Übr d Bö n dr lt t vl nhdht rdn, nd d - Gesamtverzeichnis · Übr d Bö n dr lt t vl nhdht rdn,...

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Über das Böse in der Welt ist viel nachgedacht worden, und diePsychologie hat verschiedene Thesen zur Destruktivität des Men-schen entwickelt. Selten wurden aber mit solcher Konsequenz dieUrsachen aufgespürt wie von Arno Gruen, wenn er zeigt, wieGewalt und Unmenschlichkeit im Inneren des Menschen entstehenund wie sich unser soziales Leben darauf eingerichtet hat, daß derherrschende Wahnsinn lebensfeindlichen Handelns den Mantelrealitätsgerechten Verhaltens trägt. Er öffnet den Blick dafür, daßmenschliche Destruktivität nicht einfach eine Fähigkeit zum Bösenist, sondern vielmehr die Folge eines Mangels, der als solcher nichterkannt wird: Wo das Vermögen abhanden gekommen ist, die eige-nen Gefühle wahrzunehmen, und Selbsthaß an deren Stelle getretenist, ist auch die Fähigkeit zu wirklichem Mitgefühl und echtem Mit-fühlen verlorengegangen. Im >Wahnsinn der Normalität< legt er dieWurzeln der Destruktivität frei, die sich viel öfter, als es uns klar ist,hinter vermeintlicher Menschenfreundlichkeit oder ordnungsstif-tender Vernunft verbergen. Arno Gruen besticht durch die Vielzahlder Beispiele, zu denen auch die unfaßlichen Ereignisse im DrittenReich oder im Vietnamkrieg gehören, und schafft die überzeugendeBeweislage, daß dort, wo Innenwelt und Außenwelt keine Einheitbilden, verantwortungsvolles Handeln und echte Menschlichkeitausbleiben.

Arno Gruen, am 26. Mai 1923 in Berlin geboren, emigrierte 1936in die USA, wo er I96I als Psychoanalytiker bei Theodor Reikpromovierte. Tätigkeiten an verschiedenen Universitäten undKliniken, zuletzt Professor an der Rutgers Universität, New Jersey.Daneben seit I958 psychotherapeutische Privatpraxis. ZahlreichePublikationen in Fachzeitschriften und Zeitungen. 1984 erschien>Der Verrat am Selbst< und 1997 >Der Verlust des Mitgefühls<. ArnoGruen lebt seit 1979 in der Schweiz.

Arno Gruen

Der Wahnsinn der NormalitätRealismus als Krankheit

Eine Theorie dermenschlichen Destruktivität

Deutscher Taschenbuch Verlag

Von Arno Gruensind im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen:

Der Kampf um die Demokratie (34128)

Der Verrat am Selbst (3 5000)

Der Verlust des Mitgefühls (35140)

Der Fremde in uns (35161)

Ungekürzte AusgabeSeptember 1989 (dtv 15057)

5. durchgesehene Auflage März 19931 S. Auflage September 2007

1987 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, Münchenwww.dtv.de

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.Sämtliche, auch auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten.

Dieses Buch erschien zuerst als gebundene Ausgabe 1987im Kösel-Verlag, München, ISBN 3 -4 66- 34 1 7 8- 7

Umschlagkonzept: Balk & BrumshagenUmschlagfoto: Lajos Keresztes

Gesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany • ISBN 978-3-423-35002-0

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

i Die Verweigerung der Realität im Namen der Realität . . . I S

2 Selbsthaß als Ursprung der menschlichen Destruktivität . . 38Uber Pflichtbewußtsein.. ...............................flichtbewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40Identität, Selbsthaß und Kriminalität . . . . . . . . . . . 47

3 Der verheimlichte Todeskult

4 Gefühle, die keine Gefühle sind 73. . . . . . . . . . . . . . 73Der Überraschungstäter . . . . . . . . . . . . . . . . . • 73Die Mörder mit gutem Gewissen 78 . . . . . . . . . . . . 78

Die versachlichte Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

Gewalttätigkeit zur Aufrechterhaltung der Lüge . . . . . 87

S Anpassung, Rebellion und Gewalt .

Lüg

. . . . . . . . . . . IooMännlicher Mythos und weiblicher Selbstwert . . . . . . 102

Die gute und die schlechte Mutter . . . . . . . . . . . . . I05Der Taschenspielertrick des Konformisten . . . . . . . . io6Innenansicht eines rechten Terroristen .. . . . . . . . . . I Io

Krieg und Rebellion . . . . . . . . . .rechten

. . . . . . . . .

