Bolivien: youngCaritas-SOLIDARITÄTERinnen-Projekt

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«Mein Schulweg ist steinig.» Catalina (12), zuhause auf 3800 Metern in Bolivien. Schulkinder youngCaritas-Member unterstützen in den Anden _ Infos zum Memberprojekt 2008

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Informationen zum youngCaritas-SOLIDARITÄTERinnen-Projekt. Weil die Dörfer in den Anden weit verstreut sind, können die meisten SchülerInnen nicht regelmässig zur Schule. Caritas Schweiz unterstützt deshalb ein Schulprojekt, welches den Kindern aus abgelegenen Gegenden den Schulbesuch ermöglicht.

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«Mein Schulweg ist steinig.»Catalina (12), zuhause auf 3800 Metern in Bolivien.

SchulkinderyoungCaritas-Member unterstützen

in den Anden_Infos zum Memberprojekt 2008

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CATALINA DURCHBRICHTDEN TEUFELSKREIS

In Bolivien ist mit Evo Morales erstmals in der Geschichte Lateiname-rikas ein Vertreter der indigenen Bevölkerung Präsident eines Landes

geworden. Die Hoffnungen und Herausforderungen sind gross. ZumBeispiel im Schulwesen, das die indigene Bevölkerung bis heute krass

benachteiligt. Die zwölfjährige Catalina besucht ein Internat auf demLand, das mit Hilfe von Caritas Schweiz neue Wege geht.

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Infos zum youngCaritas-Memberprojekt 2008

Text: Roman BergerBilder: Luca Zanetti

«Wir sind arm, haben wenig Land. Aber un-seren Kindern soll es einmal besser gehen»,erklärt Nicolasa in der Einheimischenspra-che Quechua, während sie uns heissen Teeausschenkt. Es ist ein bitterkalter Morgenin einem bolivianischen Bergdorf auf 3800Meter Höhe. Die Hoffnung von Nicolasa,einer Mutter von fünf Kindern, ist eigent-lich nur ein mitleidiges Lächeln wert. Die40-jährige Frau lebt mit ihrem Mann Mar-celino im Dorf Jank'arachi nördlich von Po-tosí, einer der ärmsten Regionen des An-denstaates. Ihr Zuhause ist eine weniger alszehn Quadratmeter grosse, mit Stroh be-deckte Lehmhütte, die Eltern und Kindernals Schlaf- und Aufenthaltsraum dient. Ineiner Nische nebenan, in der sich die Fraunur gebückt bewegen kann, gibt es eineFeuerstelle. Und das Land, von dem die Fa-milie leben muss, umfasst gerade anderthalbHektaren, auf kleinste Parzellen an steilenHängen aufgeteilt. Davon sei die Hälfte ge-pachtet, bemerkt Marcelino.

Eine Welt von Härte und MonotonieEs grenzt an ein Wunder, dass Menschenunter solchen Bedingungen überhaupt nochüberleben können. Dem steinigen und stau-bigen Boden werden hier tatsächlich Kar-toffeln und Gerste abgerungen. Die Familieunterhält eine kleine Schafherde, aber nichtetwa wegen der Wolle oder des Fleisches,sondern weil mit dem Kot der Tiere derkarge Boden etwas gedüngt werden kann.Drei Bullen dienen als «Traktoren» beimBearbeiten des steinharten Bodens. Kühekönnten die extrem einseitige Ernährungmit Milch und Fleisch ergänzen. Aber Kühekönnen hier nicht überleben. Es wächstkein Gras.

Die Welt von Nicolasa und Marcelinoist eine Welt von Härte, Armut und Mono-tonie, in der sich äusserlich seit der Zeit derInkas vor über 500 Jahren kaum etwas ge-ändert hat. Aber jetzt soll sich etwas ändern.Die Hoffnung heisst Catalina. Die zwölfjäh-rige Tochter von Nicolasa und Marcelinoist scheu und spricht nicht viel. Was ihr

Bild: Dem kargen Boden um Qachari lässtsich nur mit harter Arbeit und Entbehrung eineExistenz abgewinnen.

