LTD., Bristol, Niederlassung DeutschlandBerlin 2007

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.Digitaldruck und Bindung:

docupoint GmbH · 39108 MagdeburgTENEA-Graphik: Walter Raabe, Berlin

Printed in Germany 2007

ISBN 978-3-86504-198-2

Gedruckt auf holzfreiem, säurefreiem,alterungsbeständigem Papier

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Für Ulli

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VII

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2006 von der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Die mündliche Prüfung fand am 3. Juli 2006 statt. Die Arbeit ist zum Zwecke der Veröffentlichung auf den Stand vom 01. Juli 2007 gebracht worden.

Mein besonderer und herzlicher Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Werner F. Ebke, LL.M., der die Untersuchung angeregt und betreut hat. Danken möchte ich auch dem Zweitgutachter, Prof. Dr. Ekkehart Reimer für die rasche Begutachtung meiner Arbeit. Der Universität Konstanz, an der ich die Arbeit begann, danke ich für die Aufnahme in die Graduiertenförderung des Landes Baden-Württemberg. Ganz herzlicher Dank gilt auch meinen Weggefährten und Freunden Dr. Nicolas Ott und Dr. Stephan Bahner sowie meiner Partnerin, Ulrike Poelk. Ihr möchte ich diese Arbeit widmen.

Frankfurt, im Juli 2007 Timo Wilke

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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis 1

Abkürzungsverzeichnis 8

Einleitung 11

1. Teil: Historische Entwicklung der Billigkeitsvorschriften im Steuerecht 13

A. Entwicklung bis zur RAO 1919 13

I. Erlass von Steuern als Gnadenrecht des Fürsten 13

II. Erste Ansätze einer Billigkeitsregelung in § 19 prEStG 1891 13

III. § 18 des preußischen Staatshaushaltsgesetzes von 1898 14

IV. Regelungen der Kriegssteuergesetze des Ersten Weltkrieges 15 1. Reichskriegsgesetz von 1916 15 2. Kriegsabgabengesetz von 1918 15 3. Kriegsabgabengesetz von 1919 16

B. Reichsabgabenordnung 1919 16

I. Ursprüngliche Fassung 16

II. Änderungen vom 1.12.1930 18

C. Abgabenordnung 1931 18

I. Konkret-individuelle Regelung in § 131 RAO 1931 18

II. Generell-abstrakte Regelungen in den §§ 12, 13 und 17 Abs. 2 RAO 19

III. Erlöschen der §§ 12, 13 und 17 Abs. 2 RAO 20

D. Neufassung der RAO von 1953 21

I. Ursprüngliche Fassung 21

II. Änderung von 1961 23

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III. Änderung von 1971 24

E. Entstehung der §§ 163 und 227 der AO 1977 24

I. Motive für die Neufassung der AO 25

II. Entstehung der AO 1977 25 1. Entwurf der Expertenkommission von 1969 25 2. Regierungsentwurf von 1971 (EAO 1974) 28 3. Stellungnahme des Bundesrates 30 4. Gegenäußerung der Bundesregierung 31 5. Verzögerung durch das vorzeitige Ende der Legislaturperiode 31 6. Beratungsergebnisse des Finanzausschusses (EAO 1977) 32 7. Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens 34

F. StMBG von 1993 35

G. Weitere Billigkeitsregelungen der AO 1977 36

I. Abweichende Festsetzung von Steuermessbeträgen gem. § 184 AO 36

II. Stundung gem. § 222 AO 37

III. Erlass von Stundungszinsen gem. § 234 Abs. 2 AO 37

IV. Erlass von Aussetzungszinsen gem. § 237 Abs. 4 i.V.m. § 234 Abs. 2 AO 37

V. Einstweilige Einstellung oder Beschränkung der Vollstreckung 38

VI. Aussetzung der Verwertung gem. § 297 AO 38

VII. Aussetzung der Vollziehung gem. § 361 Abs. 2 Satz 2 AO 38

2. Teil: Darstellung der Grundzüge der BFH-Rechtsprechung anhand von Fallgruppen und deren Würdigung 39

A. Erlass bei rechtskräftig oder bestandskräftig gewordenem Steuerbescheid 39

I. Darstellung der Problematik 39 1. Rechtskraft und Bestandskraft 39 2. Faktische Änderung eines bestandskräftigen Steuerbescheides im Billigkeitswege 43

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II. Rechtsprechung des BFH in der historischen Entwicklung 46 1. Ausgangspunkt „besondere Umstände“ 46 2. Konkretisierung der „besonderen Umstände“ 48

III. Aktuelle Position des BFH 52 1. Weiterentwicklung der Formel des BFH 52 2. Bedeutung des Grundsatzes von Treu und Glauben 54 3. Erlass bestandskräftig festgesetzter Steuern bei Änderungen der Rechtsprechung 55 4. Schätzungsfälle 60 5. Zusammenfassung zur Frage des Billigkeitserlasses bei bestandskräftigen Steuerbescheiden 62

IV. Bewertung dieser Grundsätze 63 1. Verfassungsrechtlicher Hintergrund 63 2. Betrachtung der Grundsätze des BFH im Zusammenhang der Abgabenordnung 71 3. Erlass bei einem Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben 74

V. Zusammenfassung 76

B. Erlass von Zinsen 77

I. Verzinsung von Steueransprüchen 77 1. Historische Entwicklung 77 2. Verzinsung gemäß der aktuellen Rechtslage 78 3. Bedeutung der Zinstypen im Rahmen des Billigkeitserlasses 80

II. Erlass von Stundungszinsen 81 1. Erste Äußerungen des BFH 81 2. Erlass nach § 234 Abs. 2 AO 81

III. Erlass von Aussetzungszinsen gem. § 237 Abs. 4 i.V.m. § 234 Abs. 2 AO 84 1. Erlass bei langer Verfahrensdauer 84 2. Auswirkungen des Grundes für die Erfolglosigkeit des Rechtsmittels auf den Erlass von Aussetzungszinsen 85 3. Zusammenfassung zur Anwendung der Billigkeit im Rahmen des § 237 Abs. 4 i.V.m. § 234 Abs. 2 AO 85

IV. Erlass von Nachforderungszinsen 86 1. Möglichkeit des Erlasses nach Auffassung des BFH 86 2. Zielrichtung der Verzinsung gem. § 233a AO nach Auffassung des BFH 87 3. Erlass von Nachforderungszinsen bei langer Bearbeitungszeit 90 4. Erlass bei verspäteter Festsetzung von Umsatzsteuer 92 5. Erlass bei Gewinnverschiebungen über die Schwelle des In-Kraft-Tretens des § 233a AO 94 6. Zusammenfassung zum Erlass von Nachforderungszinsen 95

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V. Zusammenfassung zum Erlass von Zinsen 96

VI. Bewertung der Haltung des BFH 96 1. Verfassungsrechtlicher Hintergrund 96 2. Erlass von Stundungszinsen 97 3. Erlass von Aussetzungszinsen 101 4. Erlass von Nachforderungszinsen 105

C. Erlass von Säumniszuschlägen 118

I. Entwicklung der gesetzlichen Regelung 119 1. Geschichte bis zur AO 1977 119 2. Regelungen der AO 1977 120

II. Anwendbarkeit der Billigkeitsvorschriften nach Ansicht des BFH 121

III. Erlass von Säumniszuschlägen in der Rechtsprechung des BFH 122 1. Äußerungen des BFH vor In-Kraft-Treten der AO 1977 122 2. Rechtsprechung des BFH nach In-Kraft-Treten der AO 1977 124 3. Zusammenfassung der Ansicht des BFH 135

IV. Bewertung dieser Grundsätze 136 1. Anwendbarkeit der Billigkeitsvorschriften auf Säumniszuschläge 136 2. Charakter und Intention der Säumniszuschläge 136 3. Einwirkungen des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes 140 4. Ergebnis der Untersuchung der Grundsätze des BFH zum Erlass von Säumniszuschlägen 145

D. Erlass von nach § 14 Abs. 3 UStG a. F. entstandener Umsatzsteuer 145

I. Darstellung des Problems 146 1. Allphasennettobesteuerung 146 2. Funktion der Steuerentstehung durch fehlerhaften Steuerausweis. 147 3. Problematische Fälle 149

II. Auffassung des BFH 149 1. Auffassung des BFH bis zum Vorlagebeschluss vom 15.Oktober 1998 149 2. Änderung dieser Grundsätze aufgrund der Rechtsprechung des EuGH 153 3. Zusammenfassung der Ansicht des BFH 164

III. Bewertung dieser Rechtsprechung 165 1. Verfassungsrechtliche Betrachtung 165 2. Bewertung vor dem europarechtlichen Hintergrund 169 3. Bewertung bei Betrachtung des einfachen Gesetzes 172 4. Ergebnis der Bewertung der Auffassung des BFH zum Erlass von nach § 14 Abs. 3 UStG a. F. entstandener Umsatzsteuer 173

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E. Erlass von Umsatzsteuer im Falle der Insolvenz 173

I. Darstellung der Fälle 173

II. Ansicht des BFH 173

III. Zusammenfassung 174

IV. Bewertung dieser Auffassung 174

F. Bedeutung von Verwaltungsanweisungen für den Billigkeitserlass 175

I. Grundlegendes zur Rechtsnatur der Verwaltungsvorschriften 175

II. Typisierung der Verwaltungsvorschriften 176 1. Organisationsvorschriften 176 2. Norminterpretierende Verwaltungsvorschriften 176 3. Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften 177 4. Typisierende Verwaltungsvorschriften 178 5. Ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften 178

III. Im Rahmen der §§ 163, 227 AO erlassene Verwaltungsanweisungen als Ermessensrichtlinien 179

1. Billigkeitsvorschriften als Koppelungsvorschriften oder einheitliche Ermessensnormen? 179 2. Erheblichkeit des Meinungsstreites? 182

IV. Die Wirkung der zu den Billigkeitsregelungen ergangenen Verwaltungsvorschriften in der Rechtsprechung des BFH 184

1. Darstellung der Fallgruppen 184 2. Ausgangspunkt der Rechtsprechung 184 3. Weitere Entwicklung der Rechtsprechung zu diesem Problem im Rahmen des § 131 RAO 186 4. Aktuelle Rechtsprechung des BFH zu den Verwaltungsvorschriften im Rahmen der §§ 163, 227 AO 194 5. Zusammenfassung zur Ansicht des BFH 199

V. Bewertung dieser Ansicht 199 1. Verfassungsrechtliche Wertungen 199 2. Überprüfung der Auffassung des BFH anhand dieser Grundsätze 201

G. Erlass von Einkommensteuer aufgrund erhöhter Lebenshaltungskosten 204

I. Darstellung der zugrunde liegenden Fallsituation 204 1. Exklave Büsingen 204 2. Behandlung des Problems durch die Finanzverwaltung 205

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II. Ansicht des BFH 205

III. Bewertung dieser Auffassung 206 1. Grundrechtlicher Hintergrund: Art. 3 GG 206 2. Wertungen des Einkommensteuerrechts 207 3. Bedeutung dieser Grundlagen für den Erlass von Einkommensteuer aufgrund erhöhter Lebenshaltungskosten 207 4. Ergebnis 209

H. Erlass von Steuern aus persönlichen Billigkeitsgründen 209

I. Darstellung der Problematik 209 1. Darstellung der Fallgruppen 210 2. Persönliche Unbilligkeit in Abgrenzung zur sachlichen Unbilligkeit 210

II. Auffassung des BFH zu diesem Komplex 210 1. Ausgangspunkt der Rechtsprechung 210 2. Weitere Entwicklung der Rechtsprechung 212 3. Aktuelle Rechtsprechung des BFH zur persönlichen Unbilligkeit 215

III. Bewertung der Grundsätze des BFH 235 1. Verfassungsrechtlicher Hintergrund 235 2. Bedeutung der Pfändungsschutzvorschriften für den Schutz des Existenzminimums 241 3. Prüfung der Grundsätze des BFH an den verfassungsrechtlichen Maßstäben 242

3. Teil: Entwicklung von Kriterien zur Anwendung der §§ 163 und 227 AO 250

A. Billigkeitsgedanke in seiner historischen Entwicklung 250

I. Billigkeit in der Antike 250 1. Aristoteles und die griechische έπιείκεια (epieikeia) 250 2. Aequitas im römischen Recht 251 3. Zusammenfassung 253

II. Billigkeit im Mittelalter 253 1. Einfluss der Billigkeit 253 2. Begriff der Billigkeit 253 3. Zusammenfassung 254

III. Billigkeit in der Neuzeit 254 1. Kant 255 2. Hegel 255 3. Schopenhauer 256 4. Nietzsche 256 5. Zusammenfassung 257

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IV. Billigkeit im 20. Jahrhundert 257 1. Rümelin 257 2. Binder 258 3. Hering 258 4. Radbruch 259 5. Esser 259 6. Zippelius 260 7. Zusammenfassung 260

V. Zusammenfassung der historischen Betrachtung 260

B. Billigkeitsregelungen in der Rechtsprechung des BVerfG 261

I. Typisierung durch den Gesetzgeber im Steuerrecht 261

II. Billigkeitserlass als Korrektiv der Typisierung im Steuerrecht 262

III. Zusammenfassung 263

C. Konzept der Billigkeit des BFH 263

I. Konzept der sachlichen Unbilligkeit des BFH 263

II. Konzept der persönlichen Unbilligkeit des BFH 265

D. Kriterien für die verfassungsrechtlich korrekte Anwendung der §§ 163, 227 AO 265

I. Kriterien für sachliche Billigkeitsgründe 265 1. Wertungen des Gesetzes 266 2. Überhang des gesetzlichen Tatbestandes über die gesetzlichen Wertungen 267 3. Korrektur bei verfassungswidrigen Ergebnissen im Einzelfall 268 4. Besteuerung nur bei Übereinstimmung von Tatbestand und Wertung des Gesetzes 269

II. Kriterien für persönliche Billigkeitsgründe 269

Literaturverzeichnis 271

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Abkürzungsverzeichnis

Abs. Absatz AfA Absetzung für Abnutzung Anm. Anmerkung AöR Archiv des öffentlichen Rechts AO Abgabenordnung Art. Artikel a. F. alte Fassung BB Betriebs-Berater Bd. Band BFH Bundesfinanzhof BFHE Sammlung der Entscheidungen des BFH BFH/NV Sammlung amtlich nicht veröffentlichter

Entscheidungen des Bundesfinanzhofes BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGBl. Bundesgesetzblatt BGH Bundesgerichtshof BlStSozArbR Blätter für Steuerrecht, Sozialversicherung und BR-Berichte Stenographische Berichte der Verhandlungen des

Bundesrats BR-Drucksache Drucksache des Bundesrats BStBl. Bundessteuerblatt BT-Berichte Stenographische Berichte der Verhandlungen des

Bundestages BT-Drucksache Drucksache des Bundestages BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfG Bundesverfassungsgerichtsgesetz BVerwG Bundesverwaltungsgericht BVerwGE Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts DB Der Betrieb DÖV Die öffentliche Verwaltung Dok Dokumentation DStR Deutsches Steuerrecht DStZ Deutsche Steuer-Zeitung (Ausgabe A) DVBl. Deutsches Verwaltungsblatt EAO Entwurf der Abgabenordnung EFG Entscheidungen der Finanzgerichte EG Europäische Gemeinschaft

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EGV Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft

EMRK Europäische Menschenrechtskonvention ErbStG Erbschaftssteuergesetz EStG Einkommensteuergesetz etc. et cetera EU Europäische Union EuGH Europäischer Gerichtshof EuGH Slg. Sammlung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes f folgend ff folgende FG Finanzgericht FGO Finanzgerichtsordnung FN Fußnote FR Finanz-Rundschau FS Festschrift FVG Gesetz über die Finanzverwaltung gem. gemäß GG Grundgesetz GmbH Gesellschaft mit begrenzter Haftung HFR Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung Hrsg. Herausgeber InsO Insolvenzordnung i.e. id est i.V.m. in Verbindung mit JuS Juristische Schulung JZ Juristenzeitung KStG Körperschaftsteuergesetz KStZ Kommunale Steuer-Zeitschrift lit. litera (=Buchstabe) MüKoAG Münchener Kommentar zum Aktiengesetz m.w.N. mit weiteren Nachweisen n. F. neue Fassung NJW Neue juristische Wochenschrift Nr. Nummer NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NWB Neue Wirtschaftsbriefe

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prEStG preußisches Einkommensteuergesetz RAO Reichsabgabenordnung Rdnr. Randnummer RFH Reichsfinanzhof RGBl. Reichsgesetzblatt RiA Das Recht im Amt Rs. Rechtsache S. Seite Slg. Sammlung s.o. siehe oben Sp. Spalte StB Der Steuerberater StbJb Steuerberaterjahrbuch StBP Die steuerliche Betriebsprüfung StKongrRep Steuerberaterkongress-Report StMBG Steuermißbrauchsbekämpfungs- und

Bereinigungsgesetz StuW Steuer und Wirtschaft UR Umsatzsteuer-Rundschau UStG Umsatzsteuergesetz UVR Umsatz- und Verkehrsteuer-Recht v. vom VerwA Verwaltungsarchiv (zitiert nach Bänden) vgl. vergleiche VwVfG Verwaltungsverfahrensgesetz WRV Weimarer Reichsverfassung ZEV Zeitschrift für Erbrecht und Vermögensnachfolge ZfZ Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern ZPO Zivilprozessordnung

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Einleitung

Der Dispens von gesetzlichen Regelungen wirft im Steuerrecht besondere Probleme auf1. Grund dafür ist der Charakter des Steuerrechts. Das Steuerrecht ist die klassische Form staatlichen Eingriffsrechts. Jeder staatliche Eingriff in die Rechtssphäre des Bürgers bedarf nach dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes, der sich aus Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG ergibt, einer gesetzlichen Grundlage2. Eine Steuer kann daher nur dann erhoben werden, wenn die Besteuerung durch formelles Gesetz festgelegt ist3. Aus dem Legalitätsprinzip und dem Gleichheitssatz des Art. 3 GG ergibt sich ferner, dass die Finanzbehörden nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sind, die gesetzlich geschuldeten Steuern zu erheben4. Der Grundsatz des steuergesetzlichen Anwendungsgebots ist einfachgesetzlich in § 85 AO festgelegt. Wenn somit eine Pflicht zur Erhebung gesetzlich geschuldeter Steuern besteht, bedarf die Nichterhebung einer gesetzlich geschuldeten Steuer ebenfalls einer gesetzlichen Ermächtigung5. Die gesetzlichen Ermächtigungen stellen die Billigkeitsvorschriften der Abgabenordnung, insbesondere die §§ 163 und 227 AO dar. Die Korrektur kann aus zwei Gründen in Betracht kommen. Ein Dispens von steuerlichen Vorschriften kann vorgenommen werden, wenn die Einziehung der Steuer im Einzelfall den gesetzlichen Wertungen widerspricht6. In diesen Fällen wird allgemein von sachlicher Unbilligkeit oder sachlichen Billigkeitsgründen gesprochen. Billigkeitsgründe können sich aber auch aus den persönlichen, vor allem den wirtschaftlichen Verhältnissen des Steuerpflichtigen ergeben7. In diesen Konstellationen liegen persönliche Billigkeitsgründe vor.

Die vorliegende Dissertation bewegt sich in dem aufgezeigten Spannungsfeld zwischen der Verpflichtung der Vollziehung der Steuergesetze und der Ermächtigung zur Nichterhebung einer tatbestandlich entstandenen Steuer. Ziel der nachfolgenden Untersuchung ist es, Kriterien zu entwickeln, um eine verfassungsrechtlich korrekte Anwendung der §§ 163, 227 AO zu ermöglichen. Das Vorgehen soll dabei jedoch nicht eine deduktive Analyse der gesetzlichen Normen sein. Vielmehr geht die Untersuchung 1 Allgemein dazu und zum Vergleich des Dispenses im Allgemeinen Verwaltungsrecht und im

Steuerrecht Becker, Steuererlass, S. 10 ff. 2 Teilweise wird als Begründung für den Grundsatz vom Gesetzesvorbehalt auch auf das

Rechtsstaatsprinzip zurückgegriffen, vgl. zum Ganzen Tipke, Steuerrechtsordnung S. 126 f.; Becker, Steuererlass, S. 128 ff; Kirchhof, FS Kruse, S. 17 (18 f.).

3 Vgl dazu Tipke/Lang, § 4 Rdnr. 150 ff.; Tipke, Steuerrechtsordnung S. 120. 4 Von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 30; Tipke/Kruse, § 85 AO Rdnr. 6

m.w.N. 5 Von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 30; BVerwG vom 18. April 1975,

VII C 15.73 in BStBl II 1975, 679 (681); Becker, Steuererlass, S. 130; Tipke, Steuerrechtsordnung S. 130; Tipke/Kruse, § 227 Rdnr. 2 m.w.N; vgl. dazu auch Kirchhof, FS Kruse, S. 17 (18 f.)

6 Von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 126. 7 Von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 131 ff.

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induktiv vor. Allerdings lässt sich die induktive Vorgehensweise nicht in letzter Konsequenz durchhalten, weil bei der Überprüfung der zugrunde liegenden gesetzlichen Wertungen eine deduktive Ableitung aus abstrakten Normen unerlässlich ist.

Zu Beginn der Arbeit wird die historischen Entwicklung der Billigkeitsvorschriften nachgezeichnet. Anschließend soll anhand einiger ausgewählter Fallgruppen herausgearbeitet werden, in welcher Weise der BFH von dem Instrument der Billigkeitskorrektur Gebrauch macht. Die Auswahl der Fallgruppen orientiert sich an deren praktischer Relevanz, die sich unter anderem an der Anzahl der zu dem jeweiligen Themenkomplex ergangenen Entscheidungen ablesen lässt. Ein weiteres Kriterium für die Auswahl der Fallgruppen ist die Bedeutung der jeweiligen Fallgruppe für das Konzept der Billigkeit des BFH. Anhand der Fallgruppen soll untersucht werden, inwieweit die Rechtsprechung den Vorgaben des Grundgesetzes und der einfachen Gesetze entspricht. Abschließend wird - ausgehend vom Billigkeitsgedanken in seiner historischen Entwicklung und der Auffassung des BVerfG - analysiert, welches Konzept der Billigkeit der Rechtsprechung des BFH zugrunde liegt und welche Kriterien eine korrekte Anwendung der Billigkeitsvorschriften gewährleisten können.

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1. Teil: Historische Entwicklung der Billigkeitsvorschriften im Steuerrecht

Betrachtet werden soll die historische Entwicklung steuergesetzlicher Normen, die Billigkeitserwägungen zulassen.

A. Entwicklung bis zur RAO 1919

Zunächst wird die Entwicklung bis zum Inkrafttreten der RAO im Jahre 1919 dargestellt.

I. Erlass von Steuern als Gnadenrecht des Fürsten

In der Rechtsanwendung galt seit Beginn der Neuzeit der aus dem kanonischen Recht stammende Grundsatz, dass Befreiung von gesetzlichen Vorschriften nur gewähren kann, wer befugt ist, die Normen ganz aufzuheben8. Da zwischen den Rechten des Staates und den Rechten des Landesherrn bis ins 18. Jahrhundert hinein nicht unterschieden wurde, stand dem Monarchen das Recht zu, auf Ansprüche des Staates zu verzichten9. Das „Gnadenrecht“10 umfasste auch den Verzicht auf Steueransprüche11. Das Gnadenrecht beschränkte sich aber nicht auf das Steuerrecht, vielmehr war es dem Fürsten als Souverän möglich, von abstrakten Gesetzen im Gnadenwege einen Dispens zu erteilen.

II. Erste Ansätze einer Billigkeitsregelung in § 19 prEStG 1891

Mit der „Konstitutionswelle“ Anfang und Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sich die Auffassung durch, dass es zur Befreiung gesetzlich angeordneter Rechtsfolgen einer Ermächtigung durch die Legislative bedarf12. Umstritten war daher im Jahre 1890 die Befugnis des preußischen Königs, mit dem „Lucius´schen Stempelerlaß“ einem

8 Mussgnug, S. 39 m.w.N. 9 Laband., AöR Bd. 6 (1891), 169 (175); Mussgnug, S. 49. 10 Zum umstrittenen Verhältnis zwischen Billigkeitserlass und Gnadenrecht kann hier nicht näher

eingegangen werden. Vgl. dazu von Bodungen, S. 156 ff.; Waiblinger, S. 4 ff.; Rödel, S. 20 ff. 11 Laband., AöR Bd. 6 (1891), 169 (171). 12 Mussgnug, S. 47 ff.

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scheidenden Minister Stempelsteuern zu erlassen13. Die dadurch verursachten Diskussionen14 waren eine Voraussetzung dafür, dass 1891 im Rahmen der „Miquel´schen Steuerreform15“ die Befugnis zur Befreiung von Steuern explizit normiert wurde16. § 19 des prEStG sah daher Folgendes vor: „Bei der Veranlagung ist es gestattet, besondere, die Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen wesentlich beeinträchtigende Verhältnisse in der Art zu berücksichtigen, daß bei einem steuerpflichtigen Einkommen von nicht mehr als 9.500,- Mark eine Ermäßigung der im § 17 vorgeschriebenen Steuersätze um höchstens 3 Stufen gewährt wird.“17. Die historische Vorschrift kann allerdings nicht ohne weiteres als Vorgängerin der §§ 163, 227 AO bezeichnet werden, auch wenn sie als Ermessensnorm formuliert ist. Geregelt wird vielmehr die Berücksichtigung außergewöhnlicher Belastungen im Rahmen der Festsetzung des Einkommensteuertarifs. § 19 des preußischen EStG 1891 ist daher Vorgängerin des heutigen § 33 EStG. Im Laufe der Entwicklung sind allerdings die Ermessensbestandteile und Billigkeitselemente im Rahmen der Ermittlung außergewöhnlicher Belastungen durch konkrete Tatbestandsmerkmale ersetzt worden18. Die im Rahmen des § 19 des preußischen EStG zu erfolgende Berücksichtigung der Verhältnisse im Einzelfall und die Ausgestaltung als Ermessensnorm lassen allerdings eine deutliche Koinzidenz mit den Billigkeitsnormen der aktuellen AO erkennen. Unter diesem Gesichtspunkt ist der § 19 des preußischen EStG zumindest in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht als Grundlage der späteren allgemeinen Korrekturnormen zu betrachten.

III. § 18 des preußischen Staatshaushaltsgesetzes von 1898

Nach § 18 des preußischen Staatshaushaltsgesetzes von 1898 konnte „von der Einziehung dem Staate zustehender Einnahmen im einzelnen Falle und nur aufgrund einer durch gesetzliche oder durch Königliche Bestimmung erteilten Ermächtigung abgesehen19“ werden. Ebenso wie § 19 des prEStG ist diese Regelung als Ermessensvorschrift ausgestaltet. Im Unterschied zu jener galt die Norm nicht nur für die Einkommensteuer, sondern für alle an den Staat zu entrichtenden Abgaben. Der Geltungsbereich stimmt daher mit dem der §§ 163, 227 AO 1977 überein. Obwohl die Erlassmöglichkeit nicht von Voraussetzungen wie Unbilligkeit oder einer besonderen 13 Von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 1; Isensee, FS Flume, S. 129 (129 f);

ausführlich dazu Pernice, S. 147 f; Stein, S. 4 ff. 14 Vgl. zur Auseinandersetzung der Fachliteratur mit diesem Thema Bornhak, AöR Bd. 7 (1892), 311

(311 ff.), der in dem Erlass eine Kompetenzüberschreitung sieht, und Laband., AöR Bd. 6 (1891), 169 (175 ff.), der die Kompetenz des Monarchen aus dem Gnadenrecht ableitet.

15 Allgemein zur Miquel´schen Steuerreform vgl. Großfeld, S. 44 ff. 16 Von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 1. 17 Gesetzessammlung für die Königlich Preußischen Staaten, 1891, 174 (184). 18 Vgl. Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, § 33 EStG Rdnr. 9. 19 Gesetzessammlung für die Königlich Preußischen Staaten, 1898, 77.

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Härte abhängt, ist § 18 des preußischen Staatshaushaltsgesetzes daher als direkter Vorgänger der modernen Billigkeitsregelungen zu bezeichnen.

IV. Regelungen der Kriegssteuergesetze des Ersten Weltkrieges

Dem erhöhten staatlichen Finanzbedarf während des Krieges wurde mit einer Erhöhung der Einkommensteuersätze durch die Bundesstaaten begegnet20, bei denen zunächst die Einkommensteuerhoheit verblieben war21. Das Reich führte, da die Zuwendungen der Bundesstaaten mit steigenden Kriegskosten den Haushalt nicht mehr zu decken vermochten, zusätzlich mit dem Kriegssteuergesetz eine eigene Reichskriegsabgabe ein. Da die Steuerbelastung der Bürger dadurch zunahm, wurden auch endemische Ungerechtigkeiten sichtbar.

1. Reichskriegsgesetz von 1916

Das Reichskriegsgesetz vom 21. Juni 191622 sah daher in § 36 vor, dass „der Bundesrat zur Vermeidung besonderer Härten auf Antrag eines Steuerpflichtigen einzelne außerordentliche Vermögensanfälle von der Abgabe befreien oder eine anderweitige Berechnung des Vermögenszuwachses oder Mehrgewinns bewilligen kann.“23 Diese Regelung erlaubt nur den Erlass der Kriegsabgabe und stellt somit keine allgemeine Billigkeitsregelung dar. Eine Weiterentwicklung im Vergleich zu den Regelungen des preußischen EStG stellt diese Norm aber insoweit dar, als sie den Erlass nicht nach freiem Ermessen zulässt, sondern Voraussetzungen des Erlasses nennt: Ein Steuererlass soll nur bei Vorliegen von „besondere Härten“ in Betracht kommen.

2. Kriegsabgabengesetz von 1918

Im Kriegsabgabengesetz 1918 vom 26. Juli 191824 wurde die Erhebung weiterer Kriegsabgaben festgelegt. Für dieses Gesetz wurde ebenfalls eine spezielle Billigkeitsregelung geschaffen. Nach § 40 Abs. 1 Satz 1 konnte der „Bundesrat auf Antrag zur Vermeidung besonderer Härten eine von den Vorschriften dieses Gesetzes abweichende Berechnung des Mehreinkommens und Mehrgewinns unter billiger Berücksichtigung der tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnisse eines 20 Ketterle, S. 72 ff; vgl. dazu auch die Darstellung bei Großfeld, S. 48. 21 Erst mit dem Reichseinkommensteuergesetz vom 29. März 1920 ging die Einkommensteuerhoheit

auf das Reich über, vgl. Ketterle, S. 202 ff. 22 RGBl. 1916, 561 ff. 23 RGBl. 1916, 561 (571). 24 RGBl. 1918, 964.

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Abgabepflichtigen genehmigen25“. Inhaltlich stimmte die Regelung mit der des Reichskriegsgesetzes von 1916 weitgehend überein. Bedeutend in der Entwicklung ist allerdings die Einfügung des Terminus der „Billigkeit“, der einen weiteren Schritt in Richtung der Billigkeitsregelungen der AO 1977 darstellt.

3. Kriegsabgabengesetz von 1919

Mit dem Kriegsabgabengesetz26, das am 10. September 1919 von der verfassungsgebenden Nationalversammlung beschlossen wurde, sollten die noch ausstehenden Kriegs- und Kriegsfolgekosten beseitigt werden. In § 35 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes27 war eine Billigkeitsbestimmung enthalten. Diese war mit dem § 40 Abs. 1 Satz 1 des Kriegsabgabengesetzes des Vorjahres deckungsgleich. Die Zuständigkeit lag allerdings nicht mehr beim Bundesrat; vielmehr hatte gem. § 35 Abs. 2 die oberste Landesfinanzbehörde im Einvernehmen mit dem Reichsminister der Finanzen den Antrag zu bescheiden28.

B. Reichsabgabenordnung 1919

Mit Erlass der Reichsabgabenordnung von 191929 wurde das erste Mal eine einheitliche Regelung des allgemeinen Abgabenrechts geschaffen. Diese umfasste auch eine Kodifizierung von Billigkeitsmaßnahmen.

I. Ursprüngliche Fassung

Bis zum Ersten Weltkrieg standen dem Reich nur Zölle und indirekte Steuern zu30. Aus dem sich daraus ergebenden Steueraufkommen konnte das Reich seinen Finanzbedarf nur zu einem geringen Teil decken31. Es war daher auf Zuwendungen der Partikularstaaten angewiesen, die auch die gesamte Steuerverwaltung durchführten32. Dieser Umstand wurde als Problem erkannt. In der neuen Reichsverfassung wurde dem Reich in Art. 8 die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz bezüglich sämtlicher Steuern zugesprochen. Der Bundesstaat konnte demnach die Steuergewalt der Länder

25 RGBl. 1918, 964 (973). 26 RGBl. 1919, 1567. 27 RGBl. 1919, 1567 (1576). 28 Vgl. § 40 Abs. 2 Kriegsabgabengesetz, RGBl. 1919, 1567 (1577). 29 Grundlegend zur Entstehung der RAO 1919 Cordes, S. 1 ff. 30 Becker, Reichsabgabenordnung, S. 1; Cordes, S. 13 ff. 31 Cordes, S. 14. 32 Becker, Reichsabgabenordnung, S. 1; Cordes, S. 14.

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quasi unbeschränkt an sich ziehen und musste lediglich die finanzielle Überlebensfähigkeit der Länder garantieren33. Die Zentralgewalt machte von dieser Befugnis regen Gebrauch: unter Finanzminister Erzberger traten in nur neun Monaten 16 Steuergesetze in Kraft34. Bedeutsam für das Steueraufkommen waren die besonderen Steuergesetze, so das EStG 1920 und das neugeschaffene Körperschaftssteuergesetz. Die zunächst noch bestehende Verwaltung der Reichssteuern durch die Bundesstaaten erwies sich als ineffektiv35. Daher wurde dem Reich die Kompetenz zur Regelung des Verfahrens36 und zum Aufbau einer eigenen Verwaltung37 zugestanden. Schließlich wurde mit der RAO eine erste reichseinheitliche Regelung des allgemeinen Abgabenrechts erlassen.

In § 108 der RAO 1919 waren die Billigkeitsmaßnahmen geregelt. Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 konnte der Reichsminister der Finanzen „für einzelne Fälle Steuern, deren Einziehung nach Lage der Sache unbillig wäre, ganz oder zum Teil erlassen oder in solchen Fällen die Erstattung oder Anrechnung bereits entrichteter Steuern verfügen.“38 Die Zuständigkeit konnte gem. § 108 Abs. 1 Satz 2 auch auf die Landesfinanzämter und die Finanzämter übertragen werden. Diese Regelung entspricht schon im Wesentlichen der in den heutigen §§ 163, 227 AO. Die Unbilligkeit ist Voraussetzung des Erlasses, es wird konkret-individuell auf die Lage des einzelnen Falles abgestellt und die Norm gibt durch die Formulierung „kann“ einen Ermessensspielraum. § 108 Abs. 2 AO 1919 gab dem Reichsminister der Finanzen die Befugnis, „für Fälle bestimmter Art mit Zustimmung des Reichsrats aus Billigkeitsgründen allgemein Befreiungen oder Ermäßigungen von Steuern“ vorzusehen. Die ausdrückliche Regelung über die Möglichkeit, generell-abstrakte Richtlinien zur Anwendung des Erlasses aufzustellen, wurde noch in den § 131 Abs. 2 der RAO von 195339 übernommen. Die AO 1977 kennt eine solche ausdrückliche Normierung nicht mehr. Dennoch ist unbestritten, dass auch im aktuellen Rechtszustand die Finanzverwaltung als Bestandteil ihrer Ermessensausübung Richtlinien zur Anwendung des Billigkeitserlasses aufstellen kann40. Ein Unterschied besteht allerdings in den Rechtswirkungen der nach § 108 Abs. 2 AO 1919 vom Reichsminister erlassenen Regelungen. Diese hatten Gesetzeskraft; sie gaben dem Steuerpflichtigen ein einklagbares subjektives Recht auf den Dispens41.

33 Anschütz, S. 83 f. 34 Huchatz/Daenner in Hermann/Heuer/Raupach, Dok. 1 zum EStG Rdnr. 4. 35 Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Einführung AO, Rdnr. 1 ff. 36 Anschütz, S. 84. 37 Vgl. Art. 14 WRV, dazu Anschütz, S. 83 f und S. 109 ff. 38 RGBl. 1919, 1993 (2018). 39 BGBl. 1953, 501 ff. 40 Von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 202; BFH v. 7.5.1981, VII R 64/79 in

BStBl. II 1981, 608 (609 f) = BFHE 133, 262; Tipke/Kruse, § 227 AO Rdnr. 126 m.w.N. 41 Becker, Reichsabgabenordnung, § 108 Anm. 5, S. 257; RFH v. 11. Januar 1922, V A 126/21 in

RFHE 8, 45 (48); dazu Rödel, S. 32.

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II. Änderungen vom 1.12.1930

Durch die auf Art. 48 Abs. 2 WRV gestützte Verordnung der Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen42 wurde der § 108 AO 1919 modifiziert. Mittels eines Klammerzusatzes wurde in § 108 Abs. 1 ausdrücklich festgelegt, dass ein Erlass aus Billigkeitsgründen nicht nur in Einzelfällen, sondern „auch für eine Mehrheit von einzelnen Fällen, wie bei Unwetterschäden oder sonstigen Notfällen43“gewährt werden kann. Außerdem wurde im zweiten Absatz die Befugnis des Reichsministers der Finanzen zur Festlegung von allgemeinen Billigkeitsvorschriften konkretisiert. Diese Regelung stellte einen Vorläufer der ein halbes Jahr später in Kraft getretenen überarbeiteten RAO dar, in der die Formulierungen im Wesentlichen übernommen wurden.

C. Abgabenordnung 1931

In der am 22.5.1931 erlassenen RAO44, die ihre Grundlage in derselben Verordnung des Reichspräsidenten fand wie die Änderung der AO 191945, wurde der Regelungsgehalt des alten § 108 AO auf zwei Normen verteilt.

I. Konkret-individuelle Regelung in § 131 RAO 1931

§ 131 Abs. 1 RAO 1931 war identisch mit § 108 Abs. 1 Satz 1 der AO in der Fassung von 1930, er lautete: „Der Reichsminister der Finanzen kann für einzelne Fälle (auch für eine Mehrheit von einzelnen Fällen, wie bei Unwetterschäden oder sonstigen Notständen) Reichssteuern, deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre, ganz oder zum Teil erlassen oder in solchen Fällen die Erstattung oder Anrechnung bereits entrichteter Reichssteuern verfügen.“46 Die Absätze zwei und drei entsprachen den Sätzen 2 und 3 des § 108 Abs. 1 in der Fassung von 1919 und regelten das Verfahren beim Erlass und die Befugnis des Reichsfinanzministers, seine Erlasskompetenz auf die Finanzämter zu übertragen. 1936 wurde in § 131 RAO durch das Einführungsgesetz zu den Realsteuergesetzen47 ein Absatz 3 eingefügt; der alte Absatz 3 wurde damit zu Absatz 448. Der Finanzminister konnte nach dieser Regelung

42 RGBl. I 1930, 517. 43 RGBl. I 1930, 517 (555). 44 RGBl. I 1931, 161 ff. 45 „Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen“ vom 1.12.1930,

RGBl. I 1930, 517. 46 RGBl. I 1931, 161, 180. 47 RGBl. I 1936, 961 ff. 48 RGBl. I 1936, 961 (969).

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mit Zustimmung des Reichsministers der Justiz Richtlinien für den Erlass der Grundsteuer aufstellen.

II. Generell-abstrakte Regelungen in den §§ 12, 13 und 17 Abs. 2 RAO

In § 13 der AO 193149, der dem § 108 Abs. 2 der AO in der geänderten Fassung von 1930 entsprach, wurde die Befugnis des Reichsministers der Finanzen zum Erlass allgemeiner Billigkeitsanordnungen geregelt: „Für bestimmte Arten von Fällen kann der Reichsminister der Finanzen mit Zustimmung des Reichsrats aus Billigkeitsgründen allgemein anordnen, daß abweichend von den Vorschriften des Reichsrechts

1. von Reichssteuern Befreiung gewährt wird oder Steuern niedriger festgesetzt werden; 2. von Realsteuern Befreiung gewährt wird oder die Steuermeßbeträge für die Gewerbesteuer niedriger festgesetzt werden; 3. die Besteuerungsgrundlagen für die Besteuerung nach dem Einkommen, dem Ertrage, dem Vermögen oder dem Umsatz niedriger festgestellt werden.“

Die Vorschrift gab dem Reichsfinanzminister also das Recht, zugunsten des Steuerpflichtigen von Steuergesetzen abzuweichen. Dafür war zunächst allerdings noch die Zustimmung des Reichsrats erforderlich. Die Zustimmungsbedürftigkeit als Bestandteil föderaler Rechte der Länder wurden mit dem „Gesetz zum Neuaufbau des Reiches“ vom 30. Januar 193450 obsolet, da nach Art. 2 Absatz 1 dieses Gesetzes die Hoheitsrechte der Länder auf das Reich übergingen51. Daneben ermächtigte § 12 den Reichsfinanzminister, zur Durchführung der Reichssteuergesetze Durchführungs-, Ausführungs- und Übergangsbestimmungen zu erlassen52. Diese Vorschrift wurde mit § 21 Ziffer 3 des Steueranpassungsgesetzes vom 16. Oktober 1934 geändert. Nach Satz 2 der geänderten Vorschrift umfasste die Norm auch die Befugnis, Bestimmungen zum Umfang von Steuerbefreiungen oder Ermäßigungen zu schaffen53.

Teilweise überschnitten sich daher die Anwendungsbereiche der §§ 12 und 13 in der Fassung des Steueranpassungsgesetzes von 1934. Der Unterschied bestand darin, dass sich Anordnungen nach § 12 im Rahmen der Gesetze halten mussten, während nach § 13 auch vom Gesetz abgewichen werden konnte54. Diese Abweichung konnte aber nur zugunsten des Steuerzahlers erfolgen55. Außerdem entnahm der Reichsminister

49 RGBl. I 1931, 161 (162). 50 RGBl. I 1934, 75. 51 Dies geschah nicht, wie Dyckhoff annimmt, mittels § 21 Ziffer 4 des Steueranpassungsgesetzes, da

dort ein anderer Fall geregelt wird; vgl. Dyckhoff, S. 7. 52 RGBl. I 1931, 161 (162). 53 RGBl. I 1934, 925 (929); vgl. Dyckhoff, S. 7. 54 Von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 7; Mattern/Wittneben, S. 29; Dyckhoff,

S. 7 f. 55 Dyckhoff, S. 8; Mattern/Wittneben, S. 29; Rödel, S. 36.

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der Finanzen dem § 17 Abs. 2 der AO 193156, der dem Reichsfinanzminister die oberste Leitung über die Finanzverwaltung zusprach, die Befugnis, Steuererleichterungen herbeizuführen. Es wurde dabei mittels allgemeiner Verwaltungsanweisungen an die Finanzämter angeordnet, bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen Steueransprüche nicht geltend zu machen57.

III. Erlöschen der §§ 12, 13 und 17 Abs. 2 RAO

Unter Geltung des Grundgesetzes änderte sich die Wirksamkeit von Vorschriften der RAO. Nach § 129 Abs. 3 GG sollten Normen, welche die Exekutive ermächtigten, im Wege der Rechtsverordnung Gesetze zu ändern, zu ergänzen oder zu erlassen (sog. gesetzesvertretende Rechtsverordnungen), erloschen sein58. Einigkeit besteht daher, dass die §§ 12 und 13, aber auch der § 17 Abs. 2 der RAO keine Gültigkeit mehr beanspruchen konnten59. Ein Streit entspann sich lediglich um die Frage, ob diese Vorschriften bereits mit In-Kraft-Treten des Grundgesetzes am 23.5.194960 oder erst mit Zusammentritt des ersten Deutschen Bundestages am 7.9.194961 außer Kraft traten. Festzuhalten ist, dass spätestens mit der Konstituierung des ersten Deutschen Bundestages die genannten Vorschriften keine Rechtskraft mehr besaßen und der späteren förmlichen Aufhebung dieser Normen62 daher nur deklaratorische Bedeutung zukam63.

Der Gesetzgeber war in den Jahren nach Inkraftsetzung des Grundgesetzes allerdings bestrebt, das Fehlen einer allgemeinen Ermächtigung im Sinne des § 13 RAO durch Spezialermächtigungen in einzelnen Steuergesetzen zu kompensieren64. Exemplarisch seien hier einige aufgeführt: Art. II Ziffer 1 des Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes vom 29. April 195065, Abschnitt I Ziffer 10 des Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes und Beförderungssteuergesetzes vom 28. Juni 195166, das Gesetz zur Änderung des Erbschaftssteuergesetzes vom 30. Juni 195167 und

56 RGBl. I 1931, 161 (163). 57 Von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 8; Rödel, S. 36; vgl. RFH vom

6.9.1940, V 208/38 in RFHE 49, 157. 58 Dazu Maunz in Maunz/Dürig, Art. 129 Rdnr. 13 ff. 59 Von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 9; Rödel, S. 36. 60 So der BFH in einem Urteil vom 22. November 1951, IV D 1/51 in BStBl. III 1952, 6 (9). 61 So das BVerfG in einem Urteil vom 10 Juni 1953, 1 BvF 1/53 in BVerfGE 2, 307 (326). 62 §§ 12 und 13 RAO wurden durch das AO-Änderungsgesetz vom 11.7.1953 aufgehoben, BGBl. I

1953, 511 (511); § 17 RAO durch § 39 Abs. 2 FVG vom 6.9.1950, BGBl. I 1950, 448 (453). 63 Allgemeine Auffassung, vgl. nur von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 9

m.w.N. 64 Vgl. dazu Rödel, S. 37 f; Dyckhoff, S. 8 f. 65 BGBl. I 1950, 95 (100 f). 66 BGBl. I 1951, 402 (403). 67 BGBl. I 1951, 759 (762 f).

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Art. 2 des Gesetzes zur Änderung des Grundsteuergesetzes vom 10. August 195168. Diese Normen ermächtigten die Bundesregierung69, zur Durchführung der besonderen Steuergesetze Rechtsverordnungen zu erlassen, „soweit dies zur Wahrung der Gleichmäßigkeit der Besteuerung und zur Beseitigung von Unbilligkeiten in Härtefällen erforderlich ist“70.

D. Neufassung der RAO von 1953

Der Neufassung des § 131 in der AO 1953 ging eine Diskussion über die genaue Formulierung der Vorschrift voraus.

I. Ursprüngliche Fassung

Nach dem ursprünglichen Entwurf der Bundesregierung sollten Billigkeitsmaßnahmen nach § 131 Abs. 1 nicht nur für einzelne Fälle, sondern auch für bestimmte Fallgruppen erlaubt sein. Der Klammerzusatz der AO von 1931 wurde gewissermaßen aufgelöst, erweitert und in den laufenden Text des § 131 Abs. 1 Satz 1 integriert. Der gesamte erste Absatz der Norm sollte folgendermaßen lauten: „Für einzelne Fälle oder bestimmte Gruppen von gleichgelagerten Fällen können Steuern ganz oder zum Teil erlassen, erstattet oder angerechnet werden, wenn ihre Einziehung nach Lage dieser Fälle unbillig wäre. Die Befugnis zum Erlaß der Steuer umfaßt bei Besitz- und Verkehrssteuern auch das Recht, zuzulassen, daß die Steuer niedriger festgesetzt wird, oder daß einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuer erhöhen, bei der Festsetzung der Steuer nicht berücksichtigt werden. Mit Zustimmung des Steuerpflichtigen kann bei Steuern vom Einkommen zugelassen werden, daß einzelne Besteuerungsgrundlagen, soweit sie die Steuer erhöhen, bei der Steuerfestsetzung erst zu einer späteren Zeit, und daß sie, soweit sie die Steuern mindern, schon zu einer früheren Zeit berücksichtigt werden.71“ Begründet wurde diese Erweiterung der Vorschrift damit, dass die Möglichkeit, in einzelnen Fällen einen Billigkeitserlass auszusprechen, nicht ausreichend sei. Vielmehr sei es erforderlich, „daß für bestimmte Gruppen von gleichgelagerten Fällen Steuern erlassen (...) werden können, wenn ihre Einziehung nach Lage dieser Fälle unbillig wäre“72.

68 BGBl. I 515 (517). 69 Teilweise bedarf es dazu der Zustimmung des Bundesrates. 70 Grundlegend dazu Dyckhoff, S. 8 f; ebenso Rödel, S. 37 f, der sich im Wesentlichen den

Ausführungen Dyckhoffs anschließt. 71 BT-Drucksache 1/3926 Art. 1 Ziffer 5. 72 BT-Drucksache 1/3926 Begründung zu Art. 1 Ziffer 6 (eigentlich Ziffer 5, offensichtlich ein

Druckfehler).

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Der Bundesrat, dem der Entwurf im ersten Durchgang des Gesetzgebungsverfahrens nach Art. 76 Abs. 2 GG zugeleitet wurde, lehnte den Entwurf der Bundesregierung ab. Er schlug eine Streichung der Worte „für bestimmte Gruppen von Fällen“ im neuen § 131 Abs. 1 Satz 1 AO vor73. Die Begründung war rechtsdogmatischer Natur: „Ein Erlaß von Steuern für bestimmte Gruppen oder für solche Gruppen von Fällen kommt nicht vor. Die Steuer kann aber für mehrere gleichgelagerte Einzelfälle, wenn auch in einer Verfügung, erlassen werden. Wenn vom Finanzminister nicht die Einzelfälle genannt werden, sondern nur die Art der Fälle umschrieben wird, so handelt es sich nicht um einen Erlaß, sondern um eine Ermächtigung der Oberfinanzdirektionen oder der Finanzämter, ihrerseits den Erlaß in bestimmten Fällen auszusprechen74.“ Dafür wurde ein neuer Absatz 2 vorgeschlagen, der die Bundesregierung ermächtigte, für die Gruppen gleichgelagerter Fälle Richtlinien zur Anwendung des Absatzes 1 aufzustellen. Die Bundesregierung erhob keine Einwände gegen die Änderung des Gesetzentwurfes bezüglich des § 13175. Im Finanzausschuss des Bundestages wurde dem geänderten Entwurf grundsätzlich zugestimmt. Im § 131 Abs. 1 wurde die Pluralformulierung „für einzelne Fälle76“ in den Singular „im Einzelfall“ geändert77, in § 131 Abs. 2 wurde das Wort „entsprechend“ eingefügt, um klarzustellen, dass die Unbilligkeit der Steuereinziehung in den Fällen des Absatzes 2 nicht für den einzelnen Fall, sondern für bestimmte Gruppen von Fällen gegeben sein muss78. § 131 Abs. 1 und 2 wurden in dieser Form beschlossen79, die weiteren Absätze wurden noch im Vermittlungsausschuss behandelt80.

Die am 17. Juni 1953 in Kraft getretene81 geänderte RAO enthielt schließlich den § 131 in folgender Fassung:

„(1) Im Einzelfall können Steuern ganz oder zum Teil erlassen, erstattet oder angerechnet werden, wenn ihre Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Die Befugnis zum Erlaß der Steuer umfaßt bei Besitz- und Verkehrsteuern auch das Recht, zuzulassen, daß die Steuer niedriger festgesetzt wird oder daß einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuer nicht erhöhen, bei der Festsetzung der Steuer nicht berücksichtigt werden. Mit Zustimmung des Steuerpflichtigen kann bei Steuern vom Einkommen zugelassen werden, daß einzelne Besteuerungsgrundlagen, soweit sie die Steuer erhöhen, bei der Steuerfestsetzung erst zu einer späteren Zeit, und daß sie, soweit sie die Steuern mindern, schon zu einer früheren Zeit berücksichtigt werden. 73 BT-Drucksache 1/3926 Änderungsvorschläge des Bundesrats Ziffer 3 (S. 7 f). 74 BT-Drucksache 1/3926 Änderungsvorschläge des Bundesrats Ziffer 3, Begründung (S. 8). 75 BT-Drucksache 1/3926 Stellungnahme der Bundesregierung Ziffer 3 (S. 10 f). 76 So noch BT-Drucksache 1/3926, Stellungnahme der Bundesregierung Ziffer 3 (S. 10 f). 77 BT-Drucksache 1/4179 Nr. 5. 78 BT-Berichte 1/12468 A. 79 BT-Berichte 1/12473 C. 80 BR-Drucksache 1953, 145/1; ausführlich zu dem gesamten Verfahren Dyckhoff, S. 9 ff.; Rödel,

S. 38 ff. 81 Verkündet wurde das Gesetz am 16. Juni 1953, gem. Art. IV. dieses Gesetzes sollte es am Tag

nach der Verkündung in Kraft treten.

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(2) Für bestimmte Gruppen von gleichgelagerten Fällen können für die entsprechende Anwendung des Absatzes 1 Richtlinien aufgestellt werden.

(3) Die Befugnisse nach den Absätzen 1 und 2 stehen der obersten Finanzbehörde der Körperschaft, die die Steuer verwaltet, oder den von ihr bestimmten Stellen zu. Das Zweite Gesetz über die Finanzverwaltung vom 15. Mai 1952 (BGBl. I S. 293) und § 203 Absatz 5 des Lastenausgleichsgesetzes vom 14. August 1952 (BGBl. I S. 446) bleiben unberührt.

(4) Eine Maßnahme nach Absatz 1 Satz 3 wirkt, soweit sie die gewerblichen Einkünfte als Grundlage für die Festsetzung der Steuer vom Einkommen beeinflußt, auch für den Gewerbeertrag als Grundlage für die Festsetzung des Gewerbesteuermeßbetrages.

(5) Für bestimmte Gruppen gleichgelagerter Fälle können die Oberfinanzdirektionen und die Finanzämter zu Maßnahmen nach Absatz 1 Sätze 2 und 3 auch durch eine allgemeine Verwaltungsanordnung der Bundesregierung ermächtigt werden, die, soweit die Verwaltung der Steuer den Landesfinanzbehörden obliegt, mit Zustimmung des Bundesrates zu erlassen ist.“82

Absätze 3 und 5 regeln das Verfahren, während Absatz 4 die Wirkung von abweichender Berücksichtigung der Besteuerungsgrundlagen auf die Gewerbesteuer betrifft.

II. Änderung von 1961

Umstritten war bald, ob der Begriff „Steuern“ im § 131 Abs. 1 RAO auch sonstige Geldleistungen erfasst. Der III. Senat des BFH hatte 1959 entschieden, dass auf einen Anspruch der öffentlichen Hand auf Rückzahlung zu Unrecht bewilligter Grundsteuerhilfen der § 131 AO nicht anwendbar sei, da diese Vorschrift sich ausdrücklich nur auf Steuern beziehe83. Eine analoge Anwendung der Vorschrift wurde nicht in Betracht gezogen. 1960 äußerte der V. Senat des BFH dagegen, § 131 Abs. 1 AO sei auch im Vergütungsrecht anwendbar. In der Sache ging es um die Vergütung von Umsatzsteuer84. Die Rechtslage sei ebenso zu beurteilen wie bei Erstattungsansprüchen, da die Rückforderung einer fälschlicherweise gewährten Vergütung ihrem Wesen nach nichts anderes sei als die Wiedereinforderung einer zu Unrecht vergüteten Steuer. Außerdem beanspruche der § 131 AO innewohnende Rechtsgedanke Geltung für den gesamten Bereich des Steuerrechts85.

82 BGBl. I 1953, 511 (511 f). 83 BFH v. 28. August 1959, III 298/58 U in BStBl. III 1959, 471 (472) = BFHE 69, 55. 84 BFH v. 22. Dezember 1960, V. 1/59 S in BStBl. III 1961, 197 = BFHE 72, 542. 85 BFH v. 22. Dezember 1960, V. 1/59 S in BStBl. III 1961, 197 (198).

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Aufgrund der unklaren Rechtslage sah sich der Gesetzgeber zum Handeln veranlasst86. Durch Art. 17 Ziffer 5 des Steueränderungsgesetzes 1961 wurde § 131 Abs. 1 Satz 1 um den Zusatz „...und sonstige Geldleistungen...“ erweitert87. Damit wurde nicht nur die umstrittene Behandlung von Rückforderungsansprüchen aus Umsatzsteuervergütungen geklärt, sondern der Geltungsbereich der Norm vor allem auch auf steuerliche Nebenleistungen ausgedehnt. Außerdem wurde die sprachlich unschöne Aufzählung „...erlassen, erstattet oder angerechnet...“ aufgehoben und die letzten Varianten des ersten Satzes hinter einem Semikolon eingefügt. Die Änderung war allerdings lediglich redaktioneller Natur und hatte keine inhaltlichen Konsequenzen88. Der erste Absatz des § 131 AO erhielt mit dem Steueränderungsgesetz 1961 folgenden Wortlaut: „Im Einzelfall können Steuern und sonstige Geldleistungen ganz oder zum Teil erlassen werden, wenn ihre Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Steuern oder sonstige Geldleistungen erstattet oder angerechnet werden.89“

III. Änderung von 1971

1971 wurde durch Art. 8 des Finanzanpassungsgesetzes90 der in § 131 Abs. 3 Satz 2 AO enthaltene Verweis auf das zweite Gesetz über die Finanzverwaltung ersatzlos gestrichen. Dieser Schritt war lediglich eine notwendige Folgeänderung, da das zweite Finanzverwaltungsgesetz mit Art. 7 des Finanzanpassungsgesetzes aufgehoben wurde91. Inhaltliche Auswirkungen waren mit diesem Schritt nicht verbunden92.

E. Entstehung der §§ 163 und 227 der AO 1977

Die bis 1977 geltende RAO war in den Grundzügen noch identisch mit der AO von 1919.

86 Vgl. BT-Drucksache 3/2573 Begründung der Bundesregierung zu Art. 12 Ziffer 5 (S. 36). 87 BGBl. I 1961, 981 (995). 88 Vgl. Die Motive des Gesetzgebers: BT-Drucksache 3/2573 Begründung der Bundesregierung zu

Art. 12 Ziffer 5 (S. 36). 89 BGBl. I 1961, 981 (995). 90 BGBl. I 1971, 1426 (1432 f). 91 Siehe BGBl. I 1971, 1426 (1432); dazu auch die Begründung des Regierungsentwurfes zu Art. 8

Ziffer 3 in BT-Drucksache 6/1771, S. 25. 92 Vgl. von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 11, insbesondere FN 26.

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I. Motive für die Neufassung der AO

Im Laufe der Zeit hatte die RAO ihre Funktion als „Mantelgesetz“ und allgemeiner Teil des Steuerrechts verloren, da der Gesetzgeber dazu überging, Elemente des Steuerverfahrens- und Schuldrechts in besondere Steuergesetze zu verlagern93. Moniert wurden außerdem Mängel in Systematik und Terminologie, die teilweise schon in der ursprünglichen Fassung enthalten, teilweise durch spätere Hinzufügungen entstanden waren94. Auch wurden Bedenken geäußert, ob die RAO den Anforderungen des Grundgesetzes genüge. Als problematisch im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG wurden insbesondere die lange Dauer des Besteuerungsverfahrens und die fehlende Bestandskraftfestigkeit der Steuerbescheide erkannt95. Außerdem wurde teilweise eine Verzinsung der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis gefordert, da der Verzicht auf Zinsen zu Ungleichbehandlungen der Steuerschuldner aufgrund divergierender Zeitpunkte der Steuerfestsetzung und -zahlung führte96.

II. Entstehung der AO 1977

Bereits am 13. März 1963 hatte der Bundestag die Bundesregierung ersucht, eine Reform des Abgabenrechts vorzubereiten97.

1. Entwurf der Expertenkommission von 1969

Der Bundesfinanzminister setzte daraufhin im Herbst des gleichen Jahres einen Arbeitskreis ein98. 1969 legte dieses Gremium nach umfassenden Beratungen einen Abschlussbericht vor, dem der Entwurf einer neuen Abgabenordnung beigefügt war99. Diese Vorlage stellte das Grundgerüst der später in Kraft getretenen AO dar. So wurde

93 Tipke, AöR 94 (1969), 224 (226 f); ebenso Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Einführung AO,

Rdnr. 33; zu nennen sind hier insbesondere das Steueranpassungsgesetz vom 16.10.1934 (RGBl. I 1934, 925), das Gesetz über die Finanzverwaltung vom 6.9.1950 (BGBl. I 1950, 448) und das Steuersäumnisgesetz vom 13.7.1961 (BGBl. I 1961, 981).

94 Im Einzelnen dazu Tipke, AöR 94 (1969), 224 (235 ff.); Tipke, StbJb 68/69, 69 (83 ff.). 95 Koch, StbJb 63/64, 415 (431, 436); Schmidt, StbJb 62/63, 15 (29 ff.); vgl. auch Söhn in

Hübschmann/Hepp/Spitaler, Einführung AO, Rdnr. 34. 96 Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Einführung AO, Rdnr. 35; kritisch dazu Koch, StbJb 63/64,

415 (439 f) interessanterweise befürwortet dieser eine Wiedereinführung der früher in §§ 12, 13 AO befindlichen Milderungsermächtigung: Koch, StbJb 63/64, 415 (438 f).

97 BT-Berichte 4/2973 C. 98 Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Einführung AO, Rdnr. 38. 99 Bericht des Arbeitskreises zur Reform der AO S. 35 ff.

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bereits zwischen dem Steuerfestsetzungsverfahren100 und dem Steuererhebungsverfahren101 unterschieden.

a) Billigkeitsregelung im Festsetzungsverfahren

Als Folge der Trennung wurde auch eine Aufspaltung der Billigkeitsregelung im bisherigen § 131 AO für erforderlich gehalten, um Systemkonformität zu gewährleisten102. Daher wurde in § 167 des Entwurfes ein Erlass von Steuern aus Billigkeitsgründen ausschließlich für das Festsetzungsverfahren geregelt:

„(1) Steuern können auf Antrag niedriger festgesetzt und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuer erhöhen, können bei der Festsetzung der Steuer unberücksichtigt bleiben, wenn die Festsetzung oder Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Mit Zustimmung des Steuerpflichtigen kann bei Steuern vom Einkommen zugelassen werden, daß einzelne Besteuerungsgrundlagen, soweit sie die Steuer erhöhen, bei der Steuerfestsetzung erst zu einer späteren Zeit und, soweit sie die Steuer mindern, schon zu einer früheren Zeit berücksichtigt werden. Die abweichende Festsetzung kann mit der Steuerfestsetzung verbunden werden.

(2) Eine Maßnahme nach Absatz 1 Satz 2 wirkt, soweit sie die gewerblichen Einkünfte als Grundlage für die Festsetzung der Steuer vom Einkommen beeinflußt, auch für den Gewerbeertrag als Grundlage für die Festsetzung des Gewerbesteuermeßbetrages.

(3) Im Steuerbescheid ist kenntlich zu machen, inwieweit die Steuer nach dieser Bestimmung abweichend festgesetzt worden ist.

(4) Für bestimmte Gruppen von gleichgelagerten Fällen können für die entsprechende Anwendung des Absatzes 1 Richtlinien aufgestellt werden103.“

Diskutiert wurde, anstelle des Terminus „unbillig“ die Formulierung „besondere Härte“ aus dem Entwurf der Bundeshaushaltsordnung104 zu übernehmen. Der Vorschlag wurde aber abgelehnt, da dieser Begriff nicht deutlich genug erkennen lasse, dass auch die sachliche Unbilligkeit einen Grund für den Erlass darstellen kann105. Der Arbeitskreis ging vielmehr davon aus, gerade im Festsetzungsverfahren könne regelmäßig nur die sachliche Unbilligkeit vorliegen. Der Ausschuss wollte den Entwurf aber trotz einschlägiger Überlegungen nicht auf die sachliche Unbilligkeit beschränken106. Der Vorschlag, explizit festzuschreiben, dass auch wirtschafts- oder

100 §§ 160 bis 188 des Entwurfes, Bericht des Arbeitskreises zur Reform der AO S. 129 ff. 101 §§ 198 bis 226 des Entwurfes, Bericht des Arbeitskreises zur Reform der AO S. 145 ff. 102 Bericht des Arbeitskreises zur Reform der AO S. 326. 103 Bericht des Arbeitskreises zur Reform der AO S. 131. 104 BT-Drucksache 5/3040. 105 Bericht des Arbeitskreises zur Reform der AO S. 326. 106 Bericht des Arbeitskreises zur Reform der AO S. 326.

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sozialpolitische Gründe einen Erlass rechtfertigen können, fand keine Mehrheit107. Nach Auffassung des Gremiums sollte ein Antrag, wie in § 167 Abs. 1 Satz 1 ihres Entwurfes festgeschrieben, Voraussetzung des Erlasses sein. Allerdings wurde nicht verkannt, dass dieser bei Billigkeitsmaßnahmen, die auf Verwaltungserlassen beruhen und als Übergangsregelung dienen sollen, entbehrlich sein kann. Das Antragserfordernis sollte daher im weiteren Verlauf des Verfahrens geprüft werden108. Der Arbeitskreis macht in § 167 Abs. 1 Satz 3 und § 167 Abs. 3 seines Entwurfes außerdem deutlich, dass es sich bei der Gewährung des Billigkeitserlasses und der Festsetzung der Steuer um von einander zu unterscheidende Verwaltungsakte handelt, für die auch verschiedene Rechtsbehelfe gegeben seien109. Dem Entwurf lässt sich, im Gegensatz zum alten § 131, der dies in § 131 Abs. 3 regelte, nicht entnehmen, wer für die Entscheidung über den Erlass zuständig sein soll. Umstritten war, ob die steuerverwaltende oder die steuerberechtigte Körperschaft kompetent sein sollte. § 167 des Entwurfes schweigt zu diesem Thema. In den Erläuterungen zum Entwurf wird allerdings die Auffassung vertreten, die Kompetenz müsse, wie im alten Recht (§131 Abs. 3), bei der steuerverwaltenden Körperschaft verbleiben110.

b) Billigkeitsregelung im Erhebungsverfahren

§ 205 des Entwurfes sollte den Erlass im Erhebungsverfahren normieren: „(1) Steuern und sonstige Geldleistungen können ganz oder zum Teil erlassen

werden, wenn ihre Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Steuern und sonstige Geldleistungen erstattet oder angerechnet werden.

(2) Für bestimmte Gruppen von gleichgelagerten Fällen können für die entsprechende Anwendung des Absatzes 1 Richtlinien aufgestellt werden111.“

Inhaltlich entsprach § 205 Abs. 1 des Entwurfes dem § 167 Abs. 1 Satz 1 des vom Arbeitskreis gemachten Vorschlags. Insoweit kann auf die Ausführungen zu jener Vorschrift verwiesen werden112. Es fällt lediglich auf, dass hier auf die Antragserfordernis verzichtet wird. Absatz 2 des vorgeschlagenen § 205 entspricht dem § 167 Abs. 4 des Entwurfes. Die Absätze 2 und 3 des § 167 betreffen spezifisch den Erlass im Festsetzungsverfahren und es lag daher in der Natur der Sache, dass sie nicht in die Billigkeitsvorschrift im Rahmen des Erhebungsverfahrens integriert wurden.

107 Bericht des Arbeitskreises zur Reform der AO S. 326. 108 Bericht des Arbeitskreises zur Reform der AO S. 326. 109 Bericht des Arbeitskreises zur Reform der AO S. 326 f. 110 Bericht des Arbeitskreises zur Reform der AO S. 327. 111 Bericht des Arbeitskreises zur Reform der AO S. 148. 112 So auch die Begründung des Entwurfes im Bericht des Arbeitskreises zur Reform der AO S. 351 f.

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2. Regierungsentwurf von 1971 (EAO 1974)

Inhaltlich stützte sich der Entwurf der Bundesregierung im Wesentlichen auf den Vorschlag des Arbeitskreises. Er sollte mit verschiedenen anderen Steuergesetzen eigentlich im Jahre 1974 in Kraft treten und wurde deshalb als „EAO 1974“ bezeichnet113. Die Vorschriften über den Steuerpflichtigen wurden in den zweiten Teil vorgezogen. Es ist außerdem die Absicht zu erkennen, eine verstärkte Kongruenz mit dem allgemeinen Verwaltungsrecht herzustellen114. Zusätzlich wurden noch das Steuerstraf- und Ordnungswidrigkeitenrecht eingefügt115.

a) Billigkeitsvorschrift im Festsetzungsverfahren (§ 144)

Der Standort des § 167 des Entwurfes der Arbeitsgruppe hatte sich aufgrund der Umstellungen im Regierungsentwurf verschoben. Der Unterpunkt „Allgemeine Vorschriften“ im Unterabschnitt „Steuerfestsetzungsverfahren“ war aufgelöst worden und die entsprechenden Vorschriften wurden direkt in den 1. Unterabschnitt des fünften Teils übernommen. § 144 behandelte nun den Erlass aus Billigkeitsgründen im Festsetzungsverfahren:

„(1) Steuern können niedriger festgesetzt werden, und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuer erhöhen, können bei der Festsetzung der Steuer unberücksichtigt bleiben, wenn die Festsetzung oder Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Mit Zustimmung des Steuerpflichtigen kann bei Steuern vom Einkommen zugelassen werden, daß einzelne Besteuerungsgrundlagen, soweit sie die Steuer erhöhen, bei der Steuerfestsetzung zu einer späteren Zeit und, soweit sie die Steuer mindern, schon zu einer früheren Zeit berücksichtigt werden. Die Entscheidung über die abweichende Festsetzung kann mit der Steuerfestsetzung verbunden werden.

(2) Die Befugnisse nach Absatz 1 stehen der obersten Finanzbehörde der Körperschaft, die die Steuer verwaltet, oder den von ihr bestimmten Finanzbehörden zu. § 203 Abs. 5 des Lastenausgleichgesetzes bleibt unberührt.

(3) Für bestimmte Gruppen von gleichgelagerten Fällen können für die entsprechende Anwendung des Absatzes 1 Richtlinien aufgestellt werden.116“

Im Unterschied zum Vorentwurf wurde hier auf das Antragserfordernis verzichtet. Die Bundesregierung ging davon aus, dass ein Antrag regelmäßig vorliegen wird.

113 BT-Drucksache 6/1982 S. 2; vgl. dazu Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Einführung AO,

Rdnr. 61. 114 Im Regierungsentwurf war in den vierten Teil „Allgemeine Verwaltungsvorschriften“ ein zweiter

Abschnitt (§§ 125 ff.) eingefügt worden, in dem der Verwaltungsakt in Übereinstimmung mit dem inzwischen vorliegendem ersten Entwurf des VwVfG (BT-Drucksache 6/1173) geregelt wurde.

115 Im neunten Teil des Regierungsentwurfes §§ 352 ff.; vgl. dazu Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Einführung AO, Rdnr. 61.

116 BT-Drucksache 6/1982, S. 43.

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Dennoch sollte der Billigkeitserlass nicht zwingend davon abhängig sein117. Inhaltlich entspricht der § 144 Abs. 1 Satz 1 des Regierungsentwurfes ansonsten dem § 167 Abs. 1 Satz 1 der Fassung der Arbeitsgruppe, auch wenn eine sprachliche Veränderung stattfand, indem das Verb „werden“ in den ersten Halbsatz eingefügt wurde. § 144 Abs. 1 Satz 2 und 3 hingegen wurden unverändert aus den Vorschlägen der Kommission übernommen. Das Erfordernis der Zustimmung des Steuerpflichtigen in § 144 Abs. 1 Satz 2 des Regierungsentwurfes wird besonders in den Vordergrund gestellt, da in den Fällen der zeitlich abweichenden Berücksichtigung von Besteuerungsgrundlagen nur eine Verlagerung der Steuerlast und damit kein endgültiger Erlass stattfindet. In der Regel werden mit der Verschiebung in einen anderen Veranlagungszeitraum Progressions- und Liquiditätsvorteile verbunden sein; es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass der Steuerpflichtige durch sie einen Nachteil erleidet118. Der Satz 3 des ersten Absatzes wurde ohne Veränderungen übernommen. Die Einfügung des Absatzes 2, der dem § 131 Abs. 3 der alten RAO entspricht, regelt die Zuständigkeit. Der Arbeitskreis hatte die Kompetenzzuweisung in seinem Entwurf nicht ausdrücklich erwähnt, die Problematik aber erkannt und sich in der Begründung ebenfalls für die Zuständigkeit der steuerverwaltenden Körperschaft ausgesprochen119. Insoweit weicht der Regierungsentwurf also nicht von den Vorschlägen des Expertengremiums ab. § 167 Abs. 2 und 3 des Entwurfes der Arbeitsgruppe wurden ersatzlos gestrichen. In § 144 Abs. 3 der Vorlage der Bundesregierung findet sich schließlich der § 167 Abs. 4 des Entwurfes des Arbeitskreises ohne Änderungen wieder.

b) Billigkeitsvorschrift im Erhebungsverfahren (§ 208)

Das Erhebungsverfahren, im Kommissionsentwurf noch im fünften Teil (§§ 198 ff.) untergebracht, blieb im Wesentlichen in den §§ 199 ff. des Regierungsentwurfes enthalten, es wurde lediglich der erste Unterabschnitt neu eingefügt. Durch diese und die oben beschriebenen Umgestaltungen verschob sich auch die Zählung der Vorschriften. § 208 des Regierungsentwurfes normierte den Billigkeitserlass im Erhebungsverfahren folgendermaßen:

„(1) Steuern, Ansprüche auf Rückforderung einer Steuervergütung und steuerliche Nebenleistungen können ganz oder zum Teil erlassen werden, wenn ihre Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden.

117 Begründung zu § 144 in BT-Drucksache 6/1982 S. 147. 118 Vgl. Begründung zu § 144 in BT-Drucksache 6/1982 S. 147. 119 Bericht des Arbeitskreises zur Reform der AO S. 327.

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(2) Die Befugnisse nach Absatz 1 stehen der obersten Finanzbehörde der Körperschaft, die die Steuer verwaltet, oder den von ihr bestimmten Finanzbehörden zu. § 203 Abs. 5 des Lastenausgleichsgesetzes bleiben unberührt.

(3) Für bestimmte Gruppen von gleichgelagerten Fällen können für die entsprechende Anwendung des Absatzes 1 Richtlinien aufgestellt werden.“

Der sprachlich kompaktere Terminus „Steuern und sonstige Geldleistungen“ der Vorlage wurde im Regierungsentwurf durch die sperrige Aufzählung „Steuern, Ansprüche auf Rückforderung einer Steuervergütung und steuerliche Nebenleistungen“ ersetzt. Als Grund dieser Änderung darf die Absicht vermutet werden, den Anwendungsbereich der Norm exakter zu fassen. Die Begründung der Bundesregierung schweigt sich zu der Intention dieser Änderung aber bedauerlicherweise aus120. Die Kompetenzzuweisung in Absatz 2 entspricht exakt dem neu eingefügten § 144 Abs. 2 der Regierungsvorlage. Auch hier wird die von der vorbereitenden Arbeitsgruppe angeregte, aber nicht in den Vorentwurf eingeflossene, Regelung übernommen. § 208 Abs. 3 schließlich stimmt mit § 205 Abs. 2 des Vorschlags der Kommission und dem § 144 Abs. 3 des Regierungsentwurfes überein.

3. Stellungnahme des Bundesrates

Der Bundesrat - dessen Zustimmung gem. Art. 108 Abs. 5 Satz 2 GG notwendig war, da die AO auch das Verfahren der Landesfinanzbehörden regeln sollte121 - stimmte dem Entwurf der Bundesregierung grundsätzlich zu122, machte aber im Einzelnen Verbesserungsvorschläge. Diese betrafen auch die Billigkeitsregelungen. Die zweiten Absätze der §§ 144 und 208 des Regierungsentwurfes sollten folgendermaßen abgefasst werden:

„(2) Die Befugnisse nach Absatz 1 stehen der obersten Finanzbehörde der Körperschaft zu, die die Steuer verwaltet. Der Bundesminister der Finanzen und die Landesregierungen können diese Befugnisse auf nachgeordnete Stellen übertragen. § 203 Abs. 5 des Lastenausgleichsgesetzes bleibt unberührt.123“

Begründet wurde die Forderung nach Verkürzung des Satzes 1 und Integration eines Satzes 2 in diesen Absatz damit, dass in einigen Bundesländern die Übertragung hoheitlicher Befugnisse nach der Landesverfassung eines Rechtssatzes bedürfe. Diesen Ländern solle durch die geänderte Formulierung die Option zur Verfügung stehen, entsprechende Rechtsverordnungen zu erlassen124. Außerdem wurde eine Neufassung der dritten Absätze beider Vorschriften vorgeschlagen:

120 Begründung zu § 208 in BT-Drucksache 6/1982 S. 170. 121 Vgl. dazu § 6 Abs. 2 AO. 122 Stellungnahme des Bundesrates in BT-Drucksache 6/1982 S. 208. 123 Stellungnahme des Bundesrates in BT-Drucksache 6/1982 S. 212 f. 124 Stellungnahme des Bundesrates in BT-Drucksache 6/1982 S. 212.

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„(3) Für bestimmte Gruppen von gleichgelagerten Fällen können für die entsprechende Anwendung des Absatzes 1 durch allgemeine Verwaltungsvorschriften Richtlinien aufgestellt werden. Richtlinien, die von der Bundesregierung oder dem Bundesminister der Finanzen erlassen werden, bedürfen der Zustimmung des Bundesrates, soweit die Verwaltung den Landesbehörden oder Gemeinden (Gemeindeverbänden) obliegt.125“

Durch die Einfügung der Formulierung „durch allgemeine Verwaltungsvorschriften“ sollte Klarstellung über die Rechtsnatur der Richtlinien erreicht werden. Gem. Art. 108 Abs. 7 GG bedürfen Verwaltungsvorschriften der Zustimmung des Bundesrates, wenn die Verwaltung den Landesfinanzbehörden oder Gemeinden obliegt. Der Bundesrat hielt es für notwendig, diesen Rechtszustand deutlich zu machen, indem er die fast wörtliche Übernahme der Verfassungsnorm in den dritten Absatz vorschlug126. Da der Art. 108 Abs. 7 GG als ranghöheres Recht den einfachgesetzlichen Normen der AO in jedem Fall vorgeht, wäre ein solcher Zusatz allerdings lediglich deklaratorischer Natur gewesen.

4. Gegenäußerung der Bundesregierung

Sämtliche Änderungsvorschläge des Bundesrates wurden von der Bundesregierung zurückgewiesen. Die Neuformulierung der zweiten Absätze wurde abgelehnt, da die Bundesregierung die Ansicht vertrat, dass für die Delegation der Erlassbefugnis auf nachgeordnete Behörden ein Rechtssatz nicht erforderlich sei127. Die Vorschläge zur Neufassung der Absätze 3 der §§ 144 und 208 der Vorlage wies die Regierung unter Hinweis auf deren deklaratorischen Charakter als überflüssig zurück128.

5. Verzögerung durch das vorzeitige Ende der Legislaturperiode

Noch in der sechsten Wahlperiode wurde der Regierungsentwurf durch den Finanzausschuss und einer von diesem gebildeten Arbeitsgruppe zur AO-Reform umfassend behandelt. Als sich im Mai 1972 aber das Ende der Legislaturperiode durch die vorzeitige Auflösung des Bundestages abzeichnete, stellte der Ausschuss seine Beratungen ein129. Der Entwurf wurde zu Beginn der siebten Wahlperiode durch die

125 Stellungnahme des Bundesrates in BT-Drucksache 6/1982 S. 212. 126 Stellungnahme des Bundesrates in BT-Drucksache 6/1982 S. 212. 127 Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates in BT-Drucksache

6/1982 S. 220. 128 Vgl. die Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates in BT-

Drucksache 6/1982 S. 220. 129 Vgl. dazu Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Einführung AO, Rdnr. 79.

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Koalitionsfraktionen unverändert neu eingebracht130 und an die Ausschüsse überwiesen. Die Beratungen verzögerten sich allerdings, da der Finanzausschuss durch die parallel stattfindende Bearbeitung der Reform des materiellen Steuerrechts bereits ausgelastet war und außerdem die angestrebte Harmonisierung mit dem allgemeinen Verwaltungsverfahrensrecht zusätzlich Zeit in Anspruch nahm131. Die ursprüngliche Absicht, die AO bis 1974 in Kraft zu setzen, konnte daher nicht verwirklicht werden.

6. Beratungsergebnisse des Finanzausschusses (EAO 1977)

Der Finanzausschuss schlug eine Reihe von Änderungen des Gesetzentwurfes vor.

a) Allgemein

Modifikationen verlangte der Finanzausschuss bei verschiedenen Einzelvorschriften. Exemplarisch zu erwähnen sind hier die Präzisierung der Voraussetzungen, unter denen das Steuergeheimnis durchbrochen werden kann132, die Vollverzinsung der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis133 und die Normierung der Steuerfahndung134. In der Systematik traten nur geringe Änderungen auf. Die „Einleitenden Vorschriften“ wurden in den ersten Teil der AO integriert, der Gliederungsabschnitt „Steuerliche Pflichten“ wurde in den zweiten Teil „Steuerschuldrecht“ eingefügt und Teile davon in den vierten Teil ausgegliedert. Der dritte Teil „Steuerliche Pflichten“ und der fünfte Teil „Besondere Verfahrensvorschriften“ wurden aufgelöst und die betreffenden Vorschriften im neuen vierten Teil „Durchführung der Besteuerung“ zusammengefasst. Bei den Teilen sechs bis zehn verschob sich lediglich die Zählung, sie wurden zu Teilen fünf bis neun.

b) § 163 AO

Der § 144 hatte sich so aus dem fünften Teil des Regierungsentwurfes in den vierten Teil des Ausschussentwurfes verschoben und war zu § 163 geworden. § 163 Abs. 1 Satz 1 lautete nun: „Steuern können niedriger festgesetzt werden, und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuer erhöhen, können bei der Festsetzung der Steuer unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des 130 BT-Drucksache 7/79. 131 Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Einführung AO, Rdnr. 81. 132 § 30 des Entwurfes des Finanzausschusses BT-Drucksache 7/4292 S. 69 f; dazu Söhn in

Hübschmann/Hepp/Spitaler, Einführung AO, Rdnr. 87 ff. 133 Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Einführung AO, Rdnr. 97 f. 134 § 208 des Entwurfes, BT-Drucksache 7/4292 S. 106.

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einzelnen Falles unbillig wäre.135“ Die noch im Entwurf der Bundesregierung vorgesehene Formulierung, die Steuer sei zu erlassen, „...wenn die Festsetzung oder Erhebung...136“ unbillig sei, wurde gekürzt. Begründet wurde dies damit, dass eine Billigkeitsmaßnahme nur gewährt werden könne, wenn die Erhebung der Steuer unbillig ist. Sollte dies nicht der Fall sein, könne auch die Festsetzung nicht unbillig sein137. Die Änderungsvorschläge des Bundesrates zu den Absätzen 2 und 3 wurden nicht berücksichtigt138. Zur Begründung wird auf die Gegenäußerung der Bundesregierung verwiesen.

c) § 227 AO

Als Bestandteil des Erhebungsverfahrens war die Vorschrift aus dem sechsten Teil der Regierungsvorlage in den fünften Teil des EAO 1977 gelangt. Aus § 208 wurde der § 227. Absatz 1 dieser Norm sollte lauten: „Die Finanzbehörden können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre; unter den gleichen Umständen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden.139“ Neu war die aktive Formulierung des Satzes mit der Nennung der Finanzbehörde als entscheidungskompetente Stelle. Die Änderung sollte klarstellen, dass die Vorschrift nur zum Erlass von Ansprüchen berechtigt, die sich gegen den Steuerpflichtigen richten140. Außerdem wurde anstelle der umfangreichen Aufzählung „Steuern, Ansprüche auf Rückforderung einer Steuervergütung und steuerliche Nebenleistungen“ der Begriff „Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis“ eingefügt, der im neugeschaffenen § 37 Abs. 1141 legaldefiniert wurde. Da die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nach § 37 Abs. 1 EAO 1977 neben dem originären Steueranspruch, dem Anspruch auf Rückforderung einer Steuervergütung und steuerlichen Nebenleistungen auch den Haftungsanspruch, den Erstattungsanspruch sowie in Einzelsteuergesetzen normierte Erstattungsansprüche umfasst, stellt diese Änderung eine Erweiterung des Anwendungsbereiches der Vorschrift dar. Die vom Bundesrat empfohlene Änderung der Absätze 2 und 3 wurde nicht vorgenommen und zur Begründung ebenfalls auf die Stellungnahme der Bundesregierung verwiesen142.

135 BT-Drucksache 7/4292 S. 97. 136 BT-Drucksache 7/79 S. 44. 137 Vgl. die Begründung der Berichterstatter zu § 163 des Entwurfes in BT-Drucksache 7/4292 S. 32. 138 Begründung der Berichterstatter zu § 163 des Entwurfes in BT-Drucksache 7/4292 S. 32. 139 BT-Drucksache 7/4292 S. 110 f. 140 Begründung der Berichterstatter zu § 227 des Entwurfes in BT-Drucksache 7/4292 S. 38. 141 BT-Drucksache 7/4292 S. 71. 142 BT-Drucksache 7/4292 S. 38.

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7. Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens

Die vom Finanzausschuss vorgelegte Fassung der AO 1977 wurde nach Aussprache ohne Änderungen vom Bundestag in seiner 203. Sitzung am 27. November 1975 gebilligt143. Wie schon im ersten Durchgang des nicht zu Ende geführten Gesetzgebungsverfahrens zum Regierungsentwurf von 1971 (EAO 1974) versuchte der Bundesrat, Änderungen durchzusetzen. Zu diesem Punkt lagen Anträge der Länder Schleswig-Holstein und Bayern vor. Während der Antrag Schleswig-Holsteins nur die Streichung des Begriffes „entsprechende“ im Absatz 3 der beiden Billigkeitsnormen verlangte144, beantragte Bayern, durch die Änderung der jeweiligen dritten Absätze die Beteiligung des Bundesrates beim Erlass von Billigkeitsrichtlinien explizit festzuschreiben. Der Antrag Schleswig-Holsteins war dahingehend begründet, dass die Richtlinien sich auf die direkte Anwendung der Billigkeitsregelung bezögen. Der verwendete Terminus „entsprechend“ sei daher missverständlich, da er eine analoge Anwendung nahe lege145. Der Antrag Bayerns entsprach inhaltlich im Wesentlichen dem bereits zum Entwurf der AO 1974 vom Bundesrat verabschiedeten Änderungsvorschlag. Er bezog sich aber lediglich auf Verwaltungsanweisungen der Bundesregierung als Kollektivorgan und war anders formuliert:

„(3) Für bestimmte Gruppen gleichgelagerter Fälle können für die Anwendung des Abs. 1 Richtlinien aufgestellt werden. Richtlinien der Bundesregierung bedürfen der Zustimmung des Bundesrates, soweit die Verwaltung den Landesfinanzbehörden oder Gemeinden (Gemeindebehörden) obliegt.146“

Dazu wird ausgeführt, Richtlinien im Bund-Länder-Verhältnis unterschieden sich wesentlich von innerbehördlichen Weisungen. Daher sei eine einheitliche Regelung dieser beiden Gegenstände nicht akzeptabel. Eine solche Normierung in der AO sei trotz der höherrangigen Festlegung der Rechte des Bundesrates in Art. 108 Abs. 7 GG nicht überflüssig147.

Aufgrund der Begehren der Länder rief der Bundesrat am 18. Dezember 1975 den Vermittlungsausschuss an148. Dieser legte nach langwierigen Beratungen einen Änderungsvorschlag zum Entwurf AO 1977 vor, der fünf Punkte umfasste149. Betreffend der Billigkeitsvorschriften wurde vorgeschlagen, die umstrittenen dritten Absätze der beiden Vorschriften zu streichen. Die Grundlage dieses Kompromisses war die Erkenntnis, dass die unterschiedlichen Auffassungen über die Formulierung der §§ 163 Abs. 3 und 227 Abs. 3 EAO 1977 auf divergierenden Rechtsauffassungen

143 BT-Berichte 7/14033 (14051). 144 BR-Drucksache 1975, 726/1. 145 BR-Drucksache 1975, 726/1. 146 BR-Drucksache 1975, 726/4. 147 Vgl. die Begründung des Antrags BR-Drucksache 1975, 726/4 (S. 2). 148 BR-Berichte 429. Sitzung v. 18. Dezember 1975, S. 442. 149 BT-Drucksache 7/4664.

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bezüglich der Auslegung des Art. 108 Abs. 7 GG beruhten. Mit der Streichung der streitigen Absätze würden die konträren Rechtsstandpunkte unberührt bleiben150. Der Bundestag stimmte dem Entwurf in der vom Vermittlungsausschuss vorgelegten Fassung am 12. Februar 1976 zu151. Der geänderten Fassung stimmte am 20. Februar 1976 auch der Bundesrat zu152. Die Abgabenordnung wurde daraufhin am 16. Mai 1976 vom Bundespräsident verkündet153 und trat gem. § 415 Abs. 1 AO am 1. Januar 1977 in Kraft. § 163 bestimmte:

„(1) Steuern können niedriger festgesetzt werden, und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuer erhöhen, können bei der Festsetzung der Steuer unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Mit Zustimmung des Steuerpflichtigen kann bei Steuern vom Einkommen zugelassen werden, daß einzelne Besteuerungsgrundlagen, soweit sie die Steuer erhöhen, bei der Steuerfestsetzung erst zu einer späteren Zeit und, soweit sie die Steuer mindern, schon zu einer früheren Zeit berücksichtigt werden. Die Entscheidung über die abweichende Festsetzung kann mit der Steuerfestsetzung verbunden werden.

(2) Die Befugnisse nach Absatz 1 stehen der obersten Finanzbehörde der Körperschaft, die die Steuer verwaltet, oder den von ihr bestimmten Finanzbehörden zu. § 203 Abs. 5 des Lastenausgleichsgesetzes bleibt unberührt.154"

§ 227 lautete: „(1) Die Finanzbehörden können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz

oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden.155“

Der zweite Absatz dieser Vorschrift war identisch mit § 163 Abs. 2 AO.

F. StMBG von 1993

Der am 7. September 1993 von den Regierungsfraktionen CDU/CSU und FDP eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung des Missbrauchs und zur Bereinigung des Steuerrechts (StMBG) sah in Art. 20 Nr. 6 die Streichung des § 163 Abs. 2 AO 1977 vor156. Parallel dazu sollte auch § 227 Abs. 2 der AO aufgehoben werden157. Die Wirkung dieser Änderung lag darin, dass die Finanzämter automatisch

150 Vgl. die Ausführungen des Berichterstatters des Vermittlungsausschusses vor dem Bundestag in

BT-Berichte 7/15407 (15408). 151 BT-Berichte 7/15409. 152 BR-Berichte 431. Sitzung v. 20. Februar 1976, S. 39. 153 BGBl. I 1976, 613 ff. 154 BGBl. I 1976, 613 (651 f). 155 BGBl. I 1976, 613 (665 f). 156 BT-Drucksache 12/5630 (S. 39). 157 BT-Drucksache 12/5630 (S. 40).

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für die Billigkeitsmaßnahmen zuständig wurden. Dies wurde aus zwei Gründen für erforderlich gehalten: In der Praxis hatten die obersten Finanzbehörden der Länder, die nach der alten Gesetzesfassung für den Billigkeitserlass zuständig waren, diese Zuständigkeit bereits in erheblichem Umfang an die Finanzämter delegiert. Dieser Entwicklung in der Verwaltungsausübung sollte Rechnung getragen werden158. Die Finanzämter besaßen bei anderen in der AO 1977 vorgesehenen Billigkeitsmaßnahmen bereits die Kompetenz für eine Reihe von Billigkeitsentscheidungen. Über die Stundung gem. § 222 AO und die Einstellung oder Beschränkung der Vollstreckung gem. § 258 AO konnten die Finanzämter bereits entscheiden159. Die Gesetzesänderung sollte daher auch der Rechtsvereinheitlichung bezüglich der Zuständigkeit für Billigkeitsmaßnahmen dienen160. Nachdem der Bundestag den Gesetzesentwurf verabschiedet hatte161, wurde er aufgrund von Änderungsanträgen des Bundesrates noch im Vermittlungsausschuss behandelt. Die Änderungen betrafen aber nicht die Billigkeitsvorschriften162. Das Gesetz wurde in der vom Vermittlungsausschuss vorgeschlagenen Version vom Bundestag163 und Bundesrat164 verabschiedet. Mit In-Kraft-Treten des Gesetzes am 22. Dezember 1993 wurden § 163 Abs. 2 und § 227 Abs. 2 AO schließlich aufgehoben165.

G. Weitere Billigkeitsregelungen der AO 1977

In der AO 1977 waren neben den §§ 163 und 227 AO noch weitere Billigkeitsregelungen enthalten.

I. Abweichende Festsetzung von Steuermessbeträgen gem. § 184 AO

§ 184 AO regelt die Festsetzung von Steuermessbeträgen. Diese Feststellung stellt einen Grundlagenbescheid im Sinne des § 171 Abs. 10 AO dar. Praktische Bedeutung haben die Steuermessbeträge für die Festsetzung der Grundsteuer und Gewerbesteuer166. Nach § 184 Abs. 2 Satz 1 AO schließt die Befugnis zur Festsetzung der Realsteuermessbeträge auch Maßnahmen nach § 163 Abs. 1 Satz 1 AO ein.

158 Vgl. die Begründung des Gesetzentwurfes in BT-Drucksache 12/5630 (S. 98 und 102). 159 Die Kompetenz zum Erlass von Stundungszinsen gem. § 234 Abs. 2 AO und Aussetzungszinsen

gem. § 237 Abs. 4 i.V.m. § 234 Abs. 2 AO stand hingegen gemäß des damals noch geltenden § 234 Abs. 3 AO ebenfalls den obersten Finanzbehörden zu.

160 BT-Drucksache 12/5630 (S. 98). 161 BT-Berichte 12/16272. 162 Vgl. die einzelnen Anträge in BR-Drucksache 1993, 788/1 ff. 163 BT-Berichte 12/17319. 164 BR-Berichte 908. Sitzung v. 17. Dezember 1993, S. 599. 165 BGBl. I 1993, 2310 (2345 und 2347). 166 Tipke/Kruse, § 184 AO Rdnr. 3.

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§ 184 Abs. 2 Satz 2 AO legt des Weiteren fest, dass die nicht periodengerechte Erfassung von Besteuerungsgrundlagen nach § 163 Abs. 1 Satz 2 AO auch für die Festlegung des Gewerbeertrages als Grundlage für die Festsetzung des Gewerbesteuermessbetrages wirkt.

II. Stundung gem. § 222 AO

Nach § 222 Satz 1 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis stunden, wenn die Einziehung eine erhebliche Härte für den Schuldner bedeuten würde und der Anspruch dadurch nicht gefährdet scheint. Im Gegensatz zum Erlass ist es hier ausreichend, dass die besondere Härte nur im konkreten Zeitpunkt der Einziehung vorliegt167. Zur Beseitigung der Härte ist die zeitliche Verschiebung der Einziehung in Form der Stundung ausreichend.

III. Erlass von Stundungszinsen gem. § 234 Abs. 2 AO

Während des Zeitraumes der Stundung nach § 222 AO entstehen gem. § 234 Abs. 1 AO Stundungszinsen. Auf diese kann gem. § 234 Abs. 2 AO ganz oder teilweise verzichtet werden, wenn die Erhebung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Diese Regelung ist lex specialis zu den §§ 163, 227 AO168, die Voraussetzungen decken sich insoweit169.

IV. Erlass von Aussetzungszinsen gem. § 237 Abs. 4 i.V.m. § 234 Abs. 2 AO

Wird die Vollziehung eines Steuerverwaltungsaktes, insbesondere eines Steuerbescheides, gem. § 361 Abs. 2 AO während eines Prozesses ausgesetzt und wird in diesem Verfahren die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes bestätigt, so sind für die Zeit der Aussetzung gem. § 237 Abs. 1 AO die geschuldeten Beträge zu verzinsen. Auch auf diese Zinsen können die Steuerbehörden verzichten. § 237 Abs. 4 AO verweist dazu auf § 234 Abs. 2 AO. Es bestehen daher keine Unterschiede zum Erlass

167 Gerber, Rdnr. 4 ff.; von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 222 AO Rdnr. 120; Tipke/Kruse,

§ 222 AO Rdnr. 22 f. 168 Ruban in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 234 AO Rdnr. 20; Tipke/Kruse, § 234 AO Rdnr. 12. 169 So Höllig, DStZ 1977, 283 (287); Tipke/Kruse, § 234 AO Rdnr. 12; Ruban in

Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 234 AO Rdnr. 20; Rüsken in Klein, § 234 Rdnr. 27; Stein, S. 138; BFH v. 18. April 1996 V R 55/95 in BStBl. 1996 II, 561 (562) = BFHE 180, 516; BFH v. 20. November 1987 VI R 140/84 in BStBl. 1988, 402 (403) = BFHE 152, 310; anderer Ansicht lediglich Schwarz, § 234 AO Rdnr. 12.

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von Stundungszinsen, insoweit kann auf die Ausführungen zu § 234 Abs. 2 AO verwiesen werden.

V. Einstweilige Einstellung oder Beschränkung der Vollstreckung

Nach § 258 AO kann die Vollstreckung, soweit sie im Einzelfall unbillig ist, einstweilen eingestellt oder beschränkt werden. Der Begriff der Unbilligkeit ist hier ebenfalls identisch mit dem in den vorgenannten Vorschriften verwendeten170. Allerdings ergibt sich aus dem Charakter der Maßnahme als zeitlich befristete, dass die einstweilige Einstellung oder Beschränkung der Vollstreckung keine dauernde Unbilligkeit voraussetzt. § 258 AO gibt vielmehr die Möglichkeit, kurzfristig auf Härten zu reagieren, die von der Vollstreckung ausgehen171.

VI. Aussetzung der Verwertung gem. § 297 AO

Nach § 297 AO kann die Vollstreckungsbehörde die Verwertung gepfändeter Sachen unter Anordnung von Zahlungsfristen zeitweise aussetzen, wenn die alsbaldige Verwertung unbillig wäre. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift ist im Wesentlichen deckungsgleich mit dem des § 258 AO172. Der Begriff der Billigkeit stimmt mit dem in § 258 AO und den anderen Vorschriften überein173.

VII. Aussetzung der Vollziehung gem. § 361 Abs. 2 Satz 2 AO

Nach § 361 Abs. 2 Satz 2 AO soll die Vollziehung ausgesetzt werden, wenn diese eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Eine solche unbillige Härte liegt vor, wenn dem Steuerpflichtigen durch die sofortige Vollziehung Nachteile drohen, die für die Umsetzung des Verwaltungsakts nicht erforderlich sind. Insbesondere ist dies der Fall, wenn die nachteiligen Folgen der Vollziehung irreversibel oder existenzbedrohend sind174.

170 Tipke/Kruse, § 258 AO Rdnr. 4. 171 Schwarzer, DStZ 1994, 366 (371). 172 Dazu Müller-Eiselt in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 297 AO Rdnr. 10. 173 Müller-Eiselt in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 297 AO Rdnr. 10; Kühn/von Wedelstädt, § 297 AO

Anm. 4. 174 Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 361 AO Rdnr. 123.

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2. Teil: Darstellung der Grundzüge der BFH-Rechtsprechung anhand von Fallgruppen und deren Würdigung

Zur Analyse der Rechtsprechung des BFH werden Fallgruppen gebildet. Die historische Entwicklung der Rechtsprechung des BFH und die aktuelle Ansicht des BFH werden anhand dieser Fallgruppen dargestellt. Im Anschluss an die Darstellung erfolgt eine Bewertung der Rechtsprechung des BFH.

A. Erlass bei rechtskräftig oder bestandskräftig gewordenem Steuerbescheid

Als erste Fallgruppe soll die Erlassmöglichkeit bei rechtskräftig oder bestandskräftig gewordenem Steuerbescheid untersucht werden.

I. Darstellung der Problematik

Die Institutionen der Rechtskraft bei gerichtlichen Entscheidungen und der Bestandskraft bei Maßnahmen der Verwaltung dienen der Herstellung von Rechtssicherheit.

1. Rechtskraft und Bestandskraft

Die Begriffe der Bestandskraft und Rechtskraft waren in ihrer Bedeutung lange Zeit umstritten. Erst in neuerer Zeit hat sich eine Dogmatik durchgesetzt, die im Folgenden beschrieben wird. Gerade älteren Publikationen liegt hingegen oftmals ein anderes Verständnis der verwendeten Termini zugrunde175.

a) Bestandskraft

Die Bestandskraft betrifft die besondere Wirksamkeit von Verwaltungsakten. Es ist dabei zu unterscheiden zwischen materieller und formeller Bestandskraft.

175 Vgl. dazu von Bodungen, S. 30, der noch nicht zwischen Rechtskraft und Bestandskraft

unterscheidet und formelle Rechtskraft mit Unanfechtbarkeit gleichsetzt; ebenso Becker, Reichsabgabenordnung, Vor § 217 Anm. 1.

