Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter...

48
Ansprechpartner: Dr. Michael Schmitz „Innenpolitik und Soziale Marktwirtschaft“ Leiter Team Staat und Gesellschaft Telefon: 0 22 41/246-284 E-Mail: [email protected] Dr. Martin Michalzik Leiter Bildungswerk Dortmund Telefon: 02 31/108-777-7 E-Mail: [email protected] Postanschrift: Konrad-Adenauer-Stiftung, Rathausallee 12, 53757 Sankt Augustin Arbeitspapier herausgegeben von der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. Nr. 105 Dr. Michael Schmitz Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der Parteien I – SPD und CDU/CSU (Maßnahme im Rahmen des Projekts „Bürgergesellschaft“) Sankt Augustin, März 2003

Transcript of Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter...

Page 1: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

Ansprechpartner: Dr. Michael Schmitz„Innenpolitik und Soziale Marktwirtschaft“Leiter Team Staat und GesellschaftTelefon: 0 22 41/246-284E-Mail: [email protected]

Dr. Martin MichalzikLeiter Bildungswerk DortmundTelefon: 02 31/108-777-7E-Mail: [email protected]

Postanschrift: Konrad-Adenauer-Stiftung, Rathausallee 12, 53757 Sankt Augustin

Arbeitspapierherausgegeben von derKonrad-Adenauer-Stiftung e.V.

Nr. 105Dr. Michael Schmitz

Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der Parteien I– SPD und CDU/CSU(Maßnahme im Rahmen des Projekts „Bürgergesellschaft“)

Sankt Augustin, März 2003

Page 2: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

Gliederung:

I. Bürgergesellschaft zwischen Vision und Realität – Einführung 2

1. Bürgergesellschaft – der Begriff 42. Die Bürgergesellschaftsdebatte in der SPD 72.1 Der Zwischenbericht für ein neues Grundsatzprogramm 72.2 Weitere Bereiche der Bürgergesellschaftsthematik 122.2.1 Die Familie als „kleine Einheit“ 122.2.2 Die Kommune als „kleine Einheit“ 132.3 Ausblick 16

3. Die Bürgergesellschaftsdebatte in der CDU 173.1 Das Hamburger Grundsatzprogramm 173.2 Weitere Bereiche der Bürgergesellschaftsthematik 223.2.1 Die Familie als „kleine Einheit“ 223.2.2 Die Kommune als „kleine Einheit“ 243.3 Ausblick 27

II. Bürgergesellschaft in den Parteiprogrammen - Text-Dokumentation 29

Page 3: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

2

I. Bürgergesellschaft zwischen Vision und Realität – Einführung

„Mir geht es beim Konzept der modernen Bürgergesellschaft darum: um eine ‘Zivilisierung

des Wandels’ durch politische Integration und ein neues Bürgerbewusstsein. Um mehr Eigen-

verantwortung, die zu Gemeinwohl führt. Das Ziel ist weder die Abschaffung des Staates noch

der Rückzug der Politik“.1 Mit dieser Kurzformel hat Gerhard Schröder die bundesweit unter

verschiedenen politischen Vorzeichen geführte Zivilgesellschaftsdebatte in einem Artikel in

der Süddeutschen Zeitung im April 2000 aufgegriffen und neue Akzente zu setzen versucht.2

Die vorliegende zweiteilige Synopse stellt die Positionen der im 15. Deutschen Bundestag als

Fraktionen vertretenen Parteien3 zur Bürgergesellschaft sowie zu den praktischen Ausformun-

gen der jeweiligen Grundverständnisse von Bürgergesellschaft zusammen. Sie stellt damit

zum einen Aussagen der Parteien zum speziellen Rollenverständnis des Staates und seines

Bürgers sowie zum jeweiligen Spannungsverhältnis von Bürger und Staat vor. Diese unter-

scheiden sich – verdeutlicht an konkreten Politikfeldern – zum Teil wesentlich. Zum anderen

werden die Positionen der Parteien zur Bürgergesellschaft auch darauf hin untersucht, inwie-

weit unter den veränderten und sich ständig verschärfenden wirtschaftlichen und gesellschaft-

lichen Rahmenbedingungen und daraus resultierendem Handlungsdruck die vielfach schon

verbal spürbaren Annäherungen der Parteien auch inhaltlich-programmatisch fundiert sind.

Besondere Aufmerksamkeit verdient die Frage, ob programmatische Schnittmengen zur Vor-

aussetzung für neue Koalitionen auf Bundes- und Länderebene werden können. Erste Ansätze

zu neuen Koalitionen werden bereits erfolgreich auf kommunaler Ebene praktiziert.

1 Gerhard Schröder: Die zivile Bürgergesellschaft, in: Süddeutsche Zeitung – 24. März 2000. (Langfassung in Nr.

4/2000 des von Peter Glotz herausgegebenen SPD-Organs „Die neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte“)2 Einen kurzen Überblick über die verschiedenen Trends in der Bürgergesellschaftsdebatte bietet Christopher

Gohl: Bürgergesellschaft als politische Zielperspektive, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 6-7/2001, S. 5-11.3 Obwohl die PDS als SED-Nachfolgepartei inhaltlich wie strukturell nach der 89er-Wende darum bemüht war,

sich einen demokratischen Anstrich zu geben, hält das programmatische Angebot der PDS mit Blick auf die ü-ber Jahrzehnte hinweg gewachsenen demokratischen Traditionen von CDU, SPD, FDP und Bündnis 90/DieGrünen – auch hinsichtlich der Bürgergesellschaftsthematik – keinen inhaltlichen Vergleich aus. Daher kanndie PDS-Programmarbeit auch nicht als authentisches und am politischen Zusammenspiel mit dem Bürger ü-berprüftes Themenangebot gewertet werden. Die PDS erhielt bei den Bundestagswahlen 1990 mit Gregor Gysiihr einziges Direktmandat. Aufgrund der getrennten Anwendung der Fünfprozentklausel in den beiden Wahlge-bieten West und Ost erhielt sie 17 Mandate. 1994 war sie wegen dreier Direktmandate als Gruppe und 1998 mit5,1 Prozent nur einmal als Fraktion im Deutschen Bundestag vertreten. Nach ihrem 4-Prozent-Wahldesastervom 22. September 2002 ist sie wegen ihrer beiden Berliner Direktmandate nur noch mit Gesine Lötzsch undPetra Pau im 15. Deutschen Bundestag vertreten, verliert aber bundespolitisch zusehends an Gewicht. Nur aufLänderebene trägt die PDS in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin als Juniorpartner in Koalitionsregierungenmit der SPD unmittelbar Verantwortung. In den übrigen ostdeutschen Landesparlamenten befindet sich die PDSmit abnehmender Wählerzustimmung in der Opposition. Sie wird damit mit Recht als Ostpartei wahrgenom-men. Zur programmatischen und strukturellen Entwicklung der PDS vgl. u.a. das grundlegende Arbeitspapierder Konrad-Adenauer-Stiftung Nr. 31 „Der neue Programmentwurf der PDS“ von Viola Neu.

Page 4: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

3

Im ersten Teil werden die beiden großen Volksparteien SPD und CDU/CSU vorgestellt. Als

Quelle wird für die SPD vor allem der beim Nürnberger Bundesparteitag 2001 vorgelegte Zwi-

schenbericht eines neuen Grundsatzprogramms berücksichtigt, der als aktualisierende Fort-

schreibung des Berliner Grundsatzprogramms von 1989 einzuordnen ist4.

Für die CDU werden das Hamburger Grundsatzprogramm Freiheit in Verantwortung5 von

1994 und dazu ergänzend das Präsidiumspapier Starke Bürger – starker Staat6 herangezogen.

Das CSU-Positionspapier Aktive Bürgergesellschaft. Damit wird Deutschland leistungsfähiger

und menschlicher7 stimmt im wesentlichen mit der CDU überein. Nur wo notwendig, wird

darauf im Anmerkungsteil hingewiesen.

Der gesondert erscheinende zweite Teil der Synopse behandelt die Aussagen der FDP zur Bür-

gergesellschaft in den Wiesbadener Grundsätzen von 1997 und von Bündnis90/Die Grünen im

März 2002 veröffentlichten Berliner Grundsatzprogramm Die Zukunft ist grün.

4 Vgl. Zwischenbericht Wegmarken für ein neues Grundsatzprogramm. Sozialdemokratische Vorstellungen zur

nachhaltigen Gestaltung der globalen Epoche der SPD-Grundsatzkommission vom 19.-22. November 2001, S.7f. (in der Folge zitiert: Zwischenbericht).

5 Grundsatzprogramm: Freiheit in Verantwortung (1994), in: Peter Hintze (Hrsg.): Die CDU-Parteiprogramme.Eine Dokumentation der Ziele und Aufgaben. Bonn 1995, S. 367-439 (in der Folge zitiert: Grundsatzpro-gramm).

6 Diskussionspapier Starke Bürger. Starker Staat. Zur Fortentwicklung unserer gesellschaftlichen und gesamt-staatlichen Ordnung der CDU-Präsidiumskommission „Spielraum für kleine Einheiten“ vom 9. Oktober 2000,54 Seiten (in der Folge zitiert: Diskussionspapier).

7 Vgl. Positionspapier der Grundsatzkommission der CSU-Landtagsfraktion Aktive Bürgergesellschaft. Damitwird Deutschland leistungsfähiger und menschlicher unter www.csu-landtag.de/htmlexport/1274.html (in derFolge: Positionspapier). Es wurde von Alois Glück beim Nürnberger CSU-Parteitag im Oktober 2001 vorge-stellt.

Page 5: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

4

1. Bürgergesellschaft – der Begriff

Nach Auffassung der vom Deutschen Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission Zukunft

des Bürgerschaftlichen Engagements beschreibt „Bürgergesellschaft ein Gemeinwesen, in

dem die Bürgerinnen und Bürger auf der Basis gesicherter Grundrechte und im Rahmen einer

verfassten Demokratie durch das Engagement in selbstorganisierten Vereinigungen und durch

die Nutzung von Beteiligungsmöglichkeiten die Geschicke des Gemeinwesens wesentlich prä-

gen können. Bürgergesellschaft ist damit zugleich Zustandsbeschreibung und Programm.“8

Voraussetzung und Grundlage dieser Definition bildet das Subsidiaritätsprinzip. Es „beinhal-

tet den Vorrang der kleineren Einheiten in ihrer Selbstbestimmung und Leistungskraft. Diese

... muss aber auch ausgeschöpft werden, bevor eine höhere Einheit – wie Kommune, Land,

Bund oder Europäische Union – helfend einspringt.“9

Der Begriff der Bürger- bzw. Zivilgesellschaft10 hat eine längere Geschichte, die in der Neu-

zeit mit Aufklärung und Liberalismus begonnen hat, ihre Fortsetzung in der Bundesrepublik

Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis heute andauert. Neueste Impulse

liefern die Bürgerbewegungen in Mittel- und Osteuropa, die zur politischen Wende nach 1998

geführt haben und im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts der Kommunitarismus, der von

amerikanischen Sozialwissenschaftlern zur Überwindung eines gemeinwohlschädigenden In-

dividualismus angestoßen worden ist.11

Bürgergesellschaft und Zivilgesellschaft werden im deutschsprachigen Raum synonym zum

angelsächsischen Begriff Civil Society gebraucht. Beide Begriffe finden quer durch unter-

schiedliche politische Denkströmungen und gesellschaftliche Gruppen nicht zuletzt aufgrund

ihrer begrifflichen Offenheit und Unbestimmtheit vielfältige Anwendung und Zustimmung.

