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Brahms 2 FR 29./SA 30. MAI 2020 | KULTURPALAST

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Brahms 2 FR 29./SA 30. MAI 2020 | KULTURPALAST

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PROGRAMM

Johannes Brahms (1833 – 1897)»Tragische Ouvertüre« d-Moll op. 81 (1880)

Paul Hindemith (1895 – 1963)Konzert für Orgel und Orchester (1962)

Crescendo –Allegro assaiCanzonetta in Dreiklängen und zwei RitornelleFantasie über »Veni Creator Spiritus«

Johannes BrahmsSinfonie Nr. 2 D-Dur op. 72 (1877)

Allegro non troppoAdagio non troppo – L’istesso tempo, ma graziosoAllegretto grazioso (Quasi Andantino) – Presto ma non assaiAllegro con spirito

Marek Janowski | DirigentIveta Apkalna | OrgelDresdner Philharmonie

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JENS SCHUBBE

»Die eine lacht, die andere weint«Brahms’ »Tragische Ouvertüre«

Zwei Konzertouvertüren hat Johannes Brahms komponiert, beide im Sommer 1880 in Bad Ischl, Schwesterwerke gleichsam, freilich sehr unterschiedliche Geschwister. »Die eine weint, die andere lacht«, meinte Brahms bezogen auf die »Tragische Ouvertüre« op. 81 und die »Akademische Festouvertüre« op. 80. Für ihn, den Skeptiker und Melancholiker, konnte es offenbar nicht bei der lichten Positivität der »Festouvertüre« bleiben, sondern bedurfte sie des dunklen Pendants. Die »Tragische Ouvertüre« bezieht sich auf kein außermusikalisches Sujet, son-dern es geht um das rein musikalische Erfassen eines Vorgangs des Scheiterns. Dieses Scheitern ist der Musik von Anbe-ginn eingeschrieben. Die beiden eröff-nenden Akkorde sind nicht bestimmte Setzung, sondern evozieren harmonische Verunsicherung, ebenso wie das so merkwürdig zwischen Dur und Moll irr-lichternde Thema. Wenn dann das d-Moll

doch etabliert ist, entkommt die Musik dessen Gravitation zunächst nicht mehr, die anhebende modulatorische Bewegung bleibt stecken. Der Weg zum Seitensatz wird dann auf eine Weise gefunden, die bei Brahms einzigartig ist: Über pulsierendem Klanggrund etablieren sich tastende Motive der Bläser, später choralartig geführte Linien. Man hat den Eindruck als treibe man ohne Orientie-rung auf dunklem Gewässer, und erst mit zwei Rufen der Hörner lichtet sich das Klangbild – ein Moment von großer suggestiver Kraft. Der Seitensatz wirkt in dieser tenebrosen Landschaft wie ein Bild der Hoffnung, das freilich schon in den abschließenden Partien der Exposition zergeht. Die Durchführung – auch das einzigartig bei Brahms – erscheint wie ein Satz im Satz: In verlangsamtem Tempo erklingt eine Grabesmusik, ein Trauer-marsch, gerahmt von ähnlich amorphen Partien, wie sie im Überleitungsabschnitt der Exposition begegneten. In ihnen ver-sinkt vor Einsatz der Reprise das Haupt-thema gleichsam, das auch im Folgenden

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nur noch fragmentarisch anklingt. Der Seitensatz scheint nochmals auf, bleibt aber ohne sein Pendant gleichsam ortlose Episode auf dem Weg in die Finsternis.Innerhalb von Brahms’ sinfonischem Schaffen markieren die beiden Ouvertüren einen Wendepunkt. Hatten die zwei ersten Sinfonien, die vor den Ouvertüren fertiggestellt wurden, Konzeptionen etabliert, die zu positiven, affirmativen Finallösungen führten, verweigern die nach den Ouvertüren entstandenen Sinfonien Nr. 3 und 4 solche versöhnlichen Ausklänge und künden mindestens von Desillusion, wo nicht von Resignation. Ihnen ist die »Tragische Ouvertüre« an die Seite zu stellen.