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Traum ist, hat sie in einer Zeichnung ausge-drückt. Sie will den Schulabschluss mit dem«Bachiller» (Baccalauréat) machen und Leh-rerin werden. Die Zeichnung hängt in einemInternat für indigene Jugendliche im etwavier Wegstunden entfernten Dorf Qachari,das Catalina seit zwei Jahren besucht, nach-dem sie vorher im eigenen Dorf zur Schulegegangen war. Aber in den abgelegenenDörfern können oft nur die ersten zwei bisdrei Schuljahre absolviert werden. Ein wei-terführendes Bildungsangebot fehlt meis-tens. Der Weg von Catalinas Dorf ins Inter-nat führt über abschüssige, steinige Berg-

pfade. Sie muss einen Fluss überqueren, dersich während der Regenzeit in einen gefähr-lichen Strom verwandelt. Kein Problem fürCatalina. Sie bewältigt den gut vierstündi-gen Fussmarsch mühelos in leichten Sanda-

len, wenn sie an den Wochenenden zu ihrerFamilie zurückkehrt. Catalinas Schulweg istlang. Aber im Unterschied zu den Kollegin-nen und Kollegen aus ihrem Dorf hat siemit dem Besuch des Internats die Chance,die Primarschule abzuschliessen und sichvielleicht weiter zu bilden.

«Wir reagieren auf eine Krisensituation»«In allen Dörfern Boliviens gibt es seit rund15 Jahren Schulen, aber das öffentlicheSchulsystem versagt.» So lautet das Fazitvon Max Murillo, dem Direktor der priva-ten Organisation K'anchay, die in Qachari

und zwei weiteren Orten im Norden vonPotosí insgesamt drei Internate für indigeneJugendliche gegründet hat. Für Murillo, derfrüher Berater im bolivianischen Erziehungs-ministerium war, reagiert K'anchay auf eine

Krisensituation im öffentlichen Schulsystem:«Die Lehrkräfte sind unqualifiziert, schlechtbezahlt, oft fehlen sie tagelang. Und in denKlassen sitzen unterernährte, übermüdeteSchüler, die dem Unterricht nicht folgenkönnen. Ihre Eltern schicken die Kinder nurwiderwillig zur Schule, weil sie die Kinderlieber zu Hause als Arbeitskräfte habenmöchten. Für die meisten Jugendlichen istder Schulbesuch in dieser Region schon nachden ersten Jahren zu Ende.»

Catalinas Tag im Internat beginnt um6.30 Uhr. Ein Schlag auf eine alte Eisen-bahnschiene ist das Weckzeichen. Währendviele Jugendliche, welche die öffentlichenSchulen besuchen, noch zu Hause schlafenoder sich auf den langen Schulweg machenmüssen, beginnt im Internat noch vor demFrühstück der Ergänzungsunterricht. Hierwerden die Schulleistungen, besonders Ma-

Es grenzt an ein Wunder, dass Menschen unter solchenBedingungen überhaupt noch überleben können.

Bild: Zuhause auf 3800 Metern: Catalina (Mitte)mit ihren Eltern und Geschwistern.

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«WIR WOLLEN FAIRE BEDINGUNGEN»

trialisierung des Landes investieren, zum Bei-spiel in den Aufbau einer Petroindustrie, die Gasund Öl verarbeiten und Arbeitsplätze schaffenkann. Mit nur 30 Millionen Dollar, ebenfalls Mit-tel, die wir aus dem Gas-Export erwirtschaften,helfen wir einer Million Kindern. Die öffentli-chen Schulen sind kostenlos, aber die Elternmüssen für das Schulmaterial und die Bücherbezahlen. Jetzt unterstützt der Staat die Fami-lien bei diesen Ausgaben.

Präsident Morales will die neoliberalePrivatisierung in den 80er Jahrenkorrigieren. Ist die Nationalisierungdas richtige Modell?Erinnern wir uns, wie in den 80er Jahren dieGas- und Ölproduktion zum grossen Nachteildes Landes privatisiert wurde. Dieses Modellhat die Armut in Bolivien nur verschärft. DieRegierung von Präsident Morales hat mit mehrals 40 ausländischen Firmen neue Verträge un-terzeichnet, die auch vom Parlament bestätigtwurden. Bolivien benötigt ausländische Inves-titionen und Technologie, aber wir wollen faireBedingungen. In Bolivien entsteht deswegennoch lange nicht eine sozialistische Wirtschaft,wie das oft behauptet wird.