8 Jürgen Kocka: Das Bürgertum als Träger von Zivilgesellschaft – Traditionslinien, Entwicklungen, Perspektiven,

in: Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ des Deutschen Bundestages (Hrsg.):Bürgerschaftliches Engagement und Zivilgesellschaft. Bd. 1: Leske + Budrich, Opladen 2002, S. 16.

9 Ebd.10 Christopher Gohl: Bürgergesellschaft als politische Zielperspektive, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 6-

7/2001, S. 5-11; Georg Kneer: Zivilgesellschaft, in: Georg Kneer/Armin Nassehi/Markus Schroer: Soziologi-sche Gesellschaftsbegriffe: Fink: München 1997, S. 228-249.

11 Nach dem DPA-Glossar vom 29.05.2000 ist „Kommunitarismus die aus den USA stammende Denkschule, diedie Gesellschaft durch Bürgersinn und Gemeinschaftsgefühl erneuern will. „Rechte und Pflichten„ lautet ihrProgramm. Wichtigster Vertreter ist der aus Köln stammende Amitai Etzioni. Zu Etzione vgl.http://www.cgl.uni-freiburg.de/commun/etzioni/etzioni.htm. Grundsätzliches zum Kommunitarismus führt Et-zioni unter dem Titel „Die gute Gesellschaft“ in der taz Nr. 6217 vom 12.8.2000, Seite 11 aus. – Vgl. zu Theo-rie und Praxis des Kommunitarismus: Robert Nef: Politische Grundbegriffe. Auslegung und Positionsbezüge,Zürich 2002, S. 56 u. 65.

Page 6: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

5

„Die einzige allgemein gültige Definition ist die doppelte Verneinung, in der Kurzformel:

„Nicht Staat – nicht Markt“, schreibt Tilman Evers.12 Zugleich entdeckt Evers aber auch be-

reits die „doppelte Affirmation, dass Bürgerinnen und Bürger sich nicht nur für den Eigennutz,

sondern auch für das Gemeinwesen engagieren; und dass es eine gesellschaftliche Öffentlich-

keit gibt, die nicht staatlich organisiert ist“.

Die erste namhafte Publikation zur „Civil Society“ stammt aus dem Jahr 1767 von dem schot-

tischen Moralphilosophen Adam Ferguson. In seinem „Essay on the History of Civil Society“

beschreibt er hiermit eine wünschenswerte Geisteshaltung, die alle Bereiche der Gesellschaft

durchdringen sollte. Alexis de Tocqueville skizziert als erster knapp ein Dreivierteljahrhundert

später in seinem Werk „Über die Demokratie in Amerika“ den Stellenwert freier Vereinigun-

gen und Zusammenschlüsse von Bürgern für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die

Entwicklung von Demokratie.

Prägend auf das heutige Verständnis von Bürger- oder Zivilgesellschaft haben sich auch je-

doch die Erfahrungen der Freiheits- und Demokratiebewegungen in Osteuropa seit der „Charta

’77“ ausgewirkt. Bürgergesellschaft wurde hier zum Schlüsselbegriff für Bestrebungen, die

Entmündigung durch den Staat zu beenden und neue Freiräume für gesellschaftliche Selbstor-

ganisation zu schaffen. Die Erfolgsgeschichte der Bürgerbewegungen in den osteuropäischen

Ländern und nicht zuletzt auch in der DDR Ende der achtziger Jahre liefert zugleich deutliche

Belege dafür, was bürgergesellschaftliches Engagement politisch bewirken kann.

Obwohl die Ausgangsbedingungen sehr unterschiedlich waren und die Erfahrungen aus den

osteuropäischen Ländern nicht einfach übertragen werden konnten, hat die Wiederentdeckung

der Bürgergesellschaft bald auch die sozialwissenschaftliche und gesellschaftspolitische De-

batte beeinflusst. Zum einen steht sie für die Vision einer aktiven Gesellschaft, in der ein gro-

ßer Teil der Bevölkerung politisch aktiv ist, Mitverantwortung übernimmt und Solidarität

praktiziert. In dieser, stark normativen Ausformung bestehen auch Analogien zu den in den

USA entstandenen Ideen des Kommunitarismus. Dieser sieht die individuellen Rechte und

sozialen Verpflichtungen in den westlichen Gesellschaften aus dem Gleichgewicht geraten

und hält es für dringend erforderlich, dass die Bürger mehr Gemeinsinn entwickeln und Ver-

antwortung für die Gemeinschaft übernehmen.13

12 Tilman Evers: Bürgergesellschaft – Ideengeschichtliche Irritationen eines Sympathiebegriffes, in: Stiftung

MITARBEIT (Hrsg.): Rundbrief Bürgerbeteiligung, (1999) Heft 1, auch unter www.reformwerkstatt-ruhr.de/evers.html.

13Siehe Deutsches Kommunitarier-Netzwerk, (www.dekomnetz.de), ferner Forschungsjournal Neue Soziale Be-wegungen, 8 (1995) 3 mit detaillierten Ausblicken zu unterschiedlichen Bürgergesellschaftsmodellen der bun-

Page 7: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

6

Zum anderen wird der Begriff der Bürgergesellschaft gerade in Deutschland auch als Sam-

melbegriff für das gesellschaftliche Engagement verwendet. „Die Bürgergesellschaft lebt!“

war 1999 beispielsweise das Motto einer von der THEODOR-HEUSS-STIFTUNG und der

Stiftung MITARBEIT angestoßenen bundesweiten Kampagne anlässlich des 50. Jahrestages

der Verabschiedung des Grundgesetzes. Mit ihr sollte das bürgerschaftliche Engagement stär-

ker in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt werden. In diesem Sprachgebrauch hat der

Begriff Affinitäten zu Begriffen wie Aktiv-Bürgerschaft, Nicht-Regierungsorganisationen oder

Non-Profit-Organisationen sowie teilweise auch zum Begriff Dritter Sektor. Beide Begriffs-

deutungen – die eher „visionäre“ und die eher „empirische“ – sind für jeden verständlich, der

zustimmt, dass es Bürgergesellschaft bereits gibt, sich aber andererseits als Vision wünscht,

dass ihre Rolle und Bedeutung zukünftig noch wesentlich gestärkt wird. Gemeinsam ist beiden

Vorstellungen, und damit schließt sich auch der Kreis zu den Anfängen bei Ferguson u.a., dass

Bürgergesellschaft auf bestimmten Grundhaltungen beruht. Diese lassen sich mit den Begrif-

fen und sozial wirksamen Tugenden wie Bürgersinn, Zivilcourage oder Solidarität benennen.

desdeutschen Parteien; Walter Reese-Schäfer: Kommunitarische Politik in Deutschland – Ein Überblick, in:Politische Studien, 50 (1999) 363, S. 33-45,; Ders.: Kommunitarisches Denken – Ein angelsächsischer Sonder-weg oder auch für uns eine hilfreiche Antwort auf Globalisierungserscheinungen?, in: Politische Studien, 50(1999) Sonderheft 1: Neue Bürger- und Sozialkultur – Vision oder Utopie?, S. 55-61.

Page 8: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

7

2. Die Bürgergesellschaftsdebatte in der SPD

Der erwähnte Aufsatz Gerhard Schröders markiert den Versuch der deutschen Sozialdemo-

kratie, ihr Regierungshandeln in der Legislaturperiode 1998 bis 2002 theoretisch mit einem

auf deutsche Verhältnisse zugeschnittenen Bürgergesellschaftskonzept zu unterfüttern und ihm

damit nachträglich innere Legitimation zu verleihen.14 Dieses Ziel der aktuellen Programmde-

batte betont auch die SPD-Programmkommission in ihrem Zwischenbericht: „Es muss ein

Programm sein, das unsere Regierungspolitik einbettet in die langfristigen Perspektiven unse-

rer Politik.“15

2.1 Der Zwischenbericht für ein neues Grundsatzprogramm

Im Kern geht es demnach „um eine den heutigen Realitäten angepasste Neukonzeption des

Dritten Weges (Tony Blair) beziehungsweise der Neuen Mitte (Gerhard Schröder).16 Dieser

Prozess wurde mit dem Blair-Schröder-Papier „Der Weg nach vorn“ von Juni 1999 eingeleitet

und dann in der Bundesrepublik mit Schröders Aufsatz „Zivile Bürgergesellschaft“ fortgesetzt.

Flankiert wird er von der Arbeit der Enquetekommission Zukunft des Bürgerschaftlichen En-

gagements und den vielfältigen Aktionen im Internationalen Jahr der Freiwilligen 2001. Sei-

ne logische Ergänzung findet er in der SPD-internen Arbeitsgruppe „Netzwerk 2010“17 und in

der 1999 eingesetzten Programmkommission für ein neues SPD-Grundsatzprogramm.

Die vom SPD-Präsidium eingesetzte Programmkommission unter Leitung Rudolf Scharpings

strebt ein pragmatisches Programm an, das nach innen einen Orientierungsrahmen mit Wie-

dererkennungswert für Parteimitglieder bietet und nach außen das derzeit desolate Erschei-

nungsbild der rot-grünen Bundesregierung inhaltlich fundieren soll. Immerhin ist die SPD die

bislang einzige Partei, welche die veränderten Verhältnisse nach der deutschen Wiedervereini-

14 Vgl. Gerd Mielke: Sozialdemokratie und Bürgergesellschaft, in: Blätter für deutsche und internationale Politik,

46 (2001) 6, S. 701-710, hier 701 (in der Folge: Mielke). Mielke ist Leiter der Abteilung „Grundsatzfragen“in der Mainzer Staatskanzlei.

15 Vgl. Zwischenbericht, S. 6.16 Vgl. Heinrich Oberreuther/Uwe Kranenpohl/Günter Olzog/Hans J. Liese: Die politischen Parteien in der Bun-

desrepublik Deutschland: Geschichte-Programmatik-Organisation-Personen-Finanzen, 26., überarbeitete Auf-lage. – München: Olzog, 2000, S. 179, ferner zu Begriff, Begriffsgeschichte sowie zur Übernahme des Beg-riffs durch die neuere Sozialdemokratie den Beitrag von Roland Sturm: Der Dritte Weg – Königsweg zwi-schen allen Ideologien oder selbst unter Ideologieverdacht?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 16-17/2001,S. 3-5.

17 Das „Netzwerk 2010“ ist eine Gruppe junger, pragmatischer SPD-Nachwuchspolitiker, die mit dem erklärtenZiel angetreten sind, den Generationenwechsel innerhalb der SPD inhaltlich und strukturell zu gestalten, diePartei also programmatisch wie personell auf die Zeit nach Schröder vorzubereiten.

Page 9: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

8

gung und der Wende in Ost-Mitteleuropa bislang programmatisch nicht berücksichtigt hat.