Max Klinger: »Nacht« aus »Brahmsphantasie« (1890 – 1894)

JOHANNES BRAHMS* 7. Mai 1833 in Hamburg† 3. April 1897 in Wien

»Tragische Ouvertüre« d-Moll op. 81 ENTSTEHUNG Sommer 1880 in Bad Ischl

URAUFFÜHRUNG26. Dezember 1881 in Wien mit den Wiener Philharmonikern unter Leitung von Hans Richter

ZULETZT VON DER DRESDNER PHILHARMONIE GESPIELT7. Oktober 2007 unter Leitung von Lothar Zagrosek

BESETZUNGPiccoloflöte, 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauken, Streicher

DAUERca. 13 Minuten

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Komponist in schwierigen ZeitenPaul Hindemith

Paul Hindemith gehört zur Generation der um 1900 geborenen Komponisten, deren Lebens- und Schaffenswege durch die Verheerungen des 20. Jahrhunderts in oft massiver Weise beeinflusst wurden. Er stand am Beginn einer erfolgreichen Musikerkarriere (als Geiger und Brat-scher), als er 1917 zum Wehrdienst einbe-rufen wurde und die Schrecken des Krieges unmittelbar erlebte. Als Kom-ponist etablierte er sich in den Jahren

nach dem Krieg und avancierte innerhalb kürzester Zeit zu einem der wichtigsten Vertreter der musikalischen Avantgarde in Deutschland. Ausgehend von der Klangwelt der späten Romantik folgte eine expressionistische Phase, in die bei-spielsweise die Operneinakter »Mörder, Hoffnung der Frauen«, »Sancta Susanna« und »Das Nusch-Nuschi« gehören. Nicht zuletzt führte die Überzeugung, dass es eine ethische Verpflichtung des Kompo-nisten sei, die soziale Funktion seiner

Rudolf Heinisch: Paul Hindemith mit der Bratsche, 1956

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Musik mit zu bedenken, etwa ab 1924 zu einer Wandlung seiner musikalischen Sprache: Nicht mehr das Schockierende, provozierend Neue, klanglich Exzessive stand im Vordergrund, sondern seine Musik erschien nüchtern, klar strukturiert, fasslich, unsentimental, unpathetisch und orientierte sich häufig an Modellen barocker oder klassischer Musik. Bald wurde der Begriff »Neue Sachlichkeit«, der 1923 von Gustav Friedrich Hartlaub für Tendenzen in der Bildenden Kunst ge-prägt worden war, auf Hindemiths Musik übertragen. (Die Kammermusiken op. 36 und op. 42, von denen Marek Janowski fünf in von Deutschlanfunk Kultur am 11., 12. und 13. Juni 2020 live übertragenen Aufführungen dirigieren wird, gehören in diese Periode von Hindemiths Schaffen.) Etwa um 1930 deutet sich eine erneute stilistische Wende an: »Es scheint so, als ob jetzt allmählich wieder die Welle für ernste und große Musik käme«, schreibt Hindemith an seinen Verleger. Der in Satz und Harmonik vereinfachten Musik wächst durchaus etwas Repräsentatives zu, sie ist eingängig, scheut auch nicht das Monumentale und die pathetische Geste. (Eine ganz ähnliche Entwicklung konnte man bei Sergej Prokofjew beobach-ten, später auch bei Béla Bartók.) Hätte Hindemith mit dieser Wandlung nach

1933 nicht auch unter den neuen Macht-habern reüssieren können? In der Tat war die Situation zunächst widersprüch-lich. Einerseits versuchte man, ihn als »Fahnenträger der Zukunft« zu verein-nahmen, für andere war ein »Banner-träger des Verfalls« (Alfred Rosenberg) und »atonaler Geräuschemacher« (Joseph Goebbels). Ab 1936 war seine Musik mit Aufführungsverbot belegt, 1937 wurde er in der Ausstellung »Entartete Kunst« diffamiert. 1938 emigrierte Hindemith zu-nächst in die Schweiz, anschließend 1940 in die USA, wo er sich als erfolgreicher Komponist, Dirigent und Universitäts-lehrer (Yale) eine neue Existenz aufbaute. 1947 kehrte er ein erstes Mal besuchs-weise nach Europa zurück, 1953 siedelte er endgültig über – freilich nicht nach Deutschland, sondern in die Schweiz, nach Blonay nahe dem Genfersee. Dem Komponisten Hindemith erging es nun wie vielen seiner Generationsgenossen. Die Neue Musik erlebte nach dem Krieg eine ihrer dynamischsten und innova-tivsten Phasen, und über Hindemith, der einst selbst als radikaler Avantgardist galt, schien die Zeit hinweggegangen zu sein. Hindemith seinerseits bedachte die aktuelle Musik der damaligen Zeit mit polemisch gewürzter Ablehnung.