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aa) Materielle Bestandskraft

Die materielle Bestandskraft ist vom Gesetzgeber sowohl im allgemeinen Verwaltungsrecht als auch im Steuerrecht kaum geregelt. Der Begriff ist daher besonders umstritten176. Als materielle Bestandskraft wird die besondere Wirksamkeit eines Verwaltungsakts bezeichnet177. Diese zeichnet sich durch zwei Komponenten aus. Als erster Bestandteil ist die Bindungswirkung des Verwaltungsaktes zu nennen. Dieser ist für den Bürger verbindlich178. Dem korrespondiert die beschränkte Aufhebbarkeit des Verwaltungsaktes. Auch die erlassende Behörde kann den Verwaltungsakt nicht beliebig, sondern nur unter bestimmten Voraussetzungen ändern oder aufheben179.

bb) Formelle Bestandskraft

Anders als bei der materiellen Bestandskraft ist die Abgrenzung dieses Begriffes weitgehend geklärt180. Formelle Bestandskraft wird allgemein als synonym für die Unanfechtbarkeit eines Verwaltungsaktes verstanden181. Ein Verwaltungsakt, der formell bestandskräftig ist, kann daher mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr angefochten werden182. Als ordentliche Rechtsmittel in diesem Sinne gelten der Widerspruch und die Klage183. Außerordentliche Rechtsmittel, wie die Gegenvorstellung oder die Wiedereinsetzung, die gegen einen Verwaltungsakt erhoben werden können, gehören nicht dazu184. Die Möglichkeit der Änderung des Verwaltungsakts im Wege eines außerordentlichen Rechtsbehelfes, zu denen im weitesten Sinne auch der Antrag auf Erlass aus Billigkeitsgründen gehört, steht daher der formellen Bestandskraft nicht entgegen. Die formelle Bestandskraft findet ihre Entsprechung im prozessualen Begriff der formellen Rechtskraft185.

176 Vgl. die unterschiedlichen Auffassungen von Maurer, § 11 Rdnr. 5 ff, von Groll in

Hübschmann/Hepp/Spitaler, Vor § 172 AO Rdnr. 8 ff. und Ruffert in Erichsen/Ehlers, § 31 Rdnr. 25 m.w.N.; die Darstellung orientiert sich an der Auffassung von Maurer. Eine nähere Auseinandersetzung mit diesem Problemkreis, der die folgende Betrachtung nur peripher berührt, kann an dieser Stelle nicht stattfinden.

177 Maurer, § 11 Rdnr. 5 f.; Jakob, Abgabenordnung, Rdnr. 284. 178 Maurer, § 11 Rdnr. 6. 179 Wolff/Bachof/Stober, Band 2, § 50 Rdnr. 5; Maurer, § 11 Rdnr. 6 f; Jakob, Abgabenordnung,

Rdnr. 284. 180 Ausführlich zur formellen Bestandskraft bei Steuerverwaltungsakten Goutier, S. 83 ff.; vgl. dazu

auch Klein, Gleichheitssatz und Steuerrecht, S. 221 ff. 181 Woerner/Grube, S. 10; Maurer, § 11 Rdnr. 4; Jakob, Abgabenordnung, Rdnr. 554; von Groll in

Hübschmann/Hepp/Spitaler, Vor § 172 AO Rdnr. 10; ähnlich Ruffert in Erichsen/Ehlers, § 21 Rdnr. 24; Wolff/Bachof/Stober, streiten die eigenständige Bedeutung des Begriffes der formellen Rechtskraft ab, vgl. Band 2, § 50 Rdnr. 8.

182 Maurer, § 11 Rdnr. 4. 183 Von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Vor § 172 AO Rdnr. 10. 184 Von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Vor § 172 AO Rdnr. 10, insbesondere FN 3. 185 Maurer, § 11 Rdnr. 4.

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Die formelle Bestandskraft kann durch verschiedene Umstände eintreten. In der Praxis am bedeutendsten ist hier der Ablauf der Rechtsmittelfristen. Formelle Bestandskraft kann aber auch eintreten bei einem wirksamen Verzicht auf Einlegung von Rechtsmitteln durch den Betroffenen oder wenn Rechtsmittel überhaupt nicht oder wegen Erschöpfung des Rechtsweges nicht mehr eingelegt werden können186. In der Diktion des BFH wird der Begriff der Bestandskraft teilweise synonym für formelle Bestandskraft verwendet187. Insbesondere in alten Entscheidungen unterscheidet der BFH zum Teil nicht zwischen formeller Bestandskraft und (formeller) Rechtskraft. Der Begriff der Rechtskraft wird vielmehr als Oberbegriff verwendet188. Dies mag sprachlich nach heutigem Verständnis ungenau erscheinen. Historisch ist dies darauf zurückzuführen, dass die Differenzierung zwischen Rechtskraft und Bestandskraft von der Jurisprudenz erst in jüngerer Zeit eingeführt wurde189. Die Verwendung des Begriffes der Rechtskraft in Fällen, in denen nach heutigem Verständnis Bestandskraft vorliegt, ist aber nicht in jedem Fall fehlerhaft, da ein Verwaltungsakt, der durch Urteil formell rechtskräftig geworden ist, auch unanfechtbar und damit formell bestandskräftig ist190.

b) Rechtskraft

Die Rechtskraft stellt ein gegenüber der Bestandskraft spezielleres Rechtsinstitut dar, da sie sich ausschließlich auf die besondere Wirksamkeit gerichtlicher Entscheidungen bezieht.

aa) Materielle Rechtskraft

186 Woerner/Grube, S. 10; Maurer, § 11 Rdnr. 4. 187 Vgl. BFH vom 30. April 1981 VI R 169/78 in BStBl. II 1981, 611. 188 Vgl. BFH vom 4. November 1965 IV 432/61 U in BStBl. III 1966, 103 (104) = BFHE 84, 285;

BFH vom 2. Februar 1966 II 55/62 in BStBl. III 1966, 175 (177) = BFHE 84, 483; BFH vom 18. Oktober 1960 I 127/59 U in BStBl. III 1960, 476 = BFHE 71, 605.

189 Vgl. dazu von Bodungen, S. 30 f und dort die in FN 1 zitierte Literatur. 190 Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Begriffe „formelle Bestandskraft“ und

„formelle Rechtskraft“ nicht deckungsgleich sind. Da die Bindungswirkung von Gerichtsurteilen weitergehender ist als bei Verwaltungsakten, kann die formelle Rechtskraft vielmehr als das speziellere Rechtsinstitut angesehen werden; vgl. dazu Woerner/Grube, S. 9; zur Unterscheidung außerdem von Bodungen, S. 57 ff., der ausführlich auf die Frage eingeht, ob auch einem Verwaltungsakt Rechtskraft zugesprochen werden kann. Die Ausführungen lassen deutlich erkennen, wie schwer sich die Rechtswissenschaft bis zur Einführung des Begriffes der Bestandskraft mit der Abgrenzung der Rechtskraft tat.

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Materielle Rechtskraft meint die Bindungswirkung einer gerichtlichen Entscheidung. Die Entscheidung ist bezüglich des Streitgegenstandes für die Beteiligten191 verbindlich und bindet auch die Judikative bei späteren Entscheidungen192. Der verfassungsrechtliche Hintergrund für dieses Rechtsinstitut ist die Rechtssicherheit. Die rechtskräftige gerichtliche Entscheidung über einen Sachverhalt soll nicht erneut in Zweifel gezogen werden können; nach Ausschöpfung der Rechtsmittel soll vielmehr Rechtsfriede herrschen193.

bb) Formelle Rechtskraft

Voraussetzung für die materielle Rechtskraftwirkung eines Urteils ist der Eintritt der formellen Rechtskraft194. Von formeller Rechtskraft wird ausgegangen, wenn das Urteil nicht mehr mit ordentlichen Rechtsmitteln angefochten werden kann195. Dies ist allgemein der Fall, wenn gegen eine gerichtliche Entscheidung ein Rechtsmittel nicht zur Verfügung steht, wenn die Rechtsmittelfristen für die Beteiligten abgelaufen sind, wenn das Rechtsmittel nach Ablauf der Rechtsmittelfrist zurückgenommen wird oder von allen Seiten auf Rechtsmittel verzichtet wird196. Speziell im Steuerprozessrecht nach der FGO tritt formelle Rechtskraft eines finanzgerichtlichen Urteils ein, wenn die Rechtsmittelfrist abläuft, ohne dass vorher ein Rechtsmittel oder die Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt ist, durch Verzicht auf Rechtsmittel, durch Rücknahme der Revision nach Ablauf der Rechtsmittelfrist gem. § 125 FGO, durch Rücknahme oder Verwerfung der Nichtzulassungsbeschwerde gem. § 116 Abs. 5 Satz 3 FGO, durch Zurückweisung der Revision gem. § 126 Abs. 2 FGO oder durch Erlass des Endurteils, wozu alle BFH-Urteile gehören197. Die Möglichkeit, außerordentliche Rechtsbehelfe, zu denen das Wiederaufnahmeverfahren (§ 134 FGO) und die Verfassungsbeschwerde (§ 90 BVerfGG) gehören, zu ergreifen, verhindert den Eintritt der formellen Rechtskraft nicht198.

191 Beachte außerdem § 65 Abs. 3 VwGO und § 110 Abs. 1 Satz 1 FGO; dazu Tipke/Kruse, § 110

FGO Rdnr. 3. 192 Schenke, Rdnr. 617; Hufen, § 38 Rdnr. 25 ff; Maurer, § 11 Rdnr. 3; speziell zum

Steuerprozessrecht Tipke/Kruse, § 110 FGO Rdnr. 2. 193 Tipke/Kruse, § 110 FGO Rdnr. 2. 194 Woerner/Grube, S. 9; Schenke, Rdnr. 617. 195 Maurer, § 11 Rdnr. 3; Schenke, Rdnr. 616. 196 Schenke, Rdnr. 616; Tipke/Kruse, § 110 FGO Rdnr. 1. 197 Tipke/Kruse, § 110 FGO Rdnr. 1. 198 Zur Verfassungsbeschwerde BVerfG vom 18.1.1996 in BVerfGE 93, 381 (385) = NJW 1996,

1736; dazu auch Schenke, Rdnr. 616.

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2. Faktische Änderung eines bestandskräftigen Steuerbescheides im Billigkeitswege

Wird eine bestandskräftig festgesetzte Steuer aus Billigkeitsgründen erlassen, stellt dies faktisch eine Änderung des bestandskräftigen Steuerbescheides dar. Die sich daraus ergebende Problematik soll untersucht werden.

a) Darstellung der Fallgruppen und Einordnung in das Steuerverfahren

Um das Problemfeld deutlich zu machen, sollen zunächst die Fallgruppen dargestellt werden. Außerdem soll untersucht werden, in welchem Teil des Besteuerungsverfahrens das Problem der Durchbrechung der Bestandskraft auftritt.

aa) Darstellung der Fallgruppen

Die hier zu behandelnden Fälle lassen sich im Groben folgendermaßen skizzieren. Ein Steuerverwaltungsakt, in der Regel ein Steuerbescheid, wird unanfechtbar. Meist wird bei Steuerbescheiden die Einhaltung der Rechtsbehelfsfristen im außergerichtlichen Rechtsbehelfverfahren (Einspruch gem. § 348 AO alter Fassung und Beschwerde gem. § 349 AO alter Fassung beziehungsweise seit 1996 ausschließlich der Einspruch gem. § 347 AO) versäumt, so dass formelle Bestandskraft eintritt. Möglich ist aber auch, dass ein gerichtlich angefochtener Verwaltungsakt durch rechtskräftiges Urteil bestätigt wird199. Der betroffene Steuerpflichtige beantragt erst danach Erlass der objektiv rechtsfehlerhaft festgesetzten Steuer aus Billigkeitsgründen. Begründet wird dieses Begehren oftmals damit, der Staat könne nicht mehr beanspruchen, als ihm zusteht. Außerdem sei eine Steuerfestsetzung, die objektiv unrichtig sei, auch stets als unbillig zu betrachten.

bb) Einordnung der Problematik in das Besteuerungsverfahren nach der AO

Die strikte Trennung der AO 1977 zwischen Steuerfestsetzungs- und Steuererhebungsverfahren wirkt sich auch auf die Überprüfung der Rechtmäßigkeit von bestandskräftigen Steuerverwaltungsakten im Erlassverfahren aus. § 163 AO regelt den Erlass im Festsetzungsverfahren, also die Steuermilderung aus Billigkeitsgründen durch abweichende Festsetzung der Steuer. Materiell-rechtlich entsteht der Steueranspruch nach § 38 AO schon durch die bloße Realisierung des Tatbestandes, an den die

199 So zum Beispiel in dem Fall, der der BFH-Entscheidung vom 4. Mai 1977 zugrunde liegt,

I R 236/74 in BStBl. II 1977, 771 = BFHE 122, 388.

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speziellen Steuergesetze anknüpfen200. Nach Ermittlung des Sachverhalts und rechtlicher Würdigung wird dann im Festsetzungsverfahren die Steuer gem. §155 Abs. 1 AO festgesetzt. In der Regel ist der Festsetzungsbescheid daher der erste Steuerverwaltungsakt, der dem Steuerschuldner gegenüber ergeht. Ausnahmen sind die Fälle, in denen dem Festsetzungsbescheid ein Grundlagenbescheid vorangeht201. Die Bestandskraftdurchbrechung durch Billigkeitserlass setzt notwendig einen zuvor bestandskräftig gewordenen Verwaltungsakt voraus. Aus diesem Grunde kann die hier behandelte Problematik im Festsetzungsverfahren nur vorkommen, wenn zuvor ein Grundlagenbescheid ergangen ist. Wird vor Abschluss des Festsetzungsverfahrens ein Billigkeitserlass mit der Begründung beantragt, ein bestandskräftiger Grundlagenbescheid sei objektiv fehlerhaft, ist dann ausschließlich § 163 AO anwendbar202.

Im Erhebungsverfahren wird gem. § 218 Abs. 1 Satz 1 AO dagegen stets eine bestandskräftige Steuerfestsetzung und damit ein Verwaltungsakt vorausgesetzt203. In diesem Verfahrensstadium ist die einschlägige Norm für den Billigkeitserlass ausschließlich § 227 AO204. Die Differenzierung führt zu unterschiedlichen Konsequenzen. Zum einen kann ein bestandskräftiger Festsetzungsbescheid nur über § 227 AO korrigiert werden205. Zum anderen ist im Rahmen des § 163 die Durchbrechung der Bestandskraft nur für Grundlagenbescheide möglich. Da ein Festsetzungsbescheid stets Bestandteil des Besteuerungsverfahrens ist, erklärt dies wiederum die größere praktische Relevanz des § 227 AO in diesem Kontext. Diese lässt sich auch an der Zahl der Urteile erkennen, die der BFH seit In-Kraft-Treten der AO 1977 zu den entsprechenden Vorschriften fällte206. Zur Vereinfachung orientiert sich die folgende Darstellung daher sprachlich an dem praktisch häufigsten Fall eines bestandskräftig gewordenen Festsetzungsbescheides, dessen Betrag im Erhebungsverfahren auf Antrag des Steuerschuldners nach § 227 AO erlassen werden soll.

200 Vgl. Tipke/Lang, § 7 Rdnr. 3. 201 Tipke/Lang, § 21 Rdnr. 86 ff. 202 Vgl. dazu Bormann, DStR 1983, 565 (567). 203 Alber in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Vor § 218 AO Rdnr. 23. 204 Bormann, DStR 1983, 565 (567). 205 Ähnlich Tipke/Kruse, § 163 AO Rdnr. 21. 206 Zu § 227 AO BFH v. 9. September 1994 III R 17/93 in BStBl. II 1995, 8 = BFHE 175, 395; BFH

v. 15. Juli 1992 II R 59/90 in BStBl. II 1993, 613 = BFHE 168, 310; BFH v. 21. Februar 1991 V R 105/84 in BStBl. II 1991, 198 = BFHE 163, 313; BFH v. 11 August 1987 VII R 121/84 in BStBl. II 1988, 512 = BFHE 150, 502; BFH v. 26. Februar 1987 IV R 298/84 in BStBl. II 1987, 612 = BFHE 149, 126; zu § 163 hat der BFH in diesem Zusammenhang nur einmal ausführlich Stellung genommen, dieser Fall betraf allerdings lediglich die Frage, ob ein vor Bestandskraft des Steuerbescheides gestellter Antrag auf einen Billigkeitserlass überhaupt sachlich zu prüfen ist, BFH v. 21. Januar 1992 VIII R 51/88 in BStBl. II 1993, 3 = BFHE 168, 500.

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b) Auswirkungen eines Erlasses auf die Rechtskraft beziehungsweise Bestandskraft der Verwaltungsakte

Wenn man unter formeller Bestandskraft die Unanfechtbarkeit eines Verwaltungsaktes mit ordentlichen Rechtsmitteln versteht, stellt sich die Frage, ob diese Unanfechtbarkeit durch den Erlass beeinträchtigt ist.

aa) Auswirkung auf die formelle Bestandskraft

Dies wäre der Fall, wenn man die nach Verfristung der ordentlichen Rechtsbehelfe gewährte Minderung der Steuerbelastung durch eine Billigkeitsmaßnahme als Aufhebung des bestandskräftig gewordenen Steuerverwaltungsaktes ansehen würde. Für eine solche Annahme spricht die Tatsache, dass der Antragsteller sich auf die objektive Unrichtigkeit des Steuerbescheides stützt, um eine Änderung der Steuerforderung zu erreichen. Außerdem geht das Begehren des Steuerpflichtigen, der in einem solchen Fall einen Antrag auf Erlass aus Billigkeitsgründen stellt, in die gleiche Richtung wie die Intention des Steuerschuldners, der die Korrektur eines Steuerverwaltungsaktes mit ordentlichen Rechtsmitteln anstrebt. Gegen die Annahme, die formelle Bestandskraft wäre in einem solchen Fall durchbrochen, spricht allerdings, dass der objektiv fehlerhafte Steuerverwaltungsakt auch bei Gewährung des Erlasses unverändert bestehen bleibt. Der Erlass betrifft nicht den Bestand des Steuerverwaltungsakts, sondern die Auswirkungen des Anspruches, der in diesem Verwaltungsakt geltend gemacht wird207. Die Existenz des Steueranspruchs wird anerkannt, gleichzeitig sollen aber die Folgen dieses Anspruches gemildert werden. Daraus ergibt sich im Ergebnis, dass die formelle Bestandskraft eines Steuerverwaltungsaktes durch den Erlass des staatlichen Steueranspruchs aus Billigkeitsgründen nicht betroffen ist208.

bb) Konsequenzen für die materielle Bestandskraft

Versteht man unter der materiellen Bestandskraft die besondere Bindungswirkung des Verwaltungsaktes für den Bürger und die Behörde209, so stellt sich die Frage, ob beim Erlass einer bestandskräftig festgesetzten Steuer diese besondere Bindungswirkung des Festsetzungsbescheides entfällt oder ob sie unberührt bleibt. Dabei ist von Folgendem auszugehen: Erlässt die Steuerbehörde eine bestandskräftig festgesetzte Steuer, ist der

207 Vgl. dazu die Ausführungen von von Bodungen, S. 81 zur Rechtskraft, wobei er diesen Begriff

allerdings in dem veralteten Sinne gebraucht, der die Bestandskraft umfasst, vgl. dazu von Bodungen, S. 57 ff.

208 So zur formellen Rechtskraft auch von Bodungen, S. 82. 209 Maurer, § 11 Rdnr. 5; Jakob, Abgabenordnung, Rdnr. 284.

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Steuerpflichtige nicht mehr zur Zahlung verpflichtet. Umgekehrt kann der Steuergläubiger den entsprechenden Betrag nicht mehr einfordern. Das bereits entschiedene Rechtsverhältnis wird im Ergebnis neu geregelt. Besonders deutlich wird dies, wenn der Erlass mit dem Argument begründet wird, die bestandskräftige Steuerfestsetzung sei objektiv rechtsfehlerhaft. Festzuhalten bleibt, dass die materielle Bestandskraft in den einschlägigen Fällen durchbrochen wird210.

cc) Auswirkungen auf die Rechtskraft

Die obigen Ausführungen zur materiellen und formellen Bestandskraft können entsprechend übernommen werden für Verwaltungsakte, die durch rechtskräftiges Urteil bestätigt wurden. Festzuhalten ist daher, dass der formelle Teil der Rechtskraft in diesen Fällen nicht betroffen ist, während die materielle Rechtskraft durchbrochen wird.

II. Rechtsprechung des BFH in der historischen Entwicklung

In den ersten Entscheidungen des BFH zur Durchbrechung der Bestandskraft durch Billigkeitserlass wird zunächst festgehalten, dass eine Überprüfung bestandskräftig gewordener Steuerbescheide im Billigkeitswege grundsätzlich nicht zulässig ist211. Eine Überprüfung bestandskräftig abgeschlossener Steuerfälle im Billigkeitsverfahren kommt allenfalls bei Vorliegen besonderer Umstände in Betracht212.

1. Ausgangspunkt „besondere Umstände“

Historischer Ausgangspunkt der Rechtsprechung des BFH zur Bestandskraftdurchbrechung ist daher der unbestimmte Begriff der „besonderen Umstände“.

a) Voraussetzungen der Bestandskraftdurchbrechung

Teilweise wird die Formel von den besonderen Umständen weiter konkretisiert. In einigen Urteilen wird der Gesichtspunkt von Treu und Glauben als entscheidend angesehen. Eine Überprüfung bestandskräftiger Bescheide im Billigkeitswege soll

210 So zum Parallelproblem bei der materiellen Rechtskraft von Bodungen, S. 83. 211 BFH v. 31. März 1960 IV 204/58 in HFR 1961, 62 (62). 212 BFH v. 17. April 1956 I 218/55 U in BStBl. III 1956, 190 (191) = BFHE 62, 510; BFH v. 2. März

1961 IV 126/60 U in BStBl. III 1961, 288 (289) = BFHE 73, 53.

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demnach dann möglich sein, wenn ein Verstoß der Steuerbehörden gegen den Grundsatz von Treu und Glauben vorliegt213. Zum Teil wird auch angeführt, eine Durchbrechung der Bestandskraft komme überhaupt erst in Betracht, wenn die Steuerfestsetzung eindeutig fehlerhaft sei214. Diese Formulierung wird später zum zentralen Bestandteil der Rechtsprechung des BFH215. Interessant ist dabei, dass sie in der Entscheidung, in der sie erstmalig auftaucht, nicht entscheidungstragend ist. Der bestandskräftige Bescheid war in diesem Fall inhaltlich rechtmäßig. Diese Tatsache hätte in Zusammenhang mit der Bestandskraft genügt, um eine Ablehnung des Billigkeitsantrages zu rechtfertigen, da nach der bereits ergangenen Rechtsprechung besondere Umstände hätten vorliegen müssen, um die Durchbrechung der Bestandskraft zu rechtfertigen216. Es erscheint evident, dass besondere Umstände in diesem Sinne nicht gegeben sein können, wenn die Steuerfestsetzung inhaltlich korrekt ist. So hätte es hier einer weiteren Konkretisierung nicht bedurft. Es handelt sich insoweit um ein obiter dictum217. Teilweise wird für einen Erlass in einem solchen Fall die Erlasswürdigkeit des Steuerpflichtigen gefordert218. Dies mag aus heutiger Sicht überraschen, da in der aktuellen Rechtsprechung der BFH diese nur für die Gewähr eines Erlasses aus persönlichen Billigkeitsgründen voraussetzt219. Es ist darauf zurückzuführen, dass der BFH damals davon ausging, ein Erlass setze generell die Erlasswürdigkeit des Antragstellers voraus, da dieser eine Begünstigung des Einzelnen zu Lasten der Allgemeinheit darstelle220.

Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Voraussetzung für einen Erlass in den beschriebenen Fällen ist das Vorliegen besonderer Gründe. Diese sind nur in eine Richtung konkretisiert. Bei einem Verstoß der Finanzbehörden gegen Treu und Glauben sollen besondere Umstände vorliegen. Außerdem kommt ein Erlass bei eindeutiger Fehlerhaftigkeit des bestandskräftigen Bescheides in Betracht.

b) Begründung

Zur Begründung der oben dargestellten Grundsätze hat der BFH zunächst angeführt, es könne nicht Sinn und Zweck des § 131 RAO sein, die Bestandskraft der Steuerfestsetzung auszuhöhlen, indem im Erlassverfahren inhaltlich nochmals auf den

213 BFH v. 18. Oktober 1960 I 127/59 U in BStBl. III 1960, 476 (476) = BFHE 71, 605; BFH

v. 6. August 1963 VII 44/63 U in BStBl. III 1963, 515 (516) = BFHE 77, 535. 214 BFH v. 29. August 1962 II 112/59 U in BStBl. III 1963, 150 (151) = BFHE 76, 409. 215 Vgl. dazu nur BFH v. 30. April 1981 VI R 169/78 in BStBl. 1981, 611 (611) = BFHE 133, 255. 216 So schon BFH v. 17. April 1956 I 218/55 U in BStBl. III 1956, 190 (191) = BFHE 62, 510. 217 So im Ergebnis auch von Bodungen, S. 86 f. 218 BFH v. 2. März 1961 IV 126/60 in BStBl. III 1961, 288 (289) = BFHE 73, 53. 219 Vgl. nur BFH v. 27. Februar 1985 II R 83/83 in BFH/NV 1985, 6 (8). 220 So der BFH v. 14. November 1957 IV 418/56 U in BStBl. III 1958, 153 (154) = BFHE 66, 398.

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abgeschlossenen Sachverhalt eingegangen wird221. Interessanterweise wird dabei zwar auf die Intention der Billigkeitsvorschrift eingegangen, nicht aber die Zielrichtung des Rechtsinstitutes der Bestandskraft angesprochen. Auch dem Zweck der Bestandskraft, der Herbeiführung von Rechtssicherheit, würde ein Erlass in solchen Fällen widersprechen. Mehrfach wird außerdem ein weiterer Gesichtspunkt angeführt, der gegen den Erlass spricht. Der Antragsteller habe die Lage, in der er sich befinde, selbst herbeigeführt, weil er nicht zu gegebener Zeit Rechtsmittel ergriffen hat. Es obliege dem Steuerpflichtigen, rechtzeitig gegen einen inhaltlich fehlerhaften Bescheid vorzugehen222. Ein Verstoß gegen die Obliegenheitspflichten führe zu einem Rechtsverlust des Steuerschuldners in der Weise, dass er sich gegen die Fehlerhaftigkeit des Bescheides nicht mehr zur Wehr setzen könne.

2. Konkretisierung der „besonderen Umstände“

Bis dahin hatte der BFH die besonderen Umstände, unter denen ein Erlass zu gewähren sei, wenig konkretisiert. Es wurde lediglich angenommen, eine sachliche Unbilligkeit käme allenfalls dann in Betracht, wenn der bestandskräftige Bescheid „eindeutig fehlerhaft“ sei223.

a) Weiterentwicklung der Formel von der „eindeutigen Fehlerhaftigkeit“

Der Ansatz der eindeutigen Fehlerhaftigkeit wird vom BFH in der Folgezeit weiterentwickelt.

aa) Unmöglichkeit und Unzumutbarkeit Rechtsmittel zu ergreifen

Der BFH führt aus, ein Erlass sei bei einem eindeutig fehlerhaften, bestandskräftigen Bescheid möglich224. Die qualifizierte Rechtswidrigkeit im Sinne einer zweifellosen Fehlerhaftigkeit soll aber nicht ausreichen, um einen Erlass zu rechtfertigen. Hinzukommen müsse vielmehr, dass es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und nicht zumutbar gewesen sei, sich gegen den Verwaltungsakt rechtzeitig zur Wehr zu

221 BFH v. 17. April 1956 I 218/55 U in BStBl. III 1956, 190 (191) = BFHE 62, 510; BFH

v. 30. August 1957 VI 187/57 U in BStBl. III 1957, 408 (409) = BFHE 65, 457; BFH v. 2. März 1961 IV 126/60 U in BStBl. III 1961, 288 (289) = BFHE 73, 53.

222 BFH v. 31. März 1960 IV 204/58 in HFR 1961, 62 (63); BFH v. 18. Oktober 1960 I 127/59 U in BStBl. III 1960, 476 (476) = BFHE 71, 605.

223 BFH v. 29. August 1962 II 112/59 U in BStBl. III 1963, 150 (151) = BFHE 76, 409. 224 BFH v. 18. Juni 1964 V 175/61 in HFR 1965, 183 (183); BFH v. 30. September 1964 I 379/60 in

HFR 1965, 127 (128).

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setzen225. Der BFH kommt zu dieser Formel durch die Kombination der qualifizierten Fehlerhaftigkeit mit dem Gedanken, es sei in diesem Kontext maßgeblich, dass der Steuerpflichtige seine Einwendungen im Rechtsmittelverfahren habe geltend machen müssen226.

bb) Abweichende Formulierungen

Die exakten Formulierungen sind allerdings bei der Frage, unter welchen Umständen der Steuerpflichtige die Bestandskraft hat eintreten lassen, zum Teil abweichend. In einigen Entscheidungen wird davon gesprochen, zur eindeutigen Fehlerhaftigkeit des Bescheides müsse hinzukommen, dass der Steuerschuldner das Erforderliche getan hat, um eine inhaltlich korrekte Veranlagung herbeizuführen227. Fraglich ist, ob dies eine inhaltliche Abweichung von der ansonsten verwendeten Formel bedeutet. Leistet der Steuerschuldner das Erforderliche, um eine sachlich richtige Festsetzung zu erreichen, und kann er sein Ziel nicht erreichen, so kann dies nur darauf zurückgeführt werden, dass es ihm unmöglich oder unzumutbar war, Rechtsmittel zu ergreifen. Eine inhaltliche Abweichung dieser Formel zur vorherrschenden Formulierung kann daher nur darin gesehen werden, dass hier Unmöglichkeit und Unzumutbarkeit nicht kumulativ, sondern lediglich alternativ vorliegen müssen. Zum Teil stellt der BFH auch darauf ab, ob den Steuerschuldner bezüglich der Nichteinlegung von Rechtsmitteln ein Verschulden traf228.

cc) Eindeutige Fehlerhaftigkeit in Schätzungsfällen

Eine Besonderheit stellte der BFH in Fällen fest, in denen der bestandskräftige Steuerverwaltungsakt auf Schätzung der Besteuerungsgrundlagen beruht. In solchen Fällen soll in aller Regel die Voraussetzung der eindeutigen Fehlerhaftigkeit des Bescheides nicht gegeben sein229. Eine weitere Begründung wird nicht gegeben. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass die Beurteilung mit dem für die Schätzung typischen Unsicherheitsbereich zusammenhängt. Da eine geschätzte Steuer die tatsächliche Steuerlast nie genau treffen wird, eine gewisse Ungenauigkeit der

225 BFH v. 18. Juni 1964 V 175/61 in HFR 1965, 183 (184); BFH v. 1. Oktober 1964 V 23/62 in HFR

1965, 322 (323). 226 Dazu auch von Bodungen, S. 87. 227 So BFH v. 28. Oktober 1965 III 225/62 U in BStBl. III 1966, 56 (58) = BFHE 84, 155; BFH

v. 6. Mai 1966 III R 4/66 in BStBl. III 1966, 410 (411) = BFHE 86, 282; ähnlich BFH v. 20. Dezember 1968 III 100/64 in BStBl. II 1969, 353 (355).

228 BFH v. 2. Februar 1966 II 55/62 in BStBl. III 1966, 175 (177) = BFHE 84, 483. 229 BFH v. 30. September 1964 I 379/60 in HFR 1965, 127 (128).

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Schätzung somit immer anhaftet, ist die Eindeutigkeit der Fehlerhaftigkeit schwer festzustellen.

dd) Eindeutige Fehlerhaftigkeit bei Änderung der Rechtsprechung

In Fällen, in denen es zu einer Rechtsprechungsänderung230 zugunsten des Steuerpflichtigen gekommen ist, kann dieser unter Umständen im Billigkeitswege versuchen, die Vorteile der Änderung zu nutzen, obwohl der Steuerbescheid bereits Bestandskraft erlangt hat. Der BFH entschied dazu, eine eindeutige Fehlerhaftigkeit liege nur vor, wenn die Sach- und Rechtslage offensichtlich falsch beurteilt wurde231. Diese Voraussetzung sah der BFH in casu nicht als gegeben an: Auch wenn die Festsetzung einer veralteten Rechtsprechung folgte, müsse sie nicht eindeutig fehlerhaft sein232. Eine Änderung der Rechtsprechung könne im Allgemeinen nicht rechtfertigen, eine rechtskräftige Entscheidung im Wege des Erlasses gem. § 131 RAO zu korrigieren233.

b) Bedeutung des Grundsatzes von Treu und Glauben

Die schon bestehenden Ansätze zur Bedeutung des Grundsatzes von Treu und Glauben wurden im Wesentlichen weitergeführt. Bei einem Verstoß der Finanzbehörden gegen den Grundsatz von Treu und Glauben kann eine Steuer auch noch nach Bestandskraft erlassen werden, wenn die Veranlagung fehlerhaft war234. Als treuwidrig wird es insbesondere angesehen, wenn die Finanzbehörden im Zuge der Veranlagung mehrfach ihren Rechtsstandpunkt ändern235.

c) Begründung der Auffassung des BFH

Die Argumente des BFH schließen sich im Wesentlichen an die bereits bekannten Muster an. Das Billigkeitsverfahren sei nicht dazu bestimmt, die Richtigkeit der

230 In dem konkreten Fall änderte sich die Rechtsprechung des BGH zur Frage des

Selbstkontrahierens beim Einmann-Gesellschafter einer GmbH; vgl. dazu BGH v. 19. April 1971 II ZR 98/68 in BGHZ 56, 97.

231 BFH v. 22. September 1976 I R 68/74 in BStBl. II 1977, 15 (16) = BFHE 120, 200. 232 BFH v. 22. September 1976 I R 68/74 in BStBl. II 1977, 15 (16) = BFHE 120, 200. 233 BFH v. 22. September 1976 I R 68/74 in BStBl. II 1977, 15 (16) = BFHE 120, 200. 234 BFH v. 19. Januar 1965 VII 22/62 S in BStBl. III 1965, 206 (209 f) = BFHE 81, 572; BFH

v. 2. Februar 1966 II 55/62 in BStBl. III 1966, 175 (177) = BFHE 84, 483; BFH v. 10. Juni 1975 VIII R 50/72 in BStBl. II 1975, 789 (790) = BFHE 116, 103.

235 BFH v. 19. Januar 1965 VII 22/62 S in BStBl. III 1965, 206 (209 f) = BFHE 81, 572.

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Steuerfestsetzung nachzuprüfen236. Etwas genauer ging der VIII. Senat des BFH in einer Entscheidung aus dem Jahre 1975 auf diese Problematik ein237. Eine sachliche Unbilligkeit sei ausgeschlossen, wenn der Gesetzgeber die Härten, die eine Regelung verursachte, bewusst in Kauf genommen habe. Der Gesetzgeber habe das Rechtsmittelverfahren und die Ausschlussfristen geschaffen und damit bewusst in Kauf genommen, dass inhaltlich unrichtige Bescheide bestandskräftig werden238. Eine sachliche Unbilligkeit könne daher in aller Regel nicht vorliegen. Auch bei dieser Begründung wird mit der Zielrichtung der Vorschriften argumentiert. Allerdings geht es diesmal nicht um den Zweck der Billigkeitsvorschriften, sondern darum, welche Intention die Fristen im Steuerverfahren haben.

d) Zusammenfassung

Zusammenfassen lassen sich die Grundzüge der BFH-Rechtsprechung zu dem Problem der Bestandskraftdurchbrechung durch Billigkeitserlass im Rahmen des § 131 RAO folgendermaßen: Grundsätzlich kommt der Bestandskraft für die Verwirklichung der Rechtssicherheit große Bedeutung zu. Daher ist ein Erlass, der mit der Fehlerhaftigkeit eines Steuerverwaltungsaktes begründet wird, in der Regel ausgeschlossen. Ausnahmen sind nur in begrenztem Umfang zugelassen. Zum einen wird eine Milderung der Steuerschuld gewährt, wenn die Ablehnung des Antrages einen Verstoß gegen Treu und Glauben darstellen würde. Zum anderen ist die Steuer zu erlassen, wenn der bestandskräftige Bescheid eindeutig fehlerhaft ist und es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und nicht zumutbar war, gegen den Ausgangsbescheid fristgemäß Rechtsmittel einzulegen. Die Begründungen, die dazu angeführt werden, differieren. Teilweise wird der Sinn und Zweck des § 131 RAO angeführt239. In anderen Entscheidungen wird darauf verwiesen, es obliege dem Steuerpflichtigen, sich gegen eine sachlich fehlerhafte Steuerfestsetzung zu wehren240. Außerdem wird argumentiert, der Gesetzgeber nehme die Folgen der Fristversäumnis bewusst in Kauf241.

236 BFH v. 14. Juli 1971 II B 2/71 in BStBl. II 1971, 633 (635) = BFHE 102, 238; BFH v. 4. Mai

1977 I R 236/74 in BStBl. II 1977, 771 (772) = BFHE 122, 388. 237 BFH v. 10. Juni 1975 VIII R 50/72 in BStBl. II 1975, 789 = BFHE 116, 103. 238 BFH v. 10. Juni 1975 VIII R 50/72 in BStBl. II 1975, 789 (790) = BFHE 116, 103. 239 So BFH v. 30. August 1957 VI 187/57 U in BStBl. III 1957, 408 (409) = BFHE 65, 457. 240 BFH v. 18. Oktober 1960 I 127/59 U in BStBl. III 1960, 476 (476) = BFHE 71, 605; ähnlich schon

BFH v. 31. März 1960 IV 204/58 in HFR 1961, 62. 241 BFH v. 10. Juni 1975 VIII R 50/72 in BStBl. II 1975, 789 (790) = BFHE 116, 103.

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III. Aktuelle Position des BFH

Die Aufspaltung des alten § 131 RAO in zwei Vorschriften hatte verfahrenstechnische Gründe. Die inhaltlichen Voraussetzungen, unter denen ein Erlass ausgesprochen werden konnte, wurden hingegen durch die Schaffung der §§ 163 und 227 AO 1977 nicht geändert242. Daher knüpft der BFH in seinen Entscheidungen zu den neuen Vorschriften an die alte Rechtsprechung an.

1. Weiterentwicklung der Formel des BFH

Die Aussage, ein Erlass sei in solchen Fällen nur möglich, wenn der Bescheid offensichtlich und eindeutig fehlerhaft sei und es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und nicht zumutbar gewesen sei, sich gegen die Fehlerhaftigkeit zu wehren, wird vom BFH bis in die Gegenwart hinein geradezu gebetsmühlenartig wiederholt. Es existiert kaum eine Entscheidung in diesem Kontext, in der die Formulierung nicht angeführt wird.

a) Verwendung der ursprünglichen Formel

In den meisten Äußerungen des BFH lässt sich die „klassische“ Form dieser Aussage finden, wonach die Fehlerhaftigkeit sowohl offensichtlich als auch eindeutig sein muss und es gleichzeitig dem Steuerpflichtigen kumulativ unmöglich und unzumutbar gewesen sein muss, sich gegen die Festsetzung zu wehren243.

242 So Stein, S. 14; Gerber, Rdnr. 70; von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 14;

BFH v. 30. April 1981 VI R 169/78 in BStBl. II 1981, 611 (611) = BFHE 133, 255. 243 So bereits BFH v. 1. Oktober 1964 V 23/62 in HFR 1965, 322 (323); ebenso BFH v. 30. April

1981 VI R 169/78 in BStBl. II 1981, 611 (611) = BFHE 133, 255; BFH v. 31. Juli 1985 III R 13/80 in BFH/NV 1986, 141 (142); BFH v. 23. April 1986 II R 194/83 in BFH/NV 1987, 681 (681); BFH v. 26. Februar 1987 IV R 298/84 in BStBl. II 1987, 612 (614) = BFHE 149, 126; BFH v. 29. April 1987 X R 22/82 in BFH/NV 1988, 73 (73); BFH v. 11 August 1987 VII R 121/84 in BStBl. II 1988, 412 (513) = BFHE 150, 502; BFH v. 17. November 1987 VII B 79/87 in BFH/NV 1988, 420 (420); BFH v. 14. Februar 1989 VII R 189/85 in BFH/NV 1989, 551 (553); BFH v. 18 April 1989 VIII R 319/84 in BFH/NV 1989, 756 (756); BFH v. 20. Februar 1990 IV B 94/89 in BFH/NV 1991, 16 (16); BFH v. 21. Februar 1991 V R 105/84 in BStBl. II 1991, 489 (500) = BFHE 163, 313; BFH v. 27. Februar 1991 XI R 23/88 in BFH/NV 1991, 430 (431); BFH v. 21. Januar 1992 VIII R 51/88 in BStBl. II 1993, 3 (4) = BFHE 168, 500; BFH v. 15. Juli 1992 II R 59/90 in BStBl. II 1993, 613 (615) = BFHE 168, 319; BFH v. 17. Dezember 1993 IV B 21/93 in BFH/NV 1994, 606 (608); BFH v. 11. Januar 1995 II B 64/94 in BFH/NV 1995, 705 (706); BFH v. 15. März 1995 I R 61/94 in BFH/NV 1995, 1036 (1037); BFH v. 17. Dezember 1997 III R 8/94 in BFH/NV 1998, 935 (936); BFH v. 20. März 1998 V B 141/97 in BFH/NV 1998, 1191 (1192); BFH v. 4. Juni 1998 V B 131/97 in BFH/NV 1998, 1454 (1454); BFH v. 21. September 1999 V R 94/98 in HFR 2000, 410 (411); BFH v. 21. Oktober 1999 V R 94/98 in BFH/NV 2000, 610 (611); BFH v. 9. Juli 2003 V R 57/02 in BStBl. 2003, 901 (903) = BFH/NV 2004, 1620; BFH v. 13. Januar 2005 V R 35/03 in BStBl. II 2005, 460 (461).

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b) Erste Abwandlungen durch Verzicht auf die „Unmöglichkeit“

1986 verzichtete der II. Senat des BFH erstmals auf das Erfordernis der Unmöglichkeit. Die Bestandskraftdurchbrechung ist demnach schon zulässig, wenn neben der eindeutigen und offensichtlichen Fehlerhaftigkeit des Bescheides es dem Steuerpflichtigen lediglich nicht zumutbar war, sich gegen diesen Fehler rechtzeitig zu wehren244. Die Möglichkeiten der Berichtigung eines unanfechtbaren Bescheides werden hiermit erweitert, da die Unmöglichkeit weitergehende Anforderungen stellt als die bloße Unzumutbarkeit, Rechtsmittel zu ergreifen. In casu hatte die Erweiterung der Berichtigungsmöglichkeit jedoch keine Auswirkungen. Das Begehren des Antragstellers wurde aus anderen Gründen abgewiesen.

c) Alternative Erfordernis von Unmöglichkeit und Unzumutbarkeit

Die gleiche Konsequenz zieht eine ähnliche Formel nach sich, die 1987 erstmalig vom BFH angewendet wurde245. Danach ist ebenfalls die eindeutige und offensichtliche Fehlerhaftigkeit des Bescheides Voraussetzung für einen Erlass. Die Bedingungen der Unmöglichkeit und Unzumutbarkeit sind aber nicht mit einem „und“, sondern mit einem „oder“ verknüpft. Die Tatbestandsmerkmale müssen nicht kumulativ, sondern alternativ vorliegen. Ausreichend ist also die Unzumutbarkeit, Rechtsmittel einzulegen. Dieser Maßstab für die Bestandskraftdurchbrechung im Billigkeitswege wird in einigen späteren Entscheidungen wiederholt246. Interessant ist allerdings, dass in den Entscheidungen des BFH mit wenigen Ausnahmen, in denen der BFH nur alternativ Unzumutbarkeit oder Unmöglichkeit forderte, ein Billigkeitserlass nicht gewährt wurde. Da bei Anwendung der strengeren Formel, wonach kumulativ Unmöglichkeit und Unzumutbarkeit hätte vorliegen müssen, das gleiche Ergebnis eingetreten wäre, war die Anwendung der abgewandelten Auffassung also nicht entscheidungserheblich. Den einzigen Fall, in dem der BFH den milderen Maßstab anlegte und so zu einer für den Antragsteller günstigen Entscheidung kam, entschied der V. Senat des BFH im Jahre 2001247. Hier lagen allerdings besondere Umstände und Vorgaben des EuGH vor. Auf diesen Fall soll an anderer Stelle noch detailliert eingegangen werden. Es wäre jedoch verfehlt, zu behaupten, der abgewandelte Ansatz habe sich bereits durchgesetzt.

244 BFH v. 17. September 1986 II R 56/83 in BFH/NV 1988, 217 (217). 245 BFH v. 27. Mai 1987 X R 41/81 in BFH/NV 1987, 691 (692). 246 BFH v. 9. September 1994 III R 17/93 in BStBl. II 1995, 8 (10) = BFHE 175, 395; BFH v. 4. Mai

1995 V R 83/93 in BFH/NV 1996, 190 (190); BFH v. 2. April 1996 III B 171/95 in BFH/NV 1996, 728 (729); BFH v. 9. Dezember 1997 I B 99/97 in BFH/NV 1998, 685 (685); BFH v. 8. März 2001 V R 61/97 in BStBl. II 2004, 373 (374) = HFR 2001, 790 (791) = BFH/NV 2001, 998; widersprüchlich BFH v. 29. Juni 1987 X R 22/81 in BFN/NV 1987, 693 (694).

247 BFH v. 8. März 2001 V R 61/97 in BStBl. II 2004, 373 (374) = HFR 2001, 790 = BFH/NV 2001, 998.

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d) Zusammenfassung

Die Ansicht, ein Billigkeitserlass sei bei Vorliegen eines bestandskräftigen Steuerbescheides lediglich dann zu gewähren, wenn der Bescheid nicht nur eine qualifizierte Rechtswidrigkeit aufweise, sondern es dem Steuerpflichtigen zudem unmöglich und unzumutbar gewesen sei, sich dagegen zur Wehr zu setzen, kann als ständige Rechtssprechung bezeichnet werden. Die teilweise Anwendung weniger strenger Grundsätze lässt allerdings darauf schließen, dass die äußerst restriktive Formulierung vermehrt als inadäquat angesehen wird. Es bleibt abzuwarten, welche Ansicht sich in Zukunft durchsetzen wird.

2. Bedeutung des Grundsatzes von Treu und Glauben

Die Bedeutung des Aspektes von Treu und Glauben für die Änderung bestandskräftig festgesetzter Steuern im Billigkeitswege scheint in neuerer Zeit abzunehmen. Dies erscheint umso erstaunlicher, da dieser Gedanke am Anfang der Entwicklung der BFH-Rechtsprechung zur Problematik der Bestandskraftdurchbrechung stand248. Zunächst wird weiter an der Auffassung festgehalten, ein Billigkeitserlass könne nicht nur unter den oben beschriebenen Voraussetzungen vorzunehmen sein, sondern auch, wenn ein Verstoß der Steuerbehörden gegen Treu und Glauben vorliege249. Der Gesichtspunkt von Treu und Glauben wird neben dem des Erlasses wegen qualifizierter Fehlerhaftigkeit und der fehlenden Option, Rechtsmittel einzulegen, als zweite Möglichkeit gesehen, eine Durchbrechung der Bestandskraft zu rechfertigen.

In späteren Entscheidungen ändert sich dies. Ein treuwidriges Verhalten der Behörde wird als Indikator dafür gesehen, ob es dem Steuerpflichtigen unmöglich und unzumutbar war, fristgemäß Rechtsbehelfe zu ergreifen250. Es sollen in einem solchen Fall weniger strenge Maßstäbe bezüglich der Unzumutbarkeit und Unmöglichkeit, Rechtsmittel einzulegen, gelten251. So ist ein Billigkeitserlass zu gewähren, wenn die Behörden dem Steuerschuldner zunächst geraten haben, den Bescheid bestandskräftig werden zu lassen, da Rechtsmittel erfolglos seien, und sie zudem empfehlen, einen Erlass anzustreben und darüber hinaus behaupten, der Erlassantrag könne erst nach Eintritt der Bestandskraft gestellt werden. In einem solchen Fall sieht der BFH das

248 Vgl. BFH v. 18. Oktober 1960 I 127/59 U in BStBl. III 1960, 476 (476) = BFHE 71, 605; BFH

v. 19. Januar 1965 VII 22/62 S in BStBl. III 1965, 206 (209 f) = BFHE 81, 572; 249 BFH v. 18. Dezember 1985 I R 82/85 in BFH/NV 1986, 506 (507); BFH v. 23. April 1986

II R 194/83 in BFH/NV 1987, 681 (682). 250 BFH v. 8. April 1987 X R 14/81 in BFH/NV 1988, 217 (218 f); BFH v. 27. Mai 1987 X R 41/81

in BFH/NV 1987, 691 (692 f); im Ergebnis ebenso BFH v. 31. August 1992 X B 81/92 in BFH/NV 1993, 4 (4); ähnlich BFH v. 15. Juli 1992 II R 59/90 in BStBl. II 1993, 613 (615) = BFHE 168, 310.

251 BFH v. 8. April 1987 X R 14/81 in BFH/NV 1988, 217 (218 f).

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Verhalten der Behörden als treuwidrig an. Auf diese Weise sei beim Bürger ein Vertrauenstatbestand geschaffen worden. Die Disposition wird darin gesehen, dass es unterlassen wurde, die inhaltliche Rechtswidrigkeit fristgemäß geltend zu machen252. In einem solchen Fall sei ein Erlass zu gewähren, wenn ein entsprechender Antrag mit der Begründung gestellt wird, der Ausgangsbescheid sei materiell unrichtig gewesen. Kein Vertrauenstatbestand wird dagegen dadurch geschaffen, dass die Finanzverwaltung lediglich der aktuellen Rechtsauffassung entsprechend veranlagt. Auch bei einer späteren Änderung der Verwaltungspraxis kann sich der Steuerschuldner nicht darauf berufen, das Verhalten des Finanzamtes sei ein Verstoß gegen Treu und Glauben gewesen253.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Verstoß der Steuerbehörden gegen Treu und Glauben bei der Frage nach der Abänderung bestandskräftiger Bescheide im Billigkeitswege seine eigenständige Rolle weitgehend eingebüßt hat. In den sechziger und siebziger Jahren hatte dieser Aspekt eine wichtige Bedeutung bei der Entscheidungsfindung. Aus ihm wurde erst die Formel von der groben Fehlerhaftigkeit in Verbindung mit der Unzumutbarkeit, Rechtsmittel einzulegen, entwickelt254. Jetzt wird er als Anhaltspunkt gesehen dafür, ob es zumutbar und möglich war, Rechtsmittel einzulegen. Der Grundsatz von Treu und Glauben ist im Ergebnis ein Bestandteil der Formel der Rechtsprechung geworden, die einst aus ihm hervorging.

3. Erlass bestandskräftig festgesetzter Steuern bei Änderungen der Rechtsprechung

Diese Fallgruppen lassen sich folgendermaßen skizzieren: Nach Bestandskraft eines Bescheides ändert sich die Auslegung der entsprechenden Normen durch die Judikative zugunsten des Steuerpflichtigen. Daraufhin verlangt der Belastete die Änderung der Festsetzung. Da ordentliche Rechtsmittel aufgrund der Unanfechtbarkeit ausgeschlossen sind, wird ein Antrag gem. § 227 AO gestellt.

a) Ausgangspunkt der Rechtsprechung

Bereits in den sechziger und siebziger Jahren hatte der BFH entsprechende Fälle zu entscheiden. Der BFH lehnte das Vorliegen der Voraussetzungen eines Billigkeitserlasses in derartigen Fällen stets ab. Als Begründung wurde angeführt, die 252 So der BFH v. 8. April 1987 X R 14/81 in BFH/NV 1988, 217 (218 f); BFH v. 27. Mai 1987

X R 41/81 in BFH/NV 1987, 691 (692 f); ähnlich BFH v. 31. August 1992 X B 81/92 in BFH/NV 1993, 4 (4).

253 BFH v. 15. Juli 1992 II R 59/90 in BStBl. II 1993, 613 (615) = BFHE 168, 310. 254 Vgl. die Entwicklung von BFH v. 18. Oktober 1960 I 127/59 U in BStBl. III 1960, 476 = BFHE

71, 605 über BFH v. 2. Februar 1966 II 55/62 in BStBl. III 1966, 175 bis zu BFH v. 10. Juni 1975 VIII R 50/72 in BStBl. II 1975, 789 = BFHE 116, 103.

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Festsetzung sei nicht eindeutig fehlerhaft255. Dabei schien der BFH anzunehmen, eine derartig offensichtliche Rechtswidrigkeit sei ausgeschlossen, da die höchstrichterliche Rechtsprechung einige Zeit dieser Auslegung gefolgt sei.

b) Festhalten an den bisherigen Grundsätzen

Festzuhalten ist zunächst, dass der BFH in diesen Fallgruppen bei seiner Auffassung bleibt, eine Bestandskraftdurchbrechung komme nur in Frage, wenn die Fehlerhaftigkeit eindeutig und offensichtlich ist und es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und nicht zumutbar war, sich gegen die Festsetzung zur Wehr zu setzen256. Interessant ist allerdings die Handhabung dieser Vorgaben durch den BFH.

c) Maßgeblicher Zeitpunkt

Bei der Beurteilung der Frage, ob die Fehlerhaftigkeit den besonderen Anforderungen des BFH genügt, spielt der Zeitpunkt der Beurteilung eine entscheidende Rolle. Wird auf den Zeitpunkt der ursprünglichen Verwaltungsentscheidung abgestellt, könnte man die Offensichtlichkeit der materiellen Rechtswidrigkeit mit dem Argument verneinen, der Bescheid habe der Rechtsprechung zu dieser Zeit entsprochen. Wird hingegen der Zeitpunkt der Entscheidung über den Billigkeitsantrag als maßgeblich angesehen, wäre eine eindeutige Fehlerhaftigkeit regelmäßig zu bejahen, da der Rechtmäßigkeit des Bescheides inzwischen die Auffassung der Judikative entgegensteht. Regelmäßig entscheidet der BFH nach der ersten Alternative. Teilweise vermeidet der BFH aber eine Stellungnahme zu dieser Frage. So urteilte der BFH mehrmals, eine Entscheidung über die Frage, welcher Zeitpunkt maßgeblich ist, sei nicht nötig. Da es an der kumulativ erforderlichen Unzumutbarkeit fehle, sich gegen die Festsetzung zu wehren, komme ein Erlass jedenfalls nicht in Frage257. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der BFH dazu neigt, auf den Zeitpunkt der Steuerfestsetzung abzustellen.

255 So BFH v. 18. Juni 1964 V 175/61 in HFR 1965, 183 (184); BFH v. 22. September 1976 I R 68/74

in BStBl. II 1977, 15 (16) = BFHE 120, 200; dazu auch BVerfG v. 8. März 1977 1 BvR 1001/76 in HFR 1977, 256.

256 BFH v. 17. September 1986 II R 56/83 in BFH/NV 1988, 217 (217); BFH v. 11. August 1987 VII R 121/84 in BStBl. II 1988, 512 (513) = BFHE 150, 502; BFH v. 21. Februar 1991 V R 105/84 in BStBl. II 1991, 498 (500) = BFHE 163, 313; BFH v. 15. Juli 1992 II R 59/90 in BStBl. II 1993, 613 (615) = BFHE 168, 310; BFH v. 15. Juli 1992 II R 51/90 in BFH/NV 1993, 400 (402); BFH v. 9. September 1994 III R 17/93 in BStBl. 1995, 8 (10) = BFHE 175, 395; BFH v. 6. Oktober 2005 V R 15/04 in BFH/NV 2006, 836 (837).

257 BFH v. 11. August 1987 VII R 121/84 in BStBl. II 1988, 512 (513) = BFHE 150, 502; ebenso BFH v. 15. Juli 1992 II R 59/90 in BStBl. II 1993, 613 (615) = BFHE 168, 310.

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d) Eindeutige und offensichtliche Fehlerhaftigkeit

Zu untersuchen sind die Anforderungen, die der BFH in Fällen der Rechtsprechungsänderung an die qualifizierte Fehlerhaftigkeit stellt.

aa) Ansicht des BFH bis HFR 2001, 1017

Das Problem steht in engem Zusammenhang mit der Frage nach dem maßgeblichen Zeitpunkt. Ein Erlass wird daher teilweise mit dem Argument abgelehnt, zum Zeitpunkt der Verwaltungsentscheidung sei die einschlägige Streitfrage umstritten gewesen. Wenn keine einheitliche gegenläufige Auffassung in Rechtsprechung und Literatur zu diesem Thema herrschte, könne von einer eindeutigen Fehlerhaftigkeit keine Rede sein258. Zum Teil versucht der BFH die Frage, ob eine qualifizierte Rechtswidrigkeit des Ausgangsbescheides vorliegt, auch zu umgehen. In diesen Fällen lässt er diesen Punkt dahingestellt und entscheidet gegen den Antragsteller, da es diesem zumindest nicht unmöglich und unzumutbar war, sich gegen die Festsetzung zur Wehr zu setzen259.

bb) Der Fall Strobel

Die dargestellten Grundsätze wurden aber im Jahre 2001 in Teilen revidiert. Anlass dazu gaben europarechtliche Anforderungen. Dem V. Senat des BFH lagen zwei Sachverhalte mit europarechtlichem Bezug vor. Im Fall Strobel hatte ein Unternehmer Rechnungen über nicht durchgeführte Leistungen ausgestellt, um über seine tatsächliche Ertragslage zu täuschen. Die Rechnungsempfänger beglichen die Rechnungsbeträge und zogen die ausgewiesene Umsatzsteuer als Vorsteuer ab. Anschließend erhielten sie den Preis für die angeblichen Leistungen vom Unternehmer zurück. Der Kläger unterwarf die Rechnungsbeträge in den Voranmeldungen der Umsatzsteuer. Später erstattete er Selbstanzeige bei den Steuerbehörden und der Staatsanwaltschaft. Das Finanzamt setzte gegen den Kläger daraufhin Umsatzsteuer gem. § 14 Abs. 3 Satz 2 2. Var. UStG fest. Erst nach Eintritt der Bestandskraft der entsprechenden Bescheide beantragte der Steuerpflichtige Erlass der Umsatzsteuer. Die Finanzbehörden wiesen dieses Anliegen zurück und auch das Finanzgericht gab der Klage nicht statt. Auf die Revision des

258 So BFH v. 17. September 1986 II R 56/83 in BFH/NV 1988, 217 (217); ähnlich BFH

v. 21. Februar 1991 V R 105/84 in BStBl. II 1991, 498 (500) = BFHE 163, 313. 259 So BFH v. 11. August 1987 VII R 121/84 in BStBl. II 1988, 512 (513 f) = BFHE 150, 502; ebenso

BFH v. 15. Juli 1992 II R 59/90 in BStBl. II 1993, 613 (615) = BFHE 168, 310; BFH v. 15. Juli 1992 II R 51/90 in BFH/NV 1993, 400 (402).

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Klägers hin befasste sich der BFH mit der Rechtssache. In ähnlichen Fällen hatte das Gericht in der Vergangenheit stets entschieden, ein Erlass sei nicht geboten260.

Der BFH sah hier allerdings den Grundsatz der Umsatzsteuerneutralität berührt. Das Neutralitätsprinzip hatte der EuGH 1989 in der Rechtssache Genius als Interpretation der 6. EG-Richtlinie 77/388/EWG aufgestellt261. Aus diesem Grund legte der BFH die Sache, zusammen mit dem ähnlich gelagerten Fall Schmeink & Cofreth262, dem EuGH gem. Art. 234 EGV zur Entscheidung vor263. In der Vorlage wurde danach gefragt, ob ein guter Glaube des Rechnungsausstellers notwendig sei, um eine Rechnungsberichtigung zuzulassen, und unter welchen Umständen ein solcher vorliege264. Außerdem sollte der EuGH Stellung nehmen zu der Frage, ob eine Berichtigung der Umsatzsteuer im Rahmen des Festsetzungsverfahrens erfolgen müsse, oder ob es zur Wahrung der Umsatzsteuerneutralität ausreiche, diese Korrektur im anschließenden Billigkeitsverfahren vorzunehmen.

Der EuGH entschied, dass in einem solchen Fall, wenn also der Aussteller der Rechnung die Gefährdung des Steueraufkommens durch unrechtmäßigen Vorsteuerabzug selbständig rechtzeitig und vollständig beseitigt, der Grundsatz Umsatzsteuerneutralität es gebietet, dass zu Unrecht in Rechnung gestellte Umsatzsteuer berichtigt werden kann265. Ein guter Glaube des Ausstellers ist in einem solchen Fall nicht notwendig266. Es ist aber den Mitgliedsstaaten überlassen, die prozessualen Voraussetzungen dafür zu schaffen. Es ist daher möglich, die Korrektur in einem sich an das Festsetzungsverfahren anschließenden Verfahren zu regeln267. Die Berichtigung der zu Unrecht in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer darf aber nicht im Ermessen der Finanzverwaltung stehen268.

Gemäß dieser Vorgaben hatte der V. Senat des BFH also ein Urteil zu fällen. Im Fall Strobel verwies er daraufhin die Sache zur weiteren Sachverhaltsermittlung zurück an das FG Baden-Württemberg. Der BFH bezog jedoch zu den maßgeblichen Problemfeldern ausführlich Stellung. Der Berichtigung der Bescheide im

260 BFH v. 4. Mai 1995 V R 83/93 in BFH/NV 1996, 190 (190). 261 Urteil zur Genius-Holding EuGH v. 13. Dezember 1989 Rs. C-342/87 in EuGH Slg. 1989, S. 4227

= HFR 1991, 181. 262 Dabei ging es um die ungerechtfertigte Inrechnungstellung von Beratungsleistungen im Rahmen

des Erwerbs von GmbH-Anteilen: Rechtssache Schmeink &Cofreth V R 61/97; vgl. UR 2000, 470. 263 BFH v. 15. Oktober 1998 V R 61/97 in HFR 1999, 205. 264 So Vorlagefragen 2 und 3 des BFH v. 15. Oktober 1998 V R 61/97 in HFR 1999, 205. 265 EuGH v. 19. September 2000 Rs. C-454/98 in EuGH Slg. 2000, Teil I S. 6990 Rdnr. 58 = HFR

2000, 914 = UR 2000, 470. 266 EuGH v. 19. September 2000 Rs. C-454/98 in EuGH Slg. 2000, Teil I S. 6990 Rdnr. 58 = HFR

2000, 914 = UR 2000, 470. 267 EuGH v. 19. September 2000 Rs. C-454/98 in EuGH Slg. 2000, Teil I S. 6990 Rdnr. 49 und 65 =

HFR 2000, 914 = UR 2000, 470. 268 EuGH v. 19. September 2000 Rs. C-454/98 in EuGH Slg. 2000, Teil I S. 6990 Rdnr. 68 = HFR

2000, 914 = UR 2000, 470.

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Billigkeitsverfahren soll demnach die Bestandskraft nicht entgegenstehen269. Zwar könne nach der Rechtsprechung des BFH eine Korrektur bestandskräftiger Bescheide im Billigkeitsverfahren nur stattfinden, wenn diese eindeutig und offensichtlich unrichtig sind und wenn es dem Steuerpflichtigen nicht möglich oder nicht zumutbar war, sich gegen die Festsetzung zur Wehr zu setzen. Diese Voraussetzungen sah der BFH im entschiedenen Fall aber als erfüllt an. Nach den Grundsätzen des Urteils des EuGH sei es aufgrund europarechtlicher Bestimmungen eindeutig und offensichtlich, dass eine Berichtigung der Umsatzsteuer erfolgen müsse. Dies lässt der V. Senat des BFH für die qualifizierte Rechtswidrigkeit ausreichen. Die Unzumutbarkeit, sich gegen die Festsetzung zur Wehr zu setzen, liege ebenfalls vor. Diese ergebe sich daraus, dass die Steuerfestsetzungen dem Wortlaut des deutschen Umsatzsteuergesetzes entsprechen. Da das Urteil des EuGH zum Zeitpunkt der Festsetzung noch nicht ergangen war, musste der Steuerpflichtige daher von der Erfolglosigkeit eines Rechtsbehelfes ausgehen. Dies habe es ihm unzumutbar gemacht, gegen die Festsetzung vorzugehen270.

Festhalten lässt sich, dass der BFH zum einen die Formel von der qualifizierten Fehlerhaftigkeit in Verbindung mit kumulativ vorliegender Unmöglichkeit und Unzumutbarkeit, sich gegen die Festsetzung zu wehren, in abgeänderter Form verwendet. Unmöglichkeit und Unzumutbarkeit müssen nur noch, wie in einigen vorangegangenen Entscheidungen, alternativ vorliegen. Außerdem wird erstmalig bei einer gewandelten Auffassung in der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine offensichtliche und eindeutige Fehlerhaftigkeit angenommen. Interessant ist aber auch die erstmalig vertretene Auffassung, in einem solchen Fall mache es eine ehemals eindeutige Auslegung unzumutbar, sich gegen den Steuerverwaltungsakt zur Wehr zu setzen.

cc) Festhalten an den Strobel-Grundsätzen?

In einem Urteil vom 17. Mai 2001 wiederholt der V. Senat des BFH in einem ähnlichen Fall die Grundsätze der Strobel-Entscheidung. Da der BFH allerdings wieder den Vorgaben des Europarechts entsprechen musste, kann diese Auffassung nicht ohne weiteres auf andere Fälle der Bestandskraftdurchbrechung übertragen werden.

269 BFH v. 8. März 2001 V R 61/97 in BStBl. II 2004, 373 (374) = HFR 2001, 790 (791) = BFH/NV

2001, 998. 270 BFH v. 8. März 2001 V R 61/97 in BStBl. II 2004, 373 (374) = HFR 2001, 790 (791) = BFH/NV

2001, 998.

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e) Unmöglichkeit und Unzumutbarkeit, Rechtsbehelfe zu ergreifen

Mit Ausnahme des oben erläuterten Strobel-Urteils ist der BFH in Fällen geänderter höchstrichterlicher Rechtsprechung stets davon ausgegangen, es müsse dem Steuerpflichtigen sowohl unmöglich als auch unzumutbar gewesen sein, Rechtsbehelfe gegen den Ausgangsbescheid zu ergreifen271. Erst in der erwähnten Entscheidung sieht der V. Senat des BFH ein alternatives Vorliegen dieser Voraussetzungen als ausreichend an. Auch wenn in einem ähnlich gelagerten Fall272 an die Grundsätze der Strobel-Entscheidung angeknüpft wird, kann dies nicht so interpretiert werden, dass der BFH zukünftig von seiner restriktiven Formel keinen Gebrauch mehr machen wird. Es sind vielmehr die besonderen Umstände und europarechtlichen Anforderungen zu beachten, unter denen die Strobel-Entscheidung und die anschließenden Urteile zu entsprechenden Sachverhalten ergingen. Es bestand die Notwendigkeit, einen Konsens mit dem Grundsatz der Umsatzsteuerneutralität herbeizuführen. Da der Wortlaut des § 14 Abs. 2 und 3 UStG aber insoweit eindeutig ist und keine europarechtskonforme Auslegung zulässt, wurde als einzig verbleibende Möglichkeit der Billigkeitserlass gewährt.

4. Schätzungsfälle

Die dargestellten Fälle lassen sich folgendermaßen charakterisieren: Ein Steuerpflichtiger versäumt es trotz wiederholter Aufforderungen durch das Finanzamt, eine Steuererklärung abzugeben. Da die Steuern sich nicht ermitteln lassen, setzen die Finanzbehörden die Steuer schließlich im Schätzungswege (§ 162 Abs. 1 AO, beachte auch § 162 Abs. 2 Satz 1 AO) fest. Dieser Bescheid wird dann unanfechtbar. Nach Eintritt der Bestandskraft verlangt der Steuerpflichtige den Erlass der festgesetzten Steuer mit der Begründung, die geschätzte Steuerbelastung sei höher als der Steuerbetrag, der tatsächlich hätte festgestellt werden müssen.

a) Ausgangspunkt der BFH-Rechtsprechung

Schon 1960 wies der IV. Senat des BFH eine entsprechende Klage ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit eines Steuerbescheides, die

271 BFH v. 17. September 1986 II R 56/83 in BFH/NV 1988, 217 (217); BFH v. 11. August 1987

VII R 121/84 in BStBl. II 1988, 512 (513) = BFHE 150, 502; BFH v. 21. Februar 1991 V R 105/84 in BStBl. II 1991, 498 (500) = BFHE 163, 313; BFH v. 15. Juli 1992 II R 59/90 in BStBl. II 1993, 613 (615) = BFHE 168, 310; BFH v. 15. Juli 1992 II R 51/90 in BFH/NV 1993, 400 (402); BFH v. 9. September 1994 III R 17/93 in BStBl. II 1995, 8 (10) = BFHE 175, 395.

272 BFH v. 17. Mai 2001 V R 77/99 in BStBl. 2004, 370 = HFR 2001, 1017 = BFH/NV 2001, 1168.

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im Rechtsmittelverfahren hätten vorgebracht werden müssen, können im Billigkeitsverfahren grundsätzlich keine Rolle spielen273. Dies gelte insbesondere dann, wenn der Steuerpflichtige die fehlerhafte Festsetzung durch sein nachlässiges Verhalten selbst mitverursacht hat274. In den sechziger Jahren wurde ein anderer Aspekt in diesem Zusammenhang betont. Da die Schätzung stets eine gewisse Ungenauigkeit in sich trägt, soll in Schätzungsfällen regelmäßig keine eindeutige Fehlerhaftigkeit vorliegen275. In den achtziger Jahren wurde mehrfach entschieden, eine Bestandskraftdurchbrechung solle in der Regel dann ausgeschlossen sein, wenn die fehlerhafte Festsetzung auf unzureichenden Angaben des Steuerpflichtigen beruht276.

Festzuhalten bleibt, dass sich zwei Aspekte herauskristallisieren. Zum einen wird argumentiert, die mangelnde Kooperation des Steuerpflichtigen habe die fehlerhafte Steuerschätzung mitverursacht und dies lasse die Ablehnung des Erlasses als nicht ermessensfehlerhaft erschienen. Zum anderen wird herausgestellt, eine qualifizierte materielle Rechtswidrigkeit des Bescheides könne nicht vorliegen, da der Schätzung stets ein Unsicherheitsmoment innewohne. Diese beiden Aspekte bestimmen auch die derzeitige Position des BFH zur Frage der Rechtskraftdurchbrechung in Schätzungsfällen.

b) Unsicherheitsbereich der Schätzung

Die Überlegungen des BFH gehen von folgenden Prämissen aus. Die Schätzung beruht nicht auf festgestellten Tatsachen, sondern auf Wahrscheinlichkeitsüberlegungen277. Daher weist das Ergebnis einer Schätzung stets Unschärfen auf278. Schätzungsergebnisse, die sich innerhalb dieses Unsicherheitsbereiches bewegen, sind rechtmäßig279. Da das Auftreten von Unsicherheiten bezüglich der Steuerhöhe also in der Natur der Schätzung liegt, ist es besonders schwer, eine eindeutige Fehlerhaftigkeit der so ermittelten Steuerbelastung festzustellen280. Daher liegt bei Schätzungsfällen in der Regel keine eindeutige und offensichtliche Fehlerhaftigkeit vor, die den Erlass einer bestandskräftig festgesetzten Steuer rechtfertigen könnte281. Aufgrund dieser

273 BFH v. 31. März 1960 IV 204/58 in HFR 1961, 62 (62). 274 BFH v. 31. März 1960 IV 204/58 in HFR 1961, 62 (63). 275 BFH v. 30. September 1964 I 379/60 in HFR 1965, 127 (128). 276 BFH v. 30. April 1981 VI R 169/78 in BStBl. II 1981, 611 (611) = BFHE 133, 255; ähnlich BFH

v. 29. April 1987 X R 22/82 in BFH/NV 1988, 73 (73). 277 Vgl. auch Trzaskalik in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 162 AO Rdnr. 15. 278 BFH v. 14. März 1989 III B 5/89 in BStBl. II 1990, 351 (352). 279 BFH v. 1. Oktober 1992 IV R 34/90 in BStBl. II 1993, 259, (260); Trzaskalik in

Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 162 AO Rdnr. 39. 280 BFH v. 11. März 1988 III R 236/84 in BFH/NV 1989, 432 (432). 281 So schon BFH v. 30. September 1964 I 379/60 in HFR 1965, 127 (128); ebenso BFH v. 11. März

1988 III R 236/84 in BFH/NV 1989, 432 (432); BFH v. 17. Dezember 1997 III R 8/93 in BFH/NV 1998, 935; ähnlich BFH v. 15. Oktober 1992 X B 152/92 in BFH/NV 1993, 80 (80).

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Überlegung wies der III. Senat des BFH 1988 die Klage eines Unternehmers zurück, dessen Steuerbescheide auf Schätzungen beruhten282. Mit ähnlicher Begründung wurde 1992 in einem Beschluss des V. Senats des BFH der Antrag auf Prozesskostenhilfe einer Klägerin zurückgewiesen283.

c) Verletzung von Mitwirkungspflichten

Der III. Senat des BFH stellte 1997 äußerst restriktive Maßstäbe für den Erlass einer geschätzten Steuer auf284. Danach soll sogar bei Vorliegen einer offensichtlich und eindeutig fehlerhaften Steuerfestsetzung und wenn es zusätzlich dem Steuerpflichtigen unmöglich und unzumutbar war, sich gegen die Festsetzung zur Wehr zu setzen, demnach ein Erlassantrag in der Regel scheitern, wenn die fehlerhafte Festsetzung auf unzureichenden Angaben des Steuerpflichtigen beruht285. Der Erlass soll insbesondere ausgeschlossen sein, wenn der Steuerpflichtige über einen längeren Zeitraum keine Steuererklärungen abgegeben hat. Da die Schätzung regelmäßig erst erfolgt, wenn der Steuerschuldner sich über geraume Zeit nicht erklärt hat, ist nach dieser Ansicht für den Erlass fehlerhaft geschätzter Steuern kaum Raum.

d) Zusammenfassung

Nach der Auffassung des BFH ist der Erlass aus Billigkeitsgründen in den Fällen einer unanfechtbar gewordenen Steuerschätzung restriktiv zu handhaben. Diese Einschätzung wird zum einen damit begründet, eine qualifizierte Fehlerhaftigkeit im Sinne der BFH-Rechtsprechung sei bei Schätzungen in der Regel nicht festzustellen, da ein Unsicherheitsfaktor bezüglich der Höhe der Steuer in der Natur der Sache liege. Außerdem wird angeführt, der Steuerpflichtige habe die ungenaue Festsetzung durch die mangelnde Kooperation mitverursacht und sei daher weniger schützenswert.

5. Zusammenfassung zur Frage des Billigkeitserlasses bei bestandskräftigen Steuerbescheiden

Festgehalten werden kann, dass der BFH hier zum einen eine qualifizierte Fehlerhaftigkeit des Steuerverwaltungsaktes zur Voraussetzung für einen Erlass macht.

282 BFH v. 11. März 1988 III R 236/84 in BFH/NV 1989, 432. 283 BFH v. 15. Oktober 1992 X B 152/92 in BFH/NV 1993, 80 (80), der BFH führte aber zusätzlich

noch den Gesichtspunkt der fehlenden Mitwirkung an (S. 81). 284 BFH v. 17. Dezember 1997 III R 8/93 in BFH/NV 1998, 935. 285 BFH v. 17. Dezember 1997 III R 8/93 in BFH/NV 1998, 935 (937).

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Der Bescheid muss offensichtlich und eindeutig unrichtig sein. Außerdem wird gefordert, dass es dem Steuerpflichtigen unmöglich und unzumutbar gewesen sein muss, sich gegen den inhaltlich mangelhaften Verwaltungsakt zur Wehr zu setzen. Von dieser Formulierung wird teilweise in der Weise abgewichen, dass Unmöglichkeit und Unzumutbarkeit nur alternativ gefordert werden. Dieser Ansatz hat sich aber in der Rechtsprechung des BFH noch nicht durchgesetzt. Die kumulative Erfordernis dieser beiden Tatbestandsvoraussetzungen kann daher weiterhin als ständige Rechtsprechung des BFH bezeichnet werden.

IV. Bewertung dieser Grundsätze

Die dargestellten Grundsätze der Haltung des BFH soll im Folgenden überprüft werden.

1. Verfassungsrechtlicher Hintergrund

Um eine verfassungsrechtliche Bewertung vorzunehmen, sind die Verfassungsgüter zu betrachten, die im Falle der Rechtskraftdurchbrechung durch Billigkeitserlass unmittelbar tangiert sind. Dies sind in erster Linie die Rechtssicherheit, der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Gleichheitssatz.

a) Rechtssicherheit

Der Grundgedanke der Bestandskraft besteht darin, dass die rechtliche Beurteilung eines Sachverhaltes zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeschlossen sein soll und die am Rechtsverhältnis Beteiligten den festgehaltenen Zustand akzeptieren müssen286. Die Rechtsbeständigkeit von Akten, die in Bestandskraft erwachsen, ist Ausdruck der Rechtssicherheit287. Das Prinzip der Rechtssicherheit ist im Grundgesetz in keiner Vorschrift explizit normiert. Die Existenz dieses Grundsatzes wird aber aus verschiedenen Verfassungsregelungen abgeleitet. Insbesondere werden hier die Artikel 1 Abs. 3, 19 Abs. 4 und 20 Abs. 3 GG genannt288. Die Rechtssicherheit ist als Verfassungsprinzip anerkannt289, wobei sie teilweise als Bestandteil des

286 Maurer, § 11 Rdnr. 2. 287 Vgl. dazu nur Maurer, § 11 Rdnr. 2. 288 BVerfG v. 21. Juni 1977 1 BvL 14/76 in BVerfGE 45, 187 (246); vgl. dazu Grzeszick in

Maunz/Dürig, Art. 20, Abschnitt VII. Rdnr. 32 ff.; von Bodungen, S. 259 f. 289 Grzeszick in Maunz/Dürig, Art. 20, Abschnitt VII. Rdnr. 50 ff; Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 20

Rdnr. 89 f.; BVerfG v. 20. April 1982 2 BvL 26/81 in BVerfGE 60, 253 (270).

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Rechtsstaatsprinzips betrachtet wird290. Beim Erlass einer bestandskräftig festgesetzten Steuer wird das betreffende Rechtsverhältnis zwischen Steuerschuldner und Steuergläubiger neu geregelt. Es kommt zu einer Durchbrechung der materiellen Bestandskraft291. Damit ist die Rechtssicherheit tangiert292.

b) Gesetzmäßigkeit der Verwaltung

Das Verfassungsprinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung umfasst verschiedene Punkte. Ein wesentlicher Bestandteil ist zunächst der Grundsatz des Vorbehaltes des Gesetzes. Außerdem gilt der Vorrang der formellen Norm gegenüber Regelungen, die von der Verwaltung getroffen wurden. Zusätzlich entfaltet ein formelles Gesetz der Verwaltung gegenüber auch eine Verpflichtungswirkung293.

aa) Vorbehalt des Gesetzes

Der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes meint in seiner ursprünglichen Bedeutung, dass ein Eingriff in grundrechtlich geschützte Positionen des Bürgers nur erfolgen kann, wenn ein formelles Gesetz dies erlaubt294.

(1) Darstellung des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes

Im Grundgesetz ist dieses Prinzip in Art. 20 Abs. 3 GG verankert295. Teilweise wird es zusätzlich auch aus dem in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG festgelegten Prinzip der Gewaltenteilung hergeleitet296. Aus dem historisch gewachsenen Verständnis hat das BVerfG den Wesentlichkeitsgrundsatz entwickelt297. Es handelt sich hierbei um ein Delegationsverbot des parlamentarischen Gesetzgebers. Dieser darf seine originäre Normsetzungskompetenz nur in begrenztem Maße an Verwaltungsinstanzen delegieren298. Die Wesentlichkeitstheorie steht aber nicht im Zentrum der hier 290 BVerfG v. 14. März 1963 1 BvL 28/62 in BVerfGE 15, 313 (319); speziell zur Rechtssicherheit

bei bestandskräftigen Verwaltungsakten BVerfG v. 20. April 1982 2 BvL 26/81 in BVerfGE 60, 253 (270).

291 Siehe S. 45. 292 Vgl. dazu von Bodungen, S. 262 f. 293 Dazu Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 20 Rdnr. 84. 294 Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 20 Rdnr. 70; ausführlich dazu Kunig, S. 316 ff; vgl. dazu auch

Sommermann in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 20 Rdnr. 273 ff. 295 So Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 20 Rdnr. 70. 296 So Sommermann in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 20 Rdnr. 273 ff. 297 BVerfG v. 8. August 1978 2 BvL 8/77 in BVerfGE 49, 89 (94 ff.); BVerfG v. 6. Juni 1989

1 BvR 727/84 in BVerfGE 80, 124 (132). 298 Ausführlich dazu Sommermann in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 20 Rdnr. 273 ff.

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behandelten Problematik. Vielmehr interessiert an dieser Stelle das klassische Verständnis des Prinzips vom Vorbehalt des Gesetzes. Die Verwaltung darf demnach nur aufgrund gültiger formeller Rechtsnormen tätig werden. Jedes staatliche Handeln muss sich auf ein formelles Gesetz oder eine gesetzliche Ermächtigung zurückführen lassen299. Diese Grundsätze erlangen besondere Bedeutung bei der Eingriffsverwaltung, zu deren klassischen Erscheinungsformen die Steuerverwaltung zählt300. Es gilt daher im gesamten Steuerrecht der aus dem Prinzip des Vorbehaltes des Gesetzes hergeleitete Grundsatz von der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung301. Es handelt sich dabei letztlich um eine Konkretisierung des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes302.

(2) Der Vorbehalt des Gesetzes beziehungsweise der Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung als Argument für die Bestandskraftdurchbrechung durch einen Billigkeitserlass

Die Festsetzung und Erhebung einer Steuer bedarf gemäß den oben aufgeführten Grundsätzen einer Ermächtigung des parlamentarischen Gesetzgebers303. Die in den speziellen Steuergesetzen festgelegten steuererheblichen Tatbestände stellen eine solche Ermächtigung dar. Liegen die Voraussetzungen eines formellen Steuergesetzes nicht vor, kann daher im Grundsatz der Bürger zu keiner Leistung verpflichtet werden. In den hier relevanten Konstellationen beruht allerdings die Begründung der Steuer nicht auf der korrekten Anwendung eines speziellen Steuergesetzes. Vielmehr wurde eine Norm von den Finanzbehörden unrichtig angewandt und nur durch den Ablauf der Rechtsmittelfristen kam es zu einer Verpflichtung des Bürgers zur Zahlung der Steuer304. Die Voraussetzungen des formellen Steuergesetzes waren dagegen nicht gegeben. Man könnte den Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes in solchen Fällen berührt sehen, da in grundrechtlich geschützte Rechtspositionen des Steuerpflichtigen, i.e. das Vermögen, eingegriffen wird, ohne dass ein formelles Gesetz dieses sanktioniert hätte. Bezüglich der hier betrachteten Fälle könnte der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes daher als Argument für einen Erlass in Fällen betrachtet werden, in denen ein fehlerhafter Steuerbescheid Bestandskraft erlangt hat.

299 Dittrich, RiA 1989, 317 (322). 300 Dazu Birk in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 4 AO Rdnr. 657 ff. 301 Ausführlich dazu von Bodungen, S. 209 ff. 302 Birk in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 4 AO Rdnr. 650; Kamm, S. 84 f.; ausführlich Brinkmann,

S. 5 ff.; teilweise abweichend Sellhorn, S. 42 ff. 303 Trotz des missverständlichen § 4 AO genügt nicht jede Rechtsnorm, Birk in

Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 4 AO Rdnr. 650; vgl. zur entsprechenden Norm in der RAO von Bodungen, S. 210 f.

304 Dazu von Bodungen, S. 212 f.

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Diese unmittelbare Folgerung würde allerdings zu kurz greifen, denn in diesem Zusammenhang sind noch weitere Gesichtspunkte zu beachten. Zu den formellen Gesetzen gehören nicht nur die in den speziellen Steuergesetzen aufgestellten Tatbestände. Vielmehr handelt es sich auch bei den Verfahrensvorschriften der Abgabenordnung305 und anderen relevanten Kodifikationen um Gesetze im formellen Sinne. So haben auch die Vorschriften, nach denen ein Verwaltungsakt, unabhängig von seiner inhaltlichen Richtigkeit, in Bestandskraft erwächst306, den Charakter eines formellen Gesetzes. Man könnte daher der Meinung sein, im Falle der Bestandskraft eines fehlerhaften Steuerbescheides beruht die Belastung des Bürgers nicht auf den speziellen Steuergesetzen, deren Tatbestand nicht einschlägig war, sondern auf den Fristenregelungen der allgemeinen Steuergesetze.

Es besteht allerdings ein grundlegender Unterschied zur Belastung durch die rechtmäßige Anwendung eines besonderen Steuergesetzes. Wenn die Voraussetzungen des steuerbegründenden Tatbestandes nicht vorlagen und die Erhebung der Steuer auf der Bestandskraft des Steuerbescheides beruht, wird der Steueranspruch im Ergebnis nicht durch die Erfüllung eines gesetzlichen Tatbestandes, sondern durch den Verwaltungsakt begründet307. Der Verwaltungsakt schafft dabei im Gegensatz zur Tatbestandsmäßigkeit keinen materiellen Rechtsgrund (causa) für die Entstehung der Steuer308. Der Rückgriff auf die materielle Rechtslage ist lediglich aus verfahrensrechtlichen Gründen unzulässig. Der Bestandskraft eines Steuerverwaltungsaktes kann daher nicht die gleiche Rechtfertigungswirkung für eine Belastung des Steuerpflichtigen zugesprochen werden, wie sie das Vorliegen der Voraussetzungen eines gesetzlichen Tatbestandes besitzt. Es lässt sich festhalten, dass das Prinzip der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung, und damit auch der Verfassungsgrundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, beeinträchtigt ist. Dies spricht in Fällen eines inhaltlich rechtswidrigen, aber bestandskräftig gewordenen Steuerbescheides für einen Erlass aus Billigkeitsgründen.

bb) Vorrang des Gesetzes

Der Bindung der Verwaltung an das Gesetz ist zu entnehmen, dass diese nicht gegen bestehende Gesetze verstoßen darf309. Dies gilt für alle Handlungsformen der Exekutive.

305 Die Bezeichnung „Abgabenordnung“ ist hier irreführend, sie ist historisch zu erklären. Auch die

Abgabenordnung stellt ein Parlamentsgesetz dar. 306 Namentlich die §§ 355 ff. AO und § 47 FGO. 307 Vgl. dazu von Bodungen, S. 213 f. Im Allgemeinen Verwaltungsrecht wird zum Teil davon

ausgegangen, dass bei Vorliegen eines rechtswidrigen belastenden Verwaltungsaktes die Behörde auch nach Eintritt der Bestandskraft zur Rücknahme gem. § 48 VwVfG verpflichtet ist vgl. dazu Maurer, DÖV 1966, 477 (483 ff.); kritisch Schenke, DÖV 1983, 320 (328 ff.).

308 Schuster in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 38 AO Rdnr. 12. 309 Sommermann in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 20 Rdnr. 271.

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Umfasst ist damit auch die Schaffung von Normen durch die Verwaltung. Exekutivorgane dürfen neben konkreten (i.e. der Verwaltungsakt) auch keine abstrakten Regelungen treffen, die nicht im Einklang mit formellen Gesetzen stehen. Der Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes ist daher auch Ausdruck der Normenhierarchie. Untergesetzliche Normen wie Rechtsverordnungen oder Satzungen sind unwirksam, wenn sie gegen höherrangiges Recht verstoßen310.Der Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes spielt in diesem Zusammenhang aber keine Rolle und ist nur der Vollständigkeit halber erwähnt.

cc) Verpflichtung der Verwaltung, Gesetze auszuführen

Als Bestandteil des Grundsatzes von der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung des Art. 20 Abs. 3 GG ist diese nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, die Gesetze auszuführen311. Die Anwendung der formellen Gesetze steht nicht zur Disposition der Verwaltung. Die Behörden haben den Willen des parlamentarischen Gesetzgebers umzusetzen. Es besteht ein Anwendungsgebot312. Dieses gilt auch und gerade im Steuerrecht313. Die Finanzbehörden sind daher verpflichtet, gesetzlich geschuldete Steuern auch zu erheben314. Diese Pflicht erstreckt sich nicht nur auf solche Steuern, die durch Erfüllung eines Steuertatbestandes entstanden sind. Vielmehr müssen die Finanzbehörden grundsätzlich auch solche Ansprüche durchsetzen, die auf der Bestandskraft eines Verwaltungsaktes beruhen. Die genannten Grundsätze, die sich schon aus dem Verfassungsrecht ergeben, sind durch § 85 AO auch auf einfachgesetzlicher Ebene ausdrücklich festgeschrieben worden. Zum Verzicht auf entstandene Steuern muss die Finanzverwaltung durch ein formelles Gesetz besonders legitimiert werden. Eine solche Norm, nach der unter bestimmten Voraussetzungen eine Nichterhebung von Steuern in Betracht kommt, stellen eben die §§ 163 und 227 AO dar315. Ohne in Gefahr zu geraten, hier einen Zirkelschluss zu ziehen, lässt sich feststellen, dass das verfassungsrechtlich begründete und in § 85 AO einfachgesetzlich normierte Anwendungsgebot grundsätzlich die Einziehung auch von Steuern verlangt, die auf einem fehlerhaften, aber rechtskräftigen Steuerbescheid beruhen.

310 Sommermann in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 20 Rdnr. 271. 311 Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, Rdnr. 4; BVerfG v. 27. Juni 1991 2 BvR

1493/89 in BVerfGE 84, 239 (271 f). 312 Seer, FR 1997, 553 (554); Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, Rdnr. 4. 313 Tipke/Lang, § 4 Rdnr. 161 ff.; Seer, FR 1997, 553 (554). 314 Tipke/Kruse, § 85 Rdnr. 6; Offerhaus, DB 1985, 565 (565); Seer, FR 1997, 553 (554); Söhn in

Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 85 AO Rdnr. 31; BVerfG v. 27. Juni 1991 2 BvR 1493/89 in BVerfGE 84, 239 (271 f).

315 Tipke/Kruse, § 85 AO Rdnr. 6; Tipke/Lang, § 4 Rdnr. 160.

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dd) Zusammenfassung der Betrachtungen zum Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung

Die Einziehung einer Steuer, die nur aufgrund der Bestandskraft eines Steuerbescheides zur Entstehung gelangte, tangiert den Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes. Der Verzicht auf diese Steuer beeinträchtigt hingegen das Legalitätsprinzip, da die Exekutive verpflichtet ist, entstandene Steueransprüche geltend zu machen. Da beide Maximen als Bestandteile des Verfassungsgrundsatzes von der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung betrachtet werden316 und sie als gleichwertig angesehen werden können, lässt sich eine grundgesetzliche Präferenz für oder gegen die Korrektur von inhaltlich unrichtigen, aber bestandskräftig gewordenen Steuerbescheiden durch einen Erlass aus diesem Prinzip nicht feststellen.

c) Gleichmäßigkeit der Besteuerung

Der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung wird allgemein als Ausfluss des Gleichheitsgrundsatzes des Art. 3 Abs. 1 GG angesehen317.

aa) Rechtsanwendungsgleichheit und Rechtssetzungsgleichheit im Steuerrecht

Zwei Komponenten des Grundsatzes der Gleichmäßigkeit der Besteuerung sind dabei nach dem Adressat der Norm zu unterscheiden. Zum einen ist da die Gleichheit vor dem Gesetz, die der Art. 3 Abs. 1 GG ausdrücklich normiert. Gemäß der Rechtsanwendungsgleichheit müssen die Exekutive und die Judikative die Gesetze gleichmäßig auf alle Bürger anwenden318. Der Art. 3 GG muss aber im Zusammenhang mit Art. 1 Abs. 3 GG, wonach alle Staatsgewalten, also auch die Legislative, an die nachfolgenden Grundrechte gebunden sind, gesehen werden. Daher wird aus Art. 3 Abs. 1 GG allgemein nicht nur die Rechtsanwendungsgleichheit, sondern auch 316 Die genaue systematische Einordnung ist umstritten. Ossenbühl sieht das Anwendungsgebot als

Bestandteil des Grundsatzes vom Vorrang des Gesetzes, vgl. Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, Rdnr. 1 ff. Teilweise wird es auch als Bestandteil des Gesetzesvorbehaltes betrachtet, vgl. Tipke/Kruse, § 85 AO Rdnr. 6. Überzeugend scheint hingegen die oben vorgenommene Einteilung, die auch bei Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 20 Rdnr. 84 zu finden ist. Diese Frage bedarf hier aber keiner Klärung, da unbestritten ist, dass den beschriebenen Prinzipien Verfassungsrang zukommt und sie insoweit auch gleichwertig sind.

317 Tipke/Kruse, § 85 AO Rdnr. 8; von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 30; Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 3 Rdnr. 32; Tipke/Lang, § 4 Rdnr. 70; so schon das BVerfG v. 17. Januar 1957 1 BvL 4/54 in BVerfGE 6, 55 (70 f); ebenso BVerfG v. 9. Juli 1969 2 BvL 20/65 in BVerfGE 26, 302 (310); BVerfG v. 22. Februar 1984 1 BvL 10/80 in BVerfGE 66, 214 (223).

318 Starck in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 3 Rdnr. 2; Arndt, NVwZ 1988, 787 (787 f); Tipke/Lang, § 4 Rdnr. 70; BVerfG v. 4. April 1984 1 BvR 276/83 in BVerfGE 66, 331 (335).

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die Rechtssetzungsgleichheit abgeleitet319. Auf das Gebiet des Steuerrechts bezogen bedeutet dies zweierlei. Aus der Rechtssetzungsgleichheit ergibt sich die Gleichheit der normativen Steuerpflicht, das heißt, das formelle Steuergesetz muss alle unter einen sachgerechten Besteuerungsmaßstab Fallenden als Steuersubjekte erfassen und gleichmäßig belasten320. Aus dem Grundsatz der Rechtsanwendungsgleichheit wird die Verpflichtung der Finanzbehörden und Finanzgerichte gefolgert, die Steuergesetze gleichmäßig anzuwenden und durchzusetzen321.

bb) Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit

Das BVerfG legt den Gleichheitssatz am grundlegenden Gerechtigkeitsgedanken orientiert in der Weise aus, dass wesentlich Gleiches gleich und Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschieden zu behandeln seien322. Der Gleichheitssatz stellt damit ein Willkürverbot dar323; eine Ungleichbehandlung muss sich durch sachliche Gründe rechtfertigen lassen324. Aus diesen Grundsätzen wurde das Prinzip von der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit entwickelt. Die Steuerlast des Einzelnen muss sich daher an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Bürgers orientieren325.

cc) Bedeutung der dargestellten Grundsätze für die Bestandskraftdurchbrechung durch einen Billigkeitserlass

Zu untersuchen ist, inwieweit aus dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Rechtsanwendungsgleichheit Rückschlüsse auf die Zulässigkeit beziehungsweise Notwendigkeit eines Erlasses von bestandskräftig festgesetzten Steuern aus Billigkeitsgründen gezogen werden können.

(1) Einfluss der Rechtsanwendungsgleichheit

319 Starck in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 3 Rdnr. 2; Arndt, NVwZ 1988, 787 (787 f);Tipke/Kruse,

§ 85 AO Rdnr. 8. 320 Tipke/Kruse, § 85 AO Rdnr. 8. 321 Tipke/Kruse, § 85 AO Rdnr. 8; hier korrespondiert die Auslegung des Art. 3 Abs. 1 GG mit der

Verpflichtung der Verwaltung, formelle Gesetze zu exekutieren. 322 Grundlegend BVerfG v. 17. Dezember 1953 1 BvR 147 in BVerfGE 3, 60 (135); ebenso BVerfG

v. 14. April 1959 1 BvL 23, 34/57 in BVerfGE 9, 237 (244); BVerfG v. 10. Oktober 1978 2 BvL 3/78 in BVerfGE 49, 280 (283).

323 Vgl. dazu nur Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 3 Rdnr. 14 ff. 324 BVerfG v. 10. Oktober 1978 2 BvL 3/78 in BVerfGE 49, 280 (283); BVerfG v. 26. März 1980

1 BvR 121, 122/76 in BVerfGE 54, 11 (26); vgl. dazu Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 3 Rdnr. 15. 325 Birk, Leistungsfähigkeitsprinzip, S. 162 ff.; Tipke/Kruse § 3 Rdnr. 43; BVerfG v. 29. Mai 1990

1 BvL 20, 26, 184, 4/86 in BVerfGE 82, 60 (86).

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Der Grundsatz, dass die Verwaltung die formellen Gesetze auszuführen hat, wurde schon unter dem Gesichtspunkt der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung betrachtet. Während dieses Prinzip auch staatsorganisatorische Züge trägt, wird im Rahmen der Rechtsanwendungsgleichheit vor allem ein überpositiver Gerechtigkeitsgedanke deutlich. Der Erlass von Steuern stellt eine Privilegierung gegenüber anderen Steuerpflichtigen dar. Dies gilt nicht nur, wenn die Steuer aus der korrekten Anwendung eines Steuergesetzes erfolgt, sondern auch, wenn die Steuer aus der bestandskräftigen Festsetzung erwächst. Der Antragsteller, der in den Genuss eines Erlasses gekommen ist, wird besser gestellt als Steuerschuldner, bei denen ebenfalls eine bestandskräftige Steuerfestsetzung erfolgt ist. Unbeachtlich ist dabei zunächst, ob die Steuerfestsetzung bei den übrigen Steuerpflichtigen auf einer korrekten Anwendung der Steuergesetze beruht.

(2) Bedeutung des Leistungsfähigkeitsprinzips

Es ist hierbei davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die Besteuerung an der Leistungsfähigkeit der Bürger ausrichtet. Nach dem Gedanken der Rechtssetzungsgleichheit ist er dazu prinzipiell verpflichtet, wobei aber ein weiter Gestaltungsspielraum anerkannt ist326. Es ist daher anzunehmen, dass die formell-gesetzlich festgelegte Steuerlast der Leistungsfähigkeit des Einzelnen entspricht. Entsteht eine Steuerlast, ohne dass der Tatbestand eines speziellen Steuergesetzes erfüllt ist, durch die Unanfechtbarkeit eines Verwaltungsaktes, kann davon ausgegangen werden, dass die Besteuerung nicht der Leistungsfähigkeit des Einzelnen entspricht. Ein Verstoß gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip und damit auch gegen den Gleichbehandlungssatz des Art. 3 Abs. 1 GG wäre in einem solchen Falle gegeben. Fraglich ist, ob sich diese durch sachliche Gründe rechtfertigen lässt. Als sachlicher Differenzierungsgrund kommt der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit in Betracht. Dass die Rechtssicherheit eine Ungleichbehandlung rechtfertigen kann, ist allgemein anerkannt327. Das aus dem Verfassungsgrundsatz der Rechtssicherheit hergeleitete Interesse an der Verbindlichkeit rechtskräftiger Entscheidungen gibt dem Gesetzgeber die Befugnis, der Verbindlichkeit bestandskräftiger Entscheidungen Vorrang gegenüber anderweitigen Interessen einzuräumen328. Eine Verletzung des Gleichheitssatzes kann daher nicht darin gesehen werden, dass Steuern, die auf der Bestandskraft eines fehlerhaften Verwaltungsaktes beruhen, eingezogen werden. 326 Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 3 Rdnr. 18; Tipke/Kruse, § 3 AO Rdnr. 43. 327 Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 3 Rdnr. 15; BVerfG v. 14. März 1963 1 BvL 28/62 in BVerfGE 15,

313 (319); BVerfG v. 12. Juni 1986 2 BvL 5/80, 17/82 und 2 BvR 635/80 in BVerfGE 72, 302 (327 f).

328 So ausdrücklich BVerfG v. 12. Juni 1986 2 BvL 5/80, 17/82 und 2 BvR 635/80 in BVerfGE 72, 302 (327 f); ebenso BVerfG v. 27. Juni 1961 1 BvL 26/58 in BVerfGE 13, 39 (45); Klein, Gleichheitssatz und Steuerrecht, S. 225.

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d) Zusammenfassung des verfassungsrechtlichen Hintergrundes

Weder aus dem Grundsatz von der Gleichmäßigkeit der Besteuerung noch aus dem Rechtsstaatsprinzip oder der Gesetzesbindung der Verwaltung lässt sich eine eindeutige Aussage bezüglich des Erlasses bestandskräftiger Steuerforderungen folgern. Der Gedanke der Rechtssicherheit spricht für die Unantastbarkeit bestandskräftiger Bescheide. Weniger eindeutig ist die Bewertung der Ergebnisse bei der Betrachtung im Zusammenhang mit dem Grundsatz von der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Dem Prinzip des Gesetzesvorbehaltes, welchem sich eine Präferenz für eine Durchbrechung der Rechtskraft entnehmen lässt, steht die Verpflichtung der Verwaltung gegenüber, formelle Gesetze umzusetzen. Die Einziehung einer sachlich fehlerhaft, aber bestandskräftig festgesetzten Steuer berührt zwar das Leistungsfähigkeitsprinzip und stellt daher eine Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG dar. Dieser Eingriff ist aber gerechtfertigt, da insoweit der Grundsatz der Rechtssicherheit zum Tragen kommt329. Im Ergebnis wird dem Gesetzgeber von der Verfassung in der Frage, ob, unter welchen Umständen und mit welchen Folgen eine Entscheidung der Verwaltung nicht mehr angefochten werden kann, ein umfassender Entscheidungsspielraum zugestanden330. Diesen Entscheidungsspielraum hat der Gesetzgeber mit einfachgesetzlichen Vorschriften ausgefüllt. Bei der Untersuchung, inwieweit die Anwendung der §§ 163, 227 AO durch den BFH in diesen Fällen korrekt ist, muss daher auf einfachgesetzliche Normen zurückgegriffen werden.