113

Rebell und Konformist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116Die »ideologiefreie« Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . 127Sadismus und Rebellion . . . . . . . . . . . . . . . . • • 1 35

6 Die Machtpolitik mächtiger Männer als Ausdruck innererLeere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 39

7 Der Psychopath und Peer Gynt . . . . . . . . . . . . . . . 16o

8 Der Wahnsinn als Lebensweise, der Wahnsinn als Protest 184

AnhangAnmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 97Literaturverzeichnis . . 207Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

»Sie konnten Menschen totschlagen —und sie waren ganz normal dabei —das kann ich nicht verstehen.«

Ein ehemaliger polnischerKZ-Häftling'

»Ich meine nämlich, Gut und Böseentscheiden sich nicht im Verkehrder Menschen untereinander, sondernausschließlich im Umgang des Menschenmit sich selbst. «

Jakob Wassermanne

Vorwort

Dieses Buch ist in der Hoffnung geschrieben, daß meine Erfahrun-gen und Beobachtungen anderen Menschen helfen können, sich mitihren eigenen Wahrheiten besser zu behaupten. Diese Arbeit istmeine Reaktion auf die persönlichen und beruflichen Erlebnisse mitdem Wahnsinn der Realität, der im Namen der Liebe Tod undZerstörung hervorbringt.

Es ist ein Akt des Selbstverrats, wenn das Kind das Bewußtseinfür sein eigenes Selbst zu verlieren beginnt. Dieser Prozeß setztdamit ein, daß das Kind die Gefühle von Vater und Mutter nichtmehr unmittelbar wahrnimmt, sondern sich danach richtet, wiediese sich selbst sehen. Solch eine »Anpassung« an die elterlichenMachtbedürfnisse führt zu einer Spaltung in der psychischen Struk-tur des Kindes. Es trennt seine Innenwelt von seinen Interaktionenmit der Umwelt. Damit gehen der Zusammenhang und die Wech-selwirkungen zwischen Handlungen und Motivationen verloren.Um teilhaben zu können an der Macht, die das Kind unterwirft,ersetzen Gehorsam und Anpassung die Verantwortung für daseigene Handeln. Hat man den Bezug zum eigenen Inneren verlo-ren, dann kann man sich nur auf ein verfälschtes Selbst beziehen:auf das Image, das sich an bestimmtem Verhalten und an Gefühlsla-gen orientiert, die der Umwelt gefallen. Das Bedürfnis und viel-leicht auch der Zwang, ein solches Image aufrechtzuerhalten, be-mächtigen sich all dessen, was die eigenen Wahrnehmungen und dieeigenen Gefühle und Mitgefühle hätten sein können. Die Unfähig-keit, in sich selbst zu wurzeln, ruft zerstörerisches und bösesVerhalten hervor. Davon handelt dieses Buch.

Ich bin nicht der erste, der sich mit der menschlichen Destrukti-vität befaßt. Unter allen Lebewesen scheint der Mensch das einzigezu sein, das um der Zerstörung willen zerstört — als Selbstzweck,wie es der finnische Psychoanalytiker Martti Siirala nannte. 3 Wäh-rend etwa Sigmund Freud oder Erich Fromm das Zerstörerische desMenschen entweder in einem a priori vorhandenen Todestrieb oderin nekrophilen Bestrebungen sehen, die auf analen oder ödipalen

Fehlentwicklungen basieren, 4 glaube ich, viele Anzeichen dafürgefunden zu haben, daß das zerstörerische und tödliche Handelndes Menschen in dem Verrat begründet ist, den er um der Teilhabean einer halluzinierten Macht willen an sich selbst begangen hat. Dadies aber nicht ein »höheres« Schicksal ist, sondern der einzelne anseiner eigenen Unterwerfung mehr oder weniger bewußt mitge-wirkt hat, entsteht ein lebenslanger Selbsthaß. Das Schrecklicheeiner solchen Entwicklung liegt darin, daß dann nur noch Zerstö-rung das Gefühl des eigenen Lebendigseins vermittelt.