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SPÄTWERKSteffen Georgi hat in einem Pro-grammheftbeitrag die »Öffnung seiner Werkkonzeption« als eine Eigenart des Hindemith-schen Spätwerkes ausgemacht, das etwa um 1957 einsetzt: »So mischte der ›Marsch für Orches-ter über den alten Schweizerton‹ (1960) die Trommeln der Basler Fastnacht mit dem Lied über den alten Schweizerton und dem Studentenlied ›Gaudeamus igitur‹. Die Pittsburgh Symphony (1958) nahm ein Volkslied, einen Song und ein Zitat aus Anton Weberns Sinfonie op. 21 in sich auf. Das Oktett (1958) wagte den Spagat zwischen Beet-hovens Streichquartett op. 130 und einem Berliner Gassenhauer. Schließlich das große Orgelkonzert verwendete den alten Pfingsthymnus ›Veni Creator Spiritus‹ und die mittelalterliche ›L’homme armé‹- Melodie.« Diese Fähigkeit zur Synthese erinnert an einen Avantgardisten, der damals gerade die Szene betrat: György Ligeti. Der musste sich wegen seiner (kei-neswegs nostalgischen) Auseinanderset-zung mit der Romantik und dem Bezug auf folkloristische Modelle nach 1980 als Verräter an der Sache der Neuen Musik schmähen lassen. Geschichte wiederholt sich manchmal bis zum Überdruss…

DAS ORGELKONZERTDas Orgelkonzert ist eines der letzten von Hindemith vollendeten Werke. Er kompo-nierte es 1962/63 für die Einweihung der neuen Orgel in der Philharmonic Hall im New Yorker Lincoln Center. Der öster-reichische Organist Anton Heiller war der Solist, Hindemith dirigierte. Beide realisierten ebenso die europäische Erst-aufführung am 9. und 10. November 1963 im Goldenen Saal des Wiener Musik- vereins – Hindemiths letzte Konzerte. Er starb wenige Wochen später, am 28. Dezember 1963.

Paul Hindemith im November 1963 im Wiener Musikverein, vermutlich während einer Probe zum letzten von ihm dirigierten Konzert, in dem auch das Orgelkonzert aufgeführt wurde

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Der erste Satz des Orgelkonzertes ist »Crescendo« überschrieben, was in der musikalischen Terminologie eigentlich Zunahme der Lautstärke bedeutet. Das charakterisiert in der Tat die dynamische Grundtendenz des Satzes. Aber nicht nur die Lautstärke wächst, sondern auch die satztechnische Dichte nimmt Im Verlauf des Satzes zu. Über dem Orgelpunkt C exponieren die Celli ein rezitativisch zerklüftetes Thema, das zunächst von der Orgel, dann von den Holzbläsern übernommen wird. Ein kurzes Orgel- zwischenspiel folgt, ehe das Thema erneut erscheint, jetzt in eng geführten Imitationen zwischen Violinen und Orgel, dann zwischen Trompete und Orgel. Im

folgenden zweiten Zwischenspiel werden die Motive der Orgel von den Blechbläsern kontrapunktiert. Eine letzte Durchfüh-rung des Themas – nunmehr als dreistim-miger Kanon – markiert den höchsten Grad satztechnischer Dichte. In der den Satz abschließenden Coda wechseln anti-phonal die in vollem Werk tönende Orgel und machtvolle Orchestertutti.Ohne Unterbrechung folgt der zweite Satz. Hier sind am Beginn heterogene Elemente vereint: ein gespenstisch huschender Kanon der Streicher, ein pochendes Motiv der Pauken, Posaunen und Bässe sowie der rhythmisch zum Orchestersatz verquere Orgelpart. »Dolce e semplice« (zart und schlicht) kontras-tiert der zweite Satzteil. Eine choralartige, aus dem Paukenmotiv abgeleitete Weise erklingt im Wechselspiel von registerartig eingesetzten Instrumentalgruppen und Orgel. Die folgende Kadenz der Orgel führt zum letzten, reprisenartigen Satz-abschnitt.Der Titel des dritten Satzes, Canzonetta in Dreiklängen, verweist darauf, dass Hindemith die Melodie der Canzonetta ausschließlich mit konsonanten Akkor-den harmonisiert, also jede Dissonanz vermeidet. In ihrer daraus resultierenden spannungsfreien Ruhe und Abgeklärtheit erinnert die Canzonetta an Musik von Erik Satie, etwa seine »Messe de pauvres«.