2. Betrachtung der Grundsätze des BFH im Zusammenhang der Abgabenordnung

Betrachtet man die Fälle, in denen ein Billigkeitserlass mit der Begründung verlangt wird, die Steuerfestsetzung sei materiell unrichtig gewesen, fällt die strukturelle Ähnlichkeit mit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem. § 110 AO auf.

a) Normative Betrachtung im Vergleich mit der Wiedereinsetzung gem. § 110 AO

Bei der Frage der Rechtskraftdurchbrechung geht es um Fälle, in denen trotz Versäumnis einer Frist der Steuerpflichtige so gestellt werden soll, als habe er die Frist nicht versäumt. Auch bei der Einsetzung in den vorigen Stand gem. § 110 AO führt in der Regel eine versäumte Widerspruchsfrist (§ 355 AO) dazu, dass die Festsetzung der Steuer bestandskräftig wurde331. Bei einer bestandskräftigen, aber inhaltlich fehlerhaften

329 Dazu auch BVerfG v. 8. März 1977 1 BvR 1001/76 in HFR 1977, 256 (256). 330 BVerfG v. 14. März 1963 1 BvL 28/62 in BVerfGE 15, 313 (319). 331 Tipke/Kruse, § 110 AO Rdnr. 2.

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Steuerfestsetzung kann daher dem Steuerpflichtigen grundsätzlich über die Wiedereinsetzung oder den Billigkeitserlass geholfen werden. Das Vorliegen einer sachlichen Unbilligkeit soll nur geprüft werden dürfen, wenn eine Wiedereinsetzung wegen Ablauf der Jahresfrist des § 110 AO nicht mehr in Frage kommt332. Entscheidend für die Frage nach der sachlichen Unbilligkeit ist es, ob die Besteuerung mit den gesetzlichen Wertungen übereinstimmt333.

aa) § 110 AO zugrunde liegende gesetzliche Wertungen

Daher sollen zunächst die Wertungen untersucht werden, die dem Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung zugrunde liegen. Danach kann anhand dieser normativen Grundlagen beurteilt werden, ob die Auslegung der sachlichen Unbilligkeit bei Fällen der Bestandskraftdurchbrechung im Wege des Billigkeitserlasses durch den BFH mit diesen Wertungen übereinstimmt.

(1) Bedeutung der Vorschrift

Der ungenutzte Ablauf einer gesetzlichen Frist kann für den Steuerpflichtigen verschiedene negative Folgen haben. In der Regel gehen materielle oder prozessuale Rechte verloren334. In bestimmten Fällen soll ein solcher Verlust nach Auffassung des Gesetzgebers wieder rückgängig gemacht werden können. Dazu dient insbesondere die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Der § 110 AO fingiert die fristgemäße Vornahme einer Handlung, die tatsächlich nicht rechtzeitig erfolgte335. Die für den Steuerpflichtigen negativen Rechtsfolgen des Fristablaufes entfallen rückwirkend. Die Wiedereinsetzung ermöglicht eine Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit im Sinne materieller Rechtmäßigkeit. Dafür wird die Rechtssicherheit eingeschränkt.

(2) Voraussetzungen der Wiedereinsetzung

Gemäß § 110 Abs. 1 Satz 1 AO muss der betroffene Steuerpflichtige ohne Verschulden verhindert gewesen sein, die gesetzliche Frist einzuhalten336. Die Wiedereinsetzung

332 Tipke/Kruse, § 227 AO Rdnr. 47; vgl. dazu auch Gerber, Rdnr. 85. 333 Allgemeine Ansicht, vgl. nur Gerber, Rdnr. 81; von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler,

§ 227 AO Rdnr. 126; BFH v. 23. März 1998 II R 41/96 in BStBl. II 1998, 1152. 334 Vgl. dazu auch Tipke/Kruse, § 110 AO Rdnr. 1. 335 Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 110 AO Rdnr. 2. 336 Dazu Tipke/Kruse, § 110 AO Rdnr. 11 ff.

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setzt des Weiteren einen Antrag des Bürgers voraus337. Die Möglichkeit der Wiedereinsetzung ist zeitlich beschränkt. Zum einen muss der Antrag gem. § 110 Abs. 2 Satz 1 AO spätestens einen Monat nach Wegfall des Hindernisses gestellt werden. Außerdem besteht die Option der Wiedereinsetzung grundsätzlich nur in dem Jahr nach Ablauf der ursprünglich versäumten Frist; danach kommt eine Wiedereinsetzung nur noch in Frage, wenn die Antragstellung aufgrund höherer Gewalt unmöglich war338.

(3) Erkennbare gesetzliche Wertungen

Interessant sind die im Rahmen des § 110 AO erkennbaren Wertungen des Gesetzgebers. Die Formulierung von Tatbestandsvoraussetzungen lässt grundsätzlich den Umkehrschluss zu, dass bei Nichtvorliegen dieser Voraussetzungen die entsprechende Rechtsfolge nicht eintreten soll. Im Rahmen des § 110 AO liegt der Fall aber anders. Aus der Festsetzung von Fristen für bestimmte Handlungen hat der Gesetzgeber bereits erkennen lassen, dass Rechte untergehen können, wenn die Frist nicht eingehalten wird. Dies ist eine grundlegende Wertung des Gesetzgebers, die den Stellenwert der aus dem Verfassungsgrundsatz der Rechtsstaatlichkeit resultierenden Rechtssicherheit betont. Die Wiedereinsetzung stellt eine Einschränkung der Rechtsfolgen bei Versäumnis einer der gesetzlichen Fristen dar. Das Gesetz lässt erkennen, dass es von dem Grundsatz, dass mit der Fristversäumnis wichtige Rechte des Bürgers verloren gehen, Ausnahmen gibt. Der § 110 AO hat daher den Charakter einer Ausnahmevorschrift339. Diese Ausnahmen spiegeln sich in den Tatbestandsvoraussetzungen des § 110 AO wider. Als gesetzliche Wertungen sind daher dem § 110 AO zu entnehmen, dass die negativen Folgen einer Fristversäumnis nur nach den Vorgaben dieser Vorschrift beseitigt werden können.

bb) Folgerungen für die Anwendung der Billigkeitsvorschriften

Da sachliche Unbilligkeit von der Intention des Gesetzgebers abhängt340, kann von der festgestellten Zielsetzung der Wiedereinsetzung auf die Anwendung der Billigkeitsnormen geschlossen werden. Da § 110 AO erkennen lässt, dass nur unter den aufgeführten Voraussetzungen eine Wiederherstellung des status quo ante stattfinden 337 Tipke/Kruse, § 110 AO Rdnr. 85 ff. 338 So § 110 Abs. 3 AO, vgl. dazu Tipke/Kruse, § 110 AO Rdnr. 95 ff. 339 Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 110 AO Rdnr. 2; zur Wiedereinsetzung im allgemeinen

Verwaltungsrecht vgl. BVerwG v. 29. August 1983 VI C 89/82 in NVwZ 1985, 34 (35). 340 Allgemeine Ansicht vgl. dazu Gerber, Rdnr. 81; von Groll, in Hübschmann/Hepp/Spitaler,

§ 227 AO Rdnr. 126; Tipke/Kruse, § 227 AO Rdnr. 40; BFH v. 25. Juli 1972 VIII R 59/68 in BStBl. II 1972, 918 (919) = BFHE 106, 486.

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soll, ist in allen nicht von dieser Vorschrift erfassten Fällen eine Wiedereinsetzung oder eine entsprechend wirkende andere Maßnahme nicht vom Willen des Gesetzgebers umfasst341. Bei einer bestandskräftigen Steuerfestsetzung ist eine Billigkeitsmaßnahme mit der Begründung, der Bescheid sei inhaltlich unrichtig, daher generell ausgeschlossen.

b) Ergebnis der Betrachtung

Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass eine Durchbrechung der Bestandskraft durch einen Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen mit der Begründung, die Festsetzung der Steuer sei materiell rechtswidrig gewesen, grundsätzlich nicht in Betracht kommt. Die Grundsätze des BFH missachten die vom Gesetzgeber vorgenommenen Wertungen, nach der diese Fälle nur unter der Maßgabe des § 110 AO zu behandeln sind. Auch bei Vorliegen einer offensichtlich unrichtigen Steuerfestsetzung und wenn es dem Steuerpflichtigen nicht möglich war, sich gegen diese zur Wehr zu setzen, kommt ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nur unter den Voraussetzungen des § 110 AO in Betracht342. Die Grundsätze des BFH halten sich daher nicht an die Vorgaben der Gesetze.

3. Erlass bei einem Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben

Ein Erlass von bestandskräftig festgesetzten Steuern könnte aber aus anderen allgemeinen Rechtsgrundsätzen in Betracht kommen. Zu untersuchen ist hier insbesondere der Grundsatz von Treu und Glauben, der nicht nur im Privatrecht, sondern auch im öffentlichen Recht Geltung beansprucht343.

a) Treu und Glauben im Steuerrecht

Nach dem Grundsatz von Treu und Glauben muss jeder am Rechtsverkehr Beteiligte auf die berechtigten Interessen des anderen Rücksicht nehmen344. Im öffentlichen Recht steht dieser Grundsatz in engem Zusammenhang mit dem Vertrauensschutzprinzip345. Wurde von Seite der öffentlichen Hand ein Vertrauenstatbestand bezüglich eines konkreten Rechtsverhältnisses geschaffen und hat der Bürger im Vertrauen darauf eine

341 Vgl. dazu auch Bormann, DStR 1983, 565 (568). 342 Ähnlich Bormann, DStR 1983, 565 (568). 343 Hundt-Eßwein, NWB Fach 2, S. 5077 (5077); von Groll, FR 1995, 814 (814). 344 Gerber, Rdnr. 86; vgl. dazu auch Hundt-Eßwein, NWB Fach 2, S. 5077 ff. 345 Hundt-Eßwein, NWB Fach 2, S. 5077 (5079); Tipke/Kruse, § 4 AO Rdnr. 126 ff.

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Disposition getätigt, kann der Steuerpflichtige sich auf das geschaffene Vertrauen berufen346. Die Voraussetzungen, unter denen die Geltendmachung eines Steueranspruches treuwidrig sein kann, sind somit folgendermaßen zu beschreiben: Es muss zunächst ein hinreichend konkretes Rechtsverhältnis zwischen dem Bürger und der handelnden staatlichen Körperschaft bestehen. Aufgrund des Verhaltens eines der Beteiligten, hier der Finanzbehörden, muss ein Tatbestand geschaffen worden sein, der geeignet ist, ein hinreichendes Vertrauen des anderen Beteiligten herbeizuführen. Aufgrund dieses Vertrauens wird der andere Teil zu einer schutzwürdigen Disposition veranlasst, deren Rückgängigmachung nicht möglich oder nicht zumutbar ist347.

b) Verfassungsrechtliche Grundlagen des Grundsatzes von Treu und Glauben

Der Grundsatz von Treu und Glauben im öffentlichen Recht wird allgemein aus dem Prinzip der Einzelfallgerechtigkeit und der Rechtssicherheit als Teil des Rechtsstaatsprinzips abgeleitet348. Die Verlässlichkeit staatlichen Handelns muss gewährleistet sein. Hierzu gehört insbesondere, dass der Bürger auf Handlungen vertrauen kann, die der Staat ihm gegenüber vornimmt349. Zusätzlich wird auch der Gedanke der Einzelfallgerechtigkeit zur Begründung herangezogen, der sich dem Art. 3 Abs. 1 GG entnehmen lässt350. Es kann daher festgehalten werden, dass es sich bei dem Grundsatz von Treu und Glauben im öffentlichen Recht um einen Ausfluss verschiedener Verfassungsprinzipien handelt351.

c) Bestandskraftdurchbrechung bei einem Verstoß der Finanzbehörden gegen den Grundsatz von Treu und Glauben

Fraglich ist die abschließende Bewertung des Grundsatzes von Treu und Glauben im Zusammenhang mit der Bestandskraftdurchbrechung mittels eines Billigkeitserlasses. Zunächst ist festzuhalten, dass bei der Abwägung der verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter ein wesentlicher Unterschied zu dem Fall festzustellen ist, in dem ein fehlerhafter Steuerbescheid ohne einen Verstoß gegen den Vertrauensgrundsatz bestandskräftig geworden ist. Kommt es dazu, so streitet lediglich die Einzelfallgerechtigkeit in Gestalt des Grundsatzes von der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit für einen Erlass der betreffenden Steuerschuld. Kommt aber hinzu, 346 Hundt-Eßwein, NWB Fach 2, S. 5077 (5079 f). 347 Zum Ganzen Tipke/Kruse, § 4 AO Rdnr. 138ff.; Hundt-Eßwein, NWB Fach 2, S. 5077 (5078); von

Groll, FR 1995, 814 (815 f). 348 Spindler, DStR 2001, 725 (725). 349 Dazu Kreibich, S. 35 ff. 350 Hundt-Eßwein, NWB Fach 2, S. 5077 (5078). 351 Kreibich, S. 90 ff.; kritisch Oswald, FR 1966, 344 (344 ff.).

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dass durch die Organe der Finanzverwaltung gegen Treu und Glauben verstoßen wurde, verschieben sich die Verhältnisse entscheidend. Da das Vertrauen in die Berechenbarkeit staatlichen Handelns einen Ausfluss von Verfassungsgütern darstellt, muss nun auch dieses in die Abwägung der grundgesetzlich geschützten Werte integriert werden.

Die Rechtssicherheit als verfassungsrechtlicher Grundgedanke der Bestandskraft eines Steuerverwaltungsaktes verliert dagegen ihre Wirkung. Bei der Abwägung stehen daher der Bestandskraft, die als Bestandteil der Rechtssicherheit zu sehen ist, auf der einen Seite nun die Rechtsrichtigkeit und der Vertrauensschutz entgegen, bei denen es sich ebenfalls um Elemente der Rechtssicherheit handelt352. Hinzu kommt noch der Gedanke der Einzelfallgerechtigkeit als Ausfluss des Gleichheitssatzes. Im Ergebnis ist in einem solchen Fall, in dem durch die Finanzverwaltung zurechenbar ein Vertrauen beim Bürger geschaffen wird und dieser aufgrund dessen eine schützenswerte Disposition vornimmt, ein Erlass aus Billigkeitsgründen gerechtfertigt, auch wenn es dadurch zu einer Durchbrechung der materiellen Bestandskraft des ursprünglichen Steuerbescheides kommt353.

V. Zusammenfassung

Es kann festgehalten werden, dass die Grundsätze des BFH in der Frage der Rechtskraftdurchbrechung durch einen Billigkeitserlass den gesetzlichen Anforderungen nur bedingt entsprechen. Ein Billigkeitserlass kann nicht ausgesprochen werden, wenn der Steuerpflichtige die Bestandskraft eines Steuerbescheides nicht verhindern konnte, weil ihm die Ergreifung von Rechtsmitteln nicht möglich und nicht zumutbar war. In solchen Fällen kommt lediglich eine Wiedereinsetzung gem. § 110 AO in Betracht. Sollten die Voraussetzungen dieser Norm nicht gegeben sein, kommt ein Erlass nur in Betracht, wenn die Finanzbehörden gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstoßen haben. Der Erlass wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben ist in der Rechtsprechung des BFH bereits anerkannt354. Diese Ansicht ist begrüßenswert. Allerdings wäre es wünschenswert, wenn ein Erlass auch bei offensichtlicher und eindeutiger Fehlerhaftigkeit des Bescheides und wenn es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und nicht zumutbar war, sich gegen diesen zur Wehr zu setzen, nicht mehr gewährt würde.

352 Von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 174. 353 Gerber, Rdnr. 86; von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 174. Ähnlich bereits

von Bodungen, S. 292, allerdings ist die Terminologie abweichend, von Bodungen spricht von einer Verletzung der Fürsorgepflicht. Dies ist im Ergebnis aber mit einem Verstoß gegen Treu und Glauben gleichzusetzen.

354 Vgl. dazu nur BFH v. 8. April 1987 X R 14/81 in BFH/NV 1988, 217 (218 f).

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B. Erlass von Zinsen

Betrachtet werden soll die Rechtsprechung des BFH zum Erlass von Zinsen aus Billigkeitsgründen.

I. Verzinsung von Steueransprüchen

Die Verzinsung von Steueransprüchen nach den Vorschriften der Abgabenordnung soll im Folgenden kurz dargestellt werden.

1. Historische Entwicklung

Zunächst wird die historische Entwicklung der Vorschriften über die Verzinsung von Steueransprüchen gezeigt.

a) Steuerverzinsung bis zur AO 1977

Bereits die RAO von 1919355 bestimmte eine Teilverzinsung der Steueransprüche. Nach § 104 RAO 1919 sollten Steuern bei Nichtzahlung ab Fälligkeit verzinst werden356. § 105 RAO 1919 sah vor, Zahlungsaufschub und Stundung nur gegen Verzinsung zu gewähren. Auch Erstattungsbeträge waren gem. § 132 RAO 1919 zu verzinsen. In den Jahren 1931-1933 wurde das Zinssystem durch verschiedene Änderungen unpraktikabel und unübersichtlich357. Deshalb schaffte § 20 des Steueranpassungsgesetzes von 1934358 die Verzinsung faktisch ab359, indem es die Erhebung von Verzugszinsen generell und von Stundungszinsen bei den wichtigsten Steuerarten untersagte360. 1961 wurden mit dem Steueränderungsgesetz 1961361 Erstattungs- und Aussetzungszinsen eingeführt. Das Steueränderungsgesetz des Jahres 1965 normierte die Hinterziehungszinsen362.

355 RGBl. 1919, 1993. 356 Vgl. dazu auch Bergkemper, S. 10 ff. 357 Kruse, FR 1988, 1 (1); Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler Vor §§ 233-239 AO Rdnr. 4. 358 RGBl. I 1934, 925. 359 Tipke/Kruse, Vor § 233 AO Rdnr. 1. 360 K ruse, FR 1988, 1 (1). 361 BGBl. I 1961, 981 (993); dazu Bergkemper, S. 13 ff. 362 BGBl. I 1965, 377 (384); Bergkemper, S. 16.

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b) Regelungen der AO 1977

Die AO 1977 hat die drei bestehenden Zinstypen übernommen und außerdem die Stundungszinsen wieder eingeführt. Bis 1990 wurden daher Zinsen in vier verschiedenen Formen erhoben. Stundungszinsen laufen gem. § 234 AO während der Dauer der Stundung auf. Für hinterzogene Steuern werden gem. § 235 AO Hinterziehungszinsen festgesetzt. Auf Erstattungsbeträge werden gem. § 236 AO Prozesszinsen berechnet. Außerdem wird für den Zeitraum, in dem die Vollziehung ausgesetzt ist, Aussetzungszinsen gem. § 237 AO festgelegt.

c) Einführung der Vollverzinsung

Die Verzinsung von Steuernachzahlungen und Steuererstattungen wurde bereits in den Beratungen zur AO 1977 diskutiert. Da der damit verbundene administrative Aufwand den Finanzämtern zu diesem Zeitpunkt aber nicht zugemutet werden sollte, war zunächst auf eine Normierung verzichtet worden363. Die sogenannte Vollverzinsung wurde schließlich mit dem 1988 verabschiedeten Steuerreformgesetz 1990364 vom Bundesgesetzgeber verwirklicht. § 233a wurde in die AO eingefügt. Dieser regelt die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen. Die Vollverzinsung bleibt allerdings sachlich auf einige enumerativ aufgeführte Steuerarten und zeitlich auf ein bestimmtes Intervall beschränkt. Daher ist der Begriff der Vollverzinsung, der die Verzinsung aller Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis von ihrem Entstehen bis zum Erlöschen meint, irreführend. § 233a AO ergänzt vielmehr das System der Teilverzinsung365.

2. Verzinsung gemäß der aktuellen Rechtslage

Die fünf einschlägigen Zinstypen unter der geltenden Rechtslage sollen im Folgenden kurz charakterisiert werden.

a) Nachforderungs- und Erstattungszinsen gem. § 233a AO

Zielsetzung der Norm ist es, durch Abschöpfung des Liquiditätsvorteils oder Erstattung eines Liquiditätsnachteils beim Steuerschuldner Ungleichheiten zu beseitigen, die durch unterschiedliche zeitliche Abstände zwischen Steuerentstehung und Steuerfestsetzung 363 Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Vor §§ 233-239 AO Rdnr. 7; Kruse, FR 1988, 1 (2). 364 BStBl. I 1988, 1093 (1127). 365 Tipke/Kruse, § 233a AO Rdnr. 1.

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zustande kommen366. Der sachliche Anwendungsbereich der Regelung beschränkt sich daher auf sogenannte Veranlagungssteuern, bei denen regelmäßig ein längerer Zeitraum zwischen der Entstehung des Anspruches aus dem Steuerschuldverhältnis und der Bekanntgabe des Steuerbescheides liegt. Die Steuerarten sind in § 233a AO abschließend aufgezählt. Es handelt sich um die Einkommensteuer, die Körperschaftssteuer, die Gewerbesteuer, die Umsatzsteuer und die Vermögenssteuer, welche allerdings nach einem Beschluss des BVerfG ab 1997 nicht mehr erhoben wird367. Nach einer Karenzfrist von 15 Monaten368 nach Ablauf des Jahres, in dem die Steuer entstanden ist, werden Zinsen berechnet (§ 233a Abs. 2 Satz 1 AO). Mit Wirksamwerden der Steuerfestsetzung endet der Zinslauf gem. § 233a Abs. 2 Satz 3 AO.

b) Stundungszinsen gem. § 234 AO

Gem. § 234 Abs. 1 AO werden für die Dauer einer gewährten Stundung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis Zinsen erhoben. § 234 Abs. 2 eröffnet als Spezialregelung zu den allgemeinen Billigkeitsregelungen die Möglichkeit, die Zinsen zu erlassen. Da nach der Rechtsprechung des BFH die Prinzipien der §§ 163 und 227 AO aber im gesamten Steuerrecht gelten369, ist die ausdrückliche Erwähnung des Billigkeitserlasses nach Ansicht des BFH nur deklaratorischer Natur.

c) Hinterziehungszinsen gem. § 235 AO

Bei einer vollendeten vorsätzlichen Hinterziehung von Steuern im Sinne des § 370 AO werden gem. § 235 AO Hinterziehungszinsen berechnet370. Die Frage nach einem Erlass von Hinterziehungszinsen spielt in der Praxis des BFH allerdings keine Rolle.

366 Tipke/Kruse, § 233a AO Rdnr. 7; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 233a AO Rdnr. 5. 367 Beschluss des BVerfG v. 22. Juni 1995 2 BvL 37/91 abgedruckt im BGBl. I 1995, 1191 =

BStBl. II 1995, 655. 368 Bei Einkommens- und Körperschaftssteuer beträgt diese Frist 21 Monate; vgl. § 233a Abs. 2

Satz 2 AO. 369 So entschieden zu dieser Frage im Rahmen des § 233a, der keine dem § 234 Abs. 2 entsprechende

Regelung enthält. Dennoch sollen die §§ 163, 227 hier Anwendung finden. So BFH v. 5. Juni 1996 X R 234/93 in BStBl. II 1996, 503 (504); ebenso BFH v. 24. Juli 1996 X R 23/94 in BFH/NV 1997, 92 (92).

370 Hampel/Benkendorff, S. 63 f; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 235 AO Rdnr. 13.

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d) Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge gem. 236 AO

Nach § 236 AO sind Steuererstattungs- und Steuervergütungsansprüche zu verzinsen, wenn durch rechtskräftige finanzgerichtliche Entscheidung eine festgesetzte und entrichtete Steuer herabgesetzt oder eine Vergütung gewährt wird371. Diese Vorschrift gewährt dem Steuerpflichtigen einen Anspruch gegen den Steuergläubiger. Ein Erlass von Steuerforderungen ist aber nur möglich, wenn ein Anspruch des Staates gegen einen Steuerpflichtigen besteht, auf den verzichtet werden kann. Aus diesem Grund ist ein Dispens von Steuererstattungs- und Steuervergütungsansprüchen nicht möglich. In der Rechtsprechung des BFH ist ein solcher Fall daher noch nicht entschieden worden.

e) Zinsen bei Aussetzung der Vollziehung gem. § 237 AO

Die Regelung des § 237 AO greift ein, wenn die Vollziehung im Rahmen eines Rechtsmittelverfahrens gem. § 361 AO oder § 69 FGO ausgesetzt wurde. Wird dann die betreffende Klage abschlägig beschieden und der angegriffene Bescheid für rechtmäßig erkannt, hat der Steuerpflichtige gem. § 237 Abs. 1 AO Aussetzungszinsen für den geschuldeten Betrag zu zahlen372. Die Vorschrift soll verhindern, dass Steuerpflichtige die Zahlung von Abgaben durch Rechtsmittel zinslos hinausschieben können373. § 237 Abs. 4 verweist auf § 234 Abs. 2 und 3 AO und damit auch auf die ausdrücklich normierte Möglichkeit, diese Zinsen aus Billigkeitsgründen zu erlassen374.

f) Höhe der Zinsen gem. § 238 AO

Nach § 238 Abs. 1 S. 1 AO beträgt die Höhe der Zinsen einheitlich jeden Monat ein halbes Prozent. Dabei sind nur volle Monate maßgeblich375.

3. Bedeutung der Zinstypen im Rahmen des Billigkeitserlasses

Die Entscheidungen des BFH konzentrieren sich auf die Frage eines Erlasses von Aussetzungszinsen376, Nachforderungszinsen377 und Stundungszinsen378. Aus diesem

371 Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 236 AO Rdnr. 9 ff.; Hampel/Benkendorff, S. 64 f. 372 Tipke/Kruse, § 237 AO Rdnr. 4 ff.; Hampel/Benkendorff, S. 65 f. 373 Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 237 AO Rdnr. 6. 374 Zur nach Ansicht des BFH deklaratorischen Natur vergleiche die Ausführungen zu

§ 234 Abs. 2 AO. 375 § 238 Abs. 1 S. 2 AO.

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Grund wird sich auch die Untersuchung auf diese drei Zinsarten beschränken. Bei einer quantitativen Betrachtung fällt auf, dass nach der Einführung des § 233a AO der Großteil der Urteile sich mit dem Erlass von Nachforderungszinsen auseinandersetzt. Dies spiegelt die große praktische Bedeutung der sogenannten Vollverzinsung gem. § 233a AO wieder.

II. Erlass von Stundungszinsen

Untersucht werden soll hier der Erlass von Zinsen, die für die Dauer einer Steuerstundung gem. § 234 AO erhoben werden.

1. Erste Äußerungen des BFH

Bereits in den sechziger Jahren befasste sich der II. Senat des BFH mit dem Erlass von Stundungszinsen, die nach den Vorschriften der alten RAO entstanden waren379. Die Stundungszinsen wurden wie andere steuerliche Nebenforderungen als akzessorisch zur Hauptforderung betrachtet. Der Erlass von Stundungszinsen soll demnach nur im Falle eines Erlasses der Hauptforderung gewährt werden.

2. Erlass nach § 234 Abs. 2 AO

Der Erlass von Stundungszinsen ist nicht allgemein in den §§ 163, 227 AO, sondern speziell in § 234 Abs. 2 AO geregelt.

376 So zum Beispiel BFH v. 21. Februar 1991 V R 105/84 in BStBl. II 1991, 498 = BFHE 163, 313;

BFH v. 21. Juli 1993 X R 104/91 in BFH/NV 1994, 597; BFH v. 17. Juli 1997 V B 15/97 in BFH/NV 1998, 54.

377 Beispielhaft seien angeführt die Entscheidungen des BFH v. 5. Juni 1996 X R 234/93 in BStBl. II 1996, 503 = BFHE 180, 240; BFH v. 11. Juli 1996 V R 18/95 in BStBl. II 1997, 259 = BFHE 180, 524 = HFR 1996, 723; BFH v. 24. Juli 1996 X R 23/94 in BFH/NV 1997, 92; BFH v. 20. Januar 1997 V R 28/95 in BStBl. II 1997, 716 = BFHE 183, 353; BFH v. 19. März 1997 I R 7/96 in BStBl. II 1997, 446 = BFHE 182, 293; BFH v. 15. Oktober 1998 IV R 69/97 in BFHE 187, 198; BFH v. 15. April 1999 V R 63/97 in BFH/NV 1999, 1392; BFH v. 21. Oktober 1999 V R 94/98 in BFH/NV 2000, 610 = HFR 2000, 410; BFH v. 12. April 2000 XI R 21/97 in BFH/NV 2000, 1178 = HFR 2000, 777.

378 BFH v. 25. Januar 1961 II 34/59 in HFR 1961, 133; BFH v. 12. Juni 1997 I R 70/96 in BStBl. II 1998, 38 = BFHE 183, 465; BFH v. 25. Februar 1999 VII B 150/98 in BFH/NV 1999, 1057.

379 BFH v. 25. Januar 1961 II 34/59 in HFR 1961, 133.

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a) Akzessorietät und deren Aufhebung durch § 234 Abs. 1 Satz 2 AO

Die Akzessorietät der Stundungszinsen zur Hauptforderung wurde auch in der späteren Rechtsprechung betont. Die Anlehnung der Zinsen an die Hauptforderung erfordere im Falle der Minderung der gestundeten Steuerschuld auch eine Herabsetzung der Zinsen380. Fraglich blieb dabei, wie die Minderung der Zinsschuld zu erfolgen hat. Diese Frage war umstritten. Teilweise wurde eine Minderung der Zinsschuld im Billigkeitswege befürwortet381. Der BFH wollte mit der Gegenmeinung eine Änderung des Zinsbescheides gem. § 175 Abs. 1 AO vornehmen382. In diesen Fällen scheidet dann ein Erlass der Stundungszinsen nach § 234 Abs. 2 AO aus. Die Frage ist durch die Einfügung des § 234 Abs. 1 Satz 2 AO im Jahre 1993 obsolet geworden. Nach dieser Vorschrift bleiben die entstandenen Stundungszinsen unberührt, wenn der Steuerbescheid nach Ablauf der Stundung aufgehoben, geändert oder nach § 129 AO berichtigt wird. Mit Einführung dieser Norm war die Akzessorietät der Zinsen durchbrochen.

b) Sachliche Unbilligkeit bei Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit

Die Erhebung von Stundungszinsen bei einem Steuerschuldner, der überschuldet und Zahlungsunfähig ist, kann sachlich unbillig sein.

aa) Sachliche oder persönliche Unbilligkeit?

In diesen Fällen erscheint die Zuordnung eines Erlasses, der mit mangelnder Liquidität des Steuerpflichtigen begründet wird, zur Kategorie der sachlichen Unbilligkeit merkwürdig. Dies lässt sich aber folgendermaßen erklären: Grund für die Erhebung von Stundungszinsen ist es, dem Steuergläubiger eine Kompensation für die verspätete Zahlung zu verschaffen383. Die Bewilligung der Stundung gem. § 222 AO stellt bereits eine Billigkeitsmaßnahme dar, die nur bei Vorliegen einer erheblichen Härte in Frage kommt. Wenn der Steuerpflichtige die Hauptschuld aufgrund mangelnder finanzieller Mittel nicht begleichen konnte, stellt sich die Frage, ob die Erhebung von Stundungszinsen der Intention des Gesetzgebers entspricht. Der ursprüngliche Anlass für die Härte liegt in einem solchen Fall in den persönlichen Verhältnissen des

380 BFH v. 18. Juli 1990 I R 165/86 in BFH/NV 1991, 212 (212). 381 Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 234 AO Rdnr. 22. 382 BFH v. 18. Juli 1990 I R 165/86 in BFH/NV 1991, 212 (212); ebenso BFH v. 20. Mai 1987

II R 44/84 in BStBl. II 1987, 229 (230). 383 BFH v. 16. Juli 1997 XI R 32/96 in BStBl. II 1998, 7 (9) = BFHE 184, 193; BFH v. 18. April 1996

V R 55/95 in BStBl. II 1996, 561 (562) = BFHE 180, 516.

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Steuerpflichtigen. Diese sind aber nur mittelbar der Grund für das Vorliegen der vermeintlichen Unbilligkeit. Unmittelbar geht um die Frage, ob der Gesetzgeber die Zinserhebung in diesem Fall intendierte. Diese Problemstellung markiert die Grenze zwischen sachlicher und persönlicher Unbilligkeit. Der BFH nimmt hier regelmäßig einen Fall der sachlichen Unbilligkeit an384.

bb) Erlassgründe

Für die Annahme einer sachliche Unbilligkeit aus finanziellen Gründen reicht die vorübergehende Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung des Steuerpflichtigen nicht aus385. Dies wird mit der Natur der Stundungszinsen begründet. Der Erlass von Stundungszinsen kann nur in Betracht kommen, wenn zuvor eine Stundung gewährt wurde. Die Gewährung einer Stundung stellt aber bereits eine Billigkeitsmaßnahme dar und setzt eine besondere Härte voraus. Das Vorliegen einer besonderen Härte ist daher schon Grundlage der Entstehung von Stundungszinsen. Wenn nun bei jeder Unbilligkeit, also auch bei Vorliegen persönlicher Unbilligkeit, wie sie die Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung eines Steuerpflichtigen darstellen kann, die Stundungszinsen nach § 234 Abs. 2 AO zu erlassen werden müssten, wären die Erhebung dieser Zinsen und der gesamte § 234 AO überflüssig386. Um einen Erlass von Stundungszinsen zu rechtfertigen, müssen vielmehr weitergehende Gründe hinzukommen, die persönlicher oder sachlicher Natur sein können387. Diese besonderen Umstände sind nur rudimentär bestimmt. Eine Konkretisierung ergibt sich nach Auffassung des BFH aus dem Vergleich von Stundung und Erlass. Wäre anstelle einer Stundung ein Erlass der Hauptforderung ausgesprochen worden, wäre diese dauerhaft erloschen388 und nicht bloß deren Fälligkeit hinausgeschoben389. Im Falle eines Erlasses würden daher auch keinerlei Zinsen anfallen. Aus diesem Grund soll ein Erlass der Stundungszinsen nach der Rechtsprechung des BFH zu gewähren sein, wenn zum Fälligkeitszeitpunkt eine Situation vorlag, die den Erlass der Hauptforderung gerechtfertigt hätte390.

384 Dazu auch Schwarz, § 234 AO Rdnr. 12. 385 BFH v. 16. Juli 1997 XI R 32/96 in BStBl. II 1998, 7 (9) = BFHE 184, 193; BFH v. 25. Februar

1999 VII B 150/98 in BFH/NV 1999, 1057 (1058). 386 Vgl. zum Ganzen BFH v. 25. Februar 1999 VII B 150/98 in BFH/NV 1999, 1057 (1057 f). 387 BFH v. 25. Februar 1999 VII B 150/98 in BFH/NV 1999, 1057 (1058). 388 Gerber, Rdnr. 126. 389 Gerber, Rdnr. 55. 390 So im Ergebnis BFH v. 23. Mai 1985 V R 124/79 in BStBl. II 1985, 489 (492) = BFHE 143, 512.

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III. Erlass von Aussetzungszinsen gem. § 237 Abs. 4 i.V.m. § 234 Abs. 2 AO

Bei Zinsen, die gem. § 237 AO während der Aussetzung der Vollziehung entstehen, können aufgrund der Verweisung des § 237 Abs. 4 AO auf die spezielle Billigkeitsnorm des § 234 Abs. 2 AO aus Billigkeitsgründen erlassen werden.

1. Erlass bei langer Verfahrensdauer

Der BFH wurde im Kontext mit dem Erlass von Aussetzungszinsen mit der Frage konfrontiert, ob eine lange Verfahrensdauer die Erhebung von Zinsen für Steuern, deren Vollziehung während des Verfahrens ausgesetzt wurde, unbillig erscheinen lasse391. In diesen Fällen wird dem Steuerpflichtigen die Aussetzung der Vollziehung gewährt. Das sich daran anschließende Verfahren um den rechtlichen Bestand der Hauptforderung zieht sich über einen längeren Zeitraum hin392. Im Ergebnis bestätigt die Judikative schließlich die Rechtmäßigkeit der steuerlichen Hauptschuld. Der Kläger sieht sich dann zum einen mit der ausgesetzten Steuerforderung konfrontiert. Zum anderen werden aber auch noch Aussetzungszinsen gem. § 237 Abs. 1 AO festgesetzt. Bei entsprechend langer Verfahrens- und der damit korrelierenden Aussetzungsdauer können diese eine erhebliche Höhe erreichen393. Dies wird häufig als unbillig empfunden und ein entsprechender Antrag auf Erlass der Aussetzungszinsen nach § 237 Abs. 4 i.V.m. § 234 Abs. 2 AO gestellt. Die Ablehnung eines solchen Antrages durch die Steuerverwaltungsbehörden hat der BFH bisher gutgeheißen394. Eine lange Prozessdauer führt also nach der Rechtsprechung des BFH nicht ohne weiteres dazu, die Erhebung der Aussetzungszinsen als unbillig anzusehen. Zur Begründung dieser Ansicht werden zwei Hauptgesichtspunkte angeführt.

Zum einen wird auf die gesetzgeberische Intention der Aussetzungszinsen verwiesen. Der Gesetzgeber bezwecke mit der Erhebung von Aussetzungszinsen, den Zinsnachteil des Steuergläubigers zu kompensieren. Zum anderen soll auch der Zinsvorteil des Steuerpflichtigen, dem Aussetzung der Vollziehung gewährt wurde, ausgeglichen werden. Diesem Ausgleich dient die Verzinsung ausgesetzter Ansprüche auch dann, wenn das Verfahren ohne Hinzutun des Steuerpflichtigen unangemessen

391 BFH v. 21. Februar 1991 V R 105/84 in BStBl. II 1991, 498. = BFHE 163, 313. 392 In BFH v. 21. Februar 1991 V R 105/84 in BStBl. II 1991, 498 = BFHE 163, 313 waren es über

zehn Jahre, im Fall von BFH v. 21. Februar 1991 IX R 152/86 in BFH/NV 1991, 503 waren es ebenfalls über zehn Jahre.

393 Zur Berechnung vgl. § 238 Abs. 1 AO. Bei den 0,5 % pro Monat betragen die Zinsen bei einer Verfahrensdauer von zehn Jahren 60 % der steuerlichen Hauptschuld.

394 BFH v. 21. Februar 1991 V R 105/84 in BStBl. II 1991, 498 = BFHE 163, 313; auch in BFH v. 21. Februar 1991 IX R 152/86 in BFH/NV 1991, 503 wurde die Klage abgewiesen, allerdings aus prozessualen Gründen.

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lange dauert395. Auch für die Zeit, die über eine normale Verfahrensdauer hinausgeht, hätte sonst der Steuerschuldner einen Liquiditätsvorteil, dem ein entsprechendes Minus beim Steuergläubiger gegenüberstehen würde.

Mit diesem finanziellen Gesichtspunkt steht ein zusätzlicher Aspekt in Zusammenhang. Der Gesetzgeber wollte mit der Einführung der Aussetzungszinsen auch die Erhebung von Anfechtungsklagen gegen Steuerbescheide ohne ernsthafte Erfolgsaussichten abwenden. Ohne die Berechnung von Aussetzungszinsen könnte ein Steuerschuldner durch Einlegung finanzgerichtlicher Rechtsmittel in Verbindung mit einem erfolgreichen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung die oben beschriebenen Liquiditätsvorteile für sich in Anspruch nehmen. Dies würde den Anreiz, auch bei in der Sache aussichtslosen Sachverhalten Rechtsmittel einzulegen, erheblich erhöhen. Die zu erwartende Welle von aussichtslosen Prozessen wollte der Gesetzgeber verhindern. Nach Auffassung des BFH behält dieser Zweck auch dann seine Berechtigung, wenn das Finanzgerichtsverfahren sich unangemessen in die Länge zieht396. Neben dieser finanziellen Perspektive wird die Ablehnung des Erlassantrages noch auf andere Weise gerechtfertigt. Ansatzpunkt ist hier die Tatsache, dass es einem Kläger freisteht, die Aussetzung der Vollziehung zu beantragen. Tut der Steuerpflichtige dies, setzt er sich damit bewusst der Gefahr aus, bei Abweisung der Klage Aussetzungszinsen zahlen zu müssen397.

2. Auswirkungen des Grundes für die Erfolglosigkeit des Rechtsmittels auf den Erlass von Aussetzungszinsen

Der Grund für die Abweisung des gegen die Hauptschuld eingelegten Rechtsmittels soll nach Ansicht des BFH ohne Bedeutung sein398. Begründet wird dies wiederum mit dem Zweck der Aussetzungszinsen, die wirtschaftlichen Vor- und Nachteile bei einer Aussetzung der Vollziehung auszugleichen399.

3. Zusammenfassung zur Anwendung der Billigkeit im Rahmen des § 237 Abs. 4 i.V.m. § 234 Abs. 2 AO

Es lässt sich feststellen, dass der BFH die Möglichkeit des Erlasses von Aussetzungszinsen aus Billigkeitsgründen sehr restriktiv handhabt. Zentrales

395 So BFH v. 21. Februar 1991 V R 105/84 in BStBl. II 1991, 498 (501) = BFHE 163, 313; BFH

v. 21. Juli 1993 X R 104/91 in BFH/NV 1994, 597 (598). 396 BFH v. 21. Februar 1991 V R 105/84 in BStBl. II 1991, 498 (501) = BFHE 163, 313. 397 BFH v. 21. Februar 1991 V R 105/84 in BStBl. II 1991, 498 (500) = BFHE 163, 313. 398 BFH v. 21. Juli 1993 X R 104/91 in BFH/NV 1994, 597 (598). 399 BFH v. 21. Juli 1993 X R 104/91 in BFH/NV 1994, 597 (598).

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Begründungsschema dafür ist die Zielrichtung der Aussetzungszinsen, eine Abschöpfung des während der Aussetzung der Vollziehung entstehenden Liquiditätsvorteils zu ermöglichen. Der finanzielle Ausgleich behält seinen Sinn auch in außergewöhnlichen Fallgestaltungen. Daher hat der BFH bisher Bescheide der Finanzbehörden, die einen Billigkeitsantrag nach § 237 Abs. 4 i.V.m. § 234 Abs. 2 AO ablehnten, regelmäßig nicht aufgehoben.

IV. Erlass von Nachforderungszinsen

Stundungszinsen und Aussetzungszinsen können erlassen werden, wenn die Erhebung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Dieses ist in § 234 Abs. 2 und 237 Abs. 4 AO explizit festgelegt. Eine entsprechende spezielle Billigkeitsvorschrift für die Nachforderungszinsen ist im § 233a AO nicht enthalten.

1. Möglichkeit des Erlasses nach Auffassung des BFH

Die ausdrückliche Normierung des Billigkeitserlasses bei Aussetzungs- und Stundungszinsen und das Fehlen einer parallelen Regelung im Rahmen des § 233a AO könnte den Schluss nahe legen, ein Erlass von Nachforderungszinsen sei nicht möglich. Der BFH sah sich mit dem Problem erstmalig im Jahre 1993 konfrontiert400. Die Frage war allerdings nicht entscheidungserheblich. Der I. Senat des BFH sprach das Thema dennoch an und hielt fest, es könne dahinstehen, ob bei der Festsetzung von Nachforderungszinsen für die Anwendung eines Billigkeitserlasses Raum sei401. Im Jahre 1996 wurde diese Frage schließlich entscheidungsrelevant402. Der X. Senat des BFH entschied in diesem Fall, auch bei Nachforderungszinsen seien die allgemeinen Billigkeitsregelungen der AO403 anwendbar404. Begründet wird dies zum einen mit der Formulierung des § 239 Abs. 1 AO, nach der auf die Festsetzung von Zinsen die für Steuern geltenden Vorschriften anzuwenden sind405. Teilweise wird lapidar darauf verwiesen, dass Nachforderungszinsen steuerliche Nebenleistungen im Sinne des § 3 Abs. 3 AO seien, die gem. § 37 Abs. 1 AO zu den Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis gehören. Da § 227 AO alle Ansprüche aus dem

400 BFH v. 8. September 1993 I R 30/93 in BStBl. II 1994, 81. 401 BFH v. 8. September 1993 I R 30/93 in BStBl. II 1994, 81 (82). 402 BFH v. 5. Juni 1996 X R 234/93 in BStBl. II 1996, 503 = BFHE 180, 240. 403 In diesem Fall § 227. 404 BFH v. 5. Juni 1996 X R 234/93 in BStBl. II 1996, 503 (504) = BFHE 180, 240. 405 BFH v. 5. Juni 1996 X R 234/93 in BStBl. II 1996, 503 (504) = BFHE 180, 240; BFH v. 19. März

1997 I R 7/96 in BStBl. II 1997, 446 (446 f) = BFHE 182, 293; ähnlich schon BFH v. 8. September 1993 I R 30/93 in BStBl. II 1994, 81 (82).

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Steuerschuldverhältnis erfasse, sei diese Vorschrift auch auf Nachforderungszinsen anwendbar406.

Die Ansicht des BFH in dieser Frage kann inzwischen als ständige Rechtsprechung bezeichnet werden, da Billigkeitsgrundsätze im Rahmen des § 233a AO wiederholt angewandt wurden407. Dabei wird aber nur noch zum Teil explizit auf die Frage der Anwendbarkeit eingegangen408. Nach Auffassung des BFH kann daher ein Erlass von Nachforderungszinsen aus Billigkeitsgründen stattfinden.

2. Zielrichtung der Verzinsung gem. § 233a AO nach Auffassung des BFH

Auch in Fällen des Erlasses von Nachforderungszinsen greift der BFH auf die Formel zurück, unbillig sei, was dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung zuwiderlaufe409. Daher soll hier zunächst kurz auf den Sinn und Zweck der Nachforderungsverzinsung gem. § 233a AO, wie sie von den Senaten des BFH interpretiert wird, eingegangen werden. Zweck der Regelung ist es, die Liquiditätsvorteile abzuschöpfen, die durch eine verspätete Steuerfestsetzung entstehen. Fraglich ist aber, ob der mit der Zinserhebung bezweckte Ausgleich vor allem die Bereicherung beim Steuerschuldner oder den Schaden beim Steuergläubiger beseitigen soll.

a) Abschöpfung des Vorteils beim Steuerpflichtigen

Der V. Senat der BFH hat wiederholt betont, dass in diesem Zusammenhang der Vorteil des Steuerpflichtigen entscheidend sei410. Ist ein solcher Liquiditätsvorteil beim Steuerpflichtigen nicht entstanden, entspricht die Erhebung von Nachforderungszinsen nicht dem Sinn und Zweck des § 233a AO. Eine Zinserhebung ginge über die 406 BFH v. 5. Juni 1996 X R 234/93 in BStBl. II 1996, 503 (503 f) = BFHE 180, 240; BFH v. 11. Juli

1996 V R 18/95 in BStBl. II 1997, 259 (259); BFH v. 15. Oktober 1998 IV R 69/97 in BFHE 187, 199 (199); BFH v. 15. April 1999 V R 63/97 in BFH/NV 1999, 1392 (1393); BFH v. 21. Oktober 1999 V R 94/98 in BFH/NV 2000, 610 (611); BFH v. 12. April 2000 XI R 21/97 in BFH/NV 2000, 1178 (1179).

407 Beispielhaft seien aufgeführt BFH v. 11. Juli 1996 V R 18/95 in BStBl. II 1997, 259 = BFHE 180, 524 = HFR 1996, 723; BFH v. 20. Januar 1997 V R 28/95 in BStBl. II 1997, 716 = BFHE 183, 353 = HFR 1997, 856; BFH v. 21. Oktober 1999 V R 94/98 in BFH/NV 2000, 610 = HFR 2000, 410.

408 BFH v. 24. Juli 1996 X R 23/94 in BFH/NV 1997, 92. 409 Beispielhaft seien angeführt BFH v. 5. Juni 1996 X R 234/93 in BStBl. II 1996, 503 (504) = BFHE

180, 240; BFH v. 25. November 1997 IX R 28/96 in BStBl. II 1998, 550 (551); BFH v. 11. Juli 1996 V R 18/95 in BStBl. II 1997, 259 (259 f) = BFHE 180, 524; BFH v. 23. Oktober 2003 V R 2/02 in BStBl. II 2004, 39 (40) = BFH/NV 2004, 239.

410 BFH v. 20. Januar 1997 V R 28/95 in BStBl. II 1997, 716 (717) = BFHE 183, 353; BFH v. 15. April 1999 V R 63/97 in BFH/NV 1999, 1392; ähnlich bereits BFH v. 11. Juli 1996 V R 18/95 in BStBl. II 1997, 259 (260) = BFHE 180, 524.

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Wertungen des Gesetzgebers hinaus. Ein Erlass der Zinsen sei in solchen Fällen daher geboten411. Diese Auffassung setzt die Hürde für einen Erlass von Nachforderungszinsen aus Billigkeitsgründen niedrig an. Deutlich wird dies in einem Urteil des V. Senats des BFH aus dem Jahre 1996412. Ein Unternehmer hatte Umsätze fälschlicherweise vom Dezember eines Jahres in den folgenden Januar gebucht. Nach Berichtigung der Umsätze durch das Finanzamt erhob dieses auch Nachforderungszinsen. Der Steuerpflichtige beantragte den Erlass der Zinsen mit der Begründung, ein Liquiditätsvorteil sei ihm lediglich für den Zeitraum von einem Monat entstanden. Der Antrag auf Erlass der Zinsen wurde abgelehnt. Auf die Klage des Steuerschuldners hin entschied der BFH letztinstanzlich, das Finanzamt müsse den Antrag erneut bescheiden, wobei die Rechtsauffassung des Gerichts zu beachten sei. Nach dieser habe ein Erlass der Zinsen für einen Zeitraum von mindestens sieben Monaten zu erfolgen, da das Ermessen insoweit reduziert sei413.

b) Doppelte Zielrichtung der Nachforderungszinsen

Dagegen steht eine vom I. Senat des BFH geäußerte Rechtsauffassung: Betont wird der ambivalente Zweck des § 233a AO. Die Erhebung von Nachforderungszinsen soll nicht nur den Vorteil des Steuerschuldners ausgleichen. Ebenso sei eine Kompensation des Liquiditätsnachteils des Steuergläubigers intendiert414. Als Konsequenz ergibt sich, dass Nachforderungszinsen nicht schon deshalb zu erlassen sind, weil der Steuerschuldner keinen oder nur einen unter der Schwelle von monatlich 0,5 % liegenden Liquiditätsvorteil hatte415. So lehnte der I. Senat des BFH die Klage eines Steuerpflichtigen ab, obwohl diesem kein Liquiditätsvorteil entstanden war. Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Körperschaftssteuerbescheid einer GmbH für das Jahr 1989 erging erst 1992. Gleichzeitig setzte das Finanzamt Nachforderungszinsen fest. Die Klägerin beantragte daraufhin Erlass der Zinsen. Die Erhebung sei sachlich unbillig, da sie den zu erwartenden Nachzahlungsbetrag ständig auf einem Bankkonto zur Verfügung gehalten habe. Ein Liquiditätsvorteil sei ihr daher nicht entstanden. Der I. Senat des BFH führte hingegen aus, der Sinn und Zweck des § 233a AO beschränke sich nicht auf die Abschöpfung der Vorteile beim

411 BFH v. 20. Januar 1997 V R 28/95 in BStBl. II 1997, 716 (717) = BFHE 183, 353, der V. Senat

des BFH beruft sich dabei auf sein eigenes Urteil v. 11. Juli 1996 V R 18/95 in BStBl. II 1997, 259 (259) = BFHE 180, 524, dieses spricht diese Ansicht aber noch nicht explizit aus.

412 BFH v. 11. Juli 1996 V R 18/95 in BStBl. II 1997, 259 (259) = BFHE 180, 524. 413 BFH v. 11. Juli 1996 V R 18/95 in BStBl. II 1997, 259 (261) = BFHE 180, 524. 414 BFH v. 19. März 1997 I R 7/96 in BStBl. II 1997, 446 (447) = BFHE 182, 293; ähnlich auch der

IX. Senat des BFH v. 25. November 1997 IX R 28/96 in BStBl. II 1998, 550 (551). 415 So der V. Senat in der Entscheidung des BFH v. 19. März 1997 I R 7/96 in BStBl. II 1997, 446

(447) = BFHE 182, 293.

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Steuerpflichtigen. Vielmehr sollen auch Zinsnachteile ausgeglichen werden, die auf Seiten des Steuergläubigers objektiv entstanden416.

Der IX. Senat des BFH vertrat in einer späteren Entscheidung unter Berufung auf das oben angeführte Urteil des I. Senats des BFH eine ähnliche Ansicht417. Neben dem Vorteil des Steuerschuldners solle auch der Nachteil des Steuergläubigers durch § 233a AO ausgeglichen werden418. Festzuhalten bleibt, dass zwischen den Senaten des BFH keine Einigkeit darüber besteht, ob Zweck des § 233a AO die Abschöpfung des Liquiditätsvorteils beim Steuerschuldner oder der Ausgleich des Zinsnachteils beim Steuergläubiger ist, beziehungsweise wie diese beiden Elemente zu gewichten sind. Konsens besteht aber insoweit, als das Nichtvorliegen eines Liquiditätsvorteils beim Steuerschuldner als unverzichtbare Mindestvoraussetzung für einen Erlass angesehen wird.

c) Tatsächlich entstandener Zinsvorteil

In diesem Kontext besteht noch eine andere Problematik von grundsätzlicher Bedeutung. Es stellt sich die Frage, ob es erheblich sein kann, ob ein Steuerpflichtiger die Zinsvorteile tatsächlich gezogen hat oder nicht. Es wäre möglich, die Typisierung des Gesetzgebers, den geldwerten Liquiditätsvorteil mit 0,5 % im Monat anzusetzen, in der Weise zu akzeptieren, dass man den potentiellen Vorteil, den der Steuerschuldner durch die Kapitalüberlassung hat, genügen lässt. In diesem Fall wäre dem Argument, ein Liquiditätsvorteil sei nicht oder nicht in der von § 233a AO veranschlagten Höhe gezogen worden, die Grundlage entzogen. Ein Erlass von Nachforderungszinsen könnte mit dieser Begründung dann nicht mehr gefordert werden. Der Erlass von Nachforderungszinsen wäre praktisch bedeutungslos. Solche Formulierungen lassen sich in einigen Urteilen des BFH finden419.

Die überwiegende Mehrheit der Entscheidungen zu diesem Thema schließt sich dieser Auffassung allerdings nicht an420. Zum großen Teil wird dabei darauf abgestellt, wie das Kapital sich in dieser Zeit tatsächlich vermehrte. Teilweise wird es als

416 BFH v. 19. März 1997 I R 7/96 in BStBl. II 1997, 446 (447) = BFHE 182, 293. 417 BFH v. 25. November 1997 IX R 28/96 in BStBl. II 1998, 550 (551 f). 418 BFH v. 25. November 1997 IX R 28/96 in BStBl. II 1998, 550 (551). 419 BFH v. 20. September 1995 X R 86/94 in BStBl. II 1996, 53 (54); BFH v. 19. März 1997 I R 7/96

in BStBl. II 1997, 446 (447) = BFHE 182, 293; ähnlich BFH v. 15. Oktober 1998 IV R 69/97 in BFHE 187, 198 (199) und BFH v. 5. Juni 1996 X R 234/93 in BStBl. II 1996, 503 (504) = BFHE 180, 240; BFH v. 23. Oktober 2003 V R 2/02 in BStBl. II 2004, 39 (40) = BFH/NV 2004, 239; BFH v. 28. Oktober 2005 V B 196/04 in BFH/NV 2006, 245 (246); BFH v. 24. Februar 2005 V R 62/03 in BFH/NV 2005, 1220 (1221).

420 BFH v. 8. September 1993 I R 30/93 in BStBl. 1994, 81 (82); BFH v. 11. Juli 1996 V R 18/95 in BStBl. II 1997, 259 (260) = BFHE 180, 524; BFH v. 20. Januar 1997 V R 28/95 in BStBl. II 1997, 716 (717) =BFHE 183, 353; BFH v. 25. November 1997 IX R 28/96 in BStBl. 1998, 550 (551 f); BFH v. 12. April 2000 XI R 21/97 in BFH/NV 2000, 1178 (1179).

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entscheidend angesehen, ob der Steuerschuldner konkret die Möglichkeit einer weitergehenden Kapitalnutzung hatte421. Allerdings wird in einigen Urteilen auch generell auf die Verzinsungsmöglichkeit am Kapitalmarkt abgestellt422. Eine klare, einheitliche Linie lässt sich insoweit nicht feststellen423. Der BFH stellt generell darauf ab, ob der Steuerschuldner durch die verspätete Festsetzung einen Vorteil erlangt hat: Ist dies nicht der Fall, kommt ein Erlass der Zinsen in Betracht, wenn weitere Umstände hinzukommen. Nicht ausreichend ist aber, dass die Verzögerung von den Finanzbehörden zu vertreten ist.

3. Erlass von Nachforderungszinsen bei langer Bearbeitungszeit

Ein Erlass von Nachforderungszinsen aus Billigkeitsgründen kommt auch in Betracht, wenn die Nachforderungszinsen aufgrund einer verzögerten Bearbeitung durch die Finanzverwaltung entstehen.

a) Darstellung der Fälle

Diese Fallgruppen sind durch folgende Charakteristika geprägt. Nach Abgabe einer Steuererklärung dauert es unverhältnismäßig lange, bis das zuständige Finanzamt die Steuerfestsetzung vornimmt. Dadurch kommt es zur Überschreitung der Fristen des § 233a Abs. 2 AO und zur Festsetzung von Nachforderungszinsen. Eine weitere Alternative ist es, dass die Fristen des § 233a Abs. 2 AO bereits überschritten waren und durch das Verstreichen zusätzlicher Zeit höhere Nachforderungszinsen entstehen, als bereits aufgelaufen sind. In jedem Fall kommt es durch ein Handeln der Finanzbehörden zu einer nominal erhöhten Belastung des Steuerpflichtigen. In diesen Fällen begehrt dann der Steuerschuldner den Erlass zumindest der Zinsen, die in dem Zeitraum anfielen, um den die Festsetzungsdauer das übliche Maß überschritten hat.

b) Position des BFH in dieser Frage

In Fällen der oben beschriebenen Art hat der BFH die Ablehnung des Billigkeitsantrages durch die Finanzbehörden stets gebilligt424. Zur Begründung werden 421 BFH v. 25. November 1997 IX R 28/96 in BStBl. II 1998, 550 (552). 422 So der I. Senat des BFH, der die Verzinsung für Monatsgelder im fraglichen Zeitraum als Maßstab

heranzieht in BFH v. 8. September 1993 I R 30/93 in BStBl. 1994, 81 (82). 423 Vgl. dazu auch die Kritik der Literatur in Tipke/Kruse, § 233a AO Rdnr. 77 f. 424 BFH v. 8. September 1993 I R 30/93 in BStBl. II 1994, 81; BFH v. 5. Juni 1996 X R 234/93 in

BStBl. II 1996, 503 = BFHE 180, 240; BFH v. 24. Juli 1996 X R 23/94 in BFH/NV 1997, 92; BFH v. 19. März 1997 I R 7/96 in BStBl. II 1997, 446 = BFHE 182, 293.

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primär zwei Gesichtspunkte herangezogen. Zum einen wird auf den Zweck der Verzinsung verwiesen, zum anderen wird angeführt, der Steuerpflichtige könne das Entstehen von Steuernachforderungen verhindern.

aa) Zweck der Verzinsung

Das Hauptargument in diesen Fallgruppen wird stets in der Intention des § 233a AO gesehen. Zweck der Norm sei die Abschöpfung der Liquiditätsvorteile auf Seiten des Steuerschuldners425. Dafür sei es unerheblich, wer die Verzögerung und damit die Liquiditätsvorteile verursacht habe426. Auch wenn die Verzögerung und damit das Entstehen der Zinsschuld von den Finanzbehörden zu vertreten sei, rechtfertige dies keinen Erlass der Nachforderungszinsen aus Billigkeitsgründen.

bb) Steuerschuldner kann die Entstehung der Zinsen verhindern

Das zweite Argument, mit dem ablehnende Entscheidungen zum Erlass von Nachforderungszinsen begründet werden, ist die Möglichkeit des Steuerpflichtigen, die Entstehung der Nachforderungszinsen zu verhindern427. Auch wenn die Bearbeitungszeit durch das Finanzamt unangemessen lang sei, habe der Steuerschuldner die Möglichkeit, den Anfall von Zinsen zu vermeiden. Oftmals könne der Steuerpflichtige bereits durch eine frühzeitige Abgabe der Steuererklärung das Auflaufen der Nachforderungszinsen vermeiden. In der Regel würden die Festsetzungen nämlich dann innerhalb der Fristen des § 233a Abs. 2 AO vorgenommen. Häufig sind Gegenstand der Hauptforderung Einkommens- oder Körperschaftssteuern. In diesen Fällen steht den Steuersubjekten ein weiterer Weg zur Verfügung, den Anfall von Zinsen gem. § 233a AO zu verhindern. Es kann eine Anpassung der Vorauszahlungen gem. § 37 Abs. 3 Satz 3 EStG für die Einkommensteuer oder gem. § 31 Abs. 1 Κörperschaftsteuergesetz in Verbindung mit § 37 Abs. 3 Satz 3 EStG erfolgen. Diese Anpassung kann der Steuerpflichtige herbeiführen, indem er eine höhere sich voraussichtlich ergebende Steuer glaubhaft macht428. Bei hinreichend glaubhaft gemachten Angaben ist das Finanzamt zur Anpassung verpflichtet; eine anderweitige Entscheidung wäre ermessensfehlerhaft429. Des Weiteren könne der Steuerpflichtige

425 Siehe S. 87. 426 BFH v. 5. Juni 1996 X R 234/93 in BStBl. II 1996, 503 (504) = BFHE 180, 240; BFH

v. 20. Januar 1997 V R 28/95 in BStBl. II 1997, 716 (718) = BFHE 183, 353. 427 So BFH v. 5. Juni 1996 X R 234/93 in BStBl. II 1996, 503 (505) = BFHE 180, 240; BFH

v. 24. Juli 1996 X R 23/94 in BFH/NV 1997, 92. 428 So Diebold in Herrmann/Heuer/Raupach, § 37 Rdnr. 105 ff. 429 Diebold in Herrmann/Heuer/Raupach, § 37 Rdnr. 116 ff.; BFH v. 8 November 1979 IV R 42/78 in

BStBl. II 1980, 147; BFH v. 22. Oktober 1981 IV R 132/79 in BStBl. II 1982, 123.

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eine Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung gem. § 164 Abs. 1 Satz 1 AO beantragen430. Dies führt zu einer früheren Festsetzung, wodurch das Überschreiten der Fristen des § 233a Abs. 2 AO verhindert werden kann.

cc) Angemessene Bearbeitungsdauer

Eine zusätzliche Begründung des BFH gegen das Vorliegen einer unbilligen Härte in diesen Fallgruppen hat ihren Ursprung in den Fristen des § 233a Abs. 2 AO. Diese Fristen, im entschiedenen Fall die 15-Monatsfrist des ersten Satzes dieser Vorschrift, gäben einen Anhaltspunkt für die vom Gesetzgeber als angemessen angesehene Dauer eines Festsetzungsverfahrens. Als unangemessen lang könne eine Bearbeitungsdauer daher erst dann angesehen werden, wenn sie nicht innerhalb dieser Frist erfolge431. Obwohl in den meisten entschiedenen Fällen die Steuerfestsetzung innerhalb dieser 15 Monate erfolgte432, wird dieses Begründungsmuster nur in wenigen Entscheidungen angeführt. Dies lässt sich als Indiz dafür verstehen, dass diesem Argument nur am Rande Bedeutung zugemessen wird. Tatsächlich erscheint es fraglich, ob sich von der Frist des § 233a Abs. 2 AO auf die den Finanzbehörden zugestandene Bearbeitungszeit schließen lässt. Dies setzt die Vorstellung des Gesetzgebers voraus, Steuerpflichtige würden regelmäßig sofort nach Entstehen der Steuer die Steuererklärung abgeben.

c) Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich auch in diesen Fallgruppen eine restriktive Handhabung des Billigkeitserlasses durch den BFH feststellen. In keiner veröffentlichten Entscheidung wurde dem Antrag eines Steuerpflichtigen stattgegeben, der den Erlass von Nachforderungszinsen mit dem Argument anstrebte, die Finanzbehörden hätten die Steuer schuldhaft verspätet festgesetzt.

4. Erlass bei verspäteter Festsetzung von Umsatzsteuer

Ein Erlass von Nachforderungszinsen kommt auch bei verspäteter Festsetzung von Umsatzsteuer in Betracht. 430 BFH v. 5. Juni 1996 X R 234/93 in BStBl. II 1996, 503 (505) = BFHE 180, 240. 431 BFH v. 20. September 1995 X R 86/94 in BStBl. II 1996, 53 (55); BFH v. 5. Juni 1996

X R 234/93 in BStBl. II 1996, 503 (505). 432 Im Fall von BFH v. 8. September 1993 I R 30/93 in BStBl. II 1994, 81 waren es 14 Monate; im

Fall von BFH v. 5. Juni 1996 X R 234/93 in BStBl. II 1996, 503 = BFHE 180, 240 elf Monate; im Fall von BFH v. 24. Juli 1996 X R 23/94 in BFH/NV 1997, 92 acht Monate. Nur bei BFH v. 19. März 1997 I R 7/96 in BStBl. II 1997, 446 = BFHE 182, 293 waren es über 20 Monate.

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a) Darstellung der Fallgruppen

Diese Fälle lassen sich im Groben folgendermaßen beschreiben. Fälschlicherweise wird ein Vorgang entweder als nicht umsatzsteuerpflichtig behandelt433 oder ein solcher Vorfall wird fehlerhaft in einem späteren Abrechnungszeitraum verbucht434. Nach korrekter Festsetzung der Umsatzsteuer werden dann auch Nachforderungszinsen erhoben.

b) Erlass der Nachforderungszinsen bei zeitlich verschobener Umsatzsteuerbuchung

In einer Entscheidung aus dem Jahre 1996 befasste sich der V. Senat des BFH mit dieser Problematik. Ein tatsächlich im Dezember 1990 entstandener Umsatz wurde fälschlicherweise im Januar 1991 verbucht. Im Rahmen einer Außenprüfung im Jahre 1992 stellte das zuständige Finanzamt diesen Irrtum fest. Die Steuerbescheide für die betreffenden Jahre wurden daraufhin berichtigt. Da die Umsatzsteuer schon mit Ende des Kalenderjahres entsteht, in dem der Umsatz vorgenommen wurde, war durch die Verschiebung des Umsatzes um einen Monat die Steuer ein ganzes Jahr vorher entstanden. Aus diesem Grund war die Frist des § 233a Abs. 2 AO bereits überschritten, es wurden daher Nachforderungszinsen festgesetzt. Der Antrag auf Erlass der Zinsen wurde abgelehnt; der BFH entschied allerdings letztinstanzlich, es seien die Nachforderungszinsen mindestens für sieben Monate zu erlassen. Insoweit liege eine Ermessensreduzierung vor435. Zur Begründung wird angeführt, der finanzielle Vorteil, den die Klägerin durch die fehlerhafte Verbuchung hatte, sei bereits einen Monat später wieder entfallen. Ein Liquiditätsvorteil bestand daher nur für diesen Zeitraum. Dem Zweck der Nachforderungszinsen entsprach daher nur die Zinserhebung in diesem einen Monat. Die Verzinsung in der übrigen Zeit sei hingegen mit dem Sinn der Vorschrift nicht mehr zu rechtfertigen436. Ein Erlass der in der übrigen Zeit aufgelaufenen Nachforderungszinsen ist daher geboten.

c) Erlass bei Umsätzen, die zunächst als umsatzsteuerfrei behandelt wurden

Diese Fälle zeichnen sich durch folgende Merkmale aus: Ein Umsatz wird zunächst für nicht umsatzsteuerpflichtig gehalten und die Umsatzsteuer daher nicht entrichtet. Später kommt es zur Festsetzung von Umsatzsteuer und den entsprechenden

433 So BFH v. 15. April 1999 V R 63/97 in BFH/NV 1999, 1392 und BFH v. 12. April 2000

XI R 21/97 in BFH/NV 2000, 1178 = HFR 2000, 777. 434 So BFH v. 11. Juli 1996 V R 18/95 in BStBl. II 1997, 259 = BFHE 180, 524. 435 BFH v. 11. Juli 1996 V R 18/95 in BStBl. II 1997, 259 (261) = BFHE 180, 524. 436 BFH v. 11. Juli 1996 V R 18/95 in BStBl. II 1997, 259 (260) = BFHE 180, 524.

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Nachforderungszinsen. Der Steuerschuldner beantragt in diesen Fällen den Erlass mit der Begründung, dem Fiskus sei kein Zinsnachteil entstanden, weil parallel zur nicht entrichteten Umsatzsteuer auch keine Vorsteuer ausgewiesen und vom Finanzamt erstattet wurde. Klagen gegen die Ablehnung solcher Anträge beschied der BFH stets abschlägig437. Das Argument, es sei kein Schaden beim Steuergläubiger entstanden, der durch die Nachforderungszinsen ausgeglichen werden müsse, wurde als unerheblich zurückgewiesen. Entscheidend sei nicht der Nachteil auf Seiten des Staates, ausreichend für die Rechtfertigung der Nachforderungszinsen sei vielmehr der Liquiditätsvorteil beim Steuerschuldner438. Dieser lag aber in jedem Fall vor. Keine Rolle spielt in diesem Fall, dass ein Betrag gleicher Höhe dem Vertragspartner des Steuerschuldners vom Finanzamt als Vorsteuer zu erstatten ist. Der Erstattungsbetrag ist gegebenenfalls auch nach § 233a AO zu verzinsen. Diesem Ergebnis steht nicht entgegen, dass der Steuerpflichtige vom Vertragspartner keine Umsatzsteuer vereinnahmt hat439. Mit dieser Argumentation wird sogar ein Erlass der Nachforderungszinsen verweigert, wenn die Finanzbehörden die verspätete Festsetzung der Umsatzsteuer zu vertreten haben. Begründet wird dies mit dem Argument, der mit der Verzinsung bezweckte Vorteilsausgleich behalte auch dann seinen Sinn, wenn staatliche Stellen für die Entstehung verantwortlich seien440.

d) Zusammenfassung

Als Resümee lässt sich feststellen, dass im Mittelpunkt der Überlegungen auch in Fällen der verspäteten Festsetzung von Umsatzsteuer die Frage steht, ob dem Steuerschuldner ein Liquiditätsvorteil verbleibt. Generell ist dem BFH hier eine restriktive Ansicht zu attestieren.

5. Erlass bei Gewinnverschiebungen über die Schwelle des In-Kraft-Tretens des § 233a AO

Eine besondere Fallgruppe bei entstandenen Nachforderungszinsen stellen die Fälle dar, in denen Gewinnverschiebungen über die Schwelle des In-Kraft-Tretens des § 233a AO erfolgten.

437 BFH v. 20. Januar 1997 V R 28/95 in BStBl. II 1997, 716 = BFHE 183, 353; BFH v. 15. April

1999 V R 63/97 in BFH/NV 1999, 1392; BFH v. 12. April 2000 XI R 21/97 in BFH/NV 2000, 1178 = HFR 2000, 777.

438 BFH v. 20. Januar 1997 V R 28/95 in BStBl. II 1997, 716 (717) = BFHE 183, 353; BFH v. 15. April 1999 V R 63/97 in BFH/NV 1999, 1392 (1393); BFH v. 12. April 2000 XI R 21/97 in BFH/NV 2000, 1178 (1179) = HFR 2000, 777.

439 BFH v. 20. Januar 1997 V R 28/95 in BStBl. II 1997, 716 (717) = BFHE 183, 353. 440 BFH v. 20. Januar 1997 V R 28/95 in BStBl. II 1997, 716 (718) = BFHE 183, 353.

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a) Darstellung des Problems

§ 233a AO gilt für Steueransprüche, die nach dem 31. Dezember 1988 entstanden sind441. Er gilt sowohl für Nachforderungen gegen den Steuerschuldner als auch für Beträge, die dem Steuerpflichtigen erstattet werden. Deshalb kommt es bei nachträglichen Verschiebungen von Gewinnen in der Regel zu keinen Belastungen des Steuerpflichtigen, da sich diese Zinsen im Wesentlichen ausgleichen. Wird beispielsweise der Gewinn nachträglich von 1990 nach 1991 verschoben, wird der Steuerpflichtige zwar einerseits mit Nachforderungszinsen der Einkommensteuerschuld 1991 belastet, andererseits stehen ihm für den Erstattungsanspruch bezüglich der zuviel gezahlten Einkommensteuer 1990 ebenfalls Zinsen zu. Etwas anderes kann aber gelten, wenn die Gewinnverschiebung über das Datum des In-Kraft-Tretens am 1. Januar 1989 erfolgt. Bei einer Rückverlagerung von Gewinnen aus dem Jahr 1989 ins Jahr 1988 ergeben sich keine negativen Folgen für den Steuerpflichtigen, da für die 1988 festgesetzte Steuer noch keine Nachforderungszinsen anfallen. Anders verhält es sich, wenn der Gewinn und damit die Einkommensteuerbelastung vom Jahre 1988 ins Jahr 1989 verschoben wird. Der Erstattungsanspruch des Steuerschuldners aus 1988 ist nicht zu verzinsen, da § 233a AO für diese Ansprüche noch keine Geltung beansprucht. Für die Einkommensteuernachzahlung 1989 wird der Einkommensteuerpflichtige hingegen mit Nachforderungszinsen belastet.

b) Auffassung des BFH

Der IX. Senat des BFH hat in einem solchen Fall das Finanzamt zum Erlass der Zinsen verpflichtet, da eine Ermessensreduzierung auf Null vorliege442. Zur Begründung führt der BFH an, der Steuerpflichtige habe keinen Liquiditätsvorteil genossen. Ein solcher Vorteil liege vielmehr auf Seiten des Steuergläubigers vor443. Der Gesetzgeber habe diesen Fall offensichtlich nicht bedacht. Eine Belastung des Steuerpflichtigen entspreche daher nicht dem Gesetzesplan. Die Geltendmachung der Zinsen sei daher mit dem Zweck des § 233a AO nicht mehr zu rechtfertigen444.

6. Zusammenfassung zum Erlass von Nachforderungszinsen

Der BFH sieht den Zweck des § 233a AO im Ausgleich von Liquiditätsvorteilen, die dadurch zustande kommen, dass die Festsetzung von Steuern zu unterschiedlichen 441 § 15 Abs. 4 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung BGBl. I 1988, 1093 (1128). 442 BFH v. 15. Oktober 1998 IV R 69/97 in BFHE 187, 198 (201) = HFR 1998, 260. 443 BFH v. 15. Oktober 1998 IV R 69/97 in BFHE 187, 198 (201) = HFR 1998, 260. 444 BFH v. 15. Oktober 1998 IV R 69/97 in BFHE 187, 198 (201) = HFR 1998, 260.

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Zeitpunkten erfolgt. Ein Erlass der Zinsen wird daher nur befürwortet, wenn der Steuerschuldner keinen Vorteil von der verspäteten Festsetzung hatte. Dahingegen soll es unerheblich sein, aus welchen Gründen eine zeitliche Verzögerung erfolgt ist. Ebenso wird es als unbeachtlich angesehen, wenn dem Vorteil an Kapitalnutzungsmöglichkeiten auf Seiten des Steuerpflichtigen kein äquivalenter Nachteil des Steuergläubigers gegenübersteht.

V. Zusammenfassung zum Erlass von Zinsen

Sowohl bei Nachforderungszinsen als auch bei Stundungszinsen soll nach Auffassung des BFH mit den Zinsen ein Ausgleich des Liquiditätsvorteils bezweckt sein. Ist dieser Vorteil entstanden, muss daher nach der Rechtsprechung des BFH auch in Sonderfällen kein Erlass erfolgen. Bei Stundungszinsen ist der Zinsentstehung bei der Gewährung der Stundung gem. § 222 AO bereits eine Billigkeitsmaßnahme vorausgegangen. Da dennoch Zinsen erhoben werden, wird dies als Hinweis darauf gesehen, nicht jede Härte genügen zu lassen, um die Zinsen nach § 234 Abs. 2 AO zu mildern. Dies soll aber in Fällen geschehen, in denen im Zeitpunkt der Stundung ein Erlass der Hauptforderung hätte gewährt werden müssen. Zu allen Zinsarten kann die Rechtsprechung als restriktiv angesehen werden.

VI. Bewertung der Haltung des BFH

Nach der Darstellung der Auffassung des BFH zum Erlass der unterschiedlichen Zinsen, soll nun eine Bewertung dieser Ansicht stattfinden.

1. Verfassungsrechtlicher Hintergrund

Im Folgenden soll zunächst generell auf den verfassungsrechtlichen Hintergrund bei der Verzinsung von Steuerforderungen eingegangen werden.

a) Verzinsung von Steueransprüchen im Zusammenhang mit dem Art. 3 Abs. 1 GG

Zinsen dienen dem Ausgleich eines Liquiditätsvorteils beim Steuerschuldner und des Liquidationsnachteils beim Steuergläubiger445. Liquidationsvorteil und Liquidationsnachteil entstehen dadurch, dass Steuern zu unterschiedlichen Zeitpunkten

445 Allgemeine Ansicht, vgl. Tipke/Kruse, § 237 AO, Rdnr. 1.

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gezahlt werden. Der Ausgleich des Liquidationsvorteils beim Steuerschuldner dient der Verwirklichung des Leistungsfähigkeitsprinzips als auch des Grundsatzes der Gleichmäßigkeit der Besteuerung446. Die Verzinsung von Steueransprüchen stellt daher eine Umsetzung des Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG dar. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass das Grundgesetz den Gesetzgeber zur Verzinsung von Steueransprüchen verpflichten würde. Vielmehr besteht hier ein weiter Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers447. Diesem obliegt die Entscheidung, ob und wie Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis zu verzinsen sind. Die Grenze der Gestaltungsfreiheit wird im Willkürverbot gesehen. Verfassungswidrig ist eine Verzinsung demnach nur, wenn eine Differenzierung stattfindet, für die sachliche Gründe schlechterdings nicht mehr erkennbar sind448.

b) Erlass von Zinsen im verfassungsrechtlichen Kontext

Die Rechtssicherheit und das aus dem Grundsatz von der Rechtmäßigkeit der Verwaltung hergeleitete Prinzip der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung stehen einem Erlass von Zinsen entgegen. Die Einzelfallgerechtigkeit, als dessen verfassungsrechtliche Grundlage der Art. 3 Abs. 1 GG angesehen wird, kann in bestimmten Fällen für eine Zinsmilderung aus Billigkeitsgründen sprechen. Aufgrund dessen und wegen des weiten Gestaltungsspielraumes der Legislative lässt sich keine eindeutige Präferenz der Verfassung für oder gegen den Erlass von Zinsen erkennen. Es ist daher bei der Untersuchung der Grundsätze des BFH auf das einfache Gesetz zurückzugreifen.

2. Erlass von Stundungszinsen

Zunächst soll die Ansicht des BFH zum Erlass von Stundungszinsen überprüft werden.

446 So im Ergebnis das BVerfG v. 5. September 1979 1 BvR 594/79 in HFR 1979, 486 (486); Apitz,

DStZ 1986, 276 (277). 447 Starck in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 3 Rdnr. 84; BVerfG v. 5. September 1979 1 BvR

594/79 in HFR 1979, 486 (486); dazu auch Hensel, S. 39 ff. 448 BVerfG v. 5. September 1979 1 BvR 594/79 in HFR 1979, 486 (486).

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a) Auffassung des BFH

Stundungszinsen sind nach Auffassung des BFH lediglich dann aus sachlichen Billigkeitsgründen zu erlassen, wenn zum Fälligkeitszeitpunkt der Hauptforderung eine Situation vorlag, die den Erlass der Steuer gerechtfertigt hätte449.

b) Analyse der gesetzlichen Wertungen

Die Stundung setzt gem. § 222 AO eine erhebliche Härte voraus450. Es kann nicht angenommen werden, dass der Begriff der erheblichen Härte des § 222 AO mit der „Unbilligkeit der Einziehung“ der §§ 163, 227 AO deckungsgleich ist451.

aa) Billigkeitsprüfung im Rahmen der Stundung

Im Rahmen des § 222 AO ist auf eine momentane besondere Härte abzustellen, während beim Erlass die Geltendmachung des Anspruches dauerhaft unbillig sein muss452. Dennoch findet eine Überprüfung auf ein Vorliegen von sachlichen oder persönlichen Billigkeitsgründen auch im Rahmen des § 222 AO statt453. Bei Gewährung der Stundung wurde daher schon eine sachliche oder persönliche Unbilligkeit geprüft. Es liegt daher bei Stundungszinsen in der Natur der Sache, dass sie in einer Situation erhoben werden, in der eine Billigkeitsprüfung bereits stattgefunden hat. Wenn das Gesetz aber im Falle einer Stundung die Erhebung von Zinsen vorsieht, kann nicht jede Unbilligkeit, die schon im Rahmen der Stundungsentscheidung erheblich war, zur Unbilligkeit der Verzinsung führen.

bb) § 234 Abs. 2 AO

Diese Vorschrift normiert ausdrücklich die Möglichkeit eines Erlasses von Stundungszinsen aus Billigkeitsgründen. Bei anderen Zinsarten fehlt eine solche ausdrückliche Regelung. Dennoch soll auch in diesen Fällen ein Billigkeitserlass möglich sein, weil die §§ 163, 227 AO Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens

449 Siehe S. 82 f.; vgl. dazu insbesondere BFH v. 23. Mai 1985 V R 124/79 in BStBl. II 1985, 489

(492) = BFHE 143, 512. 450 Dazu Gerber, Rdnr. 11 ff. 451 Vgl. zu dieser Frage Tipke/Kruse, § 222 AO Rdnr. 22. 452 Von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 222 AO Rdnr. 71; Schwarz, § 222 AO Rdnr. 3. 453 Dazu Gerber, Rdnr. 16 ff.; Tipke/Kruse, § 222 AO Rdnr. 25 ff.

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sind, der im gesamten Steuerrecht Geltung beansprucht454. Auch wenn der § 234 Abs. 2 AO daher nur deklaratorischer Natur ist, zeigt die explizite Regelung, dass nach dem Willen des Gesetzgebers trotz der im Rahmen der Stundung bereits gewährten Billigkeitsmaßnahme ein Erlass der Stundungszinsen aus Billigkeitsgründen möglich sein soll.

cc) Keine allgemeine Verzinsung der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis

Gemäß § 233 Satz 1 AO werden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nur verzinst, wenn dies gesetzlich vorgeschrieben ist. Eine allgemeine Verzinsung von Steueransprüchen ist nicht vorgesehen. Der Grundsatz dass nur in den gesetzlich ausdrücklich vorgesehenen Fällen ein Steueranspruch zu verzinsen ist, ist durch die Einführung der sogenannten „Vollverzinsung“ mittels des § 233a AO nicht hinfällig geworden, da tatsächlich nur ein genau beschriebener Teil der Zinsansprüche der Verzinsung nach § 233a AO unterliegen455. Der Verzicht des Gesetzgebers auf eine tatsächliche Vollverzinsung und die Formulierung des § 233 AO lassen darauf schließen, dass die Verzinsung vom Gesetzgeber als Eingriff in Positionen des Bürgers angesehen wird, der nur in bestimmten Fällen erfolgen soll. Von einem allgemeinen Rechtsgedanken, dass Steueransprüche zu verzinsen seien, kann nicht ausgegangen werden456.

dd) § 234 Abs. 1 Satz 2 AO

Im Jahre 1993 wurde der § 234 Abs. 1 Satz 2 AO eingefügt. Nach dieser Norm bleiben die bis dahin entstandenen Stundungszinsen auch bestehen, wenn der Steuerbescheid nach Ablauf der Stundung aufgehoben, geändert oder nach § 129 AO berichtigt wird. In einem solchen Fall würden die Stundungszinsen auch bestehen bleiben, wenn die zugrunde liegende Steuerschuld aufgehoben oder geändert wird. Grundsätzlich kann daher davon ausgegangen werden, dass die Stundungszinsen nicht akzessorisch zur Hauptforderung sein sollen. Allerdings bezieht sich die Aufzählung des § 234 Abs. 1 Satz 2 AO auf die Änderungsmöglichkeiten des §§ 172 ff. AO und den § 129 AO457. Im Falle eines Erlasses der Hauptforderung kommt es gem. § 47 AO zu einem Erlöschen der Steuerschuld458. Dies stellt keinen Fall der Aufhebung oder 454 Ganz herrschende Meinung, vgl. Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 233a AO Rdnr. 89;

Krabbe, S. 95 f; BFH v. 5. Juni 1996 X R 234/93 in BStBl. II 1996, 503 (504) = BFHE 180, 240. 455 Vgl. Schwarz, § 233 AO Rdnr. 1; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Vor § 233-239 AO

Rdnr. 8 und 11. 456 Dazu nur Tipke/Kruse, § 233 AO Rdnr. 1. 457 Tipke/Kruse, § 234 AO Rdnr. 10 f. 458 Von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 371.

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Änderung im Sinne des § 234 Abs. 1 Satz 2 AO dar. Aus dem Wortlaut der Vorschrift ist daher nicht zu schließen, dass im Falle des Erlasses der Hauptforderung die Stundungszinsen bestehen bleiben sollen. Aus den Gesetzgebungsmaterialien ergibt sich nichts anderes. Die Einfügung des § 234 Abs. 1 Satz 2 AO wird lapidar damit begründet, die Norm solle sicherstellen, dass die Festsetzung von Stundungszinsen durch eine Aufhebung oder Änderung der Steuerfestsetzung oder ihre Berichtigung nach § 129 AO nicht berührt werde459. Aus dem § 234 Abs. 1 Satz 2 AO lässt sich daher ebenfalls keine eindeutige Wertung des Gesetzes erkennen, unter welchen Umständen Stundungszinsen zu erlassen sind.

c) Kritik der Rechtsprechung des BFH zum Erlass der Stundungszinsen nach Abwägung der angeführten Wertungen

Grundsätzlich ist dem BFH darin zuzustimmen, dass ein Erlass von Stundungszinsen in Betracht kommt, wenn zum Zeitpunkt der Stundung eine Erlasssituation vorlag. Wäre in einem solchen Fall ein entsprechender Erlass gewährt worden, wären auch keine Stundungszinsen entstanden. Da ein Erlass auch ohne Antrag des Steuerschuldners gewährt werden kann460, ist das Finanzamt, welches über die Stundung entscheidet461, auch ohne entsprechendes Begehren des Steuerpflichtigen berechtigt, einen Erlass auszusprechen. Die Finanzbehörden sind zu einer Prüfung eines Erlasses sogar verpflichtet, wenn sich dies nach den Umständen des Einzelfalls aufdrängt462. Bestanden daher zum Zeitpunkt der Stundung die Voraussetzungen eines Erlasses offensichtlich, wird vom Finanzamt aber lediglich die Stundung gewährt, liegt sogar eine Amtspflichtverletzung vor. Zumindest in den Fällen, in denen die Voraussetzungen eines Erlasses vom Finanzamt nicht geprüft wurden, obwohl dieser Gedanke sich hätte aufdrängen müssen, ist daher ein Erlass der Stundungszinsen zu gewähren. Wäre ein Erlass der Steuerschuld möglich gewesen, ohne dass die Situation derart eindeutig war, muss auf den konkreten Fall abgestellt werden. Hat der Steuerpflichtige einen Antrag auf Stundung gestellt, ohne auch die Möglichkeit eines Erlasses zu erwähnen, kann unter Umständen auch die Ablehnung einer Billigkeitsmaßnahme ermessensgerecht sein. Da ein solcher Fall vom BFH noch nicht zu entscheiden war, kann den Grundsätzen des Gerichts zum Erlass von Stundungszinsen im Ergebnis zugestimmt werden.

459 So die Begründung des Entwurfes zu Art. 20 Nr. 24 in BT-Drucksache 12/5630, S. 102. 460 Von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 370; Tipke/Kruse, § 227 AO Rdnr. 132

m.w.N. 461 Diese soll gem. § 222 Satz 2 AO in der Regel nur auf Antrag gewährt werden. 462 Tipke/Kruse, § 227 AO Rdnr. 132 m.w.N.

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3. Erlass von Aussetzungszinsen

Im Folgenden sind die Grundsätze des BFH zum Erlass von Aussetzungszinsen zu untersuchen.

a) Ansicht des BFH

Der BFH hat bisher Bescheide der Finanzbehörden, die einen entsprechenden Billigkeitsantrag ablehnten, nicht aufgehoben463. Es ist daher nicht zu erkennen, unter welchen Umständen ein Erlass dieser Zinsen nach Ansicht des BFH erfolgen soll. Untersucht werden kann daher nur, ob die bisher zutage getretene restriktive Ansicht generell gerechtfertigt ist. Der BFH hat insbesondere in Fällen einer langen Verfahrensdauer keine Unbilligkeit darin gesehen, dass entsprechend hohe Aussetzungszinsen aufgelaufen waren464. Auch der Grund für die Erfolglosigkeit des eingelegten Rechtsmittels soll ohne Bedeutung sein465.

b) Bewertung der Grundsätze des BFH

Die aufgezeigten Grundsätze des BFH zum Erlass von Aussetzungszinsen sollen einer Überprüfung unterzogen werden.

aa) Ablehnung eines Erlasses von Aussetzungszinsen wegen langer Verfahrensdauer

Untersucht wird zunächst die Ansicht des BFH, nach der ein Erlass von Aussetzungszinsen wegen langer Verfahrensdauer nicht zu gewähren ist.

(1) Einfluss der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, des Rechtsstaatsprinzips und des Art. 6 Abs. 1 EMRK

Zunächst ist diese Problematik unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten zu betrachten. Eine überlange Verfahrensdauer kann unter Umständen dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz des Art. 19 Abs. 4 GG und dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20

463 Siehe S. 85; vgl. dazu BFH v. 21. Februar 1991 V R 105/84 in BStBl. II 1991, 498 = BFHE 163,

313. 464 BFH v. 21. Februar 1991 V R 105/84 in BStBl. II 1991, 498 (501) = BFHE 163, 313. 465 Siehe S. 85; vgl. dazu BFH v. 21. Juli 1993 X R 104/91 in BFH/NV 1994, 597 (598).

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Abs. 3 GG widersprechen466. Auch ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 der EMRK kommt in Betracht467. Zu untersuchen ist, wie sich diese Verfahrensgarantien auf die Möglichkeit des Erlasses von Aussetzungszinsen auswirken. Sowohl aus dem Verfassungsgrundsatz der effektiven Rechtsschutzgewährung des Art. 19 Abs. 4 GG468 als auch aus dem Rechtsstaatsprinzip469 wird gefolgert, dass ein gerichtliches Verfahren in angemessener Zeit abgeschlossen sein muss. Ein ähnliches Prinzip stellt Art. 6 Abs. 1 EMRK auf. Diese Vorschrift ist auch für die Bundesrepublik Deutschland bindend. Dem Wortlaut nach bezieht sich diese Norm jedoch nur auf Strafverfahren und Gerichtsprozesse, die zivilrechtliche Rechte oder Ansprüche zum Gegenstand haben. Fraglich ist daher, ob Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Steuerprozesse anwendbar ist. Teilweise wird dies angenommen470. Die herrschende Auffassung geht aber davon aus, dass diese Norm im Steuerverfahren keine Geltung beanspruchen kann471. Aufgrund des insoweit klaren Wortlautes ist der vorherrschenden Meinung zuzustimmen. Der Art. 6 Abs. 1 EMRK spielt daher in diesem Zusammenhang keine Rolle.

Auch wenn man den Art. 6 Abs. 1 EMRK hier anwenden wollte, würden sich die Ergebnisse entsprechen, da das dieser Vorschrift abgeleitete prozessuale Beschleunigungsverbot auch aus dem Wirksamkeits- und Effektivitätspostulat des Grundgesetzes abgeleitet wird472. So bleibt zu untersuchen, wie sich die oben angesprochenen Grundsätze der nationalen Verfassung auswirken. Zwei Gesichtspunkte sind maßgeblich. Zum einen verbietet Art. 19 Abs. 4 GG, dass ein irreversibler Zustand zu Lasten des Bürgers durch die Dauer des Verfahrens eintritt473. Außerdem ist die Rechtssicherheit als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips relevant: Der Bürger soll in möglichst kurzer Zeit Kenntnis darüber haben, welche Anforderungen der Staat an ihn stellt und welchen Belastungen er ausgesetzt ist.

(a) Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG im Steuerverfahren

466 Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 262; BVerfG v. 27. März 1980

2 BvR 316/80 in BVerfGE 54, 39 (41); BVerfG v. 20. April 1982 2 BvL 26/81 in BVerfGE 60, 253 (269).

467 Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 262. 468 Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 19 Rdnr. 35; Huber in von Mangoldt/Klein/Stark, Art. 19 Rdnr. 474;

Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 262; BVerfG v. 27. März 1980 2 BvR 316/80 in BVerfGE 54, 39 (41); BVerfG v. 20. April 1982 2 BvL 26/81 in BVerfGE 60, 253 (269).

469 Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 20 Rdnr. 60; BVerfG v. 20. April 1982 2 BvL 26/81 in BVerfGE 60, 253 (269).

470 Lemaire, S. 81 ff.; ebenso Apitz, DStZ 1986, 276 (276 f), allerdings ohne weitere Begründung. Derselbe Autor berichtigt sich später teilweise, vgl. Apitz, DStZ 1992, 306 (307).

471 Mössner, StuW 1991, 224 (226); Schneider, S. 246 f; so wohl auch Oppermann, § 2 Rdnr. 56. 472 Lemaire, S. 96; BVerfG v. 22. Januar 1987 1 BvR 103/85 in DB 1987, 1722. 473 Huber in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 19 Rdnr. 474 ff.; BVerfG v. 25. Oktober 1988

2 BvR 745/88 in BVerfGE 79, 69 (74).

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Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG soll auch gewährleisten, dass es während des Gerichtsverfahrens nicht zu irreparablen Beeinträchtigungen des Bürgers kommt474. Das Risiko solcher Schäden steigt mit der Dauer des Prozesses. Zur Vermeidung solcher Belastungen gibt es im Bereich der Eingriffsverwaltung verschiedene Instrumente. Zum einen ist der Suspensiveffekt von Widerspruch und Anfechtungsklage zu nennen475. Im Steuerrecht besitzen aber grundsätzlich weder die Rechtsmittel im Rahmen des Verwaltungsverfahrens noch die finanzgerichtliche Klage Suspensiveffekt476. Daher gibt es die Möglichkeit, vorläufigen Rechtsschutz durch die Aussetzung der Vollziehung eines angefochtenen Steuerbescheides zu erlangen477. Diese Maßnahme schützt also bereits den Bürger vor nicht behebbaren negativen Folgen, die dadurch entstehen können, dass eine gerichtliche Entscheidung nicht sofort zu erlangen ist. Dieser Schutz wird umso bedeutender, je mehr Zeit die Entscheidungsfindung der Justiz in Anspruch nimmt. Die Aussetzung der Vollziehung als Maßnahme des vorläufigen Rechtsschutzes ist aber ausreichend, um irreparable Schäden auch bei unangemessen langer Verfahrensdauer auszuschließen478. Eines Erlasses der während dieser Zeit erhobenen Zinsen bedarf es dafür nicht. Aus der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG kann daher nicht gefolgert werden, dass bei unangemessen langer Verfahrensdauer die Aussetzungszinsen zu erlassen sind.

(b) Rechtssicherheit im Steuerprozess

Das prozessuale Beschleunigungsgebot kann auch als Ausfluss der Rechtssicherheit aufgefasst werden. Der Bürger soll in möglichst kurzer Zeit Klarheit über die Belastungen479 erhalten, die ihm der Staat aufbürdet. Diese Sicherheit besitzt der Bürger tatsächlich erst mit Abschluss des Verfahrens. Eine bis zu diesem Zeitpunkt bestehende Ungewissheit wird durch den späteren Erlass der Aussetzungszinsen nicht beseitigt. Die Erhebung der Aussetzungszinsen steigert zwar die Höhe des Betrages, über den eine Entscheidung zu fällen ist, hat aber keine Auswirkung darauf, wann schließlich darüber entschieden wird, ob der Betrag zu entrichten ist. Auch aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit kann daher kein Anhaltspunkt für einen Erlass von Aussetzungszinsen gewonnen werden.

474 Huber in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 19 Rdnr. 474 ff. 475 Huber in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 19 Rdnr. 476; dazu auch Tipke/Kruse, § 69 FGO

Rdnr. 6. 476 Dazu Rengers, S. 11. 477 Tipke/Kruse, § 69 FGO Rdnr. 5 ff.; zum verfassungsrechtlichen Hintergrund ausführlich Lemaire,

S. 9 ff. 478 Vgl. Schwarz, § 163 AO Rdnr. 33. 479 Dies sind Steuern und in diesem Fall auch die Aussetzungszinsen.

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(c) Ergebnis der Betrachtung im Lichte der Grundrechte und des Art. 6 EMRK

Aus Art. 6 EMRK und aus den Verfassungsprinzipien der Rechtssicherheit und der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG kann der Steuerpflichtige daher ein Anspruch auf Erlass von Aussetzungszinsen nicht herleiten.

(2) Bewertung anhand der Intention des einfachen Gesetzes

Zweck nicht nur der Erhebung von Aussetzungszinsen, sondern generell der Verzinsung von Steueransprüchen ist die Abschöpfung des Zinsvorteils auf der einen und der Ausgleich des Liquiditätsnachteils auf der anderen Seite480. Wenn der Gesetzgeber die Verzinsung von Steuerforderungen während der Aussetzung der Vollziehung vorschreibt, kann dieser Ausgleichseffekt als zentrales Motiv angenommen werden. Der Liquiditätsvorteil des Steuerschuldners vergrößert sich aber ebenso wie der Zinsnachteil des Steuergläubigers proportional zur Zeitspanne, während der die Vollziehung ausgesetzt wird. Zwar entstehen dem Steuerpflichtigen durch die lange Verfahrensdauer höhere Aussetzungszinsen als bei zügiger Abwicklung der Klage. Dem steht aber gegenüber, dass er über den Geldbetrag seit dem Zeitpunkt der Aussetzung verfügen konnte und durch die spätere Zahlung einen Zinsvorteil gegenüber Personen erlangte, die ihre Steuerschuld sofort beglichen. Dem Sinn und Zweck des Gesetzes widerspricht daher die Erhebung von Aussetzungszinsen auch bei langwierigen Verfahren nicht481.

(3) Antragserfordernis der Aussetzung der Vollziehung

Ein weiterer Gesichtspunkt ist, dass es dem Steuerpflichtigen freisteht, im Verfahren die Aussetzung der Vollziehung zu beantragen. Würde der Steuerpflichtige die Aussetzung nicht beantragen, müsste er in dem Falle, dass die von ihm ergriffenen Rechtsmittel nicht durchgreifen, keine Zinslast tragen. Dann würde er auch den Liquiditätsvorteil während des Verfahrens nicht genießen. Obsiegt der Steuerpflichtige, stehen ihm gem. § 236 AO Prozesszinsen auf die Erstattungsbeträge zu, so dass in diesem Falle sein während der Verfahrensdauer erlittener Liquiditätsnachteil zumindest pauschal ausgeglichen wird. Stellt er dennoch einen Antrag auf Aussetzung, nimmt er das Risiko, mit Aussetzungszinsen belastet zu werden, bewusst in Kauf482.

480 Allgemeine Ansicht, vgl. nur Tipke/Kruse, § 237 AO Rdnr. 1. 481 Ebenso Apitz, DStZ 1986, 276 (277). 482 Gerber, Rdnr. 113; ebenso der BFH v. 21. Februar 1991 V R 105/84 in BStBl. II 1991, 498 (500)

= BFHE 163, 313.

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(4) Ergebnis

Auch bei Betrachtung der einfachgesetzlichen Wertungen ist im Ergebnis dem BFH zuzustimmen. Die Erhebung von Aussetzungszinsen kann von daher auch im Falle einer langen Prozessdauer nicht als sachlich unbillig betrachtet werden483.

bb) Unbeachtlichkeit des Grundes für die Erfolglosigkeit des Rechtsmittels

Der Grund für die Abweisung des gegen die Hauptforderung eingelegten Rechtsmittels kann nach Ansicht des BFH eine sachliche Unbilligkeit nicht begründen484. Dieser Ansicht ist zuzustimmen. Zur Begründung kann im Wesentlichen auf die oben angeführten Gesichtspunkte zurückgegriffen werden. Insbesondere ist zu bedenken, dass die Intention der Verzinsung, der Ausgleich des Liquiditätsvorteils, unabhängig von den Gründen der Klageabweisung im Hauptverfahren zum Zuge kommt.

cc) Zusammenfassung

Den Ausführungen des BFH zum Erlass von Aussetzungszinsen aus sachlichen Billigkeitsgründen kann in vollem Umfang zugestimmt werden.

4. Erlass von Nachforderungszinsen

Es folgt eine Untersuchung der Grundsätze des BFH zum Erlass von Nachforderungszinsen.

a) Auffassung des BFH

Grundsätzlich soll nach Ansicht des BFH auch der Erlass von Nachforderungszinsen aus Billigkeitsgründen möglich sein, obwohl eine den §§ 234 Abs. 2 beziehungsweise 237 Abs. 4 AO entsprechende ausdrückliche Regelung fehlt485.

483 Eine persönliche Unbilligkeit ist allerdings unter Umständen möglich. Zu dem gleichen Ergebnis

kommt auch Apitz, DStZ 1986, 276 (277), obwohl er sogar die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK annimmt.

484 Siehe S. 85; vgl. BFH v. 21. Juli 1993 X R 104/91 in BFH/NV 1994, 597 (598). 485 Siehe zu den Einzelheiten die Zusammenfassung auf S. 95.