Nationalisierung heisst nicht Enteignungund Verstaatlichung. Nationalisierung heisst:Die nicht erneuerbaren Rohstoffe sind strategi-sche Ressourcen und gehören dem Staat. DieRegierung bestimmt die Regeln, unter denensie ausgebeutet werden können, zusammenmit der Privatwirtschaft. Die Devise von Präsi-dent Morales lautet: «Wir wollen keine Herren,sondern Geschäftspartner.»

Interview: Roman Berger

Interview mit Boliviens Entwicklungs- undPlanungsminister Gabriel Loza Telleria

Was bedeutet für Sie die Wahlvon Evo Morales?Die Wahl zeigt, in welch radikalem Wandel sichBolivien befindet. Erstmals ist ein Vertreter derindigenen Bevölkerung, welche die Mehrheitausmacht, Präsident des Landes geworden.Ein lange missachtetes Recht in der Verfas-sung wurde damit verwirklicht. Gleichzeitig istmit Evo Morales ein Gewerkschafter aus einerder ärmsten Regionen Boliviens zum Staats-chef gewählt worden.

Bolivien ist reich an Bodenschätzen,aber eines der ärmsten Länder derWelt geblieben. Wie erklären Sie diesenWiderspruch?Während der Kolonialzeit und auch nach derUnabhängigkeit wurde in Bolivien enorm vielReichtum geschaffen. Zur Zeit des Zinnboomsin der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hattedie Minenstadt Potosí mehr Einkommen alsNew York, und die bolivianischen Zinnbaronegehörten zu den reichsten Männern der Welt.Die gleiche Region gehört aber bis heute zuden ärmsten Gebieten des Landes. Der Reich-tum floss ins Ausland, wurde nicht dazu be-nutzt, um im Land selber mehr zu produzierenund die Wirtschaft zu diversifizieren zum Nut-zen der gesamten Bevölkerung.

Nun hat Bolivien dank der hohen Energie-preise und der neuen Verträge, welchedie Regierung mit den Gas-Exporteurengeschlossen hat, mehr Mittel. Was tutdie Regierung damit?Wir müssen von Ländern mit wenig oder über-haupt keinen Bodenschätzen lernen, zum Bei-spiel von der Schweiz. Der grösste Reichtumeines Landes liegt in seiner Bevölkerung.

Unser Land muss viel mehr in die Ausbil-dung investieren. Das heisst auch: UnsereArmut ist nicht nur eine Folge der Abhängigkeitdes Landes von den Rohstoffpreisen. Es liegtauch an uns, die Mittel, über die wir verfügen,in eine nachhaltige Entwicklung des Landeszu investieren. Wir haben heute einen Über-schuss von einer Milliarde Dollar pro Jahr. Dassind rund 10 Prozent des Bruttonationalpro-dukts. Einen Teil davon wollen wir in die Indus-

thematik und Spanisch, mit zusätzlichemStudium vertieft. Dann besuchen die Jungenund Mädchen die öffentliche Schule, die sichgleich nebenan befindet. Nach fünf Unter-richtsstunden geht es nahtlos weiter im In-ternat, zuerst mit Stützunterricht, dann mitSport, Spiel oder Kultur. Von den Essens-pausen abgesehen gibt es im Tagesablaufdes Internats bis zur Nachtruhe um 21.15Uhr kaum Freizeit.

Schulkoordinator William Aira rechtfer-tigt den rigorosen Stundenplan: «Die meis-ten Schülerinnen und Schüler kommen zwi-schen 11 und 12 Jahren zu uns – mit einemkatastrophalen Ausbildungsrückstand. Wirstehen unter einem enormen Zeitdruck.»Die strengen Regeln und hohen Anforderun-gen des Internats widerspiegeln die Schwä-chen des öffentlichen Schulsystems.

Eine historische Chance«Silencio!» ist aus dem Speisesaal dieStimme eines Lehrers zu hören. Auch wäh-rend des Essens wird strikte Disziplin gefor-dert. Unter Zeitdruck und Zugzwang fühltsich auch Max Murillo – aber in einem an-deren Kontext. Bei einer Tasse Koka-Teein der Küche nebenan stellt er die entschei-dende Frage: «In Bolivien ist mit EvoMorales erstmals seit der Kolonisierung einVertreter der indigenen Bevölkerung im Prä-sidentenamt. Gelingt es uns, diese histori-sche Chance auch zu nutzen?» Murillo, derwährend mehreren Jahren im Team vonMorales gearbeitet hat, als der heutige Prä-sident noch Gewerkschaftsführer war, weiss

La Paz

Brasilien

BOL IV IEN

Cochabamba

Peru

Chile

Argentinien

ParaguayPotosí

Santa CruzQachari

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Bescheid. «Für einen historischen Neube-ginn, wie ihn Morales fordert, fehlt Boliviendas Wichtigste: ein ausgebildetes Volk.»