Im ersten Kapitel gehe ich der Frage der Verantwortung nachund stelle ihr das gegenüber, was gewöhnlich als ihr Maßstab gilt:Pflicht und Gehorsam. Davon ausgehend, komme ich zu einerCharakterisierung von Wahnsinn, die von der offiziellen Psycholo-gie und Psychiatrie abweicht. Deren Betrachtungsweise beschränktsich darauf, menschliches Verhalten ausschließlich vom Grad desRealitätsbezugs her zu beurteilen, was selbstverständlich seineBerechtigung hat. Nur verhindert sie damit die Annäherung an eineschwerer faßbare und gefährlichere Pathologie, zu deren eigenerMethode das Verbergen gehört: der Wahnsinn, der sich selbstüberspielt und sich mit geistiger Gesundheit maskiert. Er hat esnicht schwer, sich zu verbergen, in einer Welt, in der Täuschungund List realitätsgerecht sind.

Während jene als »verrückt« gelten, die den Verlust der mensch-lichen Werte in der realen Welt nicht mehr ertragen, wird denen»Normalität« bescheinigt, die sich von ihren menschlichen Wur-zeln getrennt haben. Und diese sind es, denen wir die Machtanvertrauen und die wir über unser Leben und unsere Zukunftentscheiden lassen. Wir glauben, daß sie den richtigen Zugang zurRealität haben und mit ihr umgehen können. Aber der »Realitätsbe-zug« eines Menschen ist nicht der einzige Maßstab, um seinegeistige Krankheit oder Gesundheit festzustellen, sondern manmuß auch fragen, inwieweit menschliche Gefühle wie Verzweif-lung, menschliche Wahrnehmungen wie Empathie und menschli-ches Erleben wie Begeisterung möglich oder eliminiert sind.

Das zweite Kapitel befaßt sich mit dem Selbsthaß und seinemAusgangspunkt: der Grundlüge, die den eigenen Anteil an derUnterwerfung verschweigt. Wenn man das eigene Selbst zurückge-wiesen hat, weil es die eigene Machtposition gefährdet hätte, begin-nen Rachegefühle das Leben zu bestimmen. Man besteht darauf,

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dafür geliebt zu werden, anderen Schmerzen zuzufügen, was nichtselten sogar als Wohltätigkeit ausgegeben wird. (Hatte man nichtfrüher die Eltern dafür zu lieben, daß sie einem Schmerzen bereite-ten, denn sie hatten doch nur das Beste für einen im Sinn?) Einabgespaltenes Selbst kann sich nicht mit der eigenen Unterwerfungund Kollaboration auseinandersetzen, daher muß die Behauptungder Eltern, daß ihre Forderungen aus Liebe kamen, akzeptiert undverteidigt werden. Im Namen solcher elterlichen »Liebe« und»Fürsorge« etabliert sich die Macht über andere Menschen.

Ich ziehe für diesen Zusammenhang Beispiele aus dem DrittenReich heran, nicht weil die Nazis Deutsche waren, sondern weil derdeutsche Faschismus besonders klar Vorgänge beleuchtet, die esüberall dort gibt, wo Menschen von ihrem Inneren abgetrennt sind.Mit dem Ende des Dritten Reiches wurden seine Voraussetzungenkeineswegs abgeschafft. Noch immer wird statt menschlicher Sub-stanz das äußere Erscheinungsbild gefördert, wird Anpassung stattinnerer Unabhängigkeit belohnt. Heute geben sich diese Vorausset-zungen mehr denn je den Schein von »Humanität« und »Menschen-freundlichkeit«. Das Schreckliche versteckt sich immer öfter hinterlächelnden Mienen und kommt als Freundlichkeit scheinbar rück-sichtsvollen Verhaltens daher. Daher ist es schwieriger geworden,die tatsächliche Krankheit unserer Zeit zu erkennen.

Im dritten Kapitel widme ich mich der Besessenheit vom Tod, indie ein Mensch fast zwangsläufig verfällt, der seine empathischenFähigkeiten unterdrückt hat. Ich gehe davon aus, daß menschlicheEntwicklung zwei grundsätzlich verschiedene Richtungen nehmenkann, und zwar die, die ein mit der Außenwelt verbundenes Inneresausbildet, und die, die zur Außengelenktheit unter Preisgabe deseigenen Inneren führt. Kennt eine außengelenkte Entwicklung nurGehorsam und Anpassung und nicht mehr den Schmerz, ist destruk-tives Verhalten der »natürliche« Endpunkt. Die Weichenstellungzwischen den Entwicklungen nach innen und nach außen erklärtnicht nur die beiden unterschiedlichen Wege der persönlichenSelbstorganisation, sondern konstituiert auch zwei völlig entgegen-gesetzte Realitäten : die Realität der Macht und die Realität der Liebe.