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b) Verfassungsrechtlicher Hintergrund

Bei allen Verzinsungstatbeständen der AO steht als Motiv die Herstellung von Steuergerechtigkeit im Vordergrund486. Bei den Nachzahlungszinsen ist diese Intention ebenfalls zu erkennen. Die Vorschrift des § 233a AO zielt auf den Ausgleich von Liquiditätseffekten, die dadurch entstehen, dass Steuern zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt werden487. Zum einen soll der Liquiditätsvorteil des Steuerpflichtigen kompensiert werden488. Zum Anderen besteht der Zweck der Verzinsung darin, den Liquiditätsnachteil beim Steuergläubiger auszugleichen489. Durch den Ausgleich des Liquiditätsvorteils beim Steuerpflichtigen soll eine möglichst weitgehende Steuergerechtigkeit geschaffen werden. Mit der Erhebung von Nachzahlungszinsen soll damit der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG im Steuerrecht verwirklicht werden490. Über die Intention der Norm besteht ein weitgehender Konsens. Heftig umstritten ist lediglich, ob die vorliegende Regelung dem Anspruch gerecht wird491. Hervorzuheben ist der dem Gesetzgeber im Bereich der Verzinsung von Steuerforderungen zugestandene, weitgehende Entscheidungsspielraum492.

c) Untersuchung des § 233a AO

Im Folgenden soll die Möglichkeit eines Erlasses von Nachforderungszinsen untersucht werden.

aa) Grundsätzliche Möglichkeit eines Erlasses

Im Unterschied zu den Regelungen in § 234 Abs. 2 AO und § 237 Abs. 4 AO enthält § 233a AO keine explizite Normierung des Erlasses von Nachforderungszinsen.

486 BVerfG v. 5. September 1979 1 BvR 594/79 in HFR 1979, 486 (486); Apitz, DStZ 1986, 276

(277). 487 BT-Drucksache 11/2529, S. 194 ff.; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 233a Rdnr. 5;

Baum, BB 1992, 2047 (2047); Böcher, DStZ 1988, 560 (560); vgl dazu auch Kruse, FR 1988, 1 (3).

488 Vgl. dazu nur Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 233a Rdnr. 5. 489 Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 233a Rdnr. 5; Baum, BB 1992, 2047 (2047); Böcher,

DStZ 1988, 560 (560). 490 Sebiger/Dechant, FS Felix, S. 365 (388); vgl. dazu aber Meining, DStZ 2005, 341 (343f). 491 Vgl. dazu Sebiger/Dechant, FS Felix, S. 365 (389 ff.); Kruse, FR 1988, 1 (3 f); Tipke/Kruse,

§ 233a AO Rdnr. 3. 492 Dazu Starck in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 84; BVerfG v. 5. September 1979

1 BvR 594/79 in HFR 1979, 486 (486); Hensel, S. 39 ff.

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(1) Auffassung des BFH und der herrschenden Literatur

Der BFH nimmt dennoch die Anwendbarkeit der allgemeinen Billigkeitsregelungen der §§ 163, 227 AO auch für Nachforderungszinsen an493. Mit der Auffassung, ein Billigkeitserlass sei auch bei Nachforderungszinsen möglich, steht der BFH im Einklang mit der herrschenden Auffassung in der Literatur494. Teilweise wird allerdings die Anwendbarkeit der allgemeinen Billigkeitsregelungen des Abgabenrechts bestritten495. Die Vertreter diese Auffassung kommen aber in letzter Konsequenz zum gleichen Ergebnis wie die herrschende Meinung, denn sie sprechen sich für eine analoge Anwendung des inhaltsgleichen § 234 Abs. 2 AO aus496.

(2) Begründung

Als Hauptargument der herrschenden Auffassung wird der Wortlaut des § 227 AO herangezogen. Demnach können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder teilweise erlassen.

(a) Zinsen als Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis

Zu den Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis gehört gem. § 37 Abs. 1 AO auch der Anspruch auf steuerliche Nebenleistungen. Daraus wird gefolgert, ein Erlass aus Billigkeitsgründen müsse auch bei Nachforderungszinsen möglich sein497. Teilweise wird zusätzlich angeführt, auch der § 239 Abs. 1 Satz 1 AO verweise auf die Vorschriften über die Steuerfestsetzung. Auch aus diesem Grunde sei eine Anwendung der Billigkeitsvorschriften möglich498.

493 Siehe S. 86 f; vgl. BFH v. 5. Juni 1996 X R 234/93 in BStBl. II 1996, 503 (504) = BFHE 180, 240. 494 Tipke/Kruse, § 233a AO Rdnr. 76; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 233a AO

Rdnr. 89; Schwarz, § 233a AO Rdnr. 38; Krabbe, S. 95 f; Kögel in Beermann/Gosch, § 233a AO Rdnr. 124 ff.; Meining, DStZ 2005, 341 (343); ebenso das Sächsische FG v. 27. Februar 1998 2 K 288/97 in EFG 1998, 1449 (1450).

495 Streck/Mack, DStR 1989, 119 (121) ähnlich Felix, StKongrRep 1989, 399 (401); widersprüchlich Specht, DB 1992, 807.

496 Felix, StKongrRep 1989, 399 (401) argumentiert, § 234 Abs. 2 AO müsse aus rechtssystematischen Gründen anwendbar sein; Streck/Mack, DStR 1989, 119 (121) halten das Fehlen eines Verweises auf § 234 Abs. 2 AO schlicht für ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers.

497 So Tipke/Kruse, § 233a AO Rdnr. 76; Neyer, DStR 1995, 1299 (1299); Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 233a AO Rdnr. 89; Kögel in Beermann/Gosch, § 233a AO Rdnr. 124.

498 So Tipke/Kruse, § 233a AO Rdnr. 76; Baum, BB 1992, 2047 (2048); Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 233a AO Rdnr. 89; Kögel in Beermann/Gosch, § 233a AO Rdnr. 124; BFH v. 5. Juni 1996 X R 234/93 in BStBl. II 1996, 503 (504) = BFHE 180, 240.

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(b) Entstehungsgeschichte

Einige Urteile begründen die Geltung der §§ 163, 227 AO für die Nachforderungszinsen mit der Entstehungsgeschichte der Vorschrift. Da im Gesetzgebungsverfahren die Möglichkeit von Billigkeitsmaßnahmen nach den allgemeinen Regelungen ausdrücklich erwähnt sei, habe auch der historische Gesetzgeber die Anwendbarkeit der Billigkeitsvorschriften vorgesehen499.

(c) Unterschiedliche Entstehungsweise der Zinsen

Tipke/Kruse stützen die Auffassung, auch Nachforderungszinsen könnten gem. der §§ 163, 227 AO erlassen werden, auf ein weiteres Argument: Die Nachforderungszinsen entstünden wie die Steuer selbst kraft Gesetzes. Stundungs- und Aussetzungszinsen knüpften hingegen entsprechend dem Grundsatz der Teilverzinsung an bestimmte Ereignisse (Stundungsverfügung beziehungsweise Aussetzungsverfügung) an. Darum müssten für Nachforderungszinsen wie für Steuern gleichermaßen die Billigkeitsvorschriften gelten500.

(3) Bewertung dieser Ansicht

Fraglich ist gleichwohl, ob die Anwendung der Billigkeitsvorschriften im Rahmen des § 233a AO gesetzeskonform ist.

(a) Verweis auf §§ 37 Abs. 1, 3 Abs. 3 und § 239 Abs. 1 Satz 1 AO

Zunächst ist festzuhalten, dass es sich bei den oben dargestellten Auffassungen um zwei getrennte Begründungsmuster handelt. Die Unterscheidung wird in der Diskussion oft unterlassen501.

(aa) Nachforderungszinsen als Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis im Sinne des § 227 AO

499 So BFH v. 5. Juni 1996 X R 234/93 in BStBl. II 1996, 503 (504) = BFHE 180, 240; Heuermann in

Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 233a AO Rdnr. 89 insbesondere FN 5. 500 Tipke/Kruse, § 233a AO Rdnr. 76. 501 Vgl. dazu BFH v. 5. Juni 1996 X R 234/93 in BStBl. II 1996, 503 (504) = BFHE 180, 240;

Streck/Mack, DStR 1989, 119 (121); Specht, DB 1992, 807 (807); Neyer, DStR 1995, 1299 (1299); Neyer, UR 1997, 416 (417).

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Mit der Begründung, Nachforderungszinsen stellten einen Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis dar, könnte lediglich die Geltung des § 227 AO belegt werden. § 227 AO sieht vor, dass die Finanzverwaltung Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen kann, wenn deren Einziehung unbillig wäre. Zu den Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis gehört nach § 37 Abs. 1 AO auch der Anspruch auf steuerliche Nebenleistungen. Der Begriff der steuerlichen Nebenleistung wiederum ist in § 3 Abs. 3 AO legaldefiniert. Demnach gehören auch die gem. den §§ 233 bis 237 AO erhobenen Zinsen zu den steuerlichen Nebenleistungen. Auch die Nachforderungszinsen stellen daher einen Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis dar und fallen grundsätzlich in den Anwendungsbereich des § 227 AO502. Damit ist aber noch nicht festgestellt, ob die Billigkeitsvorschriften aus anderen Gründen auf Nachforderungszinsen nicht anwendbar sind.

(bb) § 239 Abs. 1 Satz 1 AO als Verweis auf die Vorschriften über die Steuerfestsetzung

§ 239 Abs. 1 Satz 1 AO legt die Anwendung der für die Steuern geltenden Vorschriften auf die Zinsen fest. Wie sich aus dem Zusammenhang mit der amtlichen Überschrift des § 239 AO503 ergibt, sollen die für die Steuerfestsetzung geltenden Regelungen der AO für die Zinsfestsetzung grundsätzlich analoge Anwendung finden. Zu den Normen über die Steuerfestsetzung des dritten Abschnitts des vierten Teils der AO gehört auch der § 163 AO. Bei der Festsetzung der Zinsen kommt daher grundsätzlich eine niedrigere Festsetzung aus Billigkeitsgründen in Betracht.

(cc) Zwischenergebnis

Zunächst ist festzuhalten, dass die Anwendbarkeit der §§ 163, 227 AO auf die Zinsen der §§ 233 ff. AO auf verschiedenen Verweisen beruht. Während § 163 als Vorschrift des Festsetzungsverfahrens über den Verweis des § 239 Abs. 1 Satz 1 AO analog Anwendung findet, beruht die Anwendbarkeit des § 227 AO darauf, dass Zinsen als steuerliche Nebenleistungen auch Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis sind und damit in den genuinen Anwendungsbereich des § 227 AO fallen504. Damit ist zwar festgestellt, dass Zinsen, zu denen auch die Nachforderungszinsen gehören, im Grundsatz nach den Vorschriften der §§ 163, 227 AO erlassen werden können. Der

502 So im Ergebnis auch Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 233a AO Rdnr. 89; Schwarz,

§ 233a AO Rdnr. 38. 503 Diese spricht von der „Festsetzung der Zinsen“. 504 Vgl. dazu Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 233a AO Rdnr. 89; Schwarz, § 233a AO

Rdnr. 38.

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Verweis auf § 37 Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 3 AO beziehungsweise auf § 239 Abs. 1 Satz 1 AO greift als Begründung für eine Anwendung der Billigkeitsnormen bei Nachforderungszinsen aber zu kurz505. Denn auch wenn die Zinsen Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis darstellen und als solche grundsätzlich gem. §§ 163 oder 227 AO erlassen werden können, ist damit noch nicht gesagt, dass die Anwendung der Billigkeitsvorschriften auf Nachforderungszinsen nicht aus anderen Gründen ausgeschlossen sein kann.

(b) Verweis auf die Entstehungsgeschichte

Es ist zu untersuchen, ob die Erwähnung des Billigkeitserlasses während der Entstehungsgeschichte des § 233a AO tatsächlich den Rückschluss zulässt, ein Erlass von Nachforderungszinsen sei möglich. Die häufig zitierte Äußerung ist Teil eines Berichtes der Bundesregierung über die Möglichkeit der Einführung einer Vollverzinsung im Steuerrecht506. Schon im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zur AO 1977 war die Einführung der Vollverzinsung diskutiert worden507. Da es der Finanzverwaltung zu dem Zeitpunkt aber nicht zugemutet werden sollte, eine Verzinsung aller Steueransprüche ab Entstehung der Steuer durchzuführen, wurde dieses Vorhaben zunächst aufgegeben508. Allerdings beauftragte der Bundestag die Bundesregierung bei Verabschiedung der AO 1977 mit der Ausarbeitung einer Unterrichtung über die Möglichkeit, eine Vollverzinsung einzuführen509. Der Bericht datiert vom 6. Januar 1978. Schon der zeitliche Abstand zur tatsächlichen Umsetzung der sogenannten Vollverzinsung mit Einführung des § 233a AO durch das Steuerreformgesetz 1990 im Jahre 1988510 lässt die Bedeutung dieser Äußerung für die Klärung der relevanten Probleme fraglich erscheinen.

Bei genauerer Betrachtung ergeben sich noch andere, weit gewichtigere Aspekte, die dagegen sprechen, den Bericht der Bundesregierung als Anhaltspunkt für die Anwendbarkeit der Billigkeitsvorschriften auf Nachforderungszinsen zu sehen. Der BFH und Teile der Literatur nehmen an, die Bundesregierung gehe in dem Bericht davon aus, ein Erlass von Nachforderungszinsen aus Billigkeitsgründen sei möglich. Es wird aufgeführt, auf die Erhebung von Steuern und steuerlichen Nebenleistungen könne aus Billigkeitsgründen verzichtet werden. Weiter kommt der Bericht zu dem Schluss, dass all dies bei der Berechnung der Nachforderungszinsen berücksichtigt werden

505 So wird aber zum Teil argumentiert, vgl. Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 233a AO

Rdnr. 89. 506 BT-Drucksache 8/1410. 507 Dazu schon BT-Drucksache 4/722 und BT-Drucksache 6/1982 S. 171; vgl. dazu Tipke/Kruse,

§ 233a AO Rdnr. 3 f. 508 BT-Drucksache 7/4292 S. 7; vgl. dazu Tipke/Kruse, § 233a AO Rdnr. 4. 509 BT-Drucksache 7/4292 S. 49. 510 BStBl. I 1988, 1093 (1127).

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müsse. Die Berücksichtigung des Erlasses würde die Verzinsung verkomplizieren511. Wenn bei der Zinsberechnung ein Erlass aus Billigkeitsgründen zu beachten ist, der zu einer Erschwerung der Festsetzung führt, kann mit dem Erlass aber nicht der Erlass der Nachforderungszinsen gemeint sein. Ein Erlass nach § 227 AO würde erst nach Festsetzung der Zinsen bei der Erhebung eine Rolle spielen. Ein solcher Erlass kann daher auf die Ermittlung der gesetzlich geschuldeten Zinsen keine Auswirkung haben. Ein Erlass gem. § 163 AO könnte zwar schon bei der Zinsberechnung eine Rolle spielen, da gem. § 163 Abs. 1 Satz 1 2. Variante bei der Festsetzung solche Besteuerungsgrundlagen512 unberücksichtigt bleiben können, die die Steuern erhöhen. In diesem Falle wäre eine exakte Berechnung der tatsächlich aufgelaufenen Zinsen aber nicht nötig. Die Zinsfestsetzung würde im Ergebnis sogar einfacher werden. Die befürchtete Verkomplizierung der Zinsberechnung kann es in einem solchen Fall nicht geben. Die Äußerungen der Bundesregierung machen nur Sinn, wenn man den Erlass auf die Hauptforderung bezieht. Es sollte auf die Probleme hingewiesen werden, die ein Erlass der Hauptforderung bezüglich der Zinsberechnung mit sich brächte.

Warum in dem Bericht neben Steuern auch steuerliche Nebenleistungen, zu denen auch die Zinsen gehören, aufgeführt werden, ist nicht nachzuvollziehen, da auf steuerliche Nebenleistungen gem. § 233 Satz 2 AO keine Zinsen anfallen. Aus dem Zusammenhang ergibt sich dennoch eindeutig, dass sich die von der Bundesregierung angesprochene Erlassmöglichkeit auf den Erlass der Hauptforderung bezieht. Aus den weiteren Gesetzgebungsmaterialien kann ebenfalls kein Rückschluss darauf gezogen werden, ob der historische Gesetzgeber von der Anwendbarkeit der Billigkeitsnormen im Rahmen der Nachforderungszinsen ausging513.

Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass sich aus der Entstehungsgeschichte kein Anhaltspunkt für die Anwendung der Billigkeitsregeln auf Nachforderungszinsen erkennen lässt.

(c) § 233a AO im systematischen Kontext

Aus den bisher untersuchten Gesichtspunkten ließ sich herleiten, dass die Anwendung der Billigkeitsvorschriften auf Zinsen grundsätzlich nicht ausgeschlossen ist. Es ist bisher aber kein tragfähiges Argument dafür angeführt worden, dass Nachforderungszinsen aus Billigkeitsgründen tatsächlich erlassen werden können. Insbesondere aus der Entstehungsgeschichte kann nichts dergleichen geschlossen werden. Andererseits ist bisher nicht erkennbar geworden, aus welchem Grund die Anwendung der Billigkeitsnormen auf Nachforderungszinsen ausgeschlossen sein soll.

511 BT-Drucksache 7/4292 S. 49. 512 In diesem Falle Grundlagen der Verzinsung, da § 163 AO über § 239 AO analog angewandt wird. 513 Vgl. dazu BT-Drucksache 11/2226; BT-Drucksache 11/2299; BT-Drucksache 11/2529.

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Ein solcher Grund könnte in der Systematik der Zinsvorschriften der §§ 233 ff. AO liegen. Zu untersuchen ist, ob die Tatsache, dass § 233a AO im Gegensatz zu den §§ 234 und 237 AO keine ausdrückliche Regelung des Billigkeitserlasses enthält, den Umkehrschluss zulässt, dass ein Billigkeitserlass von Nachforderungszinsen nicht möglich sein soll.

(aa) Zusammenhang der §§ 233 ff. AO

Hierbei ist der enge Zusammenhang der im ersten Unterabschnitt des zweiten Abschnitts des fünften Teils der AO zusammengefassten Vorschriften über die Verzinsung zu beachten. Es werden mit den Nachforderungszinsen (§ 233a AO), den Stundungszinsen (§ 234 AO), den Hinterziehungszinsen (§ 235 AO), den Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge (§ 236 AO) und den Aussetzungszinsen (§ 237 AO) insgesamt fünf Zinsarten beschrieben. Lediglich im Falle der Stundungszinsen (§ 234 Abs. 2 AO) und der Aussetzungszinsen (§ 237 Abs. 4 i.V.m. § 234 Abs. 2 AO) wird dabei explizit die Möglichkeit eines Zinsverzichtes aus Billigkeitsgründen festgeschrieben. Bei den Nachforderungszinsen, den Hinterziehungszinsen und den Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge fehlt hingegen eine entsprechende Regelung.

(bb) Erlass bei den Hinterziehungszinsen und den Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge

Aufgrund der Tatsache, dass neben den Nachforderungszinsen noch zwei weitere Zinsarten ohne explizite Billigkeitsregelung existieren, ist zu untersuchen, inwieweit ein Erlass aus Billigkeitsgründen bei diesen möglich ist.

(α) Erlass von Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge gem. § 236 AO

Auch § 236 AO enthält keine ausdrückliche Regelung, nach der diese Zinsen bei Vorliegen einer besonderen Härte zu erlassen wären. Allerdings ist ein grundlegender Unterschied der Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge zu allen anderen Zinsarten zu beachten. Bei Stundungszinsen ist Gläubiger der Zinsen immer der Fiskus, Schuldner der Steuerpflichtige514. Gleiches gilt für die Hinterziehungszinsen nach § 235 AO515 und Aussetzungszinsen gem. § 237 AO516. Bei den Nachforderungszinsen gem. § 233a AO

514 Tipke/Kruse, § 234 AO Rdnr. 8; Schwarz, § 234 AO Rdnr. 7. 515 Schwarz, § 235 AO Rdnr. 12 f; vgl. dazu auch Tipke/Kruse, § 235 AO Rdnr. 14. 516 Schwarz, § 237 AO Rdnr. 14; vgl. dazu auch Tipke/Kruse, § 237 AO Rdnr. 19.

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kann bei einer Nachforderung der Fiskus Gläubiger des Zinsanspruchs sein517. Wie aus dem Zweck der Vorschrift hervorgeht und § 233a Abs. 3 Satz 3 AO auch deutlich zeigt, ist es im Rahmen des § 233a AO möglich, dass der Steuerpflichtige Gläubiger des Zinsanspruchs ist518. Dies ist namentlich dann der Fall, wenn dem Steuerpflichtigen eine Steuererstattung zugesprochen wird519.

Anders verhält es sich bei den Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge nach § 236 AO. Zu verzinsen ist hier gem. § 236 Abs. 1 Satz 1 AO der Betrag, um den eine festgesetzte Steuer durch rechtskräftige gerichtliche Entscheidung oder aufgrund einer solchen Entscheidung herabgesetzt wurde. Diese Form der Verzinsung soll dem Steuerpflichtigen einen Ausgleich des Liquiditätsnachteils gewähren, wenn dieser die strittige Steuer bereits geleistet hat und die Besteuerung sich später im finanzgerichtlichen Verfahren ganz oder teilweise als unrichtig erweist. Die Bedeutung der Vorschrift steht im Zusammenhang mit dem § 69 Abs. 1 FGO, wonach die Anfechtungsklage im Steuerprozess die sich aus diesem Steuerverwaltungsakt ergebende Pflicht zur Zahlung nicht suspendiert. Schuldner der Zinsen ist immer der Fiskus. Gläubiger des Zinsanspruchs ist im Gegensatz zu allen anderen Zinsarten stets der Steuerpflichtige und nie eine staatliche Körperschaft520.

Das hat Auswirkungen auf die theoretische Möglichkeit, auf einen solchen Zinsanspruch aus Billigkeitsgründen zu verzichten. Beim Erlass aus Billigkeitsgründen, sei es der Verzicht auf eine Steuer oder eine steuerliche Nebenforderung, wie zum Beispiel Zinsen, verzichtet der Fiskus auf einen ihm zustehenden Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis521. Dieser Anspruch muss sich gegen den Steuerpflichtigen richten522. Da die Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge aber einen Anspruch des Steuerpflichtigen gegen den Fiskus darstellen, kann es aus dogmatischen Gründen keinen Erlass der Zinsen geben523. Ein Erlass von Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge ist daher im Ergebnis ausgeschlossen.

(β) Erlass von Hinterziehungszinsen

Die Vorschrift des § 235 AO, der die Verzinsung hinterzogener Steuern normiert, enthält ebenfalls keine explizite Regelung eines Billigkeitserlasses. Die

517 Schwarz, § 233a AO Rdnr. 36a. 518 Schwarz, § 233a AO Rdnr. 36a; vgl. dazu Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 233a AO

Rdnr. 26; Tipke/Kruse, § 233a AO Rdnr. 46. 519 Tipke/Kruse, § 233a AO Rdnr. 46. 520 Schwarz, § 236 AO Rdnr. 12; Tipke/Kruse, § 236 AO Rdnr. 28. 521 Gerber, Rdnr. 68 ff. 522 Von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 22; Tipke/Kruse, § 227 AO Rdnr. 5

m.w.N.; Schwarz, § 227 AO Rdnr. 3. 523 Teilweise wird zusätzlich angeführt, es sei undenkbar, dass die Einziehung eines gegen den Fiskus

gerichteten Anspruchs unbillig sei; vgl. Schwarz, § 227 AO Rdnr. 3.

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Hinterziehungszinsen stellen einen Anspruch des Fiskus gegen den Steuerpflichtigen dar524. Aus diesem Grund kann daher die Möglichkeit eines Erlasses nicht von vorneherein ausgeschlossen sein. Trotzdem ist fraglich, ob der Erlass von Hinterziehungszinsen möglich ist oder ausgeschlossen sein soll. Die Erhebung von Hinterziehungszinsen setzt eine vollendete Steuerhinterziehung im Sinne des § 370 AO voraus. Sowohl der subjektive als auch der objektive Straftatbestand der Steuerhinterziehung müssen erfüllt sein525. Eine nur leichtfertige Steuerverkürzung526 ist nicht ausreichend, um eine Verzinsung nach § 235 AO herbeizuführen527.

Festhalten lässt sich, dass der Steuerschuldner, der sich Hinterziehungszinsen ausgesetzt sieht, vorsätzlich gegen Strafgesetze und gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen hat. Dennoch haben die Hinterziehungszinsen keinen Strafcharakter. Sie sollen lediglich den durch die Steuerhinterziehung hervorgerufenen Liquiditätsvorteil beim Steuerschuldner ausgleichen. Erkennen lässt sich dies daran, dass die Zinshöhe nach § 238 Abs. 1 Satz 1 AO genauso wie bei den anderen Zinsarten der §§ 233 ff. AO 0,5 % monatlich beträgt. Vor diesem Hintergrund ist es kaum vorstellbar, dass die Einziehung von Hinterziehungszinsen unbillig sein kann528. Es kann vielmehr angenommen werden, dass der Gesetzgeber einen Erlass von Hinterziehungszinsen ausschließen wollte und daher bewusst auf eine den § 234 Abs. 2 AO beziehungsweise § 237 Abs. 4 AO entsprechende ausdrückliche Billigkeitsregelung verzichtet hat. Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass ein Erlass von Hinterziehungszinsen nicht möglich ist529.

(γ) Zusammenfassung

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sowohl bei Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge gem. § 236 AO als auch bei Hinterziehungszinsen gem. § 235 AO ein Erlass ausgeschlossen ist.

(cc) Ablehnung der Geltung der Billigkeitsregeln im Rahmen des § 233a AO als Umkehrschluss aus den §§ 234 Abs. 2, 237 Abs. 4 AO

524 Vgl. dazu Tipke/Kruse, § 235 AO Rdnr. 14; Schwarz, § 235 AO Rdnr. 12 f. 525 Tipke/Kruse, § 235 AO Rdnr. 3; Heuermanns in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 235 AO Rdnr. 13;

Schwarz, § 235 AO Rdnr. 3. 526 Vgl. § 378 AO. 527 Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 235 AO Rdnr. 16; Tipke/Kruse, § 235 AO Rdnr. 3. 528 Vgl. dazu FG Bremen v. 13. März 1990 II 179/86 K in EFG 1991, 299 (299). 529 Anderer Ansicht FG Bremen v. 13. März 1990 II 179/86 K in EFG 1991, 299 (299), welches

grundsätzlich die Anwendbarkeit der Billigkeitsvorschriften bei Hinterziehungszinsen annimmt; ebenso Gast-de Haan, DB 1999, 2441 (2442).

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Von den fünf in den §§ 233 ff. AO beschriebenen Zinsarten ist demnach für zwei – Stundungs- und Aussetzungszinsen – ausdrücklich die Möglichkeit eines Billigkeitserlasses vorgesehen. Aus dem oben Dargelegten ergibt sich, dass bei zwei weiteren Zinstypen der Erlass ausgeschlossen ist. Dieser Ausschluss wurde in den entsprechenden Vorschriften nicht explizit festgelegt.

Diese Feststellung lässt sich folgendermaßen interpretieren: Der logische Aufbau der §§ 233 ff. AO geht davon aus, dass ein Erlass von Zinsen aus Billigkeitsgründen ausdrücklich normiert ist, wenn er vom Gesetz vorgesehen ist. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass in Ermangelung einer entsprechenden expliziten Norm ein Erlass von Zinsen nicht möglich sein soll. Da die ausdrücklichen Regelungen der §§ 234 Abs. 2 AO und § 237 Abs. 4 i.V.m. § 234 Abs. 2 AO sowohl den Erlass während der Festsetzung als auch den Erlass im Rahmen der Erhebung der Zinsen umfassen530, erstreckt sich die aus dem Umkehrschluss gefolgerte Nichtanwendbarkeit der Billigkeitsvorschriften ebenfalls sowohl auf den § 163 AO als auch auf den § 227 AO. Die systematische Stellung des § 233a AO im Zusammenhang mit der ausdrücklichen Normierung des Billigkeitserlasses in den §§ 234 Abs. 2 und 237 Abs. 4 AO legt daher den Schluss nahe, dass ein Erlass von Nachforderungszinsen ausgeschlossen ist.

(dd) § 233a AO im Vergleich mit den §§ 234, 237 AO

Zu prüfen ist, ob sich der oben gezogene Umkehrschluss aus dem direkten strukturellen Vergleich des § 233a AO mit den §§ 234 und 237 AO bestätigen oder widerlegen lässt.

(α) Entstehung der Zinsen

Zu untersuchen ist insbesondere die oben angeführte Argumentation von Tipke/Kruse, nach der Nachforderungszinsen im Gegensatz zu den Stundungs- und Aussetzungszinsen kraft Gesetzes entstehen und daher anders zu behandeln sind531. Nachforderungszinsen entstehen in der Tat kraft Gesetzes. Allerdings ist zu beachten, dass auch Stundungszinsen532 und Aussetzungszinsen533 kraft Gesetzes entstehen. Von daher kann der angeführten Begründung für eine Anwendbarkeit der Billigkeitsregeln nicht gefolgt werden.

530 Vgl. dazu den Wortlaut des § 234 Abs. 2 AO, der allgemein von einem „Verzicht“ auf die Zinsen

spricht. Ebenso Tipke/Kruse, § 234 AO Rdnr. 12; vgl. Ruban in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 234 AO Rdnr. 20.

531 Vgl. dazu Tipke/Kruse, § 233a AO Rdnr. 76. 532 Tipke/Kruse, § 234 AO Rdnr. 7; vgl. Ruban in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 234 AO Rdnr. 6 ff. 533 Vgl. Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 237 AO Rdnr. 31.

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(β) Anknüpfung an einen Verwaltungsakt

Ein anderer Unterschied zwischen den §§ 234 und 237 AO auf der einen und dem § 233a AO auf der anderen Seite, der auch mittelbar mit der Entstehung der Zinsforderung zusammenhängt, lässt sich allerdings feststellen. Die Verzinsung von Steuernachforderungen knüpft im Gegensatz zu den Stundungs- und Aussetzungszinsen nicht an einen vorhergehenden Verwaltungsakt an. Die Verzinsung nach § 234 AO bzw. § 237 AO setzt einen Stundungs-534 bzw. Aussetzungsbescheid535 voraus. Bei der Verzinsung von Steuernachforderungen geht dem Entstehen der Zinsen hingegen kein spezifisches staatliches Handeln voraus. Die Zinspflicht knüpft vielmehr an den Bestand des Anspruches aus dem Steuerschuldverhältnis an536. Dieser Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis entsteht gem. § 38 AO mit Verwirklichung des Tatbestandes, an den das Gesetz die steuerliche Leistungspflicht knüpft. Ein Verwaltungsakt ist dafür nicht notwendig. Fraglich ist jedoch, ob dieser Unterschied es rechtfertigen kann, einen so erheblichen strukturellen Unterschied zwischen den §§ 234 und 237 AO auf der einen und dem § 233a AO auf der anderen Seite zu begründen, der den oben gezogenen Umkehrschluss widerlegen könnte. Davon kann indes keine Rede sein. Hilfreich ist hier ein Vergleich mit der Vorschrift des § 235 AO. Auch hier entstehen die Zinsen, ohne dass es eines Verwaltungsaktes bedurfte. Im Unterschied zu den §§ 234 und 237 AO und parallel zu § 233a AO ist ein solcher Akt auch nicht mittelbar erforderlich. Dennoch ist nach richtiger Ansicht537 eine Erlassmöglichkeit von Hinterziehungszinsen nicht vorgesehen.

(γ) Zusammenfassung des Vergleichs der §§ 234 und 237 AO mit § 233a AO

Aus dem Vergleich der §§ 234 und 237 AO mit dem § 233a AO lässt sich im Ergebnis nicht herleiten, dass ein Billigkeitserlass von Nachforderungszinsen möglich sein soll, obwohl die Systematik der §§ 233 ff. AO dagegen spricht.

(ee) Ergebnis der systematischen Betrachtung

534 Tipke/Kruse, § 234 AO Rdnr. 2; von Wallis in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 234 AO Rdnr. 4. 535 Schwarz, § 237 AO Rdnr. 9. Zusätzlich ist noch die endgültige Erfolglosigkeit des Rechtsmittels,

eine rechtskräftige ablehnende Entscheidung also, vorausgesetzt; vgl. dazu Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 237 AO Rdnr. 31.

536 Tipke/Kruse, § 233a AO Rdnr. 15; Krabbe, S. 29. 537 Siehe S. 113 f.; abweichend FG Bremen v. 13. März 1990 II 179/86 K in EFG 1991, 299 (299).

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Als Ergebnis der Untersuchung des § 233a AO im Zusammenhang der §§ 233 ff. AO ist festzuhalten, dass ein Erlass im Rahmen des § 233a AO nicht den Vorgaben der AO entspricht.

(d) Grundrechtskonformität des Ergebnisses

Fraglich ist allerdings, ob es grundrechtlichen Wertungen widerspricht, bei Nachforderungszinsen die Möglichkeit eines Erlasses auszuschließen.

(aa) Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers

Zu beachten ist, dass dem Gesetzgeber ein weitgehender Gestaltungsspielraum gerade in der Frage der Verzinsung von Steueransprüchen eingeräumt wird538. Insbesondere ist es der Legislative weitgehend freigestellt, ob und in welchem Umfang Steuerforderungen zu verzinsen sind, solange die Regelung sich nicht als willkürlich darstellt539. Der Gesetzgeber hat daher auch die Freiheit, einen grundsätzlich möglichen Erlass auf bestimmte Zinsen zu beschränken, solange diese Beschränkung nicht willkürlich erfolgt. Dies gilt umso mehr, als aufgrund des verfassungsrechtlich begründeten Legalitätsprinzips eine Verpflichtung zur Einziehung der geschuldeten Steuern und Nebenleistungen besteht. Die Differenzierung zwischen Stundungs- und Aussetzungszinsen auf der einen Seite und Nachforderungszinsen auf der anderen Seite ist mit sachlichen Gründen zu rechtfertigen, da bei Stundung und Aussetzung durch die bereits vorangegangene Billigkeitsmaßnahme eine besondere Situation vorliegt.

(bb) Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz?

Die Einziehung von Nachforderungszinsen könnte in bestimmten Fällen aber gegen den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Dann wäre das Fehlen einer einfachgesetzlichen Erlassmöglichkeit verfassungswidrig. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird allgemein als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips anerkannt540. Im Steuerrecht gibt es allerdings eine Besonderheit. Ziel der Steuern ist die Finanzierung der staatlichen Ausgaben. Dieser allgemeine Zweck ist stets erfüllt, wenn ein Geldbetrag von einem Bürger eingezogen wird. Eine sachgerechte 538 Siehe S. 97; vgl. dazu BVerfG v. 5. September 1979 1 BvR 594/79 in HFR 1979, 486 (486). 539 Siehe S. 97; BVerfG v. 5. September 1979 1 BvR 594/79 in HFR 1979, 486 (486). 540 Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 20 Rdnr. 73 ff; teilweise wird er aus Art. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG

herausgelesen, vgl. Sommermann in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 20 Rdnr. 308; teilweise wird generell auf die Grundrechte rekurriert, vgl. BVerfG v. 15. Dezember 1965 1 BvR 513/65 in BVerfGE 19, 342 (348 f).

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Differenzierung ist daher bei Steuern im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht zu erreichen541. Das Gleiche gilt für die Erhebung von Zinsen, wenn mit ihnen fiskalische Interessen verfolgt werden542. Mit den Nachforderungszinsen soll zum einen ein Kapitalnutzungsvorteil beim Steuerpflichtigen abgeschöpft werden, zum anderen aber auch ein Liquiditätsnachteil beim Steuergläubiger ausgeglichen werden. Nachforderungszinsen haben daher auch einen fiskalischen Zweck. Eine Überprüfung anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kommt daher nicht in Betracht. Ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kann daher ausgeschlossen werden.

(cc) Ergebnis der Betrachtung des grundrechtlichen Zusammenhangs

Sieht das einfache Gesetz für die Nachforderungszinsen keine Möglichkeit eines Erlasses aus Billigkeitsgründen vor, so liegt darin kein Verstoß gegen das Grundgesetz.

bb) Gesamtergebnis der Analyse der Grundsätze des BFH zum Erlass von Nachforderungszinsen

Die Nachforderungszinsen stellen Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis dar, so dass eine Anwendung des § 227 AO von daher nicht grundsätzlich ausgeschlossen wäre. Aufgrund des Verweises des § 239 Abs. 1 Satz 1 AO kommt auch eine Anwendung des § 163 AO als Vorschrift über die Steuerfestsetzung in Betracht. Aus der Entstehungsgeschichte lässt sich kein Argument für eine Geltung der allgemeinen Billigkeitsnormen im Rahmen des § 233a AO herleiten. Aus der Systematik der §§ 233 ff. AO ergibt sich aber, dass ein Erlass von Nachforderungszinsen ausgeschlossen ist. Gefolgert werden kann dies in einem Umkehrschluss aus den Vorschriften der §§ 234 Abs. 2 und 237 Abs. 4 i.V.m. 234 Abs. 2 AO. Die Rechtsprechung des BFH zu den Nachforderungszinsen geht daher fehl. Ein Erlass von Nachforderungszinsen ist nicht möglich.

C. Erlass von Säumniszuschlägen

Eine weitere steuerliche Nebenleistung gem. § 3 Abs. 4 AO sind die in § 240 AO geregelten Säumniszuschläge. Diese entstehen, wenn eine Steuer oder eine zurückzuzahlende Steuervergütung erst nach Ablauf des Fälligkeitstages entrichtet wird.

541 Vgl. dazu Papier, S. 76 ff.; Birk in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 4 AO Rdnr. 536 ff. m.w.N; Birk,

Leistungsfähigkeitsprinzip, S. 192 f.; zum Ganzen auch Becker, Steuererlass, S. 46 ff. 542 So im Ergebnis Papier, der von „Finanzsteuern“ im Gegensatz zu den „Ordnungssteuern“ spricht;

vgl. Papier, S. 76 ff.

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Auch bei entstandenen Säumniszuschlägen kommt ein Erlass aus Billigkeitsgründen in Betracht.

I. Entwicklung der gesetzlichen Regelung

Es soll im Folgenden die historische Entwicklung der gesetzlichen Regelung der Säumniszuschläge aufgezeigt werden.

1. Geschichte bis zur AO 1977

Zunächst wird die Gesetzesentwicklung bis zur AO 1977 dargestellt.

a) RAO 1919

Bereits in § 104 der RAO von 1919 waren die Folgen einer verspäteten Entrichtung der Steuerschuld geregelt543. Der Steuerschuldner hatte in einem solchen Fall jährlich 5 % Zinsen ab Fälligkeit zu entrichten. Dieses Rechtsinstitut wurde aber noch nicht als Säumniszuschlag bezeichnet544. Unter dem Eindruck der Hyperinflation wurde der Reichsfinanzminister 1923 ermächtigt, den Zinsfuß für die nach § 104 RAO entstehenden Zinsen zu erhöhen545. Außerdem wurde für die wichtigsten Steuerarten ein spezieller Zuschlag bei verspäteter Zahlung eingeführt546. In diesem Zusammenhang wurde auch erstmalig anstatt „Zins“ der Begriff des Zuschlags verwendet. Die dogmatische Abgrenzung der Verzugszinsen nach § 104 RAO zu den neu eingeführten Zuschlägen blieb dabei unklar547.

b) Steuersäumnisgesetze von 1934 und 1949

Die Folgezeit brachte eine Reihe von Änderungen mit sich548, bis im Jahre 1934 schließlich das Steuersäumnisgesetz erlassen wurde549. Dieses verwandte erstmalig den

543 RGBl. 1919, 1993 (2017). 544 Dazu auch Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 240 AO Rdnr. 2. 545 Artikel III § 2 des Gesetzes zur Berücksichtigung der Geldentwertung in den Steuergesetzen vom

20. März 1923 in RGBl. I 1923, 198 (206); dazu Becker/Riewald/Koch, Bd. I S. 821. 546 Artikel III § 1 des Gesetzes zur Berücksichtigung der Geldentwertung in den Steuergesetzen vom

20. März 1923 in RGBl. I 1923, 198 (206). 547 Dazu Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 240 AO Rdnr. 3. 548 Auf diese kann hier nicht näher eingegangen werden, vgl. dazu Becker/Riewald/Koch, Bd. I

S. 821. 549 RGBl. I 1934, 1271.

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Begriff des Säumniszuschlages. Er wurde unabhängig von der Dauer der Säumnis auf einen einmaligen Betrag von 2 % des rückständigen Steuerbetrages festgesetzt550. Intention des Säumniszuschlages war dementsprechend nicht der Ausgleich entstehender Liquiditätsvor- oder Nachteile. Die Zuschläge sollten vielmehr einen Druck auf den Steuerzahler aufbauen, um eine pünktliche Zahlung zu erreichen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Steuersäumnisgesetz 1949 dahingehend ergänzt, dass sich der Zuschlag für jeden angefangenen Monat um 1 % des Rückstandsbetrages erhöhte551.

c) Steuersäumnisgesetz von 1961

Im Rahmen des Steueränderungsgesetzes vom 13. Juli 1961 wurde das Steuersäumnisgesetz 1961 in Kraft gesetzt552. Dieses Gesetz beinhaltete sowohl die Normierung der Säumniszuschläge (§§ 1-3) als auch allgemeine Regelungen der Verzinsung (§§ 4-5). Nach § 1 Abs. 1 des Steuersäumnisgesetzes sollte für jeden angefangenen Monat, den die fällige Steuer nicht bezahlt wird, ein Zuschlag von einem Prozent der Forderung anfallen. Für Steuernachforderungen sollten, wie § 1 Abs. 3 des Steuersäumnisgesetzes explizit bestimmte, bis zur Fälligkeit keine Säumniszuschläge erhoben werden.

2. Regelungen der AO 1977

§ 240 der AO 1977553 normiert die Konsequenzen der Steuersäumnis. § 240 Abs. 1 Sätze 1 und 2 AO sind inhaltlich mit § 1 Abs. 1 und § 2 des Steuersäumnisgesetzes identisch.

a) Ursprüngliche Fassung

Demnach entsteht ein Säumniszuschlag von einem Prozent je angefangenem Monat, wenn eine Steuer oder eine zurückzuzahlende Steuervergütung nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages entrichtet wird. Vor Festsetzung oder Anmeldung der Steuer tritt gem. § 240 Abs. 1 Satz 3 keine Säumnis ein. Bei Festsetzungsänderungen sollen nach § 240 Abs. 1 Satz 4 die Säumniszuschläge unberührt bleiben. Die folgenden Absätze

550 § 3 des Steuersäumnisgesetzes in RGBl. I 1934, 1271 (1271). 551 § 10 des zweiten Gesetzes zur Neuordnung der Steuern im Gesetzblatt der Verwaltung des

Vereinigten Wirtschaftsgebietes 1949, S. 69 (73). 552 BGBl. I 1961, 981 (993 f). 553 BGBl. I 1976, 613 (668).

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legen fest, dass Säumniszuschläge nicht für steuerliche Nebenleistungen anfallen und dass die Zuschläge bei einer Säumnis von bis zu fünf Tagen nicht erhoben werden. Absatz 4 der Vorschrift regelt die Fälle der Gesamtschuld.

b) Änderungen bis zum heutigen Tage

Durch Art. 17 des Gesetzes zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms554 wurde im Jahre 1993 dem dritten Absatz des § 240 AO ein zweiter Satz angefügt, der die Anwendung der Schonfrist für Fälle der Übergabe oder Übersendung der Zahlungsmittel ausschließt. Im gleichen Jahr wurde durch die Änderung des vierten Satzes des ersten Absatzes klargestellt, dass die bis zum Zeitpunkt einer Änderung der Steuerfestsetzung nach § 129 AO wegen offensichtlicher Fehlerhaftigkeit aufgelaufenen Säumniszuschläge bestehen bleiben555. 1997 reagierte der Gesetzgeber auf ein Urteil des BFH556, nach dem Geldbeträge, die gegen einen Haftungsschuldner festgesetzt wurden, nicht vom § 240 AO erfasst werden, indem er den Anwendungsbereich der Vorschrift ausdrücklich auf Haftungsschulden ausdehnte557. Der Satz 5 des ersten Absatzes wurde 1999 eingefügt558. Durch die Einführung des Euro als gesetzliches Zahlungsmittel wurde die Anpassung der Rundungsvorschrift des § 240 Abs. 1 Satz 1 AO notwendig. Dies geschah mit Gesetz vom 19. Dezember 2000559.

II. Anwendbarkeit der Billigkeitsvorschriften nach Ansicht des BFH

Da § 240 AO im Gegensatz zu den §§ 234, 237 AO keine ausdrückliche Regelung des Billigkeitserlasses enthält, könnte man daraus schließen, ein Verzicht auf Säumniszuschläge aus Billigkeitsgründen sei nicht zulässig. Der BFH, der im Rahmen des § 233a AO die allgemeinen Billigkeitsregeln für anwendbar hält, zieht diesen Schluss jedoch nicht. Da es sich bei den Säumniszuschlägen gem. § 37 Abs. 1 i.V.m § 3 Abs. 3 AO um Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis handelt, wird § 227 AO angewendet560.

554 BGBl. I 1993, 944 (962). 555 Artikel 26 des Gesetzes zur Bekämpfung des Missbrauchs und zur Bereinigung des Steuerrechts in

BGBl. I 1993, 2310 (2347). 556 BFH v. 25. Februar 1997 VII R 15/96 in BStBl. II 1998, 2 = BFHE 182, 480. 557 Gesetz zur Datenermittlung für den Verteilschlüssel des Gemeindeanteils am

Umsatzsteueraufkommen und zur Änderung steuerlicher Vorschriften in BGBl. I 1998, 1496 (1498).

558 Steuerbereinigungsgesetz in BGBl. I 1999, 2601 (2619). 559 Gesetz zur Umrechnung und Glättung steuerlicher Euro-Beträge im BGBl. I 2000, 1790 (1803). 560 BFH v. 23. Mai 1985 V R 124/79 in BStBl. II 1985, 489 (490) = BFHE 143, 512; BFH

v. 29. August 1991 V R 78/86 in BStBl. II 1991, 906 (907) = BFHE 165, 178.

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III. Erlass von Säumniszuschlägen in der Rechtsprechung des BFH

Es soll im Folgenden die Rechtsprechung des BFH zum Erlass von Säumniszuschlägen dargestellt werden.

1. Äußerungen des BFH vor In-Kraft-Treten der AO 1977

Um die Rechtsprechung des BFH in einen Entwicklungszusammenhang stellen zu können, soll zunächst die Auffassung des BFH zum Erlass von Säumniszuschlägen vor Inkrafttreten der AO 1977 gezeigt werden.

a) Anwendbarkeit des § 131 RAO auf Säumniszuschläge

Bereits bei den Vorgängerregelungen des § 240 AO 1977stellte sich die Frage der Anwendbarkeit der allgemeinen Billigkeitsvorschrift. Das Problem lag allerdings auf einer anderen Ebene als im Rahmen der aktuellen Regelung, da § 131 RAO bis 1961 nicht ausdrücklich auch Nebenforderungen, sondern nur Steuern umfasste. Bei Säumniszuschlägen handelt es sich aber nicht um Steuern561. Trotzdem wurde die Möglichkeit eines Erlasses von Säumniszuschlägen aus Billigkeitsgründen vom BFH bejaht562. Säumniszuschläge seien zwar keine Steuern im Sinne des § 131 RAO, die Vorschrift sei aber analog anwendbar563. Mit der Neufassung des § 131 RAO von 1961 wurde das Problem gelöst, indem der Gesetzgeber die Anwendung auch auf sonstige Geldleistungen erstreckte. Damit war die Anwendbarkeit des § 131 RAO auf Säumniszuschläge klargestellt564.

b) Akzessorietät

In einigen frühen Entscheidungen wird auch die Abhängigkeit der Nebenforderung von der Hauptsteuerschuld angeführt. Die Säumniszuschläge sollen grundsätzlich unter den Bedingungen erlassen werden, unter denen auch die Hauptschuld zu erlassen wäre565.

561 So auch der BFH v. 17. Januar 1964 I 256/59 U in BStBl. III 1964, 371 (372). 562 BFH v. 25. Januar 1961 II 34/59 in HFR 1961, 133. 563 BFH v. 25. Januar 1961 II 34/59 in HFR 1961, 133 (133). 564 Dazu BFH v. 13. Januar 1976 VII R 47/74 in BFHE 118, 3 (4). 565 BFH v. 25. Januar 1961 II 34/59 in HFR 1961, 133 (134); ähnlich BFH v. 17. Januar 1964

I 256/59 U in BStBl. III 1964, 371 (372).

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c) Verschulden der Säumnis

Der VII. Senat des BFH befand in einer Entscheidung aus dem Jahre 1976, eine unbillige Einziehung von Säumniszuschlägen liege vor, wenn die Säumnis vom Steuerschuldner nicht zu vertreten sei566. Diese erstaunliche Aussage darf aber nicht als allgemeingültige Maxime missverstanden werden; vielmehr ist sie im Kontext des entschiedenen Falles zu betrachten, in dem es um die Auslegung von Ermessensrichtlinien ging. So stellt der BFH später klar, dass ein mangelndes Verschulden nicht ausreicht, um einen Erlass der Säumniszuschläge aus Billigkeitsgründen zu rechtfertigen567. Als Begründung wird angeführt, das Entstehen der Säumniszuschläge sei verschuldensunabhängig, daher komme es auch beim Erlass auf ein Vertretenmüssen nicht an568.

d) Aussagen zur Intention der Säumniszuschläge

Betont wird der Charakter der Zuschläge als Druck- und Zwangsmittel569. Sie werden als Druckmittel eigener Art betrachtet, das darauf gerichtet sei, den Steuerschuldner zur pünktlichen Zahlung zu bewegen570. Dahingegen wird es nicht als Zweck der Zuschläge angesehen, die Möglichkeit der Kapitalnutzung durch den Steuerschuldner abzugelten.

e) Erlass bei Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit

Mit diesem Verständnis von der Zielrichtung steht die Ansicht des BFH zum Erlass der Säumniszuschläge bei Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit des Steuerschuldners in engem Zusammenhang. Bereits im Jahre 1974 stellte der VII. Senat des BFH fest, dass die Säumniszuschläge ihren Sinn als Zwangsmittel verlören, wenn der Druck keinen Erfolg verspreche, weil dem Steuerschuldner die Zahlung unmöglich sei571. Wenn der Steuerpflichtige überschuldet und zahlungsunfähig sei, sei das Ermessen der Finanzverwaltung auf Null reduziert; ein Erlass sei zu gewähren572. Diese Auffassung wird später bekräftigt573.

566 BFH v. 13. Januar 1976 VII R 47/74 in BFHE 118, 3 (5). 567 BFH v. 7. Mai 1981 VII R 64/79 in BStBl. II 1981, 698 (610) = BFHE 133, 262; ähnlich BFH

v. 8. März 1984 I R 44/88 in BStBl. II 1984, 415 (416) = BFHE 140, 421. 568 BFH v. 7. Mai 1981 VII R 64/79 in BStBl. II 1981, 698 (610) = BFHE 133, 26. 569 BFH v. 17. Januar 1964 I 256/59 U in BStBl. III 1964, 371 (372). 570 BFH v. 22. April 1974 VII R 54/72 in BStBl. II 1975, 727 (728) = BFHE 116, 87; BFH

v. 14. September 1978 V R 35/72 in BStBl. II 1979, 58 (59) = BFHE 126, 9. 571 BFH v. 22. April 1974 VII R 54/72 in BStBl. II 1975, 727 (728) = BFHE 116, 87. 572 BFH v. 22. April 1974 VII R 54/72 in BStBl. II 1975, 727 (728) = BFHE 116, 87. 573 BFH v. 8. März 1984 I R 44/80 in BStBl. II 1984, 415 (416) = BFHE 140, 421.

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Interessant im Vergleich zur Ansicht des BFH zu diesem Problem im Rahmen der AO 1977 ist dabei die Höhe, in der ein Dispens von den Säumniszuschlägen erfolgen soll. Es wird in keinem Urteil auf die Frage eingegangen, ob nur ein partieller Erlass zu gewähren sei. Dies lässt den Schluss zu, dass nach der Rechtsprechung des BFH in solchen Fällen ein vollständiger Erlass vom Zeitpunkt der Zahlungsunfähigkeit an zu erfolgen hat574.

2. Rechtsprechung des BFH nach In-Kraft-Treten der AO 1977

Von den oben dargestellten Grundsätzen ausgehend, entwickelte sich die Rechtsprechung des BFH zum § 240 AO 1977 weiter.

a) Abhängigkeit der Säumniszuschläge von der Hauptschuld

Der BFH nahm insbesondere zur Abhängigkeit der Säumniszuschläge zur Hauptschuld Stellung.

aa) Grundsätzliche Unabhängigkeit vom Bestand der Hauptschuld

Wird die Festsetzung einer Steuer zugunsten des Steuerpflichtigen geändert, bleiben die bis dahin verwirkten Säumniszuschläge unberührt. Das ergibt sich aus § 240 Abs. 1 Satz 4 AO. Die Säumniszuschläge sind daher nicht akzessorisch zur Hauptschuld. Es entspricht dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers, auch bei Änderung der Hauptschuld Säumniszuschläge zu erheben. Eine Änderung der Festsetzung der Hauptforderung kann daher auch nach der vom BFH vertretenen Auffassung grundsätzlich nicht zur Unbilligkeit der Säumniszuschläge führen575.

bb) Unbilligkeit bei fehlerhaft abgelehnter Aussetzung der Vollziehung

Etwas anderes gilt, wenn Rechtsmittel gegen die Hauptschuld Erfolg haben und der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung der Hauptforderung gestellt wurde, aber diesem

574 BFH v. 22. April 1974 VII R 54/72 in BStBl. II 1975, 727 (728) = BFHE 116, 87; BFH v. 8. März

1984 I R 44/80 in BStBl. II 1984, 415 (416) = BFHE 140, 421. 575 BFH v. 7. Juli 1999 X R 87/96 in BFH/NV 2000, 161 (162); BFH v. 30. März 2006 V R 2/04 in

BStBl. II 2006, 612 (614) = BFHE 212, 23.

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nicht stattgegeben wurde, obwohl die Aussetzung der Vollziehung geboten war576. Begründet wird diese Auffassung folgendermaßen: Ein Steuerpflichtiger, der die Aufhebung seiner Steuerfestsetzung erreicht, bleibt, wenn er vorher erfolgreich die Aussetzung der Vollziehung beantragte, gem. § 237 Abs. 1 Satz 1 AO von Zinsen unbelastet. Auch Säumniszuschläge werden nicht erhoben. Die Regelung des § 240 Abs. 1 Satz 4 AO kommt in solchen Fällen nicht zum Tragen577. Wenn der Steuerpflichtige den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung stellt, hängt die Erhebung der Säumniszuschläge daher von der Entscheidung des Finanzamtes ab. Geben die Finanzbehörden dem Antrag statt, entstehen keine Säumniszuschläge, wenn der Steuerpflichtige im Hauptverfahren obsiegt.

Im Falle erfolgreich eingelegter Rechtsmittel entstehen allerdings ebenfalls Säumniszuschläge, wenn die Vollziehung der Hauptforderung nicht ausgesetzt wurde. War die ablehnende Entscheidung der Steuerbehörden fehlerhaft, weil die Aussetzung der Vollziehung möglich und geboten gewesen wäre, ist der Steuerschuldner mit Säumniszuschlägen daher nur aufgrund eines Fehlers der Behörden belastet. In einem solchen Fall sieht der BFH in der Erhebung der Säumniszuschläge eine unbillige Härte578. Die Säumniszuschläge sind daher in voller Höhe zu erlassen.

cc) Auswirkungen des Erlasses der Hauptforderung aus Billigkeitsgründen

Ein anderer Fall als die Änderung der Steuerfestsetzung aus Rechtsgründen ist der Erlass der Hauptforderung aus Billigkeitsgründen. Erstere soll nach Ansicht des BFH nicht zur Unbilligkeit der Säumniszuschläge führen579. Nach Auffassung des BFH sind Säumniszuschläge aus sachlichen Billigkeitsgründen zu erlassen, wenn bezüglich der säumigen Steuerschuld eine Erlass- oder Stundungssituation bestanden hat580. Dies ist keine Frage der Akzessorietät im eigentlichen Sinne, da die Hauptforderung tatsächlich bestehen bleibt. Die Billigkeitsgründe bezüglich der Hauptforderung können persönlicher oder sachlicher Natur sein. Allerdings fehlt bisher eine klare Aussage des BFH zu der Frage, ob Säumniszuschläge zu erlassen sind, weil die Hauptforderung nach Entstehen der Zuschläge tatsächlich erlassen wird.

576 BFH v. 29. August 1991 V R 78/86 in BStBl. II 1991, 906 (907 f) = BFHE 165, 178; BFH

v. 4. Februar 1999 IX B 170/98 in BFH/NV 1999, 908 (908). 577 BFH v. 29. August 1991 V R 78/86 in BStBl. II 1991, 906 (907) = BFHE 165, 178. 578 BFH v. 29. August 1991 V R 78/86 in BStBl. II 1991, 906 (908) = BFHE 165, 178. 579 BFH v. 7. Juli 1999 X R 87/96 in BFH/NV 2000, 161 (162). 580 BFH v. 23. Mai 1985 V R 124/79 in BStBl. II 1985, 489 (492) = BFHE 143, 512; BFH v. 7. Mai

1993 III R 43/89 in BFH/NV 1994, 144 (147).

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b) Verschulden des Steuerpflichtigen

Wie schon in § 1 des Steuersäumnisgesetzes knüpft der Tatbestand des § 240 Abs. 1 AO nicht an ein Verschulden des Steuerpflichtigen an. Der Gesetzgeber wollte das Entstehen der Säumniszuschläge allein vom Vorliegen der verspäteten Zahlung abhängig machen581. Das Entstehen von Zuschlägen auch bei unverschuldeter Säumnis wurde bewusst in Kauf genommen. Der X. Senat des BFH folgerte daraus mehrfach, es könne bei der Frage der Unbilligkeit nicht auf ein Verschulden des Steuerpflichtigen ankommen582. Andere Senate des BFH schlossen sich dieser Auffassung an583. Es kann daher als ständige Rechtsprechung bezeichnet werden, dass es bei der Frage eines Erlasses von Säumniszuschlägen auf ein Verschulden des Steuerpflichtigen nicht ankommen soll.

c) Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit

Vor In-Kraft-Treten der AO 1977 entschied der BFH mehrfach, im Falle einer Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung seien die Säumniszuschläge zu erlassen584. In den Entscheidungen unter der Geltung der neuen AO wurde auf diese Rechtsprechung zurückgegriffen. In solchen Fällen soll demnach grundsätzlich ein Erlass geboten sein585.

aa) Kein vollständiger Erlass

Nach den Urteilen, die zur Rechtslage vor In-Kraft-Treten der AO ergingen, sollte ein Gesamterlass zu gewähren sein586. In den ersten Urteilen zur Rechtslage nach In-Kraft-

581 So der BFH v. 29. Juni 1987 X R 22/81 in BFH/NV 1987, 693 (695); ähnlich bereits BFH

v. 23. Mai 1985 V R 124/79 in BStBl. II 1985, 489 (491) = BFHE 143, 512; im Rahmen des § 1 Steuersäumnisgesetz: BFH v. 7. Mai 1981 VII R 64/79 in BStBl. II 1981, 608 (610) = BFHE 133, 262.

582 BFH v. 29. Juni 1987 X R 22/81 in BFH/NV 1987, 693; BFH v. 21. Oktober 1987 X R 29/81 in BFH/NV 1988, 546 (547 f); BFH v. 7. Februar 1990 X R 154/87 in BFH/NV 1991, 5 (5); ähnlich auch schon der VII. Senat in BFH v. 7. Mai 1981 VII R 64/79 in BStBl. II 1981, 608 (610) = BFHE 133, 262.

583 BFH v. 26. Januar 1988 VIII R 151/85 in BFH/NV 1988, 695 (696 f); BFH v. 26. April 1988 VII R 127/85 in BFH/NV 1989, 71 (72).

584 Vgl. BFH v. 22. April 1974 VII R 54/72 in BStBl. II 1975, 727 (728) = BFHE 116, 87; BFH v. 8. März 1984 I R 44/80 in BStBl. II 1984, 415 = BFHE 140, 421.

585 BFH v. 27. September 2001 X R 134/98 in BStBl. II 2002, 176 (178) = BFHE 196, 400; BFH v. 9. Juli 2003 V R 57/02 in BStBl. 2003, 901 (903) = BFH/NV 2003, 1620; BFH v. 30. März 2006 V R 2/04 in BStBl. II 2006, 612 (614) = BFHE 212, 23.

586 BFH v. 22. April 1974 VII R 54/72 in BStBl. II 1975, 727 (728) = BFHE 116, 87; ebenso noch zum Steuersäumnisgesetz BFH v. 8. März 1984 I R 44/80 in BStBl. II 1984, 415 = BFHE 140, 421.

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Treten der AO 1977 wurde hingegen der Erlass eines Teils der Zuschläge als ermessensgerecht angesehen587. Die Beschränkung der Milderung auf einen Teil des entstandenen Betrages wurde in späteren Entscheidungen aufgegriffen588. Zum Teil wird hingegen nur von einem Erlass gesprochen, ohne dass auf die Höhe eingegangen wird589. Diese Entscheidungen bleiben widersprüchlich. Auf der einen Seite kann man die Gewährung eines Erlasses stets als vollständigen Erlass verstehen, auf der anderen Seite sind diese Äußerungen im Kontext der überwiegenden Mehrheit der Entscheidungen zu sehen, die lediglich einen Teilerlass als ermessensgerecht ansehen. Diese werden zum Teil sogar zur Begründung angeführt. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass auch in den Urteilen, die nicht näher auf die Höhe des Dispenses eingehen, ein Teilerlass gemeint ist. Die Ansicht, in Fällen von Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung sei regelmäßig ein Teilerlass zu gewähren, kann als ständige Rechtsprechung bezeichnet werden.

bb) Höhe des Erlasses

In den genannten Fallgruppen wird regelmäßig ein Erlass zur Hälfte als geboten angesehen590. Als Anhaltspunkt für diese Größe wird dabei die Höhe der Stundungs- und Aussetzungszinsen genommen591. Diese betragen gem. § 238 AO 0,5 % im Monat, also die Hälfte des Satzes, der gem. § 240 Abs. 1 AO für Säumniszuschläge veranschlagt wird. Der Steuerschuldner soll in der Höhe belastet werden, wie er bei einer Stundung oder Aussetzung der Vollziehung beansprucht worden wäre592.

587 BFH v. 23. Mai 1985 I R 5/83 in BStBl. II 1985, 489 (492) = BFHE 143, 512. 588 BFH v. 26. April 1988 VII R 127/85 in BFH/NV 1989, 71 (72); BFH v. 22. Juni 1989 V R 78/84

in BFH/NV 1990, 75 (76); BFH v. 22. Juni 1990 III R 150/85 in BStBl. II 1991, 864 (866) = BFHE 161, 4; BFH v. 16. September 1992 X R 169/90 in BFH/NV 1993, 510 (513); BFH v. 18. April 1996 V R 55/95 in BStBl. II 1996, 561 (562) = BFHE 180, 516; BFH v. 16. Juli 1997 XI R 32/96 in BStBl. II 1998, 7 (8) = BFHE 184, 193; BFH v. 18. Juni 1998 V R 13/98 in BFH/NV 1999, 10 (11); BFH v. 19. Dezember 2000 VII R 63/99 in HFR 2001, 533 (534).

589 BFH v. 26. Januar 1988 VIII R 151/85 in BFH/NV 1988, 695 (697); BFH v. 8. März 1990 IV R 34/89 in BStBl. II 1990, 673 (675) = BFHE 160, 296; BFH v. 21. Februar 1991 V R 41/86 in BFH/NV 1991, 652 (653); zum Teil widersprüchlich formuliert sind auch BFH v. 7. Mai 1993 III R 43/89 in BFH/NV 1994, 144 (147); BFH v. 4. Januar 1996 VII B 209/95 in BFH//NV 1996, 526 und BFH v. 5. Februar 1997 V B 154/96 in BFH/NV 1997, 729.

590 So ausdrücklich BFH v. 18. Juni 1998 V R 13/98 in BFH/NV 1999, 10 (11); BFH v. 25. Februar 1999 VII B 150/98 in BFH/NV 1999, 1057 (1057); BFH v. 7. Juli 1999 X R 87/96 in BFH/NV 2000, 161 (162 f); BFH v. 27. September 2001 X R 134/98 in BStBl. II 2002, 176 (178) = BFHE 196, 400; BFH v. 9. Juli 2003 V R 57/02 in BStBl. 2003, 901 (903) = BFH/NV 2003, 1620; BFH v. 30. März 2006 V R 2/04 in BStBl. II 2006, 612 (614) = BFHE 212, 23.

591 BFH v. 23. Mai 1985 V R 124/79 in BStBl. II 1985, 489 (492); BFH v. 20. Dezember 1988 X B 107/87 in BFH/NV 1989, 761 (761); BFH v. 22. Juni 1990 III R 150/85 in BStBl. II 1991, 864 (866); BFH v. 30. März 2006 V R 2/04 in BStBl. II 2006, 612 (614) = BFHE 212, 23.

592 BFH v. 23. Mai 1985 V R 124/79 in BStBl. II 1985, 489 (492); BFH v. 20. Dezember 1988 X B 107/87 in BFH/NV 1989, 761 (761); BFH v. 22. Juni 1990 III R 150/85 in BStBl. II 1991, 864 (866).

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cc) Begründung der Auffassung des BFH

Bei der Begründung der Ansicht des BFH ist zu differenzieren. Zum Einen sind die Gründe für die Gewährung des Erlasses zu eruieren; zum Anderen sind die Gründe dafür zu ermitteln, dass kein vollständiger, sondern nur ein Teilerlass gewährt wird.

(1) Begründung des Dispenses

In Fällen der Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit liegt nach Ansicht der Rechtsprechung regelmäßig ein Fall sachlicher Unbilligkeit vor. Ein Erlass sei nach allgemeinen Grundsätzen wegen sachlicher Unbilligkeit zu gewähren, wenn die Einziehung von Steuerforderungen im Einzelfall, insbesondere mit Rücksicht auf den Zweck des Säumniszuschläge, nicht mehr zu rechtfertigen ist, weil deren Erhebung zwar den gesetzlichen Tatbestand erfüllt, aber den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderläuft593. Zweck der Säumniszuschläge ist es zumindest auch, auf den Steuerpflichtigen als Druckmittel zu wirken, um die rechtzeitige Zahlung der Hauptforderung herbeizuführen594. Ist dem Steuerschuldner die rechtzeitige Zahlung unmöglich, verliert die Ausübung eines Druckes den Sinn595. Die Einziehung der vollen Säumniszuschläge widerspricht in einem solchen Fall der Absicht des Gesetzes. Sie ist sachlich unbillig, ein Erlass ist geboten.

(2) Begründung der Ablehnung eines vollständigen Erlasses

Die Zielrichtung der Säumniszuschläge beschränkt sich aber nicht auf die Ausübung eines Druckes zur Zahlung. Nach herrschender Ansicht im Schrifttum596, der sich auch der BFH angeschlossen hat597, stellen die Säumniszuschläge außerdem eine 593 Ständige Rechtsprechung, vgl. nur BFH v. 23. Mai 1985 V R 124/79 in BStBl. II 1985, 489 (490 f)

= BFHE 143, 512. 594 BFH v. 26. April 1988 VII R 127/85 in BFH/NV 1989, 71 (72); BFH v. 27. September 2001

X R 134/98 in BStBl. II 2002, 176 (178) = BFHE 196, 400; BFH v. 30. März 2006 V R 2/04 in BStBl. II 2006, 612 (614) = BFHE 212, 23; dies entspricht auch der allgemeinen Auffassung in der Literatur: Gerber, Rdnr. 116; Schwarz, § 240 AO Rdnr. 1; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 240 AO Rdnr. 11; Tipke/Kruse, § 240 AO Rdnr. 1.

595 BFH v. 26. April 1988 VII R 127/85 in BFH/NV 1989, 71 (72); BFH v. 22. Juni 1990 III R 150/85 in BStBl. II 1991, 864 (866) = BFHE 161, 4; BFH v. 16. September 1992 X R 169/90 in BFH/NV 1993, 510 (512); BFH v. 16. Juli 1997 XI R 32/96 in BStBl. II 1998, 7 (8) BFH v. 27. September 2001 X R 134/98 in BStBl. II 2002, 176 (178) = BFHE 196, 400; BFH v. 30. März 2006 V R 2/04 in BStBl. II 2006, 612 (614) = BFHE 212, 23.

596 Ruban in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 240 AO Rdnr. 11; Schwarz, § 240 AO Rdnr. 1; Hampel/Benkendorff, S. 56; abweichend Tipke/Kruse, § 240 AO Rdnr. 1.

597 BFH v. 23. Mai 1985 V R 124/79 in BStBl. II 1985, 489 (492) = BFHE 143, 512; BFH v. 26. April 1988 VII R 127/85 in BFH/NV 1989, 71 (72); BFH v. 20. Dezember 1988 X B 107/87 in BFH/NV 1989, 761 (761); BFH v. 29. August 1991 V R 78/86 in BStBl. II 1991, 906 (908) =

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Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung dar. Von der Zahlung einer fälligen Steuer könne grundsätzlich nicht ohne Kompensation abgesehen werden598. Nach Ansicht des BFH ergibt sich dies aus dem Gegenleistungsgedanken bei Zahlungsaufschub, der sich auch in der Erhebung von Stundungs- und Aussetzungszinsen manifestiert599.

Außerdem spielt ein weiterer Aspekt eine Rolle. Gem. § 3 Abs. 4 AO fließen steuerliche Nebenleistungen, die keine Zinsen sind, also auch Säumniszuschläge, den steuerverwaltenden Körperschaften zu. Diese Vorschrift war im Regierungsentwurf zur AO 1977 noch anders gefasst. Danach sollten auch Säumniszuschläge der steuerberechtigten Körperschaft zufließen600. Erst auf Drängen des Bundesrates wurde die Vorschrift schließlich geändert und erhielt den aktuellen Wortlaut601. Zur Begründung wurde angeführt, mit den Säumniszuschlägen sollten Verwaltungsaufwendungen abgegolten werden, die bei der steuerverwaltenden Körperschaft durch die verspätete Zahlung entstehen. Diesen Hintergrund nimmt der BFH zum Anlass, um den Charakter der Säumniszuschläge als Kompensation für zusätzlichen Verwaltungsaufwand zu unterstreichen602.

Der Regelungszweck der Säumniszuschläge ist aber unabhängig von der Zielrichtung als Druckmittel. Auch wenn die Ausübung eines Druckes zwecklos ist, weil dem Steuerschuldner die Zahlung unmöglich ist, behält die Erhebung der Säumniszuschläge zumindest teilweise ihren Sinn. Der BFH schließt daraus, in Fällen der Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung sei ein Erlass grundsätzlich nur zum Teil zu gewähren. Neben dem kompensatorischen Moment der Säumniszuschläge wird für die Beschränkung des Erlasses zusätzlich geltend gemacht, der Säumige solle grundsätzlich nicht besser stehen als ein Steuerpflichtiger, dem Aussetzung der Vollziehung gewährt wurde603. Dieser bleibt mit Aussetzungszinsen gem. § 237 AO in Höhe von 0,5 % monatlich belastet. Der Säumige soll daher, auch wenn ihm die Zahlung nicht möglich war, in dieser Höhe in Anspruch genommen werden.

BFHE 165, 178; BFH v. 16. Juli 1997 XI R 32/96 in BStBl. II 1998, 7 (8) = BFHE 184, 193; BFH v. 27. September 2001 X R 134/98 in BStBl. II 2002, 176 (178) = BFHE 196, 400.

598 So der BFH v. 22. Juni 1990 III R 150/85 in BStBl. II 1991, 864 (865) und BFH v. 29. August 1991 V R 78/86 in BStBl. II 1991, 906 (908) = BFHE 165, 178; ähnlich BFH v. 9. Juli 2003 V R 57/02 in BStBl. 2003, 901 (903) = BFH/NV 2003, 1620.

599 BFH v. 16. September 1992 X R 169/90 in BFH/NV 1993, 510 (513); BFH v. 18. April 1996 V R 55/95 in BStBl. II 1996, 561 (562) = BFHE 180, 516.

600 So sah es § 2 Abs. 4 des Entwurfes vor, vgl. BT-Drucksache 12/79 (S. 17). 601 BT-Drucksache 12/4495 (S. 1). 602 BFH v. 29. August 1991 V R 78/86 in BStBl. II 1991, 906 (908 f) = BFHE 165, 178; ähnlich BFH

v. 16. Juli 1997 XI R 32/96 in BStBl. II 1998, 7 (8) = BFHE 184, 193; BFH v. 27. September 2001 X R 134/98 in BStBl. II 2002, 176 (178) = BFHE 196, 400.

603 BFH v. 16. Juli 1997 XI R 32/96 in BStBl. II 1998, 7 (8) = BFHE 184, 193; ähnlich BFH v. 20. Dezember 1988 X B 107/87 in BFH/NV 1989, 761 (761) und BFH v. 29. August 1991 V R 78/86 in BStBl. II 1991, 906 (909) = BFHE 165, 178; BFH v. 27. September 2001 X R 134/98 in BStBl. II 2002, 176 (178) = BFHE 196, 400.

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Aus den beiden genannten Gesichtspunkten resultiert die vom BFH als ermessensgerecht angesehene Höhe des Erlasses in Fällen der Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit. Die inhaltliche Gewichtung der Liquiditätskompensation und des Ausgleichs des Verwaltungsaufwandes auf der einen Seite wird im Verhältnis zum Zwangscharakter der Säumniszuschläge als annähernd gleich angesehen. Da außerdem der Säumige nicht weniger belastet werden soll als der Steuerschuldner, dem die Steuer gestundet wurde oder dem eine Aussetzung der Vollziehung gewährt worden ist, kann regelmäßig nur der Erlass zur Hälfte als ermessensgerecht angesehen werden.

dd) Inhaltliche Voraussetzungen der „Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit“

Zu untersuchen sind die inhaltlichen Anforderungen, die der BFH an die „Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit“ eines Steuerpflichtigen stellt.

(1) Überschuldung

Bei der Definition dieses Begriffes wird auf die insolvenzrechtliche Bedeutung zurückgegriffen. Nach der Gesetzeslage vor In-Kraft-Treten der Insolvenzordnung wurde der Begriff im Sinne des Konkursrechts ausgelegt. Demnach liegt Überschuldung vor, wenn die Passiva die Aktiva übersteigen604. Dies stellte keine Legaldefinition dar, war aber allgemein anerkannt605. Da Überschuldung seit In-Kraft-Treten der Insolvenzordnung sogar in diesem Sinne in § 19 Abs. 1 InsO legal definiert ist, kann angenommen werden, dass der BFH weiterhin die Definition des Insolvenzrechts anwendet.

(2) Zahlungsunfähigkeit

Bei der Zahlungsunfähigkeit verwendete der BFH zunächst ebenfalls die insolvenzrechtliche Definition.

(a) Insolvenzrechtliche Definition

604 So der BFH v. 8. März 1984 I R 44/80 in BStBl. II 1984, 415 (416); BFH v. 16. September 1992

X R 169/90 in BFH/NV 1993, 510 (512); BFH v. 2. Juli 1998 IV R 60/97 in BFH/NV 1999, 149 (150).

605 Vgl. dazu Kilger/Schmidt, § 102 2. b) (S. 434).

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Bereits vor In-Kraft-Treten der Insolvenzordnung wurde Zahlungsunfähigkeit als das auf Mangel an Zahlungsmitteln beruhende, voraussichtlich dauernde Unvermögen des Schuldners, seine sofort zu erfüllenden Geldschulden im Wesentlichen zu berichtigen, verstanden606. Dies entspricht auch der seit 1999 geltenden Legaldefinition im § 17 Abs. 2 InsO. Demnach ist ein Schuldner zahlungsunfähig, wenn er nicht in der Lage ist, die fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen. Die insolvenzrechtliche Begriffsbestimmung wurde in früheren Urteilen vom BFH übernommen607. Auch die Anforderungen an die Dauer des Unvermögens wurden dem Insolvenzrecht entnommen. Eine Zahlungsunfähigkeit sollte nur dann vorliegen, wenn das Unvermögen zur Berichtigung der Geldschulden drei bis sechs Monate anhielt608. Dauert das Unvermögen nur eine kürzere Zeitspanne an, wird hingegen nur eine Zahlungsstockung angenommen609.

(b) Abweichen von der insolvenzrechtlichen Definition

Von diesen Grundsätzen wurde in neuerer Zeit allerdings abgewichen. Dabei wurde ausdrücklich die Bezugnahme auf die Definition der Zahlungsunfähigkeit des Insolvenzrechts verworfen610. Zahlungsunfähigkeit kann demnach auch vorliegen, wenn der Steuerschuldner nur zeitweise außerstande war, seinen Zahlungspflichten pünktlich nachzukommen. Zur Begründung wird angeführt, die Billigkeitsmaßnahmen zielten gerade darauf ab, das wirtschaftliche Fortbestehen des Schuldners zu garantieren. Der Eintritt der Insolvenzsituation solle daher verhindert werden. Würde die Konkurslage faktisch zur Voraussetzung für den Erlass gemacht, könne ein Dispens von einer Steuerforderung nicht mehr die finanzielle Existenz des Steuerpflichtigen schützen. Diese vom X. Senat des BFH vertretene Auffassung wurde allerdings von anderen Senaten in der Folgezeit nicht übernommen611. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass die insolvenzrechtskonforme Auslegung weiterhin ständige Rechtsprechung des BFH ist.

ee) Möglichkeit eines weitergehenden Erlasses

606 Kilger/Schmidt, § 102 2. a) (S. 433). 607 BFH v. 8. März 1984 I R 44/80 in BStBl. II 1984, 415 (416) = BFHE 140, 421; BFH v. 29. Juni

1987 X R 22/81 in BFH/NV 1987, 693 (695). 608 So der BFH v. 8. März 1984 I R 44/80 in BStBl. II 1984, 415 (416) = BFHE 140, 421; BFH

v. 2. Juli 1998 IV R 60/97 in BFH/NV 1999, 149 (150). 609 So Kilger/Schmidt, § 30 5. (S. 179); daran sich anschließend der BFH v. 8. März 1984 I R 44/80 in

BStBl. II 1984, 415 (416) = BFHE 140, 421. 610 BFH v. 16. September 1992 X R 169/90 in BFH/NV 1993, 510 (512); 611 Der III. Senat in BFH v. 7. Mai 1993 III R 43/89 in BFH/NV 1994, 144 (147) und der IV. Senat in

BFH v. 2. Juli 1998 IV R 60/97 in BFH/NV 1999, 149 (150) rekurrieren wieder auf die Definitionen des Insolvenzrechtes.

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In Fällen der Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit ist auch ein Erlass über den hälftigen Betrag der Säumniszuschläge hinaus nicht ausgeschlossen612. Dafür müssen aber weitergehende Gründe vorliegen.

(1) Vollständiger Erlass bei Erlasssituation für Stundungs- und Aussetzungszinsen

Aus der Begründung der Beschränkung des Dispenses in Fällen der Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung lässt sich eine Fallgruppe herleiten, in der ein vollständiger Erlass zu gewähren ist. Die Höhe des Erlasses der Säumniszuschläge in diesen Fällen orientiert sich an der Höhe der Stundungs- und Aussetzungszinsen. Der BFH argumentiert zum Teil, der Dispens von Säumniszuschlägen sei zu begrenzen, damit der Säumige nicht besser stehe als der Steuerschuldner, dem eine Stundung gewährt wurde613. Wenn allerdings die Sachlage sich derart verhält, dass auch ein Erlass von Stundungs- oder Aussetzungszinsen hätte erfolgen müssen, verliert die Begrenzung der Milderung ihren Sinn. Daher ist nach Auffassung des BFH in Fällen, in denen zusätzlich zur Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit ein Erlass von Stundungszinsen geboten wäre, ein über die Hälfte der Säumniszuschläge hinausgehender Erlass geboten614. Auf die inhaltlichen Voraussetzungen für den Erlass der Stundungszinsen soll hier nicht näher eingegangen werden. Diese Problematik wurde bereits an anderer Stelle behandelt615.

(2) Vollständiger Erlass bei Erlasssituation bezüglich der Hauptforderung

Ähnlich verhält es sich in den Fällen, in denen zum Fälligkeitszeitpunkt ein Erlass der Hauptforderung möglich und geboten gewesen wäre. Da der Erlass im Gegensatz zur Stundung einen endgültigen Verzicht auf die Steuerforderung darstellt616, komme es nach Ansicht des BFH in einem solchen Fall zu keinen weiteren Belastungen des

612 BFH v. 23. Mai 1985 V R 124/79 in BStBl. II 1985, 489 (492) = BFHE 143, 512; BFH

v. 27. September 2001 X R 134/98 in BStBl. II 2002, 176 (178) = BFHE 196, 400. 613 BFH v. 16. Juli 1997 XI R 32/96 in BStBl. II 1998, 7 (8) = BFHE 184, 193; ähnlich BFH

v. 20. Dezember 1988 X B 107/87 in BFH/NV 1989, 761 (761) und BFH v. 29. August 1991 V R 78/86 in BStBl. II 1991, 906 (909) = BFHE 165, 178; BFH v. 27. September 2001 X R 134/98 in BStBl. II 2002, 176 (178) = BFHE 196, 400.

614 BFH v. 22. Juni 1989 V R 78/84 in BFH/NV 1990, 75 (76); BFH v. 4. Januar 1996 VII B 209/95 in BFH/NV 1996, 526 (526); BFH v. 16. Juli 1997 XI R 32/96 in BStBl. II 1998, 7 (8 f) = BFHE 184, 193; BFH v. 7. Juli 1999 X R 87/96 in BFH/NV 2000, 161; BFH v. 19. Dezember 2000 VII R 63/99 in HFR 2001, 533 (534). Der BFH spricht hier teilweise von einer zinslosen Stundung. Da aber bei einer Stundung stets Stundungszinsen anfallen, ist die Zinslosigkeit einer Stundung nur über einen Billigkeitserlass gem. § 234 Abs. 2 AO zu erreichen. Gemeint ist daher der Erlass der Stundungszinsen.

615 Siehe S. 81 ff. 616 Dazu Gerber, Rdnr. 68 ff.

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Steuerschuldners mit Zinsen oder Säumniszuschlägen. Daraus folgert der BFH, ein Erlass der Säumniszuschläge sei in voller Höhe geboten, wenn zum Zeitpunkt der Fälligkeit der Hauptforderung ein Erlass hätte gewährt werden müssen617.

(3) Dauernde Zahlungsunfähigkeit als Erlassgrund?

In einem Beschluss des V. Senats des BFH wird außerdem die dauernde Zahlungsunfähigkeit als Grund für den Erlass sämtlicher Säumniszuschläge angeführt618. Ob sich diese Aussage allerdings verallgemeinern lässt, ist fraglich, denn die ständige Rechtsprechung lässt im Falle der dauernden Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung ja eben nur für einen Teilerlass zu. Die Systematik der Rechtsprechung zum Erlass von Säumniszuschlägen im Falle der Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung wäre aber ad absurdum geführt, ließe man die bloße, dauernde Zahlungsunfähigkeit für einen Gesamterlass ausreichen.

d) Weitere Einzelfälle

Im Folgenden sollen weitere vom BFH entschiedene Einzellfälle im Zusammenhang mit einem Erlass von Säumniszuschlägen dargestellt werden.

aa) Durch Postversäumnis verursachte Überschreitung der Gnadenfrist des § 240 Abs. 3 AO

In Fällen, in denen die Überschreitung der Gnadenfrist des § 240 Abs. 3 AO auf einem Versäumnis der Post beruhte, hat der VII. Senat des BFH den Erlass nur eines Teilbetrages der Säumniszuschläge, wie ihn die Finanzverwaltung aufgrund einer Richtlinie gewährte, gebilligt619. Die Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Durchsetzung einer pünktlichen Zahlung und dem Interesse des Steuerpflichtigen lässt es als zulässig erscheinen, vom Billigkeitserweis einen angemessenen Betrag auszunehmen. Dabei sei auch zu beachten, dass nicht nur den Steuerschuldner, sondern auch den Steuergläubiger kein Verschulden an der Verzögerung treffe. Ein vollständiger Erlass lasse sich mit mangelndem Verschulden nicht begründen620. Mit ähnlicher 617 So BFH v. 23. Mai 1985 V R 124/79 in BStBl. II 1985, 489 (492) = BFHE 143, 512; BFH

v. 8. März 1990 IV R 34/89 in BStBl. II 1990, 673 (676) = BFHE 160, 296; ähnlich auch BFH v. 4. Oktober 1989 V R 106/84 in BStBl. II 1990, 179 (180) = BFHE 158, 306 und BFH v. 7. Mai 1993 III R 43/89 in BFH/NV 1994, 144 (147).

618 BFH v. 5. Februar 1997 V B 154/96 in BFH/NV 1997, 729 (730). 619 BFH v. 7. Mai 1981 VII R 64/79 in BStBl. II 1981, 608 (610) = BFHE 133, 262. 620 BFH v. 7. Mai 1981 VII R 64/79 in BStBl. II 1981, 608 (610) = BFHE 133, 262.

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Begründung lehnte derselbe Senat auch einen Erlass ab, der mit der Behauptung begründet war, zu dem Versäumnis sei es nur gekommen, da der zuständige Sachbearbeiter im Urlaub gewesen sei621.

bb) Erlass von Säumniszuschlägen in der Insolvenz

Fraglich war, ob die Erhebung der Säumniszuschläge eine sachliche Härte darstellt, wenn der Konkursverwalter aus konkurs- und haftungsrechtlichen Gründen fällige Steuern nicht zahlen darf, weil noch nicht feststeht, ob die Konkursmasse zur Begleichung vorrangiger Schulden ausreicht (§ 60 Abs. 1, § 82 der alten Konkursordnung). Der V. Senat des BFH entschied dazu zunächst, auch im Insolvenzverfahren sei die Erhebung von Säumniszuschlägen nicht grundsätzlich unbillig622. Der Zweck der Säumniszuschläge als Druckmittel entfalle aber, wenn der Konkursverwalter die Steuern aus insolvenzrechtlichen Gründen nicht begleichen darf. Da die Gegenleistungsfunktion der Säumniszuschläge aber erhalten bleibe, sei ein Erlass zur Hälfte angemessen. Die Argumentation entspricht der Begründung, die der BFH regelmäßig in Fällen der Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung vorträgt. Dies verwundert nicht, da beide Fallgruppen durchaus vergleichbar sind. In beiden Fällen ist es dem Steuerschuldner unmöglich, pünktlich zu zahlen. Im einen Fall hindern ihn tatsächliche Gründe, die in seinen ökonomischen Fähigkeiten begründet sind, im anderen Fall sind es rechtliche Belange, die einer rechtzeitigen Zahlung entgegenstehen.

cc) Säumniszuschläge während der Einstellung der Vollstreckung gem. § 258 AO

Auch in einem solchen Fall kann unter Umständen ein Erlass der Säumniszuschläge in Betracht kommen. Es widerspricht den Wertungen des Gesetzgebers allerdings nicht schlechthin, die während der Einstellung der Zwangsvollstreckung entstandenen Säumniszuschläge einzuziehen623. Es können aber weitere Umstände hinzukommen, die einen Erlass rechtfertigen. Billigkeitserwägungen, die bei der Entscheidung über die Gewährung der Vollstreckungseinstellung bereits beachtet wurden, können für die Frage nach einer Milderung der Säumniszuschläge Bedeutung erlangen, wenn sie ihren Grund nicht im Vollstreckungsverfahren selbst haben624. Insbesondere, wenn als Maßnahme im Sinne des § 258 AO dem Steuerschuldner Ratenzahlung gewährt wurde und die Raten die finanziellen Möglichkeiten des Steuerpflichtigen voll ausschöpfen, ist

621 BFH v. 15. Mai 1990 VII R 7/88 in BStBl. II 1990, 1007 (1007) = BFHE 161, 395. 622 BFH v. 18. April 1996 V R 55/95 in BStBl. II 1996, 561 (562) = BFHE 180, 516. 623 BFH v. 2. Juli 1986 I R 5/83 in BFH/NV 1987, 684 (685); BFH v. 14. Mai 1987 X R 26/81 in

BFH/NV 1988, 411 (412). 624 BFH v. 2. Juli 1986 I R 5/83 in BFH/NV 1987, 684 (685).

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ein Erlass zu gewähren625. In einem solchen Fall kann der Steuerschuldner nicht mehr zahlen, die Ausübung eines Druckes zur Zahlung ist somit sinnlos. Mit Rücksicht darauf, dass der Zweck der Säumniszuschläge sich nicht nur auf den Druck zur pünktlichen Zahlung beschränkt626, ist nach Auffassung des BFH ein Teilerlass angebracht627.

dd) Erlass, wenn die Aussetzung der Vollziehung gem. § 361 AO geboten war

Haben die Rechtsmittel des Steuerpflichtigen gegen die Hauptforderung Erfolg und hat dieser Aussetzung der Vollziehung beantragt, die vom Finanzamt nicht gewährt wurde, obwohl dem Antrag hätte stattgegeben werden müssen, ist ein Erlass der Säumniszuschläge zu gewähren628.

3. Zusammenfassung der Ansicht des BFH

Die Säumniszuschläge sind nach Ansicht des BFH grundsätzlich nicht akzessorisch zur Hauptforderung. Haben aber die Rechtsmittel des Steuerpflichtigen gegen die Hauptschuld Erfolg und wurde ein zuvor gestellter Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ermessensfehlerhaft abgelehnt, ist ein Erlass der Säumniszuschläge zu gewähren. Das Verschulden des Steuerpflichtigen spielt im Rahmen des § 240 AO keine Rolle, daher kann mangelndes Verschulden auch keinen Erlass begründen. In Fällen der Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit, denen in der Rechtsprechungspraxis erhebliche Bedeutung zukommt, ist ein Erlass der Säumniszuschläge zur Hälfte zu gewähren, wenn keine weiteren Gründe geltend gemacht werden können. Entsprechendes gilt, wenn aus insolvenzrechtlichen Gründen eine Zahlung vorübergehend unmöglich ist. Sind im Rahmen des § 258 AO dem Steuerpflichtigen Ratenzahlungen gewährt worden, mit denen die finanziellen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, ist ein Erlass der Säumniszuschläge zur Hälfte angebracht.

625 BFH v. 26. April 1988 VII R 127/85 in BFH/NV 1989, 71 (72). 626 Siehe S. 128 f. 627 BFH v. 23. Mai 1985 V R 124/79 in BStBl. II 1985, 489 (492); BFH v. 26. April 1988

VII R 127/85 in BFH/NV 1989, 71 (72). 628 BFH v. 29. August 1991 V R 78/86 in BStBl. II 1991, 906 (908) = BFHE 165, 178; BFH

v. 16. September 1992 X R 169/90 in BFH/NV 1993, 510 (513); BFH v. 4. Februar 1999 IX B 170/98 in BFH/NV 1999, 908 (908); BFH v. 18. Juli 2001 X B 161/00 in BFH/NV 2002, 7 (7).

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IV. Bewertung dieser Grundsätze

Diese Grundsätze des BFH sollen im Folgenden einer Überprüfung unterzogen werden.

1. Anwendbarkeit der Billigkeitsvorschriften auf Säumniszuschläge

Zu klären ist zunächst, ob ein Erlass von Säumniszuschlägen grundsätzlich überhaupt möglich ist. Da im § 240 AO eine ausdrückliche Billigkeitsvorschrift wie in den §§ 234 und 237 AO fehlt, könnte man zu dem Schluss kommen, ein Billigkeitserlass von Säumniszuschlägen sei ausgeschlossen629. Der systematische Zusammenhang der §§ 234 und 237 AO zu den Säumniszuschlägen ist aber weit weniger eng als die Verbindung zu § 233a AO, da den Säumniszuschlägen ein eigener Unterabschnitt gewidmet ist. Der Umkehrschluss aus den §§ 234 Abs. 2 und 237 Abs. 4 AO, dass hier kein Steuerdispens möglich sei, kann daher bei den Säumniszuschlägen nicht gezogen werden. Da es sich bei Säumniszuschlägen um eine steuerliche Nebenleistung im Sinne des § 3 Abs. 3 AO handelt, wird allgemein die Anwendbarkeit der Billigkeitsvorschriften bejaht630. Dem ist zuzustimmen. Da die Säumniszuschläge eine steuerliche Nebenleistung darstellen, ohne Festsetzung allein durch die Verwirklichung des Tatbestandes entstehen und außerdem eine dem § 239 Abs. 1 Satz 1 AO entsprechende Regelung fehlt, können sie nicht Gegenstand eines Festsetzungserlasses nach § 163 AO sein. Ausschließlich anwendbar ist vielmehr § 227 AO631.

2. Charakter und Intention der Säumniszuschläge

Fraglich ist der Charakter der Säumniszuschläge. Säumniszuschläge entstehen kraft Gesetzes, wenn festgesetzte oder angemeldete632 Steuern oder zurückzuzahlende Steuervergütungen633 bei Fälligkeit nicht entrichtet werden634. Nach allgemeiner Auffassung in Literatur und Rechtsprechung stellen die Säumniszuschläge ein Druck- und Zwangsmittel dar, das den Steuerzahlungspflichtigen zur pünktlichen Entrichtung

629 Zum Parallelproblem bei den Nachforderungszinsen siehe S. 107 ff. 630 Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 240 AO Rdnr. 101; Schwarz, § 240 AO Rdnr. 48;

Tipke/Kruse, § 240 AO Rdnr. 55; Hampel/Benkendorff, S. 60; Hundt-Eßwein, NWB Fach 2, S. 8219 (8225); BFH (zum alten § 131 RAO) v. 25. Januar 1961 II 34/59 in BStBl. II 1961, 133 (133); BFH v. 23. Mai 1985 V R 124/79 in BStBl. II 1985, 489 (490) = BFHE 143, 512.

631 Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 240 AO Rdnr. 101; Baum, BB 1994, 695 (695); Tipke/Kruse, § 240 AO Rdnr. 55; Janssen, DStZ 1990, 463 (463); ähnlich Schwarz, § 240 AO Rdnr. 48; Hampel/Benkendorff, S. 60.

632 Vgl. § 240 Abs. 1 Satz 3 AO. 633 Vgl. § 240 Abs. 1 Satz 2 AO. 634 Tipke/Kruse, § 240 AO Rdnr. 8; Schwarz, § 240 AO Rdnr. 5.

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der Steuerschulden anhalten soll635. Teilweise wird angenommen, dass die Säumniszuschläge zusätzlich Zinscharakter haben, da sie auch den Liquiditätsvorteil des Steuerschuldners abschöpfen sollen636. Außerdem sollen Säumniszuschläge den durch die verzögerte Zahlung verursachten Verwaltungsaufwand bei der steuerverwaltenden Körperschaft ausgleichen637.

a) Säumniszuschläge als Druckmittel

Dass die Säumniszuschläge die Ausübung eines Druckes auf den Steuerschuldner bezwecken, um eine möglichst pünktliche Steuerentrichtung zu erreichen, ist unbestritten638. Dies ergibt sich zum einen aus der Anknüpfung der Säumniszuschläge an die Nichtzahlung einer fälligen Steuerschuld. Zum anderen lässt sich auch an der Höhe der Säumniszuschläge erkennen, die mit 1% im Monat doppelt so hoch ist wie der allgemeine Zinssatz gem. § 238 AO, dass deren Zielrichtung zumindest nicht nur die Abschöpfung des Liquiditätsvorteils beim Steuerpflichtigen ist. Ein weiteres Argument für den Charakter als Druckmittel ist, dass Säumniszuschläge gem. § 240 Abs. 1 Satz 1 AO für jeden angefangenen Monat berechnet werden, Zinsen jedoch nach § 238 Abs. 1 Satz 2 AO nur für volle Monate zu zahlen sind. Zinsen knüpfen an die Zeit an, für die dem Steuerschuldner tatsächlich ein Vorteil verblieb, wohingegen bei Säumniszuschlägen die Warnwirkung überwiegt. Entstehungsgeschichtlich lässt sich dies ebenfalls belegen. In der Begründung der Bundesregierung zu § 233 ihres Entwurfes, der schließlich zu § 240 AO wurde, wird festgehalten, es handele sich um ein dem Steuerrecht eigenes Druckmittel zur Durchsetzung von titulierten Zahlungsansprüchen des Steuerfiskus639. Festzuhalten bleibt, dass die Säumniszuschläge die Ausübung eines Druckes zur rechtzeitigen Zahlung bezwecken. Dies entspricht der allgemeinen Auffassung in Literatur und Rechtsprechung640. Damit ist aber noch nicht festgestellt, dass Ausübung eines Drucks zur Zahlung die einzige Zielrichtung der Säumniszuschläge wäre.

635 Tipke/Kruse, § 240 AO Rdnr. 1; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 240 AO Rdnr. 11;

Schwarz, § 240 AO Rdnr. 1; Bergkemper, S. 54; Fuchs, S. 11; Langer, BB 2000, 2024 (2025); Baum, BB 1994, 695 (696); Merkert, DB 1968, 2149 (2150); Janssen, DStZ 1990, 463 (463); Höllig, DB 1979, 622 (623); Birk, DStR 1987, 388 (388); Birkholz, DStZ 1979, 45; Gerber, Rdnr. 116; Weber-Grellet, DB 1980, 37 (38); BFH v. 26. April 1988 VII R 127/85 in BFH/NV 1989, 71 (72).

636 Schwarz, § 240 AO Rdnr. 1; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 240 AO Rdnr. 11; Birk, DStR 1987, 388 (388); Höllig, DB 1979, 622 (623); Baum, BB 1994, 695 (696); BFH v. 23. Mai 1985 V R 124/79 in BStBl. II 1985, 489 (492) = BFHE 143, 512.

637 So Schwarz, § 240 AO Rdnr. 1; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 240 AO Rdnr. 11. 638 Vgl. nur Tipke/Kruse, § 240 AO Rdnr. 1; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 240 AO

Rdnr. 11. 639 BT-Drucksache 6/1982 S. 173. 640 Tipke/Kruse, § 240 AO Rdnr. 1; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 240 AO Rdnr. 11;

Schwarz, § 240 AO Rdnr. 1; Bergkemper, S. 54; Fuchs, S. 11; Langer, BB 2000, 2024 (2025);

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b) Zins- und Vergütungscharakter der Säumniszuschläge

Zu untersuchen ist, ob den Säumniszuschlägen neben der oben beschriebenen Zielrichtung noch ein weiteres Motiv zu Grunde liegt.

aa) Herrschende Meinung

Nach der herrschenden Meinung in der Literatur641 und der Ansicht des BFH642 verfolgt der § 240 AO über die Ausübung und Aufrechterhaltung eines Drucks zur Zahlung hinaus das Ziel, den beim Steuerpflichtigen aufgrund der verspäteten Zahlung angefallenen Liquiditätsvorteil abzuschöpfen. Begründet wird dies mit dem auch in § 361 Abs. 1 AO zum Ausdruck kommenden fiskalischen Interesse, dass Steuern zunächst zu entrichten sind, unabhängig davon, ob der Steueranspruch streitbefangen ist643. Des Weiteren wird der enge systematische Zusammenhang mit den Vorschriften über die Verzinsung der §§ 233a AO angeführt644.

bb) Argumente der Gegenansicht

Die Gegenansicht bestreitet dies. Ihr zufolge beschränkt sich der Zweck des § 240 AO auf die Ausübung eines Druckes zur rechtzeitigen Zahlung auf den Steuerschuldner645. Begründet wird dies auf verschiedene Weise. Zum einen wird auf die Bedeutung des Begriffes des Säumniszuschlages verwiesen. Der Ausdruck „Zuschlag“ wird, wie etwa in § 152 AO, vom Gesetzgeber nur dann verwandt, wenn der Steuerpflichtige zu einem bestimmten Verhalten gezwungen werden soll. Ist hingegen der Ausgleich einer gewährten Kapitalnutzung auf Zeit beabsichtigt, wird von „Zinsen“ gesprochen. Dies wird als Anhaltspunkt dafür gewertet, dass § 240 AO keinen Ausgleich von Kapitalnutzungsvorteilen bezweckt646. Gegen den Charakter von Zinsen spreche außerdem die Höhe der Säumniszuschläge, die deutlich über den Zinssätzen des

Baum, BB 1994, 695 (696); Merkert, DB 1968, 2149 (2150); Janssen, DStZ 1990, 463 (463); Höllig, DB 1979, 622 (623); Birk, DStR 1987, 388 (388); Birkholz, DStZ 1979, 45; Gerber, Rdnr. 116; BFH v. 26. April 1988 VII R 127/85 in BFH/NV 1989, 71 (72).

641 Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 240 AO Rdnr. 11; Birk, DStR 1987, 388 (388); Baum, BB 1994, 695 (696); Weinreuter, DStZ 1999, 853 (862); Hundt-Eßwein, NWB Fach 2, S. 8219 (8225).

642 BFH v. 23. Mai 1985 V R 124/79 in BStBl. II 1985, 489 (492) = BFHE 143, 512. 643 Birk, DStR 1987, 388 (388). 644 Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 240 AO Rdnr. 13. 645 Bergkemper, S. 55 f; Merkert, DB 1968, 2149 (2150); Weber-Grellet, DB 1980, 37 (38); ähnlich

auch Schwarz, § 240 AO Rdnr. 1; Becker, Steuererlass, S. 16 f. Tipke/Kruse, § 240 AO Rdnr. 1, demnach sei der Zinseffekt nur eine „Nebenwirkung“.