Das bis heute geltende Berliner Programm von Dezember 1989 „stammt noch aus west-

deutschen Oppositionstagen“.18 Die Wiedervereinigung und ihre politisch-soziale sowie wirt-

schaftliche Gestaltung hat dieses Parteiprogramm überholt und die Prioritätensetzung verän-

dert. So „entstand die einigermaßen paradoxe Situation, dass die SPD als klassische Arbeit-

nehmerpartei zu den Kernfragen in den fünf neuen Ländern – Fragen, die sich um die Erwirt-

schaftung und Verteilung von Wohlstand drehen – wenig Originäres beizutragen hatte.“19

Im November 2001 wurde auf dem Nürnberger SPD-Bundesparteitag ein Zwischenbericht der

Programmkommission vorgelegt, der jedoch nur eine programmatische Momentaufnahme der

SPD auf dem Weg ins 21. Jahrhundert ist. Die Novellierung des Parteiprogramms ist bislang

für Ende 2003 geplant, kann jedoch nach Ansicht des neuen SPD-Generalsekretärs Olav

Scholz in einer Partei mit 700.000-Mitgliedern erst zur Jahreswende 2004/2005 realistisch

abgeschlossen werden, „zumal sich die SPD erstmals in ihrer Geschichte erneuere, während

sie regiert“20. Unklar bleibt, ob es der SPD gelingt, die zweijährige Zwischenzeit beispielswei-

se mit einem griffigen Thesenpapier zu überbrücken, das klare Ziele für das Regierungshan-

deln beschreibt und damit Orientierung gibt. Damit formuliert Olav Scholz, selbst Mitglied der

Programmkommission und Mitgründer von Netzwerk 2010, den bisherigen Schwachpunkt der

SPD als Regierungspartei.

Im Unterschied zu anderen Partei in Deutschland definiert sich die SPD im Wesentlichen als

straff organisierte, zentralisierte Partei. Charakteristisch ist ihre Ausrichtung auf den Staat und

seine Interventionsmechanismen. Historisch begründet sie diese staatszentrierte Positionierung

mit den negativen Erfahrungen, die Bürger in der Vergangenheit mit dem freien Spiel der ge-

sellschaftlichen und ökonomischen Kräfte gemacht haben. Dieses traumatische Erlebnis von 18 Wulf Schmiese: Unter Zeitdruck auf Sinnsuche. Die SPD braucht ein neues Programm. Scharping sieht sich als

Vordenker, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung – 24. November 2002 (Kurztitel: Schmiese). DerSPD-Bundestagsabgeordnete Hans Peter Bartels bezeichnet das Berliner Programm von 1989 treffend als „so-zialdemokratisches Schlussdokument der alten westdeutschen Bundesrepublik“, das auf die neuen drängendenFragen der Individualisierung, Demographie und Globalisierung keine passenden Antworten wisse. Vgl. Hans-Peter Bertels: Der SPD fehlt ein Programm, in: Die Welt – 18. Dezember 2002. – Der ehemalige SPD-Vorsitzende Hans Jochen Vogel hat die Entwicklung der SPD seit dem Godesberger Programm von 1959skizziert und die Themenschwerpunkte des Berliner Programms in Heft 2/1989 des sozialdemokratischen Mit-gliedermagazins Vorwärts, S. 3 bewertet: „Nicht zuletzt als Ergebnis von schwierigen Lernprozessen habensich unsere Einsichten und Erkenntnisse in den letzten 30 Jahren unter anderem gewandelt hinsichtlich derBedeutung des Rüstungswettlaufes, der Nutzung der Atomkraft, der Möglichkeit und Wünschbarkeit eines un-kontrollierten technischen Entwicklungsprozesses und eines unbegrenzten ökonomischen Wachstums, derWirksamkeit nationaler Steuerungsinstrumente, des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur und der Dring-lichkeit der Gleichstellung der Geschlechter.“

19 Hermann Schmitt: Die Sozialdemokratische Partei, in: Alf Mintzel/Heinrich Oberreuther (Hrsg.): Parteien inDeutschland (Schriftenreihe Studien zur Geschichte und Politik, Bd. 282) – Bonn: Budrich und Leske, 1992,S. 150.

Page 10: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

9

vielfältiger (Chancen)ungleichheit ist dabei die eine, das tiefe Unbehagen gegenüber dem

selbsttätigen und eigenverantwortlichen Bürger die andere Seite ein und derselben Medaille.

Zwiespältig ist daher das Verhältnis der SPD zum Bürgergesellschaftsmodell als freiwilliges,

gemeinwohlorientiertes und weitgehend unentgeltliches Engagement von Bürgern, die einzeln

oder gemeinsam mit anderen Bürgern soziale, ökonomische oder politische Verantwortung

übernehmen. Typisch für diese Haltung ist auch der beständige Pendelschlag: einerseits der

historisch und empirisch begründete Argwohn gegenüber dem Projekt Bürgergesellschaft und

dem aktiven Bürger und andererseits die unter der Devise von Solidarität und demokratischer

Mitwirkung angestrebte Veränderung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Typisch für die

zögerliche Annäherung der SPD an die Bürgerschaftsidee und den Aktiv-Bürger ist daher auch

die Antwort der Bundestagsabgeordneten Karin Kortmann, Mitglied der Enquete-Kommission

Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements auf die Frage, wie sich die SPD künftig das

Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Bürgergesellschaft vorstelle und welche Rolle der enga-

gierte Bürger in der Gesellschaft einnehme: „Die Politik braucht das Engagement der Zivilge-

sellschaft, auch wenn es oft unbequem ist.“21

Gleichwohl bieten zurzeit die drei dem Bürgergesellschaftsmodell immanenten Kritikpunkte

der Eliten-, Staats- und Institutionenkritik hinreichend Anknüpfungspunkte für Teile sozial-

demokratisches Politik- und Selbstverständnis. Erkennbare Nähe zu sozialdemokratischen

Denktraditionen findet sich auch im gemeinschafts- und gemeinwohlbezogenen Menschen-

bild, das gleichermaßen Repräsentanten der Bürgergesellschaftsidee und der Sozialdemokratie

miteinander verbindet. Dies schlägt sich deutlich in dem sozialdemokratischen Verständnis der

Grundwerten Solidarität und Gerechtigkeit nieder.

Bemerkenswert ist, dies hat sich bereits im SPD-Programm von Berlin (1989) angedeutet und

wird im vorliegenden Zwischenbericht durchgehalten, wie die Grundwerte Solidarität und Ge-

rechtigkeit aktuellen Erfordernissen angepasst werden. So wird aus der Verteilungsgerechtig-

keit eine Beteiligungsgerechtigkeit, die wiederum mit Chancengerechtigkeit und Chancen-

gleichheit übersetzt wird. Diese „zielt über die Gleichheit der Startchancen hinaus auf die

Gleichheit der grundlegenden Lebenschancen für alle Menschen“.22 Eng damit verbunden

wird „Solidarität“ gedeutet „als die Bereitschaft, über die Rechtsverpflichtungen hinaus für- 20 Schmiese, ebd.21 Positionen der Parteien zur Förderung bürgerschaftlichen Engagements, in: Aktive Bürgerschaft e.V. aktuell.

Der Verein Aktive Bürgerschaft informiert. – Heft 3/2002, S. 4.22 Vgl. Zwischenbericht Wegmarken für ein neues Grundsatzprogramm. Sozialdemokratische Vorstellungen zur

nachhaltigen Gestaltung der globalen Epoche der SPD-Grundsatzkommission vom 19.-22. November 2001,

Page 11: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

10

einander einzustehen. Sie bezieht sich dabei nicht nur auf den „Zusammenhalt der Schwachen

und Benachteiligten „, sondern in besonderer Weise auch auf „die Verantwortung der Starken

für die Entwicklung der ganzen Gesellschaft.“23

Vor dem Hintergrund wachsender Globalisierung wird das Leitthema Chancengerechtigkeit

und Chancengleichheit systematisch auf wesentliche Politikfelder übertragen: Gestaltung der

Globalisierung erfolgt unter anderem durch:

• Ein Netzwerk von „demokratisch verfassten Rechtsstaaten und ihre Zivilgesellschaften“

nach Art einer „subsidiären und föderalen Weltrepublik ... mit eigenständig legitimierten

und handlungsfähigen Institutionen staatsähnlichen Zuschnitts“. Dabei sollte die ange-

strebte „gerechtere Weltordnungspolitik ... zu folgenden Bereichen Regelungen umfas-

sen: Weltsozialordnung und Umwelt, Welthandel und internationaler Wettbewerb, Welt-

währungssystem und Finanzen.“24

• Auf der Agenda steht ebenso die gleichrangig bewertete Vollendung der europäischen

und deutschen Einigung. Zielperspektive ist für die SPD, die sich aus ihrem traditionsrei-

chen Kampf für Freiheit und soziale Gerechtigkeit als „Partei der inneren Einheit“ ver-

steht, die Schaffung „gleicher Lebenschancen für die Bürgerinnen und Bürger in Deutsch-

land“. Elemente dieses Modells Europa mit „vorbildhaften Standards für eine soziale und

umweltverträgliche Entwicklung“ sind „die Kombination aus materieller Lebensqualität,

aus demokratischer Partizipation, aus sozialer Absicherung und Chancen zur Bildung als

Voraussetzung für persönliche Entfaltung“.25 Generell räumt die SPD dem Politikfeld

„Bildung“ mit Blick auf eine nachhaltige Sicherung von Zukunftschancen in Arbeit und

Wirtschaft eine großen Stellenwert ein.

• Sparsamer Umweltverbrauch inklusive einer Verkehrspolitik mit Augenmaß sowie res-

sourcenschonende Energienutzung mit der Förderung erneuerbarer Energieträger werden

als Markenzeichen sozialdemokratischen Traditions- und Selbstverständnisses gedeutet.26

• Besondere Priorität erhält der zeitgemäße Umbau der Sozialsysteme inklusive des Poli-

tikfeldes „Gesundheit“.27

S. 9 (Kapitel 3. Grundwerte und Menschenbild). Zum sozialdemokratischen Selbstverständnis und zur Grund-wertedebatte vgl. auch Mielke, S. 705.

23 Zwischenbericht, S. 9.24 Ebd., S. 10-12.25 Ebd., S. 12-15.26 Ebd., S. 16.

Page 12: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

11

• Bildung und Qualifikation unter dem Vorzeichen lebenslangen Lernens sind für die SPD

Garanten für nachhaltige Sicherung von Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit.28 In

diesem Kontext wird der Terminus Nachhaltigkeit als „wesentlicher Teil einer zeitgemä-

ßen Interpretation „unserer Grundwerte insbesondere von „Gerechtigkeit“ und „Solidari-

tät“ verstanden.29

• Ausgehend vom umfassenden Arbeitsbegriff des Berliner Programms (Erwerbsarbeit, Fa-

milienarbeit, gesellschaftliche Arbeit) strebt die SPD-Grundsatzkommission einen zu-

kunftsfähigen Umbau der Arbeitswelt an. Neu ist dabei die ausdrückliche Zustimmung

zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes mit neuen Beschäftigungsformen (Teilzeit, Leih-

arbeit, Zeitarbeitsagenturen, Kombilohnmodelle, Niedriglohnsektor). Auf sozialdemokrati-

sche Traditionen kann sich dagegen berufen das Bekenntnis zum Erhalt von betrieblicher

Mitbestimmung und Flächentarifverträgen, zur gewerkschaftlichen Interessenvertretung

der Arbeitnehmer, Benachteiligtenförderung und Garantie für soziale Mindeststandards.30

• Unter dem Einfluss der von Willy Brandt ausgegebenen Losung Mehr Demokratie wagen

betont die SPD-Programmkommission besonders die Möglichkeiten und Chancen demo-

kratischer Partizipationsrechte. Im Unterschied zur CDU möchte sie – über die in den

Länder- und Kommunalverfassungen verankerten Rechte hinaus – auch „den Ausbau der

Beteiligungsrechte auf Bundesebene“31, besonders durch Volksbegehren und Volksent-

scheid, durchsetzen. Bereits im Vorfeld des Nürnberger Bundesparteitags hatte der SPD-

Parteivorstand im Frühjahr 2001 einen unter Hertha Däubler-Gmelin erarbeiteten Be-

schluss verabschiedet32, „um die Beteiligungsrechte der Bürger an wichtigen Sachent-

scheidungen mit Elementen der direkten Demokratie zu stärken.33

27 Ebd., S. 17.28 Ebd. u. S. 18f.29 Ebd., S. 15.30 Ebd., S. 20f. Trotz des zunehmenden internationalem Wettbewerbsdruck hält die SPD in ihrer Programmatik

weiterhin am arbeitsmarktpolitischen Ziel der „Vollbeschäftigung“ fest. So hält der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Franz Müntefering, zwar, stellvertretend für die SPD-Führung, noch daran fest, dass es mitder SPD eine „totale Individualisierung nicht geben“ werde und sie „am Kern des Kündigungsschutzes nichtsändern“ wolle. Dennoch soll der Kündigungsschutz „reformiert“, also behutsam gelockert werden. Auch dieVorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Michael Sommer, und der DienstleistungsgewerkschaftVer.di, Frank Bsirske, signalisieren Bereitschaft, über eine Neugestaltung der Kündigungsschutzregelungen zureden. Vgl. hierzu tagesschau-Newsletter vom 25.02.2003.