Anton Heiller, Solist der Uraufführung, 1963

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Auf einer selbstgezeichneten Karikatur, die Hindemith 1963 an nahestehende Menschen als Weihnachtsgruß sandte und die den Komponisten an der Orgel zeigt, während seine Frau in Gestalt des Löwen, ihres Sternzeichens, die Bälge tritt, wird das Thema der Canzonetta zitiert.

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Die beiden Ritornelle stehen dazu in denkbar starkem Kontrast: das erste mit unruhigen Rhythmen der mit Dämpfern zu spielenden Streicher und der Holzblä-ser, das zweite mit ebenfalls gedämpften Blechbläsern, Flatterzungeneffekten der Flöte und solistischem Einsatz der Tuba. Am Ende wird unvereinbar Scheindendes vereint und erklingen die Ritornelle und das Canzonenthema gleichzeitig.Im Finale wird der gregorianische Pfingsthymnus »Veni Creator Spiritus«, dessen Melodik schon die Motivik der vorangegangenen Sätze untergründig prägte, in sechs Variationen in der Manier einer Choralphantasie durchgeführt. Wer versuchen möchte, die Choralmelodie in ihren Wandlungen zu verfolgen, sei hier ein »Fahrplan« an die Hand gegeben: Zunächst werden die Zeilen des Chorals von der Orgel vorgetragen, jeweils unter-brochen von knappen Einwürfen des Orchesters. Eine Fuge schließt sich an, deren Thema aus dem Choral gewonnen ist. Im folgenden Abschnitt erklingt die Choralmelodie im Orgelpedal und wird mit der Fugenmotivik im Orchester kombiniert. In der dritten Variation wird ein aus dem Choral abgeleiteter Kanon von der Orgel intoniert, während die Originalmelodie in den Pizzicati der

Bässe erklingt. Die Hörner intonieren den Choral in der vierten Variation. Die fünfte Variation ist als Orgelkadenz gestaltet, während welcher der Choral in immer kleinere Zellen aufgesplitted wird. Letzt-malig wird der Choral in einem »Arioso, moderato e dolce« von Orgel und Orches-ter vorgetragen.

PAUL HINDEMITH* 16. November 1895 in Hanau† 28. Dezember 1963 in Frankfurt am Main

Konzert für Orgel und Orchester ENTSTEHUNG 1962/63

URAUFFÜHRUNG25. April 1963 im Lincoln Center New York mit Anton Heiller, Orgel, und den New Yorker Philharmonikern unter Leitung des Komponisten

DAS WERK WÄRE ERSTMALS IN EINEM KONZERT DER DRESDNER PHILHARMONIE ERKLUNGEN

BESETZUNGOrgel – 2 Flöten (2. auch Piccolo), 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 2 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauken, Schlagzeug, Celesta, Streicher

DAUERca. 25 Minuten

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Ein liebliches UngeheuerBrahms’ Zweite Sinfonie

Als Johannes Brahms nach annähernd zwei Jahrzehnten von Selbstzweifeln und Rückschlägen geprägter Arbeit 1876 seine Erste Sinfonie vollendet hatte, muss das für ihn einem Akt der Befreiung gleich-gekommen sein, einem Heraustreten aus dem Bann einer als übermächtig emp-fundenen, vor allem durch Beethoven repräsentierten Tradition. Schon 1877 ließ er eine weitere Sinfonie folgen. Er konzipierte seine Zweite im Sommer in Pörtschach am Wörthersee und vollendete sie – wie schon die Erste Sinfonie – im Herbst in Lichtenthal bei Baden-Baden.Nicht nur die zeitliche Nähe verbindet beide Werke. Wird im Finale der dunkel getönten, aufgewühlt dramatischen Ersten Sinfonie ein Durchbruch ins Freie, Offene musiziert, sinnfällig symbolisiert durch Alphornweise und Choral, so scheint die Zweite Sinfonie in genau jenem Raum angesiedelt, den die Erste eröffnete: Jenes unscheinbar, aber – wie zu zeigen sein wird – folgen- reiche Motiv, mit dem die Zweite Sinfonie anhebt, ist ein Bruchstück des Final- themas der Ersten.