646 So Weber-Grellet, DB 1980, 37 (38); ihm folgend Bergkemper, S. 55 f.

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§ 238 AO liege647. Auch sei die Erhebung von Säumniszuschlägen in gewissem Maße unabhängig von der Dauer der Säumnis, da sie nach einem Tag in gleicher Höhe anfallen wie nach einem Monat. Die Höhe von Zinsen sei dahingegen proportional zum Zeitraum der Vorenthaltung des geschuldeten Geldes648.

Gestützt werden die sprachlichen und systematischen Argumente durch die Entstehungsgeschichte des § 240 AO. Da in der Begründung des Regierungsentwurfes lediglich davon die Rede ist, dass es sich bei den Säumniszuschlägen um ein Druckmittel zur Zahlung handelte, die Zinswirkung aber keine Erwähnung findet, wird gefolgert, dass bei der Erhebung von Säumniszuschlägen der Ausgleich des Liquiditätsvorteils kein Zweck des § 240 AO sein soll649.

cc) Stellungnahme

Zunächst ist auf das Wortlautargument der Mindermeinung einzugehen. Zuzugeben ist ihr, dass der Begriff des Zuschlags tatsächlich auch in § 152 AO dazu verwendet wird, um eine steuerliche Nebenleistung zu bezeichnen, durch die der Steuerschuldner zu einer bestimmten Handlung650 gezwungen werden soll. Allein daraus lässt sich aber nicht schließen, dass ein „Zuschlag“ nicht neben dem Hauptzweck noch weitere Nebenzwecke haben kann. Wie beim Säumniszuschlag steht auch das Aufkommen des Verspätungszuschlages gem. § 3 Abs. 4 Satz 2 AO der steuerverwaltenden und nicht der steuerberechtigten Körperschaft zu. Zweck der Erhebung sowohl der Verspätungs- als auch der Säumniszuschläge ist daher auch ein Ausgleich des mit der Verzögerung verbundenen erhöhten Verwaltungsaufwandes651.

Wenn der Säumniszuschlag auch nicht als Zins zu betrachten ist, da er zumindest nicht primär ein Entgelt für die Kapitalüberlassung auf Zeit darstellt, so ist doch der systematische Zusammenhang des § 240 AO mit den §§ 233 ff. AO zu beachten. Diese Vorschriften sind im zweiten Abschnitt „Verzinsung, Säumniszuschläge“ des fünften Teils der AO zusammengefasst. Der Ausgleich des Liquiditätsvorteils bei einer verspäteten Zahlung von Steuerschulden wird im Fall der Aussetzung der Vollziehung durch die Erhebung von Aussetzungszinsen und bei einer Stundung durch die Erhebung von Stundungszinsen herbeigeführt. Hat eine Aussetzung oder Stundung nicht stattgefunden und ist der Schuldner säumig, ist keine Verzinsung im Gesetz vorgesehen. Lediglich Säumniszuschläge sind zu erheben. Ein Ausgleich des

647 So mutatis mutandis Merkert, DB 1968, 2149 (2150). 648 Merkert, DB 1968, 2149 (2150). 649 So Weber-Grellet, DB 1980, 37 (38); vgl. dazu den Regierungsentwurf zu § 223 des Entwurfes der

Bundesregierung, aus dem der § 240 AO hervorging in BT-Drucksache 6/1982 S. 173. 650 Im Rahmen des § 152 AO ist dies die Abgabe einer Steuererklärung, beim § 240 AO die Zahlung

der Steuerschuld. 651 Schwarz, § 240 AO Rdnr. 1; Baum, BB 1994, 695 (696).

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Kapitalnutzungsvorteils kann daher nur über die Säumniszuschläge stattfinden652. Es existieren keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber mit Erhebung der Säumniszuschläge nicht auch einen Ausgleich des Liquiditätsvorteils beziehungsweise des erhöhten Verwaltungsaufwandes bezweckte.

Bestätigt wird die Auffassung, dass der Ausgleich der verzögerten Zahlung zumindest Nebenzweck der Säumniszuschläge ist, durch eine Betrachtung der Vorschrift des § 235 Abs. 3 Satz 2 1. Variante AO. Danach werden Hinterziehungszinsen für die Zeit, in der Säumniszuschläge anfallen, nicht erhoben. Betrachtet man die Säumniszuschläge ausschließlich als Druckmittel, müsste gefolgert werden, dass der Steuerpflichtige im Fall der Steuerhinterziehung keine Gegenleistung für die Kapitalüberlassung zu leisten hätte653. Dies ist aber weder mit der Systematik des Gesetzes noch mit der den §§ 233 ff. AO zugrunde liegenden Intention zu vereinbaren.

Im Ergebnis ist festzuhalten, dass neben dem Hauptzweck als Druckmittel zur pünktlichen Zahlung der Ausgleich der mit der verspäteten Zahlung verbundenen Folgen als Nebenzweck von der Intention des § 240 AO umfasst wird. Dieser Nebenzweck hat dabei zwei Zielrichtungen. Zum einen soll der Liquiditätsvorteil beim Steuerpflichtigen abgeschöpft werden, zum anderen soll die steuerverwaltende Körperschaft einen Ersatz der durch die Verspätung verursachten erhöhten Verwaltungsaufwendungen erhalten654.

3. Einwirkungen des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes

Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit655 kann im Steuerrecht nicht uneingeschränkt Geltung beanspruchen.

a) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Maßstab für die Erhebung von Säumniszuschlägen

Wenn der Zweck einer staatlichen Maßnahme die Sicherung des öffentlichen Finanzbedarfes ist, muss daran die Verhältnismäßigkeit des Eingriffes gemessen werden. Da der Ertragszweck höchst indifferent ist, lässt sich die Belastungswirkung der Steuer weder am Gebot der Erforderlichkeit noch am Gebot der Geeignetheit der Mittel sachgerecht messen, denn die Einziehung finanzieller Mittel ist immer geeignet 652 Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 240 AO Rdnr. 11. 653 Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 240 AO Rdnr. 13. 654 So auch Weinreuter, DStZ 1999, 853 (862). 655 Vgl. Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 20 Rdnr. 73 ff; teilweise wird er aus Art. 1 i.V.m. dem

Art. 20 Abs. 3 GG herausgelesen, vgl. Sommermann in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 20 Rdnr. 308; teilweise wird generell auf die Grundrechte rekurriert, BVerfG v. 15. Dezember 1965 1 BvR 513/65 in BVerfGE 19, 342 (348f).

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und auch erforderlich, um den staatlichen Finanzbedarf zu decken656. Daher ist es allgemein anerkannt, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Maßstab für die Überprüfung steuerlicher Belastungen ungeeignet ist657. Bei den Säumniszuschlägen verhält es sich aber etwas anders. Wie oben festgestellt wurde, ist Hauptzweck des § 240 AO eben nicht die Erzielung fiskalischer Einnahmen, sondern die Ausübung eines Druckes auf den Steuerpflichtigen, um ihn zur rechtzeitigen Zahlung zu bewegen. Dieser Zweck ist konkret und lässt eine differenzierte Beurteilung der Verfassungslegitimität zu. Die Verhältnismäßigkeit kann daher als sachgerechter Maßstab zur Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der Einziehung von Säumniszuschlägen angesehen werden658.

b) Inhalt der Verhältnismäßigkeitsprüfung

Im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit ist zunächst festzustellen, ob das mit der staatlichen Maßnahme angestrebte Ziel legitim ist. Dann ist die Geeignetheit des verwendeten Mittels zu untersuchen; der Akt staatlicher Gewalt muss den legitimen Zweck fördern. Außerdem ist die Erforderlichkeit des Mittels zu prüfen. Es darf keine ebenso effektive, den Bürger aber weniger belastende Möglichkeit geben, das angestrebte Ziel zu erreichen. Abschließend ist die Angemessenheit der Maßnahme zu untersuchen. Es muss die Verhältnismäßigkeit zwischen der Beeinträchtigung, die der Eingriff für den Einzelnen bedeutet, und dem öffentlichen Interesse bestimmt werden. Dabei dürfen die individuellen Rechte nicht das staatliche Interesse überwiegen659.

c) Anwendung dieser Grundsätze auf die Säumniszuschläge

Zu untersuchen ist die Anwendung der dargestellten Grundsätze auf die Säumniszuschläge.

aa) Feststellen eines legitimen Ziels

656 Vgl. dazu Jarass, S. 89 ff.; Birk in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 4 AO Rdnr. 536 ff. m.w.N;

Becker, Steuererlass, S. 46 ff. 657 Birk, Leistungsfähigkeitsprinzip, S. 189; Papier, S. 76 ff. m.w.N. 658 Vgl. dazu Papier, S. 80 ff. Es kann dabei dahingestellt bleiben, ob die Säumniszuschläge als

„Ordnungssteuer“ im Sinne Papiers zu anzusehen sind. Entscheidend ist, dass sie nicht primär der Erzielung von Einnahmen dienen. Dazu auch Rodi, S. 55 ff.; Jarass, S. 89 ff.

659 Vgl. zum Ganzen Pieroth/Schlink, Rdnr. 279 ff.; Sommermann in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 20 Rdnr. 308; Hirschberg, S. 50 ff.; BVerfG v. 16. März 1971 1 BvR 52, 665, 754/66 in BVerfGE 30, 292 (316); BVerfG v. 15. Mai 1995 2 BvL 19/91, 2 BvR 1206, 1584/91 und 2601/93 in BVerfGE 92, 277 (326 f).

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Die Einziehung der Säumniszuschläge dient, wie oben festgestellt, in erster Linie dazu, Steuerschuldner zur rechtzeitigen Zahlung zu bewegen. Dadurch soll die Funktionsfähigkeit der Finanzverwaltung gesichert werden. Wie die Art. 104a ff. GG zeigen, ist die Bundesrepublik vom Grundgesetzgeber als Steuerstaat konzipiert worden; die Steuern sollen die typische Einnahmequelle darstellen660. Das Grundgesetz sieht daher ausdrücklich das Vorhandensein und die Tätigkeit einer Finanzverwaltung vor661. Die Sicherung der Funktionsfähigkeit der Finanzbehörden kann daher als verfassungslegitimes Ziel betrachtet werden.

bb) Geeignetheit der Erhebung von Säumniszuschlägen zur Erreichung dieses Zieles

Die Erhebung der Säumniszuschläge muss geeignet sein, das legitime Ziel der Funktionsfähigkeit der Finanzverwaltung zu erreichen.

(1) Grundsätzliche Eignung

Die Gefahr, bei einer verspäteten Zahlung ab dem sechsten Tag662 einen Säumniszuschlag in Höhe von einem Prozent pro Monat zahlen zu müssen, stellt einen finanziellen Anreiz dar, Steuerschulden pünktlich zu begleichen. Dieser Druck ist geeignet, die Bereitschaft zur rechtzeitigen Zahlung von Steuern zu steigern. Die Erhebung von Säumniszuschlägen ist daher generell geeignet, einen pünktlichen Eingang von Steuergeldern zu sichern und damit die Funktionsfähigkeit der Finanzverwaltung zu gewährleisten.

(2) Fehlende Geeignetheit in Sonderfällen

Zu einem anderen Ergebnis kann die Betrachtung führen, wenn der Steuerschuldner nicht in der Lage war, rechtzeitig zu zahlen oder er die Säumnis nicht zu vertreten hat.

(a) Lage bei fehlendem Verschulden des Steuerschuldners für die Säumnis

Fraglich ist, ob schon ein fehlendes Verschulden des Steuerpflichtigen für die Säumnis die Erhebung von Säumniszuschlägen als nicht geeignet erscheinen lässt, um eine

660 Rodi, S. 28; BVerfG v. 8. Juni 1988 2 BvL 9/85 und 3/86 in BVerfGE 78, 249 (266 f). 661 Vgl. Art. 108 GG; dazu Schlette in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 108 Rdnr. 1 ff.; Maunz in

Maunz/Dürig, Art. 108 Rdnr. 14. 662 Vgl. § 240 Abs. 3 Satz 1 AO.

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pünktliche Zahlung herbeizuführen. Auch wenn der Zahlungspflichtige die Verzögerung nicht zu vertreten hat, kann der Einziehung von Säumniszuschlägen eine Wirkung doch nicht abgesprochen werden. Dies beruht insbesondere auf der generalpräventiven Wirkung der hohen zusätzlichen Belastung663, die ein säumiger Schuldner zu erwarten hat. Das Bewusstsein, auch wenn es insoweit nur abstrakt ist, dass eine verspätete Zahlung zu einer zusätzlichen Steuerschuld führen kann, ist als wirksames Mittel anzusehen, um Steuerpflichtige generell dazu anzuhalten, ihre Steuerzahlungen ordnungsgemäß abzuwickeln. Auch wenn die Säumnis nicht verschuldet war, stellt die Erhebung von Säumniszuschlägen ein geeignetes Mittel dar, um pünktliche Leistungen der Steuerpflichtigen sicherzustellen.

(b) Geeignetheit bei Unmöglichkeit, die Steuerschulden rechtzeitig zu begleichen

Etwas anderes könnte gelten, wenn es dem Steuerschuldner unmöglich war, die Steuerschuld zum Fälligkeitszeitpunkt zu begleichen. In einem solchen Fall wäre die Ausübung jedweden Druckes auf ihn aussichtslos, bei Vorliegen zumindest einer subjektiven Unmöglichkeit kann kein Zwangsmittel die rechtzeitige Zahlung herbeiführen664. Die Einziehung der Säumniszuschläge hat daher keine Auswirkung auf die Pünktlichkeit der Zahlung. Der Zweck, eine pünktliche Zahlung herbeizuführen, kann daher mit der staatlichen Maßnahme nicht gefördert werden. In einem solchen Fall ist die Erhebung von Säumniszuschlägen nicht geeignet, um das legitime Ziel zu erreichen. Es liegt ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des Grundgesetzes vor665.

Allerdings ist zu beachten, dass die Sicherstellung einer pünktlichen Steuerzahlung nicht der einzige Zweck der Erhebung von Säumniszuschlägen ist. Als Nebenzweck ist vielmehr eine Abschöpfung des Liquiditätsvorteils beim Steuerschuldner und der Ersatz erhöhter administrativer Aufwendungen der steuerverwaltenden Körperschaft zu sehen. Diese Intentionen können auch dann noch realisiert werden, wenn der Steuerschuldner zur rechtzeitigen Zahlung nicht in der Lage war. Die Einziehung der Säumniszuschläge ist daher nur in dem Maße als ungeeignet anzusehen, in dem mit ihnen die Ausübung eines Drucks zur pünktlichen Zahlung beabsichtigt ist. Das Verhältnis von Haupt- und Nebenzweck im Rahmen des § 240 AO zu quantifizieren, ist nicht unproblematisch. Sachgerecht scheint hier ein Vergleich mit der Höhe der Stundungs- und Aussetzungszinsen. Dieser führt zu dem Schluss, dass die

663 Im Vergleich mit dem Zinssatz des § 238 AO ist die Belastung um das doppelte erhöht. 664 Ähnlich schon Merkert, DB 1968, 2149 (2150) zur alten Rechtslage unter dem

Steuersäumnisgesetz. 665 Vgl. dazu auch Merkert, DB 1968, 2149 (2150).

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Erhebung von Säumniszuschlägen etwa zur Hälfte von dem Hauptzweck des § 240 AO gedeckt ist666.

Festgehalten werden kann, dass die Erhebung der vollen Säumniszuschläge in Fällen, in denen der Steuerschuldner zur Zahlung nicht in der Lage ist, einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz darstellt.

cc) Erforderlichkeit und Angemessenheit der Erhebung von Säumniszuschlägen

Bezüglich der Erhebung von Säumniszuschlägen in Fällen, in denen dem Schuldner die rechtzeitige Zahlung unmöglich ist, wurde ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bereits festgestellt. Eine Prüfung von Erforderlichkeit und Angemessenheit erübrigt sich daher. Wenn der Steuerschuldner die Zahlung zum Fälligkeitszeitpunkt leisten kann, ist kein milderes Mittel vorstellbar, welches zur Herbeiführung pünktlicher Steuerzahlungen gleich effektiv wäre. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn den Steuerpflichtigen kein Verschulden trifft. Die Erhebung eines Zuschlages in Höhe von einem Prozent im Monat kann angesichts des erheblichen öffentlichen Interesses an der Sicherung einer funktionsfähigen Finanzverwaltung auch nicht als unangemessen bezeichnet werden. Wenn dem Steuerpflichtigen die Zahlung objektiv möglich war, ist die Erhebung von Säumniszuschlägen daher erforderlich und angemessen.

dd) Ergebnis der Prüfung der Verhältnismäßigkeit

Im Ergebnis ist festzuhalten, dass ein Verstoß gegen das Übermaßverbot des Grundgesetzes vorliegt, wenn Säumniszuschläge in vollem Umfang bei einem Steuerpflichtigen erhoben werden, dem die rechtzeitige Zahlung nicht möglich war. In allen anderen Fällen, insbesondere auch in Fällen, in denen die Säumnis nicht zu vertreten ist, kann die Erhebung der Säumniszuschläge dagegen nicht als unverhältnismäßig bezeichnet werden.

d) Auswirkungen des festgestellten Verstoßes gegen das Grundgesetz

Fraglich ist, welche Folgen der festgestellte Verstoß der Erhebung von Säumniszuschlägen in Fällen, in denen dem Steuerschuldner die rechtzeitige Zahlung unmöglich ist, hat. Zum einen kommt in Betracht, die Erhebung von Säumniszuschlägen generell als verfassungswidrig zu betrachten. Zu beachten ist

666 So im Ergebnis auch der BFH vgl. BFH v. 18. Juni 1998 V R 13/98 in BFH/NV 1999, 10 (11).

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allerdings, dass ein Verstoß gegen das Übermaßverbot nur in bestimmten Fällen vorliegt. Da generell davon auszugehen ist, dass dem Steuerpflichtigen eine rechtzeitige Zahlung möglich ist, liegt ein Verstoß gegen das Grundgesetz nur in atypischen Einzelfällen vor. Dies führt nicht zu einer Verfassungswidrigkeit des § 240 AO. Dieser Zustand kann vielmehr durch die Gewährung eines Billigkeitserlasses ausgeglichen werden, ohne dass damit eine grundlegende Durchbrechung oder Korrektur der Wertungen des Gesetzgebers vorgenommen würde667. Da die Unverhältnismäßigkeit aber nur insoweit vorliegt, als Zweck der Säumniszuschläge die Herbeiführung einer rechtzeitigen Zahlung ist, kann dieser Erlass auf einen Teil der verwirkten Zuschläge beschränkt werden. Ein Erlass zur Hälfte erscheint angemessen.

4. Ergebnis der Untersuchung der Grundsätze des BFH zum Erlass von Säumniszuschlägen

Festzuhalten ist, dass schon aus verfassungsrechtlichen Gründen ein Erlass von Säumniszuschlägen zu gewähren ist, wenn dem Steuerschuldner die rechtzeitige Zahlung unmöglich war. Wenn keine weiteren Billigkeitsgründe vorliegen, ist ein Erlass der halben Summe ermessensgerecht. Dieses Ergebnis stimmt insoweit mit der Rechtsprechung des BFH überein, als dass dieser einen hälftigen Erlass von Säumniszuschlägen bei Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit gewährt. Da im Falle der Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit dem Steuerpflichtigen die rechtzeitige Begleichung seiner Steuerschulden nicht möglich ist, deckt sich die Ansicht des BFH insoweit mit dem vorliegenden Ergebnis. Allerdings ist zu beachten, dass auch aus anderen Gründen eine pünktliche Zahlung unmöglich sein kann. Auch in diesen Fällen ist daher ein Teilerlass zu gewähren.

D. Erlass von nach § 14 Abs. 3 UStG a. F. entstandener Umsatzsteuer

Durch Gesetz vom 15.12.2003 sind mit Wirkung vom 1.1.2004 die Vorschriften der §§ 14 ff. UStG grundlegend neu geregelt worden. Die Regelungen zum unrichtigen Steuerausweis des § 14 Abs. 2 UStG in den § 14c Abs. 1 UStG n. F. aufgenommen. Die Normierung des unberechtigten Steuerausweis des § 14 Abs. 3 UStG a. F. findet sich nun in § 14c Abs. 2 UStG n. F. Im § 14c Abs. 3 Satz 3 bis 5 UStG n. F. wurde insbesondere die Möglichkeit einer Berichtigung des unberechtigt ausgewiesenen Steuerbetrages geschaffen. Die Rechtsprechung des BFH zum Erlass von nach § 14 Abs. 3 UStG a. F. durch unberechtigten Umsatzsteuerausweis entstandener Umsatzsteuer ist daher weitgehend obsolet geworden. Dennoch soll die Rechtsprechung

667 BVerfG v. 12. Oktober 1976 1 BvR 2328/73 in BVerfGE 43, 1 (12); vgl. dazu S. 261 ff.

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des BFH zum Erlass von nach § 14 Abs. 3 UStG a. F. durch unberechtigten Steuerausweis entstandener Umsatzsteuer betrachtet werden.

I. Darstellung des Problems

Zunächst ist das den Fallgruppen zugrunde liegende Problem darzustellen.

1. Allphasennettobesteuerung

Grund für die Entstehung von Umsatzsteuer durch unberechtigten Steuerausweis gem. § 14 Abs. 3 UStG a. F. ist das dem UStG zugrunde liegende System der Allphasennettobesteuerung.

a) Ursprüngliche Allphasenbruttoumsatzsteuer

Bis 1967 wurde die Mehrwertsteuer in Deutschland als Allphasenbruttoumsatzsteuer erhoben. Jede einzelne Leistung eines Unternehmers, ob an den Endverbraucher oder an einen anderen Unternehmer wurde mit einer Umsatzsteuer belastet. Dies führte zur Kumulation der Steuerbelastung. Da die moderne Wirtschaft zunehmend arbeitsteilig funktioniert und somit die Anzahl der Verarbeitungs- und Handelsstufen bis zum Endverbraucher zunimmt, wurde das System schließlich unpraktikabel. Außerdem kam es zu Wettbewerbsverzerrungen zuungunsten kleiner Einzelhändler gegenüber großen Handelsketten. Daher erklärte das BVerfG diese Form der Steuererhebung für nicht verfassungskonform und verlangte in angemessener Zeit eine Neuregelung668.

b) Einführung der Allphasennettobesteuerung

Art. 99 des EWG-Vertrags vom 25. März 1957 sah die Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuer vor. Auf dieser Grundlage verabschiedete der Rat der EWG am 11. April 1967 zwei Richtlinien zur Einführung eines gemeinsamen Mehrwertsteuersystems. Dieses System beruhte auf einer Allphasennettobesteuerung mit Vorsteuerabzug669. Zur Umsetzung dieser Vorgaben erließ der Gesetzgeber das am 29. Mai 1967 verkündete Umsatzsteuergesetz670. Seit dem 1. Januar 1968 wird die Mehrwertsteuer als Allphasennettoumsatzsteuer erhoben. Diese erfasst grundsätzlich die 668 BVerfG v. 20. Dezember 1966 1 BvR 320/57, 70/63 in BVerfGE 21, 12. 669 Stadie in Rau/Dürrwächter, Einführung Rdnr. 24, 224. 670 Vgl. dazu BT-Drucksache 9/1590 S. 25.

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Wertschöpfung nur auf der jeweiligen Produktions- oder Handelsstufe. Eine Kumulation der Steuer soll vermieden und nur der Endverbraucher belastet werden671.

c) Funktionsweise der Umsatzsteuer

Auch bei der heutigen Mehrwertsteuer handelt es sich um eine Allphasensteuer672. Demnach wird gem. §§ 1 ff. UStG die Umsatzsteuer bei jeder Leistung durch einen Unternehmer erhoben. Dies geschieht unabhängig davon, ob es sich bei dem Leistungsempfänger ebenfalls um einen Unternehmer oder um einen Endverbraucher handelt673. Um eine Kumulation der Steuerbelastung zu verhindern, wurde das Instrument des Vorsteuerabzugs eingeführt. Die Kostenneutralität im unternehmerischen Bereich wird demnach gewährleistet, indem ein Unternehmer die Belastung mit der Umsatzsteuer wieder rückgängig macht. Dazu erhält er die an den Vorunternehmer geleistete Umsatzsteuer, die sogenannte Vorsteuer, vom Fiskus gem. § 15 UStG zurück674. Der Endverbraucher kann dagegen keinen Vorsteuerabzug geltend machen, da er kein Unternehmer im Sinne des § 15 UStG ist. Wirtschaftlich bleibt er daher mit der Umsatzsteuer belastet. Der Verbraucher ist im Ergebnis Umsatzsteuerträger, nicht aber Umsatzsteuerschuldner - dies ist der jeweilige Unternehmer675.

2. Funktion der Steuerentstehung durch fehlerhaften Steuerausweis.

Die Entstehung von Umsatzsteuer nach § 14 Abs. 3 UStG a. F. bezweckte vor allem den Schutz des bestehenden Umsatzsteuersystems durch die drohende Steuerverkürzung mittels Scheinrechnungen.

a) Gefahr der Steuerverkürzung durch Scheinrechnungen

Der Rechnung kommt im bestehenden Mehrwertsteuersystem eine zentrale Bedeutung zu. Mit dem Ausweis gezahlter Umsatzsteuer dient sie zum Nachweis der nach § 15 UStG abziehbaren Vorsteuer. Mit einer Vorsteuer ausweisenden Rechnung kann der leistungsempfangende Unternehmer sich die Vorsteuer beim Finanzamt ohne weiteres erstatten lassen. Nur solange die Steuer korrekt ausgewiesen ist, wird die

671 Dazu Birk, Steuerrecht, Rdnr. 1275 f. 672 Zur Rechtsnatur und Funktionsweise vgl. Ebke, FS Walter S. 207 (212 ff.) 673 Riegler, S. 1. 674 Dazu Birk, Steuerrecht, Rdnr. 1283 ff.; Tipke/Lang, § 14 Rdnr. 3. 675 Tipke/Lang, § 14 Rdnr. 3.

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Balance zwischen Steuer und Vorsteuer garantiert676. Wird in einer Rechnung unrechtmäßig Vorsteuer ausgewiesen, besteht dagegen die Gefahr von Steuerausfällen, da Vorsteuer geltend gemacht werden kann, ohne dass die entsprechende Umsatzsteuer abgeführt wird. Um die Kongruenz zwischen der Umsatzbesteuerung und dem korrespondierenden Vorsteuerabzug gem. § 15 UStG zu gewährleisten, musste eine Regelung gefunden werden.

b) Absätze 2 und 3 des § 14 UStG a. F.

Diesen Zweck erfüllten die Absätze 2 und 3 des § 14 UStG. Nach diesen Normen war ein Unternehmer, der fehlerhaft Umsatzsteuer in einer Rechnung ausweist, zur Entrichtung der ausgewiesenen Steuer verpflichtet. Damit sollte eine Steuerverkürzung durch illegitime Vorsteuererstattung verhindert werden. Absatz 2 regelte die Fälle, in denen der Unternehmer tatsächlich eine Leistung erbracht hat, dabei aber einen höheren Steuerbetrag ausweist. In solchen Fällen konnte der leistende Unternehmer den Steuerbetrag berichtigen. Die nach § 14 Abs. 2 UStG anfallende Umsatzsteuer war dann gem. § 17 UStG zu korrigieren. Der dritte Absatz des § 14 UStG erfasste die Fälle, in denen der Rechnungsaussteller zum Ausweis des Steuerbetrages nicht berechtigt war677, nicht Unternehmer ist oder die abgerechnete Leistung von ihm tatsächlich nicht ausgeführt wurde. In diesen Fällen führte eine spätere Berichtigung der Rechnung durch den Unternehmer im Gegensatz zur Regelung des Absatzes 2 nicht zu einer Herabsetzung der Steuer.

c) Systematische Konsequenzen der Vorschriften

Auch wenn der Unternehmer, der die Steuer fehlerhaft ausgewiesen hatte, diese entrichtet, war der Leistungsempfänger nicht zum Vorsteuerabzug gem. § 15 UStG berechtigt. Für den Tatbestand des § 15 Abs. 1 UStG fehlt es an der tatsächlichen Leistung beziehungsweise an der Unternehmereigenschaft. In diesen Fällen musste der leistende Rechnungsaussteller also nach § 14 UStG a. F. entstandene Umsatzsteuer abführen, während der Leistungsempfänger die Vorsteuer nicht erstattet bekam. Per Saldo kam es also zu einer Mehrbelastung der Steuerpflichtigen und zu Mehreinnahmen auf Seiten des Fiskus. Die Regelung des § 14 Abs. 2 und 3 a. F. sollte so auch abschrecken, sie hatte insoweit eine generalpräventive Zielsetzung678. In der Literatur

676 Vgl. dazu Stadie in Rau/Dürrwächter, § 14c Rdnr. 10. 677 Dies sind in erster Linie die Kleinunternehmer gem. § 19 Abs. 1 UStG, vgl. dazu Widmann in

Plückebaum/Malitzky, § 14c Rdnr. 13 ff. 678 BFH v. 10. Dezember 1981 V R 3/75 in BStBl. 1982, 229 = BFHE 135, 107.

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wurde in diesem Zusammenhang teilweise sogar von einem Strafcharakter der Vorschrift gesprochen679.

3. Problematische Fälle

Wenn Umsatzsteuer nach § 14 Abs. 3 UStG a. F. erhoben wurde, lag daher eine Mehrbelastung des Steuerpflichtigen vor. Eine Korrekturmöglichkeit, wie im Rahmen des § 14 Abs. 2 UStG a. F., existierte nicht. Auch wenn eine Gefährdung des Steueraufkommens tatsächlich nicht zu befürchten war, wurde die Steuer grundsätzlich erhoben. In Fällen, in denen ein Rechnungsaussteller Umsatzsteuer fälschlich ausgewiesen hatte und gem. § 14 Abs. 3 UStG a. F. zur Umsatzsteuer herangezogen wurde, kam ein Erlass dieses Steuerbetrages aus Billigkeitsgründen in Betracht.

II. Auffassung des BFH

Die Ansicht des BFH680 zum Erlass von nach § 14 Abs. 3 UStG a. F. entstandener Umsatzsteuer lässt sich in zwei Epochen einteilen. Den Wechsel der Rechtsprechung markiert der Vorlagebeschluss vom 15. Oktober 1998.

1. Auffassung des BFH bis zum Vorlagebeschluss vom 15.Oktober 1998

Zunächst ist die Rechtsprechung des BFH bis zum Vorlagebeschluss vom 15. Oktober 1998 darzustellen.

a) Intention des § 14 Abs. 3 UStG a. F.

Die Zielrichtung der Vorschrift ging über den Ersatz eines konkret eingetretenen Schadens weit hinaus. Nach Ansicht des BFH beschrieb diese Vorschrift einen abstrakten Gefährdungstatbestand681. Allein die Gefährdung des Umsatzsteueraufkommens löste die Inanspruchnahme des Rechnungsausstellers aus682.

679 Widmann in Plückebaum/Malitzky, § 14 a.F. Rdnr. 406. 680 Da der V. Senat des BFH für Streitfragen im Bereich der Umsatzsteuer zuständig ist, gehen

sämtliche einschlägigen Entscheidungen auf diesen zurück. 681 BFH v. 21. Februar 1980 V R 146/73 in BStBl. II 1980, 283 (286) = BFHE 129, 569; BFH

v. 9. September 1993 V R 45/91 in BStBl. II 1994, 131 (132) = BFHE 172, 237; BFH v. 4. Mai 1995 V R 29/94 in BStBl. II 1995, 747 (748) = BFHE 177, 554.

682 BFH v. 9. September 1993 V R 45/91 in BStBl. II 1994, 131 (132) = BFHE 172, 237; BFH v. 4. Mai 1995 V R 83/93 in BFH/NV 1996, 190 (190).

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Der V. Senat des BFH ging nicht so weit, von einem Strafcharakter zu sprechen, wie Teile der Literatur. Allerdings wurde dem § 14 Abs. 3 UStG Abschreckungswirkung zuerkannt683.

b) Verschulden des Ausstellers

Auf ein vorwerfbares Verhalten des Ausstellers sollte es nicht ankommen. Begründet wurde dies damit, dass der gesetzliche Tatbestand des § 14 Abs. 3 UStG kein Verschulden voraussetze. Der Gesetzgeber habe daher die Erhebung auch bei unverschuldet fehlerhafter Rechnungserstellung bewusst in Kauf genommen. Ein Überhang des gesetzlichen Tatbestandes über die zugrunde liegenden Wertungen des Gesetzgebers kommt in einem solchen Fall daher nicht in Betracht684.

c) Kenntnis der missbräuchlichen Verwendung

Mit der gleichen Argumentation wurde der Erlass der Umsatzsteuer abgelehnt, wenn der Rechnungsaussteller keine Kenntnis von einer missbräuchlichen Verwendung gehabt hat bzw. eine derartige Absicht nicht bestanden hat685.

d) Abführung des Umsatzsteuer durch andere Personen

In einigen Fällen entstand die Steuer nach § 14 Abs. 3 UStG, weil der tatsächlich Leistende im Hintergrund bleiben wollte. Er bediente sich daher eines Strohmannes, der gegenüber dem Leistungsempfänger als Vertragspartner auftrat686. Der Strohmann stellte auch eine Rechnung aus, in der die Umsatzsteuer gesondert ausgewiesen war. Der Hintermann führte dann die Mehrwertsteuer für die Umsätze, die tatsächlich er gemacht hatte, ordnungsgemäß ab. Das Verhalten des Strohmannes erfüllte jedoch den Tatbestand des § 14 Abs. 3 Satz 2 2. Variante UStG a. F., da er selbst keine Lieferung oder sonstige Leistung ausgeführt hatte687. Die Finanzbehörden setzten daher Umsatzsteuer nach § 14 Abs. 3 UStG a. F. fest. Der belastete Strohmann stellte

683 BFH v. 15. Oktober 1998 V R 38/97, V R 61/97 in BFHE 187, 84 (88). 684 BFH v. 9. September 1993 V R 45/91 in BStBl. II 1994, 131 (132) = BFHE 172, 237. 685 So ebenfalls der BFH v. 9. September 1993 V R 45/91 in BStBl. II 1994, 131 (132) = BFHE 172,

237. 686 So in BFH v. 9. September 1993 V R 45/91 in BStBl. II 1994, 131 = BFHE 172, 237 und BFH

v. 4. Mai 1995 V R 83/93 in BFH/NV 1996, 190. 687 Es hätte auch ein Fall der ersten Variante des § 14 Abs. 3 Satz 2 vorliegen können, wenn der

Rechnungsaussteller nicht Unternehmer ist. In der Rechtsfolge ergab sich aber kein Unterschied. Es wird daher von der Realisierung der dritten Variante ausgegangen, die in jedem Fall erfüllt ist.

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daraufhin einen Antrag auf Erlass dieser Umsatzsteuer aus Billigkeitsgründen. Eine Gefährdung des Steueraufkommens habe zu keinem Zeitpunkt vorgelegen, da der leistende Unternehmer die Umsätze ordnungsgemäß angemeldet und die entsprechende Steuer abgeführt hat688.

Die Ablehnung der Anträge auf einen Steuerdispens wurde in diesen Fällen vom BFH regelmäßig bestätigt. Dass die Umsatzsteuer tatsächlich abgeführt wurde, wurde nicht als ausreichend angesehen689. Der Unternehmer erfülle lediglich seine von einer Rechnungsausstellung unabhängige Steuerschuld. Er kam damit seiner eigenen umsatzsteuerrechtlichen Erklärungs- und Abführungspflicht nach. Auch in einem solchen Fall bestehe die Gefahr, dass der Rechnungsempfänger die zu Unrecht ausgewiesene Umsatzsteuer als Vorsteuer abzieht, obwohl die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 UStG nicht vorgelegen haben690. Die Gefährdung des Umsatzsteueraufkommens sei weiterhin gegeben.

e) Wiedererlangung der Rechnung durch den Aussteller

Nach Auffassung des BFH musste der Aussteller die Gefährdung des Steueraufkommens vollständig beseitigen, um die Einziehung der nach § 14 Abs. 3 UStG entstandenen Umsatzsteuer als unbillig erscheinen zu lassen. Dieses musste durch eigene Maßnahmen des Ausstellers geschehen691. Die Voraussetzung wurde als gegeben angesehen, wenn der Rechnungsaussteller das Rechnungspapier vor einer Verwendung durch den Empfänger wieder in seinen Besitz brachte692. In einem solchen Fall sei eine Gefährdung des Steueraufkommens beseitigt, auch eine abstrakte Bedrohung lag nicht mehr vor. Die Steuer war daher zu erlassen.

f) Andere Maßnahmen, insbesondere die Selbstanzeige

Neben der Wiedererlangung der Rechnungsurkunde waren noch andere Möglichkeiten denkbar, um die abstrakte Gefährdung des Steueraufkommens zu beseitigen. Wenn andere Maßnahmen des Rechnungsausstellers die Gefährdungslage rechtzeitig und vollständig aufgehoben haben, sollte ein Erlass zu gewähren sein. In Betracht kam in

688 BFH v. 9. September 1993 V R 45/91 in BStBl. II 1994, 131 (132) = BFHE 172, 237. 689 BFH v. 9. September 1993 V R 45/91 in BStBl. II 1994, 131 (132) = BFHE 172, 237; BFH

v. 4. Mai 1995 V R 83/93 in BFH/NV 1996, 190 (191). 690 So erstmalig BFH v. 9. September 1993 V R 45/91 in BStBl. II 1994, 131 (132) = BFHE 172, 237;

darauf aufbauend BFH v. 4. Mai 1995 V R 83/93 in BFH/NV 1996, 190 (191). 691 BFH v. 9. September 1993 V R 45/91 in BStBl. II 1994, 131 (132) = BFHE 172, 237. 692 So erstmalig der V. Senat in BFH v. 21. Februar 1980 V R 146/73 in BStBl. II 1980, 283 (286) =

BFHE 129, 569; darauf verweisend BFH v. 9. September 1993 V R 45/91 in BStBl. II 1994, 131 (132) = BFHE 172, 237 und BFH v. 4. Mai 1995 V R 83/93 in BFH/NV 1996, 190 (190).

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erster Linie die Selbstanzeige bei den Finanzbehörden. In einem solchen Fall war nicht nur die Abführung der Umsatzsteuer durch den leistenden Unternehmer garantiert, sondern auch gewährleistet, dass der Rechnungsempfänger nicht die fehlerhaft ausgewiesene Umsatzsteuer als Vorsteuer geltend macht. Die Wirkung der Selbstanzeige entsprach somit der Wiedererlangung des Rechnungspapiers. In einem solchen Fall sollte daher ebenfalls die nach § 14 Abs. 3 UStG entstandene Umsatzsteuer erlassen werden693. Der BFH hat die „anderen Maßnahmen“ nur in diese Richtung konkretisiert. Da als Voraussetzung für den Erlass aber die vollständige Beseitigung der Beanspruchung des Steueraufkommens genannt wurde, ist davon auszugehen, dass andere Maßnahmen nur dann einen Erlass rechtfertigen konnten, wenn durch sie sowohl die Abführung der Umsatzsteuer als auch die Nichtgeltendmachung der fehlerhaft ausgewiesenen Vorsteuer gewährleistet und damit eine abstrakte Gefährdung des Steueraufkommens ausgeschlossen war.

g) Erlass, wenn die Rechnung bereits verwendet wurde

Nach den vorstehenden Ausführungen war ein Erlass nur möglich, wenn der unrechtmäßige Vorsteuerabzug verhindert wurde. Teilweise sollte aber nach neueren Entscheidungen auch ein Erlass zu gewähren sein, wenn der Vorsteuerabzug bereits stattgefunden hatte.

aa) Urteil des BGH v. 23. November 1995 IX ZR 225/94

Ausgangspunkt dieser Erweiterung war ein Urteil des höchsten deutschen Zivilgerichts. Der IX. Zivilsenat des BGH entschied 1995 einen anwaltlichen Haftungsprozess694. Es ging dabei um einen Fall des § 14 Abs. 3 Satz 2 1. Variante UStG a. F., da der Rechnungsaussteller nicht mehr Unternehmer war. Der BGH befand, ein Erlass sei in einem solchen Fall auch zu gewähren, wenn der Vorsteuerabzug bereits vom Rechnungsempfänger geltend gemacht worden ist, wenn die abgezogenen Vorsteuerbeträge in vollem Umfang dem Fiskus erstattet werden und der Leistende sich im entschuldbaren Irrtum über seine Berechtigung befand, die Rechnungen ausstellen zu dürfen695. Der erkennende Senat berief sich dabei auf die Ausführungen des EuGH im Genius-Urteil696. 693 So BFH v. 21. Februar 1980 V R 146/73 in BStBl. II 1980, 283 (286 f) = BFHE 129, 569; BFH

v. 9. September 1993 V R 45/91 in BStBl. 1994, 131 (132) = BFHE 172, 237; BFH v. 4. Mai 1995 V R 83, 93 in BFH/NV 1996, 190 (190).

694 Abgedruckt in NJW 1996, 842 = UVR 1996, 91. 695 BGH v. 23. November 1995 IX ZR 225/94 in NJW 1996, 842 (844) = UVR 1996, 91. 696 Genius Holding B.V. gegen Staatssecretaris van Financien, Rechtssache C-342/87 in EuGH Slg.

1989, S. 4227 Rdnr. 13 (S. 4246) = UR 1991, 83; näheres zu diesem Urteil des EuGH s.u.

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bb) Anerkennung dieser Rechtsprechung durch den V. Senat des BFH

Die Ansicht des BGH zu diesem Thema wäre an sich nicht weiter von Bedeutung, da diese Untersuchung sich ausschließlich mit der Rechtsprechung des BFH beschäftigt. Im Jahre 1998 übernahm der V. Senat des BFH aber ausdrücklich die Ausführungen des BGH697. Auch unter den vom BGH genannten Umständen sei eine sich aus § 14 Abs. 3 UStG a. F. ergebende Steuerschuld aus Billigkeitsgründen zu erlassen.

2. Änderung dieser Grundsätze aufgrund der Rechtsprechung des EuGH

Die zuvor beschriebene Erweiterung der Erlassmöglichkeiten durch den BFH mittels ausdrücklicher Anerkennung der Auffassung des BGH in dieser Frage erfolgte bereits unter gemeinschaftsrechtlichen Vorzeichen. Der BGH berief sich bei seiner Entscheidung auf die Rechtsprechung des EuGH und der BFH nahm zu dieser Frage im Rahmen eines Vorlagebeschlusses zum EuGH Stellung, auf den noch näher eingegangen wird. Ein Paradigmenwechsel in der Auffassung des BFH zur Frage des Erlasses der nach § 14 Abs. 3 UStG a. F. entstandenen Umsatzsteuer bahnte sich an. Dessen Umstände sollen im Folgenden dargelegt werden.

a) Umsatzsteuerneutralität im europäischen Kontext

Mit der Verwirklichung des Binnenmarktes wird der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet698. Unterschiedliche Steuern können diese vier Grundfreiheiten behindern699.

aa) Europäischer Harmonisierungsauftrag in Art. 93 EGV (Art. 99 a.F.)

Insbesondere die indirekten Steuern, die sich im Preis der Waren wiederfinden lassen, wirken sich unmittelbar wettbewerbsverzerrend aus700. Auf diesem Gebiet gibt es gerade bei der Umsatzsteuer immer noch erhebliche nationale Unterschiede701. Der freie Markt verlangt aber im Grundsatz ein wettbewerbsneutrales Steuerrecht702. Zur

697 BFH v. 15. Oktober 1998 V R 38/97, V R 61/97 in BFHE 187, 84 (89), es handelt sich dabei um

den Beschluss dem EuGH vorzulegen, auf den später noch ausführlich eingegangen werden soll. 698 Vgl. dazu Breitenmoser, S. 345 ff.; Herdegen, § 14 Rdnr. 2 ff. 699 Vgl. dazu nur Breitenmoser, S. 478. 700 Voß in Grabitz/Hilf, Art. 93 EGV Rdnr. 7 und 26; Takacs S. 275. 701 Vgl. beispielsweise zur Höhe der Steuersätze die Übersichten bei Breitenmoser, S. 489;

grundlegend zu dieser Problematik Widmann, S. 223 ff. 702 Förster in Bleckmann, Rdnr. 2009 f; Breitenmoser, S. 478 ff.

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Erreichung dieses Zieles macht das primäre Gemeinschaftsrecht einige Vorgaben. Art. 93 EGV beinhaltet, wie die im Wesentlichen inhaltsgleiche Vorgängerregelung des Art. 99 a.F., einen expliziten Harmonisierungsauftrag für die Bereiche der Umsatzsteuern, Verbrauchsabgaben und sonstigen indirekten Steuern. Für die Entscheidung über Harmonisierungsmaßnahmen ist dabei ein einstimmiger Beschluss aller Mitgliedsstaaten notwendig.

Probleme bereitet dabei die unterschiedliche fiskalische Abhängigkeit der Mitglieder vom Aufkommen der indirekten Steuern. Da eine weitgehenden Vereinheitlichung insbesondere des Steuersatzes gerade bei den Staaten, die einen Großteil ihres Haushalts mittels indirekter Steuern bestreiten, mit einer erheblichen Einbuße an Steuereinnahmen verbunden wäre, ist die Herstellung eines umfassenden Konsenses in dieser Frage besonders schwierig703. Dennoch wurde auf der Grundlage des Art. 93 EGV beziehungsweise der Vorgängerregelung in Art. 99 a.F. eine teilweise Angleichung der europäischen Umsatzsteuersysteme erreicht704.

bb) Harmonisierung aufgrund der sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977

Zur Angleichung wurde zunächst in der ersten und zweiten Richtlinie des Rates vom 11. April 1967 ein gemeinsames Mehrwertsteuersystem zur Grundlage der harmonisierten Umsatzsteuer gemacht705. Der zweite bedeutende Schritt erfolgte 1977. Mit der sechsten Richtlinie des Rats vom 17. Mai 1977706 wurden genaue materielle und verfahrenstechnische Bestimmungen des Umsatzsteuerrechts geregelt. Auf dieser Richtlinie beruht die Systematik der angeglichenen Umsatzsteuersysteme. Später erfolgten noch weitere Spezifizierungen und Änderungen, die hier nicht im Einzelnen aufgeführt werden können707. Auf Grundlage der sechsten Richtlinie des Rates schuf der Bundesgesetzgeber das Umsatzsteuergesetz 1980708. Parallel zur fortschreitenden Harmonisierung blieb auch der nationale Gesetzgeber aktiv und erließ, neben kleineren Änderungen, das Umsatzsteuergesetz 1993709. Die Systematik dieses Gesetzes beruht allerdings nach wie vor auf der Richtlinie von 1977.

cc) Art. 21 Nr. 1 Buchstabe C der sechsten Richtlinie

703 Takacs, S. 275. 704 Dazu im einzelnen Stobbe, ZfZ 1993, 170 (170 f); Voß in Grabitz/Hilf, Art. 93 EGV Rdnr. 16 ff. 705 Amtsblatt der EG 1967 L 71/1301, 1392. 706 Richtlinie 77/388/EWG im Amtsblatt der EG 1977 L 145 S. 1. 707 Vgl. dazu Voß in Grabitz/Hilf, Art. 93 EGV Rdnr. 16 ff. 708 BGBl. I 1979, 1953, zur Entwicklung Stadie in Rau/Dürrwächter, Einführung Rdnr. 31 f. 709 BGBl. I 1993, 565.

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Nach dieser Vorschrift ist Schuldner der Steuer gegenüber dem Fiskus jede Person, die Mehrwertsteuer in einer Rechnung oder einem ähnlichen Dokument ausweist710. Auf dieser Norm basiert § 14 Abs. 3 a. F. des deutschen Umsatzsteuergesetzes711.

dd) Auslegung europäischer Rechtsakte

Nach Art. 234 lit. b) EGV (Art. 177 a.F.) entscheidet der EuGH über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft und der EZB712. Gegenstand eines Auslegungsersuchens nach dieser Vorschrift können auch Richtlinien sein713. Richtlinien bedürfen grundsätzlich eines Umsetzungsaktes des nationalen Gesetzgebers714. Dadurch entsteht nationales Recht, auf das sich die Auslegungskompetenz des EuGH nicht erstreckt715. Der EuGH kann daher nur Fragen zur Auslegung der einschlägigen Richtlinie beantworten716. Es ist dann Sache der nationalen Gerichte, über die Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit der Richtlinie zu befinden717.

ee) Genius-Urteil des EuGH

Der EuGH nahm im Jahre 1989 zum Problemkreis der Erhebung von Umsatzsteuer aufgrund einer unrechtmäßig ausgestellten Rechnung Stellung. Anlass war der Fall der niederländischen Genius Holding B.V. Es ging dabei um die Frage des Vorsteuerabzuges. Die niederländischen Gerichte waren der Ansicht, nach nationalem Recht sei der Vorsteuerabzug nur zulässig, wenn die in der Rechnung ausgewiesene Steuer auch tatsächlich geschuldet wird. Da die Revisionsinstanz aber an der Vereinbarkeit der niederländischen Vorschriften mit der sechsten Richtlinie zweifelte, wurde das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH diese Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt718. Der EuGH befand, dass vom Leistungsempfänger nur die Umsatzsteuer als Vorsteuer abgezogen werden darf, die der Leistende schuldet, weil er den Umsatz

710 Amtsblatt der EG 1977 L 145 S. 1. 711 Vgl. auch Bohnert/Kostrzewa, DB 2001, 667 (669). 712 Dazu Herdegen, § 10 Rdnr. 26 ff. 713 Vedder in Lehner/Thömmes, S. 5; Wegener in Calliess/Ruffert, Art. 234 Rdnr. 7 f; Everling, S. 25. 714 Herdegen, § 9 Rdnr. 35 ff. 715 Wegener in Calliess/Ruffert, Art. 234 Rdnr. 3 ff; Everling, S. 27; speziell zum Steuerrecht vgl.

Schön, S. 171 ff. 716 Wegener in Calliess/Ruffert, Art. 234 Rdnr. 5. 717 Wegener in Calliess/Ruffert, Art. 234 Rdnr. ; Herdegen, § 10 Rdnr. 28. 718 Genius Holding B.V. gegen Staatssecretaris van Financien, Rechtssache C-342/87 in EuGH Slg.

1989, S. 4227 = UR 1991, 83.

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ausgeführt hat719. Der EuGH beschränkte sich aber nicht auf diese Aussage, sondern führte in einem obiter dictum720 weiter aus, die Geltung des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer hätten die Mitgliedsstaaten zu gewährleisten, indem sie im innerstaatlichen Recht vorsehen, dass jede zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer berichtigt werden kann, wenn der Aussteller seinen guten Glauben nachweist721. Damit war der EuGH in der Auslegung über den Wortlaut des Art. 21 Nr. 1 Lit. c) der sechsten Umsatzsteuerrichtlinie weit hinausgegangen.

b) Vorlage des BFH

Vor dem Hintergrund dieses europarechtlichen Kontextes ist der Vorlagebeschluss des BFH vom 15. Oktober 1998 zu sehen.

aa) Ausgangsfälle

Anlass für den Vorlagebeschluss des BFH waren die Fälle Manfred Strobel und Schmeink & Cofreth, die der BFH zu entscheiden hatte.

(1) Manfred Strobel

Im Fall Manfred Strobel betrieb der Kläger einen Handel mit Büromaschinen. Um eine bessere Ertragslage vorzutäuschen, stellte er verschiedenen Leasingunternehmen Rechnungen über nicht durchgeführte Leistungen aus. Die Leasingunternehmen beglichen die Rechnungen und zogen auch die ausgewiesene Umsatzsteuer als Vorsteuer ein. Der Kläger unterwarf die Entgelte der Umsatzsteuer. Den Leasingunternehmen erstattete er danach den jeweiligen Kaufpreis zurück. Später erstattete er Selbstanzeige bei Staatsanwaltschaft und den Finanzbehörden. Den zuständigen Finanzämtern wurden so sämtliche Rechnungen und Rechnungsempfänger bekannt. Nach Bestandskraft722 der Umsatzsteuerbescheide beantragte der Kläger den Erlass aus Billigkeitsgründen. Den Antrag auf Erlass der Umsatzsteuerbeträge lehnten die Finanzbehörden ab. Das FG Baden-Württemberg wies die Klage ab723.

719 Genius Holding B.V. gegen Staatssecretaris van Financien, Rechtssache C-342/87 in EuGH Slg.

1989, S. 4227 Rdnr. 13 (S. 4246) = UR 1991, 83. 720 Dazu Reiss, UR 1999, 170 (171). 721 Genius Holding B.V. gegen Staatssecretaris van Financien, Rechtssache C-342/87 in EuGH Slg.

1989, S. 4227 Rdnr. 18 (S. 4247) = UR 1991, 83. 722 Zu diesem Problem wurde an anderer Stelle bereits gesondert eingegangen (siehe S. 57 f), hier soll

dagegen einzig die Thematik des Erlasses im umsatzsteuerlichen Kontext behandelt werden. 723 FG Baden-Württemberg v. 9. Juli 1997 12 K 155/96 in EFG 1998, 858.

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(2) Schmeink & Cofreth

Im Fall Schmeink & Cofreth erwarb die Klägerin Anteile an einer GmbH. In Höhe des Kaufpreises erstellte sie eine Rechnung an die GmbH mit offenem Ausweis von Umsatzsteuer für Beratungsleistungen, die sie aber nicht ausführte. Nachdem dieser Sachverhalt im Rahmen einer Umsatzsteuer-Sonderprüfung aufgedeckt worden war, machte die Klägerin glaubhaft, mit der ausgestellten Rechnung habe lediglich geklärt werden sollen, ob aufgrund des Unternehmenserwerbes Investitionszulage habe beansprucht werden können. Das zuständige Finanzamt setzte gegen die Klägerin Umsatzsteuer gem. § 14 Abs. 3 Satz 2 2. Variante UStG fest. Erst danach erhielt die Klägerin die von ihr ausgestellte Rechnung wieder zurück. Der Antrag der Klägerin auf Erlass der Umsatzsteuer aus Billigkeitsgründen hatte keinen Erfolg. Die Klage wurde vom FG Münster abgewiesen724. Die Klägerin legte daraufhin Revision zum BFH ein.

bb) Vorlagebeschluss des BFH

Der V. Senat des BFH verband die beiden Revisionsanträge, setzte das Verfahren aus und legte die Sache gem. Art. 177 Abs. 3 EGV (neu Art. 234 EGV) dem EuGH zur Vorabentscheidung vor725.

(1) Rechtslage nach deutschem Recht

Nach Auffassung des BFH wäre nach nationalem Recht ein Erlass nicht zu gewähren726. Begründet wird die Ansicht damit, dass § 14 Abs. 3 UStG a. F. auch Fälle irrtümlicher Rechnungsausstellung umfassen solle727. Nur in Fällen, in denen der Rechnungsaussteller den Gefährdungstatbestand rechtzeitig und vollständig beseitige, könne nach der deutschen Rechtslage ein Dispens gewährt werden, da dann für die prohibitive Wirkung der Vorschrift kein Raum sei728. Ein solcher Fall liegt in den zugrunde liegenden Sachverhalten aber nicht vor. Auch die Verfassungsmäßigkeit des § 14 Abs. 3 UStG a. F. stand nach einem Urteil des BVerfG außer Frage729.

(2) Abweichung vom Gemeinschaftsrecht

724 FG Münster v. 23. November 1995 5 K 1637/95 U in EFG 1996, 254. 725 Zur Vorlagepflicht speziell der Finanzgerichte vgl. Schön, S. 191 ff. 726 BFH v. 15. Oktober 1998 V R 38/97, V R 61/97 in BFHE 187, 84 (90). 727 BFH v. 15. Oktober 1998 V R 38/97, V R 61/97 in BFHE 187, 84 (88). 728 BFH v. 15. Oktober 1998 V R 38/97, V R 61/97 in BFHE 187, 84 (89). 729 BFH v. 15. Oktober 1998 V R 38/97, V R 61/97 in BFHE 187, 84 (88).

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Die nationale Rechtslage erschien auf den ersten Blick nicht von den Vorschriften des Gemeinschaftsrechts abzuweichen, denn Art. 21 Nr. 1 lit. c) der sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 legt lediglich fest, jede Person schulde die Mehrwertsteuer, die „die Mehrwertsteuer in einer Rechnung oder einem ähnlichen Dokument ausweist“. Diese Bestimmung geht nicht auf die Möglichkeit ein, solche Rechnungen zu berichtigen und damit die Steuerschuld rückgängig zu machen. Sowohl dem europäischen730 als auch dem deutschen731 Umsatzsteuerrecht wohnt allerdings der Grundsatz der Umsatzsteuerneutralität inne. Demnach soll grundsätzlich nur der Endverbraucher mit der Mehrwertsteuer belastet werden, während für den Unternehmer keine Belastung entstehen soll. Der EuGH hat daher im Zusammenhang mit dem Vorsteuerabzug im Genius-Urteil ausgeführt, dass Mitgliedsstaaten die Geltung dieses Grundsatzes gewährleisten müssen. Dazu müsse im innerstaatlichen Recht vorgesehen werden, dass jede zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer berichtigt werden kann, wenn der Aussteller seinen guten Glauben nachweist732. Diese Formulierung geht deutlich weiter als das zu diesem Zeitpunkt geltende deutsche Recht. Im Rahmen des § 14 Abs. 3 UStG a. F. war grundsätzlich, anders als beim § 14 Abs. 2 UStG a. F., keine Berichtigung vorgesehen. Die einzige Korrektur erfolgte nach den oben beschriebenen Grundsätzen im Billigkeitswege.

Die Rechtsprechung des BFH gewährte lange Zeit nicht zwangsläufig einen Erlass, wenn der Rechnungsaussteller im guten Glauben handelte. Die Anwendung der Billigkeitsvorschriften war damit deutlich restriktiver als die Formel des EuGH. Durch das erwähnte Urteil des BGH wurde allerdings diese Auffassung des EuGH in die deutsche Rechtspraxis eingeführt733. Die Auffassung, ein Erlass der Umsatzsteuer sei zu gewähren, wenn sich der Rechnungsaussteller im guten Glauben befand, kann daher auch als Rechtsprechung des BFH gelten734. In den vorliegenden Fällen konnten die Rechnungsaussteller ihren guten Glauben aber nicht geltend machen. Ungeklärt war, ob die EU-Richtlinie auch in solchen Fällen eine Berichtigung der Umsatzsteuer forderte, um das Neutralitätsprinzip der Umsatzsteuer zu gewährleisten.

(3) Vorlagefragen des BFH

Um eine Klärung dieser Frage zu erreichen und die Richtlinienkonformität des deutschen Umsatzsteuerrechts zu gewährleisten, sah der BFH sich daher zur Vorlage veranlasst. Der BFH begehrte im konkreten Fall Klärung der Frage, ob der Aussteller 730 EuGH v. 26. Juni 1997 C-370/95 in EuGH Slg. 1997, Teil I S. 3721 = UR 1997, 357; Vgl. dazu

auch Takacs S. 299. 731 Vgl. dazu nur Stadie in Rau/Dürrwächter, Einführung Rdnr. 195 ff. 732 Genius Holding B.V. gegen Staatssecretaris van Financien, Rechtssache C-342/87 in EuGH Slg.

1989, S. 4227 Rdnr. 18 (S. 4247) = UR 1991, 83. 733 BGH v. 23. November 1995 IX ZR 225/94 in NJW 1996, 842 = UVR 1996, 91. 734 BFH v. 15. Oktober 1998 V R 38/97, V R 61/97 in BFHE 187, 84 (89).

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seine Rechnung, unabhängig vom guten Glauben, auch dann berichtigen darf, wenn das Gleichgewicht von Steuer des Rechnungsausstellers und abgezogener Vorsteuer des Rechnungsempfängers auf andere Weise garantiert ist. Dazu könnte es, wie im Fall Schmeink & Cofreth (V R 38/97) genügen, dass der Rechnungsaussteller die Rechnung wiedererlangt oder, wie im Fall Manfred Strobel (V R 61/97), dass der Aussteller die von ihm ausgewiesene Steuer entrichtet hat735.

Eine der zweiten Variante entsprechende Fallgestaltung sah der BFH darin, dass der Leistungsempfänger die aufgrund seiner Rechnung zu Unrecht abgezogenen Vorsteuerbeträge dem Fiskus erstattet hat736. Dies waren im Wesentlichen die Punkte, deren Klärung für die vorliegenden Sachverhalte bedeutend waren. Dass im Fall des guten Glaubens des Rechnungsausstellers eine Berichtigung möglich und die Steuerbelastung nach § 14 Abs. 3 UStG a. F. aufzuheben war, folgte für den V. Senat des BFH dabei schon aus den Aussagen des Genius-Urteils737.

Durch den EuGH ungeklärt war aber die Frage, ob ein guter Glaube zwingende Voraussetzung für die Befreiung der nach § 14 Abs. 3 UStG a. F. erhobenen Steuer sein soll. Dies wurde als entscheidend angesehen, da in keinem der beiden Fälle die Rechnungsaussteller ihren guten Glauben nachweisen konnten738. Außerdem war der Begriff des guten Glaubens vom EuGH in diesem Zusammenhang nicht weiter spezifiziert worden. Unklar war auch, ob es den Anforderungen des EuGH genügte, wenn die Berichtigung der Steuerbelastung in einem an das Erhebungsverfahren sich anschließende Billigkeitsverfahren durchgeführt wird. Es wurden daher drei Fragen formuliert, deren Beantwortung durch den EuGH eine Klärung herbeiführen sollte739.

735 BFH v. 15. Oktober 1998 V R 38/97, V R 61/97 in BFHE 187, 84 (91 f). 736 BFH v. 15. Oktober 1998 V R 38/97, V R 61/97 in BFHE 187, 84 (91). 737 BFH v. 15. Oktober 1998 V R 38/97, V R 61/97 in BFHE 187, 84 (89). 738 BFH v. 15. Oktober 1998 V R 38/97, V R 61/97 in BFHE 187, 84 (90). 739 Vorlagefrage 1: „Gebietet es das Gemeinschaftsrecht, die Berichtigung einer zu Unrecht in Rechnung gestellten

Steuer bereits im Rahmen des Steuerfestsetzungsverfahrens zu ermöglichen, oder reicht es aus, wenn die Mitgliedsstaaten eine Berichtigung erst in einem anschließenden Billigkeitsverfahren (aus sog. sachlichen Billigkeitsgründen) zulassen?“

Vorlagefrage 2: „Setzt die Berichtigung einer zu Unrecht in Rechnung gestellten Steuer zwingend voraus, dass der

Aussteller der Rechnung seinen guten Glauben nachweist, oder ist eine Rechnungsberichtigung auch in anderen Fällen (ggf. welchen) zulässig?“

Vorlagefrage 3: „Unter welchen Voraussetzungen handelt ein Rechnungsaussteller in gutem Glauben?“; BFH

v. 15. Oktober 1998 V R 38/97, V R 61/97 in BFHE 187, 84 (84).

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c) Entscheidung des EuGH

Am 19. September 2000 urteilte der EuGH in der Rechtssache Schmeink & Cofreth/Manfred Strobel740 und beantwortete die ihm vorgelegten Fragen.

aa) Prozessuale Vorgaben des EuGH

Bezüglich der ersten, verfahrenstechnischen Frage, ob die Berichtigung im Festsetzungsverfahren stattfinden müsse oder ob dies auch in einem anschließendem Billigkeitsverfahren geschehen könne, betonte das Gericht die prozessuale Regelungsfreiheit der Mitgliedsstaaten. Es soll daher grundsätzlich Sache der einzelnen Staaten sein, das Verfahren zu gestalten741. Es müsse aber eine Berichtigung erfolgen, wenn eine Gefährdung des Steueraufkommens ausgeschlossen ist. Diese Korrektur darf in einem solchen Fall nicht im Ermessen der Finanzverwaltung stehen742.

bb) Inhaltliche Vorgaben des EuGH

Die Frage, ob der gute Glauben notwendige Voraussetzung der Berichtigung ist, beantwortete der EuGH folgendermaßen: Eine Berichtigung der Steuerschuld solle erfolgen, wenn der Aussteller der Rechnung eine Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigt hat. Dies sei zwar nicht in der sechsten Umsatzsteuerrichtlinie ausdrücklich vorgesehen, der Grundsatz der Neutralität der Umsatzsteuer verlange dies aber743. In einem solchen Fall sei es nicht zusätzlich erforderlich, dass der Rechnungsaussteller seinen guten Glauben nachweist. Wird dagegen, wie im Fall Genius, die Gefährdung des Steueraufkommens nicht vollständig beseitigt, stellt der EuGH es den Mitgliedsstaaten anheim, ob sie die Berichtigung der Steuer davon abhängig machen, dass der Rechnungsaussteller seinen guten Glauben nachweist744. Im Kontext mit dem Genius-Urteil sind diese Ausführungen so zu verstehen, dass im Falle eines nachgewiesenen guten Glaubens eine Berichtigung der Umsatzsteuer erfolgen muss.

740 EuGH Urteil v. 19. September 2000 Rs. C-454/98 in EuGH Slg. 2000, Teil I S. 6990 = UR 2000,

470 = DStRE 2000, 1166 = DB 2000, 2571. 741 EuGH Urteil v. 19. September 2000 Rs. C-454/98 (Rdnr. 65 ff.) in EuGH Slg. 2000,

Teil I S. 6990 = UR 2000, 470 (474). 742 EuGH Urteil v. 19. September 2000 Rs. C-454/98 (Rdnr. 68) in EuGH Slg. 2000, Teil I S. 6990 =

UR 2000, 470 (474). 743 EuGH Urteil v. 19. September 2000 Rs. C-454/98 (Rdnr. 58) in EuGH Slg. 2000, Teil I S. 6990 =

UR 2000, 470 (473). 744 EuGH Urteil v. 19. September 2000 Rs. C-454/98 (Rdnr. 61) in EuGH Slg. 2000, Teil I S. 6990

=UR 2000, 470 (473).

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d) Abschließende Behandlung dieser Fälle

Die Umsetzung des Urteils des EuGH durch den BFH unterschied sich in den beiden Fällen.

aa) Manfred Strobel

Der V. Senat des BFH verwies die Sache zur weiteren Sachverhaltsermittlung an das FG Baden-Württemberg zurück. In der Begründung wurde zunächst die Entscheidung des EuGH und der von diesem in den Vordergrund gestellte Grundsatz der Neutralität der Umsatzsteuer angeführt745. Im Streitfall wurde die Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigt, indem der Kläger die ausgewiesenen Umsatzsteuerbeträge an das Finanzamt entrichtete. Den Grundsatz der Neutralität der Umsatzsteuer sah der BFH als gewahrt an, weil sich die vom Kläger entrichtete Steuer und die von den Leasingunternehmern abgezogenen Vorsteuerbeträge per Saldo ausglichen746. Mit einem Erlass der nach § 14 Abs. 3 UStG a. F. erhobenen Umsatzsteuer könnte daher die Balance zwischen geleisteter Umsatzsteuer und erstatteter Vorsteuer nicht hergestellt werden, wenn die erstattete Vorsteuer nicht wieder an den Fiskus zurückflösse. In einem solchen Fall würde ein Dispens das Gleichgewicht vielmehr zerstören747. Der Erlass sei daher unter der Prämisse der Umsatzsteuerneutralität nur zu gewähren, wenn der Rechnungsempfänger die entsprechenden Beträge dem Fiskus erstattet habe748.

Allein die Tatsache, dass der Kläger die Finanzverwaltung durch seine Selbstanzeige in die Lage versetze, den unberechtigten Vorsteuerabzug zu korrigieren, reiche nicht aus, um einen Erlass zu begründen749. Aus diesem Grund gab der BFH dem erstinstanzlich mit dem Fall befassten FG Baden-Württemberg auf, zu eruieren, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang eine Rückzahlung der Vorsteuer stattgefunden habe750. Wenn der Vorsteuerabzug rückgängig gemacht worden ist, soll der Kläger einen Anspruch auf Erlass der entsprechenden Umsatzsteuer haben. Es läge dann eine

745 BFH v. 8. März 2001 V R 61/97 in BStBl. II 2004, 373 (374) = HFR 2001, 790 (791) = BFH/NV

2001, 998. 746 BFH v. 8. März 2001 V R 61/97 in BStBl. II 2004, 373 (374) = HFR 2001, 790 (791) = BFH/NV

2001, 998. 747 BFH v. 8. März 2001 V R 61/97 in BStBl. II 2004, 373 (374) = HFR 2001, 790 (791) = BFH/NV

2001, 998. 748 BFH v. 8. März 2001 V R 61/97 in BStBl. II 2004, 373 (374) = HFR 2001, 790 (791) = BFH/NV

2001, 998. 749 BFH v. 8. März 2001 V R 61/97 in BStBl. II 2004, 373 (374) = HFR 2001, 790 (791) = BFH/NV

2001, 998. 750 BFH v. 8. März 2001 V R 61/97 in BStBl. II 2004, 373 (374) = HFR 2001, 790 (791) = BFH/NV

2001, 998.

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Ermessensreduktion auf Null vor, da in einem solchen Fall der Ermessensspielraum der Finanzbehörde wegen gemeinschaftsrechtlicher Anforderungen entfällt751.

bb) Schmeink & Cofreth

Das zuständige Finanzamt erließ als Reaktion auf das Urteil des EuGH einen Änderungsbescheid. Da darin dem Verlangen der Klägerin entsprochen wurde, erklärten die nordrhein-westfälischen Finanzbehörden auf der einen und die Klägerin auf der anderen Seite die Rechtssache in der Hauptsache für erledigt. Eine Sachentscheidung ist in diesem Verfahren daher nicht mehr ergangen, der BFH beendete den Streit durch Beschluss vom 21. Februar 2001752.

e) Weitere Entscheidungen in diesem Zusammenhang

Neben den oben dargestellten Fällen Manfred Strobel und Schmeink & Cofreth entschied der BFH noch über andere Sachverhalte im Zusammenhang mit dem Erlass von nach § 14 Abs. 3 UStG a. F. entstandener Umsatzsteuer.

aa) BFH/NV 1999, 1139

Bereits vor der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Manfred Strobel/Schmeink & Cofreth musste der V. Senat des BFH zu einem ähnlichen Fall Stellung beziehen753. Der Beschluss des BFH betraf dabei eine Nichtzulassungsbeschwerde. In diesem Fall hatte der Kläger als Konkursverwalter über eine nicht ausgeführte Leistung eine Rechnung mit gesondert ausgewiesener Umsatzsteuer ausgestellt. Der Empfänger hatte die Vorsteuerbeträge bereits geltend gemacht. Der Kläger wurde gem. § 14 Abs. 3 UStG a. F. in Anspruch genommen. Der Antrag des Klägers auf einen Erlass der Umsatzsteuer wurde abgelehnt. Die Klage wurde ebenfalls abgewiesen754. Gegen die Nichtzulassung der Revision erhob der Betroffene Beschwerde zum BFH.

Der V. Senat des BFH wies die Beschwerde zurück. Im Unterschied zu den dem EuGH vorgelegten Fällen habe hier der Vorsteuerabzug durch den Rechnungsempfänger stattgefunden. In einem solchen Falle kommt ein Erlass der

751 BFH v. 8. März 2001 V R 61/97 in BStBl. II 2004, 373 (374) = HFR 2001, 790 (792) = BFH/NV

2001, 998. 752 Nicht veröffentlicht; Information der Pressestelle des BFH. 753 BFH v. 22. Februar 1999 V B 133/98 in BFH/NV 1999, 1139 (1139). 754 Zum Ganzen BFH v. 22. Februar 1999 V B 133/98 in BFH/NV 1999, 1139 (1139).

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Umsatzsteuer aber nicht in Betracht755. Ohne dies ausdrücklich zu erwähnen, geht der BFH davon aus, ein Dispens würde in einem solchen Fall nicht die Aufkommensneutralität der Mehrwertsteuer beim Unternehmer sichern, sondern diese vielmehr beseitigen. Insofern entspricht die hier erkennbare Rechtsauffassung inhaltlich der im Endurteil zum Fall Manfred Strobel geäußerten Ansicht des BFH.

bb) BFHE 194, 552

Nach dem Urteil des EuGH und dem Endurteil des BFH zum Fall Manfred Strobel wurde ein weiterer Fall in diesem Zusammenhang entschieden. Ein Landwirt hatte fälschlicherweise in einer Rechnung die Umsatzsteuer gesondert aufgeführt. Die Umsatzsteuer führte er in dieser Höhe ab. Der Leistungsempfänger machte den entsprechenden Betrag zunächst als Vorsteuer geltend. Später wurde der Vorsteuerabzug rückgängig gemacht, das zuständige Finanzamt erhielt den Betrag vom Rechnungsempfänger erstattet. Der Rechnungsaussteller ersetzte seinem Vertragspartner diese Summe. Danach beantragte er, ihm die bereits (bestandskräftig) abgeführte Mehrwertsteuer zu erlassen756. Der Antrag wurde zurückgewiesen, die Klage hatte erstinstanzlich keinen Erfolg. Der V. Senat des BFH hob das Urteil des Finanzgerichts auf und verpflichtete die Finanzbehörden, den Erlass in der entsprechenden Höhe zu gewähren757. Der Kläger habe, ähnlich wie im Falle Strobel, eine Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigt, indem er den in der Rechnung fehlerhaft als Umsatzsteuer ausgewiesenen Betrag an den Fiskus abführte. In einer solchen Konstellation erfordert es das Prinzip der Neutralität der Mehrwertsteuer, die zu Unrecht in Rechnung gestellte Umsatzsteuer zu berichtigen, wenn der Vorsteuerabzug beim Leistungsempfänger rückgängig gemacht worden ist758.

In zwei weiteren Fällen, die ähnliche Sachverhalte betrafen, wurde die Klage zur weiteren Sachverhaltsermittlung an das betreffende FG zurückgewiesen. Allerdings wurden auch in diesen Entscheidungen die oben beschriebenen Grundsätze rezitiert759.

755 BFH v. 22. Februar 1999 V B 133/98 in BFH/NV 1999, 1139 (1139). 756 Vgl. zum Sachverhalt BFH v. 17. Mai 2001 V R 77/99 in BStBl. 2004, 370 (370 f.) = BFHE 194,

552 (552 f.) = HFR 2001, 1017. 757 BFH v. 17. Mai 2001 V R 77/99 in BStBl. 2004, 370 (370 f.) = BFHE 194, 552 (553) = HFR

2001, 1017. 758 BFH v. 17. Mai 2001 V R 77/99 in BStBl. 2004, 370 (370 f.) = BFHE 194, 552 (554) = HFR

2001, 1017. 759 BFH v. 22. Februar 2001 V R 26/00 in BFHE 194, 510; BFH v. 22. März 2001 V R 46/00 in

BFHE 194, 533; ähnlich auch BFH v. 22. Februar 2001 V R 5/99 in BFHE 194, 506 (509 f) = UR 2001, 255, in diesem Fall soll aber eine Korrektur durch eine Anwendung des § 17 Abs. 1 UStG erfolgen.

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3. Zusammenfassung der Ansicht des BFH

Die Auffassung des BFH zum Erlass von nach § 14 Abs. 3 UStG a. F. entstandener Umsatzsteuer lässt sich wie folgt zusammenfassen.

a) Ursprüngliche Auffassung

Der BFH sah den Zweck des § 14 Abs. 3 UStG a. F. zunächst darin, die abstrakte Gefährdung des Umsatzsteueraufkommens zu verhindern. Nur wenn die abstrakte Gefahr durch Maßnahmen des Rechnungsausstellers beseitigt werde, sei es mit der Sinn der Norm nicht mehr zu vereinbaren, die Steuer zu erheben. Ein Erlass sei daher zu gewähren, wenn der Aussteller die Rechnung vor Gebrauch zum Vorsteuerabzug wiedererlangt oder den Sachverhalt beim zuständigen Finanzamt anzeigt. In diesen Fällen liege keine abstrakte Gefährdung des Steueraufkommens vor. Die Abführung der Umsatzsteuer durch eine andere Person, beispielsweise durch den tatsächlich Leistenden in den Strohmann-Fällen, wird nicht als ausreichend angesehen, um die abstrakte Gefährdung zu beheben. Ein Dispens kommt hier nicht in Betracht. Auf ein Verschulden oder die Kenntnis des Rechnungsausstellers soll es in solchen Fällen nicht ankommen.

b) Neuere Rechtsprechung

Durch die oben beschriebenen Einflüsse der europäischen Rechtsentwicklung sah der V. Senat des BFH sich zu einer Revision seiner Auffassung veranlasst760: Der Sinn des § 14 Abs. 3 UStG a. F. wurde weiter im Schutz des Umsatzsteueraufkommens gesehen. Allerdings wurde weniger auf die abstrakte Gefährdung dieses Schutzgutes abgestellt. Die Vorschrift wurde auch im Lichte des Neutralitätsprinzips der Mehrwertsteuer betrachtet, welches ein Grundelement des europäischen wie nationalen Umsatzsteuerrechts darstellt. Um die Erhebung der Umsatzsteuer nach dieser Norm zu rechtfertigen, reiche daher die abstrakte Bedrohung nicht aus, es bedürfe vielmehr einer konkreten Gefährdung des Steueraufkommens. Liege eine solche konkrete Gefahr nicht vor, sei eine Erhebung der Umsatzsteuer nicht von der sechsten Umsatzsteuerrichtlinie gedeckt. In diesen Fällen müsse eine Berichtigung der Steuerbelastung im Billigkeitswege erfolgen. Eine solche Gefährdung wurde dann nicht als gegeben angesehen, wenn die Vorsteuer nicht abgezogen worden ist und die Möglichkeit eines illegitimen Vorsteuerabzuges ausgeschlossen werden konnte oder wenn die

760 Vgl. dazu auch Korf, DB 2000, 2571; Bohnert/Kostrzewa, DB 2001, 667; Lohse, UVR 2000, 429;

Hegemann/Querbach, DStR 2001, 557; Grammel/Jaster, DB 2002, 1346.

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Umsatzsteuer von einer anderen Person als dem Rechnungsaussteller geleistet wurde. Letzteres betraf insbesondere die Strohmann-Fälle. Ebenso sollte ein Erlass der Umsatzsteuer zu gewähren sein, wenn der Rechnungsaussteller im guten Glauben handelte. Als gutgläubig wurde dabei insbesondere der Aussteller betrachtet, der sich im entschuldbaren Irrtum über seine Unternehmereigenschaft im Sinne des § 14 Abs. 3 Satz 2 1. Variante UStG a. F. befand.

III. Bewertung dieser Rechtsprechung

Zu untersuchen ist, inwieweit die Haltung des BFH mit den gesetzlichen Vorgaben in Einklang stand. Dabei ist insbesondere auf die Übereinstimmung mit dem Grundgesetz und dem europäischen Recht einzugehen.

1. Verfassungsrechtliche Betrachtung

Zunächst solle eine verfassungsrechtliche Betrachtung der Problematik stattfinden.

a) Verfassungsmäßigkeit des § 14 Abs. 3 UStG a. F.

Im Rahmen der verfassungsrechtlichen Aufarbeitung ist zunächst die Verfassungsmäßigkeit des § 14 Abs. 3 UStG a. F. zu untersuchen.

aa) Grundsätzliches

Teilweise wird angenommen, der § 14 Abs. 3 UStG a. F. sei verfassungswidrig gewesen761. Diese Ansicht wird damit begründet, dass die Norm eine Strafvorschrift sei und sowohl gegen den Grundsatz nulla poena sine lege des Art. 103 Abs. 2 GG als auch gegen Art. 103 Abs. 3 GG verstoße762. Außerdem soll ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vorliegen763. Der Verstoß wird damit begründet, dass die § 14 Abs. 3 UStG a. F. als Strafnorm ausgestaltet gewesen und daher über das Ziel hinausschieße, da eine Ausfall-Gefährdungshaftungsvorschrift ausreichend gewesen wäre764.

761 Buchwald, UR 1996, 1 (9). 762 Schmitz, UR 1984, 203 (205 f); dazu auch Tehler, S. 184 ff. 763 Dazu Tipke/Lang, § 14 Rdnr. 164. 764 Tipke/Lang, § 14 Rdnr. 164.

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bb) § 14 Abs. 3 UStG als Strafvorschrift?

Der oben dargestellten Auffassung liegt die Annahme zugrunde, der § 14 Abs. 3 UStG a. F. stelle eine Strafvorschrift dar. Diese These soll daher zunächst untersucht werden. Grundlage der Allphasennettobesteuerung, auf der das aktuelle Umsatzsteuerrecht beruht, ist das Prinzip der Umsatzsteuerneutralität im unternehmerischen Bereich. Wurde ein Unternehmer aber gem. § 14 Abs. 3 UStG a. F. zur Umsatzsteuer veranlagt, ohne dass der Rechnungsempfänger die Vorsteuer gem. § 15 UStG geltend machen konnte, da tatsächlich keine Leistung erbracht wurde, war das Neutralitätsprinzip durchbrochen, da ein Ausgleich zwischen Steuerschuld und Steuerabzugsforderung nicht stattfand. Da mit Ausstellung einer falschen Rechnung die ausgewiesene Umsatzsteuer fällig wurde, fand durch die daraus resultierende finanzielle Schlechterstellung auch eine Abschreckung statt. Insoweit hatte der § 14 Abs. 3 UStG a. F. Sanktionswirkung. Die Zielrichtung der Norm war allerdings unmittelbar die Sicherung des Steueraufkommens und der Umsatzsteuerneutralität. Die Sanktionswirkung war nur Reflex der Sicherung der Umsatzsteuerneutralität im unternehmerischen Bereich. Daher kann die Vorschrift nicht als Strafvorschrift angesehen werden765. Ein Verstoß der Norm gegen die Justizgrundrechte des Art. 103 GG scheidet daher aus766.

cc) Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Problematisch ist, dass der verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Maßstab zur Prüfung von Steuernormen unter Umständen nicht angebracht ist.

(1) Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes

Wie bereits ausgeführt, ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip kein geeigneter Prüfungsmaßstab bei Abgaben, die fiskalischen Zwecken dienen767. Fraglich ist, ob der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hier Anwendung finden kann. Zweck des § 14 Abs. 3 UStG a. F. war die Sicherung der Balance zwischen Umsatzsteuer und zu erstattender Vorsteuer. Dies geschah, indem der unberechtigte Aussteller eine Rechnung

765 So auch Stadie in Rau/Dürrwächter, § 14c Rdnr. 13; Weiß, UR 1980, 125 (126); BVerfG v. 5. Mai

1992 2 BvR 271/92 in UVR 1992, 208 (208); BFH v. 10.Dezember 1981 V R 3/75 in BStBl. II 1982, 229 (230) = BFHE 135, 107.

766 Dies entspricht auch der herrschenden Auffassung. Vgl. Stadie in Rau/Dürrwächter, § 14c Rdnr. 13; BVerfG v. 5. Mai 1992 2 BvR 271/92 in UVR 1992, 208 (208).

767 Dies ist im Wesentlichen unbestritten, vgl. dazu Jarass, S. 89; Papier, S. 74 ff.; Selmer, S. 287; Birk, Leistungsfähigkeitsprinzip, S. 189 f; Birk in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 4 AO Rdnr. 536 f m.w.N.; dazu auch Rodi, S. 50 ff.

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mit Umsatzsteuerausweis in Höhe der ausgewiesenen Steuer belastet wurde. Die Norm hatte daher unmittelbar fiskalische Wirkung, da eine Steuer eingezogen wurde. Dies war allerdings nur Mittel zum Zweck. Die Intention der Regelung bestand vielmehr darin, die Kongruenz zwischen abgeführter Umsatzsteuer und zu erstattender Vorsteuer zu gewährleisten768. Die Vorschrift beabsichtigte die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Umsatzsteuersystems und den Schutz dieses Systems vor Missbrauch; die fiskalische Wirkung kann allenfalls als Nebenzweck angesehen werden769. Die Vorschrift war bestimmt durch ein über den fiskalischen Nutzen hinausgehendes Ziel770. Eine Prüfung am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist möglich.

(2) Prüfung der Verhältnismäßigkeit

Fraglich ist nicht, ob in einzelnen Anwendungsfällen gegen das Übermaßverbot verstoßen wurde. Vielmehr ist zu klären, ob die abstrakte Norm an sich unverhältnismäßig war. Als verfassungslegitimes Ziel des § 14 Abs. 3 UStG a. F. ist die Sicherung des Umsatzsteueraufkommens vor Missbrauch zu betrachten771. Da die Vorschrift eine Sanktionswirkung gegenüber dem entfaltete, der unberechtigt in Rechnungen Umsatzsteuer auswies, kann die Norm auch als geeignet angesehen werden, diesem Ziel zu dienen. Ein weniger schwerwiegendes Mittel gleicher Effizienz ist nicht ersichtlich; die Regelung war daher auch erforderlich. Fraglich ist allein die Angemessenheit der Maßnahme. Insoweit ist das öffentliche Interesse an der Sicherung des Umsatzsteueraufkommens und an der Funktionsfähigkeit des Besteuerungssystems dem Eingriff in Rechte des Bürgers gegenüberzustellen. Auch unter generalpräventiven Gesichtspunkten ist es generell nicht als unangemessen zu beanstanden, wenn die Funktionsfähigkeit der Allphasennettobesteuerung gesichert wird, indem Steuerpflichtige, die unberechtigt Umsatzsteuer ausweisen, in Höhe des ausgewiesenen Betrages zu Umsatzsteuer herangezogen werden. Dass die Anwendung der Norm in atypischen Ausnahmefällen, beispielsweise wenn die abstrakte Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigt wird, zu unangemessenen Ergebnissen führen konnte, soll nicht bestritten werden. In diesen Fällen war aber die Korrekturmöglichkeit mittels der §§ 163, 227 AO gegeben772. Die Vorschrift des § 14 Abs. 3 UStG a. F. kann daher nicht als unverhältnismäßig betrachtet werden.

768 Vgl. dazu nur Stadie in Rau/Dürrwächter, § 14c Rdnr. 10. 769 Dazu Papier, S. 80. 770 Ob man die auf § 14 Abs. 3 UStG beruhende Steuer als „Ordnungssteuer“ bezeichnet, wie Papier,

S. 80 ff. es tut, kann dahingestellt bleiben. 771 Vgl. dazu nur zur aktuellen Regelung in § 14c UStG Stadie in Rau/Dürwächter, § 14c Rdnr. 10. 772 BVerfG v. 12. Oktober 1976 1 BvR 2328/73 in BVerfGE 43, 1 (12); BVerfG v. 5. April 1978

1 BvR 117/73 in BVerfGE 48, 102 (114); BVerfG v. 22. Juli 1991 1 BvR 829/89 in HFR 1992, 424 (425); dazu auch Selmer, S. 288; Ebke, FS Maurer S. 869 (885 f); siehe dazu auch S. 261 ff.

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dd) Ergebnis der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 14 Abs. 3 UStG a. F.

Die Vorschrift des § 14 Abs. 3 UStG a. F. verstieß nicht gegen die Justizgrundrechte des Art. 102 GG oder den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Norm ist daher im Ergebnis als verfassungsgemäß zu betrachten.

b) Anwendung des § 14 Abs. 3 UStG a. F. in Sonderfällen

Die Verfassungsmäßigkeit des § 14 Abs. 3 UStG a. F. schließt aber nicht aus, dass in Sonderfällen die Anwendung der Vorschrift zu verfassungswidrigen Ergebnissen führen konnte, die eine Beseitigung mittels eines Steuerdispenses nötig machten773. In Fällen, in denen trotz nichtberechtigten Steuerausweises keine Gefährdung des Umsatzsteueraufkommens gegeben war, könnte die Anwendung des § 14 Abs. 3 UStG unverhältnismäßig gewesen sein.

aa) Verhältnismäßigkeit der Anwendung bei fehlender abstrakter Gefährdung des Steueraufkommens

Untersucht werden soll hier zunächst, ob die Einziehung der nach § 14 Abs. 3 UStG a. F. entstandenen Umsatzsteuer, wenn das Umsatzsteueraufkommen nicht einmal abstrakt gefährdet ist, als verhältnismäßig bezeichnet werden kann. Zu nennen sind hier insbesondere Fälle, in denen der Rechnungsaussteller die Rechnung wiedererlangt, bevor der Empfänger sie zum Vorsteuerabzug verwenden konnte, oder solche, in denen der Sachverhalt rechtzeitig dem Finanzamt angezeigt wurde. In diesen Fällen kann schon an der Geeignetheit und Erforderlichkeit der Maßnahme gezweifelt werden, das Umsatzsteueraufkommen zu sichern. Zweifellos wäre es aber unangemessen gewesen, die nach § 14 Abs. 3 UStG a. F. entstandene Umsatzsteuer zu erheben, wenn von einer Gefährdung des Steueraufkommens nicht die Rede sein konnte. In solchen Fällen wäre die Anwendung des § 14 Abs. 3 UStG a. F. daher als unverhältnismäßig und daher verfassungswidrig zu betrachten. Ein Billigkeitserlass in diesen Fällen war daher zu gewähren774.

bb) Verhältnismäßigkeit bei fehlender konkreter Gefährdung des Steueraufkommens

773 Vgl. BVerfG v. 12. Oktober 1976 1 BvR 2328/73 in BVerfGE 43, 1 (12); BVerfG v. 5. April 1978

1 BvR 117/73 in BVerfGE 48, 102 (114); BVerfG v. 22. Juli 1991 1 BvR 829/89 in HFR 1992, 424 (425); dazu auch Selmer, S. 288; Ebke, FS Maurer, S. 869 (885 f); kritisch dazu in diesem Fall von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 76; siehe S. 261 ff.

774 Vgl. dazu auch Widmann in Plückebaum/Malitzky, § 14 a.F. Rdnr. 409.

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Fraglich war die Verhältnismäßigkeit in Fällen, in denen das Steueraufkommen zwar abstrakt gefährdet schien, eine konkrete Gefährdung aber nicht eintrat. An der Geeignetheit der Maßnahme ist nicht zu zweifeln, da die Einziehung der Umsatzsteuer vom unberechtigten Rechnungsaussteller geeignet ist, die Gefährdung des Steueraufkommens zu beseitigen. Ein milderes, gleich wirksames Mittel ist nicht ersichtlich. Fraglich bleibt die Angemessenheit der Maßnahme. Zu messen ist die Beeinträchtigung des Steuerbürgers an dem verfassungslegitimen Ziel, der Sicherstellung des Umsatzsteueraufkommens. Es liegt im Charakter des Gefährdungstatbestandes775 des § 14 Abs. 3 UStG a. F., dass es nicht zu einer tatsächlichen Beeinträchtigung des Steueraufkommens kommen musste, um die Erhebung zu rechtfertigen. Hat die Ausstellung der Rechnung zumindest zu einer abstrakten Gefährdung geführt, kann es unter Abwägung des öffentlichen Interesses an der Sicherung des Umsatzsteueraufkommens auch nicht als unangemessen angesehen werden, den Aussteller mit der ausgewiesenen Umsatzsteuer zu belasten. In Fällen, in denen eine abstrakte Gefährdung des Umsatzsteueraufkommens gegeben war, kann die Anwendung des § 14 Abs. 3 UStG a. F. nicht als unverhältnismäßig bezeichnet werden.

cc) Ergebnis der verfassungsrechtlichen Betrachtung der Anwendung des § 14 Abs. 3 UStG a. F. in atypischen Fällen

Im Ergebnis war schon aus verfassungsrechtlichen Gründen ein Erlass von nach § 14 Abs. 3 UStG a. F. entstandener Umsatzsteuer geboten, wenn die Ausstellung der Rechnung nicht zu einer abstrakten Gefährdung des Umsatzsteueraufkommens führte. In anderen Fällen war zumindest aus Sicht des nationalen Verfassungsrechts kein Erlass geboten. Dieses Ergebnis entspricht der Rechtsprechung des BFH in diesen Fällen vor der Entscheidung des EuGH im Fall Schmeink & Cofreth/Manfred Strobel.

2. Bewertung vor dem europarechtlichen Hintergrund

Neben der Analyse des deutschen Verfassungsrechts muss aufgrund des europarechtlichen Kontextes eine Bewertung des Problems vor dem europarechtlichen Hintergrund erfolgen.

775 Vgl. dazu Bohnert/Kostrzewa, DB 2001, 667 (668); zur Nachfolgevorschrift vgl. Stadie in

Rau/Dürrwächter, § 14c Rdnr. 12;

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a) Bindung des BFH an die Vorgaben des EuGH

Der § 14 Abs. 3 UStG a. F. basiert auf Art. 21 Nr. 1 lit. C der sechsten Richtlinie des Rates zum Umsatzsteuerrecht776. Der EuGH besitzt gem. Art. 234 lit. b) (Art. 177 a.F.) EGV ein Auslegungsmonopol bezüglich der Interpretation europäischer Rechtsakte. Gegenstand der Auslegung können auch Richtlinien sein777. Das aufgrund der Richtlinie zustande gekommene nationale Recht entzieht sich aber der Auslegungskompetenz des EuGH778. Der EuGH kann nur eine Klärung der Interpretation der Richtlinie herbeiführen. Die Judikative und Exekutive des Mitgliedsstaates sind allerdings zur richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts verpflichtet779. Die Auslegung einer Richtlinie durch den EuGH entfaltet daher mittelbar auch Bindungswirkung gegenüber deutschen Gerichten.

b) Vorgaben des EuGH

Nach Ansicht des EuGH verlangt die sechste Umsatzsteuerrichtlinie, dass eine Belastung mit Umsatzsteuer berichtigt werden kann, wenn der Aussteller der Rechnung die Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigt hat780. Dies gehe zwar nicht aus dem Wortlaut der Richtlinie hervor, sei aber zur Wahrung des der Richtlinie zugrunde liegenden Grundsatzes von der Neutralität der Umsatzsteuer im Unternehmensbereich notwendig781. Im Falle einer rechtzeitigen und vollständigen Beseitigung der Gefährdung darf die Berichtigung der Steuer nicht mit dem Hinweis auf fehlende Gutgläubigkeit des Rechnungsausstellers abgelehnt werden782. Darüber hinaus muss das Recht der Mitgliedsstaaten eine Berichtigung der Umsatzsteuer erlauben, wenn der Rechnungsaussteller seinen guten Glauben nachweist, auch wenn die Gefährdung nicht vollständig beseitigt wurde783. Die Festlegung des prozessualen Rahmens ist Sache der Mitgliedsstaaten. Nach Auffassung des EuGH ist es daher den

776 Siehe S. 154; vgl. auch Bohnert/Kostrzewa, DB 2001, 667 (669). 777 Vgl. dazu Vedder in Lehner/Thömmes, S. 5; Wegener in Callies/Ruffert, Art. 234 Rdnr. 8;

Everling, S. 25. 778 Siehe S. 155; vgl. Wegener in Callies/Ruffert, Art. 234 Rdnr. 3 ff; Everling, S. 27; speziell zum

Steuerrecht vgl. Schön, S. 171 ff. 779 BVerfG v. 8. April 1987 2 BvR 687/85 in BVerfGE 75, 223; EuGH v. 20. September 1988

Rs. 31/87 in EuGH Slg. 1988, S. 4636; vgl. dazu auch Kahl in Callies/Ruffert, Art. 10 Rdnr. 57 ff; Schön, S. 180 ff.

780 EuGH Urteil v. 19. September 2000 Rs. C-454/98 (Rdnr. 58, 63) in EuGH Slg. 2000, Teil I S. 6990 = UR 2000, 470 (473); siehe dazu S. 160.

781 EuGH Urteil v. 19. September 2000 Rs. C-454/98 (Rdnr. 58, 63) in EuGH Slg. 2000, Teil I S. 6990 = UR 2000, 470 (473).

782 EuGH Urteil v. 19. September 2000 Rs. C-454/98 (Rdnr. 60) in EuGH Slg. 2000, Teil I S. 6990 = UR 2000, 470 (473).

783 EuGH Urteil v. 19. September 2000 Rs. C-454/98 (Rdnr. 61) in EuGH Slg. 2000, Teil I S. 6990 = UR 2000, 470 (473).

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einzelnen Staaten freigestellt, ob die Berichtigung im Laufe des Festsetzungsverfahrens vorgenommen wird oder ob dies in einem sich anschließenden Billigkeitsverfahren geschieht784. Die Korrektur der Steuerbelastung darf aber nicht im Ermessen der Finanzbehörden liegen785.

c) Entspricht die Auffassung des BFH den Vorgaben des EuGH?

Fraglich ist, ob der Verweis auf das Erlassverfahren und die Anwendung des § 227 AO ausreichend waren, um eine Konformität mit den Vorgaben der sechsten Umsatzsteuerrichtlinie in der Auslegung des EuGH herzustellen. Zum einen ist festzustellen, dass die Entscheidung über die Berichtigung nicht in das Ermessen der Finanzverwaltung gestellt werden darf786. Die Entscheidung über einen Dispens von Steuern nach den Vorschriften der AO stellte aber stets eine Ermessensentscheidung dar787. Daher wurde zum Teil bestritten, ob die vom BFH vorgesehene Berichtigung im Rahmen des Billigkeitsverfahrens den Vorgaben des Europarechts gerecht wird788. Dem kann entgegengehalten werden, dass insoweit der Ermessensspielraum der Verwaltung auf Null reduziert war789.

Ein weiterer Ansatzpunkt für Kritik war die Tatsache, dass die Anwendung des § 227 AO nicht zu einer Korrektur der Rechnung, sondern lediglich zu einer Änderung der Besteuerung führte. Hier sind die Vorgaben des EuGH aber genau zu betrachten. Tatsächlich wird nicht verlangt, dass eine Berichtigung der Rechnung stattfindet. Gefordert wird vielmehr die Möglichkeit, die Steuer zu korrigieren790. Dies kann auch im Billigkeitsverfahren geschehen. Ein anderer Gesichtspunkt spricht allerdings gegen die Europarechtskonformität des Verweises auf den Billigkeitsweg. Der Erlass ist stets einzelfallbezogen, wohingegen die Regelung eines abstrakten Gesetzes stets eine allgemeine Wirkung entfaltet. Der EuGH fordert aber wohl eine allgemeine Regelung der Materie791. Daher ist es zweifelhaft, ob die Rechtsprechung des BFH den europarechtlichen Vorgaben entsprach. Allerdings ist hier auch zu beachten, dass der BFH im Rahmen seiner Möglichkeiten handeln musste. Da eine explizite gesetzliche

784 EuGH Urteil v. 19. September 2000 Rs. C-454/98 (Rdnr. 65 ff.) in EuGH Slg. 2000,

Teil I S. 6990 = UR 2000, 470 (474). 785 EuGH Urteil v. 19. September 2000 Rs. C-454/98 (Rdnr. 68) in EuGH Slg. 2000, Teil I S. 6990 =

UR 2000, 470 (474). 786 EuGH Urteil v. 19. September 2000 Rs. C-454/98 (Rdnr. 68) in EuGH Slg. 2000, Teil I S. 6990 =

UR 2000, 470 (474). 787 Das gilt unabhängig davon, ob man §§ 163, 227 AO als Koppelung von unbestimmtem

Rechtsbegriff und Ermessen oder als einheitliche Ermessensnorm betrachtet. 788 So Bohnert/Kostrzewa, DB 2001, 667 (670). 789 Korf, DB 2000, 2571 (2572). 790 EuGH Urteil v. 19. September 2000 Rs. C-454/98 (Rdnr. 65, 68) in EuGH Slg. 2000,

Teil I S. 6990 = UR 2000, 470 (474); vgl. dazu Korf, DB 2000, 2571 (2572). 791 Bohnert/Kostrzewa, DB 2001, 667 (670).

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Regelung im gemeinschaftsrechtlichen Sinne der Legislative vorbehalten war und erst mit der Schaffung des § 14c UStG n. F. im Jahre 2004 erfolgte, muss gefragt werden, ob dem BFH überhaupt Alternativen zur Verfügung standen. Eine Möglichkeit wäre sicherlich eine richtlinienkonforme erweiternde Auslegung des § 17 UStG beziehungsweise des § 14 Abs. 2 Satz 2 UStG a. F. in dem Sinne, dass auch in den hier diskutierten Fällen eine Änderung des Rechnungsbetrages möglich gewesen wäre. Diesen Weg deutete der V. Senat des BFH in neueren Entscheidungen in diesem Kontext auch an792. Allerdings ist zu beachten, dass in den Fällen Manfred Strobel und Schmeink & Cofreth bereits Bestandskraft des Umsatzsteuerbescheides eingetreten war, so dass eine solche Auslegung in den zugrunde liegenden Fällen keine Abhilfe geschafft hätte.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Rechtsprechung des BFH zum Erlass von nach § 14 Abs. 3 UStG a. F. entstandener Umsatzsteuer aufgrund der europarechtlichen Bindungen zuzustimmen ist. Den Vorgaben des EuGH mag eine richtlinienkonforme, erweiternde Auslegung der Vorschriften des UStG a. F. besser entsprechen. Im Rahmen der zugrunde liegenden Sachverhalte ist der Ansicht des BFH jedoch zuzustimmen. Die überfällige793 explizite Regelung dieses Problems durch den Gesetzgeber mit Wirkung ab dem 1.1.2004 hat in dieser Frage Klarheit geschaffen.

3. Bewertung bei Betrachtung des einfachen Gesetzes

Fraglich ist, ob sich aus dem Zweck des § 14 Abs. 3 UStG a. F. eine weitergehende Erlassmöglichkeit ergibt. Zweck der Vorschrift war es, eine abstrakte Gefährdung des Umsatzsteueraufkommens zu verhindern794. Eine sachliche Unbilligkeit kam daher nur in Betracht, wenn eine abstrakte Gefährdung des Umsatzsteueraufkommens verneint werden konnte. In diesen Fällen war aber schon mit Rücksicht auf das Grundgesetz ein Erlass geboten795. Eine weitergehende Erlassmöglichkeit, als sie aus verfassungs- und europarechtlichen Gründen besteht, kann daher aus dem einfachen Gesetz nicht abgeleitet werden.