31 Zwischenbericht, S. 22.32 Vgl. SPD-Präsidiumsbeschluss Ausbau der Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger auf Bundesebene

unter http://archiv.spd.de/events/demokratie/beschluss.html. Vgl. zur CDU-Positionierung zu direktdemokrati-schen Elementen Abschnitt 3.2 der vorliegenden Studie, S. 21f.

33 Zwischenbericht, S. 22.

Page 13: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

12

2.2 Weitere Bereiche der Bürgergesellschaftsthematik

Neben den zentralen Politikfeldern, in denen Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit

realisiert werden sollen, strebt die Sozialdemokratie auch eine Stärkung dieses Prinzips in den

„kleinen Einheiten“ an.

2.2.1 Die Familie als „kleine Einheit“

Unter der Zielperspektive der Chancengleichheit von Mann und Frau in Gesellschaft und Beruf

analysiert der Zwischenbericht knapp die Familiensituation in Deutschland. Dabei gibt er eine

Zielperspektive vor, die mit dem 4-Milliarden-Programm für Ganztageseinrichtungen konse-

quent im Regierungsprogramm für die Legislaturperiode 2002-2006 unter der Federführung

von Bildungsministerin Edelgard Bulmahn umgesetzt werden soll: „Wir möchten, dass Kinder

in allen Bereichen der Gesellschaft einen Platz haben. Dazu muss die Gesellschaft kinder-

freundlicher werden und verlässliche und qualifizierte Betreuungs- bzw. Bildungseinrichtungen

für alle Altersstufen bereitstellen. Politik und Wirtschaft müssen sich gemeinsam um flächen-

deckende Ganztagsbetreuungsangebote kümmern. Ziel ist eine deutlich verbesserte Möglich-

keit der Kombination von Elternschaft und Berufstätigkeit. Die herkömmliche Zeit- und Orga-

nisationsstrukturen sind nicht geeignet, einen Alltag mit Kindern und Berufstätigkeit zu bewäl-

tigen und gleiche Chancen beim Erreichen beruflicher Ziele zu gewährleisten.“34

Wenn auch diese Zustandsbeschreibung zutreffend ist, überzeugt das Lösungsangebot nur in

Teilen. Dass die SPD mit der Vorgabe nachhaltiger und professioneller Bildung und Betreuung

ihr Bild vom Fürsorgestaat konkret umsetzen will, ist die eine Seite. Und das 4-Milliarden-

Programm für Ganztageseinrichtungen der SPD-geführten Bundesregierung belegt diese ernst-

hafte Unterstützungsleistung für Familien in Zeiten knapper Finanzen glaubhaft. Dass die SPD

aber mit einem „flächendeckenden Ganztagesbetreuungsangebot“ zunehmend auch den grund-

gesetzlich verankerten Erziehungsauftrag der Eltern für ihre Kinder – auch zeitlich ausgedehnt

– auf staatliche Einrichtungen verlagert, ist die andere Seite. Diese Zentralisierung von Erzie-

hung und Bildung geht weit über eine subsidiäre Unterstützung der „kleinen Einheit“ Familie

hinaus und hat ihre Wurzeln in klassisch-sozialdemokratischem Denken.

Der Zwischenbericht (2001) baut auf dem Berliner Programms (1989) auf, in dem die famili-

enpolitischen Grundsätze der SPD ausführlich beschrieben sind. Auffällig ist der argumentative

34 Zwischenbericht, S. 18. Ob das 4-MilliardenProgramm Verlässlichkeit und Qualifikation des bundesweiten

Betreuungsangebots garantieren kann, ist fraglich. Bei den betroffenen berufstätigen Eltern fände ein reinesVerwahrangebot, gleichgültig welcher Wählerklientel sie zugeordnet werden müssen, keine Zustimmung.

Page 14: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

13

Spagat zwischen Ehe und Familie und anderen „Lebens- und Beziehungsformen“, die „den

Wandel der Gesellschaft spiegeln“. Zwar stehen Ehe und Familie „unter dem besonderem

Schutz des Grundgesetzes“, doch haben „alle auf Dauer angelegte ... Formen von Bindungen ...

Anspruch auf Schutz und Rechtssicherheit. Keine darf diskriminiert werden, auch die gleichge-

schlechtliche nicht.“ 35 Damit ist faktisch die Gleichbewertung der Familie als Verantwortungs-

gemeinschaft und „kleinste gesellschaftliche Keimzelle“ mit anderen Formen menschlichen

Zusammenlebens noch keineswegs vollzogen, aber sie wird rechtlich vorbereitet.

Integrative Bestandteile des SPD-Familienbildes sind die Generationengerechtigkeit als gegen-

seitige Verantwortung der jungen und älteren Generation sowie die Fürsorge für Kranke und

Behinderte, die durch „neue Wohnformen und dezentrale soziale Dienste“ staatlich flankiert

werden soll, „um Familienarbeit aus ihrer Isolierung zu lösen“.36

Konkrete Forderungen der Familienförderung werden lapidar im Berliner Programm aufge-

zählt: „ein Gleichstellungsgesetz, ein Ende der Lohndiskriminierung, Förderpläne für Frauen

im Beruf, Gleichstellung im Sozialversicherungs- und Beamtenrecht durch eigenständige An-

sprüche und Hilfen zur Wiedereingliederung in den Beruf. Mutterschutz, Ausfallzeiten für

Elternurlaub und Krankenpflege müssen über einen Familienlastenausgleich finanziert wer-

den, damit nicht Sonderlasten für Einzelbetriebe zum Arbeitsplatzrisiko für Frauen werden.

Öffentliche Finanzhilfen und Aufträge müssen davon abhängig gemacht werden, dass Gleich-

stellung verwirklicht wird.“37 Das lässt nur einen Schluss zu: Familienförderung erfolgt auf

staatliches Einwirken hin.

2.2.2 Die Kommune als „kleine Einheit“

Der Zwischenbericht enthält mit Blick auf das ausführlichere Bekenntnis zum Föderalismus im

Berliner Programm38 nur eine knappe Beschreibung der Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips

35 Ebd., S. 22. Der auf dem Nürnberger SPD-Parteitag parallel vorgelegte Bericht der Arbeitsgruppe „Individuali-

sierung, gesellschaftlicher Zusammenhalt und soziale Sicherung“ beschreibt die Familie im Spannungsfeld vonIndividualisierung, Globalisierung und veränderten Erwerbsbiographien ausführlicher und positiver: „Familiehat in der Hierarchie der Werte eine ganz herausragende Bedeutung. ... Familie ist die erste Instanz für Soziali-sation und Erziehung, in der Persönlichkeits- und Charakterbildung gefördert werden. In Familien bildet sich dieFähigkeit von Menschen heran, soziale Bindungen einzugehen, solidarisch zu handeln und dadurch zum Zu-sammenhalt der Gesellschaft beizutragen.“ (Zwischenbericht, S. 63)

36 Berliner Programm, S. 21f.37 Ebd. S. 21.38 Zwischenbericht, S. 86ff., hier S. 88. Im Berliner Programm heißt es auf S. 49: „Der Föderalismus hat sich

bewährt. Er begrenzt staatliche Macht, fördert Bürgernähe und regionale Vielfalt. Bund, Länder und Gemeindenmüssen in ihrer verfassungsrechtlichen und finanziellen Handlungsfreiheit gesichert bleiben. Der Föderalismus

Page 15: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

14

auf dem Weg zu einer aktiven Bürgergesellschaft: „Das Prinzip der Subsidiarität, des Vorrangs

der kleineren Einheit vor der großen, kann Macht begrenzen, Teilhabe verbessern und Verant-

wortlichkeit stärken.“39 Diese Aufgabe erfüllt der aktivierende Staat, der – konsequent auf die

sozialdemokratischen Grundwerte gestützt – „Verteilungs- und Teilhabegerechtigkeit garan-

tiert“.40 Wie das Ziel des aktivierenden Staates in einer Bürgergesellschaft verwirklicht werden

soll, beschreibt der Bericht der Arbeitsgruppe Demokratie und Partizipation am Beispiel der

Kommune. Diese „soll sich zu einer Dienstleistungskommune entwickeln, ..., und zu einer

Bürgerkommune durch den Ausbau partizipativer Demokratie und bürgerschaftlicher Selbst-

verwaltung“.41 Die Ausführungen stützen sich dabei überwiegend auf das Berliner Grundsatz-

programm, zu dessen „Grundaussagen kein Aktualisierungs-, sondern lediglich Ergänzungsbe-

darf“ bestehe.

Angestrebt wird die Stärkung der „kommunalen Selbstverwaltung ... unter politischer Führung

und Kontrolle einer modernen Verwaltung“. Finanzzuweisungen sollen dabei nach Art und

Umfang der den Kommunen übertragenen Aufgaben erfolgen. Lapidar heißt es dazu im Berli-

ner Programm: „Die Entwicklung der öffentlichen Einnahmen muss der Aufgabenentwicklung

folgen – auch in ihrer Verteilung auf die Gebietskörperschaften. Deshalb lehnen wir Aufgaben-

zuweisungen an die Kommunen ohne entsprechende Finanzierungsregelungen (= Umsetzung

des Konnexitätsprinzips) ab.“ Kommunale Entscheidungsfähigkeit, so die Argumentation,

beinhalte weiter „eigenständige kommunale Steuern“, eine Erweiterung des „verfassungsrecht-

lichen Handlungsspielraums der Kommunen“ sowie die gesetzliche Garantie von „Mitbestim-

mungsmöglichkeiten bei Entscheidungen, die sie (also die Kommunen) betreffen.“42

muss Gestaltungsprinzip auch für die Europäische Gemeinschaft werden.“ Bemerkenswert für die aktuelle Föde-ralismusdebatte und die föderalen Kompetenzzuweisungen zwischen europäischer und Staatenebene (Bund) istunter anderem der Hinweis des Berliner Programms auf „die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Regio-nen der einzelnen Nationalstaaten“. Gerade die „gewachsenen Traditionen dieser Nationalstaaten“ können „fürzukunftsweisendes Handeln fruchtbar gemacht werden.“ Das Berliner Programm bietet eine tragfähige Grundla-ge für eine parteiübergreifende Verständigung.