Johannes Brahms 1878 in Stuttgart

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Kann man in der Zweiten Sinfonie also die lichte, freundliche Schwester ihrer Vorgängerin erblicken? Ein ungetrübtes Orchesteridyll, gleichsam Brahmsens »Pastorale«?Dem befreundeten Eduard Hanslick jedenfalls avisierte er die neue Sinfonie als »heiter und lieblich«. Seinem Verleger Simrock gegenüber allerdings charakter- isierte Brahms das Werk folgendermaßen: »Die neue Symphonie ist so melancho- lisch, dass Sie es nicht aushalten. Ich habe noch nie so etwas Trauriges, Molliges geschrieben: die Partitur muß mit Trauerrand erscheinen.« Und Elisabeth von Herzogenberg empfiehlt er: »Sie brauchen sich nur hinzusetzen, abwechselnd die Füßchen auf beiden Pedalen, und den f-Moll-Akkord eine gute Zeit anzuschlagen, abwechselnd unten und oben, ff und pp – dann kriegen sie allmählich das deutlichste Bild von der ›neuen‹.« Verbirgt sich hinter all der Ironie vielleicht ein Wahrheitsmoment? Ein »liebliches Ungeheuer« hat Brahms seine Zweite Sinfonie einmal genannt, auch damit auf Ambivalentes, Doppel- bödiges verweisend. Machen wir uns auf die Suche nach dem »Ungeheuer« unter der lieblichen Oberfläche des Werkes.

»SCHWER MELANCHOLISCH«

Ganz beiläufig wird die Sinfonie eröffnet mit einem simplen Motiv der Celli und Bässe, charakterisiert durch zwei pendelnde Halbtonschritte mit anschließendem Quartfall, eben jenem Themenbruchstück aus dem Finale der Ersten Sinfonie. Dann erklingt ein weich ausschwingendes Thema im Wechsel von dreiklangsdominierter Hornmelodik und antwortenden Holzbläsern. Auch dieses Thema hat sein Modell. Der Themen-kopf entspricht in seiner rhythmischen Struktur exakt dem Hauptthema von Beethovens »Eroica«, mit dem es auch melodisch korrespondiert. Freilich geht Brahms ganz andere Wege als Beethoven, allerdings nicht minder irritierende. Das Thema wird wiederholt, kurzzeitig nach Moll gewendet. In hoher Lage setzten die Steicher ein. Ihre melodische Linie gerät zu einem steten Absinken, verharrt immer leiser werdend in der Tiefe, um schließlich ganz zu verlöschen, gefolgt von Paukenwirbel und Posaunenakkorden, die wie ein Memento wirken. Posaunen – seit Schuberts großer C-Dur-Sinfonie der »dunkle Kern des romantischen Orches-terklangs« (Reinhold Brinkmann). Das ist eine erstaunliche Eintrübung und mithin ein Sinfoniebeginn, der verrinnt, ehe er sich entfalten konnte.

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Der verschlossene, introvertierte Johannes Brahms hat sich gegenüber einem Freund, der in einem Brief den ihm be-fremdlich und störend erscheinenden Einsatz der dunklen Farben von Posaunen und Tuba monierte, einmal offen gezeigt und ein wenig vom Geheimnis der Zwei-ten gelüftet: »Ebenso flüchtig sage ich, daß ich sehr gewünscht und versucht habe, in jenem ersten Satz ohne Posaunen auszukommen. (Die e-Moll-Stelle hätte ich gern geopfert, wie ich sie Ihnen also jetzt opfere.) Aber ihr erster Eintritt, der gehört mir, und ihn und also auch die Posaunen kann ich nicht entbehren. Sollte ich jene Stelle verteidigen, da müßte ich weitläufig sein.Ich müßte bekennen, daß ich nebenbei ein schwer melancholischer Mensch bin, daß schwarze Fittiche beständig über uns rauschen, daß – vielleicht nicht so ganz ohne Absicht in meinen Werken auf jene Sinfonie eine kleine Abhandlung über das große ›Warum‹ folgt.« (Brahms spielt auf seine Motette »Warum ist das Licht gegeben den Mühseligen« an.)Der bewusst dem Geschehen Folgende mag sich fragen, was er bis dahin hörte. War das das Hauptthema? Oder nur eine Einleitung? Für die erste Version spricht, dass die Motivik der Anfangstakte un-geahnte Fernwirkung entfalten wird. Die meisten der folgenden Themen und Mo-tive des Satzes sind durch variierende Ab-