«Was tun?» fragt Murillo und gibt gleichdie Antwort: «Natürlich sind Erziehung undBildung eine Verpflichtung des Staates undein Recht jedes Bürgers. Aber wir könnennicht einfach warten, bis der Staat endlichsoweit ist. Jemand muss den Teufelskreisdurchbrechen.»

Boliviens «Teufelskreis» besteht darin,dass es einer weissen Oberschicht währendJahrhunderten gelungen ist, die indigeneMehrheit (über 60 Prozent der Bevölkerung)auszuschliessen. Das wirksamste Instrumentdazu war und ist der Ausschluss von Erzie-hung und Bildung. Die Oberschicht schickteihre Töchter und Söhne in private Schulen,Internate und ausländische Universitäten,während das öffentliche Bildungssystemkrass vernachlässigt wurde.

Mit dem Internat für indigene Kinderkopiert K'anchay in einem gewissen Sinn

das Modell ihrer Unterdrücker. Der Unter-schied zu den Internaten für die privilegier-ten Jugendlichen springt in Qachari abersofort in die Augen. Auf dem kleinen Ge-lände des Internats befinden sich nebenden bescheidenen Gebäuden für Unterricht

und Unterkunft dicht gedrängt Treibhäuser,Gärten, Kleinviehställe für Kaninchen undSchweine. Das Internat, das sich «Comuni-dad Educativa Agroecologica» nennt, istauch eine Landwirtschaftsschule. Und ge-lehrt wird hier nichts anderes als Überleben.

Unterernährung und HungerDie Statistiken sprechen eine deutliche Spra-che: 80 Prozent der Bauern können in Boli-vien gerade drei Prozent des bebaubarenLandes benutzen, während die restlichen20 Prozent über 97 Prozent des Landes ver-

«Bolivien fehlt das Wichtigste:ein ausgebildetes Volk.»

Bild: Ballspiel am Nachmittag: Die Kinder sollensich ganzheitlich entwickeln können.

fügen. Von der Bodenerosion betroffen sind45 Prozent des gesamten Territoriums. Nurzwei bis vier Prozent des Landes sind füreine intensive Landwirtschaft geeignet. DieFolgen sind Unterernährung und Hunger,ganz besonders im Norden von Potosí.

Catalina und ihre Mitschülerinnen undMitschüler lernen an einem Nachmittag proWoche, wie sie zu Hause Tomaten, Spinatund Kohl in Treibhäusern anpflanzen kön-nen, vitaminreiche Gemüse, welche die ein-seitige Ernährung ihrer Familien verbessern.

Mit zwei Demonstrationsprojekten aus-serhalb des Dorfes will das Internat auchden Bewohnern der Gemeinde zeigen, dassBolivien der grössten Umweltkatastropheim Lande, der Bodenerosion, nicht untätigzusehen muss. An einem völlig kahlen Ab-hang wurden mehrere tausend Bäumchengepflanzt. Und ganz in der Nähe wurde in

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mühsamer Arbeit eine Parzelle terrassiert,um das weitere Abrutschen eines Hanges zustoppen.

Diese schwere Arbeit haben Väter vonInternatsabsolventen verrichtet. Das Inter-nat – und das ist ein weiterer Unterschiedzu den Privatschulen der Reichen – ist zwar

kostenlos, die Eltern übernehmen aber proJahr acht Tage Arbeit. Zudem liefern siewährend des Jahres Lebensmittel in zumVoraus abgemachter Quantität. Auch hierwill K'anchay einen Lerneffekt erzielen, denMax Murillo so umschreibt: «Die Eltern sol-len lernen, dass die Ausbildung ihrer Kinderkeine Ausgaben sind, wie das im öffentli-chen Diskurs, etwa im Zusammenhang mitdem staatlichen Budget, immer wiederholtwird, sondern Investitionen in die Zukunftihrer Kinder und des Landes.»