39 Ebd., S. 22.40 Ebd., S. 87f.41 Ebd., S. 88. Bürgerschaftliche Selbstverwaltung meint auch bürgerschaftliches Engagement und staatlicher-

seits förderliche Rahmenbedingungen für das Engagement des Aktivbürgers. Dies soll an dieser Stelle nicht wei-ter behandelt werden. Eine aufschlussreiche, neuere Standortbestimmung der SPD zu den eigenen Motiven undWegen der Förderung des aktiven Bürgers durch den „ermöglichenden“ oder „aktivierenden Staat“ enthält derAbschlussbericht der Enquete-Kommission Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements. Vgl. Enquete-Kom-mission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ des Deutschen Bundestages. (Hrsg.): Bericht Bürger-schaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft. Bd. 4: Leske + Budrich,Opladen, 2002, S. 129-138.

42 Berliner Programm. S. 49.

Page 16: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

15

Auf der Agenda steht auch die Reform des Berufsbeamtentums, das nur auf hoheitliche Auf-

gaben in den Bereichen „Innere Sicherheit und Ordnung sowie die Finanz- und Justizverwal-

tung“ beschränkt werden soll.43

Für die Umsetzung des Leitbildes von Subsidiarität und „kommunaler Selbstverwaltung“ wird

auf das Programm der SPD-geführten Bundesregierung Moderner Staat, Moderne Verwaltung

hingewiesen44. Die Eckpunkte dieses Beschlusses sind bereits kurz in Absatz 19 des SPD-

Regierungsprogramm für die Legislaturperiode 2002-2006 zusammengefasst.45 Danach stehen

unter dem „Leitbild des aktivierenden Staates“ folgende Maßnahmen auf der Agenda, um

staatliches Handeln transparenter zu machen und die Eigenverantwortung des Bürgers zu stär-

ken: „Bürokratieabbau, modernes Management, Wettbewerb zwischen den Behörden, größere

Eigenverantwortung, betriebswirtschaftliche Kosten- und Leistungsrechnung, effizienterer

Personaleinsatz.“ Danach sollen „internetfähige Dienstleistungen der Bundesverwaltung onli-

ne zur Verfügung gestellt werden.“ Ferner soll ein modernes Dienstrecht mit Leistungsbezah-

lung und modernem Personalmanagement ausgebaut werden. Der bewährte „deutsche Födera-

lismus“ sollte – auch im Zuge der fortschreitenden europäischen Integration“ – fortgeführt und

die „Verantwortlichkeiten für Entscheidungen“ unter anderem durch die Entflechtung von

„Gemeinschaftsaufgaben und Mischfinanzierungen“ sollen für den Bürger durchschaubarer

werden. Überdies sollen Recht und Justiz inklusive der Juristenausbildung weiter modernisiert

werden. All dies dient der Stärkung der Eigenverantwortung des Bürgers.

Die beschriebene Agenda soll in der Legislaturperiode bis 2006 weiter geführt werden. In

vielen Punkten decken sich Situationsanalyse und angestrebte Maßnahmen von SPD und

CDU. Dies wird auch die eingehende Darstellung der christdemokratischen Positionsbestim-

mungen – am Beispiel des Hamburger Grundsatzprogramms und des Präsidiumspapiers Star-

ke Bürger. Starker Staat – zeigen. Charakteristisch ist jedoch die Neigung der SPD, den Bür-

ger stärker zu führen. Nie kann die SPD dabei gänzlich ihren Argwohn gegenüber dem aktiv

werdenden Bürger und den aktiven „kleinen Einheiten“ wie der Familie, selbständig agieren-

den Institutionen oder der eigenständig operierenden Kommune verleugnen.

43 Zwischenbericht, S. 89.44 Vgl. den von der SPD-geführten Bundesregierung vorgelegten Kabinettsbeschluss vom 1.12.1999 unter

http://www.staat-modern.de/programm/index.html.45 Vgl. unter http://www-extern.spd.de/service/artikeldienst/0003/p1049.htm.

Page 17: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

16

2.3 Ausblick

Welchen programmatischen Weg die SPD nach den herben Stimmenverlusten bei den Bundes-

tagswahlen vom 22. September 2002 und bei den Landtagswahlen vom 2. Februar 2003 in

Hessen und Niedersachsen einschlagen wird, bleibt abzuwarten. Spannend ist die Frage, ob es

der SPD gelingt, Wählerschichten an sich zu binden, die der PDS nahe stehen. Hierzu bedarf

es flankierend einer zeitgemäßen Justierung ihres Programms. Dabei ist der inhaltliche Spagat

zwischen den Wurzeln einer im Parteienspektrum eher links angesiedelten Arbeiterpartei und

der dauerhaften Positionierung als strategische und thematische Mehrheitspartei in der Mitte

der Wahlbevölkerung eine keineswegs leichte Herausforderung.

Ebenso spannend ist auch die Antwort auf die Frage, ob es der SPD bei der Debatte um ein

neues Bürgergesellschaftskonzept „gar nicht um ein neues von partizipatorischen Impulsen

belebtes Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft (gehe), sondern um eine wirkungs-

volle propagandistische Verbrämung des Abschieds von eigenen wohlfahrtsstaatlichen Tradi-

tionen.“46 So argwöhnt Gerd Mielke aus der SPD-geführten Staatskanzlei in Mainz. Auch dies

muss sich an der praktischen Politik in der laufenden Legislaturperiode bis 2006 zeigen. Kon-

kreter Indikator wird dabei sein, inwieweit die rot-grüne Bundesregierung beispielsweise die

im Abschlussbericht der Enquete-Kommission Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements

vorgelegten Handlungsempfehlungen zur Förderung bürgerschaftlichen Engagements und des

aktiven Bürgers nutzt.

46 Mielke, S. 702.

Page 18: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

17

3. Die Bürgergesellschaftsdebatte in der CDU

Grundlage des CDU-Bürgergesellschaftskonzepts und Voraussetzung sämtlicher seit der deut-

schen Wiedervereinigung vorgelegter CDU-Diskussionspapiere, Beschlüsse und programmati-

scher Aussagen ist das Hamburger Grundsatzprogramm Freiheit in Verantwortung von 1994.

3.1 Das Hamburger Grundsatzprogramm

Mit diesem Programm hat sich die CDU als erste bundesdeutsche Partei ein gesamtdeutsches

Programm gegeben. Es ist nach dreijähriger Arbeit der CDU-Grundsatzkommission, die zu-

nächst von Lothar de Maizière, später von Reinhard Göhner geleitet wurde, den über 1.000

Delegierten des Hamburger Parteitages vorgelegt worden. Das Hamburger Programm steht in

der Tradition der großen CDU-Programme seit dem Ludwigshafener Programm von 1978.

Letzteres war von den beiden thematischen Leitgedanken und Zielperspektiven der Deutschen

und Europäischen Einigung bestimmt worden. Nach dem Erreichen der deutschen Einigung

geht es nunmehr um die politische Ausgestaltung der Deutschen Einheit sowie um die Weiter-

entwicklung des europäischen Einigungsprozesses inklusive der Osterweiterung unter verän-

derten globalen Rahmenbedingungen. Beide Leitgedanken sollen programmatisch für die

Partei nach innen wie für die Bürger nach außen nachvollziehbar bleiben. Die Grundorientie-

rung der CDU als christlich orientierter Volkspartei der Mitte hat sich auch in der Opposition

nach 1998 nicht geändert.

Mit dem Hamburger Grundsatzprogramm steht die Union klar in christdemokratischen Tradi-

tionslinien47 und damit auch der christlichen Gesellschaftslehre. Programmatische Kernele-

mente sind danach auf der Grundlage des christlich-personalen Menschenbildes die Verant-

wortung des Einzelnen und seine Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft (Solidarität).

Diese werden aktuell durch wachsenden Individualismus und gesellschaftsweiten Rückzug ins

Private herausgefordert.48 Das Bekenntnis zur Sozialverpflichtung des Einzelnen und zum

Vorrang der kleinen Einheiten (Familie, Vereine, Kirchen, Parteien, vielfältigen Interessens-

vertretungen etc.) gegenüber staatlichen Eingriffen (Subsidiarität) zieht sich wie ein roter Fa-

47 Vgl. Winfried Becker: Christliche Demokratie, in: Winfried Becker/Günther Buchstab u.a. (Hrsg.): Lexikon

der Christlichen Demokratie in Deutschland – Paderborn: Schöningh, 2002, S. 9-23, besonders S. 15-17.48 Im gemeinwohlorientierten Grundzug liegt die Parallele zum amerikanischen Kommunitarismus.

Page 19: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

18

den durch das Dokument.49 Gleiches gilt auch für das CDU-Präsidiumspapier Starke Bürger.

Starker Staat, das sich unter dem Aspekt Reformen des Föderalismus sehr stark auf die Rolle

von Bürger und Staat konzentriert.

Bemerkenswert ist, wie unterschiedlich sich im Vergleich zur SPD das christlich-personale

Menschenbild und die christliche Soziallehre auf die nahezu gleich lautenden Grundwerte

Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit auswirken. Die Personalität wird bei Anerkennung

menschlicher Grenzen als weitreichende Entscheidungs- und Handlungsfreiheit verstanden50.

Die Freiheit der als Individual- und Sozialnatur beschriebenen Person begründet glei-

chermaßen „Selbstverantwortung und Mitverantwortung“.51 Mitverantwortung ist nichts ande-

res als eine Umschreibung von Solidarität, die sich auf „persönliches Miteinander – in der Fa-

milie, unter Nachbarn und in privaten Gemeinschaften“ im weiteren Sinne, aber auch auf die

Verantwortung „gegenüber künftigen Generationen“, gegenüber der Schöpfung als Lebens-

grundlage und gegenüber der „Völkergemeinschaft“ bezieht. „Dort aber, wo die Kräfte des

einzelnen, von freien Verbänden oder Gruppen überfordert sind, müssen die Gemeinschaft und

der Staat helfen.“ Als Stichwort, welches das Grundsatzprogramm im dritten Kapitel unter

dem Motto „Umbau des Sozialstaats“ ausführlich behandelt, dient das „System der sozialen

Sicherung“.52 Mit dieser „wechselseitigen Verantwortlichkeit“ (Subsidiarität) grenzt sich die

CDU klar „von ungebundenem Individualismus wie vom Kollektivismus“ ab.53 Die unter-

schiedlichen begriffstheoretischen Voraussetzungen wirken sich am deutlichsten bei der Defi-

nition von Gerechtigkeit aus. Denn anders als bei der SPD und auch bei reformpädagogischen

Ansätzen von Bündnis 90/Die Grünen bedeutet Chancengerechtigkeit, „Gleiches gleich und

49 Der für die CDU bestimmende Subsidiaritätsbegriff stützt sich auf die Sozialenzyklika Quadragesimo anno

von Pius XI (1931). Ziffer 79 definiert den Begriff: „Was der einzelne Mensch aus eigener Initiative und mitseinen eigenen Kräften leisten kann, darf ihm nicht abgenommen werden. ... Es ist die Wesensbestimmung je-der Gemeinschaftstätigkeit, den Gemeinschaftsmitgliedern Hilfe zu gewähren (subsidium affere), niemals abersie zu zerschlagen oder aufzusaugen.“

50 Grundsatzprogramm, S. 368f. – Deutlicher noch definiert das CSU-Positionspapier Aktive Bürgergesellschaft.Damit wird Deutschland leistungsfähiger und menschlicher auf S. 7: „Die menschliche Person ist als geistbe-gabtes Individuum nicht einfach Produkt aus Vererbung und Umweltbedingungen, sondern fähig zu Freiheitund eigenverantwortlicher Lebensführung. Sie ist jedoch zugleich in ihrer individuellen Entfaltung auf das Duund auf das Wir angewiesen; sie ist Gemeinschaftswesen. Individualität und Sozialität bedingen einander. Per-sonsein in Gemeinschaft und Gesellschaft ist auf die Erfüllung von Gemeinwohlaufgaben angewiesen und des-halb auch dem Gemeinwohl verpflichtet.“ Und aus der der christlichen Gesellschaftslehre entwickelten Ge-meinwohlverpflichtung wird konsequent gefolgert: „Die Prinzipien der Solidarität und Subsidiarität haben sichaus diesem Menschenbild entwickelt und führen zur Gemeinwohlorientierung des Handelns. Die Solidaritätverpflichtet den Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft und diese für den Einzelnen. Die Subsidiarität bietetRaum zur freien Entfaltung und zu verantwortlichem Handeln.“

51 Ebd., S. 370.52 Ebd., S. 407-409.53 Ebd., S. 371f.

Page 20: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

19

Ungleiches ungleich zu behandeln.“54 Als unterscheidungsscharfes Beispiel dient die Bil-

dungspolitik, die an anderer Stelle näher behandelt wird.