792 BFH v. 22. Februar 2001 V R 5/99 in BFHE 194, 506 (510); ähnlich BFH v. 22. März 2001

V R 11/98 in BFHE 194, 528 (531 f). 793 Vgl. dazu von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 Rdnr. 76. 794 Bohnert/Kostrzewa, DB 2001, 667 (668); Zur Nachfolgevorschrift vgl. Stadie in Rau/Dürrwächter,

§ 14c Rdnr. 12 795 Siehe S. 169; vgl. dazu auch Ohlf, UR 1994, 264 (265).

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4. Ergebnis der Bewertung der Auffassung des BFH zum Erlass von nach § 14 Abs. 3 UStG a. F. entstandener Umsatzsteuer

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Rechtsprechung des BFH in diesem Kontext sowohl den Vorgaben des Grundgesetzes und des einfachen nationalen Gesetzes als auch den europarechtlichen Anforderungen entsprach. Dieser Ansicht kann daher in vollem Umfang zugestimmt werden.

E. Erlass von Umsatzsteuer im Falle der Insolvenz

Ein Erlassbegehren bezüglich einer Umsatzsteuerschuld wird auch damit begründet, dass der Vertragspartner als Leistungsempfänger die geschuldete Zahlung für die empfangene Leistung nicht erbringen kann.

I. Darstellung der Fälle

Primär geht es um Konstellationen, in denen der Vertragspartner insolvent wird und der Leistende daher einen Forderungsausfall zu beklagen hat. In einem solchen Fall wird die Umsatzsteuer gem. § 17 UStG nach den Zahlungen berechnet, die der Leistende tatsächlich erhalten hat. Ein Antrag auf Erlass dieser angepassten Mehrwertsteuerschuld wird teilweise damit begründet, die Umsatzsteuer sollte laut vertraglicher Vereinbarung erst mit der Schlussabrechnung, mit der man voll ausgefallen sei, gezahlt werden796.

II. Ansicht des BFH

Der BFH hat der entsprechenden Klage im Revisionsverfahren nicht stattgegeben797. Der Umsatzsteueranteil ist integraler Bestandteil des bürgerlich-rechtlich geschuldeten Preises. Der Preis umfasst den Nettowerklohn und die darauf entfallende Umsatzsteuer (§ 10 UStG). Der umsatzsteuerrechtliche Leistungsempfänger tilgt mit seiner Zahlung sowohl den Nettolohn als auch die entsprechende Mehrwertsteuer. Bei Leistung in Raten entfallen die Zahlungen anteilig auch auf die Umsatzsteuer798. Die Tilgung des vereinbarten Preises in der Weise, dass die geleisteten Zahlungen zu bestimmten Teilen nur auf den Werklohn und zu einem anderen Teil auf die Umsatzsteuer entfallen sollen, ist mit umsatzsteuerrechtlicher Wirkung nicht möglich799. Der Zahlungsausfall vor

796 So in BFH v. 10. November 1983 V R 91/80 in BStBl. II 1984, 120 = BFHE 139, 319. 797 BFH v. 10. November 1983 V R 91/80 in BStBl. II 1984, 120 (120 f) = BFHE 139, 319. 798 BFH v. 10. November 1983 V R 91/80 in BStBl. II 1984, 120 (121) = BFHE 139, 319. 799 BFH v. 10. November 1983 V R 91/80 in BStBl. II 1984, 120 (121) = BFHE 139, 319.

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Leistung der Abschlusszahlung ist also in umsatzsteuerlicher Hinsicht nur insoweit bedeutend, als dass die Berechnungsgrundlage der Umsatzsteuer geändert wird. Dies garantiert das innere Gleichgewicht des Umsatzsteuersystems. Der Ausfall eines Geschäftspartners ist aber Bestandteil des kaufmännischen Risikos800. Eine sachliche Unbilligkeit liege in einem solchen Fall daher nicht vor801.

Mit ähnlicher Begründung wies der V. Senat des BFH eine Klage ab, in der der Kläger als Leistungsempfänger einen Erlass begehrte802. Der Kläger hatte nach Zahlungsschwierigkeiten einen Vergleich mit den Gläubigern geschlossen, die auf einen Großteil der ausstehenden Forderungen verzichteten. Daraufhin wurde die dem Kläger bereits erstattete Vorsteuer nach § 17 UStG berichtigt und der entsprechende Betrag nachgefordert. Der Erlassantrag wurde abgewiesen und auch die Revision zum BFH blieb erfolglos. Der V. Senat des BFH verwies wiederum auf das innere Gleichgewicht zwischen Umsatzsteuer und erstattungsfähiger Vorsteuer803. Ein Erlass werde diese Balance zerstören. Das Resultat wäre nicht der Verzicht auf einen Steueranspruch, sondern die Gewährung einer staatlichen Beihilfe804. Ein Erlassgrund im Sinne des § 227 AO sei damit ausgeschlossen.

III. Zusammenfassung

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der BFH in diesen Fällen einen Erlass generell nicht zulässt. Dies resultiert aus den Feststellungen, dass die Umsatzsteuer fester Bestandteil des Preises ist und dass die Neutralität der Umsatzsteuer nur gewahrt werden kann, indem die Vorsteuererstattung und gezahlte Umsatzsteuer sich per Saldo ausgleichen.

IV. Bewertung dieser Auffassung

Die Umsatzsteuer wird grundsätzlich auf sämtliche Leistungen des Wirtschaftslebens erhoben805. Der bürgerlich-rechtliche Preis einer Leistung enthält daher stets einen Umsatzsteueranteil, wenn die Leistung von einem Unternehmer erbracht wird. Dies ist in § 10 UStG explizit festgelegt. Da aber nur der Endverbraucher die Steuerlast tragen

800 So der BFH v. 17. Dezember 1974 VII R 56/72 in BStBl. II 1975, 462 (464) = BFHE 115, 2 zu

einem ähnlichen Fall, in denen es um den Erlass einer anderen indirekten Verbrauchssteuer, der Mineralölsteuer, ging.

801 BFH v. 10. November 1983 V R 91/80 in BStBl. II 1984, 120 (122) = BFHE 139, 319. 802 BFH v. 15. September 1983 V R 125/78 in BStBl. II 1984, 71 = BFHE 139, 312. 803 BFH v. 15. September 1983 V R 125/78 in BStBl. II 1984, 71 (72) = BFHE 139, 312. 804 BFH v. 15. September 1983 V R 125/78 in BStBl. II 1984, 71 (72) = BFHE 139, 312. 805 Vgl. dazu Tipke/Lang, § 14 Rdnr. 1.

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soll, kann ein Unternehmer die gezahlte Umsatzsteuer als Vorsteuer geltend machen806. Wenn ein Teil des Entgelts nicht beigetrieben werden kann, ist die Umsatzsteuerschuld des Leistenden daher gem. § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG entsprechend anzupassen807. Wenn der Preis nicht oder nicht in voller Höhe beigetrieben werden kann, weil der Leistungsempfänger insolvent ist, wird die beim Leistenden zu erhebende Umsatzsteuer daher nur auf Grundlage des tatsächlich erhaltenen Entgelts berechnet.Der Antrag auf Erlass der vollen Umsatzsteuer wird in solchen Fällen in der Regel damit begründet, dass laut vertraglicher Abrede die Umsatzsteuer erst mit der Abschlusszahlung erfolgen sollte, die dann aufgrund der Zahlungsunfähigkeit nicht mehr erfolgte808.

Dem BFH ist darin zuzustimmen, dass eine solche Abrede mit umsatzsteuerrechtlicher Wirkung nicht möglich ist. Des Weiteren ist zu beachten, dass mit der Änderung der Bemessungsgrundlage gem. § 17 UStG auch die Balance zwischen Steuerschuld des leistenden Unternehmers und Vorsteuerabzugsanspruch des Leistungsempfängers gewahrt werden soll. Dies ist vom Gesetz beabsichtigt. Ein Erlass über die Anpassung nach dieser Vorschrift hinaus würde mithin der Intention der Vorschrift zuwiderlaufen809. Eine sachliche Unbilligkeit lässt sich daher nicht feststellen. Auch aus verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten ergibt sich nichts anderes. Im Ergebnis kann der Ansicht des BFH in diesen Fällen zugestimmt werden810.

F. Bedeutung von Verwaltungsanweisungen für den Billigkeitserlass

Untersucht werden soll hier die Bedeutung, die der BFH den Verwaltungsanweisungen für den Erlass von Steuern aus Billigkeitsgründen zumisst.

I. Grundlegendes zur Rechtsnatur der Verwaltungsvorschriften

Die Verwaltungsvorschriften werden von Behörden aufgrund ihrer Weisungskompetenz erlassen und richten sich an unterstellte weisungsgebundene Verwaltungsorgane811. Grundsätzlich haben Verwaltungsvorschriften einen generell-abstrakten Charakter812. Sie besitzen im Gegensatz zu Gesetzen oder Rechtsverordnungen jedoch keine allgemeine Bindungswirkung. Sie begründen keinerlei Rechten oder Pflichten für den Bürger813. Verbindliche Wirkung entfalten sie nach herrschender Auffassung nur im

806 Dazu Tipke/Lang, § 14 Rdnr. 3. 807 Zu dieser Problematik speziell in der Insolvenz vgl. Boochs/Dauernheim, Rdnr. 64 ff. 808 BFH v. 10. November 1983 V R 91/80 in BStBl. II 1984, 120 (121) = BFHE 139, 319. 809 Vgl. dazu auch Weiß, UR 1984, 13. 810 So auch Weiß, UR 1984, 13. 811 Wolff/Bachof/Stober, Band 1, § 24 Rdnr. 25; Maurer, § 24 Rdnr. 1. 812 Maurer, § 24 Rdnr. 1. 813 Maurer, § 24 Rdnr. 17.

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staatlichen Innenbereich814. Da die gebundenen Organe aber nach außen rechtswirksame Handlungen vornehmen, kommt es zu einer mittelbaren Außenwirkung der Verwaltungsvorschriften. Die Außenwirkung ergibt sich zudem aus dem Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung, der aus dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG resultiert815. Diese Außenwirkung stellt aber lediglich einen Reflex der internen Regelung dar.

II. Typisierung der Verwaltungsvorschriften

Die Verwaltungsvorschriften werden allgemein in verschiedene Untergruppen eingeordnet. Zum besseren Verständnis und zur Klärung der Einordnung der im Rahmen der §§ 163, 227 AO erlassenen Verwaltungsvorschriften soll diese Klassifizierung hier kurz dargestellt werden.

1. Organisationsvorschriften

Die Organisationsvorschriften regeln die innere Organisation der Behörden816. Die innere Organisation umfasst den Aufbau der Verwaltungseinheit ebenso wie die internen Abläufe817. Beispielhaft angeführt seien hier Vorschriften zur Geschäftsverteilung, zur Zuständigkeit, Verfahrensvorschriften und Geschäftsordnungen.

2. Norminterpretierende Verwaltungsvorschriften

Die norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften legen die Auslegung von Rechtnormen fest818. Sie werden daher auch als Auslegungserlasse oder Auslegungsrichtlinien bezeichnet. Die Funktion der norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften ist es dabei insbesondere, bei Vorliegen unbestimmter Rechtsbegriffe eine verbindliche Interpretation festzulegen819. Ständig auftretende

814 Klein, FS Forsthoff, S. 163 (175 ff.); Maurer, § 24 Rdnr. 16; grundlegend zu dieser Abgrenzung

und zum Meinungsstand Rogmann, S. 29 ff.; auf das Problem der Außenwirkung kann hier nicht näher eingegangen werden.

815 Wolff/Bachof/Stober, Band 1, § 24 Rdnr. 27 ff. 816 Maurer, § 24 Rdnr. 8; ausführlich dazu Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz,

S. 250 ff. 817 Rogmann, S. 16. 818 Maurer, § 24 Rdnr. 9; Rogmann, S. 19; Büchter-Hole, EFG 2002, 952 (952). 819 Maurer, § 24 Rdnr. 9; Rogmann geht sogar davon aus, dass norminterpretierende

Verwaltungsvorschriften nur bei unbestimmten Rechtsbegriffen Anwendung finden, Rogmann, S. 19.

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juristische Fragen sollen so einfacher und schneller geklärt werden. Den mit einem konkreten Sachverhalt befassten Amtswaltern sollen einheitliche und klare Kriterien an die Hand gegeben werden. Der Auslegungsvorgang wird vereinheitlicht und rationalisiert820. So wird die Tätigkeit der Verwaltung erleichtert. Dies kommt nicht nur den Verwaltungsbediensteten zugute, sondern grundsätzlich auch dem Bürger, der mit einer kürzeren Verfahrensdauer rechnen kann. Die einheitliche Interpretation von Normen aufgrund von Verwaltungsvorschriften hat aber auch einen über die bloße Vereinfachung hinausgehenden Effekt. Widersprüche im staatlichen Auftreten gegenüber dem Bürger durch unterschiedliche Beurteilung analoger Sachverhalte werden vermieden. Das Prinzip der Einheit der Verwaltung und der Gleichheitssatz können so gewährleistet werden821.

3. Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften

Teilweise werden von den norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften die sogenannten normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften als neue Variante unterschieden. Diese Gruppe ist allerdings noch nicht allgemein anerkannt822; trotzdem soll sie hier kurz dargestellt werden. Die Besonderheit der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften ist es, dass diese aufgrund gesetzlicher Ermächtigung unbestimmte Rechtsbegriffe oder „offene“ gesetzliche Tatbestände konkretisieren und im Gegensatz zu den norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften gerichtlich nur begrenzt überprüft werden können823. In Abgrenzung zu den norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften geht es nicht um eine Umschreibung des Konkretisierungsspektrums; vielmehr werden die innerhalb des Konkretisierungsspielraums der Behörde liegenden Fallgestaltungen aus dem abstrakten Tatbestand einer Norm hergeleitet824. Die Bedeutung der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften beschränkt sich sachlich auf den Bereich des Umwelt- und technischen Sicherheitsrechtes825. Im Steuerrecht kommt ihnen dagegen keine Bedeutung zu.

820 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 284. 821 Rogmann, S. 19 f.; Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 284. 822 Vgl. dazu Maurer, § 24 Rdnr. 9. 823 So Maurer, § 24 Rdnr. 25a. 824 Gusy, DVBl. 1987, 497 (500). 825 BVerwG v. 28. Oktober 1998 8 C 16.96, BVerwGE 107, 338 (340 f); Rogmann, S. 20.

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4. Typisierende Verwaltungsvorschriften

Die typisierenden Verwaltungsvorschriften sind sowohl in ihrem Bestand als auch in ihrer Abgrenzung umstritten826. Einigkeit besteht insoweit, als dass Verwaltungsvorschriften umfasst werden, die eine Pauschalisierung, Schätzung oder anderweitige standardisierte Bewertung vornehmen827. AfA-Tabellen, Richtsatzsammlungen, Bagatellrichtlinien und Durchschnittssätze lassen sich als Beispiele für typisierende Verwaltungsvorschriften anführen828. Wie bereits diese Zusammenstellung zeigt, haben die typisierenden Verwaltungsvorschriften gerade im Steuerrecht große Bedeutung, aber auch in anderen Bereichen des öffentlichen Rechts sind sie anzutreffen829. Die Fallgruppen, die allgemein als typisierende Verwaltungsvorschriften bezeichnet werden, sind äußerst heterogen830. Eine exakte Definition ist daher nur schwer möglich. Es kann aber festgehalten werden, dass die typisierenden Verwaltungsvorschriften zur Vereinfachung der Sachverhaltsermittlung bei unbestimmten Gesetzesbegriffen feste Werte ansetzen, die auf Schätzungen, Erfahrungen oder der Ermittlung eines repräsentativen Durchschnitts beruhen. Den Behörden soll auf diese Weise die Aufklärung des relevanten Sachverhaltes erleichtert werden, im Einzelfall findet sogar eine Entbindung von der Pflicht zur Sachaufklärung statt831.

5. Ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften

Die ermessenslenkenden oder auch Ermessensrichtlinien genannten Verwaltungsvorschriften legen fest, in welcher Weise die Verwaltung ein ihr eingeräumtes Ermessen ausüben soll832. Sie dienen dem Zweck, durch zentrale Steuerung eine einheitliche und gleichmäßige Handhabung des Ermessens in einer Vielzahl verschiedener Fälle zu erreichen833. Grundsätzlich können sowohl das Entschließungs- als auch das Auswahlermessen durch Ermessensrichtlinien gesteuert werden834. Häufig werden die ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften unterteilt in

826 Auf den genauen Streitstand kann hier nicht näher eingegangen werden, vgl. dazu nur Rogmann,

S. 23; Tipke/Kruse, § 4 AO Rdnr. 87; Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 346 ff.

827 Rogmann, S. 23. 828 Osterloh, S. 451; dazu auch Leisner, S. 48 ff. 829 Rogmann, S. 24. 830 Osterloh, S. 451. 831 Speziell zum Steuerrecht und zum § 88 AO vgl. Tipke/Kruse, § 4 AO Rdnr. 87. 832 Maurer, § 24 Rdnr. 10; Rogmann, S. 16; ausführlich dazu Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften

und Grundgesetz, S. 323 ff. 833 Hamann, VerwA Bd. 73, 28 (28); Maurer, § 24 Rdnr. 10. 834 Als Beispiel für Verwaltungsvorschriften, die das Entschließungsermessen lenken, werden häufig

die Nichtanwendungserlasse angeführt; vgl. dazu Rogmann, S. 16.

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gesetzesakzessorische und gesetzesvertretende Richtlinien, wobei letztere auch als gesetzesfreie Verwaltungsvorschriften bezeichnet werden835. Die gesetzesakzessorischen Verwaltungsvorschriften setzen ein Gesetz voraus, welches der Verwaltung einen Ermessensspielraum einräumt. Im Rahmen des durch die formelle Norm festgelegten Ermessensbereiches regeln dann die gesetzesakzessorischen Verwaltungsvorschriften die Ausübung des Ermessens.

Die gesetzesvertretenden Ermessensrichtlinien steuern die Entscheidungen der öffentlichen Hand in Bereichen, in denen keine formellgesetzliche Normierung vorliegt836. Dies sind typischerweise die Bereiche der Leistungsverwaltung, namentlich das Recht der Subventionsvergabe. Die Subventionen werden aufgrund des Haushaltsplanes zur Verfügung gestellt, der Bestandteil eines formellen Haushaltsgesetzes ist. Die Präzisierung der Subventionszwecke und die Vergabe der Mittel ist dann der Exekutive überlassen837. Im Steuerrecht, das Teil der Eingriffsverwaltung des Staates ist, spielen die gesetzesvertretenden Ermessensrichtlinien grundsätzlich keine Rolle, da es aufgrund des Vorbehaltes der Gesetzes und des daraus resultierenden steuerlichen Legalitätsprinzips zum Tätigwerden der Finanzverwaltung stets eines formellen Gesetzes bedarf838.

III. Im Rahmen der §§ 163, 227 AO erlassene Verwaltungsanweisungen als Ermessensrichtlinien

Nach der Darstellung der Klassifizierung der Verwaltungsanweisungen stellt sich die Frage, welcher Kategorie die von der Finanzverwaltung erlassenen Billigkeitsrichtlinien zugehörig sind. Betrachtet man die Vorschriften als Ermessensnormen, kann es sich bei den Richtlinien, die im Rahmen dieser Normen ergehen, nur um Ermessensrichtlinien handeln. Etwas anderes könnte gelten, wenn die §§ 163, 227 AO nicht als Ermessensnormen anzusehen wären.

1. Billigkeitsvorschriften als Koppelungsvorschriften oder einheitliche Ermessensnormen?

Ein geradezu klassischer Streit im Rahmen der §§ 163, 227 AO entspannt sich um die Frage, ob es sich bei den Billigkeitsvorschriften um einheitliche Ermessensnormen oder

835 Rogmann, S. 17. 836 Wolff/Bachof/Stober, Band 1 § 24 Rdnr. 16; eingehend zu dieser Problematik und zur Wahrung der

legislativen Rechte Götz, S. 295 f. 837 Rogmann, S. 18. 838 Dazu Tipke/Lang, § 4 Rdnr. 157 ff.

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eine Koppelung von unbestimmtem Rechtsbegriff und einem der Finanzverwaltung eingeräumten Auswahlermessen handelt.

a) Koppelungsnorm

Ausgangspunkt der Auffassung, es handele sich bei den §§ 163, 227 AO um Koppelungsnormen, ist die Analyse des Textes der Normen. Bei Vorliegen einer Unbilligkeit sind die Finanzbehörden ermächtigt, tätig zu werden. Sie „können“ Steuern niedriger festsetzen (§ 163 AO) oder Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder teilweise erlassen (§ 227 AO). Dies kann so aufgefasst werden, dass bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzung „Unbilligkeit“ sich der Verwaltung auf der Rechtsfolgenseite ein Ermessensspielraum eröffnet. Sie kann in einem solchen Fall nach ihrem Ermessen entscheiden, ob sie einen Erlass gewährt oder nicht. In der Tatbestandsvoraussetzung „Unbilligkeit“ wäre in diesem Fall ein unbestimmter Rechtsbegriff zu sehen, da der Inhalt dieses Begriffes nicht durch einen eindeutigen und fest umrissenen Sachverhalt ermittelt werden kann839. Erst wenn die Voraussetzungen des unbestimmten Rechtsbegriffes „Unbilligkeit“ vorliegen, wäre dann der Ermessensspielraum der Verwaltung eröffnet. Den entsprechenden Verwaltungsbehörden steht ein sogenanntes Folgeermessen zu, sie „können“ dann einen Erlass vornehmen. Ein unbestimmter Rechtsbegriff wäre dann in einer einheitlichen Norm mit dem Ermessen der Verwaltung gekoppelt. In einer solchen Konstellation wird daher auch von einer Koppelungsvorschrift oder einem Mischtatbestand gesprochen840. Die Ansicht, dass es sich bei den §§ 163, 227 AO um solche Koppelungsvorschriften aus unbestimmtem Rechtsbegriff und Ermessensspielraum handelt, wird von einem Großteil der Literatur vertreten841.

b) §§ 163, 227 AO als einheitliche Ermessensnormen

Eine andere Auffassung geht davon aus, dass im Falle der Billigkeitsvorschriften der §§ 163, 227 AO eine Trennung von unbestimmtem Rechtsbegriff und Ermessensausübung nicht möglich sei842. Es handele sich bei beiden Normen um

839 Vgl. Maurer, § 7 Rdnr. 27 f. 840 Allgemein dazu Maurer, § 7 Rdnr. 48 ff.; Jestaedt in Erichsen/Ehlers, § 10 Rdnr. 15; Bachof, JZ

1972, 641 (644 f). 841 Tipke/Kruse, § 227 AO Rdnr. 23; von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 114;

Maurer, § 7 Rdnr. 50; Kruse, StuW 1960, Sp. 477 (479); Stein, S. 86; Steinhauer, S. 148; ähnlich Rüsken in Klein, § 163 Rdnr. 118; Waiblinger, S. 58 ff; Becker, Steuererlass, S. 54 ff.

842 So der gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes in einem Beschluss vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70 in BStBl. II 1972, 603 (607) = BFHE 105, 101; seitdem ständige Rechtsprechung des BFH, vgl. BFH v. 16. Juli 1997 XI R 32/96 in BStBl. II 1998, 7 (8) =

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einheitliche Ermessensvorschriften. Zur Begründung wird angeführt, es mache keinen Sinn, der Finanzbehörde nach Erfüllung bestimmter, gerichtlich voll nachprüfbarer Tatbestandsmerkmale die Herrschaft über die Rechtsfolge einzuräumen843. Die Entscheidung über den Erlass stehe letztlich doch im Ermessen der Verwaltung, die Vorschaltung eines unbestimmten Rechtsbegriffes, dessen Voraussetzungen erfüllt sein müssten, sei daher unsinnig. Des Weiteren wird auf die Entstehungsgeschichte des § 131 RAO verwiesen, auf den die aktuellen Vorschriften zurückgehen844. Dieser sei vom historischen Gesetzgeber als einheitliche Ermessensvorschrift konzipiert worden. Ein weiterer Gesichtspunkt ist, dass die Billigkeit generell bei der Ausübung des Ermessens eine bedeutende Rolle spielt. Bei einer Trennung der Billigkeitsvorschrift in einen unbestimmten Rechtsbegriff „unbillig“ und eine Rechtsfolge, die der Verwaltung ein Ermessen einräumt, würde daher zweimal der Terminus der Billigkeit bemüht. Es sei aber nicht zweckmäßig, von zwei getrennten Begriffen der Billigkeit innerhalb einer Norm auszugehen845. Diese beiden verschmelzen daher gewissermaßen zu einer einheitlichen Billigkeitsentscheidung. Nach dieser Ansicht ist der Ermessensspielraum aber in besonderer Weise eingeschränkt. Der Begriff der Unbilligkeit rage nämlich in den Ermessensbereich hinein und bestimme damit zugleich Inhalt und Grenzen des pflichtgemäßen Ermessens846.

c) Konsequenzen der unterschiedlichen Auffassungen

Die Konsequenzen der unterschiedlichen Ansichten zeigen sich primär bei der Frage der gerichtlichen Überprüfbarkeit von Entscheidungen der Finanzverwaltung. Die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffes durch die Verwaltung unterliegt in einem Prozess grundsätzlich der vollen Überprüfbarkeit durch die Organe der Judikative847.

BFHE 184, 193; BFH v. 9. Juli 2003 V R 57/02 in BStBl. II 2003, 901 (902) = BFH/NV 2003, 1620; Kühn/von Wedelstädt, § 227 AO Anm. 2, 50; Stöcker in Beermann/Gosch, § 227 AO Rdnr. 123; ähnlich Bachof, JZ 1972, 641 (644); Dyckhoff, S. 58 ff.

843 So Stöcker in Beermann/Gosch, § 227 AO Rdnr. 123. 844 Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes v. 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70 in

BStBl. II 1972, 603 (606) = BFHE 105, 101. 845 Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes v. 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70 in

BStBl. II 1972, 603 (607) = BFHE 105, 101. 846 So der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes v. 19. Oktober 1971 GmS-OGB

3/70 in BStBl. II 1972, 603 (607) = BFHE 105, 101. 847 So zumindest die Rechtsprechung, vgl. die Urteile des BVerwG v. 25. November 1993 3 C 38.91

in BVerwGE 94, 307 (309) und v. 21. Dezember 1995 3 C 24.94 in BVerwGE 100, 221 (225). Zu dem Widerspruch mit der Entscheidung des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes v. 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70 in BStBl. II 1972, 603 = BFHE 105, 101 vgl. Schenke, Rdnr. 769. Auch ein großer Teil der Lehre teilt diese Ansicht: Czermak, JuS 1968, 399 (400 ff.); von Olshausen, JuS 1973, 217 (22 f); Rupp, S. 213 ff. Eine andere Ansicht vertreten allerdings Bachof, JZ 1955, 97 (98 f) und Ule, S. 9. Diese Problematik kann hier nicht näher erörtert werden, hierzu sei auf die Darstellungen bei Maurer, § 7 Rdnr. 31 ff., und Schenke, Rdnr. 748 ff., verwiesen.

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Unter der Prämisse, der Begriff „unbillig“ in den Dispensvorschriften der AO sei ein unbestimmter Rechtsbegriff, können daher die Finanzgerichte zumindest feststellen, ob die Voraussetzungen für ein Handeln der Finanzverwaltung gegeben waren. Nimmt man dagegen an, die Billigkeitsvorschriften seien Grundlage für eine einheitliche Ermessensentscheidung durch die Finanzverwaltung, ändert sich die Überprüfungsmöglichkeit der Gerichte. Unter dieser Annahme können entsprechende Entscheidungen der Finanzbehörden lediglich darauf überprüft werden, ob Ermessensfehler vorliegen848.

2. Erheblichkeit des Meinungsstreites?

Zu klären ist allerdings, inwieweit die Frage, ob es sich bei den Vorschriften um einen Mischtatbestand aus unbestimmtem Rechtsbegriff und Verwaltungsermessen oder um eine einheitliche Ermessensnorm handelt, entscheidend ist für die Klassifizierung der zu diesen Vorschriften ergangenen Verwaltungsanweisungen.

a) Einordnung bei Vorliegen einer einheitlichen Ermessensvorschrift

Hält man mit der Rechtsprechung und einem Teil der Literatur die §§ 163, 227 AO für einheitliche Ermessensnormen, ist die Einordnung dieser Verwaltungsanordnungen unproblematisch. Eine normkonkretisierende oder norminterpretierende Verwaltungsvorschrift kann in diesem Fall nicht vorliegen, da die einschlägigen Normen nach dieser Ansicht weder einen unbestimmten Rechtsbegriff noch sonst einen näher konkretisierten Tatbestand besitzen. Da nach dieser Ansicht die §§ 163 und 227 AO sich in einer reinen Ermessensvorschrift erschöpfen, kommt lediglich die Einordnung in die Kategorie der ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften in Betracht.

b) Einordnung im Fall der Klassifizierung der §§ 163, 227 AO als Mischtatbestand

Anders könnte die Frage nach der Einordnung der zu den Billigkeitsvorschriften ergangenen Verwaltungsvorschriften zu beantworten sein, wenn man mit der herrschenden Lehre davon ausgeht, dass die §§ 163, 227 AO einen Mischtatbestand aus unbestimmtem Rechtsbegriff und Folgeermessen darstellen. In diesem Fall könnte es sich bei den Verwaltungsrichtlinien grundsätzlich nicht nur um Ermessenrichtlinien

848 BFH v. 9. Juli 2003, V R 57/02 in BStBl. II 2003, 901 (902) = BFH/NV 2003, 1620; vgl. dazu

auch Schenke, Rdnr. 735 ff.; Maurer, § 7 Rdnr. 19.

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handeln, die das Folgeermessen regeln; vielmehr wäre es auch möglich, dass der unbestimmte Rechtsbegriff der Unbilligkeit durch norminterpretierende oder normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften näher ausgefüllt wird. Zur Klärung dieser Frage bedarf es einer näheren Auseinandersetzung mit der dogmatischen Konstruktion der herrschenden Auffassung in der Literatur. Nach dieser Ansicht bestehen die Vorschriften aus einem unbestimmten Rechtsbegriff „unbillig“ und einem der Verwaltung eingeräumten Ermessen, wenn die Voraussetzungen des unbestimmten Rechtsbegriffes erfüllt sind. Ein Handeln der Finanzbehörden kann es nur in dem Rahmen geben, der ihnen vom Gesetz eingeräumt wurde. Jeder Erlass setzt daher eine vorgeschaltete Ermessensentscheidung der Verwaltung voraus. Verwaltungsvorschriften, die nachgeordnete Behörden zum Erlass von Steuern anweisen, haben damit, auch wenn man der Ansicht der herrschenden Auffassung in der Literatur folgt, zumindest teilweise ermessenslenkenden Charakter.

Die Anweisung, unter bestimmten Umständen einen Erlass von Steuern zu gewähren, würde nach dieser Ansicht aber auch die Feststellung umfassen, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des unbestimmten Rechtsbegriffes erfüllt sind, da ansonsten der Ermessensspielraum der Verwaltung nicht eröffnet wäre. Dennoch ist dieser Bestandteil der Verwaltungsvorschriften nur ein Annex des angeordneten Verwaltungshandelns. Der entscheidende Faktor ist vielmehr die Anordnung, in einem bestimmten Fall den Erlass auszusprechen. Daher ist davon auszugehen, dass auch nach den Autoren, die in den §§ 163, 227 AO einen Mischtatbestand aus unbestimmtem Rechtsbegriff und Verwaltungsermessen sehen, die Verwaltungsvorschriften zu den Billigkeitsnormen als ermessenslenkende Verwaltungsrichtlinien anzusehen sind849.

c) Einheitliche Klassifizierung als ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften

Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass es für die Bestimmung des genauen Charakters der Verwaltungsvorschriften nicht relevant ist, ob man die §§ 163, 227 AO als Mischtatbestände aus unbestimmtem Rechtsbegriff und Ermessensspielraum oder als einheitliche Ermessensnorm ansieht. In jedem Fall kann davon ausgegangen werden, dass die Verwaltungsvorschriften ermessenslenkender Natur sind. Bei den zu den Billigkeitsnormen ergangenen Verwaltungsanweisungen handelt es sich daher um Ermessensrichtlinien.

849 Ähnlich Tipke/Kruse, § 227 AO Rdnr. 128; vgl. dazu auch von Groll in

Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 202; Kühn/von Wedelstädt, § 227 AO Anm. 53.

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IV. Die Wirkung der zu den Billigkeitsregelungen ergangenen Verwaltungsvorschriften in der Rechtsprechung des BFH

Zu untersuchen ist, welche Wirkung der BFH den zu den Billigkeitsregelungen ergangenen Verwaltungsvorschriften zumisst.

1. Darstellung der Fallgruppen

Die Ermessensrichtlinien der obersten Finanzbehörden können in unterschiedlicher Weise relevant werden. In der Regel handelt es sich um Fälle, in denen ein Billigkeitsantrag des Steuerpflichtigen mit der Begründung abgelehnt wird, der angeführte Sachverhalt falle nicht unter den Tatbestand einer Ermessensrichtlinie850. Daraufhin wird der Klageweg zu den Finanzgerichten beschritten. Des Weiteren kann es sich um Fälle handeln, die zwar unstrittig nicht unter den Tatbestand der Richtlinie fallen, bei denen sich der Steuerpflichtige aber darauf beruft, er dürfe nicht schlechter behandelt werden als derjenige, bei dem die Voraussetzungen vorliegen851.

2. Ausgangspunkt der Rechtsprechung

Der § 131 der bis 1977 geltenden RAO enthielt in seinem zweiten Absatz die ausdrückliche Ermächtigung zum Erlass von Richtlinien852. Auf diese Vorschrift stützen sich daher die Verwaltungsanordnungen bis zum In-Kraft-Treten der aktuellen AO. Im Folgenden soll primär die Frage der Bindungswirkung dieser Verwaltungsanweisungen behandelt werden.

a) Richtlinien entfalten grundsätzlich keine Bindungswirkung gegenüber der Judikative

Bereits in den fünfziger Jahren wurde in den ersten Entscheidungen des BFH, in denen Verwaltungsanordnungen eine Rolle spielten, vom V. Senat des BFH festgehalten, die Finanzgerichte seien durch Richtlinien nicht gebunden853. Die Richtlinien seien nicht

850 Dazu schon der BFH v. 27. März 1958 V z 181/57 U in BStBl. III 1958, 248 = BFHE 67, 31; BFH

v. 7. November 1996 IV R 69/95 in BStBl. II 1997, 245 = BFHE 182, 56. 851 So beispielsweise im Fall BFH v. 10 Juli 1962 VII 93/61 in BFHE 75, 615. 852 Zur historischen Entwicklung und den Änderungen der Vorschriften, insbesondere des

§ 131 Abs. 2 RAO und zum Außerkrafttreten der §§ 12, 13 RAO siehe S. 20 ff. 853 BFH v. 9. Mai 1957 IV 383/55 U in BStBl. III 1957, 291 (292) = BFHE 65, 151; BFH v. 27. März

1958 V z 213/57 U in BStBl. III 1958, 284 (285) = BFHE 67, 31; BFH v. 27. März 1958 V z 181/57 U in BStBl. III 1958, 248 (249) = BFHE 66, 647.

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auslegungsfähig durch die Gerichte und seien von diesen im Rahmen der für Ermessensentscheidungen geltenden Schranken voll überprüfbar854. Später wird vom I. Senat des BFH ausgeführt, Verwaltungsanordnungen schüfen kein unmittelbares Recht855. Eine nähere Begründung ist in den frühen Entscheidungen des BFH zu diesem Themenkomplex nicht zu finden. Dies kann als Indiz für den axiomatischen Charakter der Annahme fehlender Bindungswirkung gegenüber der Judikative gewertet werden. Festzuhalten bleibt, dass die Finanzgerichte nach Auffassung des BFH grundsätzlich nicht an Verwaltungsanordnungen gebunden sind.

b) Mögliche mittelbaren Bindung der Gerichte durch die Verwaltungsanweisungen

Schon in den ersten Entscheidungen in diesem Zusammenhang wird allerdings ein Gesichtspunkt angesprochen, unter dem die Ermessensrichtlinien der obersten Verwaltungsbehörden auch für die Rechtsfindung der Judikative von Bedeutung sein können. Es wird, obwohl die Verwaltungsanordnungen keine unmittelbare Bindungswirkung für die Gerichte entfalten, davon gesprochen, dass sie auch für die Rechtsfindung der Judikative von Bedeutung sein können856. Voraussetzung sei allerdings, dass sich die Ermessensrichtlinien der Verwaltung im Rahmen des § 131 RAO bewegen857. Auf die Reichweite der „Bedeutung“ wird dabei zunächst nicht näher eingegangen. Bei der Begründung, warum die Verwaltungsanweisungen für die Rechtsfindung der Finanzgerichte von Bedeutung sein könnten, werden zwei verschiedene Ansätze präsentiert.

aa) Selbstbindung der Verwaltung

Zur Begründung führt der V. Senat des BFH aus, die Richtlinien spiegelten die Grundsätze wider, die eine lange Ermessensausübung hervorgebracht habe858. Rekurriert wird hier auf den Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung. Nach diesem Prinzip ist die Verwaltung verpflichtet, eine ständige, gesetzmäßige Verwaltungspraxis fortzuführen. Eine Abweichung von dieser geübten Praxis ohne besonderen sachlichen Grund würde gegen den Gleichheitssatz verstoßen und den betroffenen Bürger in seinen Rechten aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzen859. So deutet der BFH an, unter welchem die Verwaltungsvorschriften für die Entscheidungsfindung der Finanzgerichte entscheidend 854 BFH v. 27. März 1958 V z 181/57 U in BStBl. III 1958, 248 (249) = BFHE 66, 647. 855 BFH v. 14. August 1958 I 39/57 U in BStBl. III 1958, 409 (411) = BFHE 67, 354. 856 BFH v. 27. März 1958 V z 181/57 U in BStBl. III 1958, 248 (249) = BFHE 66, 647. 857 BFH v. 14. August 1958 I 39/57 U in BStBl. III 1958, 409 (411) = BFHE 67, 354. 858 BFH v. 27. März 1958 V z 181/57 U in BStBl. III 1958, 248 (249) = BFHE 66, 647. 859 Dazu und zur Problematik der mittelbaren Außenwirkung von Verwaltungsvorschriften Maurer,

§ 24 Rdnr. 21.

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sein können. Wenn die Ermessensrichtlinien eine beständige, legale Verwaltungspraxis bezüglich der Ermessensausübung im Rahmen der Billigkeitsnormen reflektieren, würde ein Abweichen von dieser Praxis den betroffenen Bürger in seinen Grundrechten verletzen. In einem solchen Fall wären auch die Gerichte durch die ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften gebunden860.

bb) Bindung nach dem Grundsatz von Treu und Glauben

Der I. Senat des BFH gibt noch einen anderen Impuls zur Begründung einer weitreichenden Bedeutung von Verwaltungsanordnungen auch im gerichtlichen Verfahren. Zwar stellen nach Ansicht dieses Senats die Verwaltungsanweisungen keine Rechtsnormen dar und seien daher für die Steuergerichte nicht bindend. Der das Steuerrecht beherrschende Grundsatz von Treu und Glauben gebiete aber, nicht inhaltlich von allgemein bekannten Richtlinien abzuweichen861. Dieser Ausgangspunkt wird in späteren Entscheidungen des BFH aber nicht weiter verfolgt.

3. Weitere Entwicklung der Rechtsprechung zu diesem Problem im Rahmen des § 131 RAO

Die Rechtsprechung des BFH zum Problem der Wirkung von Verwaltungsvorschriften entwickelte sich noch unter der Ägide des § 131 RAO weiter.

a) Grundsätzliche Bindungswirkung gegenüber den Finanzgerichten

Die Bindungswirkung von Verwaltungsvorschriften gegenüber den Finanzgerichten stand dabei im Mittelpunkt der Entwicklung.

aa) Stellungnahme des BVerfG

Anfang des Jahres 1961 nahm das BVerfG zu der Frage Stellung, ob Verwaltungsanordnungen auch die Gerichte binde862. Festgehalten wurde, dass die

860 Dies wird auch unter dem Begriff der mittelbaren Außenwirkung von Verwaltungsanweisungen

behandelt, vgl. dazu Maurer, § 24 Rdnr. 21. 861 BFH v. 14. August 1958 I 39/57 U in BStBl. ΙII 1958, 409 (411) = BFHE 67, 354; ähnlich schon

BFH v. 9. Mai 1957 IV 383/55 U in BStBl. III 1957, 291 (292) = BFHE 65, 151; vgl. zu diesen Urteilen und zum damaligen Streitstand auch Kruse, StuW 1960, Sp. 477 (488 ff.) und Bachmayr, StuW 1958, Sp. 561 (562 ff.).

862 BVerfG v. 21. Februar 1961 1 BvR 314/60 in BStBl. I 1961, 63.

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Finanzgerichte nicht an verwaltungsinterne Weisungen gebunden sind. Vielmehr hätten die Gerichte selbständig über die Vereinbarkeit dieser Richtlinien mit dem Grundgesetz und dem einfachen Gesetz zu entscheiden863. Die Entscheidung bindet nach § 31 Abs. 1 BVerfGG sämtliche Gerichte, also auch die Finanzgerichte inklusive des BFH.

bb) Auffassung des BFH

Im Widerspruch zu dem Urteil des BVerfG und den oben aufgezeigten Grundsätzen des BFH scheinen einige Urteile der frühen sechziger Jahre zu stehen. Anzuführen wäre zunächst eine Entscheidung des I. Senats des BFH vom Mai 1961. Im Leitsatz ist zunächst von einer Bindungswirkung von Verwaltungsanordnungen auch gegenüber den Finanzgerichten die Rede864. Im Text der Entscheidung wird dann allerdings klargestellt, dass von der Bindung nur die Finanzbehörden betroffen sind865. Ein weiteres Urteil spricht davon, Richtlinien des Bundesfinanzministeriums könnten den Finanzgerichten nicht immer als Material zur Rechtsfindung dienen866. Dies könnte im Umkehrschluss implizieren, dass diese Verwaltungsanweisungen zum Teil auch die Finanzgerichte binden. Diese Formulierung wurde allerdings gewählt, um der Rechtsansicht des erstinstanzlichen Finanzgerichts, welches offensichtlich von einer generellen Bindungswirkung der Richtlinien für die Gerichte ausgegangen war, entgegenzutreten867.

Auch wenn diese Urteile im Ergebnis keine die Finanzgerichte bindende Wirkung der Richtlinien annehmen, sind sie doch in der Wortwahl zurückhaltend. Eine eindeutige Feststellung, die Verwaltungsanweisungen könnten ob ihrer Rechtsnatur keine die Judikative bindende Wirkung entfalten, fehlt. Dies erklärt auch, dass in späteren Urteilen teilweise auf eine frühere Rechtsprechung des BFH Bezug genommen wird, nach der auch Verwaltungsanordnungen rechtsnormähnlichen Charakter und damit Bindungswirkung gegenüber den Finanzgerichten zukommt868. Wie oben gezeigt wurde, sind die betreffenden Urteile des BFH trotz ihrer missverständlichen Formulierung allerdings nicht in diesem Sinne zu verstehen. In späteren Entscheidungen setzt sich dann wieder die explizite Formel durch, nach der Verwaltungsanweisungen die Finanzgerichte nicht binden können869. Die Formel wurde Allgemeingut und in

863 BVerfG v. 21. Februar 1961 1 BvR 314/60 in BStBl. I 1961, 63 (68). 864 BFH v. 2. Mai 1961 I 228/59 U in BStBl. III 1961, 338 = BFHE 73, 194. 865 BFH v. 2. Mai 1961 I 228/59 U in BStBl. III 1961, 338 (340) = BFHE 73, 194. 866 BFH v. 10. Juli 1962 VII 93/61 U in BFHE 75, 615 (617 f). 867 Vgl. dazu BFH v. 10. Juli 1962 VII 93/61 U in BFHE 75, 615 (617 f). 868 So der III. Senat des BFH für den Fall von Verwaltungsanordnungen im Bereich des

Lastenausgleichsgesetzes BFH v. 11. August 1967 III 106/64 in BStBl. II 1968, 26 (27) = BFHE 90, 187.

869 Erstmalig BFH v. 20. November 1964 III 74/60 in BStBl. III 1965, 73 (74).

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einschlägigen Entscheidungen geradezu gebetsmühlenartig wiederholt870. Es lässt sich daher festhalten, dass eine Bindung der Finanzgerichte durch Verwaltungsanordnungen vom BFH generell abgelehnt wird.

b) Wirkung der Verwaltungsanordnungen auf die Entscheidungsfindung der Finanzgerichte aufgrund der Selbstbindung der Verwaltung

Auch wenn eine unmittelbare Bindungswirkung der Verwaltungsanordnungen gegenüber den Gerichten nicht in Frage kommt, stellt sich die Frage, inwiefern die Ermessensrichtlinien für die Urteilsfindung der Finanzgerichte von Bedeutung sein können. Auch nach dem oben angeführten Urteil des BVerfG hält der BFH an der Auffassung fest, die Ermessensrichtlinien der Verwaltung könnten zumindest mittelbar die Entscheidung der Gerichte beeinflussen. Dies geschehe über den Gleichheitssatz, der eine Ungleichbehandlung entsprechender Sachverhalte ohne sachlichen Grund verbiete871. Da in den Verwaltungsanweisungen eine dauernde Verwaltungspraxis zum Ausdruck komme, könne ein Abweichen einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz darstellen.

c) Bedeutung der dargestellten Grundsätze für den BFH

Die scheinbar widersprüchlichen Prämissen, einerseits die der grundsätzlichen Nichtbindung der Gerichte durch Verwaltungsanordnungen, andererseits der Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung, der zumindest eine mittelbare Bindung der Finanzgerichte an die Ermessensrichtlinien nahe legt, wurden vom BFH miteinander verknüpft. Die Ergebnisse dieser Synthese bestimmen die Auffassung des BFH zur Wirkung von Verwaltungsanordnungen im Rahmen des § 131 RAO. Diese soll im Folgenden dargestellt werden.

aa) Prüfung von Ermessensentscheidungen, die auf Verwaltungsanordnungen beruhen

870 So beispielsweise BFH v. 23. April 1965 III 141/61 U in BStBl. III 1965, 540 (541) = BFHE 83,

110; BFH v. 13. September 1968 III R 20/67 in BStBl. II 1969, 29 (30) = BFHE 94, 75; BFH v. 28. März 1969 III 224/65 in BStBl. II 1969, 567 (568) = BFHE 96, 186; BFH v. 17. Oktober 1969 III 240/65 in BStBl. II 1970, 402 (404) = BFHE 98, 287; BFH v. 22. Januar 1971 III R 115/68 in BStBl. II 1971, 357 (358) = BFHE 101, 297; BFH v. 13. Januar 1976 VII R 47/74 in BFHE 118, 3 (4).

871 BFH v. 20. November 1964 III 74/60 U in BStBl. III 1965, 73 (75) = BFHE 81, 205; BFH v. 18. Dezember 1964 IV R 110/68 in BStBl. II 1969, 136 = BFHE 94, 246.

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In Fällen von Ermessensentscheidungen im Rahmen des § 131 RAO, die auf Verwaltungsanweisungen beruhen, entwickelte sich aus den oben dargestellten Grundsätzen ein Prüfungsschema, um die Rechtmäßigkeit dieser Verfügungen zu untersuchen. Innerhalb dieses Musters wurde zunächst die Ermessensrichtlinie der Verwaltung untersucht, bevor danach gefragt wurde, ob sich die Finanzverwaltung im Fall des konkreten Verwaltungsaktes an die Vorgaben dieser Richtlinie gehalten hat.Diese Prüfungsreihenfolge wurde bereits im Jahre 1964 vom III. Senat des BFH angewandt872. Die in diesem Urteil verwendeten Formulierungen wurden später teilweise abgewandelt, dennoch legte diese Entscheidung die Grundlage für die zukünftige Dogmatik.

(1) Prüfung der Verwaltungsanweisung

Im ersten Schritt wird geprüft, ob die Ermessensrichtlinie sich in den Grenzen hält, in denen die Verwaltung zur Ausübung ihres Ermessens befugt ist. Zunächst verwendete der III. Senat des BFH dazu die Formel, es sei zu untersuchen, ob die Verwaltungsanordnung sich innerhalb der Grenzen des Gesetzes halte873. In späteren Entscheidungen wird dieser Terminus teilweise abgewandelt. Häufig wird die Frage gestellt, ob die Verwaltungsanweisung sich innerhalb der Ermessensgrenzen halte874. Zum Teil wird die Formulierung dahingehend erweitert, ob sich die Richtlinie im Rahmen der Grenzen von Gesetz und Ermessen hält875. In anderen Urteilen ist die Rede davon, die Verwaltungsanweisung müsse sich im Rahmen der Billigkeit bewegen876 oder sich an die Grenzen halten, die Grundgesetz und einfaches Gesetz dem Ermessen setzen877.

Fraglich ist, ob die unterschiedlichen Formulierungen inhaltliche Auswirkungen haben oder ob die Abweichungen sich lediglich auf die Wortwahl beschränken. Nach Ansicht des BFH handelt es sich bei der Vorschrift des § 131 RAO um eine einheitliche Ermessensnorm. Die Grenzen, die diese Norm der Verwaltung zieht, sind die Ermessensgrenzen. Im Rahmen dieser Ermessensgrenzen sind Billigkeitsgesichtspunkte zu beachten878. Wenn der BFH daher ausführt, die Verwaltungsanweisung müsse sich

872 BFH v. 18. Dezember 1964 III 299/61 U in BStBl. III 1965, 239 (242) = BFHE 81, 666. 873 BFH v. 18. Dezember 1964 III 299/61 U in BStBl. III 1965, 239 (242) = BFHE 81, 666. 874 So der BFH v. 11. August 1967 III 106/64 in BStBl. II 1968, 26 (27) = BFHE 90, 187; BFH

v. 13. September 1968 III R 20/67 in BStBl. II 1969, 29 (30) = BFHE 94, 75; BFH v. 12. Dezember 1969 III R 33/69 in BStBl. II 1970, 345 (346) = BFHE 98, 206.

875 BFH v. 17. Oktober 1969 III 240/65 in BStBl. II 1970, 402 (404) = BFHE 98, 287. 876 BFH v. 22. Januar 1971 III R 115/68 in BStBl. II 1971, 357 (358) = BFHE 101, 297. 877 BFH v. 3. August 1973 III R 142/72 in BStBl. II 1973, 770 (771) = BFHE 110, 163; ähnlich BFH

v. 3. August 1977 III R 47/75 in BStBl. II 1977, 858 (859) = BFHE 123, 278; BFH v. 7. Oktober 1977 III R 2/74 in BStBl. II 1978, 283 (284) = BFHE 124, 117.

878 So der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes v. 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70 in BStBl. II 1972, 603 (607) = BFHE 105, 101, seitdem ständige Rechtsprechung des BFH.

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im Rahmen der Billigkeit halten, besteht nach Verständnis des BFH eine inhaltliche Übereinstimmung mit der Formulierung, es sei zu prüfen, ob die Verwaltungsanweisung sich innerhalb der Ermessensgrenzen halte. Der Verweis auf den Rahmen von Gesetz und Ermessen kann im Falles des § 131 RAO nur dahingehend verstanden werden, dass sich die Verwaltungsanweisungen im Rahmen dieser Vorschriften bewegen müssen. Da dieser Rahmen aber nach Auffassung des BFH allein durch das Ermessen definiert wird, ist diese Formulierung als einheitlicher Verweis auf den § 131 RAO und das darin der Verwaltung eingeräumte Ermessen zu verstehen.

Dass eine Ermessensentscheidung, die gegen andere einfachgesetzliche Normen oder gar die Verfassung verstößt, nur ermessensfehlerhaft sein kann, ist evident879. Daher können auch diese Formulierungen des BFH nur als Hinweis darauf verstanden werden, dass die Verwaltungsvorschriften auf Ermessensfehler hin zu überprüfen seien. Im Ergebnis liegt trotz der Verwendung divergierender Ausdrücke eine einheitliche Auffassung des BFH vor, nach der die Verwaltungsanweisungen darauf zu überprüfen sind, ob bei ihrer Aufstellung das der Verwaltung im Rahmen des § 131 RAO eingeräumte Ermessen fehlerfrei ausgeübt wurde. Dieses Resultat wird auch durch die Tatsache gestützt, dass derselbe Senat in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang sprachlich unterschiedliche Begriffe verwendet880, ohne auf eine Abweichung von einer vorhergehenden Ansicht einzugehen. Dies kann nur so interpretiert werden, dass die Formulierungen synonym benutzt werden.

Es kann festgehalten werden, dass nach Auffassung des BFH bei Verwaltungsakten, die auf Ermessensrichtlinien zum § 131 RAO beruhen, zunächst zu überprüfen ist, ob die betreffende Verwaltungsanordnung sich im Rahmen des Ermessens hält, das die Billigkeitsvorschrift den Finanzbehörden einräumt.

(2) Prüfung des konkreten Verwaltungsaktes

In einem zweiten Schritt wird der individuell-konkrete Bescheid der Finanzverwaltung bezüglich des Steuererlasses überprüft. Wenn zuvor festgestellt worden ist, dass die Ermessensrichtlinie sich im Rahmen des von § 131 RAO vorgegebenen Ermessens hält, beschränkt sich die Prüfung der Gerichte grundsätzlich darauf, festzustellen, ob die Finanzbehörden die Verwaltungsanweisungen korrekt umgesetzt haben. Die Formulierungen sind nicht einheitlich. Der III. Senat des BFH, der die Rechtsprechung in diesem Bereich entscheidend prägte, variiert die Wortwahl hierzu ständig. Teilweise

879 Näher zu einfachrechtlichen oder verfassungsrechtlichen Ermessensfehlern Alexy, JZ 1986, 701

(709 f); dazu auch Wolff/Bachof/Stober, Band 1, § 31 Rdnr. 44 ff., insbesondere Rdnr. 47. 880 Die große Mehrheit der Urteile zu diesem Kontext gehen auf den III. Senat des BFH zurück. Vgl

dazu die Urteile des BFH v. 18. Dezember 1964 III 299/61 U in BStBl. III 1965, 239 (242) = BFHE 81, 666; BFH v. 11. August 1967 III 106/64 in BStBl. II 1968, 26 (27) und BFH v. 17. Oktober 1969 III 240/65 in BStBl. II 1970, 402 (404).

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wird lediglich von der Prüfung einer richtigen Anwendung der Verwaltungsanordnungen gesprochen881. In anderen Urteilen soll dagegen kontrolliert werden, inwieweit die Verwaltung die Verwaltungsrichtlinien ohne Ermessensverstoß anwandte882. Dies mag auf den ersten Blick überraschen, da die Prüfung des Ermessens bereits im ersten Schritt im Rahmen der Betrachtung der Ermessensrichtlinie erfolgt ist. Teilweise wird auch formuliert, die Gerichte hätten zu eruieren, ob das Finanzamt bei der Anwendung der Verwaltungsanordnung die Grundsätze der Billigkeit hinreichend berücksichtigte883.

Dies lässt sich wiederum mit der Interpretation der Billigkeitsnorm durch den BFH erklären. Der BFH trennte im Rahmen des § 131 RAO nicht die Billigkeitsfrage vom Ermessen. Er sah die Erlassnorm vielmehr als einheitliche Ermessensnorm an. Im Rahmen der Ausübung des Ermessens wurde aber der Begriff der Billigkeit herangezogen. Aufgrund dieser fehlenden Abgrenzung ist davon auszugehen, dass die Formeln „ohne Ermessensverstoß“ und „im Rahmen der Billigkeit“ als identisch angesehen wurden. Dennoch stellt sich die Frage, aus welchem Grund die Überprüfung der Ausübung des Ermessens hier teilweise erneut vorgenommen wird, nachdem bereits bei der Begutachtung der Richtlinie auf diese Frage eingegangen wurde. Grundsätzlich könnte man annehmen, dass jede Entscheidung, die auf einer Richtlinie beruht, die ermessensfehlerfrei nach den Grundsätzen der Billigkeit zustande gekommen ist, ebenfalls keine Ermessensfehler aufweist. Erklären lässt sich dies damit, dass die Verwaltungsanweisung für eine Mehrzahl von Fällen gemacht ist und daher einen gewissen Abstraktionsgrad aufweist. Jede abstrakte Norm kann aber im konkreten Anwendungsfall unbillig sein. Dies ist grundsätzlich auch der Fall bei Vorschriften, die in ihrer generellen Formulierung den Anforderungen der Billigkeit entsprechen. Daher bedarf es unter Umständen wiederum einer Billigkeitskorrektur. Es sind Fälle denkbar, in denen die Erhebung der Steuer unbillig ist, obwohl die Voraussetzungen der Ermessensrichtlinie nicht gegeben sind.

Daher ist nach Auffassung des BFH auch ein Erlass von Steuern möglich, wenn der Tatbestand der Verwaltungsanordnung nicht einschlägig ist884. In einem solchen Fall wäre also ein Erlass auszusprechen, obwohl die Voraussetzungen der Richtlinie

881 So in den Urteilen des BFH v. 18. Dezember 1964 III 299/61 U in BStBl. III 1965, 239 (242) =

BFHE 81, 666; BFH v. 17. Oktober 1969 III 240/65 in BStBl. II 1970, 402 (404) = BFHE 98, 287; BFH v. 12. Dezember 1969 III R 33/69 in BStBl. II 1970, 345 (346) = BFHE 98, 206; BFH v. 3. August 1973 III R 142/72 in BStBl. II 1973, 770 (771) = BFHE 110, 163; BFH v. 3. August 1977 III R 47/75 in BStBl. II 1977, 858 (859) = BFHE 123, 278.

882 So der III. Senat in den Entscheidungen des BFH v. 11. August 1967 III 106/64 in BStBl. II 1968, 26 (27) = BFHE 90, 187; BFH v. 13. September 1968 III R 20/67 in BStBl. II 1969, 29 (30) = BFHE 94, 75; BFH v. 7. Oktober 1977 III R 2/74 in BStBl. II 1978, 283 (284) = BFHE 124, 117.

883 BFH v. 22. Januar 1971 III R 115/68 in BStBl. II 1971, 357 (358) = BFHE 101, 297. 884 BFH v. 13. September 1968 III 144/64 in BStBl. II 1969, 9 (10 f) = BFHE 94, 29; BFH v. 17.

Oktober 1969 III 240/65 in BStBl. II 1970, 402 (406) = BFHE 98, 287; BFH v. 30. April 1975 II R 32/69 in BStBl. II 1975, 720 (721) = BFHE 116, 58; ähnlich BFH v. 23. Juli 1965 III 90/62 S in BStBl. III 1966, 43 (44) = BFHE 84, 118.

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nicht gegeben sind. Die Prüfung des konkreten Verwaltungsaktes kann sich daher nicht darauf beschränken, ob der Tatbestand der Verwaltungsanordnung einschlägig ist, da sonst ein solches Ergebnis nicht denkbar wäre. Vielmehr muss die Prüfung über die Frage nach der Vereinbarkeit mit der Verwaltungsanweisung hinaus klären, ob aus anderen Gründen die Einziehung der betreffenden Steuer eine unbillige Härte darstellt. Vor diesem Hintergrund ist die Tatsache zu sehen, dass der BFH sich bei der Prüfung des konkreten Bescheides nicht damit begnügt, die Übereinstimmung mit den Vorgaben der Ermessensrichtlinie festzustellen.

(3) Zusammenfassung der Herangehensweise des BFH

Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass die Untersuchung des Verwaltungsaktes drei Komponenten umfasst. Zunächst einmal wird überprüft, ob die Richtlinie sich in den Grenzen bewegt, die das Gesetz dem Ermessen setzt. Dann wird die Vereinbarkeit des konkreten Bescheides mit der als ermessensgerecht erkannten Richtlinie überprüft. Ergibt sich hieraus kein Anspruch auf einen Dispens, wird dann noch die Frage geklärt, ob eine unbillige Härte vorliegt, die nicht vom Wortlaut der Verwaltungsanordnung umfasst ist.

bb) Auffassung des BFH bei Übergangsregelungen

Bei diesen auch Anpassungsregelungen genannten Verwaltungsvorschriften handelt es sich um eine spezielle Gruppe der zu den Billigkeitsvorschriften ergangenen Richtlinien.

(1) Problematik der Übergangsregelungen

Diese Regelungen sollen die Gleichmäßigkeit der Besteuerung gewährleisten und damit dem Gleichheitsgrundsatz dienen. Diese Prinzipien könnten berührt sein, weil die zeitliche Reihenfolge der Behandlung von Steuerfällen und damit die Veranlagung vom Zufall abhängig ist. Steuerpflichtige, deren Veranlagung vor bekannt werden einer geänderten rechtlichen Situation veranlagt werden, würden daher gegenüber Bürgern, deren Fälle zufällig erst danach abgearbeitet werden, bevorzugt885. Außerdem dienen die Übergangsregelungen dem Vertrauensschutz. Sie erhalten dem Steuerpflichtigen einen Steuervorteil beziehungsweise schützen dessen bereits getätigte Dispositionen, die

885 Vgl. dazu Gerber, Rdnr. 88.

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im Vertrauen auf einen bisherigen Rechtszustand getroffen wurden886. Die Problematik des mit den Übergangsregelungen bezweckten Vertrauensschutzes kann nur Bedeutung erlangen, wenn es zu einer für den betroffenen Bürger nachteiligen Änderung des Rechtszustandes kommt. Eine solche Veränderung kann auf diversen Ursachen beruhen. In der Praxis am bedeutsamsten sind die Fälle, in denen sich die höchstrichterliche Rechtsprechung verschärft887 oder eine höchstrichterliche Entscheidung nachteilig von einer bisher allgemein anerkannten und ausgeübten Verwaltungspraxis abweicht888. Grundsätzlich kommen nach Auffassung des BFH Übergangsregelungen aber auch bei Änderungen889 oder Ungültigkeitserklärungen890 von Gesetzen in Betracht. Inhaltlich weisen diese speziellen Verwaltungsanordnungen die Organe der Finanzverwaltung in der Regel an, für einen bestimmten Zeitraum die Steuerlast für die betroffenen Steuerpflichtigen im Erlasswege derart zu reduzieren, dass sie übereinstimmt mit der Belastung, die der Bürger nach alter Rechtslage zu tragen hätte.

(2) Rechtsprechung des BFH zu den Übergangsregelungen

Bereits im Jahre 1960 stellte der BFH fest, Übergangsregelungen, die bei sich verschärfender Rechtsprechung ergehen und sich im Rahmen des § 131 RAO halten, binden die Finanzgerichte891. Der VI. Senat des BFH beruft sich dafür auf ein Urteil aus dem Jahre 1958892. In dem zitierten Urteil ging der entscheidende I. Senat des BFH allerdings nicht so weit, die Bindung der Finanzrechtsprechung an Übergangsregelungen der Verwaltung zu behaupten. Vielmehr wurde lediglich festgehalten, Verwaltungsanordnungen könnten auch für das steuergerichtliche Verfahren von Bedeutung sein, wenn sie sich denn in den Grenzen des § 131 RAO

886 Dazu auch von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 203 f. 887 BFH v. 1. April 1960 VI 134/58 U in BStBl. III 1960, 231 (233) = BFHE 70, 621; BFH

v. 13. März 1964 VI 28/64 U in BStBl. III 1964, 342 (343) = BFHE 79, 306; BFH v. 1. April 1965 IV 301/62 U in BStBl. III 1965, 432 (433) = BFHE 82, 514; BFH v. 30. März 1966 IV 56/63 in BStBl. III 1966, 407 (409) = BFHE 86, 98; BFH v. 23. Februar 1968 VI R 267/67 in BStBl. II 1968, 409 (409) = BFHE 91, 538; BFH v. 22. Januar 1970 IV R 47/68 in BStBl. II 1970, 415 (416) = BFHE 98, 479.

888 BFH v. 5. November 1964 IV 11/64 S in BStBl. III 1964, 602 (609) = BFHE 80, 356; dazu auch der gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes v. 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70 in BStBl. II 1972, 603 (609) = BFHE 105, 101.

889 BFH v. 30. März 1966 IV 56/63 in BStBl. III 1966, 407 (409) = BFHE 86, 98; aus der neueren Rechtsprechung auch BFH v. 12. Januar 1989 IV R 67/87 in BFHE 155, 484 (485 f).

890 BFH v. 5. November 1964 IV 11/64 S in BStBl. III 1964, 602 (609) = BFHE 80, 356; BFH v. 7. Oktober 1965 IV 139/65 U in BStBl. III 1965, 700 (701) = BFHE 83, 555; Dazu auch BVerfG v. 24. Juni 1958 2 BvF 1/57 in BVerfGE 8, 51(71).

891 BFH v. 1. April 1960 VI 134/58 U in BStBl. III 1960, 231 (233) = BFHE 70, 621. 892 BFH v. 14. August 1958 I 39/57 U in BStBl. III 1958, 409 = BFHE 67, 354.

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bewegen893. Dennoch wird in späteren Entscheidungen die Formulierung wiederholt, Übergangsregelungen seien für die Finanzgerichte bindend894.

Als Begründung für die Bindungswirkung wird wiederum angeführt, die Übergangsregelungen bezweckten die Verhinderung von Ungleichbehandlung der Steuerpflichtigen. Diese Ungleichbehandlung könne dadurch entstehen, dass die Veranlagung durch die Finanzämter und damit die Entscheidung der Steuerbehörden über die rechtliche Würdigung, zu unterschiedlichen Zeiten geschieht. Daher würden Steuerpflichtige, deren Veranlagung nach Veröffentlichung der verschärften Rechtslage erfolgt, ohne sachlichen Grund schlechter behandelt als diejenigen, deren Verfahren davor abgeschlossen werden895.

Zusammenfassend kann es als ständige Rechtsprechung des BFH bezeichnet werden, dass Übergangsregelungen der Verwaltung von den Steuergerichten zu beachten sind, wenn sie sich im Rahmen des § 131 RAO halten.

4. Aktuelle Rechtsprechung des BFH zu den Verwaltungsvorschriften im Rahmen der §§ 163, 227 AO

Im Folgenden wird die Rechtsprechung des BFH zu den Verwaltungsvorschriften im Rahmen der §§ 163, 227 AO dargestellt.

a) Verwaltungsvorschriften nach In-Kraft-Treten der AO 1977

Im Gegensatz zum § 131 Abs. 2 RAO fehlt den Erlassvorschriften der aktuellen Abgabenordnung die explizite Regelung der Befugnis zur Aufstellung allgemeiner Verwaltungsvorschriften896. Dennoch ist unbestritten, dass der Finanzverwaltung im Rahmen der Ermessensausübung auch die Kompetenz zum Erlass von Ermessensrichtlinien bezüglich der §§ 163, 227 AO zusteht897.

893 BFH v. 14. August 1958 I 39/57 U in BStBl. III 1958, 409 (411) = BFHE 67, 354. 894 BFH v. 13. März 1964 VI 28/64 U in BStBl. III 1964, 342 (343) = BFHE 81, 205; BFH v. 1. April

1965 IV 301/62 U in BStBl. III 1965, 432 (433) = BFHE 82, 514; BFH v. 30. März 1966 IV 56/63 in BStBl. III 1966, 407 (409) = BFHE 86, 98; BFH v. 23. Februar 1968 VI R 267/67 in BStBl. II 1968, 409 (409) = BFHE 91, 538; BFH v. 22. Januar 1970 IV R 47/68 in BStBl. II 1970, 415 (416) = BFHE 98, 479.

895 So im Ergebnis der BFH v. 13. März 1964 VI 28/64 U in BStBl. III 1964, 342 (343) = BFHE 79, 306; BFH v. 1. April 1965 IV 301/62 U in BStBl. III 1965, 432 (433) = BFHE 82, 514.

896 Zur historischen Entwicklung siehe S. 21 ff. 897 Vgl. von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 202; Schwarz, § 163 AO Rdnr. 80;

ausführlich Bachmayr, StuW 1958, Sp. 561 (566 f); BFH v. 25. November 1980 VII R 17/78 in BStBl. II 1981, 204 (206) = BFHE 132, 159; BFH v. 7. Mai 1981 VII R 64/79 in BStBl. II 1981, 608 (609 f) = BFHE 133, 262; allgemein dazu Wolff/Bachof/Stober, Band 1, § 24 Rdnr. 25; Jestaedt in Erichsen/Ehlers, § 10 Rdnr. 59.

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b) Rechtsprechung zu Verwaltungsvorschriften im Rahmen der §§ 163, 227 AO im Allgemeinen

In den Äußerungen des BFH zur Bindungswirkung von im Rahmen der §§ 163, 227 AO ergangenen Ermessensrichtlinien findet sich die bereits im Rahmen des § 131 RAO entwickelte Dogmatik wieder.

aa) Bedeutung der Verwaltungsvorschriften aufgrund der Selbstbindung der Verwaltung

Das Spannungsfeld, in dem sich die Rechtsprechung des BFH zu dieser Problematik bewegt, wurde bereits aufgezeigt. Einerseits können Verwaltungsanordnungen die Gerichte im Grundsatz nicht binden. Prinzipiell begründen die Verwaltungsanordnungen keine subjektiven Rechte des Bürgers898. Ein solcher Anspruch kann auch nicht aus dem Grundsatz von Treu und Glauben hergeleitet werden899. Auf der anderen Seite gibt eine Richtlinie in der Regel eine ständige Verwaltungspraxis wieder. Es liegt daher regelmäßig eine Selbstbindung der Verwaltung vor, da ein Abweichen von der dauerhaften Übung den Gleichheitssatz des Art. 3 GG verletzen würde. Die Verwaltungsanordnungen können daher unter dem Gesichtspunkt der Selbstbindung der Verwaltung bedeutsam werden900. Der BFH hat daher wiederholt festgehalten, die Rechtsprechung habe Billigkeitsrichtlinien der Verwaltung zu beachten901.

bb) Keine Gleichbehandlung im Unrecht

Die Bindung der Finanzgerichte soll aber nur unter der Prämisse bestehen, dass sich die Richtlinien innerhalb der Grenzen halten, die das Gesetz dem Ermessen der Verwaltung setzt902. Etwas anderes gilt, wenn sich die Verwaltungsanordnung nicht an die Ermessensgrenzen hält, wenn die Ermessensrichtlinie also gegen die §§ 163, 227 AO verstößt. In einem solchen Fall kann Prüfungsmaßstab nicht die Richtlinie sein.

898 BFH v. 8. Februar 1985 III R 62/84 in BStBl. II 1985, 319 (320) = BFHE 142, 567. 899 BFH v. 8. Februar 1985 III R 62/84 in BStBl. II 1985, 319 (320) = BFHE 142, 567; vgl. dazu auch

den nächsten Abschnitt. 900 BFH v. 7. Mai 1981 VII R 64/79 in BStBl. II 1981, 608 (610) = BFHE 133, 262; BFH v. 12. Juni

2002 XI R 96/97 in BStBl. II 2003, 281 (282) = BFH/NV 2002, 1515. 901 BFH v. 25. November 1980 VII R 17/78 in BStBl. II 1981, 204 (206) = BFHE 132, 159; BFH

v. 7. Mai 1981 VII R 64/79 in BStBl. II 1981, 608 (610) = BFHE 133, 262; BFH v. 19. Mai 2004 III R 29/03 in BStBl. II 2005, 77 (79).

902 So der VII. Senat in BFH v. 25. November 1980 VII R 17/78 in BStBl. II 1981, 204 (206) = BFHE 132, 159; BFH v. 7. Mai 1981 VII R 64/79 in BStBl. II 1981, 608 (610) = BFHE 133, 262; BFH v. 10. Oktober 2001 XI R 52/00 in BStBl. II 2002, 201 (202).

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Begründet wird dies folgendermaßen: Das aus dem Gleichheitssatz resultierende Rechtsinstitut der Selbstbindung der Verwaltung ist die Grundlage für die vom BFH angenommene Bindung der Gerichte an eine ermessensgerechte Verwaltungsanweisung903. Die Grenzen der Selbstbindung der Verwaltung sind allerdings dann überschritten, wenn die Verwaltungspraxis oder eine Verwaltungsvorschrift gegen das Gesetz verstößt. Wenn in einem solchen Fall ein Bürger gesetzeskonform, aber entgegen der ständigen Verwaltung schlechter behandelt wird, ist zwar der Gleichheitssatz betroffen. Gleichzeitig ist in einem solchen Fall aber der Grundsatz der Gesetzesbindung der Verwaltung des Art. 20 Abs. 3 GG tangiert. Es ist daher unbestritten, dass in einem solchen Fall der Steuerpflichtige sich nicht auf den Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung und die gesetzeswidrige Verwaltungsvorschrift berufen kann. Es kann keine Gleichbehandlung im Unrecht geben904. Dies entspricht auch der Ansicht des BFH. Ein Steuerpflichtiger kann sich daher nicht auf eine Verwaltungsanordnung berufen, die den von den §§ 163, 227 AO gesetzten Rahmen überschreitet905.

cc) Entwicklung der Rechtsprechung

Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass die dargestellte Auffassung im Wesentlichen mit den Grundsätzen übereinstimmt, die der BFH bereits zu § 131 RAO entwickelte. Das zu der Vorgängervorschrift der §§ 163, 227 AO verwendete Prüfungsschema sah im ersten Schritt eine Überprüfung der Verwaltungsanordnung vor. Es war festzustellen, ob die Grenzen, die das Ermessen der Verwaltung bestimmen, eingehalten sind. Wurde dem zugestimmt, sollte nur noch geprüft werden, ob der konkrete Verwaltungsakt mit den Vorgaben der Ermessensrichtlinie übereinstimmt906. Nur wenn die Verwaltungsanordnung die Grenzen des Ermessens einhielt, wurde sie so zum Maßstab für die Prüfung des Erlassbescheides. Nichts anderes gilt unter der Ägide der aktuellen Abgabenordnung. Nur wenn die Richtlinien sich an die Grenzen des Ermessens halten, sind sie von den Finanzgerichten zu beachten und zum Entscheidungsmaßstab für die Kontrolle der Rechtmäßigkeit des konkreten Verwaltungsaktes zu machen. Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass sich das vom BFH in den sechziger und siebziger Jahren entwickelte Schema zur Prüfung der Rechtmäßigkeit eines auf Grundlage einer Verwaltungsanordnung ergangenen Erlassbescheides in der neueren Rechtsprechung in verkürzter Form wiederfindet.

903 Siehe S. 188 f. 904 Dieser Grundsatz ist allgemein anerkannt, vgl. dazu nur Maurer, § 24 Rdnr. 30. 905 BFH v. 29. April 1987 II R 166/84 in BFH/NV 1988, 613 (614); ähnlich auch BFH v. 15. Mai

1997 IV R 46/96 in BFH/NV 1997, 850 (852). 906 Siehe S. 189 ff.

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Zwischen der alten und der neuen Rechtsprechung besteht daher trotz abweichender Formulierungen eine weitgehende inhaltliche Übereinstimmung.

c) Grundsatz von Treu und Glauben

Interessant ist auch, dass der BFH in diesem Kontext teilweise wieder den Grundsatz von Treu und Glauben aufgreift. Zum einen wird auf diese Formel im Zusammenhang mit der Frage zurückgegriffen, ob der Bürger aus Verwaltungsanweisungen Ansprüche auf ein bestimmtes Handeln der Verwaltung herleiten kann. Dies wird abgelehnt; auch der Grundsatz von Treu und Glauben könne nicht dazu führen, dass subjektive Rechte gegenüber dem Staat aus Verwaltungsanweisungen abgeleitet werden907. Dieser Gesichtspunkt wurde bereits Ende der fünfziger Jahre vom BFH angesprochen. Damals kam man allerdings zu einem anderen Ergebnis. Nach der damals vertretenen Ansicht konnte ein Abweichen von einer allgemein bekannten Richtlinie der Verwaltung gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstoßen908.

In einem etwas anderen Zusammenhang wird dem Grundsatz von Treu und Glauben eine andere Funktion zugemessen. Falls eine zum Nachteil des Steuerpflichtigen geänderte Verwaltungsanordnung vor ihrer Änderung bereits auf eine große Anzahl von Fällen angewandt wurde, kann die Nichtanwendung der günstigen Version den Bürger in seinen Rechten verletzen. Dies ergibt sich nicht nur unmittelbar aus dem Grundsatz von der Selbstbindung der Verwaltung und dem Gleichheitssatz, sondern nach Auffassung des V. Senats des BFH folgt dies auch aus dem Grundsatz von Treu und Glauben, den die Finanzbehörden zu beachten hätten909. Aus dieser Entscheidung lässt sich keine ständige Rechtsprechung ableiten. Vielmehr scheint es sich um eine Hilfsargumentation zu handeln, da schon der Verweis auf die Selbstbindung der Verwaltung ausgereicht hätte, um das Ergebnis zu begründen.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Begriff „Treu und Glauben“ zwar gelegentlich in Urteile des BFH einfließt; einen eigenständigen Einfluss auf die Ansicht des BFH zur Frage der Bindungswirkung von Verwaltungsanweisungen kann dem Grundsatz von Treu und Glauben aber nicht zugeschrieben werden.

d) Rechtsprechung zu den Übergangsregelungen

Auch in der aktuellen Rechtsprechung des BFH ist eine Sonderrolle der Übergangsregelungen gegenüber den anderen Formen von Verwaltungsanordnungen zu 907 BFH v. 8. Februar 1985 III R 62/84 in BStBl. II 1985, 319 (320) = BFHE 142, 567. 908 So der BFH v. 14. August 1958 I 38/57 U in BStBl. III 1958, 409 (411) = BFHE 67, 354; ähnlich

bereits BFH v. 9. Mai 1957 IV 382/55 U in BStBl. III 1957, 291 (292) = BFHE 65, 151. 909 BFH v. 16. Juli 1987 V R 6/78 in BFH/NV 1988, 195 (196).

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erkennen. So wird teilweise davon gesprochen, normale Verwaltungsanordnungen könnten die Gerichte nicht binden, wohingegen Anpassungsregelungen von den Finanzgerichten grundsätzlich zu beachten seien910.

aa) Verpflichtung der Finanzverwaltung zum Erlass von Übergangsregelungen

Zunächst wird teilweise von einer Verpflichtung der obersten Finanzbehörden ausgegangen, in Fällen einer verschärften Rechtsauslegung Übergangsregelungen zu erlassen911. Einige Urteile gehen nicht ganz so weit. Die Finanzverwaltung soll aber zumindest verpflichtet sein zu prüfen, ob die Verschärfung zu Unbilligkeiten führt. Falls dies der Fall sein sollte, sind entsprechende Regelungen erlassen912. Hierbei wird vor allem der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes angeführt. Bisher war in der Rechtsprechung des BFH zwar stets davon ausgegangen worden, dass die Finanzverwaltung befugt sei, entsprechende Regelungen zu erlassen. Eine etwaige Verpflichtung dazu wurde zuvor aber nicht erwähnt913.

bb) Bindungswirkung der Übergangsregelungen

Schon in einem der ersten Urteile zur Rechtslage unter der AO 1977 stellte der VI. Senat des BFH fest, auch nach In-Kraft-Treten der aktuellen AO seien als Verwaltungsanordnungen ergangene Übergangsregelungen von den Finanzgerichten zu beachten914. Diese Auffassung wird im Folgenden auch von anderen Senaten des BFH vertreten915. Begrenzt wird die Bindungswirkung in einigen Urteilen dahingehend, dass sie nur eintreten soll, wenn sich die Übergangsregelung im Rahmen der §§ 163, 227 AO

910 BFH v. 8. Februar 1985 III R 62/84 in BStBl. II 1985, 319 (320) = BFHE 142, 567; genauer zur

Bindungswirkung vgl. den folgenden Abschnitt. 911 BFH v. 12. Januar 1989 IV R 87/87 in BFHE 155, 487 (489); BFH v. 17. November 1998

III R 56/95 in BFH/NV 1999, 670 (671); BFH v. 19. September 1996 X B 226/95 in BFH/NV 1997, 329 (330).

912 BFH v. 25. Juni 1984 GrS 4/82 in BStBl. II 1984, 751 (757) = BFHE 141, 405; BFH v. 19. September 1996 X B 226/95 in BFH/NV 1997, 329 (330); in der Tendenz ähnlich BFH v. 4. Juli 1990 GrS 2-3/88 in BStBl. II 1990, 817 (830) = BFHE 161, 290.

913 Vgl. BFH v. 30. März 1966 IV 56/63 in BStBl. II 1966, 407 (409) = BFHE 86, 98. 914 BFH v. 28. November 1980 VI R 226/77 in BStBl. II 1981, 319 (321) = BFHE 132, 264. 915 BFH v. 25. Juni 1984 GrS 4/82 in BStBl. II 1984, 751 (757) = BFHE 141, 405; BFH v. 8. Februar

1985 III R 62/84 in BStBl. II 1985, 319 (320) = BFHE 142, 567; BFH v. 15. Januar 1986 II R 141/83 in BStBl. 1986, 418 (420) = BFHE 145, 453; BFH v. 26. Februar 1991 IX R 95/88 in BStBl. II 1991, 572 (573) = BFHE 163, 562; BFH v. 7. November 1996 IV R 69/95 in BStBl. II 1997, 245 (246) = BFHE 182, 56; BFH v. 16. März 2004 VIII R 33/02 in BFHReport 2004, 696 (697) = BFH/NV 2004, 1002.

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hält916. Die einschränkende Formulierung ist nicht in allen Urteilen zu finden, die von einer grundsätzlichen Bindung der Finanzgerichte durch die Übergangsregelungen ausgehen. Dennoch ist anzunehmen, dass die Einhaltung der von den §§ 163 und 227 gezogenen Ermessens- beziehungsweise Billigkeitsgrenzen generell Voraussetzung für eine Bindung der Finanzgerichte an die Anpassungsregelung ist. Diese Annahme wird belegt durch die Tatsache, dass schon in den Urteilen des BFH zu Übergangsregelungen im Rahmen des alten § 131 RAO die Einhaltung der von dieser formellen Norm gezogenen Grenzen als essentiell für die Anerkennung einer Bindung der Judikativorgane angesehen wurde917.

5. Zusammenfassung zur Ansicht des BFH

Obwohl grundsätzlich keine die Gerichte bindende Wirkung der Verwaltungsvorschriften angenommen wird, kommt es nach Ansicht des BFH zu einer mittelbaren Bindungswirkung über den Grundsatz von der Selbstbindung der Verwaltung. Da es aber keine Gleichbehandlung im Unrecht geben soll, ist es Voraussetzung der Bindung der Finanzgerichte, dass sich die Verwaltungsanordnung im Rahmen der gesetzlichen Grenzen hält. Die Frage, ob sich die Ermessensrichtlinie im Rahmen des von den §§ 163, 227 AO eingeräumten Ermessens hält, ist daher von den Gerichten zu klären, bevor über die Vereinbarkeit des konkreten Verwaltungsaktes mit der Verwaltungsvorschrift entschieden wird.

V. Bewertung dieser Ansicht

Die Auffassung des BFH zur Wirkung von Verwaltungsvorschriften im Rahmen des Billigkeitserlasses soll im Folgenden bewertet werden.

1. Verfassungsrechtliche Wertungen

Bei der Bewertung der Auffassung des BFH zu den Verwaltungsvorschriften sind zunächst die verfassungsrechtlichen Wertungen darzustellen.

916 BFH v. 15. Januar 1986 II R 141/83 in BStBl. II 1986, 418 (420) = BFHE 145, 453; BFH v. 12.

Januar 1989 IV R 67/87 in BFHE 155, 484 (486); BFH v. 7. November 1996 IV R 69/95 in BStBl. II 1997, 245 (246) = BFHE 182, 56.

917 Siehe dazu die obigen Ausführungen und vgl. BFH v. 30. März 1966 IV 56/63 in BStBl. III 1966, 407 (409) = BFHE 86, 98.

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a) Gesetzesbindung von Exekutive und Judikative

In Art. 20 GG sind die Grundlagen der verfassungsmäßig vorgesehenen Rechtsordnung festgelegt. Ein wesentlicher Bestandteil davon ist die Bindung von Verwaltung und Rechtsprechung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG). Gesetz meint in diesem Fall ausschließlich das formelle Gesetz918; Recht bezieht sich auf die verfassungsgemäße Rechtsordnung919. Eine Bindung der Judikative an untergesetzliche Rechtssätze, wie allgemeine Verwaltungsvorschriften, besteht hingegen nicht920.

b) Selbstbindung der Verwaltung als Ausfluss des Art. 3 GG

Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verbietet eine Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte, wenn dafür kein sachlicher Grund vorhanden ist921. Dieser Verfassungsgrundsatz entfaltet als subjektives Recht insbesondere Wirkungen im Verhältnis des Bürgers zur Exekutive, wenn der Verwaltung ein Ermessensspielraum eingeräumt wurde. Wenn in der Vergangenheit in vergleichbaren Fällen eine bestimmte Entscheidung der Verwaltung getroffen wurde, würde der Gleichheitssatz verletzt werden, sobald ohne sachlichen Grund gegenüber einem weiteren Bürger zu dessen Nachteil von dieser Praxis abgewichen wird. Eine von der Exekutive ständig angewandte Ausübung des Ermessens führt daher zu einer Verpflichtung, in entsprechender Weise auch in der Zukunft zu verfahren. Man spricht daher von einer Selbstbindung der Verwaltung922. Eine solche Selbstbindung findet insbesondere auch dann statt, wenn die ständige Verwaltungspraxis auf einer Verwaltungsanordnung beruht923. Die Bindung ergibt sich dann aber nicht unmittelbar aus der Richtlinie, sondern aus der auf dieser beruhenden, ständigen Verwaltungsübung924.

918 Sommermann in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 20 Rdnr. 264. 919 Sommermann in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 20 Abs. 1 Rdnr. 265. 920 Allgemeine Ansicht, vgl. Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 20 Rdnr. 97; BVerfG v. 31. Mai 1988

1 BvR 520/83 in BVerfGE 78, 214 (227); speziell zu den Verwaltungsvorschriften bei Billigkeitsentscheidungen vgl. Becker, Steuererlass, S. 85 f.

921 So die ganz herrschende Auffassung; vgl. nur Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 3 Rdnr. 14 ff.; Starck in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 3 Rdnr. 10 ff.

922 Vgl. dazu Starck in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 3 Rdnr. 268; Gubelt in von Münch/Kunig, Art. 3 Rdnr. 39; Wolff/Bachof/Stober, Band 1, § 31 Rdnr. 50; Maurer, § 24 Rdnr. 21; BVerfG v. 18. Juni 1986 1 BvR 787/80 in BVerfGE 73, 280 (299 f); eingehend dazu Wallerath, S. 35 ff.; Mertens, S. 39 ff.

923 Daher kommt es auch zu einer mittelbaren Außenwirkung dieser Richtlinien. Diese stellen aber lediglich einen Reflex dar. Vgl. dazu Maurer, § 24 Rdnr. 21 ff;

924 Gubelt in von Münch/Kunig, Art. 3 Rdnr. 39; BVerfG v. 23. November 1951 1 BvR 208/51 in BVerfGE 1, 82 (84).

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c) Grundsatz des Vertrauensschutzes (Treu und Glauben)

Das Rechtsstaatsprinzip umfasst auch den Grundsatz des Vertrauensschutzes als spezielle Ausprägung des Prinzips der Rechtssicherheit925. Demnach müssen grundsätzlich staatliche Akte, die den Bürger begünstigen, in ihrer Wirkung auch dann aufrecht erhalten werden, wenn dies materiellem Recht widerspräche, sobald ein schutzwürdiges Vertrauen des Einzelnen vorliegt926. Wirkung entfaltet dieser Grundsatz primär bei begünstigenden Verwaltungsakten und bei der Frage der Rückwirkung von Gesetzen927.

2. Überprüfung der Auffassung des BFH anhand dieser Grundsätze

Anhand der dargestellten verfassungsrechtlichen Grundsätze ist die Ansicht des BFH zu bewerten.

a) Keine unmittelbare Bindungswirkung

Die Richtlinien der Finanzbehörden zu den Billigkeitsvorschriften stellen ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften dar928. Eine unmittelbare Bindungswirkung kann von ihnen daher nicht ausgehen. Das nimmt der BFH auch nicht an. Er hat vielmehr mehrfach ausdrücklich betont, dass eine Bindung der Finanzgerichte durch die Ermessensrichtlinien der Verwaltung nicht stattfindet und sich aus ihnen keine subjektiven Rechte herleiten lassen929. Der Ansicht des BFH kann insoweit zugestimmt werden.

b) Bindung aufgrund des Vertrauensschutzgrundsatzes?

Eine Bindung an die Ermessensrichtlinien könnte sich aber mittelbar aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes ergeben. Ein Bürger, der Kenntnis von den Verwaltungsanordnungen erlangt und auf die Geltung dieser Rechtssätze vertraut,

925 Sommermann in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 20 Rdnr. 292 ff.; Randelzhofer, JZ 1973, 536

(543); BVerfG v. 16. Oktober 1968 1 BvL 7/62 in BVerfGE 24, 220 (230); BVerfG v. 8. Februar 1977 1 BvR 79, 278, 282/70 in BVerfGE 43, 242 (286); BVerfG v. 26. September 1978 1 BvR 525/77 in BVerfGE 49, 168 (185).

926 Grzeszick in Maunz/Dürig, Art. 20, Abschnitt VII. Rdnr. 95. 927 Grzeszick in Maunz/Dürig, Art. 20, Abschnitt VII. Rdnr. 69 ff. 928 Siehe S. 179 ff. 929 BFH v. 8. Februar 1985 III R 62/84 in BStBl. II 1985, 319 (320) = BFHE 142, 567.

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könnte schutzwürdig sein. Teilweise wird dies in der Literatur angenommen930. Der I. Senat des BFH hat sich in einer Entscheidung aus den fünfziger Jahren ebenfalls entsprechend geäußert931. Eine Bindungswirkung wird dabei sogar dann angenommen, wenn die Richtlinien sich nicht im Rahmen der Gesetze halten932. Bei näherer Betrachtung der anerkannten Auswirkungen des Vertrauensschutzgrundsatzes ist diese Ansicht aber fraglich. Eine Bindung der Exekutive nach dem Grundsatz von Treu und Glauben wird nur angenommen, wenn ein hinreichend konkretes Vertrauensverhältnis zwischen Verwaltung und dem Bürger bestand933. Von einem solchen kann bei den abstrakt formulierten Verwaltungsanweisungen aber nicht die Rede sein.

Zu beachten sind auch die Konsequenzen einer solchen Auffassung. Den Verwaltungsanordnungen würde damit eine allgemeine Geltung und die Fähigkeit zur direkten Statuierung subjektiver Rechte beigemessen. Die Ermessensrichtlinien hätten quasi-formellgesetzlichen Charakter934. Der Verwaltung würde damit eine Rechtssetzungsbefugnis außerhalb des vom Grundgesetz vorgesehenen Rahmens zuwachsen935. Dies widerspricht den verfassungsrechtlichen Wertungen. Der Vertrauensschutzgrundsatz kann daher nicht zu einer Bindungswirkung von Verwaltungsvorschriften führen. Dies entspricht auch der Auffassung des BFH, der es in seiner neueren Rechtsprechung durchweg ablehnt wird, unter Bezugnahme auf den Vertrauensgrundsatz aus Verwaltungsanweisungen subjektive Rechte abzuleiten936.

c) Mittelbare Bindungswirkung über den Grundsatz von der Selbstbindung der Verwaltung

Nach dem Grundsatz von der Selbstbindung der Verwaltung sind Verwaltungsvorschriften dann auch für die Gerichte beachtlich, wenn sie eine ständige Verwaltungspraxis widerspiegeln. Dies gilt auch für den Bereich des Steuerrechts. Da eine Abweichung von einer ständigen Verwaltungspraxis den betroffenen Bürger in seinen Grundrechten aus Art. 3 GG verletzen würde, besteht insoweit ein subjektiver Anspruch des Steuerpflichtigen darauf, dass sein Fall in gleicher Weise behandelt wird. Wenn die Verwaltungspraxis auf einer Ermessensrichtlinie beruht, müssen in diesem Fall die Grundsätze der Ermessensrichtlinie angewandt werden937. Die Selbstbindung stößt aber auf eine Grenze. Aufgrund der Gesetzesbindung von Exekutive und 930 Bachmayr, StuW 1958, Sp. 561 (577 f); ähnlich Randelzhofer, JZ 1973, 536 (543 f). 931 BFH v. 14. August 1958 I 39/57 U in BStBl. III 1958, 409 (411) = BFHE 67, 354. 932 So Randelzhofer, JZ 1973, 536 (544). 933 Kruse, StuW 1960, Sp. 477 (488 f). 934 Ossenbühl, DÖV 1970, 264 (266). 935 Ossenbühl, DÖV 1970, 264 (266). 936 Siehe S. 197 ff.; vgl. dazu nur BFH v. 8. Februar 1985 III R 62/84 in BStBl. II 1985, 319 (320) =

BFHE 142, 567. 937 Tipke/Kruse, § 227 AO Rdnr. 128; Stöcker in Beermann/Gosch, § 227 AO Rdnr. 30; von Groll in

Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 183.

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Judikative kann sich niemand auf eine vermeintliche Ungleichbehandlung berufen, wenn die Gleichbehandlung ein illegales Verhalten erforderte. Es darf keine Gleichbehandlung im Unrecht geben938. Ist also die auf der Richtlinie beruhende Verwaltungspraxis nicht gesetzeskonform, kommt es zu keiner Selbstbindung der Verwaltung.

Die Vermeidung einer solchen Gleichbehandlung im Unrecht gewährleistet der BFH, indem er eine zweistufige Prüfung vornimmt. Zunächst wird untersucht, ob die Richtlinie und damit die darauf beruhende Verwaltungspraxis sich an den Rahmen der §§ 163, 227 AO hält. Nur wenn dies bejaht werden kann, wird geprüft, ob die Verwaltungsanordnung bei dem speziellen Sachverhalt einschlägig ist. Ergibt sich daraus, dass der Tatbestand der Richtlinie einschlägig ist, muss ein Erlass ausgesprochen werden. Die Rechtsprechung des BFH berücksichtigt im Ergebnis sowohl den aus Art. 3 GG hergeleiteten Grundsatz von der Selbstbindung der Verwaltung als auch das Prinzip der Gesetzesbindung.

d) Aber: Keine abschließende Regelung des Billigkeitserlasses durch Verwaltungsvorschriften

Sind die in einer Verwaltungsanordnung festgesetzten Voraussetzungen für einen Erlass nicht gegeben, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass die Ablehnung eines Steuerdispenses ermessensgerecht wäre. Die Ermessensrichtlinien enthalten immer nur beispielhafte Konkretisierungen für bestimmte Fallgruppen. Mit ihnen ist der Billigkeitserlass nicht abschließend geregelt. Liegen die Voraussetzungen nicht vor, kommt daher immer noch ein Erlass aus anderen Gründen in Betracht, der sich inhaltlich unmittelbar auf die Vorgaben der §§ 163, 227 AO stützt939. Dies entspricht auch der Auffassung des BFH940.

e) Ergebnis der Betrachtung

Die Rechtsprechung des BFH zur Wirkung von Verwaltungsanweisungen im Rahmen des Billigkeitsverfahrens hält sich an die gesetzlichen und insbesondere die grundgesetzlichen Vorgaben.

938 Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 3 Rdnr. 46; Starck in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 3

Rdnr. 274 ff.; Gubelt in von Münch/Kunig, Art. 3 Rdnr. 42; Dürig in Maunz/Dürig, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 437; BVerfG v. 17. Januar 1979 1 BvL 25/77 in BVerfGE 50, 142 (166).

939 Tipke/Kruse, § 227 AO Rdnr. 127. 940 BFH v. 30. April 1975 II R 32/69 in BStBl. II 1975, 720 (721) = BFHE 116, 58.

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G. Erlass von Einkommensteuer aufgrund erhöhter Lebenshaltungskosten

Eine weiteres Problem, das den BFH beschäftigte, ist der Erlass von Einkommensteuer wegen erhöhter Lebenshaltungskosten.

I. Darstellung der zugrunde liegenden Fallsituation

Grundlegend geht es um die Frage, ob ein Billigkeitserlass gerechtfertigt ist, wenn eine Gruppe Steuerpflichtiger gegenüber der Mehrheit der Bürger erhöhte Ausgaben zur Lebensführung hat, die nicht als Sonderausgaben gem. § 10 EStG oder außergewöhnliche Belastungen nach § 33 EStG geltend gemacht werden können.

1. Exklave Büsingen

Bedeutung erlangte diese Frage im Zusammenhang mit der Gemeinde Büsingen am Hochrhein. Diese Kommune ist staatsrechtlich Teil der Bundesrepublik Deutschland. Bürger, die Wohnsitz gem. § 8 AO oder gewöhnlichen Aufenthalt nach § 9 Abs. 1 AO in Büsingen haben, sind dem deutschen Fiskus unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. Büsingen ist aber von allen Seiten vom Schweizer Territorium umschlossen und auch Teil des schweizerischen Zollgebietes941. Büsingen stellt somit eine deutsche Exklave im schweizerischen Gebiet dar942. Der Schweizer Franken ist eigentliches Zahlungsmittel in Büsingen943. Daraus ergeben sich Kaufkraftverhältnisse, die sich von denen im deutschen Kerngebiet erheblich unterscheiden944. Die Lebenshaltungskosten sind aus diesem Grund signifikant höher als im übrigen Deutschland945. Dies benachteiligt vor allem diejenigen unter den Büsinger Bürgern, die ihre Einkünfte nicht in Schweizer Franken, sondern in Deutscher Mark bzw. Euro erzielen946. Die Einwohner der Gemeinde Büsingen haben auf verschiedenen Wegen versucht, mit Hinweis auf die erhöhten Ausgaben Steuererleichterungen zu erreichen947.

941 Schiendorfer/Eiglsperger, S. 54 ff.; Ebke, FS Maurer, S. 869 (876). 942 Dazu und zu den historischen Ursachen ausführlich Ebke, FS Maurer, S. 869 (870 ff.). 943 Ebke, FS Maurer, S. 869 (877). 944 Vgl. dazu Ebke, FS Maurer, S. 869 (877 f) mit weiteren Nachweisen. 945 Vgl. dazu FG Baden-Württemberg v. 9. April 1997 2 K 485/94 in EFG 1997, 1492 (1492), das

sich auf Erhebungen des Statistischen Bundesamtes bezieht; ähnlich Schiendorfer/Eiglsperger, S. 78.

946 Ebke, FS Maurer, S. 869 (878). 947 Vgl. dazu Schiendorfer/Eiglsperger, S. 77 f; Ebke, FS Maurer, S. 869 (878 f).

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2. Behandlung des Problems durch die Finanzverwaltung

Seit Ende der siebziger Jahre haben die zuständigen Finanzbehörden allgemeine Billigkeitsregelungen getroffen948. Büsinger Bürgern wurde daher ein Teil der Einkommensteuer von der baden-württembergischen Finanzverwaltung erlassen949. Von 1980 bis 1982 wurde diese Regelung allerdings ausgesetzt. In diesem Zeitraum wurde Steuerpflichtigen aus Büsingen kein Freibetrag aus Billigkeitsgründen gewährt950; die Folge war die uneingeschränkte Besteuerung der in der Exklave wohnhaften Bürger während dieser Zeit951. Einige Steuerpflichtige versuchten im Klageweg, eine Minderung der Steuerlast zu erreichen952. Zweimal wurde daher eine einschlägige Klage beim BFH anhängig.

II. Ansicht des BFH

Die erste der beiden Klagen entschied der BFH im Jahre 1989953. In dem Urteil wurde festgestellt, dass Büsingen zum Inland im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG gehört und Personen mit Wohnsitz in dieser Exklave daher der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht unterliegen954. Das Begehren des Klägers, ihm einen „Exklaven-Entlastungsbetrag“ in Analogie zum § 2 Abs. 3 EStG zu gewähren, wurde abgelehnt955. Ebenso wurde eine Anerkennung der Mehrbelastung durch die erhöhten Lebenshaltungskosten als Sonderausgaben gem. § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG oder als außergewöhnliche Belastung im Sinne des § 33 Abs. 1 EStG verweigert956.

Im Anschluss geht der BFH auf die Frage der Billigkeit ein. Der BFH hält fest, dass über die Frage, ob eine niedrigere Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen gem. § 163 AO zu erfolgen hatte, im anhängigen Rechtsstreit nicht entschieden werden könne957. Eine Billigkeitsmaßnahme sei ein selbständiger Verwaltungsakt. Dieser könne zwar mit der Festsetzung der Steuer verbunden werden, doch könnten die jeweiligen Verwaltungsakte nur mit unterschiedlichen Rechtsbehelfen angefochten werden. Die Berücksichtigung von Billigkeitsmaßnahmen sei in diesem Verfahren ausgeschlossen,

948 Vgl. dazu FG Baden-Württemberg v. 9. April 1997 2 K485/94 in EFG 1997, 1492 (1492 f). 949 Details der Regelung bei Ebke, FS Maurer, S. 869 (883 f). 950 Ebke, FS Maurer, S. 869 (883). 951 Vgl. dazu auch FG Baden-Württemberg v. 9. April 1997 2 K485/94 in EFG 1997, 1492 (1492 f). 952 Vgl. dazu die Entscheidungen des BFH v. 13. April 1989 IV R 196/85 in BStBl. II 1989, 614 =

BFHE 156, 489 und des FG Baden-Württemberg v. 9. April 1997 2 K485/94 in EFG 1997, 1492. 953 BFH v. 13. April 1989 IV R 196/85 in BStBl. II 1989, 614 = BFHE 156, 489. 954 BFH v. 13. April 1989 IV R 196/85 in BStBl. II 1989, 614 (615) = BFHE 156, 489. 955 BFH v. 13. April 1989 IV R 196/85 in BStBl. II 1989, 614 (615) = BFHE 156, 489; vgl. dazu

Ebke, FS Maurer, 869 (881). 956 BFH v. 13. April 1989 IV R 196/85 in BStBl. II 1989, 614 (615) = BFHE 156, 489; vgl. dazu auch

Ebke, FS Maurer, 869 (881 ff.). 957 BFH v. 13. April 1989 IV R 196/85 in BStBl. II 1989, 614 (616) = BFHE 156, 489.