An einem Abend in der Woche berichtendie Schüler aus ihren Dörfern. Sie sprechenüber die Rolle der Feste, die Korruption,die Polizei und natürlich auch über das,was ihre Aufgabe einmal sein könnte. «Al-lein schon lesen und schreiben können, alsozum Beispiel in einer Gemeindeversamm-

lung das Protokoll führen zu können, machtdie Absolventinnen und Absolventen desInternats zu potenziellen Leadern in ihrenDörfern», meint Schulkoordinator Aira. InBolivien sind immer noch rund die Hälfteder Bevölkerung entweder Analphabeten(mehr als 20 Prozent) oder funktionelle An-alphabeten (rund 30 Prozent).

Auf einem Poster im grossen Versamm-lungsraum steht das Ergebnis einer Um-frage, wie die Schülerinnen und Schüler ihrsoziales Verhalten gegenseitig einschätzen.

Bild: «Noche cultural»: Mädchen sind imInternat in der Minderheit.

«Die Eltern sollen lernen, dass die Ausbildung ihrer Kinder keineAusgaben sind, sondern Investitionen in die Zukunft.»

Auch diese Führungseigenschaft soll im In-ternat von K'anchay gefördert werden.

An einem Abend wurde für uns Gästeaus der Schweiz eine «Noche Cultural» ver-anstaltet. Die Mädchen und Jungen stapfenzu einer monotonen, eher traurigen abermanchmal doch fröhlichen Musik mit Flöteund Gitarre im Kreis herum. Diesen «Event»verfolgten zahlreiche Bewohner aus der Ge-meinde mit grosser Aufmerksamkeit. Dasrund 90 Familien zählende Dorf lebt vonder Aussenwelt weitgehend isoliert. Nureinmal in der Woche kommt ein Lastwagenmit Passagieren und Waren aus dem siebenFahrstunden entfernten Cochabamba.

Eine andere Logik der EntwicklungBolivien ist rund 25-mal so gross wie dieSchweiz, hat aber nur 9 Millionen Einwoh-ner. In Bolivien macht das 6,9 Menschen

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«VERTRAUEN IN DIE DEMOKRATIE»

hängig ist von Rohstoffexporten und in demdie bisher marginalisierte indigene Bevölke-rung mitentscheiden kann.

Wie explosiv ist die Landfrage?Die Regierung will, dass das Land jenen ge-hört, die es bebauen. Heute befinden sich etwa97 Prozent des Landes in den Händen von we-nigen Grossgrundbesitzern, die es aber nichtbebauen. Das unproduktive Land dient ihnenoft als Garantie für die Aufnahme von Hypo-theken. Das heisst, von einer Landreform sindauch die Banken betroffen, was den Konfliktnoch verschärft.

Es gibt Stimmen, die einen Bürgerkriegund eine Spaltung Boliviens befürchten.Wie ernst ist diese Gefahr?Diese Angst wird von vielen Medien bewusstgeschürt, die von einflussreichen Unterneh-mern kontrolliert werden. Sie fürchten um denVerlust ihrer Privilegien und sind daran interes-siert, mit falschen Informationen oder Halb-wahrheiten ein Klima der Spannung zu schaf-fen. Leider werden diese Falschinformationenoft auch im Ausland unbesehen übernommen.Es ist unbestritten: Im historischen Wandlungs-prozess unseres Landes sind Konflikte unver-meidlich. Niemand verzichtet freiwillig auf Pri-vilegien. Die Zeiten von Staatsstreichen abersind vorbei, Bolivien hat sich für den demokra-tischen Weg entschieden.

Interview: Roman Berger

* Die Stiftung Jubileo ist eine private, derkatholischen Kirche nahe stehende Institu-tion, die sich mit Fragen der Entwicklungund Menschenrechte beschäftigt.

Interview mit Juan Carlos Núñez,Stiftung Jubileo*

Die Wahl von Evo Morales hat enormeHoffnungen geweckt. Kann der neuePräsident sie erfüllen?Die Wahl von Morales ist die Folge einer tiefenKrise des Staates und aller öffentlichen Institu-tionen. Sie haben ihre Glaubwürdigkeit verlo-ren. Dazu gehören auch die Parteien, die ihreMittlerrolle zwischen Staat und Gesellschaftnicht mehr wahrnehmen können. Sie wurdendurch soziale Organisationen ersetzt. Aber auchsie sind Opfer von Korruption und Klientelis-mus. Ein Spiegel der Krise ist die Regierungvon Morales selber, die oft widersprüchlicheErklärungen abgibt. Morales steht vor einerenormen Herausforderung. Er muss Auswegeaus dieser institutionellen Krise finden. Es istaber unmöglich, diese Krise rasch zu lösen.