Gefühle, die in Wirklichkeit keine Gefühle sind, behandelt dasvierte Kapitel. Es führt hinein in den Problemkreis der Identifika-tion, die öfter, als wir wahrnehmen, nicht zu einer eigenen Identität,sondern zu deren Vermeidung führt.

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Diese Frage entwickele ich weiter im fünften Kapitel, undzwar im Hinblick auf den Charakter von Rebellion und Konfor-mität und deren Verhältnis zur Gewalt. Ich stelle die These auf,daß es zwischen der Entwicklung zur Konformität und der zurRebellion viele Übereinstimmungen gibt und daß diese auf dasVerhältnis zur »schlechten« Mutter zurückzuführen sind. Wäh-rend der Konformist die schlechte Mutter als »gute« Mutter ver-teidigt, strebt der Rebell zur guten Mutter, während sein Han-deln tatsächlich vom Einfluß der schlechten Mutter bestimmtist.

Wie sich das auf die Machtausübung der mächtigen Männerdieser Welt auswirkt, zeigt das sechste Kapitel. Unter anderemnehme ich die amerikanischen Präsidenten Kennedy, Nixon undReagan und ihre Außenpolitik in den Blick.

Den Typus des Psychopathen, der für mich den extremenGegenpol zum Schizophrenen darstellt und den der Wahnsinnder scheinbaren Normalität in seiner höchsten Steigerung kenn-zeichnet, versuche ich im siebten Kapitel genauer zu beschrei-ben. Für manche Leser vielleicht überraschend, aber äußerstaufschlußreich, verkörpert diesen Typus eine Figur der Weltlite-ratur, nämlich Ibsens Peer Gynt.

Im achten Kapitel schließlich arbeite ich die zwei gegensätzli-chen Richtungen des Wahnsinns aus: Wahnsinn als Lebensformund Wahnsinn als Protest gegen die als unerträglich empfunde-nen Formen des sozialen Lebens und der zwischenmenschlichenBeziehungen. Die erste Art des Wahnsinns gilt in unserer Zivili-sation als »Realismus« und nur die zweite als Krankheit.

Einige der hier gestellten Fragen berührte ich schon in mei-nem Buch >Der Verrat am Selbst <. 5 Hier greife ich sie auf, umsie zu vertiefen, nicht um sie zu wiederholen.

Es mag auffallen, daß ich sehr oft auf die Literatur zurück-greife. Literatur und Dichtung sind meines Erachtens näher ander menschlichen Realität als etwa die psychologische For-schung. Diese orientiert sich viel zu stark am Mythos der »Rea-lität«, am Mythos der daraus resultierenden Machtstrukturen.

Der Künstler aber hat sich den Zugang zu den menschlichenBedürfnissen und Beweggründen bewahrt. Ein Schriftstellerschreibt nicht zuletzt deshalb, weil er mit seiner schöpferischenKraft gegen den Betrug der »herrschenden Meinung« ankämpfen

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will. Er spricht noch in einer Sprache, die von der Ganzheitmenschlicher Erfahrung weiß.

Die Wissenschaft dagegen versucht, wie Michael Polanyi estreffend charakterisiert hat, »die menschliche Perspektive aus unse-rem Weltbild zu entfernen, um uns in die Absurdität zu führen«. 6

Deshalb ist mir das Zeugnis der Schriftsteller sowohl für die Ganz-heit als auch für die Gespaltenheit des menschlichen Erlebens sowichtig im Hinblick auf die Thesen dieses Buches. Ihr Zeugnisliefert anschauliche Beispiele für den Wahnsinn, der sich unter derMaske der Gesundheit verbirgt und heute im Begriff ist, dieMenschheit zunehmend der Selbstvernichtung auszuliefern.

Um meine Sicht der Zusammenhänge zu illustrieren und empi-risch zu belegen, greife ich manchmal zu Beispielen, die als Extrememenschlichen Verhaltens erscheinen mögen. Mancher wird sievielleicht für wenig erhellend halten, da er die Vielfalt menschlichenVerhaltens nicht als ein Kontinuum sieht. Eine solche Ausklamme-rung spiegelt aber die verbreitete Ablehnung der Fäden, die uns allemiteinander verbinden. Sie ist eher nur ein scheinlogisches Manö-ver, das vom Weg abführen soll. Die Logik der Aufteilung mensch-lichen Seins in Kategorien und Fächer dient nur dazu, unsereZweifel an unserer Ganzheit zu verstärken und uns unsicher zumachen. Unsere Ganzheit aber gründet auf dem, was uns unserGefühl und unser Herz sagen.