Vor dem Hintergrund zunehmender Globalisierung werden die christdemokratisch interpre-

tierten Grundwerte Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit systematisch auf wesentliche Poli-

tikfelder übertragen:

• Die Vollendung der deutschen und Europäischen Einigung in Kapitel V des Grundsatz-

programms ist eingebettet in die Verantwortung für eine Weltpartnerschaft, die unter ande-

rem auch den engagierten Beitrag zur Friedenssicherung im Sinne einer „Weltinnenpoli-

tik“ fordert. Das Programm belegt das Bewusstsein von der gewachsenen Verantwortung

Deutschlands in der Welt. Die sich daraus für die CDU ergebenden Konsequenzen werden

angesichts der aktuell außenpolitisch verschärften Situation deutlich: die politische Eini-

gung Europas, die historisch gewachsene Partnerschaft mit den USA, die Stabilität in

Mittel-, Ost- und Südosteuropa und die Entwicklung der armen Länder.55

• Konsequent werden Solidarität und Subsidiarität im dritten Kapitel des Hamburger

Grundsatzprogramms auf das Konzept der Ökologischen und Sozialen Marktwirtschaft

angewendet. Diese „hat ihr geistiges Fundament in der zum christlichen Verständnis vom

Menschen gehörenden Idee der verantworteten Freiheit und steht im Gegensatz zu sozia-

listischer Planwirtschaft und unkontrollierten Wirtschaftsformen liberalistischer Prä-

gung“.56 Das Hauptbetätigungsfeld liegt dabei auf der Reform der Sozialversicherungs-

systeme (Renten- und Krankenversicherung) mit den Schwerpunkten Eigenvorsorge, Ei-

genverantwortung und Selbstbeteiligung – ganz im Sinne des eigenverantwortlichen Bür-

gers des CDU-Bürgergesellschaftsmodells.57

• Integratives Element des Konzeptes der Sozialen Marktwirtschaft ist die Ökologie, die

unter Formel „Bewahrung der Schöpfung“58 nicht nur auf die christdemokratischen Wur-

zeln und christliche Soziallehre verweist, sondern auch parteiübergreifende Anknüpfungs-

punkte für eine inhaltliche Auseinandersetzung mit programmatischen Grundüberzeugun-

gen von Bündnis 90/Die Grünen bietet. Ganz im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft sollen

54 Ebd. S. 372f.55 Ebd., S. 423-432.56 Ebd., S. 392.57 Vorschläge zur Stabilisierung des Standorts Deutschland hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit der Erklä-

rung „Deutschland steht am Scheideweg – Drei- Stufen-Plan für eine nationale Kraftanstrengung“ vom 10. Feb-ruar 2003 vorgelegt. Vgl. hierzu www.cducsu.de/upload/fvs030210.pdf.

58 Ebd., S. 432-439.

Page 21: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

20

weniger ordnungspolitische Maßnahmen des Staates wie „gesetzliche Ge- und Verbote,

Grenzwerte, Auflagen und Genehmigungserfordernisse“, sondern vielmehr „marktwirt-

schaftliche Anreize ... im Steuerrecht, Umweltabgaben, Kompensationsmöglichkeiten,

Zertifikats- und Haftungsregelungen“ zu einem ressourcenschonenden Umweltgebrauch

von Bürgern und Unternehmen beitragen.59

• Ähnlich dem Zwischenbericht der SPD wird Bildung zwar als Voraussetzung für indivi-

duelle Zukunftschancen in Gesellschaft und Beruf gesehen, doch soll der „offene Zugang

zu den Bildungseinrichtungen“ unter grundsätzlichem Ausgleich nachteiliger Vorbedin-

gungen“ stärker noch als bei der SPD nach Eignung denn nach Neigung erfolgen. Indivi-

duelle Begabungsunterschiede werden somit als natürliche Gegebenheit vorausgesetzt und

bejaht, die einer bedarfs- und begabungsgerechten Förderung bedürfen. Diese positive, in-

haltliche Begründung differenzierter Bildungsgänge60 hat nicht zuletzt im christlich-

personalen Menschenbild der CDU ihre Grundlage. Integrative Elemente des CDU-

Bildungskonzeptes sind gleichermaßen eine arbeitsmarktorientierte Begabten- und Be-

nachteiligtenförderung sowie eine Chancengleichwertigkeit von “praktischen und akade-

mischen Bildungsgängen einschließlich der Aufstiegsfortbildung“61. Auch bei der CDU

wird Bildung unter dem Vorzeichen lebensbegleitenden Lernens gesehen.62

59 Ebd., S. 394f. – Nachhaltige Lösungen im Umweltschutz sind nach Überzeugung der CDU nur international

möglich. So ist auch im 1998er Zukunftsprogramm der CDU konsequent von einer Vernetzung von „Umwelt-schutz, Wirtschaftswachstum und Beschäftigung“ und einer „Harmonisierung der Umweltschutzstandards inEuropa und weltweit“ (S. 30) die Rede. Auch die Mehrbelastung von Energieverbrauch, also eine Form der Ö-kosteuer, kann unter Wettbewerbsgesichtspunkten nur „im europäischen Rahmen“ (S. 64) erfolgen.

60 Vgl. zur Begründung differenzierter Bildungsgänge den Beschluss Erziehung und Ausbildung in unseremfreiheitlichen demokratischen Bildungssystem. Zukunftssicherung durch Leistung, Verantwortung und Ge-meinsinn des 4. Parteitags vom 12. Bis 14. September 1993 in Berlin. Dort heißt es auf S. 13: Die humaneLeistungsschule gliedert sich mit Blick auf unterschiedliche Begabungen und individuelle Leistungsfähigkeit inverschiedene Schularten bzw. Bildungsgänge; sie ermöglicht so die Vielfalt die der Begabung und Neigung ent-sprechenden Leistungsformen des gegliederten Schulsystems.“ Dieser Gedanke einer Förderung nach persönli-chen Voraussetzungen und Eignung wird unter dem Stichwort „Chancengerechtigkeit“ in den Bildungspoliti-schen Leitsätzen der CDU aus dem Jahre 2000 in der Formel „Gesellschaft, in der sich jeder nach seinen indi-viduellen Begabungen und Talenten optimal entfalten kann“ auf S. 7 aufgegriffen. Und im Beschluss Die neueAktualität des christlichen Menschenbildes der CDU-Wertekommission vom 11.12.2001 heißt es präzise aufS. 32f.: „Realismus, das bedeutet ... die Anerkennung der Unterschiedlichkeit des Menschen aus der Einsichtheraus, dass sich deren Gleichheit nicht auf die Begabung, auf die Leistungsfähigkeit und die Neigungen be-zieht und „Chancengerechtigkeit“ nur die Illusion gleicher Ergebnisse suggeriert.“ Die Konsequenz bedeutet fürdie CDU: zum einen das „Bekenntnis zu einem differenzierten und leistungsgerechten Schulwesen, das durch-aus gesellschaftliche Bedürfnisse berücksichtigt, zum anderen das Votum zur Benachteiligtenförderung, dasdurch eine ebenso individuelles Förderung Leistungsreserven mobilisiert und Lernschwächen kompensiert.“Beide Beschlüsse können unter http://www.cdu.de/politik von A bis Z („Beschlüsse) eingesehen werden.

61 Grundsatzprogramm, S. 386.62 Vgl. zur Formel des „lebenslangen Lernens“ den Beschluss Aufbruch in die lernende Gesellschaft. Bildungs-

politische Leitsätze, S. 23f. - Der Staat beschränkt sich unter strenger Wahrung des Subsidiaritätsprinzips imwesentlichen auf die Festlegung von einheitlichen Qualitätsstandards im Weiterbildungsangebot. „Ein regiona-les Netzwerk Weiterbildung“ von Städten, Gemeinden, öffentlichen Bildungseinrichtungen, freien Trägern, pri-vaten Partnern und Unternehmen sollen das Weiterbildungsangebot sichern. Die Standards sollen durch eine

Page 22: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

21

• Ausgehend vom christlich-personal fundierten Arbeitsbegriff der Düsseldorfer Leitsätze

(1949)63, der sich zunächst auf Erwerbsarbeit bezieht, strebt die CDU – ähnlich wie die

SPD – im Hamburger Grundsatzprogramm einen zukunftsfähigen Umbau der Arbeits-

marktes mit dem Ziel der Vollbeschäftigung an. Dieses „wirtschafts- und sozialpolitische

Ziel“ verpflichte gleichermaßen den „Staat durch Schaffung geeigneter Rahmenbedingun-

gen und die Tarifpartner“.64 Die CDU bekennt sich – wie die SPD, wenngleich sehr viel

optimistischer und offensiver – zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes mit neuen Be-

schäftigungsformen (Teilzeit, Leiharbeit, Zeitarbeitsagenturen, Kombilohnmodelle, Nied-

riglohnsektor, Regelungen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf).

Gleichwohl wird der Arbeitsbegriff gegenüber den vorhergehenden Parteiprogrammen

nunmehr auch auf Familienarbeit und jegliche Form gesellschaftlicher Arbeit ausgedehnt.

Wie bei der SPD finden sich das Bekenntnis zum Erhalt von betrieblicher Mitbestimmung

und Flächentarifverträgen, zur gewerkschaftlichen Interessenvertretung der Arbeitnehmer

und Garantie für soziale Mindeststandards.65 Darüber hinaus wird „eine differenziertere

Tarifpolitik in Branchen und Regionen“ ... gefordert, um “im Rahmen von Betriebsverein-

barungen stärker den betrieblichen Besonderheiten und Bedürfnissen Rechnung tragen zu

können (= Öffnungsklauseln, Lockerung des Kündigungsschutzes).“66

• Gemeinwohl bedeutet für die CDU auch demokratische Partizipation des Bürgers am

politischen Entscheidungsprozess. „Eine Weiterentwicklung der demokratischen Beteili-

„unabhängige Stiftung Bildungstest“ durchgesetzt werden. Die griffige Formeln „lebenslanges Lernen“, „Wei-terbildungsnetzwerke und –agenturen“ oder „Stiftung Bildungstest“ sowie die damit verbundenen Konzepte ha-ben inzwischen teils wortgleich in die bildungspolitischen Programme von Bündnis 90/Die Grünen und SPDEingang gefunden.