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da insoweit nur die Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung Gegenstand des Prozesses sei958. Obwohl der IV. Senat des BFH keine Entscheidung in der Sache zu treffen hatte, lässt er erkennen, dass eine Billigkeitsmaßnahme bei erhöhten Lebenshaltungskosten grundsätzlich möglich sein soll959. Bezüglich eines ähnlichen Falles wurde im Jahre 1997 Revision zum BFH eingelegt. Zu einem Sachurteil kam es hier aber nicht, da sich die Rechtssache durch Rücknahme der Klage erledigte960.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in Fällen erhöhter Lebenshaltungskosten grundsätzlich ein Erlass aus Billigkeitsgründen in Betracht kommen soll. Allerdings hatte der BFH bisher keine Gelegenheit, zu den näheren Voraussetzungen des Steuerdispenses in diesen Fällen Stellung zu nehmen.

III. Bewertung dieser Auffassung

Die Auffassung des BFH zum Erlass von Einkommensteuer aufgrund erhöhter Lebenshaltungskosten soll im Folgenden bewertet werden.

1. Grundrechtlicher Hintergrund: Art. 3 GG

Als potentiell berührter Verfassungswert ist primär der Gleichheitssatz zu nennen. Aus diesem ergibt sich das Prinzip der Steuergerechtigkeit. Dieses Prinzip wirkt in erster Linie in seiner speziellen Ausformung als Leistungsfähigkeitsprinzip. Demnach ist dem Art. 3 Abs. 1 GG zu entnehmen, dass Maßstab für die Belastung der Bürger die individuelle Leistungsfähigkeit des Einzelnen sein muss961. Aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip ergeben sich auch Vorgaben für die Einkommensbesteuerung. So kann aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip gefolgert werden, dass Lebenshaltungskosten als private Aufwendungen grundsätzlich nicht ertragssteuermindernd wirken sollen962. Eine Beschränkung findet diese Maxime in der Freistellung des Existenzminimums, welches durch den Menschenwürdegrundsatz

958 BFH v. 13. April 1989 IV R 196/85 in BStBl. II 1989, 614 (616) = BFHE 156, 489. 959 Vgl. dazu insbesondere den Leitsatz der Entscheidung des BFH v. 13. April 1989 IV R 196/85 in

BStBl. II 1989, 614 (614) = BFHE 156, 489. 960 Am 8. November 2001 wurde das Verfahren daher laut Auskunft der Pressestelle des BFH

eingestellt. 961 Gubelt in von Münch/Kunig, Art. 3 Rdnr. 51; Starck in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 3

Rdnr. 84 ff.; Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 3 Rdnr. 32 ff; BVerfG v. 22. Februar 1984 1 BvL 10/80 in BVerfGE 66, 214 (223); BVerfG v. 26. Januar 1994 1 BvL 12/86 in BVerfGE 89, 346 (352); eingehend dazu Klein, Gleichheitssatz und Steuerrecht, S. 84 ff.; Jachmann, S. 6 ff.

962 Jakob, Einkommensteuer, Rdnr. 22; dazu auch Kirchhof, StuW 1985, 319 (327 f); grundlegend Birk, Leistungsfähigkeitsprinzip, S. 165 ff.

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garantiert ist963. Auch darüber hinaus sollen Privatausgaben, die unvermeidbar sind, steuermindernd berücksichtigt werden964. Festzuhalten ist, dass die verfassungsrechtlichen Wertungen im Grundsatz festschreiben, eine Berücksichtigung disponibler privater Aufwendungen bei Festsetzung der Einkommensteuer habe nicht stattzufinden965.

2. Wertungen des Einkommensteuerrechts

Anknüpfend an die genannten Vorgaben hat das Einkommensteuerrecht sich zum Grundsatz gemacht, dass disponible, privat verursachte Ausgaben nicht steuermindernd wirken. Diese Wertung kommt insbesondere in § 12 EStG zum Ausdruck966. Ausnahmen gelten für Sonderausgaben gem. §§ 10 ff. EStG und außergewöhnliche Belastungen im Sinne der §§ 33 ff. EStG.

3. Bedeutung dieser Grundlagen für den Erlass von Einkommensteuer aufgrund erhöhter Lebenshaltungskosten

Fraglich ist, ob die zusätzlichen Aufwendungen, die Steuerpflichtigen bei erhöhten Lebenshaltungskosten aufgrund von Kaufkraftdisparitäten entstehen, als indisponible, private Ausgaben zu betrachten sind.

a) Erhöhte Lebenshaltungskosten als Sonderausgaben oder außergewöhnliche Belastungen?

Sonderausgaben im Sinne des § 10 EStG sind nach der Rechtsprechung des BFH wiederkehrende Aufwendungen, die ein Steuerpflichtiger für längere Zeit einem anderen gegenüber in Geld oder Sachwerten aufgrund einer rechtlichen Verpflichtung zu erbringen hat967. Diese Auslegung ist im Wesentlichen unbestritten968. Da die generell erhöhten Lebenshaltungskosten schon keine Aufwendung gegenüber einer

963 Vgl. dazu Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 20 Rdnr. 38; Sommermann in von Mangoldt/Klein/Starck,

Art. 20 Rdnr. 120; BVerfG v. 29. Mai 1990 1 BvL 20, 26, 184 und 4/86 in BVerfGE 82, 60 (85); Schmidt-Liebig, BB 1992, 107 (108); Kirchhof, StuW 1985, 319 (329).

964 Söhn, StuW 1985, 395 (400); Jakob, Einkommensteuer, Rdnr. 23; 965 Jakob, Einkommensteuer, Rdnr. 22. 966 Vgl. dazu nur Nolde in Herrmann/Heuer/Raupach, § 12 Rdnr. 3. 967 BFH v. 3. Juni 1986 IX R 2/79 in BStBl. II 1986, 674 (675) = BFHE 146, 442; ebenso in der

Entscheidung zum Fall „Büsingen“, BFH v. 13. April 1989 IV R 196/85 in BStBl. II 1989, 614 (615) = BFHE 156, 489.

968 Vgl. dazu Söhn, StuW 1985, 395 (398 f).

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bestimmten anderen Person darstellen, stellen sie keine Sonderausgaben dar969. Eine Anerkennung als außergewöhnliche Belastung im Sinne des § 33 EStG kommt nur in Betracht, wenn die Aufwendungen durch ein außerordentliches Ereignis verursacht wurden970. Die Aufwendungen müssen außerhalb der typischen Lebensführung liegen971. An einer solchen Außergewöhnlichkeit fehlt es, wenn Bewohner bestimmter Gebiete für ihren Lebensbedarf mehr aufwenden müssen als der Durchschnitt der Bundesbürger972. Die Behandlung der erhöhten Lebenshaltungskosten als Sonderausgaben oder außergewöhnliche Belastungen kommt nicht in Betracht.

b) Erhöhte Lebenshaltungskosten als sonstige indisponible private Ausgaben?

Sonderausgaben gem. § 10 EStG und den außergewöhnlichen Belastungen im Sinne des § 33 EStG weisen im Vergleich zu generell erhöhten Lebenshaltungskosten eine Besonderheit auf. Bei Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen handelt es sich um einzelne, zumindest theoretisch klar voneinander und anderen Aufwendungen abgrenzbare Rechnungsposten. Etwas anderes gilt für zusätzliche Aufwendungen, die aufgrund allgemein erhöhter Lebenshaltungskosten entstehen. In derartigen Fällen sind die privaten, im Grundsatz disponiblen Ausgaben für Ernährung, Wohnen, soziale Bedürfnisse, Fortbewegung etc. jeweils um einen im Einzelnen unterschiedlichen Anteil erhöht. So ergibt sich zwar im Ganzen eine erhöhte Gesamtbelastung, diese lässt sich aber nicht auf einzelne Rechnungsposten begrenzen. Die jeweiligen Ausgaben stehen, zumindest soweit sie über die Bestreitung des Lebensunterhaltes hinausgehen, dem Steuerpflichtigen zur freien Disposition. Eine Zurechnung generell erhöhter Lebenshaltungskosten zu den indisponiblen Ausgaben kann daher nicht erfolgen. Richtigerweise sind Ausgaben für den privaten Lebensunterhalt auch dann dem verfügbaren Einkommen zuzurechnen, wenn sie aufgrund von Währungsdisparitäten gegenüber den durchschnittlichen Lebenshaltungskosten erhöht sind.

c) Weitere Betrachtung unter Berücksichtigung des allgemeinen Gleichheitssatzes

Zwei weitere Aspekte sind bei der Betrachtung des Problems von Bedeutung. Zum einen gibt es auch innerhalb des deutschen Kerngebietes erhebliche Unterschiede bezüglich der Lebenshaltungskosten. Die Ausgaben für Wohnung, Essen, Kleidung und weitere soziale Bedürfnisse in Ballungsräumen und Großstädten sind signifikant höher

969 Ebenso der BFH v. 13. April 1989 IV R 196/85 in BStBl. II 1989, 614 (615) = BFHE 156, 489. 970 BFH v. 13. April 1989 IV R 196/85 in BStBl. II 1989, 614 (616) = BFHE 156, 489; vgl. dazu

Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, § 33 Rdnr. 31. 971 Jakob, Einkommensteuer, Rdnr. 912. 972 So auch der BFH v. 13. April 1989 IV R 196/85 in BStBl. II 1989, 614 (616) = BFHE 156, 489.

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als in ruralen Gebieten. Dennoch stößt die gleiche Besteuerung von Bewohnern verschiedener Gebiete bei gleichem Einkommen auf keinerlei Bedenken. Außerdem gibt auch der spezielle Fall Anlass, daran zu zweifeln, ob mit einem Erlass dem Gleichheitsgrundsatz entsprochen werden kann: Auch in der Exklave Büsingen haben viele Bürger Einkünfte in Schweizer Franken. Von dem Kaufkraftdefizit der deutschen Währung sind sie daher nicht betroffen. Eine Berücksichtigung der erhöhten Lebenshaltungskosten würde daher zu Ungleichheiten führen. Zum einen läge eine Privilegierung der Büsinger Bürger gegenüber Bewohner anderer Gebiete mit hohen Lebenshaltungskosten vor. Zum anderen wären die Frankenverdiener gegenüber den anderen Einwohnern bevorzugt973. Unter Rücksicht auf den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist dies nicht zu rechtfertigen974.

4. Ergebnis

Erhöhte Lebenshaltungskosten aufgrund von Kaufkraftparitäten stellen keine indisponiblen Ausgaben dar. Eine Berücksichtigung aufgrund des Leistungsfähigkeitsprinzips ist daher nicht geboten. Ein Erlass von Steuern in diesen Fällen führte vielmehr zu Ungleichbehandlungen. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass entgegen der Ansicht des BFH ein Erlass in solchen Fällen nicht zu gewähren ist.

H. Erlass von Steuern aus persönlichen Billigkeitsgründen

Im Gegensatz zu allen anderen bisher behandelten Fallgruppen, in denen es um die Frage ging, unter welchen Umständen aus sachlichen Billigkeitsgründen ein Erlass von Steuern zu gewähren sei, geht es bei den jetzt zu untersuchenden Fallgruppen um die Frage einer persönlichen Unbilligkeit975.

I. Darstellung der Problematik

In den zu untersuchenden Fällen hat der Steuerpflichtige regelmäßig Steuerschulden, die seine aktuelle wirtschaftliche Leistungsfähigkeit übersteigen.

973 Dazu Ebke, FS Maurer, 869 (887 f.). 974 Ähnlich Ebke, FS Maurer, 869 (887 f.). 975 Bei der Frage eines Erlasses von Säumniszuschlägen wurde zwar ebenfalls an eine wirtschaftliche

Notlage des Steuerpflichtigen angeknüpft. Diese begründete aber mittelbar die sachliche Unbilligkeit der Einziehung der Säumniszuschläge. Der BFH spricht in diesen Fällen daher auch ausdrücklich von sachlicher Unbilligkeit. Vgl dazu BFH v. 22. April 1975 VII R 54/72 in BStBl. II 1975, 727 (728) = BFHE 116, 87; BFH v. 8. März 1984 I R 44/80 in BStBl. II 1984, 415 (416). Es handelte sich daher unstrittig nicht um einen Fall persönlicher Unbilligkeit.

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1. Darstellung der Fallgruppen

Der Großteil der Erlassanträge, die bei den Finanzämtern gestellt werden, wird mit einer wirtschaftlichen Notlage begründet976. Die Spannbreite zwischen einer lediglich vorübergehenden finanziellen Anspannung und einer dauerhaften Existenzbedrohung ist dabei sehr weit. Der BFH musste also Kriterien entwickeln, nach denen die Frage zu entscheiden ist, unter welchen Umständen ein Billigkeitserlass ausgesprochen werden soll.

2. Persönliche Unbilligkeit in Abgrenzung zur sachlichen Unbilligkeit

Persönliche Billigkeitsgründe sind nach allgemeiner Auffassung solche, die ihre Ursache in persönlichen, vor allem in den wirtschaftlichen Verhältnissen haben, in denen der Steuerpflichtige lebt977. Es geht hier nicht darum, ob die Besteuerung im konkreten Fall mit der Intention des zugrunde liegenden Gesetzes übereinstimmt. Vielmehr ist zu entscheiden, ob unter sozialen Gesichtspunkten die Erhebung der Steuer beim betroffenen Steuerschuldner als ungerecht erscheint. Entscheidend ist daher nicht der Tatbestand des Steuergesetzes und die Wertungen des Gesetzes. Maßgeblich sind vielmehr die persönlichen Umstände des Steuerpflichtigen978.

II. Auffassung des BFH zu diesem Komplex

Die Ansicht des BFH zur Frage des Erlasses von Steuern wegen persönlichen Unbilligkeit wird im Folgenden dargestellt.

1. Ausgangspunkt der Rechtsprechung

In den ersten veröffentlichten Entscheidungen des BFH zu dem oben beschriebenen Problem Anfang der sechziger Jahre wird festgehalten, dass bei Gefährdung des wirtschaftlichen Bestandes ein Erlass von Steuern zu gewähren ist979.

976 Vgl. Gerber, Rdnr. 91. 977 Von Groll, in Hübschmann/Hepp/Spitaler § 227 AO Rdnr. 131; Hampel/Benkendorff, S. 98;

Schwarz § 163 AO Rdnr. 51; Kemmerling/Delp, BB 2002, 655 (658); BFH v. 29. April 1981 IV R 23/78 in BStBl. II 1981, 726 (727) = BFHE 133, 489; BFH v. 24. Oktober 1988 X B 54/88 in BFH/NV 1989, 285 (286); vgl. dazu auch Gerber, Rdnr. 91 ff.

978 Kemmerling/Delp, BB 2002, 655 (658). 979 BFH v. 25. Januar 1961 II 34/59 in HFR 1961, 133 (134).

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a) „Wirtschaftliche“ Unbilligkeit

Der Begriff der persönlichen Unbilligkeit wird zunächst noch nicht verwendet980. Es wird teilweise von Unbilligkeit gesprochen, die ihre Ursache in der wirtschaftlichen Lage des Steuerpflichtigen hat. Dieser wird die Unbilligkeit aus sachlichen Gründen gegenübergestellt981.

b) Bedeutung der Erlasswürdigkeit

Der Begriff der Erlasswürdigkeit, der später im Rahmen der persönlichen Unbilligkeit zentrale Bedeutung erlangt, wird bereits verwendet982. Allerdings wird die Erlasswürdigkeit generell als Voraussetzung für einen Erlass aus Billigkeitsgründen angesehen und nicht nur auf die Frage des Vorliegens einer persönlichen beziehungsweise wirtschaftlichen Unbilligkeit beschränkt983. Auch ein Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen setzt daher nach Auffassung des BFH die Erlasswürdigkeit des Steuerschuldners voraus. Erlasswürdig ist ein Steuerpflichtiger nur, wenn sein Verhalten nicht in eindeutiger Weise gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen hat984. Zur Begründung wird angeführt, der Erlass sei die Begünstigung eines Einzelnen zu Lasten der Gesellschaft. Dies sei nur zu rechtfertigen, wenn der Begünstigte die Interessen der Gemeinschaft nicht verletzt habe985. Im Rahmen der Unbilligkeit aus wirtschaftlichen Gründen wird insbesondere dann fehlende Erlasswürdigkeit angenommen, wenn die mangelnde Leistungsfähigkeit auf einem Verhalten des Steuerpflichtigen beruht986.

c) Maßgeblicher Zeitpunkt

Bei der Frage, ob eine persönliche Unbilligkeit vorliegt, kommt es auf die vorliegenden Vermögens- und Einkommensverhältnisse an. Diese können sich unter Umständen sowohl zum Positiven (Erbschaften, Schenkungen, Lotteriegewinne, günstige Entwicklung eines Gewerbes) als auch zum Negativen (Kursrückgänge bei Aktien,

980 Vgl. dazu BFH v. 25. Januar 1961 II 34/59 in HFR 1961, 133 und BFH v. 2. März 1961

IV 126/60 U in BStBl. III 1961, 288 = BFHE 73, 53. 981 BFH v. 2. März 1961 IV 126/60 U in BStBl. III 1961, 288 (289) = BFHE 73, 53. 982 BFH v. 14. November 1957 IV 418/56 U in BStBl. III 1958, 153 (154) = BFHE 66, 398; BFH

v. 2. März 1961 IV 126/60 U in BStBl. III 1961, 288 (289) = BFHE 73, 53. 983 BFH v. 14. November 1957 IV 418/56 U in BStBl. III 1958, 153 (154) = BFHE 66, 398; ähnlich

BFH v. 2. März 1961 IV 126/60 U in BStBl. III 1961, 288 (289) = BFHE 73, 53. 984 BFH v. 14. November 1957 IV 418/56 U in BStBl. III 1958, 153 (154) = BFHE 66, 398. 985 So im Ergebnis BFH v. 14. November 1957 IV 418/56 U in BStBl. III 58, 153 (154) = BFHE 66,

398. 986 BFH v. 14. November 1957 IV 418/56 U in BStBl. III 1958, 153 (154) = BFHE 66, 398.

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Unglücksfälle, ungünstige betriebswirtschaftliche Entwicklung eines Unternehmens) ändern. Der Frage, welcher Zeitpunkt für die Beurteilung der persönlichen Billigkeitsgründe maßgeblich ist, kommt daher unter Umständen entscheidende Bedeutung zu. Schon in den ersten Entscheidungen des BFH in diesem Zusammenhang wird daher die Frage des Zeitpunktes, in dem die Vermögenslage des Antragstellers zu bewerten ist, behandelt. Als maßgeblich anerkannt wird dabei der Zeitpunkt der letztinstanzlichen Verwaltungsentscheidung987. Da die letzte Verwaltungsentscheidung in der Regel der Bescheid der Oberfinanzdirektion über den Einspruch ist, kann auf diesen Zeitpunkt abgestellt werden988.

2. Weitere Entwicklung der Rechtsprechung

Ausgehend vom bestehenden Ansatz, wonach eine Gefährdung des wirtschaftlichen Bestandes einen Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen rechtfertige, entwickelten die verschiedenen Senate des BFH die Definition der persönlichen Unbilligkeit weiter.

a) Weiterentwicklung der Definition des Begriffes der persönlichen Unbilligkeit zur Gefährdung der Existenz

In einem ersten Schritt wurde der Begriff der Existenzgefährdung eingeführt989, zunächst wurde dieser aber weder exakt definiert noch in ein genaues Verhältnis zum Terminus der persönlichen Unbilligkeit gesetzt. Es wurde lediglich angemerkt, eine mögliche Existenzgefährdung sei unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Gesamtverhältnisse zu ermitteln990. Später hielt der BFH fest, eine persönliche Unbilligkeit sei allgemein anzunehmen im Falle der Existenzgefährdung991. Dieser Begriff wurde im Jahre 1966 genauer definiert. Eine Gefährdung der Existenz des Steuerschuldners wird demnach angenommen, wenn die Fortführung der gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit des Steuerpflichtigen durch die Einziehung der Steuern ernsthaft in Frage gestellt ist992.

Diese Formulierung, die der späteren ständigen Rechtsprechung schon sehr nahe kommt, konnte sich aber zunächst noch nicht als Standarddefinition zur Beurteilung der Frage nach dem Vorliegen einer persönlichen Unbilligkeit etablieren. Vielmehr wurden auch später noch andere Ansätze verfolgt. Teilweise sollte ein Erlass aus persönlichen 987 BFH v. 25. Januar 1961 II 34/59 in HFR 1961, 133 (134). 988 BFH v. 14. November 1957 IV 418/56 U BStBl. III 1958, 153 (154) = BFHE 66, 398; BFH

v. 2. März 1961 IV 126/60 U in BStBl. III 1961, 288 (289) = BFHE 73, 53. 989 Zunächst in BFH v. 15. Oktober 1964 V 272/61 in HFR 1965, 75 (76). 990 BFH v. 15. Oktober 1964 V 272/61 in HFR 1965, 75. 991 BFH v. 9. November 1966 I 43/64 in BStBl. III 1967, 156 (156) = BFHE 87, 333. 992 BFH v. 9. November 1966 I 43/64 in BStBl. III 1967, 156 (156) = BFHE 87, 333.

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Billigkeitsgründen nur zu gewähren sein, wenn die wirtschaftliche Situation des Steuerpflichtigen so schlecht ist, dass er den Unterhaltsverpflichtungen gegenüber seiner Familie nicht mehr nachkommen kann993. Im Ergebnis wird dieser Ansatz zu ähnlichen Ergebnissen führen, nur ist der Indikator für eine wirtschaftliche Notlage hier ein spezieller, nämlich die Erfüllbarkeit von Unterhaltsverpflichtungen, die dem Steuerschuldner nach bürgerlichem Recht obliegen. Dieser Ansatz wird aber nicht weiterentwickelt. Durchsetzen konnte sich im Folgenden vielmehr die Definition der persönlichen Unbilligkeit über den Maßstab der Existenzgefährdung. Ein Fall persönlicher Unbilligkeit soll demnach vorliegen, wenn die Steuererhebung die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Steuerpflichtigen vernichten oder ernsthaft gefährden würde994. Bei der Klärung der Frage, ob eine solche Gefährdung vorliegt, wird im Unterschied zu früheren Entscheidungen aber nicht mehr an die Fortführung der gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit angeknüpft995. Vielmehr wird ein allgemeineres Kriterium herangezogen. Die wirtschaftliche Existenz des Steuerpflichtigen soll demnach bedroht sein, wenn ohne den Erlass der notwendige Lebensunterhalt vorübergehend oder dauerhaft nicht mehr bestritten werden kann996.

b) Notwendiger Lebensunterhalt

Auch der Begriff des notwendigen Lebensunterhaltes wird inhaltlich ausgefüllt. Dazu gehören nach Ansicht des BFH nicht nur die Mittel für Nahrung, Kleidung, Wohnung und ärztliche Behandlung, sondern auch für Hausrat und die sonst erforderlichen Gegenstände des täglichen Lebens997. Interessant ist, dass auch Unterhaltsleistungen für Angehörige dazu gezählt werden998. Hier werden die Unterhaltsleistungen allerdings nicht zum alleinigen Maßstab für das Vorliegen einer persönlichen Unbilligkeit gemacht. Vielmehr fließen die bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsverpflichtungen in die Beurteilung der Frage ein, wie hoch der Betrag anzusetzen ist, der für den Steuerschuldner zur Lebensführung unverzichtbar ist999.

Bei der Ermittlung des notwendigen Lebensunterhalts sind aber nicht nur Unterhaltsleistungen zu beachten, die der Steuerpflichtige zu erbringen hat. In die Berechnung müssen vielmehr auch die Unterhaltsleistungen einfließen, die der Steuerschuldner von Angehörigen erlangen kann. So wird es in frühen Entscheidungen des BFH vor dem Hintergrund des § 1360 Abs. 1 BGB als ein Hindernis für die

993 So der BFH v. 4. November 1977 III R 97/74 in BStBl. II 1978, 237 (238) = BFHE 124, 282. 994 BFH v. 29. April 1981 IV R 23/78 in BStBl. 1981, 726 (727) = BFHE 133, 489. 995 So noch BFH v. 9. November 1966 I 43/64 in BStBl. III 1967, 156 (156) = BFHE 87, 333. 996 BFH v. 29. April 1981 IV R 23/78 in BStBl. II 1981, 726 (727) = BFHE 133, 489. 997 BFH v. 29. April 1981 IV R 23/78 in BStBl. II 1981, 726 (728) = BFHE 133, 489. 998 So schon der BFH v. 12. Februar 1964 I 345/60 in HFR 1964, 257 (257); BFH v. 29. April 1981

IV R 23/78 in BStBl. II 1981, 726 (728) = BFHE 133, 489. 999 Anders noch BFH v. 4. November 1977 III R 97/74 in BStBl. II 1978, 237 = BFHE 124, 282.

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Anerkennung einer persönlichen Unbilligkeit angesehen, wenn der Ehepartner vermögend ist1000. Hierbei sind aber nicht nur privatrechtliche Unterhaltsansprüche von Bedeutung. Vielmehr sind bei der Frage, welchen Betrag der Steuerpflichtige zur Aufrechterhaltung seines notwendigen Lebensunterhaltes benötigt, auch öffentliche Fürsorgeansprüche in die Beurteilung einzubeziehen1001. Als Begründung für diese für den Steuerpflichtigen ungünstige Einschränkung wird angeführt, der Erlass belaste die Allgemeinheit zu Gunsten des einzelnen Steuerpflichtigen1002. Mit dem gleichen Argument wird auch begründet, dass als Maßstab für den notwendigen Lebensunterhalt eine bescheidene Lebensführung zu Grunde zu legen sei1003.

c) Erlasswürdigkeit

Der Grundsatz, ein Erlass aus Gründen persönlicher Unbilligkeit könne nur gewährt werden, wenn der Antragsteller erlasswürdig sei, wird bekräftigt und konkretisiert. Wegen Erlassunwürdigkeit soll ein Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen daher versagt werden, wenn der Steuerpflichtige die mangelnde Leistungsfähigkeit selbst herbeigeführt hat oder auf eine andere Weise gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen hat1004. Damit wird ein Gedanke aufgegriffen, der bereits aus einer der ersten Entscheidungen zu diesem Thema bekannt ist1005. Konkretisiert wird die Erlasswürdigkeit dahingehend, dass nicht jeder in der Vergangenheit betriebene überhöhte Aufwand in der Lebensführung den Steuerschuldner erlassunwürdig macht1006. Auch die in der Vergangenheit erfolgte bevorzugte Bedienung privater Schulden gegenüber Steuerschulden muss nicht zwangsläufig zur Erlassunwürdigkeit des Antragstellers führen1007. Dies gilt zumindest dann, wenn bei Befriedigung der privaten Gläubiger noch ausreichende Mittel für die Begleichung der Steuerschulden vorhanden waren1008.

1000 BFH v. 12. Februar 1964 I 345/60 in HFR 1964, 257 (257). 1001 BFH v. 12. Februar 1964 I 345/60 in HFR 1964, 257 (257). 1002 BFH v. 12. Februar 1964 I 345/60 in HFR 1964, 257 (257). 1003 BFH v. 4. November 1977 III R 97/74 in BStBl. II 1978, 237 (238) = BFHE 124, 282. 1004 BFH v. 29. April 1981 IV R 23/78 in BStBl. II 1981, 726 (728) = BFHE 133, 489. 1005 BFH v. 14. November 1957 IV 418/56 U in BStBl. III 1958, 153 (154) = BFHE 66, 398. 1006 BFH v. 29. April 1981 IV R 23/78 in BStBl. II 1981, 726 (728) = BFHE 133, 489. 1007 BFH v. 29. April 1981 IV R 23/78 in BStBl. II 1981, 726 (728) = BFHE 133, 489. 1008 BFH v. 29. April 1981 IV R 23/78 in BStBl. II 1981, 726 (728) = BFHE 133, 489.

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d) Maßgeblicher Zeitpunkt

Auch hier wird an die ersten Entscheidungen des BFH zur persönlichen Unbilligkeit angeknüpft. Entscheidend ist demnach die Sachlage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung1009.

e) Zusammenfassung

Unter der Ägide des alten § 131 RAO wurden einige Grundsätze der Rechtsprechung des BFH zur persönlichen Unbilligkeit aufgestellt. Teilweise wurden dabei Ansätze übernommen, die in den ersten Urteilen zu diesem Thema bereits zu erkennen waren. Die Anerkennung einer persönlichen Unbilligkeit wurde, wie in den ersten veröffentlichten Entscheidungen des BFH Anfang der sechziger Jahre, von der Existenzgefährdung einer Person abhängig gemacht. Die Gefährdung der Existenz wird jetzt allerdings exakt definiert. In diesem Zusammenhang wird auch der Begriff des notwendigen Lebensunterhaltes bedeutsam, der nicht nur eingeführt, sondern auch näher umschrieben wird. Es wird daran festgehalten, dass die Erlasswürdigkeit notwendige Voraussetzung eines Erlasses aus persönlichen Billigkeitsgründen ist. Hierbei und bei der Frage nach dem maßgeblichen Zeitpunkt hält sich die Rechtsprechung bis zum In-Kraft-Treten der AO 1977 an die Vorgaben, die bis Anfang der sechziger Jahre in wenigen einschlägigen Entscheidungen gemacht wurden.

3. Aktuelle Rechtsprechung des BFH zur persönlichen Unbilligkeit

Mit dem In-Kraft-Treten der AO 1977 entstanden die bis heute gültigen §§ 163 und 227 AO. Die Zahl der veröffentlichten Entscheidungen zur persönlichen Unbilligkeit stieg in den achtziger Jahren exponentiell an. Es ist eine sich verästelnde Kasuistik und weitergehende Konkretisierung der Dogmatik des BFH zu erkennen, die im Folgenden dargestellt werden soll.

a) Erlasswürdigkeit und Erlassbedürftigkeit als Voraussetzungen

Bisher hatte der BFH die Existenzgefährdung als entscheidendes Kriterium für die Beurteilung einer persönlichen Härte angeführt1010. Diesem wirtschaftlichen Element

1009 BFH v. 15. Oktober 1964 V 272/61 in HFR 1965, 75 (76). 1010 Siehe S. 212 ff.

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wurde die Erlasswürdigkeit als Komponente gegenübergestellt, bei der das Verhalten des Steuerpflichtigen in der Vergangenheit bewertet wird1011.

aa) Einführung des Begriffes der Erlassbedürftigkeit

Bereits in einem der ersten Urteile unter der neuen Rechtslage wird in diesem Kontext der Begriff Erlassbedürftigkeit eingeführt1012. Für die Erlassbedürftigkeit sollen die wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse maßgebend sein1013. Erlassbedürftigkeit soll vorliegen, wenn durch die Steuererhebung die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Steuerpflichtigen ernsthaft gefährdet ist1014. Diese Definition lässt erkennen, wo der Begriff der Erlassbedürftigkeit einzuordnen ist. Er ist deckungsgleich mit den Voraussetzungen der persönlichen Unbilligkeit, wie sie in früheren Entscheidungen genannt wurden1015. In diesen Entscheidungen wurde allerdings auch bei Vorliegen einer Existenzgefährdung die Erlasswürdigkeit des Antragstellers als notwendige weitere Voraussetzung für einen Erlass angesehen. Die Einführung des Begriffes der Erlassbedürftigkeit ist daher so zu bewerten, dass dem Begriff der Erlasswürdigkeit ein zweiter Terminus gegenübergestellt wurde. Diese beiden Begriffe bestimmen in der aktuellen Rechtsprechung des BFH den Inhalt der persönlichen Unbilligkeit.

bb) Erlassbedürftigkeit und Erlasswürdigkeit als Tatbestandsvoraussetzungen für das Vorliegen der persönlichen Unbilligkeit

Das Verhältnis von Erlasswürdigkeit und Erlassbedürftigkeit zum Vorliegen der persönlichen Unbilligkeit bleibt in einigen Entscheidungen unklar. Teilweise wird die persönliche Unbilligkeit lediglich als Existenzgefährdung definiert1016. In diesen Entscheidungen ist nicht die Rede davon, dass der Steuerpflichtige auch erlasswürdig

1011 Vgl. dazu BFH v. 29. April 1981 IV R 23/78 in BStBl. II 1981, 726 (727 f) = BFHE 133, 489. 1012 Erstmalig in einer veröffentlichten Entscheidung in BFH v. 27. Februar 1985 II R 83/83 in

BFH/NV 1985, 6 (8). 1013 BFH v. 4. Juli 1986 VII B 56/86 in BFH/NV 1987, 20 (22). 1014 BFH v. 27. Mai 1987 X R 41/81 in BFH/NV 1987, 691 (693). 1015 Vgl. dazu nur BFH v. 29. April 1981 IV R 23/78 in BStBl. II 1981, 726 (727) = BFHE 133, 489. 1016 BFH v. 26. Februar 26. Februar 1987 IV 298/84 in BStBl. II 1987, 612 (614) = BFHE 149, 126;

BFH v. 11. März 1988 III R 236/84 in BFH/NV 1989, 432 (433); BFH v. 25. März 1988 III R 186/84 in BFH/NV 1989, 426 (428); BFH v. 24. Oktober 1988 X B 54/88 in BFH/NV 1989, 285 (286); BFH v. 12. Juli 1989 X B 111/88 in BFH/NV 1990, 213 (214); BFH v. 8. März 1990 IV R 34/89 in BStBl. II 1990, 673 (676) = BFHE 160, 296; BFH v. 13. März 1990 VII S 3/90 in BFH/NV 1991, 171 (171); BFH v. 27. Februar 1991 XI R 23/88 in BFH/NV 1991, 430 (431); BFH v. 15. Juli 1993 III B 8/93 in BFH/NV 1994, 439 (440); BFH v. 29. September 1994 III S 5/94 in BFH/NV 1995, 370 (372); BFH v. 2. April 1996 III B 171/95 in BFH/NV 1996, 728 (729); BFH v. 27. September 2001 X R 134/98 in BStBl. II 2002, 176 (179) = BFHE 196, 400.

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sein muss. Das scheint anderen Urteilen zu widersprechen. In diesen wird als Voraussetzung eines Erlasses aus persönlichen Billigkeitsgründen sowohl die Erlassbedürftigkeit, die als Existenzgefährdung definiert wird, als auch die Erlasswürdigkeit genannt1017. Fraglich ist, wie der scheinbare Widerspruch zu bewerten ist. Zu beachten ist der unterschiedliche Charakter der Tatbestandsmerkmale der Erlassbedürftigkeit und Erlasswürdigkeit. Damit das Merkmal der Erlassbedürftigkeit erfüllt ist, muss eine Existenzgefährdung des Antragstellers vorliegen1018. Diese Voraussetzung muss positiv gegeben sein.

Anders verhält es sich bei der Erlasswürdigkeit. Es gibt bestimmte Umstände, die zu einer fehlenden Erlasswürdigkeit führen können. In der Regel ist aber davon auszugehen, dass der Steuerschuldner erlasswürdig ist. Nur bei Vorliegen bestimmter Umstände ist die Erlasswürdigkeit und damit ein Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen ausgeschlossen. Das Nichtvorliegen der Erlassunwürdigkeit ist daher eine Tatbestandsvoraussetzung der persönlichen Unbilligkeit. So sind auch die Formulierungen des BFH zu verstehen, die Erlassunwürdigkeit schließe den Billigkeitserlass aus1019. In der Auslegung durch den BFH hat die Erlassunwürdigkeit daher den Charakter eines negativen Tatbestandsmerkmals1020.

Die Frage nach der Erlasswürdigkeit wird vom BFH nur gestellt, wenn Hinweise gegeben sind, dass der Steuerpflichtige aus bestimmten Gründen nicht erlasswürdig sein könnte. Liegen hingegen keine Anhaltspunkte vor, die darauf hindeuten, dass es an einer Erlasswürdigkeit fehlen könnte, wird diese Voraussetzung für den Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen oftmals nicht angesprochen. Verkürzt wird dann als Voraussetzung für das Vorliegen einer Unbilligkeit aus persönlichen Gründen nur die Erlassbedürftigkeit genannt. Da die Erlassbedürftigkeit als Existenzgefährdung definiert wird, kommt es zu der verkürzten Formel, nach der bei Gefährdung der Existenz ein Erlass aus Gründen persönlicher Unbilligkeit zu gewähren sei. Gleichwohl ist festzuhalten, dass nach Ansicht des BFH für die Annahme einer persönlichen Unbilligkeit Erlassbedürftigkeit und Erlasswürdigkeit kumulativ vorliegen müssen1021.

1017 BFH v. 27. Februar 1985 II R 83/83 in BFH/NV 1985, 6 (8); BFH v. 4. Juli 1986 VII B 56/86 in

BFH/NV 1987, 20 (22); BFH v. 5. März 1987 VII B 138/86 in BFH/NV 1987, 619 (620); BFH v. 27. Mai 1987 X R 41/81 in BFH/NV 1987, 691 (693); BFH v. 29. Juni 1987 X R 22/81 in BFH/NV 1987, 693 (695); BFH v. 26. Oktober 1999 V B 130/99 in BFH/NV 2000, 411 (411 f).

1018 Vgl. dazu BFH v. 4. Juli 1986 VII B 56/86 in BFH/NV 1987, 20 (22); BFH v. 29. Juni 1987 X R 22/81 in BFH/NV 1987, 693 (695).

1019 BFH v. 28. Oktober 1997 VII B 183, 96 in BFH/NV 1998, 683 (685). 1020 Vgl. dazu Minas-von Savigny, S. 76; Schwacke, S. 22; ausführlich zu den negativen

Tatbestandsmerkmalen Minas-von Savigny, S. 75 ff. 1021 So ausdrücklich BFH v. 4. Juli 1986 VII B 56/86 in BFH/NV 1987, 20 (22); BFH v. 17. Dezember

1993 IV B 21/93 in BFH/NV 1994, 606 (607); vgl. dazu auch von Groll, in Hübschmann/Hepp/Spitaler § 227 AO Rdnr. 295 ff.; Tipke/Kruse, § 227 AO Rdnr. 86 ff.

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b) Inhaltliche Auslegung des Begriffes der Erlassbedürftigkeit

Im Folgenden soll dargelegt werden, wie der BFH den Begriff der Erlassbedürftigkeit definiert.

aa) Grundlegende Definition

Nach Ansicht des BFH soll Erlassbedürftigkeit vorliegen, wenn die Erhebung der betreffenden Steuer die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Steuerpflichtigen vernichtet oder ernsthaft gefährdet1022. Maßgeblich sind die wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse des Steuerpflichtigen1023. Die wirtschaftliche Existenz soll gefährdet sein, wenn ohne Billigkeitsmaßnahmen der notwendige Lebensunterhalt vorübergehend oder dauerhaft nicht mehr bestritten werden kann1024. Zum notwendigen Lebensunterhalt zählt der BFH die finanziellen Mittel, die der Steuerpflichtige für Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Behandlung, den notwendigen Hausrat, die sonst erforderlichen Gegenstände des täglichen Lebens und Unterhaltsleistungen, zu denen der Steuerschuldner verpflichtet ist, benötigt1025.

bb) Einzelheiten

Die oben angeführten Grundsätze, nach denen der BFH über das Vorliegen einer Erlassbedürftigkeit befindet, sollen im Folgenden näher erläutert werden. Aufgrund der zersplitterten Kasuistik bietet sich zur näheren Aufarbeitung der Leitlinien des BFH in diesem Bereich eine Begutachtung von einzelnen Problemfeldern an.

(1) Kausaler Zusammenhang zwischen Steuererhebung und Gefährdung der Existenz

1022 Dogmatisch klar nur BFH v. 27. Mai 1987 X R 41/81 in BFH/NV 1987, 691 (693); ähnlich BFH

v. 11. März 1988 III R 236/84 in BFH/NV1989, 432 (433); oftmals wird die persönliche Unbilligkeit aus oben genannten Gründen ebenso definiert, vgl. BFH v. 26. Februar 1987 IV R 298/84 in BStBl. II 1987, 612 (614) = BFHE 149, 126; BFH v. 11. März 1988 III R 236/84 in BFH/NV 1989, 432 (433); BFH v. 2. April 1996 III B 171/95 in BFH/NV 1996, 728 (729).

1023 BFH v. 4. Juli 1986 VII B 56/86 in BFH/NV 1987, 20 (22). 1024 BFH v. 26. Februar 1987 IV R 298/84 in BStBl. II 1987, 612 (614) = BFHE 149, 126; BFH

v. 11. März 1988 III R 236/84 in BFH/NV 1989, 432 (433); BFH v. 25. März 1988 III R 186/84 in BFH/NV 1989, 426 (428); BFH v. 8. März 1990 IV R 34/89 in BStBl. II 1990, 673 (676) = BFHE 160, 296; BFH v. 27. Februar 1991 XI R 23/88 in BFH/NV1991, 430 (431).

1025 So schon der BFH v. 29. April 1981 IV R 23/78 in BStBl. II 1981, 726 (728) = BFHE 133, 489; ebenso BFH v. 26. Februar 1987 IV R 298/84 in BStBl. 1987, 612 (613) = BFHE 149, 126.

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Zu dem Themenkomplex gehören zwei Gesichtspunkte. Zum einen ist die Frage zu klären, inwieweit die Erhebung der Steuer, deren Erlass begehrt wird, für die Gefährdung des Existenz kausal gewesen sein muss. Damit im engen Zusammenhang steht das Problem, ob ein Erlass auch zu gewähren ist, wenn dieser sich nicht konkret auf die wirtschaftliche Situation des Steuerpflichtigen auswirkt. Dies kann etwa der Fall sein, wenn die Ansprüche gegen den Antragsteller nicht durchsetzbar sind. In der Praxis kommt dies in Betracht, wenn der Steuerpflichtige aufgrund seiner finanziellen Situation Pfändungsschutz genießt. In einem solchen Fall könnte ein Erlass unter Umständen nicht zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen Lage beitragen.

(a) Grundsätzliche Kausalität von Erhebung der Steuer und Existenzgefährdung

Nach Auffassung des BFH muss zwischen der wirtschaftlichen Notlage des Steuerpflichtigen und der steuerlichen Inanspruchnahme eine Kausalbeziehung bestehen. Die Existenzgefährdung muss durch die Einziehung der Steuer selbst verursacht worden sein1026. Beruht die Notlage nicht auf der Steuererhebung, sondern auf den übrigen wirtschaftlichen Verhältnissen, liegt keine Erlassbedürftigkeit vor1027. Dies soll grundsätzlich auch gelten, wenn der Steuerpflichtige unverschuldet in eine wirtschaftliche Notlage geraten ist1028.

(b) Kausalität von Erlass und der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage

Auf der einen Seite muss nach Auffassung des BFH die Existenzgefährdung gerade durch die Steuererhebung ausgelöst worden sein. Nimmt man dies als Prämisse, ist nur der logische Schluss zulässig, dass der Erlass auf der anderen Seite auch die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage herbeiführen muss. Davon geht auch der BFH aus. Er nimmt daher eine Erlassbedürftigkeit nur an, wenn der Erlass geeignet ist, die wirtschaftliche Situation des Steuerpflichtigen zu verbessern1029.

1026 BFH v. 11. April 1989 VII B 202/88 in BFH/NV 1989, 766 (767); BFH v. 5. September 1989

VII B 110/89 in BFH/NV 90, 281 (281); BFH v. 20. Februar 1990 IV B 94/89 in BFH/NV 1991, 16 (16); BFH v. 27. April 2001 XI S 8/01 in BFH/NV 2001, 1362 (1363); ähnlich BFH v. 28. Oktober 1997 VII B 183/96 in BFH/NV 1998, 683 (685).

1027 BFH v. 11. April 1989 VII B 202/88 in BFH/NV 1989, 766 (767); BFH v. 5. September 1989 VII B 110/89 in BFH/NV 1990, 281 (281); BFH v. 20. Februar 1990 IV B 94/89 in BFH/NV 1991, 16 (16).

1028 BFH v. 27. April 2001 XI S 8/01 in BFH/NV 2001, 1362 (1363). 1029 BFH v. 12. Juli 1989 X B 111/88 in BFH/NV 1990, 213 (214); BFH v. 13. März 1990 VII S 3/90

in BFH/NV 1991, 171 (172); BFH v. 24. April 1992 XI B 76/91 in BFH/NV 1992, 692 (693); BFH v. 15. Juli 1993 III B 8/93 in BFH/NV 1994, 439 (440); BFH v. 27. September 2001 X R 134/98 in BStBl. II 2002, 176 (179) = BFHE 196, 400.

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(aa) Erfordernis konkreter Auswirkungen auf die wirtschaftliche Situation des Steuerpflichtigen

Man könnte annehmen, dass ein Erlass stets mit einem wirtschaftlichen Vorteil des Antragstellers verbunden ist. Dies könnte daraus gefolgert werden, dass der Erlass von Steuern immer eine Verringerung der Verbindlichkeiten des Steuerschuldners bedeutet. Eine solche Argumentation lässt der BFH aber nicht zu. Nach seiner Ansicht muss der Dispens sich vielmehr auf die wirtschaftliche Existenz des Steuerpflichtigen konkret auswirken1030. Die Verringerung von Schulden, die zwar tatsächlich vorhanden sind, aber eher abstrakt als Zahlengebilde existieren und keine unmittelbare Wirkung auf die Lebensführung des Steuerschuldners haben, soll nicht ausreichen. Ebenso kann die rein hypothetische Möglichkeit, dass der Erlass dem Steuerpflichtigen später einmal tatsächlich zugute kommt, wenn dieser eine Erwerbstätigkeit aufnimmt, nicht als ausreichend angesehen werden1031.

Kann das Finanzamt seine Ansprüche daher nicht durchsetzen, liegt grundsätzlich keine Erlassbedürftigkeit vor1032. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Steuerschuldner zahlungsunfähig und überschuldet ist, so dass er dem Pfändungsschutz unterliegt1033. Hat der Antragsteller erhebliche Schulden bei privaten Gläubigern, gilt dies entsprechend1034. Hier kommt noch der Gesichtspunkt hinzu, dass ein Erlass nicht dem Steuerpflichtigen, sondern vielmehr seinen Gläubigern, also Dritten zugute käme1035. In einem solchen Fall kann nach Ansicht des BFH allenfalls unter besonderen Umständen eine Erlassbedürftigkeit angenommen werden. Der Schuldner müsste etwa darlegen, dass die privaten Gläubiger ebenfalls zumindest auf einen Teil ihrer Ansprüche verzichten wollen, damit der Steuerpflichtige wieder zahlungsfähig wird1036. Eine andere Möglichkeit wird darin gesehen, dass der Antragsteller substantiiert darlegt, wie er die im Falle eines Steuererlasses noch verbleibenden privaten Schulden ausgleichen will1037.

1030 BFH v. 24. Oktober 1988 X B 54/88 in BFH/NV 1989, 285 (286); BFH v. 12. Juli 1989

X B 111/88 in BFH/NV 1990, 213 (214); BFH v. 15. Juli 1993 III B 8/93 in BFH/NV 1994, 439 (440); BFH v. 2. April 1996 III B 171/95 in BFH/NV 1996, 728 (729); BFH v. 27. September 2001 X R 134/98 in BStBl. II 2002, 176 (179) = BFHE 196, 400.

1031 BFH v. 24. Oktober 1988 X B 54/88 in BFH/NV 1989, 285 (286); ähnlich auch BFH v. 13. Μärz 1990 VII S 3/90 in BFH/NV 1991, 171 (172); BFH v. 2. April 1996 III B 171/95 in BFH/NV 1996, 728 (729).

1032 BFH v. 12. Juli 1989 X B 111/88 in BFH/NV 1990, 213 (214); BFH v. 15. Juli 1993 III B 8/93 in BFH/NV 1994, 439 (440); BFH v. 2. April 1996 III B 171/95 in BFH/NV 1996, 728 (729).

1033 BFH v. 12. Juli 1989 X B 111/88 in BFH/NV 1990, 213 (214); BFH v. 15. Juli 1993 III B 8/93 in BFH/NV 1994, 439 (440); BFH v. 2. April 1996 III B 171/95 in BFH/NV 1996, 728 (729); BFH v. 19. November 1996 VII B 187/96 in BFH/NV 1997, 323 (323); BFH v. 27. September 2001 X R 134/98 in BStBl. II 2002, 176 (179) = BFHE 196, 400.

1034 BFH v. 20. Februar 1990 IV B 94/89 in BFH/NV 1991, 16 (16). 1035 BFH v. 20. Februar 1990 IV B 94/89 in BFH/NV 1991, 16 (16). 1036 BFH v. 5. September 1989 VII B 110/89 in BFH/NV 1990, 281 (282). 1037 BFH v. 24. April 1992 XI B 76/91 in BFH//NV 1992, 692 (693).

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In dem hier dargestellten Zusammenhang führt die Anwendung der Grundsätze des BFH zu einem interessanten Paradoxon. Die Erlassbedürftigkeit setzt im Grundsatz eine schlechte wirtschaftliche Situation des Steuerpflichtigen voraus. Der Antragsteller, der sich auf persönliche Billigkeitsgründe beruft, muss daher darlegen, dass er sich in einer schlechten finanziellen Lage befindet. Sind die wirtschaftlichen Verhältnisse aber derart desolat, dass der Steuerschuldner dem Pfändungsschutz unterliegt, soll der Erlass nach Auffassung des BFH abzulehnen sein, da er sich nicht auf die ökonomische Situation des Antragstellers konkret auswirken kann. So kann auf der einen Seite ein Zuviel an finanziellen Mitteln zur Ablehnung des Erlassantrages führen, auf der anderen Seite ein Zuwenig ebenfalls1038.

Wird der Antrag auf Steuererlass mit der Begründung abgelehnt, aufgrund des für den Antragsteller bestehenden Pfändungsschutzes sei keine Erlassbedürftigkeit gegeben, ist es möglich, dass der Steuerpflichtige eine zu erwartende Verbesserung seiner Lage behauptet. In Betracht kommt hier in erster Linie die beabsichtigte Aufnahme einer bezahlten Tätigkeit1039. In einem solchen Fall soll nach Auffassung des BFH zu differenzieren sein. Die rein hypothetische Möglichkeit, dass in Zukunft eine Erwerbstätigkeit aufgenommen wird, kann grundsätzlich keine Beachtung finden1040. Der Steuerpflichtige muss seine Zukunftsaussichten vielmehr substantiiert darlegen und dabei auch darauf eingehen, inwieweit der Erlass der Steuerschulden ihm helfen soll1041.

Die Erlassbedürftigkeit wird aber insbesondere dann als gegeben angesehen, wenn gerade das Vorhandensein von Steuerschulden die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und damit die Schaffung einer eigenen, von Sozialhilfeleistungen unabhängigen wirtschaftlichen Existenz ausschließt1042. Dies kann etwa der Fall sein, wenn die vom Steuerpflichtigen angestrebte Erwerbstätigkeit nur nach Erteilung einer Konzession ausgeübt werden kann und die beantragte Konzession zwingend eine Unbedenklichkeitserklärung des Finanzamtes voraussetzt und ausstehende Steuerschulden dieser Unbedenklichkeitserklärung entgegenstehen1043. An der Kausalität zwischen Erlass und Verbesserung der konkreten finanziellen Lage des Antragstellers kann es ebenfalls fehlen, wenn aus anderen Gründen der Erlass zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation nicht geeignet ist. Dies ist etwa dann der Fall, wenn der Steuerpflichtige aufgrund einer fortgeschrittenen Alkoholabhängigkeit seiner eigenen Situation gleichgültig gegenübersteht1044.

1038 Dazu und zur Kritik an der Rechtsprechung vgl. Farr, BB 2002, 1989 (1989). 1039 Vgl. BFH v. 24. Oktober 1988 X B 54/88 in BFH/NV 1989, 285; BFH v. 2. April 1996

III B 171/95 in BFH/NV 1996, 728; BFH v. 27. September 2001 X R 134/98 in BStBl. II 2002, 176 = BFHE 196, 400.

1040 BFH v. 24. Oktober 1988 X B 54/88 in BFH/NV 1989, 285 (286). 1041 So im Ergebnis BFH v. 24. April 1992 XI B 76/91 in BFH/NV 1992, 692 (693). 1042 BFH v. 27. September 2001 X R 134/98 in BStBl. II 2002, 176 (179) = BFHE 196, 400. 1043 So der zugrunde liegende Sachverhalt von BFH v. 27. September 2001 X R 134/98 in BStBl. II

2002, 176 = BFHE 196, 400. 1044 BFH v. 13. März 1990 VII S 3/90 in BFH/NV 1991, 171 (172).

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Interessant ist die Frage, ob eine Erlassbedürftigkeit anzuerkennen ist, wenn einerseits der Steuerschuldner finanziell so schlecht gestellt ist, dass er dem Pfändungsschutz unterliegt, andererseits aber zu erwarten ist, dass seine Vermögenssituation sich mittelfristig deutlich verbessert. Eine solche Situation kann etwa auftreten, wenn eine größere Erbschaft absehbar ist. Hier wird es als ermessensfehlerfreie Erwägung der Finanzbehörden angesehen, wenn die Erlassbedürftigkeit nicht nur aufgrund dessen, dass sich der Erlass nicht konkret auf die Situation des Antragstellers auswirken kann, sondern auch wegen der zu erwartenden Erbschaft abgelehnt wird1045.

(bb) Einordnung der konkreten Auswirkungen auf die wirtschaftliche Situation als drittes Tatbestandsmerkmal neben Erlasswürdigkeit und Erlassbedürftigkeit?

Bisher war der BFH in den einschlägigen Urteilen davon ausgegangen, dass das Erfordernis einer konkreten positiven Wirkung des Erlasses auf die ökonomische Situation des Antragstellers als Bestandteil des Kriteriums der Erlassbedürftigkeit anzusehen ist1046. In einer Entscheidung des V. Senats des BFH aus dem Jahre 1999 wird die bisherige Einordnung allerdings umgeworfen. Nach der darin geäußerten Ansicht soll die persönliche Unbilligkeit neben Erlassbedürftigkeit und Erlasswürdigkeit zur Voraussetzung haben, dass der Erlass dem Steuerpflichtigen und nicht einem Dritten zugute kommt1047. Auch wenn diese Auffassung keine inhaltlichen Konsequenzen hätte, sind die dogmatischen Auswirkungen durchaus erheblich. Neben der Erlassbedürftigkeit und der Erlasswürdigkeit wäre damit ein drittes, gleichwertiges Tatbestandsmerkmal aufgestellt, ohne dessen Vorliegen eine persönliche Unbilligkeit nicht anzuerkennen ist. Die relativ junge Äußerung wird in späteren Urteilen nicht wiederholt. Es bleibt abzuwarten, ob sie eine Revision der bisherigen vom BFH zugrunde gelegten Dogmatik nach sich zieht. Spätere Urteile lassen eher den entgegengesetzten Schluss zu, da sie wieder an die hergebrachten Definitionen anknüpfen1048.

(2) Bewertung von Unterhaltsansprüchen

1045 BFH v. 12. Juli 1989 X B 111/88 in BFH/NV 1990, 213 (214). 1046 So im Ergebnis BFH v. 12. Juli 1989 X B 111/88 in BFH/NV 1990, 213 (214); BFH v. 15. Juli

1993 III B 8/93 in BFH/NV 1994, 439 (440); BFH v. 2. April 1996 III B 171/95 in BFH/NV 1996, 728 (729).

1047 BFH v. 26. Oktober 1999 V B 130/99 in BFH/NV 2000, 411 (411 f). 1048 BFH v. 27. September 2001 X R 134/98 in BStBl. II 2002, 176 (179) = BFHE 196, 400.

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Unterhaltsleistungen fließen im Rahmen der Ermittlung der Erlassbedürftigkeit nach den Kriterien des BFH auf zweierlei Weise in die Bewertung ein. Zum einen kann die Verpflichtung des Steuerpflichtigen zu Unterhaltszahlungen den finanziellen Rahmen erweitern, der ihm als notwendiger Lebensunterhalt zugestanden wird, zum anderen können aber auch Ansprüche, die der Antragsteller anderen gegenüber geltend machen kann, bei der Abwägung zuungunsten eines Erlasses aus persönlichen Billigkeitsgründen gewertet werden.

(a) Unterhaltsansprüche der Familienangehörigen gegen den Antragsteller

Ausgaben, die der Steuerpflichtige aufgrund von Unterhaltsansprüchen berechtigter Personen tätigt, gehören zum notwendigen Lebensunterhalt. Dies gilt zumindest für die unterhaltsberechtigten Angehörigen, die mit dem Antragsteller in einer Hausgemeinschaft leben1049.

(b) Unterhaltsansprüche des Steuerpflichtigen gegenüber anderen Personen

Ebenfalls in die Ermittlung des lebensnotwendigen Unterhalts fließen Leistungen ein, die der Antragsteller als Unterhalt von anderen in Anspruch nehmen kann. Allerdings findet die Bewertung in anderer Weise statt. Ansprüche gegen solvente Angehörige auf Unterhalt, die dem Steuerpflichtigen zustehen, können den für die Erhaltung des notwendigen Lebensunterhaltes benötigten finanziellen Aufwand mindern. Der BFH geht generell davon aus, dass die Frage nach der Sicherung des notwendigen Lebensunterhaltes nicht ohne Berücksichtigung des Familienunterhaltsrechts beurteilt werden kann1050. Dies gilt insbesondere für Ehegatten, die nach § 1360 Satz 1 BGB verpflichtet sind, durch ihre Arbeit und ihr Vermögen die Familie angemessen zu unterhalten. Der angemessene Unterhalt umfasst dabei nach § 1360a Abs. 1 BGB alles, was nach den Verhältnissen der Ehegatten erforderlich ist, um die Kosten des Haushalts zu bestreiten, die persönlichen Bedürfnisse der Ehegatten und den Lebensbedarf der gemeinsamen unterhaltsberechtigten Kinder zu befriedigen. Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Ehepartners sind daher bei der Klärung der Frage zu berücksichtigen, ob der lebensnotwendige Unterhalt des Steuerpflichtigen gefährdet ist1051. Das Familienunterhaltsrecht umfasst aber nicht nur die Unterhaltsverpflichtungen zwischen Ehegatten, vielmehr sind gem. § 1601 BGB auch Verwandte in gerader Linie grundsätzlich dazu verpflichtet, einander Unterhalt zu 1049 BFH v. 26. Februar 1987 IV R 298/84 in BStBl. 1987, 612 (613) = BFHE 149, 126. 1050 BFH v. 31. März 1982 I B 97/81 in BStBl. II 1982, 530 (531) = BFHE 135, 410. 1051 So auch schon BFH v. 12. Februar 1964 I 345/60 in HFR 1964, 257 (257); BFH v. 31. März 1982

I B 97/81 in BStBl. II 1982, 530 (531) = BFHE 135, 410.

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gewähren. Es kann sich hier sowohl um Unterhaltsansprüche gegenüber Eltern und Großeltern als auch gegenüber Kindern und weiteren Nachkommen handeln. Auch diese Unterhaltsansprüche eines Steuerpflichtigen sollen nach Ansicht des BFH bei der Ermittlung des notwendigen Unterhalts berücksichtigt werden1052.

(c) Sozialhilfeansprüche

Fraglich ist, ob auch Ansprüche gegen die öffentliche Hand, namentlich solche auf Sozialhilfe, in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen sind. In einer Entscheidung des BFH aus den sechziger Jahren wird die Einbeziehung solcher Ansprüche angedeutet. Der Lebensbedarf sei generell nach den Grundsätzen nicht nur des privaten Unterhaltsrechts, sondern auch des öffentlichen Sozialhilferechts zu beurteilen1053. Aktuellen Urteilen ist aber eine Abkehr von dieser Haltung zu entnehmen. So kann ein Erlass aus Gründen persönlicher Unbilligkeit in Betracht kommen, wenn die Steuerrückstände den Antragsteller daran hindern, eine neue, von Sozialhilfeleistungen unabhängige wirtschaftliche Existenz aufzubauen1054. Wenn das Ziel des Steuererlasses aber ist, den Steuerpflichtigen unabhängig von öffentlichen Leistungen zu machen, kann ein Erlass nicht mit dem Argument abgelehnt werden, die Sozialhilfe decke den notwendigen Lebensunterhalt oder zumindest einen Teil davon. Aus diesem Grund rechnet der BFH die dem Steuerpflichtigen zustehenden Ansprüche auf Sozialhilfe nicht auf den Betrag an, der den notwendigen Lebensunterhalt ausmacht1055.

(3) Einsatz des Vermögens zur Tilgung der Steuerschuld

Bei der Frage, ob eine Existenzgefährdung anzunehmen ist, spielt nicht nur das Einkommen, sondern auch das Vermögen des Antragstellers eine Rolle.

(a) Grundsatz

Zur Tilgung der Steuerschuld muss der Steuerpflichtige nicht nur seine Einkünfte, sondern alle verfügbaren Mittel einsetzen1056. Dazu gehört grundsätzlich auch die

1052 BFH v. 3. Oktober 1988 IV S 5/86 in BFH/NV 1989, 411 (411). 1053 BFH v. 12. Februar 1964 I 345/60 in HFR 1964, 257 (257). 1054 BFH v. 27. September 2001 X R 134/98 in BStBl. II 2002, 176 (179) = BFHE 196, 400. 1055 So ausdrücklich für den Fall eines älteren Steuerpflichtigen BFH v. 26. Februar 1987 IV R 298/84

in BStBl. II 1987, 612 (614) = BFHE 149, 126. 1056 So schon der BFH v. 29. April 1981 IV R 23/78 in BStBl. II 1981, 726 (728); ebenso BFH

v. 31. März 1982 I B 97/81 in BStBl. II 1982, 530 (531)= BFHE 135, 410; BFH v. 3. Oktober

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Vermögenssubstanz1057. Eine Erlassbedürftigkeit kann folglich nicht schon deshalb angenommen werden, weil der Steuerpflichtige zur Begleichung der ausstehenden Steuerschulden nicht nur sein Einkommen, sondern auch Teile seines Vermögens oder sein Vermögen als Ganzes angreifen muss. Dazu gehören insbesondere auch die Inanspruchnahme von Krediten und dem Steuerpflichtigen zustehenden Unterhaltsansprüchen1058.

(b) Ausnahmen, wenn die Verwertung des Vermögens den Ruin des Steuerpflichtigen bedeuten würde

Ein Rückgriff auf die Substanz des Vermögens kann aber nicht verlangt werden, wenn dieser den wirtschaftlichen Ruin des Steuerpflichtigen nach sich ziehen würde1059. Es sind dabei verschiedene Fallkonstellationen denkbar, in denen die Verwertung der Vermögenssubstanz die wirtschaftliche Existenz des Steuerpflichtigen vernichten könnte. Die in der Rechtsprechungspraxis des BFH am häufigsten vorkommende Variante ist die, dass ein Teil der Vermögenssubstanz für die Altersvorsorge des Antragstellers notwendig ist.

(aa) Überlassung eines Betrages zum Abschluss eines Leibrentenvertrages bei alten, nicht mehr erwerbstätigen Steuerpflichtigen

Noch in einer der letzten Urteile zur Rechtslage gem. § 131 RAO entschied der IV. Senat des BFH, einem nicht mehr erwerbstätigen Steuerpflichtigen sei genügend von seinem Vermögen für die Lebensführung zu belassen1060. Dieser Ansatz wurde in der Folgezeit von anderen Senaten auch im Rahmen der AO 1977 übernommen. Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung soll in einem solchen Fall einem alten, aufgrund des Alters nicht mehr erwerbstätigen Steuerpflichtigen, so viel von seinem Vermögen bleiben, dass eine bescheidene Lebensführung davon bestritten werden kann1061.

1988 IV S 5/86 in BFH/NV 1989, 411 (411); BFH v. 27. Februar 1991 XI R 23/88 in BFH/NV 1991, 430 (431); BFH v. 29. September 1994 III S 5/94 in BFH/NV 370 (372).

1057 BFH v. 31. März 1982 I B 97/81 in BStBl. II 1982, 530 (531)= BFHE 135, 410; BFH v. 26. Februar 1987 IV R 298/84 in BStBl. II 1987, 612 (614) = BFHE 149, 126; BFH v. 3. Oktober 1988 IV S 5/86 in BFH/NV 1989, 411 (411); BFH v. 27. Februar 1991 XI R 23/88 in BFH/NV 1991, 430 (431).

1058 BFH v. 29. September 1994 III S 5/94 in BFH/NV 1995, 370 (372). 1059 BFH v. 31. März 1982 I B 97/81 in BStBl. II 1982, 530 (531) = BFHE 135, 410; BFH

v. 26. Februar 1987 IV R 298/84 in BStBl. II 1987, 612 (614) = BFHE 149, 126; BFH v. 3. Oktober 1988 IV S 5/86 in BFH/NV 1989, 411 (411); BFH v. 27. Februar 1991 XI R 23/88 in BFH/NV 1991, 430 (431).

1060 BFH v. 29. April 1981 IV R 23/78 in BStBl. II 1981, 726 (728) = BFHE 133, 489. 1061 BFH v. 31. März 1982 I B 97/81 in BStBl. II 1982, 530 (531) = BFHE 135, 410; BFH v. 26.

Februar 1987 IV R 298/84 in BStBl. II 1987, 612 (614) = BFHE 149, 126; BFH v. 3. Oktober

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Probleme bereitete die Ermittlung des Betrages, der für die Existenzsicherung bis zum Lebensende ausreichend ist, da die Höhe erheblich von der Lebenserwartung des einzelnen Steuerschuldners abhängt. Die individuelle Lebensdauer ist aber aus der für die Erlassentscheidung maßgeblichen Beurteilung ex ante zum Zeitpunkt der Verwaltungsentscheidung nicht zu ermitteln. Der BFH greift daher zur Bestimmung des Betrages, der dem Antragsteller zu belassen sein soll, auf den Preis von Rentenversicherungsleistungen zurück, bei deren Berechnung die statistische Lebenserwartung des Steuerpflichtigen berücksichtigt ist. Demnach sollen bei der Ermittlung der Höhe des dem Antragsteller zu belassenden Restvermögens die Kosten für eine sofort fällige, lebenslange Leibrente gegen Einmalprämie ein entscheidender Anhaltspunkt sein1062. Die Höhe der monatlichen Bezüge sollen nach dem Erfordernis einer bescheidenen Lebensführung ermittelt werden1063.

Bei der Beurteilung, welchen monatlichen Betrag der Antragsteller zur bescheidenen Lebensführung benötigt, sind wiederum die besonderen Umstände des Falles heranzuziehen. Andere Renteneinkünfte können dabei den Bedarf an Leistungen aus der Leibrente ebenso mindern wie ein Wohnrecht, das Aufwendungen für Miete erspart1064 oder Unterhaltsansprüche gegenüber anderen Familienangehörigen1065. Ebenso können Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Angehörigen den zur bescheidenen Lebensführung notwendigen Betrag und damit die für den Abschluss der Leibrente gegen Einmalprämie nötige Summe erhöhen1066. Die Vergünstigungen gelten prinzipiell auch bei alten Steuerschuldnern nur dann, wenn diese nicht mehr erwerbstätig sind1067. Eine Ausnahme macht der BFH aber von dieser Regel. Die oben beschriebenen Grundsätze sollen in gleicher Weise bei einem alten Steuerpflichtigen gelten, der zwar noch erwerbstätig ist, dies aber nur, weil er aufgrund mangelnder Rentenansprüche sonst seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten könnte1068.

(bb) Einschränkung, wenn das Vermögen aus anderen Gründen Grundlage des Lebensunterhaltes ist

1988 IV S 5/86 in BFH/NV 1989, 411 (411); BFH v. 27. Februar 1991 XI R 23/88 in BFH/NV 1991, 430 (431).

1062 So schon BFH v. 29. April 1981 IV R 23/78 in BStBl. II 1981, 726 (728) = BFHE 133, 489; ebenso BFH v. 31. März 1982 I B 97/81 in BStBl. II 1982, 530 (531) = BFHE 135, 410; BFH v. 3. Oktober 1988 IV S 5/86 in BFH/NV 1989, 411 (411); BFH v. 27. Februar 1991 XI R 23/88 in BFH/NV 1991, 430 (431).

1063 BFH v. 29. April 1981 IV R 23/78 in BStBl. II 1981, 726 (728) = BFHE 133, 489; BFH v. 31. März 1982 I B 97/81 in BStBl. II 1982, 530 (531) = BFHE 135, 410; BFH v. 27. Februar 1991 XI R 23/88 in BFH/NV 1991, 430 (431).

1064 BFH v. 27. Februar 1991 XI R 23/88 in BFH/NV 1991, 430 (431). 1065 BFH v. 3. Oktober 1988 IV S 5/86 in BFH/NV 1989, 411 (411); ähnlich BFH v. 31. März 1982

I B 97/81 in BStBl. II 1982, 530 (531) = BFHE 135, 410. 1066 BFH v. 26. Februar 1987 IV R 298/84 in BStBl. II 1987, 612 (614) = BFHE 149, 126. 1067 BFH v. 26. Februar 1987 IV R 298/84 in BStBl. II 1987, 612 (614) = BFHE 149, 126. 1068 BFH v. 26. Februar 1987 IV R 298/84 in BStBl. II 1987, 612 (614) = BFHE 149, 126.

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Die Verwertung der Vermögenssubstanz zur Tilgung der Steuerschulden kann auch unter anderen, besonderen Umständen nicht vom Steuerpflichtigen verlangt werden. In einem vom X. Senat des BFH entschiedenen Fall ging es dabei um ein Hausgrundstück1069. Dies stellte die eigentliche Grundlage für den Lebensunterhalt der Klägerin dar, die sich bereits im Rentenalter befand1070. Der BFH befand daher, dass eine Erlassbedürftigkeit in einem solchen Fall vorliegen könne und verwies den Fall zur weiteren Sachverhaltsermittlung zurück an das Finanzgericht1071.

(4) Erlassbedürftigkeit juristischer Personen?

In diesem Kontext taucht die Frage auf, ob auch Körperschaften erlassbedürftig sein können. In einer Entscheidung aus den sechziger Jahren hat der BFH zumindest für den speziellen Fall der Stiftung den Fall einer persönlichen Unbilligkeit angenommen1072. Zwar wird in dieser Entscheidung noch nicht ausdrücklich von der Erlassbedürftigkeit gesprochen, da die dogmatische Entwicklung dieses Begriffes durch den BFH erst später erfolgte. Nach der heutigen Auffassung setzt die persönliche Unbilligkeit aber die Erlassbedürftigkeit voraus1073. Die Erlasswürdigkeit ist zwar ebenfalls zwingende Voraussetzung einer persönlichen Härte, diese kann als negatives Tatbestandsmerkmal aber in der Regel angenommen werden. Das zentrale Problem bei der Klärung der Frage, ob die Steuererhebung auch bei einer juristischen Person persönlich unbillig sein kann, ist daher die nach der Erlassbedürftigkeit der Körperschaft.

Nach der damals verwendeten Formel soll ein Steuererlass aus persönlichen Billigkeitsgründen anzunehmen sein, wenn die Fortführung der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit des Steuerpflichtigen durch die Einziehung der Steuern ernsthaft in Frage gestellt würde1074. In dem erwähnten Urteil überträgt der I. Senat des BFH die Anforderungen der Existenzgefährdung auf die Stiftung. Demnach soll eine persönliche Unbilligkeit bei einer Stiftung anzunehmen sein, wenn durch sie die Gefahr hervorgerufen wird, dass der Stiftungszweck, in dem der ursprüngliche Wille des Stifters in rechtlich gesicherter Weise fortlebt, nicht mehr erfüllt werden kann. Diese Lage der Stiftung darf aber nicht auf Umstände wie ungenügende Ausstattung mit Vermögen durch den Stifter oder schlechte Wirtschaftsführung zurückzuführen sein1075. In dem zugrunde liegenden Fall sah der BFH diese Voraussetzungen allerdings nicht als gegeben an.

1069 BFH v. 27. Mai 1987 X R 41/81 in BFH/NV 1987, 691. 1070 So die Einschätzung des BFH v. 27. Mai 1987 X R 41/81 in BFH/NV 1987, 691 (693). 1071 BFH v. 27. Mai 1987 X R 41/81 in BFH/NV 1987, 691 (692 f). 1072 BFH v. 9. November 1966 I 43/64 in BStBl. III 1967, 156 (156). 1073 Siehe S. 216. 1074 BFH v. 9. November 1966 I 43/64 in BStBl. III 1967, 156 (156). 1075 BFH v. 9. November 1966 I 43/64 in BStBl. III 1967, 156 (156).

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Die Entscheidung wird in der Literatur als Beleg dafür zitiert, dass im Grundsatz auch bei juristischen Personen1076 oder zumindest bei Stiftungen1077 eine persönliche Unbilligkeit in Betracht komme. Bestätigt wird diese Auffassung durch einige Urteile verschiedener Finanzgerichte, nach denen auch bei juristischen Personen eine persönliche Unbilligkeit möglich ist1078. In einem neueren Urteil, von dem allerdings nur der Leitsatz veröffentlicht wurde, wird die Ansicht bestätigt, dass grundsätzlich auch bei Körperschaften ein Erlass wegen persönlicher Unbilligkeit in Betracht kommt. Nach dem Leitsatz dieses Urteils sollen bei der Entscheidung, ob die Einziehung der Steuer unbillig ist, nicht nur die wirtschaftlichen Verhältnisse der Organtochter, sondern auch die der Muttergesellschaft maßgeblich sein1079. Es lässt sich daher festhalten, dass nach Ansicht des BFH die Einziehung von Steuern auch bei Körperschaften persönlich unbillig sein kann.

Fraglich sind die Kriterien, nach denen die persönliche Unbilligkeit beziehungsweise Erlassbedürftigkeit zu ermitteln ist. Ein Anhaltspunkt könnte der Unternehmensgegenstand oder der Gesellschaftszweck sein1080. Diese Begriffe tragen Züge des Stiftungszweckes bei einer Stiftung1081, auf den der BFH bei der Beurteilung der persönlichen Unbilligkeit abgestellt hat1082. Betrachtet man allerdings eine Gefährdung des Unternehmensgegenstandes als ausreichend, um eine Erlassbedürftigkeit anzunehmen, wäre jede Körperschaft, die sich in einer finanziellen Schieflage befindet, erlassbedürftig. Da in der Regel von der Erlasswürdigkeit ausgegangen werden kann, würde in einem solchen Fall eine persönliche Härte vorliegen. Ein Steuererlass wäre auszusprechen, der in der Regel die Ertragssteuern, also Körperschafts- und Gewerbesteuern, betreffen würde. Lässt man die Gefährdung des Unternehmensgegenstandes als Kriterium für die Annahme der Erlassbedürftigkeit genügen, wäre daher bei jeder juristischen Person, die finanziell schlecht dasteht, ein Steuernachlass zu gewähren. Diese Konsequenz zeigt, dass die Gefährdung des Unternehmensgegenstandes kein geeigneter Maßstab zur Beurteilung der Erlassbedürftigkeit von Körperschaften ist. Der BFH hat bisher nicht erkennen lassen, nach welchen Merkmalen sich die Frage der Erlassbedürftigkeit juristischer Personen sonst richten kann.

1076 So Tipke/Kruse, § 227 AO Rdnr. 93; vgl. dazu Gerber, Rdnr. 92. 1077 Gerber, Rdnr. 92. 1078 FG Düsseldorf v. 12. Februar 1958 IV 56/67 A in EFG 1958, 351 (351 f) bestätigt durch das nicht

veröffentlichte Urteil des BFH v. 18. März 1960 III 282/58, vgl. dazu Gerber, Rdnr. 92; FG Freiburg v. 23. März 1961 I 185/58 in EFG 1961, 381 (382).

1079 BFH v. 19. April 1989 II R 16/89 in DB 1990, 308. 1080 Zum Begriff und zur umstrittenen Abgrenzung, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann

vgl. zur Aktiengesellschaft Pentz in MüKoAG, § 23 Rdnr. 68 ff., zur GmbH Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, § 3 Rdnr. 7 ff.

1081 Zu den Unterschieden wie der Änderung von Stiftungszweck beziehungsweise Unternehmensgegenstand etc. vgl. die vorherige FN und Hof in Seifart/von Campenhausen, § 8 Rdnr. 1 ff., insbesondere Rdnr. 104 ff.

1082 BFH v. 9. November 1966 I 43/64 in BStBl. III 1967, 156 = BFHE 87, 333.

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Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Kriterium der Gefährdung des Zwecks einer rechtsfähigen Vereinigung zur Feststellung der Erlassbedürftigkeit zumindest auf unternehmerisch tätige Körperschaften nicht anwendbar ist. Die Anwendung auf Stiftungen entspricht hingegen der Rechtsprechung des BFH. Kriterien zur Beurteilung der Frage, wann wirtschaftlich orientierte Körperschaften erlassbedürftig sind, hat der BFH bisher nicht aufgestellt.

(5) Bescheidene Lebensführung

Die Lebensführung, die dem Steuerschuldner aufgrund des Erlasses zu ermöglichen ist, soll nach Ansicht des BFH bescheiden sein1083. Das Kriterium der Bescheidenheit ist dabei kaum konkretisiert. Grundsätzlich soll der Bedarf für eine bescheidene Lebensführung nach einem Urteil des VII. Senats des BFH über das hinausgehen, was einer ärmlichen Lebensführung entspricht1084. Die ärmliche Lebensführung wird dabei mit dem Existenzminimum gleichgesetzt, welches auch die Lohnpfändungsvorschriften der §§ 850 ff. ZPO garantieren. Der für die bescheidene Lebensführung notwendige Betrag läge demnach über dem Existenzminimum, an dem sich der Sozialhilfesatz orientiert. Im Widerspruch dazu steht eine vom III. Senat des BFH vertretene Auffassung. Demnach soll es für die Begründung einer persönlichen Unbilligkeit nicht ausreichen, dass die Mittel, die dem Steuerpflichtigen zur Bestreitung des Lebensunterhaltes zur Verfügung stehen, weniger als das sozialhilferechtliche Existenzminimum betragen1085. Teilweise wird auch darauf abgestellt, ob ohne den Erlass die Erwerbsfähigkeit des Steuerpflichtigen gefährdet ist1086.

Insgesamt ist festzuhalten, dass dem BFH keine genauere Definition des Begriffes der bescheidenen Lebensführung gelungen ist. Vorschläge zur Konkretisierung aus der Literatur1087 wurden bisher nicht aufgenommen. Es bleibt abzuwarten, ob der Rechtsprechung in diesem Bereich in Zukunft eine exakte Umschreibung gelingt.

1083 BFH v. 29. April 1981 IV R 23/78 in BStBl. 1981, 726 (728) = BFHE 133, 489; BFH v. 31. März

1982 I B 97/81 in BStBl. II 1982, 530 (531) = BFHE 135, 410; BFH v. 26. Februar 1987 IV R 298/84 in BStBl. II 1987, 612 (614) = BFHE 149, 126; BFH v. 10. März 1987 VII B 169/85 in BFH/NV 1988, 71 (71); BFH v. 3. Oktober 1988 IV S 5/86 in BFH/NV 1989, 411 (411); BFH v. 27. Februar 1991 XI R 23/88 in BFH/NV 1991, 430 (431); die meisten dieser Urteile ergingen im Zusammenhang mit der Ermittlung der Höhe der Leibrentenbezüge, die einen alten, nicht mehr erwerbstätigen Steuerpflichtigen den Lebensabend sichern sollen. Diese können aber insoweit übertragen werden. Die Entscheidung BFH v. 10. März 1987 VII B 169/85 in BFH/NV 1988, 71 bezieht sich hingegen nicht auf einen solchen Fall, sondern allgemein auf die Festlegung des angemessenen Lebensunterhaltes.

1084 BFH v. 10. März 1987 VII B 169/85 in BFH/NV 1988, 71 (71). 1085 BFH v. 29. September 1994 III S 5/94 in BFH/NV 1995, 370 (372). 1086 So BFH v. 27. September 2001 X R 134/98 in BStBl. II 02, 176 (179) = BFHE 196, 400. 1087 Vgl. beispielsweise von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 298 ff., der sich auf

das Sozialhilferecht bezieht.

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cc) Prognosen über die Vermögensentwicklung in der Zukunft

Wie oben bereits angeführt, ist für die Beurteilung der Frage nach der Erlassbedürftigkeit die wirtschaftliche Lage des Steuerpflichtigen entscheidend. Grundsätzlich ist für die Beurteilung der Vermögenslage der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung maßgeblich1088. Fraglich ist allerdings, inwieweit Aussichten auf eine zukünftige Veränderung der finanziellen Situation des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden können. Zu dieser Problematik hat der BFH wiederholt Stellung bezogen. Eine voraussichtliche Entwicklung soll demnach bei der Frage nach der Erlassbedürftigkeit beachtet werden, auch wenn die Prognose mit Unsicherheitsfaktoren behaftet ist1089. Zuungunsten des Steuerpflichtigen ist die Aussicht auf die künftige Erzielung von Einkünften oder auf eine anderweitige Verbesserung der wirtschaftlichen Lage zu berücksichtigen1090. So kann beispielsweise die Aussicht auf eine Erbschaft von der vermögenden Mutter des Antragstellers als Grund für die Ablehnung des Vorliegens einer Erlassbedürftigkeit angesehen werden1091. Um einen Erlass auszuschließen muss aber die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage hinreichend konkret absehbar sein. Nur die vage Aussicht darauf ist nicht ausreichend1092. Die rein hypothetische Möglichkeit, dass der Steuerpflichtige in Zukunft eine Erwerbstätigkeit aufnimmt, ist daher nicht zu beachten1093.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der BFH eine Prognose über die zukünftige Entwicklung der ökonomischen Situation des Antragstellers nur dann in die Abwägung einbezieht, wenn diese konkret absehbar ist. Die bisher dazu gefällten Entscheidungen betrafen stets die Erwartung der Verbesserung der finanziellen Lage. In der Regel wurde daher die zukünftige Entwicklung zuungunsten des Steuerschuldners berücksichtigt. Es ist nicht klar, ob auch Aussichten auf eine Verschlechterung der finanziellen Lage oder eine andere Prognose, die für einen Erlass der Steuerrückstände sprechen würde, vom BFH als relevant betrachtet werden.

1088 Vgl. dazu BFH v. 25. März 1988 III R 186/84 in BFH/NV 1989, 426 (428); BFH v. 8. März 1990

IV R 34/89 in BStBl. II 1990, 673 (675) = BFHE 160, 296; BFH v. 13. März 1990 VII S 3/90 in BFH/NV 1991, 171 (171); BFH v. 29. September 1994 III S 5/94 in BFH/NV 1995, 370 (372); BFH v. 27. September 2001 X R 134/98 in BStBl. II 02, 176 (179) = BFHE 196, 400.

1089 BFH v. 25. März 1988 III R 186/84 in BFH/NV 1989, 426 (428). 1090 BFH v. 2. April 1996 III B 171/95 in BFH/NV 1996, 728 (729); eine Verbesserung der

wirtschaftlichen Lage kann aber unter Umständen durchaus zu einer für den Steuerpflichtigen günstigen Entscheidung führen. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn der Erlass abgelehnt wurde, weil er sich nicht konkret auf die finanzielle Situation des Antragstellers auswirken kann, da dieser dem Pfändungsschutz unterliegt. Siehe S. 220 f.

1091 BFH v. 12. Juli 1989 X B 111/88 in BFH/NV 1990, 213 (214); zur Frage, wie konkret die Aussicht auf den Anfall der Erbschaft sein müsse, äußerte sich der X. Senat des BFH nicht.

1092 BFH v. 15. Juli 1993 III B 8/93 in BFH/NV 1994, 439 (440). 1093 BFH v. 24. Oktober 1988 X B 54/88 in BFH/NV 1989, 285 (286).

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c) Auslegung der Erlasswürdigkeit

Der BFH knüpft in der Auslegung des Begriffes der Erlasswürdigkeit an seine Rechtsprechung zum § 131 RAO an.

aa) Grundlegende Definition der Erlasswürdigkeit

Die Erlasswürdigkeit soll daher ausgeschlossen sein, wenn der Antragsteller in eindeutiger Weise gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen hat1094. Dazu wird insbesondere der Verstoß gegen steuerliche Pflichten gezählt1095. Teilweise wird eingeschränkt, dass dies in der Regel nur angenommen werden kann, wenn der Steuerpflichtige vorsätzlich oder grob fahrlässig gehandelt hat1096. Zur Begründung wird angeführt, der Erlass stelle eine Begünstigung des Einzelnen zulasten der Allgemeinheit dar1097.

bb) Einzelheiten

Im Folgenden soll die Definition der Erlasswürdigkeit durch den BFH weitergehend untersucht werden.

(1) Verstoß gegen steuerliche Erklärungs- und Mitteilungspflichten

Zu den steuerlichen Pflichten gehört insbesondere die Verpflichtung, Steuererklärungen abzugeben und das Finanzamt über bestimmte Sachverhalte zu unterrichten1098. Ein Verstoß gegen diese Pflichten kann zur Erlassunwürdigkeit führen1099. Zum Teil wird angenommen, bei dem Verstoß gegen die Erklärungspflichten müsse dem

1094 BFH v. 27. Februar 1985 II R 83/83 in BFH/NV 1985, 6 (8); BFH v. 11. März 1988 III R 236/84

in BFH/NV 1989, 432 (433); BFH v. 18. August 1988 V B 71/88 in BFH/NV 1990, 137 (138); BFH v. 15. Oktober 1992 X B 152/92 in BFH/NV 1993, 80 (81).

1095 BFH v. 27. Februar 1985 II R 83/83 in BFH/NV 1985, 6 (8); BFH v. 4. Juli 1986 VII B 56/86 in BFH/NV 1987, 20 (22); BFH v. 5. März 1987 VII B 138/86 in BFH/NV1987, 619 (620).

1096 BFH v. 15. Oktober 1992 X B 152/92 in BFH/NV 1993, 80 (81). 1097 So schon BFH v. 14. November 1957 IV 418/56 U in BStBl. III 1958, 153 (154) = BFHE 66, 398. 1098 Vgl. zu der Pflicht zur Abgabe von Steuererklärungen § 149 AO, der auf die Bestimmungen der

besonderen Steuergesetze wie § 25 Abs. 3 EStG, § 31 Abs. 1 KStG i.V.m. § 25 Abs. 3 EStG, § 18 Abs. 3 UStG und § 31 Abs. 1 ErbStG verweist. Außerdem besteht die Verpflichtung zur Berichtigung von Erklärungen nach § 153 AO. Vgl. zu all dem auch Tipke/Lang, § 21 Rdnr. 182 ff.

1099 BFH v. 4. Juli 1986 VII B 56/86 in BFH/NV 1987, 20 (22); BFH v. 18. August 1988 V B 71/88 in BFH/NV 1990, 137 (138); BFH v. 15. Oktober 1992 X B 152/92 in BFH/NV 1993, 80 (81); BFH v. 17. Dezember 1993 IV B 21/93 in BFH/NV 1994, 606 (607).

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Steuerpflichtigen zumindest grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen sein1100. Diese Ansicht wird nur in einem Urteil des VII. Senats des BFH geäußert. Sie kann daher schwerlich als ständige Rechtsprechung des BFH bezeichnet werden. Da in der Regel aber bei der Nichtabgabe von Steuererklärungen oder anderen Mitteilungen zumindest eine grobe Fahrlässigkeit anzunehmen ist, hat diese abweichende Ansicht kaum praktische Auswirkungen. Nicht jeder Verstoß gegen steuerliche Erklärungspflichten führt aber zwangsläufig zur Erlassunwürdigkeit des Antragstellers. Es hat stets eine Abwägung aller Umstände stattzufinden, bei der Gesichtspunkte wie Geschäftserfahrung, jugendliches Alter, fehlende Sprachkenntnisse oder unterdurchschnittliche Intelligenz des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden müssen1101. Erfolgt die Abgabe von Umsatzsteuerjahreserklärungen gar nicht oder verspätet, hat der BFH die Ablehnung des Antrages auf Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen durch die Finanzverwaltung als ermessensgerecht angesehen, obwohl mangelnde Sprachkenntnisse zugunsten des Steuerpflichtigen zu berücksichtigen waren1102.

Die Nichtabgabe von Steuererklärungen über mehrere Jahre hinweg soll nach Ansicht des BFH aber nicht zwangsläufig zu einer Erlassunwürdigkeit führen, wenn dies dem Antragsteller aufgrund der persönlichen Gesamtsituation nur in geringerem Maße vorwerfbar ist. Als entscheidend für die Abwägung hält der BFH in einem Beschluss insbesondere ein jugendliches Alter, die Abhängigkeit von Dritten, persönliche Schicksalsschläge und unterdurchschnittliche Intelligenz1103. Dahingegen wurde bei einem Steuerpflichtigen, der über genügend Geschäftserfahrung und Kenntnisse des Rechtsverkehrs verfügt1104, die Verneinung der Erlasswürdigkeit durch das Finanzamt als ermessensgerecht anerkannt, nachdem dieser über Jahre hinweg keine Steuererklärungen abgegeben hatte, so dass die Besteuerungsgrundlagen geschätzt werden mussten1105.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Verstöße gegen Erklärungs- und Mitteilungspflichten nicht generell die Erlassunwürdigkeit des Steuerpflichtigen nach sich ziehen. Es sind stets die Umstände des Einzelfalles und die persönlichen Verhältnisse des Antragstellers in eine Gesamtabwägung einzubeziehen.

(2) Herbeiführung der finanziellen Notlage durch den Steuerpflichtigen

Grundsätzlich wird einem Steuerpflichtigen die Erlasswürdigkeit auch abgesprochen, wenn dieser die mangelnde wirtschaftliche Leistungsfähigkeit selbst herbeigeführt 1100 BFH v. 4. Juli 1986 VII B 56/86 in BFH/NV 1987, 20 (22). 1101 BFH v. 15. Oktober 1992 X B 152/92 in BFH/NV 1993, 80 (81); BFH v. 18. August 1988

V B 71/88 in BFH/NV 1990, 137 (138). 1102 BF H v. 18. August 1988 V B 71/88 in BFH/NV 1990, 137 (138). 1103 BFH v. 15. Oktober 1992 X B 152/92 in BFH/NV 1993, 80 (81). 1104 In diesem Fall handelte es sich um einen Rechtsanwalt. 1105 BFH v. 17. Dezember 1993 IV B 21/93 in BFH/NV 1994, 606 (607).

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hat1106. Dies kann der Fall sein, wenn der Antragsteller mit den ihm zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln in der Vergangenheit nicht die Steuerrückstände, sondern anderweitig ausstehende Schulden beglichen hat1107. Denn nach Ansicht des BFH hätte der Steuerpflichtige sein Vermögen zur gleichmäßigen Schuldentilgung verwenden müssen1108. Aber auch in einem solchen Fall ist nicht stets die Erlasswürdigkeit abzulehnen, vielmehr kommt es auf die Umstände des Einzelfalles an1109. Auch eine leichtfertige Vergeudung des Vermögens durch Spekulationsgeschäfte wird als schuldhafte Herbeiführung der Notlage gewertet. Die Erlasswürdigkeit des Antragstellers sei in einem solchen Fall nicht gegeben1110.

Hat der Steuerpflichtige sein Einkommen in Vermögenswerten festgelegt, so dass er lediglich illiquide ist, soll eine Erlasswürdigkeit ebenfalls ausscheiden1111. In einem solchen Fall würde der Erlass aus Gründen persönlicher Unbilligkeit aber regelmäßig schon an der fehlenden Erlasswürdigkeit scheitern, da der Antragsteller verpflichtet ist, das gesamte Vermögen zur Tilgung der Steuerschulden einzusetzen1112. Ein andere Konstellation liegt vor, wenn der Steuerpflichtige über seine Verhältnisse gelebt hat und aufgrund seines hohen Lebensstandards in der Vergangenheit finanzieller Mittel verlustig geworden ist, die für die Begleichung der Steuerrückstände in der Gegenwart nicht mehr zur Verfügung stehen.

Nach Ansicht des BFH soll nicht jeder Aufwand für die Lebenshaltung in der Vergangenheit, der über das hinausgeht, was zur bescheidenen Lebensführung erforderlich war, zur Erlassunwürdigkeit führen1113. Der Betrag, der dem Mehraufwand für den unangemessenen Lebenshaltungsaufwand entspricht, kann aber in einem solchen Fall bei der Höhe des schließlich zu gewährenden Steuererlasses Berücksichtigung finden. Dies geschieht, indem bei der Ermittlung des für den Erlass maßgeblichen Bestands des Restvermögens ein Betrag in Höhe des unangemessenen Mehraufwandes hinzugerechnet wird1114. Hat der Steuerpflichtige seine Erwerbsgrundlage aufgrund einer Alkoholabhängigkeit verloren, steht diese, ebenso wie die Tatsache der Alkoholsucht an sich, einer Erlasswürdigkeit nicht entgegen. Der Alkoholismus ist als Krankheit zu werten, er kann daher dem Antragsteller nur bedingt

1106 So bereits der BFH v. 14. November 1957 IV 418/56 U in BStBl. III 1958, 153 (154) = BFHE 66,

398, vgl. dazu den Abschnitt über die ersten Entscheidungen zur persönlichen Unbilligkeit. Im Rahmen der § 163, 227 AO entschieden so BFH v. 27. Februar 1985 II R 83/83 in BFH/NV 1985, 6 (8); BFH v. 18. August 1988 V B 71/88 in BFH/NV 1990, 137 (138); BFH v. 28. Oktober 1997 VII B 183/96 in BFH/NV 1998, 683 (685).

1107 BFH v. 27. Februar 1985 II R 83/83 in BFH/NV 1985, 6 (8). 1108 BFH v. 27. Februar 1985 II R 83/83 in BFH/NV 1985, 6 (8); ähnlich schon BFH v. 29. April 1981

IV R 23/78 in BStBl. II 1981, 726 (728 f) = BFHE 133, 489. 1109 BFH v. 29. April 1981 IV R 23/78 in BStBl. II 1981, 726 (72) = BFHE 133, 489. 1110 BFH v. 28. Oktober 1997 VII B 183/96 in BFH/NV 1998, 683 (684 f). 1111 BFH v. 28. Oktober 1997 VII B 183/96 in BFH/NV 1998, 683 (684 f) 1112 Vgl. dazu nur BFH v. 29. September 1994 III S 5/94 in BFH/NV 1995, 370 (372). 1113 BFH v. 29. April 1981 IV R 23/78 in BStBl. II 1981, 726 (728) = BFHE 133, 489. 1114 BFH v. 29. April 1981 IV R 23/78 in BStBl. II 1981, 726 (728) = BFHE 133, 489.

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vorgeworfen werden1115. Allerdings muss in einem solchen Fall gewährleistet sein, dass der Erlass die wirtschaftliche Situation des Steuerschuldners überhaupt verbessern kann. Ist dies aufgrund der Abhängigkeit nicht abzusehen, fehlt es bereits an der Erlassbedürftigkeit1116.

(3) Mangelnde Steuerehrlichkeit des Antragstellers

Von den Fällen, in denen der Antragsteller keine oder verspätete Erklärungen zu den Besteuerungsgrundlagen gemacht hat, sind diese Fälle zu unterscheiden. Hier geht es darum, dass der Steuerpflichtige in der Vergangenheit versucht hat, seine Steuerlast im Wege der Steuerhinterziehung zu mindern. Einerseits hat der BFH festgestellt, nicht jede Steuerunehrlichkeit schließe die Erlasswürdigkeit grundsätzlich aus1117. Von maßgeblicher Bedeutung ist hierbei, inwieweit die Hinterziehung mit der Steuer in Verbindung steht, deren Erlass begehrt wird1118. Ist der Steuerpflichtige zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt worden wegen der Hinterziehung von Mineralölsteuern, deren Erlass er beantragt, ist eine Erlasswürdigkeit abzulehnen1119. Ebenso kann ein Unternehmer nicht als erlasswürdig betrachtet werden, der über Jahre hinweg Einkommens-, Gewerbe-, und Unternehmenssteuer hinterzog und nun den Erlass dieser Steuern beantragt1120.

d) Maßgeblicher Zeitpunkt

Zu untersuchen ist die Frage, auf welchen Zeithorizont bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Erlassbescheides abzustellen ist. Grundsätzlich ist dabei auf die Tatsachenlage abzustellen, wie sie sich zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung darstellt1121. Die letzte Verwaltungsentscheidung wird im Steuerrecht mit dem Beschwerdebescheid der Oberfinanzdirektion gefällt. Begründet

1115 BFH v. 13. März 1990 VII S 3/90 in BFH/NV 1991, 171 (172). 1116 BFH v. 13. März 1990 VII S 3/90 in BFH/NV 1991, 171 (172). 1117 BFH v. 2. März 1961 IV 126/60 U in BStBl. III 1961, 288 (289) = BFHE 73, 53. 1118 BFH v. 5. März 1987 VII B 138/86 in BFH/NV 1987, 619 (620); BFH v. 11. März 1988

III R 236/84 in BFH/NV 1989, 432 (433). 1119 BFH v. 5. März 1987 VII B 138/86 in BFH/NV 1987, 619 (620). 1120 BFH v. 11. März 1988 III R 236/84 in BFH/NV 1989, 432 (433). 1121 Seit langem ständige Rechtsprechung des BFH, so schon BFH v. 14. November 1957 IV 418/56 U

in BStBl. III 1958, 153 (154) = BFHE 66, 398; BFH v. 25. Januar 1961 II 34/59 in HFR 1961, 133 (134); BFH v. 2. März 1961 IV 126/60 U in BStBl. III 1961, 288 (289) = BFHE 73, 53; BFH v. 15. Oktober 1964 V 272/61 in HFR 1965, 75 (76); aus neuerer Zeit vgl. BFH v. 25. März 1988 III R 186/84 in BFH/NV 1989, 426 (428); BFH v. 8. März 1990 IV R 34/89 in BStBl. II 1990, 673 (675) = BFHE 160, 296; BFH v. 13. März 1990 VII S 3/90 in BFH/NV 1991, 171 (171); BFH v. 29. September 1994 III S 5/94 in BFH/NV 1995, 370 (372); BFH v. 27. September 2001 X R 134/98 in BStBl. II 02, 176 (179) = BFHE 196, 400.

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wird diese Ansicht damit, dass es sich beim Erlass um eine Ermessensentscheidung der Verwaltung handelt. Aus dem Wesen der Ermessensvorschrift, die der Verwaltung einen Spielraum für mehrere rechtlich zulässige Verhaltensweisen gibt, folgt, dass die gerichtliche Rechtskontrolle nur auf den Zeitpunkt der Wahl durch die Verwaltungsbehörde selbst bezogen sein kann1122. Der Gesetzgeber hat bei einer Ermessensnorm der Verwaltung die Befugnis zur Letztentscheidung eingeräumt. Insoweit muss die Behördenentscheidung maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes sein1123.

e) Zusammenfassung

Folgende Punkte sind als tragende Elemente der Rechtsprechung des BFH zur persönlichen Unbilligkeit festzuhalten: Eine persönliche Unbilligkeit setzt Erlassbedürftigkeit und Erlasswürdigkeit des Antragstellers voraus. Erlassbedürftig ist ein Steuerpflichtiger nur, wenn die Erhebung der betreffenden Steuer dessen wirtschaftliche oder persönliche Existenz vernichtet oder ernsthaft gefährdet. Als erlasswürdig wird ein Steuerschuldner dann betrachtet, wenn er nicht in eindeutiger Weise gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen hat. Die Erlassunwürdigkeit stellt ein negatives Tatbestandsmerkmal dar, dessen Vorliegen vermutet wird. Nur bei Vorhandensein besonderer Anhaltspunkte kann dem Steuerpflichtigen die Erlasswürdigkeit abgesprochen werden. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Klärung der Frage, ob eine persönliche Unbilligkeit vorliegt, ist der Moment der letzten Verwaltungsentscheidung.

III. Bewertung der Grundsätze des BFH

Die dargestellten Grundsätze des BFH zum Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen wegen fehlender finanzieller Mittel des Steuerpflichtigen sollen im Folgenden bewertet werden.

1. Verfassungsrechtlicher Hintergrund

Der Erlass von Steuern aus persönlichen Billigkeitsgründen soll eine minimale wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Bürgers erhalten. Zu betrachten sind daher Verfassungsgrundsätze, die eine Belastung des Einzelnen über ein bestimmtes Maß 1122 BFH v. 26. März 1991 VII R 66/90 in BStBl. II 1991, 545 (546); ähnlich bereits BFH v. 31. März

1976 I R 51/74 in BStBl. II 1976, 499 (501) = BFHE 118, 537. 1123 Vgl. dazu auch Mager, S. 43; Piendl, S. 4 ff.; Gerber, Rdnr. 134.