Die Sprache des Herzens kommt aus den tiefen Bedürfnissennach Liebe und Wärme, die man sowohl geben als auch empfangenmöchte. Unsere Zivilisation aber hat uns ängstlich gemacht undversetzt uns in Scham, wenn wir uns verwundbar fühlen. DieSprache der »Realität« verspricht uns Erleichterung von der »Last«unserer Bedürfnisse, was uns bereit macht, unseren eigenen Wahr-nehmungen nicht mehr zu trauen. Daher ist unsere einzige Rettungdie Sprache des Herzens. I)ie Spaltung muß überwunden werden,indem man sich nicht der Logik einer vorgeblichen »Realität«anschließt, sondern auf der eigenen Fähigkeit zum Mitgefühl, zumErleben von Leid und Freude insistiert. Deshalb auch habe ichdieses Buch geschrieben.

Ich möchte drei Freunden danken für die anregenden Ideen undihr bereicherndes Sein, mit denen sie zu diesem Buch beigetragenhaben. Zwei davon sind ungewöhnliche Psychiater und Psycho-analytiker: Walther H. Lechler und Martti Siirala. Der dritte,

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Aarne Siirala, ist Theologe und Philosoph. Der Ganzheit des Den-kens und Lebens dieser Freunde verdanke ich sehr viel. Dies giltauch für Gaetano Benedetti, dessen tiefe Menschlichkeit uns denWeg zum Schizophrenen eröffnet hat und dessen Großzügigkeitmich persönlich unterstützte. Hans Krieger hat durch seinen per-sönlichen Einsatz viel geholfen, Gedankengänge klarer und präzi-ser zu formulieren. Ich danke auch meiner Lektorin UlrikeBuergel-Goodwin, deren Begeisterung und Verständnis zur besse-ren Vermittlung meines Anliegens beigetragen haben.

Arno Gruen

Die Verweigerung der Realität im Namen der Realität

Verantwortlich werden für das eigene Selbst ist ein paradoxerProzeß. Wer in einfachen :Begriffen des zeitlichen Nacheinandersdenkt, wird die Wirkmechanismen nie erfassen. Entwicklung ist niedenkbar ohne Einflüsse von außen. Wir alle haben Eltern, habenVater oder Mutter, die in uns weiter wirken. Doch die Widersprü-che, die im Inneren der menschlichen Seele entstehen, entfalten ihreeigene Dynamik. So kommt es zu Handlungen, die scheinbar durchbestimmte äußere Ereignisse determiniert sind, in Wahrheit aberwenig oder gar nichts mit ihnen zu tun haben.

Denn nicht nur die Umwelt beeinflußt das kleine Selbst, daswachsen möchte. Die Reaktionen des Kindes auf diese prägendenEinflüsse wirken ihrerseits auf die Umwelt zurück. Es handelt sichalso um eine ständige Wechselwirkung. Vater und Mutter könnendem Kind ihren Willen aufzwingen, doch Art und Intensität ihreserzieherischen Einflusses werden mitbestimmt durch die Reaktio-nen des Kindes.

Die Kompliziertheit dieses Wechselspiels zwischen Kind undEltern liegt darin, daß die Möglichkeit zur Autonomie einerseits inden frühesten Interaktionen zwischen dem werdenden Selbst undseiner Umwelt grundgelegt wird, andererseits aber entscheidenddafür ist, wie weit das Kind Verantwortung für sich selbst über-nimmt. Davon hängen alle seine künftigen Beziehungen innerhalbdes sozialen Feldes ab. Grundsätzlich kann Verantwortlichkeit sichin zweierlei Richtungen entwickeln: Entweder formt sich das wer-dende Selbst frei und offen in eigener Verantwortung, oder esüberläßt sich fügsam dem prägenden Einfluß anderer. Damit weichtes den Verpflichtungen echter Verantwortung aus.

Die Flucht vor der Verantwortung wird dabei aus dem Bewußt-sein verdrängt. Dies muß so sein, weil die Preisgabe der Autonomiedurch Unterwerfung unter einen fremden Willen ein elementaresMachtspiel in Gang setzt: »Ich werde so, wie du mich haben willst,