63 Vgl. Sozialpolitische Leitsätze der Arbeitsgemeinschaft der CDU/CSU, in: Christlich-Demokratische Uni-on/Christlich-Soziale Union: Düsseldorfer Leitsätze über Wirtschaftspolitik – Landwirtschaftspolitik – Sozial-politik – Wohnungsbau. vom 15. Juli 1949, S. 24. Dort heißt es zur Begründung christdemokratischer Forde-rungen nach Arbeit und Vollbeschäftigung: „Die christliche Arbeitsordnung geht von der Würde des Menschenaus. Sie unterscheidet sich von einer Auffassung, die den Menschen nur nach seiner Arbeitskraft wertet. Diemenschliche Arbeit ist keine Ware, sondern sittliche Leistung und Grundlage der körperlichen und seelischenEntfaltung des Menschen.“ – Dies ist gleichzeitig eine deutliche Abgrenzung zum marxistisch beeinflusstenArbeitsbegriff, der auch noch im SPD-Zwischenbericht für ein neues Grundsatzprogramm spürbar ist. Der per-sonale Arbeitsbegriff zieht sich konsequent bis in formelhafte Begründungen des 1998er Zukunftsprogramms,S. 34 („Arbeit bedeutet Selbstwertgefühl und Sozialkontakte, Sinnerfüllung und Lebensperspektive“) und denBeschluss Die neue Aktualität des christlichen Menschenbildes der CDU-Wertekommission von 2001, S. 29,die „insbesondere in der Erwerbsarbeit“ einen Beitrag „zum Selbstvertrauen, zur Selbständigkeit, zur Wert-schätzung und daher zur Personalität und Würde des Einzelnen“ sieht.

64 Grundsatzprogramm, S. 410.65 Ebd., S. 409f.66 Ebd. Detaillierter beschreibt das Diskussionspapier Der faire Sozialstaat der CDU-Präsidiumskommission

Sozialstaat 21 – Arbeit für alle (2000) Modalitäten eines bedarfsgerechten Kündigungsschutzes mit dem Ziel,neue Arbeitsplätze zu schaffen: „Wir wollen die Möglichkeit prüfen, ob im Rahmen eines Optionsmodells Ar-beitgeber und Arbeitnehmer Abfindungsregelungen im Gegenzug für einen Verzicht auf Kündigungsschutzkla-gen vereinbaren können sollten.“ (S. 23). Der Vorschlag wird in der aktuellen Debatte um Lockerung des Kün-

Page 23: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

22

gungsformen“ ist daher nach dem CDU-Diskussionspapier konsequent, wenngleich im

Rahmen der repräsentativen Demokratie. Das Hamburger Grundsatzprogramm Freiheit in

Verantwortung enthält denn auch zunächst ein klares Bekenntnis zur repräsentativen De-

mokratie: „Die repräsentative Demokratie hat sich bewährt und wesentlich zur Stabilität

unseres Gemeinwesens beigetragen. Sie schließt Elemente unmittelbarer Demokratie nicht

aus. Diese können das repräsentative System vor allem auf regionalen Ebenen sinnvoll er-

gänzen. Volksentscheide auf Bundesebene lehnen wir dagegen ab.“67 Hier liegt ein deutli-

cher Unterschied zum Zwischenbericht der SPD.

3.2 Weitere Bereiche der Bürgergesellschaftsthematik

Viel ausgeprägter als die SPD misst die CDU den „kleinen Einheiten“ einen höheren Stellen-

wert zu.

3.2.1 Die Familie als „kleine Einheit“

Wo immer auch die CDU Subsidiarität und „kleine Einheiten“ anspricht, ist zunächst die Fa-

milie als gesellschaftliche Keimzelle und primäre Vermittlungsinstanz von Schlüsselqualifi-

kationen sowie „Tugenden (z.B. Engagement, Disziplin, Fleiß) und Werten (z.B. Freiheit, Ge-

rechtigkeit, Nächstenliebe)“68 gemeint. Diese gilt es, staatlicherseits durch flankierende Maß-

nahmen in ihrer Eigenständigkeit zu fördern.

Ausführlich werden das Familienbild und Familienförderung der CDU im zweiten Kapitel des

Hamburger Grundsatzprogramms behandelt. Die Familie erhält „als Fundament der Gesell-

schaft“ oberste Priorität, auch wenn der Respekt für alternative Lebens- und Erziehungsge-

meinschaften deutlich herausgearbeitet wird.69 Die subsidiäre Flankierung dieser kleinsten

gesellschaftlichen Einheit schlägt sich

digungsschutzes – besonders bei älteren Arbeitnehmern – von der CDU wieder aufgegriffen, zuletzt vom CDA-Vorsitzenden Hermann-Josef Arentz. Vgl. hierzu tagesschau-Newsletter vom 24.02.2003.

67 Grundsatzprogramm S. 416. Das Diskussionspapier der CDU-Präsidiumskommission „Kleine Einheiten“ be-gründet die Beschränkung direktdemokratischer Elemente „auf kommunale wie auf Landesebene“, damit, „dortanzusetzen, wo die Menschen den stärksten Bezug zu ihrem Umfeld erfahren. Dort werden die meisten Ent-scheidungen getroffen, die den Bürger konkret in seinem Lebensbereich betreffen.“ (S. 14). Der Hinweis über-zeugt durchaus mit Blick auf die weitreichenden Handlungskompetenzen von Ländern und Kommunen, die dasUmfeld des Einzelnen unmittelbar beeinflussen. Daher werden „Volksentscheide auf Bundesebene“ abgelehnt.

68 Diskussionspapier, S. 7.69 Grundsatzprogramm, S. 379.

Page 24: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

23

• zum einen in konkreten Vorschlägen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie nieder.

Dazu gehören die „Ausweitung des Elternurlaubs und unbezahlte Freistellungszeiten ...

Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, die Bereitstellung von mehr und flexibleren

Betreuungseinrichtungen für Kinder der verschiedenen Altersgruppen, der Ausbau von

qualifizierten Teilzeitarbeitsplätzen, flexiblere betriebliche und tarifvertragliche Arbeits-

zeitregelungen für Frauen und Männer sowie ein breiteres Aus- und Weiterbildungsange-

bot während der Familienphase, um den beruflichen Wiedereinstieg zu erleichtern.

• Zum anderen steht eine Neustrukturierung des Familienleistungsausgleichs auf der

Agenda. Bausteine des CDU-Leistungskatalogs sind ein „vollständig einkommensabhän-

giges, bedarfsgerechtes und dynamisch anzupassendes Kindergeld sowie ein differenzierte

und sozial ausgewogene Besteuerung des Familieneinkommens unter Berücksichtigung

der Zahl der Familienangehörigen, also eine Entwicklung vom Ehegatten- zum Familien-

splitting. Ferner gehören dazu Erziehungsgeld, Erziehungsurlaub sowie die Anerkennung

von Erziehungs- und Pflegezeiten in der Rentenversicherung. Wesentlicher Bestandteil

des CDU-Familienbilds ist auch die Partnerschaft der Generationen, das unbedingte Ja zur

menschlichen Würde in allen Lebensphasen – der Schutz des ungeborenen Lebens sowie

von Frauen und Kindern in besonderen Lebenslagen, die Integration von Behinderten, ei-

ne wertorientierte plurale Jugendarbeit, die Einbindung der Lebenserfahrung älterer Men-

schen.70

Auf der Grundlage des christlich-personalen Menschenbildes und der darin begründeten

Selbst- und Gemeinschaftsverantwortung konzentriert sich das zweite Kapitel des Grundsatz-

programms auch auf weitere Themenbereiche außerhalb der direkten staatlichen Einwir-

kungsmöglichkeiten: neben der Familie auf Erziehung und Bildung, die als gemeinschafts-

und demokratiefördernde Persönlichkeitsbildung inklusive der Medienerziehung beschrieben

wird, ferner auf die Kirchen und Religionsgemeinschaften mit ihrem werteprägenden Ein-

fluss sowie die Kultur. Dies sind allesamt „Kleine Einheiten“, die nach dem Willen der CDU

in ihrer Eigenständigkeit zu bestärken sind. Auffällig für die CDU ist die konsequent durchge-

haltene optimistische Grundüberzeugung, dass der entsprechend gebildete und erzogene Bür-

ger auch in der Lage ist, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen und den vom Staat

gewährten Freiraum gemeinwohlbezogen zu nutzen.

70 Ebd. S. 379-384.

Page 25: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

24

3.2.2 Die Kommune als „kleine Einheit“

Das von der CDU-Präsidiumskommission Spielraum für kleine Einheiten vorgelegte Diskussi-

onspapier Starke Bürger. Starker Staat vom Oktober 2000 skizziert das CDU-

Bürgergesellschaftsmodell und fasst gleichzeitig die Zielperspektive christdemokratischer Po-

litik im Vorwort zusammen: „Wir wollen die aktive Bürgergesellschaft, denn die Menschen

können und wollen mehr mit und in unserer Gesellschaft tun als ihnen die überregulierte, un-

durchsichtige, verantwortung- und zuständigkeitsverschleierende staatliche Kompetenzver-

teilung zur Zeit einräumt.“71 Dazu sollen auf allen staatlichen Ebenen auf der Grundlage des

Konnexitätsprinzips „klare Zuständigkeiten und Verantwortungsbereiche“ definiert werden

mit dem Ziel des „schlanken Staates, der Eigenverantwortung, vielfältige Gestaltungsmöglich-

keiten ermutigt bzw. zulässt.“ Ferner bietet das CDU-Positionspapier – im Unterschied zum

mehr staatsorientierten und eher zentralistisch akzentuierten Bürgerschaftsmodell der SPD –

knapp und konsequent aus Sicht des Bürgers eine Situationsanalyse, die Formulierung des

Soll-Zustandes und Lösungsvorschläge für einen bürgernahen Staat auf Bund-, Länder- und

kommunaler sowie europäischer Ebene.

Dabei sollten unter der Voraussetzung, dass das, „was die Menschen alleine oder im freiwilli-

gen Zusammenwirken leisten können, nicht vom Staat übernommen werden darf“ (Subsidia-

ritätsprinzip), Vorschläge zur Stärkung ehrenamtlichen Engagements, zur verstärkten demo-

kratischen Partizipation des Bürgers in der Politik sowie zur staatlichen Deregulierung und

Entbürokratisierung erarbeitet werden.72

In diesem Kontext sind die Schwerpunkte der nach der Kommissionsvorsitzenden vielfach

„Thoben-Papier“ genannten CDU-Positionierung – aus der Sicht des Bürgers:

71 Diskussionspapier, S. 2. - Die CDU-Präsidiumskommission Spielraum für kleine Einheiten wurde 1999 wie

drei weitere Kommissionen auf dem Erfurter Bundesparteitag durch das CDU-Präsidium mit dem Auftrag ein-gesetzt, zukunftsfähige Konzepte in den Politikfeldern Staat inklusive einer Reform des Föderalismus, Familie,Arbeitsmarkt und Soziales sowie Bildung zu entwickeln.Vgl. Erfurter Leitsätze. Aufbruch ´99. Beschluss des 12. Parteitags in Erfurt 25. Bis 27. April 1999, S. 14 (Dis-kussionspapier Der faire Sozialstaat – Eine neue Politik für eine neue Zeit der Präsidiumskommission Sozial-staat 21 – Arbeit für alle, vorgestellt beim Berliner Sozialstaatskongress am 24. Juni 2000), S. 17, (Aufbruch indie lernende Gesellschaft. Bildungspolitische Leitsätze, vorgestellt auf dem Kleinem Parteitag am 20. Novem-ber 2000 in Stuttgart), S. 18 (Konzept Familie 2000, vorgestellt auf Kleinem Parteitag am 13. Dezember 1999in Berlin) und S. 22 (Diskussionspapier Starke Bürger. Starker Staat, vorgestellt vom Bundesvorstand am 20.Oktober 2000 in Berlin).