leitung aus ihr herzuleiten, ja, sie strahlt über die Satzgrenzen hinaus. Zudem wird an formalen Eckpunkten des Satzes – am Beginn der Durchführung und der Reprise – vor allem auf diesen Satzbeginn Bezug genommen, weniger auf die nun folgende Themengestalt, die allerdings dank ihrer Plastizität und Gerundetheit, vor allem aber wegen ihres Kontrasts zum Vorangegangenen den Eindruck eines Hauptgedankens macht, obwohl sie eigentlich nur Variation ist. Aufblü-hender Streicher- und Holzbläserklang dominieren jetzt, gelöst und entspannt entfalten sich die melodischen Bögen über pulsierenden Begleitfiguren. Der Seitensatz nach gewichtiger Über-leitung spielt auf ein Brahms-Lied an: »Guten Abend, gute Nacht«. Ungewöhn-lich ist an dieser Stelle die Molltonart. Gemeinsam mit der dunklen Farbe von melodieführenden Celli und Bratschen verleiht sie dem Thema die eigentümlich verhaltene, gedämpfte lyrische Emphase. Reinhold Brinkmann bemerkt treffend: »Freilich kann solches Spiel mit dem Dunklen für Brahms bezeichnend sein, und auf dieses Werk wirft es ein besonde-res Licht: Die heitere Sinfonie hat einen Moll-Seitensatz. Die Bäume dürfen bei Brahms nie in den Himmel wachsen.«Energische Züge sind einem dritten Thema eigen. Scharf punktierte Rhythmen und große Intervallsprünge herrschen jetzt

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vor. Doch die Energien werden am Ende der Exposition gebremst, wenn wie ein Abgesang das zweite Thema nochmals aufscheint und nach der wiederholten Exposition zur Durchführung leitet.Deren Beginn greift die Einleitungstakte des Werkes auf, wobei die begleitenden Harmonien auf sublime Weise dissonant schärft werden: Ausgangspunkt für die folgenden Zuspitzungen. Ein Fugato führt zu einem ersten Höhepunkt, mar-kiert wieder von den auffällig exponier-ten Posaunen. Auch im weiteren Verlauf sorgen rhythmisch metrische Ballungen und unvermittelte dynamische Kontrast-setzungen für eine Dramatik, die wirkt, als entlüden sich nun jene Spannungen, die latent in dem irritierenden Gang in

die Finsternis am Sinfoniebeginn angelegt waren. Zielpunkt der Entwicklung ist ein bittersüßer Akkord, von dem aus eine in die Tiefe führende Linie der Bläser zur Reprise leitet: Deren Einsatz überlagert simul-tan die Themen des Sinfonie-beginns. Sodann

wird jene eigenartige, in sich zusammen-sinkende überleitende Passage wieder aufgegriffen – allerdings um mehr als das Doppelte erweitert –, die eingangs wie hier zum Posaunen-Memento führte und auf die jetzt die Reprise des Seiten-satzes folgt.Der Beginn der Coda wird vom Solo-Horn getragen: »Das Horn bläst zum Abgesang, versammelt den Satz, geleitet ihn zu seiner Erfüllung« (Reinhold Brinkmann). Eben die mag in der folgenden, von sono-rem Streicher- und Hörnerklang erfüllten Passage auskomponiert sein. Gegen Ende zitiert Brahms beziehungsvoll sein Lied »Es liebt sich so lieblich im Lenze«, auf jene pastorale Idylle anspielend, die bis-lang in Frage stand.

Max Klinger: »Der befreite Prometheus« aus »Brahmsphantasie« (1890 – 1894)

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INBEGRIFF DES ROMANTISCHEN ESPRESSIVO

Der folgende langsame Satz steht dem Kopfsatz an Differenziertheit und Fülle des Ausdrucks nicht nach. Dreifach span-nungsvoll schon der Beginn: Im Gegenei-nander zweier melodischer Linien, in der extrem hohen Lage der Celli und in einer harmonischen Disposition, welche die Grundtonart des Satzes nicht sogleich ex-poniert, sondern erst zu ihr hinführt. Der folgende Gesang der Celli wirkt geradezu wie der Inbegriff des romantischen Espres-

Max Klinger: »Evokation« aus »Brahmsphantasie« (1890 – 1894)

sivo. Sanft wiegende Synkopen prägen das zweite Thema, während das dritte in den Mollbereich führt und dergestalt das Rauschen der »schwarzen Fittiche« auch hier vernehmbar wird. Aus diesem Thema erwachsen folgerichtig vor allem die Zuspitzungen des folgenden Durch-führungsabschnittes, ehe eine veränderte Reprise (ohne Wiederkehr des zweiten Themas) folgt und eine Coda mit bedroh-lich pochenden Pauken den Satz beendet.