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hinaus verbieten. Zu nennen sind die verfassungsrechtliche Garantie des Existenzminimums und die Grundsätze der Wirtschaftsverfassung.

a) Verfassungsrechtliche Garantie des Existenzminimums

Das wirtschaftliche Existenzminimum des Bürgers ist durch das Grundgesetz geschützt.

aa) Sozialstaatsprinzip

Gemäß Art. 20 Abs. 1 GG ist die Bundesrepublik ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Der Grundsatz der Sozialstaatlichkeit ist als Teil des Art. 20 GG sogar durch die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG in seinem Bestand besonders geschützt1124. Der Inhalt des Sozialstaatsprinzips ist amorph und umstritten. Als unverzichtbare Bestandteile dieses Grundsatzes werden die staatliche Garantie der Mindestvoraussetzungen für ein menschliches Dasein, das Vorhandensein sozialer Sicherungssysteme und die Fürsorge für körperlich oder geistig Hilfsbedürftige genannt1125.Umstritten ist, ob sich unmittelbar aus dem Sozialstaatsprinzip subjektive Rechte Einzelner herleiten lassen1126 oder ob es sich lediglich um eine objektive Staatszielbestimmung handelt1127.

bb) Gewährung eines Existenzminimums als subjektives Recht aus dem Sozialstaatsprinzip i.V.m Art. 1 Abs. 1 GG

Auch wenn sich subjektive Rechte Einzelner nicht unmittelbar aus dem Art. 20 Abs. 1 GG ergeben können, ist allgemein anerkannt, dass aus dem Grundsatz der Sozialstaatlichkeit in Verbindung mit anderen Grundrechten einklagbare individuelle Rechte abgeleitet werden können1128. Aus der gem. Art. 1 Abs. 1 GG bestehenden staatlichen Verpflichtung, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen, wird so in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ein subjektiver Anspruch

1124 Vgl. dazu Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 79 Rdnr. 61. 1125 Vgl. dazu nur Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 20 Rdnr. 29 ff. 1126 So Wiedenbrüg, S. 129. 1127 So Sommermann in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 20 Rdnr. 103; Herzog in Maunz/Dürig

Art. 20, Abschnitt VIII. Rdnr. 28; BVerfG v. 3. Dezember 1969 1 BvR 624/56 in BVerfGE 27, 253 (283); ähnlich BVerfG v. 9. April 1975 2 BvR 879/73 in BVerfGE 39, 302 (315); vgl. dazu auch Schreiber, S. 148.

1128 Sommermann in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 20 Rdnr. 130; Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 20 Rdnr. 37; BVerfG v. 18. Juli 1972 1 BvL 32/70 und 25/71 in BVerfGE 33, 303 (331 ff.); eingehend dazu und zu der Verknüpfung mit den einzelnen Grundrechten Schreiber, S. 95 ff.; vgl. dazu auch Neumann, NVwZ 1995, 426 (426 ff.).

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des Bürgers hergeleitet. Dieser geht darauf, dass der Staat grundsätzlich verpflichtet ist, die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein zu gewähren1129. Diese Ausprägung des Sozialstaatsprinzips in Verbindung mit dem Grundsatz der Menschenwürde hat zwei Ausrichtungen. Zum einen muss mittellosen Bürgern eine staatliche Unterstützung zuteil werden, die das zum menschenwürdigen Leben Notwendige abdeckt1130. Zum anderen ist Personen, die Einkünfte haben, ein dem Existenzminimum entsprechender Teil dieser zu belassen1131. Ein staatlicher Eingriff in das selbst erworbene Existenzminimum kann auch dann nicht als grundrechtskonform angesehen werden, wenn der Staat danach durch Beihilfen die Existenzgrundlage des Bürgers sichert. Dies wäre nicht nur verwaltungstechnisch unsinnig, sondern würde den Bürger auch zu einem Objekt staatlichen Handelns machen und daher einen Verstoß gegen den Menschenwürdegrundsatz und das Menschenbild des Grundgesetzes darstellen1132. Das Existenzminimum darf daher nicht besteuert werden1133.

cc) Begrenzung durch die faktische Möglichkeit der Gewährung?

Problematisch ist allerdings, dass die Gewährung des Existenzminimums die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Gemeinwesens übersteigen könnte1134. Daraus wird teilweise gefolgert, dass die Gewährung des Existenzminimums nur gefordert werden kann, soweit die öffentlichen Finanzen dies erlauben1135. Dem kann entgegengehalten werden, es widerspreche der Funktion der Grundrechte, dass ein individueller Anspruch mit Hinweis auf die eingeschränkte Finanzkraft der Gemeinschaft zurückgewiesen werden kann1136. Dennoch wird weithin angenommen, dass zumindest der Umfang der Gewährung des Existenzminimums von den faktischen Umständen abhängig gemacht werden kann1137.

Es empfiehlt sich, insoweit zu differenzieren. Die Stimmen in der Literatur, die eine Einschränkung dessen befürworten, was dem Bürger als Existenzminimum zu

1129 Vgl. dazu nur Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 20 Rdnr. 29. 1130 Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 20 Rdnr. 29; Sommermann in von Mangoldt/Klein/Starck,

Art. 20 Rdnr. 123; Schrezenmaier, S. 174 f; BVerfG v. 18. Juni 1975 1 BvL 4/74 in BVerfGE 40, 121 (133 f); BVerfG v. 29. Mai 1990 1 BvL 20, 26, 184 und 4/86 in BVerfGE 82, 60 (85).

1131 Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 20 Rdnr. 38; Sommermann in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 20 Rdnr. 120; BVerfG v. 29. Mai 1990 1 BvL 20, 26, 184 und 4/86 in BVerfGE 82, 60 (85); Schmidt-Liebig, BB 1992, 107 (108); zur Unterscheidung auch Tipke, Steuerrechtsordnung S. 420 f.

1132 Tipke, Steuerrechtsordnung S. 421 f. 1133 Vgl. dazu nur Schmidt-Liebig, BB 1992, 107 (108); Tipke, Steuerrechtsordnung S. 550. 1134 Vgl. dazu Sommermann in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 20 Rdnr. 123; Herzog in

Maunz/Dürig, Art. 20, Abschnitt VIII. Rdnr. 23. 1135 Vgl. dazu Herzog in Maunz/Dürig, Art. 20, Abschnitt VIII. Rdnr. 23 f. 1136 Kunig in von Münch/Kunig, Art. 1 Rdnr. 30. 1137 Sommermann in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 20 Rdnr. 122 f; Kunig in von Münch/Kunig,

Art. 1 Rdnr. 30; vgl. dazu auch Neumann, NVwZ 1995, 426 (428).

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gewähren ist, beziehen sich lediglich auf die Gewährung eines staatlichen Sozialhilfeanspruchs an bedürftige Bürger. Fraglich ist, ob sich bei der hier im Mittelpunkt stehenden Frage nach der Steuerfreiheit des Einkommensteils, welcher das Existenzminimum darstellt, etwas anderes ergibt. Zu beachten ist insbesondere, dass es sich bei der Gewährung staatlicher Beihilfen zur Sicherung eines Mindesteinkommens und eines Freibetrages, der dem Bürger einen Betrag unbesteuert lässt, den dieser zum Leben benötigt, um zwei diametral entgegengesetzte Rechtsinstitute handelt1138. In dem einen Fall erbringt der Staat eine Leistung. Die Grundrechte wirken hier im status positivus und verpflichten den Staat zu einer Handlung. Die Verpflichtung, einen dem Existenzminimum entsprechenden Teil des Einkommens steuerfrei zu belassen, stellt dagegen ein klassisches Abwehrrecht des Bürgers dar. Art. 1 Abs. 1 GG wirkt hier in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip im status negativus. Fraglich ist, ob aus diesem Unterschied gefolgert werden kann, das Existenzminimum sei in jedem Fall steuerfrei zu belassen, auch wenn der Staat an Bedürftige keine Beihilfen in entsprechender Höhe gewähren kann. Anders gefragt: Darf der Staat erwerbstätige Bürger soweit belasten, dass deren Existenzminimum tangiert wird, um die finanzielle Ausstattung anderer Bürger auf eben dieses Niveau zu heben?

Bei der Beantwortung dieser Frage ist zum einen die klassische Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte1139 und zum anderen wiederum die Bedeutung des Art. 1 Abs. 1 GG zu beachten. Nach der allgemein anerkannten Objektformel soll ein Eingriff in die Würde des Menschen dann vorliegen, wenn dieser zu einem bloßen Objekt des Staates degradiert wird1140. Dies ist in besonderem Maße gegeben, wenn der Staat einem Menschen die selbst erwirtschaftete Lebensgrundlage entzieht. Eine solche Maßnahme ist unter allen Umständen als ein Verstoß gegen die Menschenwürde zu bezeichnen. Anders verhält es sich in Fällen, in denen der Bürger nicht in der Lage ist, sich selbst eine ausreichende Existenzgrundlage zu schaffen. In einem solchen Fall beruht diese Situation auf keiner Eingriffshandlung des Staates. Aus der Eigentumsordnung des Grundgesetzes geht außerdem ein Primat der Selbstverantwortung1141 hervor, der sich ebenfalls als Grund für die Ablehnung eines solchen Eingriffes anführen lässt.

Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass ein Eingriff, insbesondere in Form der Besteuerung, in eine selbst geschaffene Existenzgrundlage in jedem Falle zu unterbleiben hat1142. Auch mit dem Hinweis auf eine finanzielle Notsituation der Gemeinschaft kann daher eine Besteuerung des Existenzminimums nicht gerechtfertigt werden.

1138 Vgl. dazu nur Schmidt-Liebig, BB 1992, 107 (108). 1139 Vgl. dazu Pieroth/Schlink, Rdnr. 57 ff.; Kirchhof, FS Scupin, S. 775 (789). 1140 Vgl. dazu nur Pieroth/Schlink, Rdnr. 359 m.w.N. 1141 Jachmann, S. 27. 1142 So auch Kirchhof, FS Scupin, S. 775 (789).

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dd) Verwirkung dieser Rechte

Aus dem Bisherigen ergibt sich, dass sich aus der Verfassung ein subjektives Recht des Einzelnen herleiten lässt, welchen eine Besteuerung des Existenzminimums verbietet. Fraglich ist aber, ob dieses Recht dem Bürger unter bestimmten Umständen verlustig gehen kann. Die Verwirkung von Grundrechten ist in Art. 18 GG geregelt. Demnach können nur einige explizit aufgeführte Grundrechte überhaupt verwirkt werden. Die Menschenwürde nach Art. 1 GG wird nicht genannt. Eine analoge Anwendung des Art. 18 GG auf den Art. 1 GG ist nach allgemeiner Ansicht nicht möglich. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass die enumerative Aufzählung abschließend sein soll1143, zum anderen auch aus dem Rang des Menschenwürdeprinzips, welches als oberstes Gut der Verfassung dieser vorangestellt ist1144. Eine Verwirkung der oben beschriebenen Rechte ist daher nicht möglich1145.

ee) Beschränkung mittels anderer Verfassungswerte

Der aus Art. 3 GG hergeleitete Grundsatz von der Gleichmäßigkeit der Besteuerung und das aus dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes resultierende Legalitätsprinzip könnten als Begründung dafür angeführt werden, dass eine Steuer auch dann zu erheben ist, wenn sie das Existenzminimum beeinträchtigt. Zu beachten ist allerdings, dass die Gewährung des Existenzminimums die Würde des Menschen sichern soll. Aus der besonderen Stellung der Menschenwürde und ihrer herausgehobenen Bedeutung ergibt sich, dass eine solche Einschränkung nicht zu rechtfertigen ist.

b) Erhaltung der Erwerbsfähigkeit

Wie bereits gezeigt wurde, ist das selbst erworbene Existenzminimum stärker geschützt als das Recht auf staatliche Gewährung einer das Lebensnotwendige abdeckenden Beihilfe. Im Folgenden soll untersucht werden, ob über das Existenzminimum hinaus die Erhaltung der eigenen Erwerbsfähigkeit besonderen verfassungsrechtlichen Schutz genießt.

aa) Verfassungsrechtliche Garantie über das Existenzminimum hinaus

1143 Brenner in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 18 Rdnr. 41; eingehend dazu Schmitt-Glaeser,

S. 194 ff. 1144 Vgl. dazu nur Kunig in von Münch/Kunig, Art. 1 Rdnr. 1. 1145 Vgl. dazu nur Brenner in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 18 Rdnr. 41 ff.

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Zu klären ist dabei die Frage, ob aus anderen Verfassungswerten der Schluss zu ziehen ist, dass dem Steuerpflichtigen zur Sicherung der eigenen Erwerbsgrundlage eine weitergehende finanzielle Ausstattung zu überlassen ist, als der Betrag, der dem Existenzminimum entspricht. Zu beachten sind insbesondere die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG und die Berufsfreiheit des Art. 12 GG. Diese Normen stellen die Grundlagen der Wirtschaftsverfassung dar. Sie enthalten die Grundentscheidung für eine Wirtschaftsordnung, welche auf die Selbstverantwortung des Einzelnen für sein berufliches Auskommen und den Schutz des so Erworbenen aufbaut1146. Die auf den Erwerb gerichtete Tätigkeit des Bürgers ist aber auch Anknüpfungspunkt und damit Voraussetzung für die Partizipation des Gemeinwesens an dem erwirtschafteten Einkommen, und somit Grundlage des Steuerstaates1147. Das Bundesverfassungsrecht gebietet daher grundsätzlich, dem Bürger eine finanzielle Ausstattung zu belassen, mit der eine langfristig ertragbringende Erwerbstätigkeit gesichert ist1148. Wenn dies durch die Gestaltung der Steuergesetze nicht garantiert ist, muss es durch einen entsprechenden Steuerdispens gewährleistet werden1149. Ein Mindestselbstbehalt des Steuerpflichtigen, der sich an der Beibehaltung der Erwerbsfähigkeit orientiert, liegt über dem Existenzminimum, deren Garantie sich aus dem Sozialstaatsprinzip in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG herleiten lässt.

bb) Rechtfertigung eines Eingriffes in diese Rechte

Wie oben dargelegt wurde, kann eine Besteuerung des durch eigene Erwerbstätigkeit erworbenen Existenzminimums unter keinen Umständen gerechtfertigt werden. Der Grund ist in der Herleitung der Gewährung des Existenzminimums aus dem Prinzip der Menschenwürde zu sehen. Die Garantie eines weitergehenden finanziellen Spielraumes zur Sicherung der Erwerbsfähigkeit leitet sich allerdings aus den in den Art. 12 und 14 GG erkennbaren Grundlagen einer Wirtschaftsordnung her. Ein Eingriff in diese weitergehenden Rechte ist daher unter anderen Gesichtspunkten zu bewerten als der Eingriff in das Existenzminimum. Eine Rechtfertigung kann sich insbesondere aus verfassungsimmanenten Wertungen ergeben. In diesem Zusammenhang sind der Grundsatz von der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, der aus Art. 3 GG hergeleitet wird, und das steuerliche Legalitätsprinzip, welches sich aus Art. 20 GG ergibt, besonders zu beachten. Der Gleichheitssatz kann berührt sein, da

1146 Manssen in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 12 Rdnr. 32; Jachmann, S. 27; dies widerspricht

nicht der vielbeschworenen Neutralität des Grundgesetzes bezüglich der Wirtschaftsordnung, vgl. dazu Papier in Maunz/Dürig, Art. 14 Rdnr. 30 ff.

1147 Depenheuer in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 14 Rdnr. 1. 1148 Kirchhof, FS Scupin, S. 775 (788 f); Kirchhof, StuW 1985, 319 (326); von Groll in

Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 132. 1149 Kirchhof, FS Scupin, S. 775 (789); von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 132;

vgl. dazu auch Farr, BB 2002, 1989 (1991).

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Steuerpflichtigen, die eine ebenso hohe Steuerschuld haben, unter Umständen kein Erlass gewährt wird. Hier ist daher im Wege der praktischen Konkordanz ein Einklang herzustellen.

c) Ergebnis der Betrachtung

Das Ergebnis lässt sich wie folgt zusammenfassen. Die Gewährung des Existenzminimums stellt ein subjektives Recht dar und ist durch das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG in Zusammenhang mit dem Menschenwürdegrundsatz des Art. 1 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich geschützt. Ein Eingriff des Staates in den dem Existenzminimum entsprechenden Teil der finanziellen Mittel kann auch nicht bei einer Unterfinanzierung öffentlicher Haushalte in Betracht kommen oder durch andere Verfassungsnormen gerechtfertigt werden. Eine Verwirkung dieses Rechtes ist nicht möglich. Aus den Art. 12 und 14 GG lässt sich darüber hinaus ableiten, dass dem Steuerpflichtigen ein Anteil seines Einkommens zu belassen ist, der nicht nur das Existenzminimum abdeckt, sondern auch die langfristige Sicherung der Erwerbsfähigkeit garantiert. Dieses Recht ist allerdings nur in einem geringerem Umfang geschützt als das Existenzminimum. Eingriffe sind insbesondere unter dem Aspekt der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit möglich.

2. Bedeutung der Pfändungsschutzvorschriften für den Schutz des Existenzminimums

Im Zusammenhang mit dem Schutz des Existenzminimums des Steuerpflichtigen ist die Bedeutung der Pfändungsschutzvorschriften zu untersuchen.

a) Vollstreckung von Geldforderungen im Steuerrecht

Nach dem Erhebungsverfahren noch ausstehende Steuerforderungen werden im Vollstreckungsverfahren beigetrieben, das in den §§ 259 ff. AO geregelt ist. Obwohl § 249 AO die Durchführung der Vollstreckung ins Ermessen der Finanzverwaltung stellt, ist diese aufgrund des steuerrechtlichen Legalitätsprinzips und des Grundsatzes von der Gleichmäßigkeit der Besteuerung prinzipiell zur Durchsetzung ihrer Ansprüche verpflichtet1150. Vollstreckt wird durch die Pfändung und Einziehung von Forderungen und anderen Vermögensgegenständen (§§ 309 ff. AO), durch Pfändung von beweglichen Sachen (§§ 285 ff. AO) und die Eintragung einer Sicherungshypothek bei einem Grundstück (§§ 322 f. AO). Als ultima ratio kann die Vollstreckungsstelle gem.

1150 Tipke/Lang, § 21 Rdnr. 371; vgl. dazu auch Kraemer, S. 14.

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§ 251 AO i.V.m. § 13 Insolvenzordnung die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens beantragen. Da die Vollstreckung einen empfindlichen Eingriff in grundrechtlich geschützte Positionen des Schuldners darstellt, gelten besondere Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit der ergriffenen Maßnahmen1151. Insbesondere kann auch im Vollstreckungsverfahren die Anwendung von Billigkeitsmaßnahmen in Betracht kommen: Gemäß § 258 AO kann die Finanzbehörde einen Vollstreckungsaufschub gewähren, wenn die Vollstreckung im Einzelfall unbillig ist. Hierbei handelt es sich aber nur um eine vorübergehende Verschonung vor der Beitreibung der Steuerforderung1152.

b) Pfändungsschutzvorschriften

Die Pfändung von beweglichen Sachen ist gem. § 295 AO nicht unbeschränkt möglich. Diese Vorschrift verweist auf die §§ 811 bis 812 und 813 Abs. 1 bis 3 ZPO. § 319 AO beschränkt dementsprechend die Pfändbarkeit von Forderungen, indem ebenfalls auf die entsprechenden Vorschriften (§§ 850 bis 852) der ZPO verwiesen wird. Der Zweck der Pfändungsverbote ist es, dem Schuldner das zur Existenz Notwendige zu belassen. Die Beschränkung der Pfändung stellt den verfassungsrechtlich gebotenen Erhalt des Existenzminimums sicher, ohne den ein menschenwürdiges Dasein nicht möglich wäre1153.

c) Sicherung des Existenzminimums durch die Pfändungsschutzvorschriften

Die §§ 295 und 319 AO stellen durch einen Verweis auf die entsprechenden Vorschriften der ZPO sicher, dass die Vollstreckung von Steuerforderungen nicht in sämtliche vermögenswerten Rechte des Schuldners erfolgt. Das verfassungsrechtlich garantierte Existenzminimum wird durch diesen Pfändungsschutz gesichert.

3. Prüfung der Grundsätze des BFH an den verfassungsrechtlichen Maßstäben

Die Rechtsprechung des BFH ist im Folgenden an den ermittelten verfassungsrechtlichen Maßstäben zu messen.

1151 Tipke/Lang, § 21 Rdnr. 373. 1152 So der eindeutige Wortlaut „einstweilig“; vgl. dazu Tipke/Lang, § 21 Rdnr. 374; Schwarz,

§ 258 AO Rdnr. 2; Sauer/Arendt/Hampel, S. 93 f. 1153 Müller-Eiselt in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 295 AO Rdnr. 5; Tipke/Kruse, § 295 AO Rdnr. 1;

Sauer/Arendt/Hampel, S. 97; Becker, Steuererlass, S. 109.

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a) Sicherung des Existenzminimums durch den Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen?

Ein Steuerpflichtiger wird nach der Rechtsprechung des BFH dann als erlassbedürftig betrachtet, wenn die Erhebung der betreffenden Steuer dessen wirtschaftliche oder persönliche Existenz vernichten oder ernsthaft gefährden würde. Die Einziehung einer Steuer, die das Existenzminimum des Steuerschuldners tangieren würde, wäre als Verstoß gegen das Grundgesetz zu betrachten. Daher gewährt das Einkommensteuerrecht einen dem Existenzminimum entsprechenden Grundfreibetrag1154. Dennoch kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Erhebung der Steuer im Einzelfall zu einer Belastung führt, die das Existenzminimum beeinträchtigt. Hier ist insbesondere an Fälle zu denken, in denen die Steuer für einen Zeitraum festgesetzt wurde, in dem eine gute Ertragslage bestand, bei Erhebung der Steuern aber keine entsprechenden Einkünfte mehr vorhanden sind und ausreichende Rücklagen fehlen. Allerdings ist zur Sicherung des Existenzminimums keine Steuermilderung aus Billigkeitsgründen nötig, da das bloße Existenzminimum bereits durch die Pfändungsschutzvorschriften gesichert ist1155. Der BFH stellt auch nicht auf das Existenzminimum, sondern auf die Gefährdung der wirtschaftlichen oder persönlichen Existenz ab. Eine solche soll schon dann gegeben sein, wenn eine bescheidene Lebensführung nicht mehr möglich ist. Die bescheidene Lebensführung geht aber über das hinaus, was zur Sicherung des Existenzminimums benötigt wird1156. Der Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen dient daher nicht der Sicherung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums. Diese Sichtweise entspricht der Rechtsprechung des BFH.

b) Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen zur Sicherung der Erwerbsfähigkeit

Der Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen soll nach der Rechtsprechung des BFH auch erfolgen, wenn die Erwerbsfähigkeit gefährdet ist1157. Wie bereits festgestellt wurde, ist die Erwerbsfähigkeit von der Verfassung geschützt. Allerdings bestehen insoweit weitergehende Eingriffsmöglichkeiten als in das tatsächlich lebensnotwendige Existenzminimum. Zu untersuchen ist hier, ob die Grundsätze des BFH sich innerhalb des Rahmens halten, den die Verfassung setzt. Zunächst ist festzuhalten, dass nach der Rechtsprechung des BFH eine Erlassbedürftigkeit bestehen kann, wenn die dauerhafte

1154 Vgl. dazu nur Schmidt-Liebig, BB 1992, 107 (107 ff.). 1155 Anders Weinreuter, DStZ 1999, 853 (861) der aber die Ausführungen des BFH offensichtlich

fehlinterpretiert. 1156 Siehe S. 229; vgl. dazu BFH v. 10. März 1987 VII B 169/85 in BFH/NV 1988, 71 (71). 1157 So insbesondere eine neuere Entscheidung: BFH v. 27. September 2001 X R 134/98 in BStBl. II

2002, 176 (179) = BFHE 196, 400; vgl. dazu auch Gerber, Rdnr. 92 ff.

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Erwerbsfähigkeit durch Einziehung der Steuern gefährdet wäre1158. Damit wäre grundsätzlich den Vorgaben des Grundgesetzes entsprochen. Allerdings ist diese Auffassung nicht konsistent; es gibt außerdem anderslautende Äußerungen1159. Festzuhalten ist Folgendes: Wenn die Anwendung der Steuergesetze im Zusammenhang mit der persönlichen Situation des Steuerpflichtigen im Einzelfall dazu führt, dass die Fortführung einer wirtschaftlichen Existenz gefährdet ist, hat grundsätzlich ein Erlass aus verfassungsrechtlichen Gründen zu erfolgen. Fraglich ist auch, ob die weiteren Anforderungen und Einschränkungen, die der BFH macht, den Vorgaben der Verfassung entsprechen.

aa) Forderung des BFH nach einem kausalen Zusammenhang von Steuererhebung und Existenzgefährdung

Nach Auffassung des BFH soll eine Erlassbedürftigkeit des Steuerpflichtigen nicht in Frage kommen, wenn die Notlage nicht durch die Erhebung der Steuer, sondern durch andere Umstände hervorgerufen wurde1160. Problematisch ist hier zunächst schon die Feststellung einer entsprechenden Kausalbeziehung. Wenn man die Erhebung als kausale Voraussetzung im Sinne einer conditio sine qua non betrachtet, wird dieses Erfordernis regelmäßig erfüllt sein. Andernfalls wäre der Erlass gar nicht geeignet, Abhilfe zu verschaffen. Dass die Erhebung der Steuern nur aufgrund einer schwierigen wirtschaftlichen Gesamtsituation die Existenzgrundlage des Steuerpflichtigen vernichten kann, ist ebenfalls evident. Somit ist schon die Relevanz dieses vom BFH geforderten Merkmals fraglich. Betrachtet man dies vor dem verfassungsrechtlichen Hintergrund, der grundsätzlich einen Erhalt der Grundlage der Erwerbstätigkeit fordert, so wird die Problematik offenbar: Forderte man eine Kausalität und würde das Vorliegen einer solchen verneinen, wenn der Steuerpflichtige sich bereits vor Festsetzung des Steueranspruchs in einer Notlage befand, wäre ein Billigkeitserlass ausgeschlossen1161. Dies wird den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht gerecht. Im Ergebnis ist keine Kausalität zwischen der Steuererhebung und Existenzgefährdung zu fordern1162. Die Rechtsprechung des BFH geht insoweit fehl.

bb) Kausalität zwischen Erlass und Verbesserung der wirtschaftlichen Lage?

1158 BFH v. 27. September 2001 X R 134/98 in BStBl. II 2002, 176 (179) = BFHE 196, 400. 1159 Vgl. nur BFH v. 25. März 1988 III R 186/84 in BFH/NV 1989, 426 (428); Siehe S. 229. 1160 BFH v. 27. April 2001 XI S 8/01 in BFH/NV 2001, 1362 (1363). 1161 Vgl. dazu Farr, BB 2002, 1989 (1994). 1162 Ebenso mit zum Teil abweichender Begründung Stöcker in Beermann/Gosch, § 227 AO Rdnr. 58;

Farr, BB 2002, 1989 (1994); Tipke/Kruse, § 227 AO Rdnr. 91; Gerber, Rdnr. 93; a.A. zur Lohsummensteuer Hatopp, KStZ 1979, 103 (104).

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In diesem Zusammenhang stellt der BFH eine weiteres Kausalitätserfordernis auf. Der Erlass muss die wirtschaftliche Lage des Steuerpflichtigen tatsächlich konkret verbessern1163. Dies Erfordernis wird insbesondere dann nicht als gegeben angesehen, wenn die Steuerforderung nicht durchsetzbar ist, da beim Schuldner aufgrund der Pfändungsschutzvorschriften keine Vollstreckung erfolgen kann1164. Es ist jedoch zu differenzieren. Hat der Steuerpflichtige Außenstände bei privaten Gläubigern, die so erheblich sind, dass mit einer Begleichung in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist, kann der Steuerdispens schon nicht als geeignet betrachtet werden, um die Erwerbsfähigkeit des Steuerschuldners zu gewährleisten. In einem solchen Fall ist die Ablehnung eines Erlasses unbedenklich. Anders ist die Rechtslage zu beurteilen, wenn ausschließlich die Steuerschulden ausstehen. In einem solchen Fall ist ein Erlass durchaus geeignet, die Erwerbsfähigkeit des Bürgers wiederherzustellen. Ein Erlass kann daher nicht mit der Begründung abgelehnt werden, die Steuerschulden könnten nicht vollstreckt werden.

cc) Berücksichtigung privater Unterhaltsansprüche

Bei der Ermittlung des Betrages, der zur Sicherung des Existenzminimums erforderlich ist, sind nach Auffassung des BFH private Unterhaltsansprüche zu berücksichtigen. Wenn die Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz aufgrund bürgerlich-rechtlicher Unterhaltsansprüche beseitigt werden kann, stößt es auf keine verfassungsrechtlichen Bedenken, den Steuerpflichtigen darauf zu verweisen. Insoweit kann der Ansicht des BFH zugestimmt werden.

dd) Berücksichtigung von Sozialhilfeleistungen

Im Gegensatz zu privatrechtlichen Unterhaltsansprüchen sollen öffentlich-rechtliche Ansprüche auf Sozialleistungen nicht angerechnet werden können. Der Steuerdispens aus Gründen persönlicher Unbilligkeit soll die Erwerbsfähigkeit des Steuerpflichtigen erhalten. Das Abrutschen in die Sozialhilfe soll gerade verhindert werden. Auch aus den verfassungsimmanenten Wertungen ergibt sich dies: Wenn der Erlass mit der Begründung abgelehnt werden kann, staatliche Sozialhilfeleistungen würden eine hinreichende Lebensgrundlage sicherstellen, würde im Ergebnis der Staat mit einer Hand nehmen, was er mit der anderen Hand wieder gewähren muss. Dies wäre verwaltungstechnisch unsinnig. Außerdem würde ein solches Vorgehen den Bürger zu einem Objekt staatlichen Handelns machen und daher einen Verstoß gegen die 1163 Siehe S. 219; vgl. dazu BFH v. 27. September 2001 X R 134/98 in BStBl. II 2002, 176 (179) =

BFHE 196, 400. 1164 Siehe S. 219; vgl. dazu nur BFH v. 27. September 2001 X R 134/98 in BStBl. II 2002, 176 (179) =

BFHE 196, 400.

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Menschenwürde und das Menschenbild des Grundgesetzes darstellen1165. Die Berücksichtigung von Sozialhilfeleistungen kann daher nicht stattfinden. Der Auffassung des BFH in dieser Frage ist zuzustimmen1166.

ee) Versagung des Steuerdispenses aufgrund fehlender Erlasswürdigkeit

Nach ständiger Rechtsprechung des BFH soll ein Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen ausscheiden, wenn der Steuerschuldner nicht erlasswürdig ist. Die Erlasswürdigkeit wird dann verneint, wenn der Steuerpflichtige in eindeutiger Weise gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen hat1167. Der Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen bezweckt die Erhaltung der Erwerbsfähigkeit des Bürgers, nicht aber die Garantie des Existenzminimums, welches bereits durch die Vorschriften des Pfändungsschutzes geschützt wird. Die verfassungsrechtlichen Gründe für den Billigkeitserlass sind daher nicht primär in der Menschenwürde, sondern in den Art. 12 und 14 GG zu suchen, die eine Wirtschaftsordnung festschreiben, die im Grundsatz auf der Selbstverantwortung des Einzelnen aufbaut1168. Eine Einschränkung dieser Rechte ist aufgrund verfassungsimmanenter Schranken möglich. In diesem Fall kann eine Kollision mit dem aus Art. 3 GG hergeleiteten Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit vorliegen. Ein Konsens dieser beiden konkurrierenden Verfassungswerte ist im Wege der praktischen Konkordanz herzustellen.

Steuerschuldner, deren wirtschaftliche Leistungsfähigkeit im Moment der Erhebung ausreicht, um die Steuerschulden zu begleichen, werden zur Zahlung der Abgaben herangezogen. Der Steuerpflichtige, der in der Vergangenheit die gleiche Leistungsfähigkeit aufwies, im Moment der Erhebung aber in finanziellen Schwierigkeiten steckt, kann einen Steuerverzicht verlangen. Die Gewährung des Erlasses gegenüber dem einen Steuerpflichtigen stellt einen Verstoß gegen das Prinzip von der leistungsgerechten Besteuerung dar. Gleichzeitig wird der Einzelne auf Kosten der Allgemeinheit bevorzugt. Eine Abwägung der beeinträchtigten Interessen lässt es als angemessen erscheinen, eine solche Belastung der Allgemeinheit und den Verstoß gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip dann als nicht gerechtfertigt anzusehen, wenn der bevorzugte Steuerpflichtige gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen hat1169.

1165 Tipke, Steuerrechtsordnung S. 421f; Kirchhof, StuW 1985, 319 (326). 1166 Abweichend von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 298; ähnlich Schmidt-

Liebig, BB 1992, 107 (114). 1167 Siehe S. 231; vgl. dazu nur BFH v. 15. Oktober 1992 X B 152/92 in BFH/NV 1993, 80 (81). 1168 Siehe S. 239; vgl. dazu Manssen in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 12 Rdnr. 32; Jachmann,

S. 27; Kirchhof, FS Scupin, S. 775 (788 f). 1169 Von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 319; Heinlein, BlStSozArbR 1980, 204

(205 f); Weinreuter, DStZ 1999, 853 (862); Tipke/Kruse, § 227 AO Rdnr. 103; Stöcker in Beermann/Gosch, § 227 AO Rdnr. 66; Schwarz, § 163 Rdnr. 55 ff.; Gerber, Rdnr. 96; vgl. dazu auch BVerfG v. 13. Dezember 1994 2 BvR 89/91 in HFR 1995, 220 (222).

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Im Ergebnis kann die steuerfreie Belassung finanzieller Mittel über das Existenzminimum hinaus zur langfristigen Sicherung einer Ertragsgrundlage nur soweit als Gebot des Grundgesetzes angesehen werden, als die finanzielle Notlage nicht auf einem solchen Verhalten des Steuerpflichtigen beruht. Das vom BFH aufgestellte Erfordernis der Erlasswürdigkeit bei der Prüfung eines Steuerdispenses aus persönlichen Billigkeitsgründen entspricht daher den verfassungsrechtlichen Wertungen. Der Ansicht des BFH ist insoweit zuzustimmen.

ff) Persönliche Unbilligkeit bei juristischen Personen

Ein Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen soll nach Ansicht des BFH auch bei juristischen Personen in Frage kommen1170. Diese Ansicht verwundert zunächst. Das vom BFH als Maßstab für die Erlassbedürftigkeit angelegte Kriterium der Existenzbedrohung scheint nahe zu legen, dass nur bei natürlichen Personen, die tatsächlich sozial und biologisch bestehen, eine persönliche Unbilligkeit gegeben sein kann. Bei näherer Betrachtung ergibt sich aber ein anderes Bild. Der Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen soll nicht das als Bestandteil des Art. 1 GG garantierte Existenzminimum sichern. Wäre dem so, käme tatsächlich eine persönliche Unbilligkeit bei juristischen Personen nicht in Betracht. Zum einen soll das Existenzminimum gerade die tatsächliche soziale und physische Existenz garantieren, die eine nur virtuell existierende Körperschaft nicht besitzt. Zum anderen ist der Art. 1 GG, wie auch schon der Begriff der Menschenwürde nahe legt, nur auf natürliche Personen anwendbar1171, eine sinngemäße Anwendbarkeit auf inländische juristische Personen gem. Art. 19 Abs. 3 GG scheidet aus1172.

Tatsächlich geht es bei einem Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen aber nicht um die Garantie des Existenzminimums, sondern um den Erhalt der Erwerbsfähigkeit1173. Damit soll ein Gebot der Verfassung umgesetzt werden, welches sich aus den Art. 12 und 14 GG herleitet. Diese Vorschriften betreffen die wirtschaftlichen Grundfreiheiten. Unstrittig ist die Anwendbarkeit des Art. 14 GG auf inländische juristische Personen1174. Umstritten war hingegen, ob Körperschaften Schutz auch durch den Art. 12 GG für sich beanspruchen können, da eine juristische

1170 Siehe S. 227; vgl. nur BFH v. 19. April 1989 II R 16/89 in DB 1990, 308. 1171 Starck in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 1 Rdnr. 18. 1172 Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 19 Rdnr. 24; Huber in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 19

Rdnr. 316. 1173 Anders Weinreuter, DStZ 1999, 853 (854). 1174 Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 19 Rdnr. 21; Huber in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 19

Rdnr. 324; Papier in Maunz/Dürig, Art. 14 Rdnr. 206 ff.; BVerfG v. 25. Januar 1984 1 BvR 272/81 in BVerfGE 66, 116 (130); BVerfG v. 13. Januar 1976 1 BvR 631/69 und 24/70 in BVerfGE 41, 126 (149).

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Person keinen Beruf im eigentlichen Sinne ausüben kann1175. Damit ist der Schutzbereich des Art. 12 GG aber nur unzureichend beschrieben. Tatsächlich wird auch die Gewerbefreiheit durch diese Vorschrift geschützt1176. Diese kann aber auch und insbesondere von juristischen Personen ausgeübt werden. Eine sinngemäße Anwendung des Art. 12 GG im Sinne des Art. 19 Abs. 3 GG auf juristische Personen des Privatrechts ist daher möglich1177. Da sowohl Art. 12 GG als auch Art. 14 GG auf Körperschaften Anwendung finden, muss ihnen grundsätzlich auch das aus diesen Normen resultierende subjektive Recht auf den Erhalt der Erwerbsfähigkeit zugestanden werden. Bei juristischen Personen kann daher ebenfalls eine persönliche Unbilligkeit vorliegen1178. Diese Auffassung vertritt auch der BFH.

c) Ergebnis der Bewertung

Der Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen dient nicht der Sicherung des Existenzminimums. Dieses wird bereits durch die Pfändungsgrenzen hinreichend geschützt. Die persönliche Unbilligkeit soll vielmehr die Erwerbsfähigkeit des Steuerpflichtigen sichern. Nach der Rechtsprechung des BFH soll der Erlass eine bescheidene Lebensführung ermöglichen1179. Nicht eindeutig ist die Rechtsprechung des BFH zu der Frage, ob der Bedarf für diese über dem Existenzminimum liegt, welches als ärmliche Lebensführung bezeichnet wird1180. Auf die Erhaltung der Erwerbsfähigkeit bezieht sich der BFH nur teilweise1181. Die Rechtsprechung des BFH entspricht den grundrechtlichen Vorgaben daher nur zum Teil. Eine Korrektur derart, dass eine Erlassbedürftigkeit anzunehmen ist, wenn die Erwerbsfähigkeit gefährdet scheint, ist erforderlich1182.

Die Forderung des BFH, die Einziehung der Steuer müsse für die Notlage unmittelbar kausal sein, ist unbegründet. Tatsächlich kann auch ohne das Vorliegen einer unmittelbaren Kausalbeziehung ein Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen in 1175 Ablehnend Haußleiter, DÖV 1952, 496 (497); Sieg, DVBl. 1950, 197 (199); zusammenfassend

dazu Huber in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 19 Rdnr. 325. 1176 Dies ist unbestritten; vgl. dazu Scholz in Maunz/Dürig, Art. 12 Rdnr. 10, 143; BVerfG

v. 14. Januar 1976 1 BvL 4, 5/72 in BVerfGE 41, 205 (228); Gubelt in von Münch/Kunig, Art. 12 Rdnr. 18.

1177 So im Ergebnis die allgemeine Auffassung, Scholz in Maunz/Dürig, Art. 12 Rdnr. 106; Gubelt in von Münch/Kunig, Art. 12 Rdnr. 6; BVerfG v. 16. März 1971 1 BvR 52, 665, 667, 754/66 in BVerfGE 30, 292 (312); BVerfG v. 1. März 1979 1 BvR 532, 533/77, 419/78 in BVerfGE 50, 290 (363); BVerfG v. 19. Oktober 1983 2 BvR 298/81 in BVerfGE 65, 196 (209 f); ablehnend Haußleiter, DÖV 1952, 496 (497); Sieg, DVBl. 1950, 197 (199).

1178 Dieses Ergebnis entspricht der allgemeinen Auffassung, von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 148; Tipke/Kruse, § 227 AO Rdnr. 93; Stöcker in Beermann/Gosch, § 227 AO Rdnr. 65; zum Teil abweichend Weinreuter, DStZ 1999, 853 (854).

1179 Vgl. dazu nur BFH v. 3. Oktober 1988 IV S 5/86 in BFH/NV 1989, 411 (411). 1180 Siehe S. 229; vgl. BFH v. 10. März 1987 VII B 169/85 in BFH/NV 1988, 71 (71). 1181 BFH v. 27. September 2001 X R 134/98 in BStBl. II 02, 176 (179) = BFHE 196, 400. 1182 Ähnlich Farr, BB 2002, 1989 (1989 ff.).

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Frage kommen1183. Die Berücksichtigung privater Unterhaltsansprüche des Steuerpflichtigen ist nicht zu beanstanden. Das Außerachtlassen von möglicherweise bestehenden Sozialhilfeansprüchen entspricht ebenfalls den grundgesetzlichen Wertungen. Die Erlasswürdigkeit des Steuerschuldners ist, wie vom BFH gefordert, Voraussetzung eines Steuerdispenses aus persönlichen Gründen. Auch bei juristischen Personen kommt grundsätzlich ein Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen in Betracht.

1183 Vgl. dazu auch Farr, BB 2002, 1989 (1994).

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3. Teil: Entwicklung von Kriterien zur Anwendung der §§ 163 und 227 AO

Bevor Kriterien zur Anwendung der Billigkeitsvorschriften entwickelt werden können, soll die historische Entwicklung des Billigkeitsgedankens in der Rechtsphilosophie dargestellt werden. Danach soll die Auffassung des BVerfG zur Funktion des Billigkeitserlasses und die Ansicht des BFH zur Bedeutung der Billigkeit dargelegt werden. Aufbauend auf diesen Grundlagen sind dann Kriterien für die Anwendung der Billigkeitsvorschriften im Steuerrecht zu ermitteln.

A. Billigkeitsgedanke in seiner historischen Entwicklung

Zunächst soll die Entwicklung des Gedankens der Billigkeit im historischen Kontext dargestellt werden. Dazu erfolgt eine Betrachtung der rechtsphilosophischen Grundlagen der Billigkeit in ihrem ideengeschichtlichen Zusammenhang.

I. Billigkeit in der Antike

Die frühesten überlieferten Betrachtungen über den Begriff der Billigkeit stammen aus der Antike.

1. Aristoteles und die griechische έπιείκεια (epieikeia)

Erste wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Begriff der Billigkeit1184 finden sich bei Aristoteles. Er erkennt das Grunddilemma des Versuchs, das gesellschaftliche Zusammenleben mittels allgemeiner Normen zu regeln, darin, dass ein Gesetz nicht immer alle Fälle des sozialen Lebens befriedigend erfassen kann. Den Grund sieht Aristoteles im abstrakten Charakter der Gesetze, dem eine vielfältige Lebenswirklichkeit gegenübersteht. Durch die notwendige Verallgemeinerung des Tatbestandes fallen einige Sachverhalte des sozialen Lebens nicht unter das Gesetz, die eigentlich erfasst sein sollten. Aristoteles nimmt an dieser Stelle nicht ausdrücklich Stellung zu der Frage, nach welchen Gesichtspunkten sich bestimmt, ob ein Sachverhalt

1184 Teilweise auch als „Güte“ übersetzt, das im Original verwandte επιεικεια (Vgl. Aristoteles, Opera

Omnia, Bd. 2 S. 64 f) kann aber ebenso als Angemessenheit oder Billigkeit übersetzt werden, was hier den Sinn wohl besser wiedergibt, vgl. dazu Frisk, S. 536.

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unter die allgemeine Norm fallen soll oder nicht. Da er sich aber im Folgenden auf den hypothetischen Willen des Gesetzgebers bezieht, scheint auch hier dessen Wille maßgeblich zu sein.

Aristoteles stellt dann die sich daraus ergebende Frage, ob bei der Entscheidungsfindung für den konkreten Fall dem Wortlaut der Norm oder der Intention des Normgebers Vorrang zu gewähren ist. Nach Aristoteles ist die Entscheidung so zu treffen, wie sie vom Gesetzgeber getroffen worden wäre, wenn dieser den Fall bedacht hätte1185. Der Wille des Normgebers steht also über dem Wortlaut des Gesetzes, die Einzelfallgerechtigkeit ist mithin ranghöher als die abstrakte Bestimmung1186. Ausgehend von dieser Prämisse könnte die Schaffung von Gesetzen als unnötig angesehen werden. Aristoteles kommt indes zu einem anderen Schluss. Die Schaffung abstrakter Normen wird nicht als überflüssig, sondern als notwendig erkannt. Seiner Ansicht nach stehen die strengrechtliche Gesetzmäßigkeit und die Billigkeit als Mittel zur Verfügung, um zu einem einheitlichen Rechtswert, eben der Gerechtigkeit im Einzelfall, zu gelangen. Die Gesetzmäßigkeit stellt dabei einen technisch-deduktiven Weg dar, während die Billigkeit eine normative Vorgehensweise beschreibt1187.

2. Aequitas im römischen Recht

Im römischen Rechtsleben wurde zur Ergänzung des strengen Rechts die aequitas entwickelt.

a) Klassik

Das klassische römische Recht fußte auf den tradierten 12-Tafel-Gesetzen. Diese bestanden aus einfachen Rechtssätzen, die dem sozialen Kontext des frühzeitlichen, agrarisch orientierten Protostaates entstammten. Durch den wirtschaftlichen Aufschwung und die damit verbundenen kulturellen und gesellschaftlichen Umwälzungen der jungen Republik, insbesondere den zunehmenden Handel und die damit verbundene ansteigende Zahl von Verträgen aller Art, erwiesen sich die 12-Tafel-Gesetze als nicht ausreichend, um der komplexer werdenden sozialen Wirklichkeit zu begegnen1188. Im zweigeteilten römischen Gerichtsverfahren1189 hatte der praetor die Möglichkeit, unter Anwendung seines Honorarrechts rechtsgestaltend in den Prozess

1185 Aristoteles, Nikomachische Ethik, S. 119. 1186 So ausdrücklich Aristoteles, Nikomachische Ethik, S. 119; näher dazu Salomon, S. 68 ff. 1187 Vgl. dazu auch Radbruch, S. 123. 1188 Dazu Kaser, Privatrecht, S. 17 f. 1189 Näher dazu Kaser, Privatrecht, S. 352f; Wesel, Rdnr. 135.

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einzugreifen1190. Da, wie im case law üblich, der Rechtsprechung durch die Schaffung von Präzedenzen gleichzeitig quasi legislative Funktion zukam, wurde durch die Rechtsprechung des Prätors auch neues Recht gesetzt. Neben dem hergebrachten ius civile (ius strictum) etablierte sich auf diese Weise ein ius honorarium (ius praetorium). Dabei wurde zur Begründung des gefundenen Urteils auch auf die Formel aequus (gerecht, billig) zurückgegriffen. Billigkeitsgesichtspunkte haben also auch bei der Urteilsfindung und der Rechtssetzung durch die Prätoren eine Rolle gespielt. Fraglich ist allerdings, ob die aequitas tatsächlich schon in einer Dichotomie zum strengen Recht (ius) gesehen wurde1191.

b) Spätzeit

Unbestritten ist, dass in der byzantinischen Zeit das ius strictum als begrifflicher Antipode zum ius aequum verstanden wurde1192. In dieser Epoche begann das ius aequum, das strenge Recht zu überwinden1193. Darin manifestiert sich die zunehmende Bedeutung des Christentums einerseits, zum anderen aber auch der Schriften Aristoteles´, da der Einfluss der griechischen Kultur und Philosophie auf das geographisch nähere Ostrom zunahm1194.

c) Begriff der aequitas

Fraglich ist, in welchem Sinn die römischen Juristen den Begriff der aequitas verstanden haben. Grundlegende theoretische Abhandlungen dazu aus römischer Zeit sind nicht bekannt. Das ist ein Zeichen dafür, dass die Römer Meister der praktischen Rechtsanwendung waren, während die rechtsphilosophischen Fragen von den griechischen Klassikern geklärt wurden1195. Teilweise wird angenommen, die aequitas sei begrifflich der griechischen epieikeia gleichzusetzen1196. Auch wenn es Bedenken gegen diese Auffassung gibt1197, besteht Einigkeit darüber, dass sich die Konzepte im Wesentlichen entsprechen und höchstens in Nuancen voneinander abweichen1198. Auch

1190 Kaser, Privatrecht, S. 18. 1191 Das behauptet von Bodungen, S. 145, der auch Kaser, Das römische Privatrecht I, zitiert. Die

angegebenen Fundstellen, S. 173 und S. 189 zwingen allerdings nicht zu diesem Schluss. Gegen diese Auffassung: Kisch, S. 14; Pringsheim, S. 131 und 152; ähnlich Rümelin, S. 27. 1192 So auch Kisch, S. 14; Pringsheim, S. 152. 1193 Pringsheim, S. 152. 1194 Coing, S. 43 ff., insbesondere S. 44. 1195 Vgl. Wesel, Rdnr. 124 f. 1196 Rümelin, S. 39. 1197 Kisch, S. 31, der allerdings nur eine fremde Meinung wiedergibt, ohne sich auf eine wirkliche

Argumentation einzulassen. 1198 Steinhauer, S. 8; ähnlich von Bodungen, S. 145; Coing, S. 43 f; Elsener, S. 177.

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die aequitas beinhaltet daher die Überwindung von Unschärfen abstrakter Gesetze unter Zuhilfenahme der Intention der Regelung.

3. Zusammenfassung

Die in der Antike gelegten Grundlagen des Verständnisses der Billigkeit betrafen das, was heute unter dem Begriff der sachlichen Unbilligkeit fällt: In Fällen, in denen die Anwendung abstrakter Gesetze nicht mit dem Zweck der Norm in Einklang stand, wurde im Einzelfall eine Korrektur der Gesetzesanwendung vorgenommen.

II. Billigkeit im Mittelalter

Aufbauend auf dem Verständnis der aequitas entwickelte sich im Mittelalter das Konzept der Billigkeit weiter.

1. Einfluss der Billigkeit

Die bereits in nachklassischer römischer Zeit vorhandene Dominanz des ius aequum über das ius strictum verstärkte sich im Mittelalter1199. Besonders im kanonischen Recht entwickelte sich der Billigkeitsgedanke weiter und wurde zum tragenden Gedanken der kirchlichen Jurisprudenz1200.

2. Begriff der Billigkeit

Die christliche Ethik hatte einen bedeutenden Einfluss auf das Verständnis der Billigkeit im Mittelalter, naturgemäß insbesondere auf den Billigkeitsbegriff im kanonischen Recht1201. So wird die überlieferte, auf Aristoteles zurückgehende und von den Römern

1199 Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 38 ff.; Elsener, S. 170 f. Hier ist allerdings zu beachten,

dass es unterschiedliche Epochen gab, teilweise auch eine zaghafte Gegenbewegung einsetzte, vgl. Elsener, S. 184. Mehr als eine stark vereinfachte Darstellung würde aber den Rahmen dieser Arbeit sprengen.

1200 Elsener, S. 170 f. 1201 Vereinfachend soll hier lediglich der Begriff der Billigkeit im kanonischen Recht betrachtet

werden. Dass die Billigkeit aber auch im germanischen Recht eine zentrale Rolle spielte, bezeugt der Umstand, dass es spezielle Königsgerichte gab, die nach Billigkeit entschieden, vgl. von Schwerin, S. 138 f. Da die kanonische Jurisprudenz aber im Mittelalter denen konkurrierender Rechte überlegen war und damit den Motor der Rechtsentwicklung für das gesamte Recht dieser Epoche bildete, beschreibt der kanonische Billigkeitsbegriff weitgehend das allgemeine Billigkeitsverständnis dieser Zeit; vgl. dazu Kaufmann, S. 21 ff.; Rödel S. 119.

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übernommene Vorstellung der Billigkeit, wie sie die Begriffe epieikeia und aequitas prägt, ergänzt durch Termini der christlichen Moraltheologie1202. Primär die misericordia (Barmherzigkeit) erlangt große Bedeutung für die Auffassung vom Wesen der Billigkeit1203. Weitere elementare Begriffe sind die clementia (Milde), benignitas (Güte), benevolentia (Wohlwollen), miseratio (Mitleid) und caritas (Nächstenliebe). Thomas von Aquin beschreibt die Veränderung im Verständnis der Billigkeit folgendermaßen: „Die aequitas des kanonischen Rechts ist jene des römischen Rechts, aber durchdrungen vom Geiste des Christentums, dem Geiste der misericordia und benignitas.“1204 Das kanonische Recht entwickelte also eine eigene Auffassung von der Billigkeit, die sich von der aequitas und der epieikeia, auf der sie beruhte, unterschied. Diese aequitas canonica oder einfach misericordia genannte Auffassung1205 von der Billigkeit im kanonischen Recht unterschied sich von der ursprünglichen aequitas vor allem durch ein starkes soziales Element. Der Richter war nach dem Grundgedanken der misericordia gehalten, den ökonomisch Schwachen bevorzugt zu behandeln1206.

3. Zusammenfassung

Unter dem Einfluss der christlichen Morallehre wurde dem klassischen Verständnis der Billigkeit ein zusätzliches Element hinzugefügt. Der Billigkeit kam auch eine sozial ausgleichende Funktion zu. Die „persönliche“ Komponente war der Billigkeit im ursprünglichen aristotelischen Verständnis fremd: dort ging es lediglich um eine Überwindung der Unschärfe abstrakter Normen, nicht um den Ausgleich wirtschaftlicher Differenzen. Dieses persönliche Moment im Konzept der Billigkeit ist eine Neuerung der mittelalterlichen, kanonischen Rechtsfindung.

III. Billigkeit in der Neuzeit

In der Neuzeit beschäftigten sich verschiedene Philosophen mit dem Begriff der Billigkeit.

1202 Rödel, S. 118. 1203 Elsener, S. 170 f; dazu auch Kisch, S. 39 f. 1204 Thomas von Aquin, S. 83 f. 1205 Die Begriffe epieikeia, aequitas, aequitas canonica und misericordia werden zu dieser Zeit nicht

sehr scharf getrennt und gehen zum Teil ineinander über, vgl. Elsener, S. 169. 1206 Elsener, S. 177. Zur problematischen Abgrenzung zur Gnade vgl. von Bodungen S. 147.

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1. Kant

Eine Definition des Begriffes der Billigkeit lässt sich bei Kant nicht finden. Er macht allerdings Aussagen zum Standpunkt der Billigkeit in seiner Morallehre und zur Wirkung der Billigkeit. Kant teilt die Moral ein in ein System von Pflichten, in dessen Rahmen die Rechtspflichten den Tugendpflichten gegenüberstehen1207. Da mit dem Recht die Befugnis verbunden ist, jemanden zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen1208, sind Rechtspflichten solche, die sich erzwingen lassen. Ihnen gegenüber stehen mit den Tugendpflichten solche, die nicht mit Zwang durchsetzbar sind. Kant stellt weiter die Billigkeit dem „stricten“ Recht gegenüber, wobei dieses das einzige Kriterium darstellt, an dem sich die Jurisdiktion zu orientieren hat1209. Kant weist somit die Billigkeit dem Bereich der Tugendpflichten zu1210. Die Billigkeit ist nach Kant nur eine moralische Pflicht gegen sich selbst, „eine stumme Gottheit, die nicht gehört werden kann“1211. Er sieht zwar auch die unerwünschte Folge dieser Auffassung, dass nämlich unbillige Entscheidungen im Einzelfall getroffen werden1212. Diesem könne aber auf dem Weg des Rechts nicht abgeholfen werden; es stehe alleine das Gewissensgericht zur Verfügung1213. Mit dieser Ansicht steht Kant im Gegensatz zu den früheren Auffassungen zur Billigkeit, da diese die Billigkeit als Bestandteil des Rechts sahen oder zumindest als vom Richter zu achtende Möglichkeit, eine gerechte Entscheidung zu erreichen.

2. Hegel

Hegel bezeichnet die Billigkeit zunächst als Abbruch des formellen Rechts1214, ohne weiter darauf einzugehen, was er unter diesem Abbruch versteht. Auszugehen ist hier von einer positivistischen Grundhaltung1215, da Hegel besonderen Wert darauf legt, dass die formellen Gesetze allgemein bekannt sind1216. Auf dieser Basis lässt sich der Abbruch nur so verstehen, dass die Billigkeit dem Recht gegenübersteht und nicht ein Bestandteil des Rechts ist. Insoweit wird der Gedanke von Kant aufgenommen. Wenn 1207 Kant, S. 242. 1208 Kant, S 231. 1209 Kant, S. 234 f. 1210 So auch Rödel, S. 123; anders von Bodungen, S. 148, auch wenn Kant diese Zuweisung nicht

ausdrücklich macht, kann man seine Aussage (S. 234) in Verbindung mit seiner Einteilung in Recht- und Tugendpflichten (S. 242) und seiner Aussage, dass mit Recht immer die Befugnis zum Zwang verbunden ist (S. 231), nicht anders verstehen. Die abweichende Meinung von Bodungens ist daher abzulehnen.

1211 Kant, S. 235. 1212 Kant zitiert hier sogar den tradierten Aphorismus „summum ius summa iniuria“, S. 235. 1213 Kant, S. 235. 1214 Hegel, § 223, S. 191. 1215 Vgl. dazu Hegel, § 211, S. 180 f. 1216 Hegel, § 215, S. 185 f.

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Hegel im Weiteren von der Bedeutung spricht, die ein Billigkeitsgerichtshof haben wird, ist fraglich, ob er an dieser Stelle spekulativ beziehungsweise deskriptiv bleibt oder aber diese Einrichtung als notwendig betrachtet1217. Aufgrund des positivistischen Grundverständnisses des Rechts ist hier Ersteres anzunehmen. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass sich das Verständnis der Billigkeit bei Hegel an die kant`sche Auffassung anschließt. Unklar ist dabei, ob Hegel tatsächlich auch so weit geht, zu fordern, die Rechtsprechung solle nur nach positivem Recht entscheiden und keine Billigkeitsgesichtspunkte in ihre Entscheidungsfindung einbeziehen.

3. Schopenhauer

Im Gegensatz zu Hegel ist Schopenhauer ein Anhänger der naturrechtlichen Vorstellung, Recht sei ohne einen staatlichen Rechtssetzungsprozess a priori vorhanden1218. Gerechtigkeit bezeichnet er als erste Kardinaltugend1219, sieht die Billigkeit aber nicht als Mittel, um diese Gerechtigkeit zu erreichen, sondern stellt sie vielmehr als „Feind der Gerechtigkeit“1220 dar, dem man nicht zu viel Platz einräumen soll. Erklären lässt sich diese Auffassung damit, dass Schopenhauer aufgrund seiner naturrechtlichen Prägung die Gerechtigkeit des Einzelfalls schon als Bestandteil des Rechtes sieht und es nach seiner Ansicht kein abstraktes, positives Recht gibt, dessen Härte im Einzelfall zu mildern wäre.

4. Nietzsche

Obwohl Nietzsche naturrechtliche Vorstellungen ablehnt1221, bezeichnet er die Billigkeit als Fortbildung der Gerechtigkeit1222. Allerdings soll die Billigkeit, die Nietzsche als Gleichheit versteht1223, nur in den Fällen Anwendung finden, in denen das Gesetz nichts vorschreibt1224. Die Billigkeit sei nur ein Instrument, um Gesetzeslücken zu schließen. Im Gegensatz zum Verständnis der Billigkeit bei Aristoteles soll diese also nicht eine Korrektur von Ungenauigkeiten bewirken, die auf dem abstrakten Charakter der Gesetze beruhen, sondern eine Ergänzung des Gesetzgebers darstellen, wenn dieser einen Sachverhalt nicht geregelt hat.

1217 So Rödel, S. 124, der annimmt, Hegel sehe die Billigkeit als „regula correctix“ an. 1218 Schopenhauer, S. 218. 1219 Schopenhauer, S. 199. 1220 Schopenhauer, S. 221. 1221 Vgl. Schiller in Ottmann, S. 241. 1222 Nietzsche, S. 191 f, Nr. 32. 1223 Nietzsche, S. 192, Nr. 32. 1224 Nietzsche, S. 192, Nr. 32.

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5. Zusammenfassung

In der Neuzeit differenziert sich das Bild der Billigkeit. Während Kant, Hegel und Schopenhauer der Billigkeit keine Bedeutung für die Rechtsfindung einräumen, sieht Nietzsche in ihr immerhin eine Möglichkeit, Gesetzeslücken zu schließen. Es bleibt festzuhalten, dass die Bedeutung der Billigkeit nach den dargestellten Ansichten gegenüber der antiken und mittelalterlichen Auffassung deutlich zurückgedrängt wird.

IV. Billigkeit im 20. Jahrhundert

Im 20. Jahrhundert nahm die Billigkeit breiten Raum in der philosophischen und rechtsphilosophischen Literatur ein.

1. Rümelin

Rümelin versteht die Funktion der Billigkeit wieder primär darin, durch Abstraktion verursachte Fehler und Härten zu korrigieren1225. Rümelin differenziert die rechtstechnischen Mittel, mit denen diese Korrektur durchgeführt wird. Es soll zum einen eine Einrede der Unbilligkeit geben, durch die es dem Richter ermöglicht wird, gesetzliche Rechtswirkungen außer Kraft zu setzten. Zum anderen kann mittels analoger Ausdehnung oder teleologischer Reduktion von Gesetzesbestimmungen ein billiges Ergebnis erreicht werden1226. Außerdem können bereits im Gesetzgebungsprozess durch die Einfügung von Billigkeitsklauseln und unbestimmter Rechtsbegriffe die abstrakten Normen elastisch gemacht werden1227. Über das klassisch-aristotelische Verständnis der Billigkeit hinaus findet sich aber auch der sozial ausgleichende Gedanke der misericordia bei Rümelin wieder, denn auch „Humanität, Schonung und Milde pflegen mit dem Begriff der Billigkeit verbunden zu werden“1228. Funktional unterscheidet Rümelin die Billigkeit als Maßstab der Kritik, als Ausbildungs- und Fortbildungsprinzip und als Korrektur des positiven Rechts1229. Der Rechtsanwender soll, nachdem er durch deduktive Subsumtion unter die abstrakte Norm zu einem Ergebnis gelangt ist, dieses stets nach seinem Rechtsbewusstsein überprüfen. Falls ein Dissens besteht, ist eine

1225 Rümelin, S. 45. 1226 Rümelin, S. 45. 1227 Rümelin, S. 45. 1228 Rümelin, S. 48. 1229 Rümelin, S. 56, nur letztere Funktion findet sich auch schon bei Aristoteles wieder. Die Funktion

der Billigkeit als Maßstab der Kritik enthält Elemente der Auffassung Herings. Die Funktion der Billigkeit als Ausbildungs- und Fortbildungsprinzip trägt dagegen Züge der dialektischen Auffassung Binders in sich.

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Überprüfung des Ergebnisses angebracht1230. Hierbei sollen die Möglichkeiten der gesetzeskonformen Regulierung des unbilligen Ergebnisses ausgeschöpft werden.

Trotzdem warnt Rümelin vor einer Rechtsfindung lediglich nach Billigkeitsgesichtspunkten: eine „Flucht in die Billigkeit“1231 dürfe es nicht geben. Begründet wird dies zum einen mit dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit. Außerdem steht auch das demokratische Prinzip einer Überdehnung der Billigkeitsjurisdiktion entgegen. Die Rechtssetzung stehe den gesellschaftlichen Interessengruppen im Rahmen eines parlamentarischen Prozesses zu und nicht einem Richter, bei dem sich auch Befangenheit nicht ausschließen lasse1232.

2. Binder

Das Verständnis der Billigkeit von Binder knüpft an das klassische Konzept der Billigkeit an. Billigkeit soll das Gesetz berichtigen, wo dieses wegen seiner Abstraktheit nicht zu angemessenen Ergebnissen führt1233. Allerdings ist der Ansatz Binders ein dynamischer, bei ihm ist die Billigkeit Bestandteil eines dialektischen Prozesses. Dem Recht als These steht als Antithese die Billigkeit gegenüber1234. Da die Billigkeit immer die Tendenz hat, sich gegen das abstrakte, strenge Recht durchzusetzen, wird der Gegensatz zur neugeschaffenen Synthese aufgehoben. Es entsteht ein neues, billiges Recht. Das neugeschaffene Recht kann aber veralten und dadurch ein unbilliges werden. Sobald dies geschehen ist, steht auf einer höheren Ebene dem - jetzt unbilligen - Recht wieder die Billigkeit gegenüber, die sich mit dem Recht abermals zur Synthese eines erneuerten, billigen Rechts vereint1235. Binder sieht also die Entwicklung des Rechts als sich ständig erneuernde und sich auf eine höhere Stufe begebende Dialektik zwischen strengem Recht und Billigkeit. Aus diesem Grund ist das Verhältnis von abstrakter Norm und Billigkeit kein kontradiktorisches, sondern ein dialektisches. Denn Recht und Billigkeit schließen sich nicht aus, vielmehr trägt das Recht schon die Billigkeit als evolutionären Bestandteil in sich1236.

3. Hering

Hering sieht die Billigkeit ebenfalls als Element der Gesetzesverbesserung; allerdings besteht nach seiner Ansicht kein dialektischer Prozess im eigentlichen Sinne, vielmehr 1230 Rümelin, S. 78 f. 1231 Rümelin, S. 79. 1232 Rümelin, S. 81. 1233 Binder, Grundlegung, S. 168; Binder, Philosophie des Rechts, S. 404. 1234 Binder, Philosophie des Rechts, S. 407. 1235 Vgl. zur Entwicklung Binder, Philosophie des Rechts, S. 407 f. 1236 Binder, Philosophie des Rechts, S. 407; vgl. auch Steinhauer, S. 20; Rödel, S. 125.

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steht die Billigkeit dem abstrakten Recht als „Entwurf“ eines besseren Rechts gegenüber und bewirkt so langfristig eine Korrektur des abstrakten Rechts. Hering sieht die Billigkeit außerdem in ständiger Verknüpfung mit dem Gedanken des Naturrechts als unabdingbares naturrechtliches Moment des Rechts1237.

4. Radbruch

Radbruch definiert die Billigkeit als Gerechtigkeit des Einzelfalls: er sieht diese in einem „Herrschaftskampfe um das Recht“1238 mit der Gerechtigkeit, die hier als str engrechtliche Gesetzmäßigkeit zu verstehen ist. Er bezieht sich auf Aristoteles, wenn er das abstrakte Gesetz und die Billigkeit als zwei Methoden beschreibt, um zu einem einheitlichen Rechtswert zu gelangen1239. Über das Verständnis der Billigkeit bei Aristoteles geht Radbruch allerdings hinaus, wenn er anerkennt, dass die Billigkeit nicht nur die Ungenauigkeiten der abstrakten Norm kompensieren, sondern auch den sozial Schwächeren begünstigen soll1240.

5. Esser

Esser sieht die Billigkeit nicht als Mittel zur Überwindung des Rechts, sondern vielmehr als Ergänzung des Rechts1241. Die Billigkeit wird als immanente Korrektur des strengen Rechts in den Fällen, in denen das Gesetz auf die Billigkeit verweist1242, verstanden. Nach Esser hat die Billigkeit durch die klauselhafte Einbeziehung in das strenge Recht ihre Stellung als Monopol in einem vom ius strictum abgegrenzten Rechtsbereich verloren und ist als Billigkeitsgedanke ein Teil des abstrakten Rechts geworden1243.

1237 Hering, S. 109 ff. 1238 Radbruch, S. 123. 1239 Radbruch, S. 123. 1240 Radbruch, S. 159; insofern verbindet er das Verständnis der Billigkeit des Aristoteles mit der

Erweiterung durch den Gedanken der misericordia, wie dies schon das mittelalterliche kanonische Recht tat.

1241 Esser, Billigkeit, S. 26, diese Aussage beschränkt sich allerdings auf das Privatrecht. 1242 Esser, Billigkeit, S. 36. Esser hat insbesondere die Billigkeitsklauseln des Zivilrechts im Blick,

vgl. S. 36 FN 10 und die Aufzählung auf S. 26. 1243 Esser, Grundsatz, S. 65; zu beachten ist hier aber, dass Essers Betrachtungen sich auf das

Zivilrecht beschränken und in erster Linie deskriptiv bleiben.

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6. Zippelius

Auf die Frage, ob im Streitfall der Einzelfallgerechtigkeit oder dem generellen Gesetz Vorrang zu gewähren ist, gibt Zippelius zunächst zu bedenken, die Entscheidung nach positiv festgelegten, generellen Normen diene der Rechtssicherheit und dem Schutz vor Willkür1244. Da die generelle Norm so auch Zwecken diene, die im Einklang mit dem Rechtsgefühl stehen, kann sich die Billigkeit nur in den Fällen durchsetzen, in denen ein erheblicher Widerspruch zwischen Billigkeit und abstrakter Norm zutage tritt. Zippelius beschreibt auch, welche Folgen Billigkeitsentscheidungen haben. Sie führen in ihrer Konsequenz zu einer sachgerechten Differenzierung des Normsystems. Ist ein Sachverhalt nämlich einmal im Sinne der Einzelfallgerechtigkeit entschieden worden, muss, sobald ein vergleichbarer Fall eintritt, ebenfalls eine Billigkeitsentscheidung ergehen, wenn man eine Ungleichbehandlung vermeiden möchte1245. Dies führt zu einer Tendenz des Billigkeitsrechtes, „selbst wieder zu festen Grundsätzen zu gerinnen“1246.

7. Zusammenfassung

In der rechtsphilosophischen Gedankenwelt des 20. Jahrhunderts ist allgemein anerkannt, dass die Billigkeit sowohl das klassisch-aristotelischen Element der „sachlichen“, als auch die, aus der christlichen Morallehre stammende, „persönliche“ Komponente umfasst. Die Wirkung der Billigkeit auf die Entwicklung des Rechts rückt in das Zentrum der Betrachtungen. Über die Mechanismen besteht dabei Dissens: Binder geht von einem dialektischen Prozess aus, in dem sich das strenge Recht und die Billigkeit befinden. Hering sieht die Billigkeit dagegen als Maßstab, an dem sich das abstrakte Recht messen muss. Nach Zippelius hingegen führt das Verbot der Ungleichbehandlung dazu, dass sich aus dem Billigkeitsgedanken im Recht wieder feste Prinzipien formen.

V. Zusammenfassung der historischen Betrachtung

Während der Antike wurden bereits die Grundlagen dessen geklärt, was in der heutigen Diktion als sachliche Komponente der Billigkeit bekannt ist: Die Billigkeit gab die Möglichkeit, bei der Anwendung abstrakter Gesetze ein im Einzelfall mit der Intention der Regelung übereinstimmendes Ergebnis zu erreichen. Mit der kanonischen Rechtslehre des Mittelalters wurde die Billigkeit um ein Element erweitert, dass die

1244 Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 176. 1245 Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 177. 1246 Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 177.

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wirtschaftliche Situation der betroffenen Person berücksichtigte. Der sozial Schwächere sollte so geschützt werden. Dies entspricht der persönlichen Billigkeit im heutigen Verständnis. In der Neuzeit wurde die Bedeutung der Billigkeit bei der Rechtsfindung allgemein für gering erachtet. Im 20. Jahrhundert trat bei der Betrachtung der Billigkeit aus rechtsphilosophischer Sicht die Frage nach dem Einfluss der Billigkeit auf die Rechtsentwicklung in den Vordergrund.

B. Billigkeitsregelungen in der Rechtsprechung des BVerfG

In Anlehnung an die zuvor beschriebenen rechtsphilosophischen Grundlagen hat auch das BVerfG zur Notwendigkeit einer Korrektur abstrakter Gesetze im Billigkeitswege Stellung bezogen. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema findet primär im Steuerrecht statt. Bevor Kriterien zur Anwendung der Billigkeit im Steuerrecht entwickelt werden, soll daher eine Darstellung der diesbezüglichen Grundsätze des BVerfG erfolgen.

I. Typisierung durch den Gesetzgeber im Steuerrecht

Der Grundgedanke der Gleichmäßigkeit und Einfachheit der Besteuerung und die Notwendigkeit einer effizienten Verwaltung machen es in bestimmtem Umfang erforderlich, auf eine an sich gebotene Berücksichtigung sämtlicher Umstände im einzelnen Fall zu verzichten1247. Der Gesetzgeber ist daher befugt, von einer individuellen Betrachtung abzusehen und stattdessen eine Typisierung vorzunehmen1248. Dies gilt insbesondere für das durch eine hochkomplexe sozio-ökonomische Wirklichkeit geprägte Steuerrecht, in dem eine individuelle Behandlung zusätzlich durch die hohe Zahl der Veranlagungen erschwert wird1249.

1247 Isensee, Die typisierende Verwaltung, S. 16. 1248 So schon das BVerfG v. 2. Dezember 1958 1 BvR 665/58 in BVerfGE 9, 1 (13); BVerfG

v. 24. Januar 1962 1 BvR 845/58 in BVerfGE 13, 331 (341); BVerfG v. 6. Dezember 1983 2 BvR 1275/79 in BVerfGE 65, 325 (354 f); aus neuerer Zeit BVerfG v. 22. Juli 1991 1 BvR 829/89 in HFR 1992, 424 (425); vgl. dazu auch Kirchhof, FS Kruse, S. 17 (19 f.); die grundlegende Problematik des notwendigerweise generalisierenden abstrakten Gesetzes lässt sich bis zu Aristoteles zurückverfolgen.

1249 So ausdrücklich BVerfG v. 24. Januar 1962 1 BvR 845/58 in BVerfGE 13, 331 (341); dazu ausführlich Isensee, Die typisierende Verwaltung, S. 166 ff; Becker, Steuererlass, S. 113 ff.; Kirchhof, FS Kruse, S. 17 (20).

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II. Billigkeitserlass als Korrektiv der Typisierung im Steuerrecht

Die zulässige Typisierung durch den Gesetzgeber ist aber Grenzen unterworfen. Eine Typisierung ist nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig. Zum einen müssen die durch die Typisierung eintretenden Härten und Ungerechtigkeiten eine verhältnismäßig kleine Zahl von Bürgern treffen1250. Außerdem darf in diesen Fällen der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht sehr intensiv sein1251. Darüber hinaus dürfen die entstehenden Ungerechtigkeiten nur unter Schwierigkeiten verwaltungstechnisch vermeidbar gewesen sein1252. Der Billigkeitserlass als Korrektiv der Typisierung im Steuerrecht setzt an der zweiten vom Bundesverfassungsgericht genannten Voraussetzung für die Zulässigkeit einer typisierenden Norm an. Der Erlass aus Billigkeitsgründen kann eine Korrektur in den Fällen herbeiführen, in denen beim betroffenen Bürger ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz oder andere verfassungsrechtlich geschützte Rechte vorliegt.

Die typisierenden Normen können in bestimmten Fällen zu Folgen führen, die eine übermäßige Belastung des Bürgers darstellen oder aus anderen Gründen im Einzelfall verfassungsrechtlich geschützte Rechte verletzen. Grundsätzlich kann die typisierende Norm deshalb verfassungswidrig sein. Dies muss aber nicht notwendigerweise der Fall sein, wenn die verfassungswidrigen Belastungen nur in atypischen Anwendungsfällen der Norm auftreten1253. Treten die grundrechtswidrigen Folgen nur in besonders gelagerten Einzelfällen auf, so ist ein Billigkeitserlass aus verfassungsrechtlichen Gründen zu gewähren1254. Ein Erlass kommt in solchen Konstellationen aber nur in Betracht, wenn die Abwendung verfassungswidriger Folgen mittels einer verfassungskonformen Auslegung nicht möglich ist1255. Die Erlassmöglichkeit stellt damit eine dem Steuerrecht eigene Möglichkeit dar, einen verfassungsgemäßen Gesetzesvollzug zu garantieren. Wenn die Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung versagt, weil das Gesetz insoweit eindeutig ist, können die Folgen des Gesetzes im Wege eines Billigkeitserlasses korrigiert werden, solange die Verfassungswidrigkeit nur in atypischen Anwendungsfällen gegeben ist.

1250 BVerfG v. 8. Februar 1983 1 BvL 28/79 in BVerfGE 63, 119 (128); BVerfG v. 2. Juli 1969

1 BvR 669/64 in BVerfGE 26, 265 (276); dazu Becker, Steuererlass, S. 115 f. 1251 BVerfG v. 8. Februar 1983 1 BvL 28/79 in BVerfGE 63, 119 (128); BVerfG v. 2. Juli 1969

1 BvR 669/64 in BVerfGE 26, 265 (276); dazu auch Becker, Steuererlass, S. 115 f. 1252 BVerfG v. 8. Februar 1983 1 BvL 28/79 in BVerfGE 63, 119 (128); BVerfG v. 22. Juni 1977

1 BvL 2/74 in BVerfGE 45, 376 (390); Becker, Steuererlass, S. 115 f. 1253 BVerfG v. 5. April 1978 1 BvR 117/73 in BVerfGE 48, 102 (116); BVerfG v. 9. November 1988

1 BvL 22/84, 71/86 und 9/87 in BVerfGE 79, 87 (100); BVerfG v. 22. Juli 1991 1 BvR 829/89 in HFR 1992, 424 (425); vgl. dazu auch Ebke, FS Maurer S. 869 (882 f); Bopp, DStR 1979, 215 (215).

1254 BVerfG v. 12. Oktober 1976 1 BvR 2328/73 in BVerfGE 43, 1 (12); Naujok, ZEV 2003, 94 (96). 1255 Dazu Selmer, S. 286

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Die Möglichkeit des Erlasses führt dazu, dass in diesen Fällen das entsprechende Steuergesetz nicht als verfassungswidrig zu betrachten ist1256. Allerdings darf die Anwendung der §§ 163, 227 AO nicht dazu führen, den Willen des Gesetzgebers zu untergraben. Würden mit der verfassungsrechtlich gebotenen Anwendung des Steuerdispenses die dem Steuertatbestand innewohnenden Wertungen des Gesetzgebers generell durchbrochen oder korrigiert1257, ist die abstrakte Norm als verfassungswidrig zu betrachten1258. Der Billigkeitserlass wirkt somit als Korrektiv der gerade im Steuerrecht notwendigen Typisierung. Die §§ 163, 227 AO dienen der Verwirklichung materieller Steuergerechtigkeit1259.

III. Zusammenfassung

Die Billigkeitsvorschriften führen eine Korrektur von abstrakten Gesetzen dann herbei, wenn die Anwendung der Norm auf einen außerhalb des typischen liegenden Sachverhalts im Einzelfall zu verfassungswidrigen Ergebnissen führen würde. Damit kann in solchen Fällen die Verfassungsmäßigkeit der Norm sichergestellt werden.

C. Konzept der Billigkeit des BFH

Dargestellt werden soll hier das der Rechtsprechung des BFH zugrunde liegende grundsätzliche Verständnis der Billigkeit. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen dem Konzept der sachlichen Unbilligkeit einerseits und der persönlichen Unbilligkeit andererseits.

I. Konzept der sachlichen Unbilligkeit des BFH

Nach Auffassung des BFH sollen sachliche Billigkeitsgründe generell vorliegen, wenn die Besteuerung eines Sachverhaltes, der unter den Tatbestand eines Steuergesetzes

1256 BVerfG v. 12. Oktober 1976 1 BvR 2328/73 in BVerfGE 43, 1 (12); BVerfG v. 5. April 1978

1 BvR 117/73 in BVerfGE 48, 102 (114); BVerfG v. 22. Juli 1991 1 BvR 829/89 in HFR 1992, 424 (425); dazu auch Selmer, S. 288; Bopp, DStR 1979, 215 (215); Schmidt-Bleibtreu, BB 1978, 1060 (1061); Ebke, FS Maurer S. 869 (885 f).

1257 Insoweit besteht Übereinstimmung mit der Definition der sachlichen Unbilligkeit durch den BFH. Diese soll vorliegen, wenn die Erhebung der Steuer den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderläuft; vgl. BFH v. 23. März 1998 II R 41/96 in BStBl. II 1998, 396 (397) = BFHE 185, 270.

1258 BVerfG v. 5. April 1978 1 BvR 117/73 in BVerfGE 48, 102 (116); dazu auch Isensee, FS Flume, S. 129 (145); Isensee, Die typisierende Verwaltung, S. 170 f; Bopp, DStR 1979, 215 (216); Schmidt-Bleibtreu, BB 1978, 1060 (1061). Missverständlich das obiter dictum im Beschluss des BVerfG v. 8. Juli 1987 1 BvR 623/86 in HFR 1988, 177 (177).

1259 Vgl. dazu von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rdnr. 35.

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fällt, im Einzelfall mit Sinn und Zweck des Steuergesetzes nicht vereinbar ist1260. Die Formulierungen differieren zum Teil. So wird in einigen Urteilen auch davon gesprochen, Billigkeitsgründe lägen vor, wenn die Besteuerung den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderläuft1261 oder wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers auf dem in Frage kommenden Steuerrechtsgebiet angenommen werden kann, dass der Gesetzgeber die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage, hätte er sie geregelt, im Sinne des beantragten Erlasses entschieden haben würde1262. In einzelnen Entscheidungen werden auch abweichende Formulierungen benutzt1263.

Trotz unterschiedlicher Formulierungen ist ein einheitliches Konzept der sachlichen Billigkeitsgründe in der Rechtsprechung des BFH erkennbar. Voraussetzung für das Vorliegen von Billigkeitsgründen ist demnach eine Nichtübereinstimmung von Tatbestand des Gesetzes und den zugrunde liegenden Wertungen im Einzelfall. Wenn die Besteuerung eines Sachverhaltes zwar durch den abstrakten Tatbestand vorgesehen ist, aber nicht von den Wertungen des Gesetzes gedeckt ist, hat eine Korrektur im Erlasswege zu erfolgen. Das grundlegende Verständnis der sachlichen Billigkeitsgründe durch den BFH ist damit deckungsgleich mit der Definition der Billigkeit durch Aristoteles. Zum Konzept der sachlichen Billigkeit des BFH gehört auch, dass aufgrund einer Billigkeitsmaßnahme nicht der ausdrückliche Wille des Gesetzgebers umgangen werden kann1264. Dies hat zweierlei Konsequenzen. Zum einen kommt ein Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen nicht in Betracht, wenn die Rechtsfolge der Norm auch im vorliegenden Einzelfall vom Gesetzgeber bewusst in Kauf genommen wurde1265. Darüber hinaus schließt der BFH, dass eine vom Gesetzgeber vorgesehene Besteuerung nur in Einzelfällen, nicht jedoch allgemein im Billigkeitswege korrigiert werden kann1266. Die Anwendung der Billigkeitsvorschriften kann daher nur im Randbereich, nicht jedoch im gesamten Anwendungsbereich einer Norm zur Durchbrechung der Besteuerung führen.

1260 BFH v. 25. Juli 1972 VIII R 59/68 in BStBl. II 1972, 918 (919) = BFHE 106, 486; BFH v. 11.

März 1976 VIII R 93/72 in BStBl. II 1976, 394 (395) = BFHE 118, 420. 1261 BFH v. 23. März 1998 II R 41/96 in BStBl. II 1998, 396 = BFH/NV 1998, 1152; BFH v. 7. Juli

2004 II R 3/02 in BStBl. II 2004, 1006 (1009) = BFH/NV 2004, 1439; BFH v. 11. Januar 2005 IX R 50/03 in BStBl. II 2005, 456 (456); BFH v. 16. November 2005 X R 3/04 in BStBl. II 2006, 155 (157) = BFHE 211, 30.

1262 BFH v. 20. Dezember 1973 V R 71/71 = BStBl. II 1974, 149 (149) = BFHE 111, 195; BFH v. 9. September 1993 V R 45/91 in BStBl. II 1994, 131 (132) = BFHE 172, 237.

1263 Vgl. dazu Gerber, Rdnr 81. 1264 BFH v. 5. Oktober 1966 II 111/64 in BStBl. III 1967, 415 (416) = BFHE 88, 382. 1265 Vgl. dazu nur BFH v. 5. Oktober 1966 II 111/64 in BStBl. III 1967, 415 (416) = BFHE 88, 382;

aus neuerer Zeit BFH v. 23. Oktober 2003 V R 2/02 in BStBl. II 2004, 39 (41) = BFH/NV 2004, 239; BFH v. 16. November 2005 X R in BStBl. II 2006, 155 (157) = BFHE 211, 30; kritisch dazu Meincke, DStR 2004, 573 (574).

1266 BFH v. 5. Oktober 1966 II 111/64 in BStBl. III 1967, 415 (416) = BFHE 88, 382; vgl. dazu auch Gerber, Rdnr. 82.

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II. Konzept der persönlichen Unbilligkeit des BFH

Zum grundlegenden Konzept der persönlichen Unbilligkeit des BFH gehört das Erfordernis von Erlassbedürftigkeit und Erlasswürdigkeit bei dem betreffenden Steuerpflichtigen1267. Erlassbedürftigkeit soll vorliegen, wenn die Erhebung der Steuer die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Steuerpflichtigen vernichtet oder ernsthaft gefährdet1268. Eine Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz liegt vor, wenn ohne Billigkeitsmaßnahmen der notwendige Lebensunterhalt vorübergehend oder dauerhaft nicht mehr bestritten werden kann1269. Das vom BFH geforderte zweite Element der persönlichen Unbilligkeit ist die Erlasswürdigkeit des Steuerpflichtigen. Diese stellt ein negatives Tatbestandsmerkmal dar. Die Erlasswürdigkeit des Steuerpflichtigen ist ausgeschlossen, wenn er in eindeutiger Weise gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen hat1270.

D. Kriterien für die verfassungsrechtlich korrekte Anwendung der §§ 163, 227 AO

Ausgehend von den dargestellten rechtsphilosophischen Grundsätzen und der Rechtsprechung des BVerfG sollen Kriterien entwickelt werden, die eine korrekte - insbesondere auch verfassungsrechtlich korrekte - Anwendung der Billigkeitsvorschriften gewährleisten.

I. Kriterien für sachliche Billigkeitsgründe

Bei der Ermittlung von Kriterien für die Definition der sachlichen Unbilligkeit kann auf die dargestellten rechtsphilosophischen Grundlagen zurückgegriffen werden. Das Verständnis der sachlichen Unbilligkeit hat sich im Grundsatz nicht verändert. Ein sachlicher Billigkeitsgrund ist dann gegeben, wenn die vom abstrakten Gesetz vorgegebene Rechtsfolge im konkreten Einzelfall nicht mit den dem Gesetz zugrunde liegenden Wertungen übereinstimmt.

1267 BFH v. 26. Oktober 1999 V B 130/99 in BFH/NV 2000, 411 (411 f.) 1268 BFH v. 27. Mai 1987 X R 41/81 in BFH/NV 1987, 691 (693); BFH v. 11. März 1988 III R 236/84

in BFH/NV 1989, 432 (433). 1269 BFH v. 26. Februar 1987 IV R 298/84 in BStBl. II 1987, 612 (614) = BFHE 149, 126; BFH v. 11.

März III R 236/84 in BFH/NV 1989, 432 (433). 1270 BFH v. 27. Februar 1985 II R 83/83 in BFH/NV 1985, 6 (8); BFH v. 11. März 1988 III R 236/84

in BFH/NV 1989, 432 (433); BFH v. 18. August 1988 V B 71/88 in BFH/NV 1990, 137 (138). Näheres s.o. bei der Behandlung der persönlichen Unbilligkeit als eigene Fallgruppe.

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1. Wertungen des Gesetzes

Fraglich ist allerdings, wie die dem Gesetz zugrunde liegenden Wertungen zu ermitteln sind. Es geht dabei um eine teleologische Auslegung des Gesetzes. Fraglich ist, ob der Wille des Gesetzgebers oder der abstrakte Wille des Gesetzes bei der Bestimmung der Wertungen des Gesetzes maßgeblich ist. Um diese Frage entspinnt sich ein klassischer Streit der juristischen Methodenlehre. Nach der subjektiven Theorie ist vom hypothetischen Willen des Gesetzgebers auszugehen1271. Dies entspricht dem Verständnis von Aristoteles. Die objektive Theorie fragt dahingegen nicht nach dem Willen des Gesetzgebers, sondern nach den davon abstrakten Wertungen des Gesetzes, der ratio legis1272. Bei der Lösung dieses Meinungsstreits ist zu beachten, dass der Gesetzgeber als historisches Organ seinen Willen zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit gebildet hat und durch den legislativen Akt ein vom historischen Willen des Gesetzgebers unabhängiges, abstraktes Gesetz entstanden ist. Da der Sinn und damit auch die Wertungen des Gesetzes im Laufe der Zeit einem Bedeutungswandel unterworfen sein können, wäre es verfehlt, auf den Willen des historischen Gesetzgebers abzustellen1273. Bei der Frage nach den dem Gesetz zugrunde liegenden Wertungen ist daher nicht auf den Willen des historischen Gesetzgebers, sondern auf die sich aus dem Gesetz ergebenden Wertungen abzustellen. Bei der Ermittlung der ratio legis können sich Anhaltspunkte jedoch auch aus Vorgängen im Gesetzgebungsverfahren ergeben.

Mit der Frage, ob die dem Gesetz zugrunde liegenden Wertungen gemäß den Vorstellungen des Gesetzgebers oder nach den abstrakten Normen zu ermitteln sind, steht ein weiteres Problem im Zusammenhang. Es geht um die Frage, ob das Vorliegen eines sachlichen Billigkeitsgrundes ausgeschlossen ist, wenn die mit der Erhebung der Steuer verbundene Härte vom Gesetzgeber bewusst in Kauf genommen worden ist. Diese Ansicht vertritt insbesondere der BFH1274. Die Gegenauffassung argumentiert damit, diese Ansicht gehe zu Unrecht davon aus, der Gesetzgeber habe die Vorschriften des jeweiligen Steuergesetzes schon unter dem Gesichtspunkt der Billigkeit im Einzelfall konzipiert. Dies sei jedoch nicht der Fall, der Gesetzgeber würde vielmehr generalisierende Regelungen treffen und dabei die Auswirkungen im Einzelfall außer

1271 Vgl. zum Ganzen Zippelius, Methodenlehre, S. 21 ff.; Fikentscher, S. 662 ff. 1272 Tipke/Kruse § 4 AO Rdnr. 231; der Begriff „Wille“ des Gesetzes ist unzutreffend, da ein Gesetz

keinen Wille im eigentlichen Wortsinn haben kann, vgl. dazu Larenz/Canaris, S. 139 f.; Schwacke, S. 81 f. Vorzuziehen ist daher der Begriff der gesetzlichen Wertung.

1273 Grundlegend dazu Larenz/Canaris, S. 139 f.; Fikentscher S. 662 ff.; Zippelius, Methodenlehre, S. 22 ff,; vgl. dazu auch die Rechtsprechung des BVerfG, wonach nicht die subjektive Willkür des Gesetzgebers, sondern nur die objektive Unangemessenheit einer Regelung zu deren Verfassungswidrigkeit führen kann, BVerfG v. 26. April 1978 1 BvL 29/76 in BVerfGE 48, 227 (237); BVerfG v. 24. März 1976 2 BvR 804/75 in BVerfGE 42, 64 (73).

1274 So BFH v. 5. Oktober 1966 II 111/64 in BStBl. III 1967, 415 (416) = BFHE 88, 382; aus neuerer Zeit BFH v. 23. Oktober 2003 V R 2/02 in BStBl. II 2004, 39 (41) = BFH/NV 2004, 239; vgl. zum Ganzen auch Becker, Steuererlass, S. 120.

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Acht lassen1275. Das Problem stellt sich nur, wenn von der subjektiven Theorie ausgegangen wird, nach der bei der Frage nach der teleologischen Auslegung auf den Willen des Gesetzgebers abzustellen ist. Bei Anwendung der subjektiven Theorie werden insbesondere Äußerungen im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens oft als Beleg dafür genommen, ob eine Rechtsfolge im Einzelfall von den Wertungen des Gesetzgebers umfasst ist. Bei Anwendung der objektiven Theorie löst sich das Problem auf. Zwar können auch im Rahmen der objektiven Theorie die Umstände des Gesetzgebungsverfahrens für die teleologische Auslegung der Norm Bedeutung haben, entscheidend bleiben aber die abstrakten Wertungen des Gesetzes. Wenn eine Härte nach den Wertungen des abstrakten Gesetzes in Kauf genommen ist, dann kann daraus nur gefolgert werden, dass die Rechtsfolgen der Regelung mit den Wertungen des Gesetzes übereinstimmen. Die Frage, ob das Gesetz die Härte im Einzelfall in Kauf genommen hat, lässt sich inhaltlich nicht von der Frage unterscheiden, ob das Ergebnis im Einzelfall von den Wertungen des Gesetzes gedeckt ist.

2. Überhang des gesetzlichen Tatbestandes über die gesetzlichen Wertungen

Eine Nichtübereinstimmung der Wertungen des Gesetzes mit dem Tatbestand im Einzelfall setzt voraus, dass der Tatbestand des abstrakten Gesetzes im konkreten Fall über die gesetzlichen Wertungen hinausgeht. Es muss demnach ein Überhang des gesetzlichen Tatbestandes über die Wertungen des Gesetzes bestehen. Um den Überhang des Tatbestandes der Norm über die Wertungen des Gesetzes feststellen zu können, müssen drei Feststellungen getroffen werden. Als erster Schritt ist die Reichweite des gesetzlichen Tatbestandes zu ermitteln. Das abstrakte Gesetz ist auf den vorliegenden konkreten Sachverhalt anzuwenden. Dabei sind alle Auslegungsregeln, insbesondere die verfassungskonforme Auslegung zu beachten. Ist das Gesetz nach den allgemeinen Regeln auf den konkreten Sachverhalt anwendbar, so sind in einem zweiten Schritt die gesetzlichen Wertungen zu ermitteln. Dabei ist gemäß der objektiven Theorie von den Wertungen des vorliegenden Normengefüges auszugehen, nicht vom Willen des Gesetzgebers. Als letzter Punkt der Prüfung sind die in den ersten beiden Schritten ermittelten Ergebnisse abzugleichen. Dabei ist zu untersuchen, ob sich das mittels der Anwendung des abstrakten Gesetzes gefundene Ergebnis innerhalb der Wertungen des Gesetzes befindet. Kommt diese Untersuchung zu dem Ergebnis, dass das Resultat der Subsumtion nicht von den Wertungen des Gesetzes gedeckt ist, so besteht in dem konkreten Fall ein Überhang des abstrakten gesetzlichen Tatbestandes über die Wertungen des Gesetzes. In einem solchen Fall ist eine Korrektur aus Billigkeitsgründen durch Anwendung der Billigkeitsvorschriften durchzuführen.

1275 So mutatis mutandis Meincke, DStR 2004, 573 (574).

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3. Korrektur bei verfassungswidrigen Ergebnissen im Einzelfall

Bei der Untersuchung der Frage, ob das Ergebnis der Gesetzesanwendung im Einzelfall mit den Wertungen des Gesetzes übereinstimmt, kann ein Sonderfall auftreten. In diesem Sonderfall liegt das Ergebnis der Subsumtion unter das abstrakte Gesetz nicht nur außerhalb der Wertungen des Gesetzes, sondern gleichzeitig außerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen. Die Anwendung des Gesetzes würde im Einzelfall zu einem verfassungswidrigen Ergebnis führen. Der Überhang des Anwendungsbereiches der einschlägigen Norm besteht nicht nur bezüglich der Wertungen des Gesetzgebers, sondern gleichzeitig besteht ein Überhang über die Grenzen des Verfassungsrechts. In einem solchen Fall ist das Ergebnis im Erlasswege zu korrigieren. Besonderheiten für die Anwendung der Billigkeitsvorschriften ergeben sich keine. Wenn der Überhang des gesetzlichen Tatbestandes im Einzelfall nur gegenüber den Wertungen des Gesetzes und nicht gegenüber dem Verfassungsrecht bestehen würde, wäre das Ergebnis der Gesetzesanwendung ebenfalls im Billigkeitswege zu korrigieren.

Der Unterschied liegt auf einer anderen Ebene. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann in einem solchen Fall die Möglichkeit des Erlasses aus Billigkeitsgründen verhindern, dass die ganze Norm als verfassungswidrig zu betrachten ist1276. Falls die Anwendung einer gesetzlichen Regelung im konkreten Fall zu einem verfassungswidrigen Ergebnis führt, gilt daher Folgendes. Es ist nach dem oben dargestellten Schema festzustellen, ob die Anwendung der Vorschrift im vorliegenden Einzelfall mit den Wertungen des Gesetzes übereinstimmt. Falls diese Frage positiv beantwortet werden kann, ist die Norm verfassungswidrig. Eine Korrektur durch einen Erlass aus Billigkeitsgründen kommt nicht in Betracht1277. Stimmt die Anwendung der Norm im Einzelfall hingegen nicht mit den Wertungen des Gesetzes überein, ist ein Billigkeitserlass zu gewähren. Soweit die verfassungswidrigen Folgen der Anwendung des Gesetzes nur in dem Überhang der Norm über die Wertungen des Gesetzes auftreten, also nur in Fällen, die nicht von den Wertungen des Gesetzes gedeckt sind, ist die abstrakte Vorschrift als verfassungsgemäß zu betrachten. In dem Bereich des Überhanges des gesetzlichen Tatbestandes über die Wertungen des Gesetzes ist jeweils eine Korrektur aus Billigkeitsgründen vorzunehmen.

1276 BVerfG v. 12. Oktober 1976 1 BvR 2328/73 in BVerfGE 43, 1 (12); BVerfG v. 5. April 1978

1 BvR 117/73 in BVerfGE 48, 102 (114); BVerfG v. 22. Juli 1991 1 BvR 829/89 in HFR 1992, 424 (425); dazu auch Selmer, S. 288; Bopp, DStR 1979, 215 (215); Schmidt-Bleibtreu, BB 1978, 1060 (1061); Ebke, FS Maurer S. 869 (885 f).

1277 Vgl. dazu BVerfG v. 5. April 1978 1 BvR 117/73 in BVerfGE 48, 102 (116); Isensee, FS Flume, S. 129 (145); Isensee, Die typisierende Verwaltung, S. 170 f; Bopp, DStR 1979, 215 (216); Schmidt-Bleibtreu, BB 1978, 1060 (1061).

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4. Besteuerung nur bei Übereinstimmung von Tatbestand und Wertung des Gesetzes

Der Steuererlass aus sachlichen Billigkeitsgründen verhindert, dass eine Besteuerung von Sachverhalten stattfindet, die zwar unter den Tatbestand einer Norm fallen, nach den Wertungen des Gesetzes aber nicht vom Geltungsbereich der Regelung erfasst sein sollen. Der entgegengesetzte Fall, dass nach den Wertungen des Gesetzes ein Sachverhalt von einer Norm erfasst werden soll, der Tatbestand diesen aber nicht abdeckt, ist ebenfalls denkbar. In einem solchen Fall fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage für den Eingriff in die Rechtssphäre des Bürgers. Eine Besteuerung wäre daher nach dem Grundsatz des Vorbehaltes des Gesetzes bzw. des Legalitätsprinzips im Steuerrecht nicht zulässig. Die gesetzlichen Wertungen stehen insoweit nicht über der Reichweite des gesetzlichen Tatbestandes. Es kann daher nicht zu einer Besteuerung und auch nicht zu einem Erlass von Steuern kommen. Der Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen und das Legalitätsprinzip im Steuerrecht ergänzen sich in ihrer Wirkung. Der Steuererlass aus sachlichen Billigkeitsgründen verhindert, dass eine Besteuerung in Fällen, in denen ein Überhang des Tatbestandes über die Wertungen des Gesetzes besteht, erfolgt. Das Legalitätsprinzip garantiert, dass es zu keiner Besteuerung kommen kann, wenn eine formellgesetzliche Grundlage für die Besteuerung fehlt, auch wenn nach den Wertungen des Gesetzes ein Sachverhalt zu besteuern wäre. Die Möglichkeit des Erlasses aus sachlichen Billigkeitsgründen und das Legalitätsprinzip führen daher in der Kombination dazu, dass eine Besteuerung nur stattfindet, soweit der Tatbestand und die Wertungen des Gesetzes kongruent sind.

II. Kriterien für persönliche Billigkeitsgründe

Die aus dem kanonischen Recht stammende persönliche Unbilligkeit ist in einem modernen Sozialstaat an andere Voraussetzungen geknüpft als in einer sozialen Wirklichkeit ohne die weitgehenden sozialen Absicherungen. Da das durch den Menschenwürdegrundsatz und das Sozialstaatsprinzip verfassungsrechtlich geschützte Existenzminimum bereits durch Pfändungsfreigrenzen gewährleistet ist, besteht kein Anlass, zur Sicherung des Existenzminimums einen Steuererlass aus persönlichen Billigkeitsgründen zu gewähren. Der Steuererlass aus persönlichen Billigkeitsgründen hat vielmehr eine andere Schutzrichtung. Aus den Art. 12 und 14 GG und dem diesen Vorschriften zugrunde liegenden Gedanken des Primats der Selbstverantwortung lässt sich diese Zielrichtung herleiten1278. Der Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen soll die Erwerbsfähigkeit des Einzelnen sichern. Ein Erlass aus persönlichen

1278 Kirchhof, FS Scupin, S. 775 (788 f.); von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO

Rdnr. 132; ausführlich dazu s.o. die Kritik an der Rechtsprechung des BFH zur persönlichen Unbilligkeit.

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Billigkeitsgründen ist daher zu gewähren, wenn dies zur Erhaltung der Erwerbsfähigkeit des Steuerpflichtigen notwendig ist. Der Erhalt der Erwerbsfähigkeit geht dabei über den Erhalt des Existenzminimums hinaus. Grundlegend für den Erhalt der Erwerbsfähigkeit ist, dass dem Steuerpflichtigen ermöglicht wird, in Zukunft eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen.

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