damit du für mich sorgst. Meine Unterwerfung ist von nun anmeine Macht über dich, mit der ich deine Fürsorge erzwinge.« Sowird das Sich-abhängig-Machen zur Rache für die Unterwerfung.Dieser Akt beinhaltet mehreres. Erstens übernimmt das Kind dieBewertung der Eltern. Was man Internalisierung nennt,' ist alsoein Prozeß der Kollaboration durch Unterwerfung. Zweitens be-deutet dies, daß das Kind alles an sich selber zu hassen beginnt, wases in Konflikt mit den Erwartungen seiner Eltern bringen könnte.Und drittens erwächst aus diesem Selbsthaß die Bereitschaft zuimmer weiterer Unterwerfung. Damit ist ein Teufelskreis in Ganggesetzt: Unterwerfung und Selbstverachtung bedingen sich wech-selseitig. Es ist immer beides vorhanden: Selbsthaß und Selbstver-achtung. Doch eben die Selbstverachtung darf nicht gefühlt wer-den, weil sie unerträglich wäre. Darum muß der ganze Prozeßunbewußt bleiben; er wird verdrängt und verleugnet, und so stürztman sich blindlings immer tiefer in die Verstrickungen des Macht-spiels.

Der ewige Vorwurf dessen, der sich einem anderen ausgelieferthat, lautet dementsprechend: »Du hast nicht genug für mich getan.«Dies ist Ausdruck der phantasierten Gegenmacht, die jedem Pakt,der auf Herrschaft und Unterwerfung aufbaut, innewohnt. DiesesMachtspiel wirkt freilich im Verborgenen und beginnt beim Säug-ling im Strom präverbaler Gefühle. Dieses Machtspiel muß nachge-rade geheimgehalten werden, um die Absicht der Gegenmacht zuverbergen. Die Halluzination einer Gegenmacht verhüllt dem, dersich unterwirft, daß er sich willentlich unterwirft. Das führt zueinem doppelten Fehlschlag: Die Unterwerfung bleibt bestehen,und die Rache wird zur Selbstschädigung. Unablässig geschürt vomSelbsthaß, wird das Rachebedürfnis zur uneingestandenen undunerkannten Quelle und Steuerung der eigenen seelischen Verfas-sung.

So sieht die menschliche Situation aus, wenn die Mitwirkung ander eigenen Unterwerfung die Entwicklung charakterisiert. Undwer nicht mehr weiß, daß er sich unterworfen hat, kann dasabgespaltene Selbst auch im späteren Leben nicht integrieren. Derdaraus resultierende Selbsthaß wird alle künftigen Handlungennähren — als Versuch, das seelische Ungleichgewicht zu kompensie-ren. Eigentlich ist ein Leben in Selbsthaß unmöglich. Nur wennman sich dem eigenen Selbst, das sich so bereitwillig unterwerfen

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konnte, stellt, dann gelangt man — wenn auch unter Schmerzen — zueiner Verminderung des Selbsthasses. Doch sich ihm stellen, daswürde bedeuten, die Unterwerfung anzuerkennen, die einen hassenmacht.

Ein Kind aber kann nicht erkennen und damit nicht zugeben, daßes den Schmerz nicht ertragen konnte, in seinem Selbst nichtwirklich angenommen zu werden, nicht anerkannt zu werden. Sichselbst angenommen zu fühlen durch die Liebe eines anderen ist eineGrundbedingung des menschlichen Wachsens. Friedrich Hebbelhat es in einem Gedicht ausgedrückt:

So dir im Auge wundersamSah ich mich selbst entstehen.

Der Schmerz darüber, nicht angenommen zu werden, ist sehrwahrscheinlich bei manchen Kindern die Ursache des sogenanntenplötzlichen Kindstods. 8 Meistens unterwirft sich das Kind, umteilzuhaben an der Macht, die es unterdrückt. Autistische Kindergehen offensichtlich anders mit diesem Schmerz um, sie scheinennicht bereit zu sein, ihn zu leugnen. 9

Es ist sehr paradox: Man kann nicht mit dem Selbsthaß leben,ohne etwas gegen ihn zu tun. Würde man ihm ins Gesicht sehen,sähe man sich dem Schmerz über den Verrat, den man an sich selbstbegangen hat, konfrontiert. Also wird er geleugnet. Der Wider-spruch zwischen dem Bedürfnis, vor sich selbst das Gesicht zuwahren, und der Bereitschaft, sich durch Unterwerfung mit derMacht zu verbünden, ist deshalb die grundlegendste und vielleichterste Spaltung in der menschlichen Seele. Sie ist nicht eine bloßeVerdrängung, sondern eine radikale Abspaltung, die Abspaltungvom Wissen um das preisgegebene Selbst und den daraus resultie-renden Selbsthaß. Dies wird zum Grundprinzip eines ganzen Le-bens. Diese Spaltung ist eingebettet und wird aufrechterhalten voneiner gesellschaftlichen Ideologie, die Gehorsam mit Verantwor-tung gleichsetzt: Gehorsam sein heißt gut sein, und gut sein heißtverantwortungsvoll sein. Frei sein dagegen ist ungehorsam, undwer ungehorsam ist, fordert Mißfallen heraus und droht den Schutzder Mächtigen beziehungsweise die Chance der Teilhabe an ihrerMacht zu verlieren.