Welche Konflikte müssen in Bolivienbewältigt werden?In Bolivien stossen zwei Welten aufeinander.Die Welt der indigenen Völker, die auf dem Ge-meinschaftsprinzip aufbaut, die aber selberauch ihre inneren Konflikte hat und nicht soharmonisch ist, wie das im Ausland oft wahr-genommen wird. Auf der anderen Seite gibt esdie Welt der Mestizen mit einem westlich ge-prägten, individualisierten Lebensstil. Es gehthier nicht um die Frage eines Entweder-oders,sondern darum, wie sich diese Welten ergän-zen können. Es wäre ein grosser Erfolg, wennes Bolivien gelingen würde, der Welt ein Bei-spiel des Zusammenlebens der beiden Kultu-ren zu geben.

Das nationale Unternehmertum machtFront gegen die Regierung. Wie ernst istdieser Konflikt?Ein Grossteil der Unternehmer war gewohnt,den Staat als ihr Eigentum zu betrachten. Jetztmüssen sie andere Spielregeln akzeptieren,und das ist ein schwieriger Prozess. Die Unter-nehmer beklagen sich allerdings mit Recht,dass die Regierung oft zu wenig rasch ent-scheidet und noch nicht weiss, wohin das Landgehen soll. Die Nationalisierung der Gas- undÖlindustrie ist nur ein erster Schritt. Wir brau-chen ein neues, sozial gerechtes und nachhal-tiges Entwicklungsmodell, das nicht mehr ab-

pro Quadratkilometer, in der Schweiz sindes 178. Bolivien ist massiv unterbevölkert,die Menschen leben weit zerstreut. Das Landbraucht Strassen, Infrastruktur. Zur Zeitwerden überall Leitungsmasten errichtet,auch das entlegenste Dorf soll mit Stromversorgt werden. Das sind notwendige, vonder Bevölkerung lang erwartete Projekte.Aber was passiert mit den Menschen, diesich auf diesen Strassen bewegen?

«Bolivien muss sich von seiner Asphalt-ideologie lösen», erklärt der Minister fürPlanung und Entwicklung, Gabriel LozaTelleria, in einem Gespräch in La Paz. DerUmdenkprozess ist nicht einfach. Unter demneuen Präsidenten Evo Morales hat die Re-gierung neue Verträge mit den Gasexport-firmen ausgehandelt und verfügt jetzt übermehr Mittel für die Entwicklung des Lan-des. «Wir wollen, dass die Provinzen undGemeinden entscheiden, wie sie die Geldereinsetzen wollen. Unsere Regierung verfolgteine Politik der Dezentralisierung», erklärtder Planungsminister, spricht aber gleich-zeitig auch das Dilemma an: «Wir wollennicht, dass die neuen Mittel einfach in Jeepsoder in die Asphaltierung des Dorfplatzesinvestiert werden. Wir brauchen eine andereLogik der Entwicklung.»

Wird es Catalina schaffen?Catalina packt aus einem kleinen Bündel,in dem sie die wenigen Habseligkeiten fürdreiwöchige Ferien verstaut hat, ihre Schul-hefte aus. Lektüre und Mathematik seienihre Hausaufgaben, sagt sie. Im Internat istsie unter 62 Schülern eines von nur 15 Mäd-chen. Und unter den Studierenden, welcheim ländlichen Bolivien die Matura machen,beträgt der Anteil der Mädchen ganze 15Prozent. Die Herausforderung für Catalinaist gross. Wird sie es schaffen? «Gerade des-halb soll sie in das Internat gehen», meintMutter Nicolasa kurz und bündig.

K'anchay, das in Quechua «ausstrahlen»heisst, hat in Catalinas Familie bereits Spu-ren hinterlassen. Mit Stolz zeigt uns die Fa-milie ein Gewächshaus, in dem Tomatenwachsen. Und auf dem harten, staubigenBoden vor der Hütte entdecke ich zwischenSteinhaufen und Schafskot einige Stummelnvon Farbstiften. <