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IDYLLENTON UND FANFARENDas Scherzo vollzieht den Schritt vom in den ersten zwei Sätzen gestörten zum beruhigt in sich schwingenden Idyllenton, der nur gelegentlich von harmonischen Trübungen gebrochen wird. Sein tänzerisches Hauptthema ebenso wie die Gestalten der dahin- jagenden Kontrastpartien leiten sich vom Motiv des Sinfoniebeginns her.Der letzte Satz dann gibt sich zunächst als temperamentvoll losstürmendes Brio-Finale. Der ungestüme Bewegungs-impuls des ersten Themas wird durch einen auffälligen emphatischen Auf-schwung der Klarinette gebremst, die den warm und voll tönenden Seitensatz geradezu herbeiruft.Die Durchführung dann wirkt wie ein großes, stufenweises Ermatten. Sie nimmt die eingangs rastlose Bewegung immer mehr zurück und mündet schließ-lich in einem höchst eigentümlichen Abschnitt mit in die Tiefe sinkenden Quartintervallen – eine melancholische Anwandlung, welche die Reprise und vollends die fulminante Coda mit schmetternden Fanfarenklängen ver- gessen zu machen suchen.

JOHANNES BRAHMS

Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 73 ENTSTEHUNG Sommer 1877 in Pörtschach am Wörthersee, fertiggestellt im September – Oktober 1877 in Lichtenthal bei Baden Baden

URAUFFÜHRUNG30. Dezember 1877 im Rahmen des 4. Philharmonischen Konzertes im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins mit den Wiener Philharmonikern unter Leitung von Hans Richter

ZULETZT VON DER DRESDNER PHILHARMONIE GESPIELT16. Juni 2017 unter Leitung von Michael Sanderling

BESETZUNG2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauken und Streicher

DAUER43 Minuten (so die dokumentierte Spieldauer der Uraufführung)

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IMPRESSUM

HERAUSGEBER

Intendanz der Dresdner PhilharmonieSchloßstraße 2 01067 DresdenT +49 351 4866-282

dresdnerphilharmonie.de

CHEFDIRIGENT UND KÜNSTLERISCHER LEITER

Marek Janowski

INTENDANTIN

Frauke Roth (V.i.S.d.P.)

TEXT

Jens Schubbe

Die Texte sind Originalbeiträge für dieses Heft; Abdruck nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autoren.

Jens Schubbe, geboren 1962 in der Mecklenburgischen Schweiz, arbeitet als Dramaturg für die Dresdner Philhar-monie. Darüber hinaus ist er als Autor bzw. beratend für diverse Institutionen tätig, u.a. Alte Oper Frankfurt, Wiener Musikverein, Konzerthaus Berlin, Schwetzinger Festspiele, Wittener Tage für neue Kammermusik. Zuvor Tätig-keiten für das Collegium Novum Zürich (Künstlerischer Leiter/Geschäftsführer), das Konzerthaus Berlin (Dramaturg), die Berliner Kammeroper (Dramaturg) und das Theater Vorpommern (Chorsänger und Dramaturg).

REDAKTION

Jens Schubbe

BILDNACHWEISE

kettererkunst.de: S. 3Wikimedia commons: S. 4, 7, 14hindemith.info: S. 6, 8Bahms-Institut Lübeck: S. 10meisterdrucke.de: S. 12

MUSIKBIBLIOTHEK

Die Musikabteilung der Zentralbibliothek (2. OG) hält zu den aktuellen Programmen der Philharmonie für Sie in einem speziellen Regal Partituren, Bücher und CDs bereit.

Änderungen vorbehalten.

Die Dresdner Philharmonie als Kultureinrichtung der Landeshauptstadt Dresden (Kulturraum) wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.

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TICKETSERVICE

Schloßstraße 2 | 01067 Dresden T +49 351 4866-866 MO – FR 10 – 19 UhrSA 9 – 14 Uhr [email protected]

dresdnerphilharmonie.de kulturpalast-dresden.de

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