An dieser Stelle ist es nötig, etwas zur soziologischen Sicht des

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menschlichen Seins zu sagen. Kriminalität wird zum Beispiel alseine Folge der Armut gesehen. Doch dies erklärt nicht, warum dieMehrheit nicht kriminell wird. Daraus wiederum kann man abernicht schlußfolgern, Armut hätte keinen Zusammenhang mit Kri-minalität. Man kommt nicht umhin, einiges zu differenzieren.Wenn ein Hungriger stiehlt, handelt er nicht aus Habgier; undwenn er dabei, ohne es zu wollen, jemanden umbringt, ist es keinvorsätzlicher Mord. Andererseits gehören die Reichen und Mächti-gen zu jenen in unserer Gesellschaft, die Kriege anzetteln, dieLebensgrundlage anderer Menschen zerstören, Natur und Men-schen vergiften. Sie aber sitzen nicht in den Gefängnissen. Krimi-nalstatistiken verzeichnen nur deshalb mehr Arme als Reiche, weilsolche Statistiken der Ideologie der Reichen und Mächtigen unter-liegen und weil sie nicht alle Formen von Destruktivität aufführen.

Die Zivilisation und ihre Gehorsam fordernden Normen sindentscheidende Faktoren bei der Entstehung von Selbsthaß. Dieserist die Ursache für Unbehagen und Unglück. Wenn der Wahrheitausgewichen wird zum Nutzen von Ideologien, durch die sich dieKultur der Macht am Leben erhält, wird menschliches Unglückständiges Merkmal unseres Lebens sein, gleichgültig, welche wirt-schaftliche oder politische Richtung eine Gesellschaft hat.

Deutlichstes Zeichen hierfür ist das rachsüchtige und vorwurfs-volle Verhalten vieler Menschen — egal, ob sie in einem kapitalisti-schen oder kommunistischen Land leben. Denn Rache und Vor-wurf — nicht Freiheit — sind zu ihrem Lebensziel geworden, und sovertiefen sie immer weiter ihre Abhängigkeit und verfallen immermehr dem Wahn, Macht sei das Allheilmittel für alle Probleme. Sohalten folgerichtig viele Menschen an der Lüge fest, sie hätten einenaufrechten Gang und seien selbstbestimmte Menschen. Und das istauch der Grund, warum alle Machtspiele in ihren Absichten heuch-lerisch sind und auf der Selbstlüge beruhen. Eine Mutter kann ihrKind — so meint sie — zurückweisen, wenn es nach ihr ruft, sie hat esdoch eben gewickelt und will sich nicht schon wieder die Händeschmutzig machen. Statt die Verzweiflung ihres Babys zu spüren,bemitleidet sie sich selbst.

Seelische Veränderungen lassen sich nicht nur über das Verstehender eigenen Geschichte erreichen. In jeder Psychotherapie oderPsychoanalyse reicht die Entwirrung der verschlungenen Chrono-logie der kindlichen Erlebnisse und Einflüsse nicht aus, um echte

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Veränderungen zu bewirken. Der Patient ändert sich erst, wenn erselbst die Verantwortung dafür übernimmt, daß er sich einmaldafür entschieden hat, sich der Macht zu unterwerfen. Denn genaudiese Unterwerfung ist es, die sein autonomes Potential hat ver-krüppeln lassen und die seine seelischen Deformationen bewirkte.

Das ist auch meine Kritik an Alice Millers Sehweise, obwohl ichihr Werk für wichtig und bedeutsam halte.'° Sie argumentiert, alsob das Verständnis für die determinierenden Einflüsse bereits dieHeilung bewirke. Tatsächlich führt das aber nur dazu, daß sich derPatient wollüstig im Spiegel des therapeutischen Verständnissessonnt, ohne sich ändern zu müssen. Und der Therapeut wird,indem er sich als gute Mutter fühlt, nicht zu erkennen brauchen,daß er den Patienten von sich abhängig gemacht hat. Also wieder-holt sich das ewige Spiel zwischen dem Mächtigen und dem Abhän-gigen, zwischen der »guten« Mutter und ihrem dankbaren Kind,das so nicht erwachsen zu werden braucht. Irrtümlich wird einesolche Internalisierung des Therapeuten — das Gegenteil der gesuch-ten eigenen Identität — als Erwachsenwerden gewertet.

Eine andere Form der Verkrüppelung ist es, sich nur zum Scheinzu unterwerfen, um die eigene Autonomie zu verteidigen. Dies isteine paradoxe Möglichkeit, sich wenigstens die Fähigkeit zur Auto-nomie zu bewahren.

Zur wahren Befreiung und damit zum Wagnis der Veränderunggibt es nur einen Weg: sich dem Schmerz über den Selbstverratstellen. Es reicht, wie gesagt, nicht aus, die eigene Geschichte zuverstehen, aber ebenso ungenügend ist es, nur die soziale Gewalt zu»verstehen«, die auf die Entwicklung des Individuums Einflußnimmt. Damit allein kann man nicht erklären, warum ein Menschzum Mörder wird. Man muß sich mit der Unterwerfung auseinan-dersetzen; sie hat einen Menschen dazu veranlaßt, sich selbst zuhassen und dann alles Leben um ihn her, weil es ihn daran erinnert,was er getan hat. Das Böse, das Destruktive, die Unmenschlich-keit — all das hat seine Wurzeln in dem Unvermögen, die Ver-antwortung zu übernehmen für die lang zurückliegende Entschei-dung, das durch die Geburt erworbene Recht, man selbst zu sein,preiszugeben. Natürlich sind das Böse und die Unmenschlichkeitnicht ohne unterstützende soziale Strukturen und Einrichtungenmöglich, die Unterwerfung und Abhängigkeit verschleiern undGehorsam mit »verantwortlichem« Handeln gleichsetzen. Doch

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solange wir etwa Hitler als ein Phänomen sehen, das mit demherkömmlichen Begriffspaar »normal« oder »geisteskrank« zu fas-sen ist, solange sind wir nicht in der Lage zu erkennen, was esbedeutet hat und noch heute für uns alle bedeutet, daß ein Mann wieer an die Macht kommen konnte.

Im Licht des bisher Gesagten sollte nun plausibel sein, warum icheinen erweiterten Begriff von geistiger Krankheit für notwendighalte. Nur eine solche Erweiterung führt zu einem umfassendenVerständnis des Menschen und der seelischen Verirrungen, zudenen er fähig ist. Was Psychiatrie und Psychologie als Geistes-krankheit vorführen, ist an die Vorstellung gebunden, daß es sichdabei um zunehmenden Realitätsverlust handelt. Mehr oder weni-ger Realitätsbezug — danach wird alles menschliche Verhalten klas-sifiziert. »Realität« wird dabei ausschließlich als äußere Realitätverstanden.

In der Tat ist der Realitätsbezug— sein Fehlen oder der Grad derErgebenheit an die äußere Realität — ein Raster, in das man Men-schen einordnen kann und das uns ermöglicht, eine Klassifizierungvorzunehmen vom psychotischen Verhalten über die Neurose zurNormalität. Doch ein solches Schema verdeckt, daß es auch nocheine andere Art von Krankheit gibt, die viel gefährlicher ist als die,die vom Verlust des Realitätsbezugs gekennzeichnet ist.

Diese andere Art von Krankheit zu sehen erfordert einen Wech-sel der Blickrichtung und eine Abkehr von den herkömmlichenKategorien. Dann wird man sehen, daß sich hinter der Orientie-rung an der »Realität«, die gemeinhin das Kriterium für Gesundheitist, eine tiefere und weniger augenfällige Pathologie verbirgt: diedes »normalen« Verhaltens, die Pathologie der Anpassung als Folgeder Preisgabe des Selbst.

Untersucht man diese Pathologie genauer, so fällt als erstes auf,daß es sich um eine Krankheit handelt, deren Intention nicht ist,Wahnsinn zu produzieren, sondern ihn »auszutricksen«. Was ichmit der »Intention« einer Krankheit meine, wird zum Beispieldeutlich an jenen auffälligen Verhaltensweisen, mit denen jemandversucht, die Aufmerksamkeit auf sein Leiden zu lenken. Das sindHilferufe, oft so verschleiert, daß sie sowohl den Hilfesuchendenals auch den, dem der Hilferuf gilt, erst recht hilflos machen." ImUnterschied dazu kennzeichnet die Pathologie der Normalität, dieden Wahnsinn austrickst, die Flucht vor dem Leiden. Und dies in

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