72 Vgl. zu den Stichworten „Subsidiarität“ bzw. „christliches Menschenbild“ auch das Positionspapier derGrundsatzkommission der CSU-Landtagsfraktion auf den Seiten 7f. und 10-12.

Page 26: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

25

• die Rolle des Bürgers auf dem Weg zur gemeinschaftsorientierten Verantwortungskultur in

den Bereichen Freiwilligenengagement in seiner konventionellen und neueren Formen so-

wie die Einbindung des aktiven Bürgers durch Elemente der Direkten Demokratie73, und

• die Rolle des Staates auf den verschiedenen föderalen Ebenen im Spannungsfeld von

transparenter und bürgernaher Wahrnahme seiner Kernkompetenzen und Loslassen des

Bürgers in die Eigenverantwortung.74

Für letztere sind „die Vermittlung von Wissen (Bildung) und Werten durch Familie, Kirchen

und Staat (Schulen, Hochschulen)“75 wesentlich. Die CDU-Kommission ist sich bewusst, das

dabei der Kommune besonderes Gewicht zukommt, denn dort „ist zu erfahren und zu erleben,

was Subsidiarität, Spielraum, Chance, Befähigung der kleinen Einheiten tatsächlich bedeuten

können."76 In diesem Kontext sollen beiderseitige „Ängste und Sorgen, ausgelöst durch Ver-

änderungsprozesse77 ernst genommen und die Bürger durch Weiterqualifizierung und Anreiz-

strukturen“78 gefördert werden.

Wie die staatliche Förderung des eigenverantwortlichen Bürgers nach den Vorstellungen der

CDU aussehen kann, skizziert ebenfalls das „Thoben-Papier“. Zum einen trägt der Staat durch

eine bürgernahe Ordnungspolitik Sorge für eine „soziale und bürgerschaftliche Kultur, in der

Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement eine zentrale Rolle spielen“.79

73 Diskussionspapier, S. 7-14. Zur SPD-Positionierung im Zwischenbericht vgl. Abschnitt 2.1, S. 11.74 Ebd., S. 15-38. Zu konkreten Zuständigkeiten von Bund, Ländern und Gemeinden vgl. die sehr detaillierte

tabellarische Kompetenzverteilungsliste im Anhang des Papiers auf den Seiten 43-47. – Zur konsequentenAnwendung des Subsidiaritätsprinzips auf die Reform des Föderalismus auf den Ebenen von Bund, Ländern,Gemeinden und Europa vgl. auch CSU-Positionspapier, S. 10-12.

75 Ebd., S. 5. – In diesem Sinne äußert sich auch das Hamburger Grundsatzprogramm.76 Ebd., S. 2.77 Gemeint sind u.a. Globalisierung, Demographie, Technisierung und Individualisierung.78 Ebd., S. 5f.79 Ebd., S. 11f. Staatliche Ordnungspolitik hat dabei die „Aufgabe ..., Hindernisse zu beseitigen und günstige

Rahmenbedingungen (Anreize) zu schaffen“. Dazu gehört eine engagementförderliche Infrastruktur wie Räum-lichkeiten für bürgerschaftliches Engagement „(z.B. ungenutzte Schulräume am Nachmittag)“ sowie „kom-munale Unterstützungsstellen und soziale Büros („Makler“), die das Angebot und die Nachfrage nach freiwilli-gen sozialen Diensten zusammenbringen; oder durch eine kleine soziale Task-Force in großen Einrichtungen(Krankenhäusern, Behörden, Unternehmen) deren doppelte Aufgabe darin besteht, Ehrenamtliche für die Mit-arbeit zu gewinnen und ihren Einsatz sinnvoll zu gestalten.“Staatliche Förderung aktiver Bürger dient gleichermaßen die bevorzugte Berechtigung, Spendenbescheinigun-gen ausstellen zu können, die Einführung von „favor credits“, also die „Berechtigung zur kostenlosen Nutzungvon spezifischen Dienstleistungen“, die „Reform des Gemeinnützigkeitsrechtes und des Stiftungsrechtes; dieBeseitigung zeitlicher Obergrenzen für ehrenamtliche Aktivitäten (im AFG), zum Beispiel bei Arbeitslosen;Fragen nach der stärkeren Anerkennung von Tätigkeiten jenseits der Erwerbsarbeit in der Berufs- und Renten-biographie“. Ebenso sollen Wirtschaft und Unternehmen nach amerikanischem Vorbild aufgerufen, den aktivenBürger durch eine rücksichtsvolle Organisations-, Personal- und Arbeitszeitpolitik, durch Anerkennung von Eh-renamt und sozialem Engagement in der Personalakte und in der Berufsbiographie sowie durch Spenden undSponsorship“ nachhaltig zu unterstützen (S. 13). Auch die kontinuierliche Aus- und Weiterbildung für freiwilligEngagierte wird angemahnt. Diese soll eine „neue Kooperation zwischen „Professionellen“ und „Laien“ gerade

Page 27: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

26

Zum anderen behandelt das CDU-Diskussionspapier – im Kontext der angestrebten Bürgerge-

sellschaft – die föderale Neuordnung auf den verschiedenen staatlichen Ebenen. Der beson-

dere Akzent wird dabei auf die Kommunen und die „kommunale Selbstverwaltung“ gelegt, die

ganz im CDU-Verständnis als „lokale Gemeinschaft“ und „Heimat“ definiert werden80. Die

Kommunen leisten neben der „Zukunftssicherung der lokalen Gemeinde“ ihren besonderen

Beitrag zur „Daseinsvorsorge der Bürger“81. Wege zur Förderung von Subsidiarität und

Selbstverantwortung können unter anderem sein die „völlige Privatisierung von Aufgaben ...

die Ausschreibung, an der sich Eigenbetriebe (der Kommune) beteiligen können, bis zu trans-

parenten Benchmarks (Leistungsvergleiche zwischen Kommunen), die ganz im Sinne des

Bürgers durch „fairen Wettbewerb“ ein größeres und effizienteres Leistungsangebot sichern82.

Der Staat soll sich jedoch keineswegs aus seiner Verantwortung für den Bürger verabschieden.

Weichenstellende „Grundsatzentscheidungen bleiben hoheitlich, die Vorbereitung, die Umset-

zung, die Zulieferung oder die Kontrolle“ etwa von kommunalen Dienstleistungen und Infra-

strukturmaßnahmen ist durch Private möglich (z.B. Straßenbau: ... ; ferner: Schornsteinfeger,

ÖPNV, Fahr- und Fuhrleistungen, Druckereien, gärtnerische Leistungen, Reinigungsdienste,

Gebäudemanagement).83 Weitere Tätigkeitsfelder für privates und unternehmerisches Handeln

des Bürgers sind nach dem Verständnis der CDU die Bereiche „Ver- und Entsorgung“, „Ver-

gabe von Neben- und Zulieferleistungen für öffentliche Einrichtungen“ 84 und im – aus Sicht

des Bürgers – verwirrenden Kompetenzgeflecht von Bund, Ländern und Gemeinden die Be-

reiche Schulen, Krankenhäuser sowie Arbeits- und Sozialverwaltung.85 Bei Einzelentschei-

dungen sollen die für die jeweilige Entscheidung zuständigen Verantwortlichen für den Bürger

künftig erkennbar sein. Ebenso soll ein differenziertes Konnexitätsprinzips nach dem Willen

der CDU für eine gerechte Kostenverteilung nach dem Verursacherprinzip angewendet wer-

den86. Darüber hinaus sollen folgende Einzelmaßnahmen für größere Transparenz und Effi-

zienz sorgen: die Streichung aller Einvernehmensregelungen, der Rückbau der Fachaufsicht,

ein kommunales Verfügungsrecht über frei werdende Mittel durch Abkoppelung von Bund-

Länder-Komplementärfinanzierungen, ein Standard-Anpassungsgesetz, das Kommunen

in „personenbezogenen sozialen Dienstleistungen“ ermöglichen. Beide, Hauptberufler wie Ehrenamtliche, wer-den dabei als notwendige Ergänzung in diesen „Wachstumsbranchen auf dem regulären Arbeitsmarkt“ verstan-den (S. 8).

80 Ebd., S. 15. – Ausführlich behandelt auch das vierte Kapitel des Hamburger Grundsatzprogramms die Siche-rung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und des föderalen Rechts- und Sozialstaates. Vgl.Grundsatzprogramm, S. 414-422.

81 Diskussionspapier, S. 15-27.82 Ebd., S. 15f.83 Ebd., S.16.84 Ebd. S. 17.85 Ebd., S. 18-22.

Page 28: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

27

Handlungsspielraum gegenüber landespolitischen Vorgaben ermöglicht, eine flexible Aufga-

benteilung zwischen Land und Kommunen, die Rücksicht auf die Kommunen bei der Gesetz-

gebung und nicht zuletzt das „Haltbarkeitsdatum“ für die inzwischen unüberschaubare Anzahl

von Verwaltungsvorschriften87. Diese konkreten Schritte schlägt die CDU-

Präsidiumskommission vor, um neue Handlungsspielräume für die Kommunen zurückzuge-

winnen und politisches Handeln für den Bürger verständlicher und attraktiver zu gestalten.

Diese unter Beteiligung von Experten aus Politik und Wissenschaft, Bund, Ländern und Ge-

meinden erarbeiteten Handlungsempfehlungen bieten die Chance, staatlicherseits „kleine Ein-

heiten“ zu stärken und damit bürgerliches Engagement im Gemeinwesen zu fördern.

3.3 Ausblick

Zusammenfassend wird im Hamburger Grundsatzprogramm und im Thoben-Papier der CDU

trotz einer realistischen Analyse der globalen und sozialen Veränderungen der Optimismus

deutlich spürbar, der dem einzelnen Bürger und den „kleinen Einheiten“ Gestaltungskraft und

–kompetenz zutraut, diese wünscht und daher auch staatlicherseits bei Bedarf fördert. Der

Staat, der dem Bürger dies alles zutraut88, kann sich zurücknehmen und „Demokratie wagen“,

und zwar in all ihren Facetten. Dieser Verantwortungsoptimismus unterscheidet sich klar von

bürgerkritischen Programmaussagen der SPD, die, wenn auch gemildert, bis in den Zwi-

schenbericht für ein neues Grundsatzprogramm wirksam bleiben. In der CDU hat dieses nicht

unwesentlich von der christlichen Soziallehre beeinflusste Lebensgefühl Tradition. Ob diese

Orientierungssicherheit des programmatischen Koordinatensystems stets das politische All-

tagsgeschäft erreicht, ist zuweilen eine andere Frage. Kritisch beurteilt denn auch das „Tho-

ben-Papier“ einen Staat, der zunehmend in der Vergangenheit Aufgaben an sich gezogen hat,

die der Bürger ebenso gut hätte erledigen können. Als Folge wird eine an „überbordender Re-

gulierungswut“ festgemachte Entwicklung vom „Verantwortungsstaat zum Zuständigkeits-

staat“ gesehen. Diese widerspreche einem funktionierenden Gemeinwesen, in das die Bürger

sich als „Staatsbürger (homo politicus), als Wirtschaftsbürger (homo oeconomicus) und ver-

stärkt als Sozialbürger (homo civilis) einbringen89. Die selbstkritische Offenheit und unvor-

eingenommene Herangehensweise bei der Suche nach Auswegen aus staatlicher Verkrustung 86 Ebd., S. 23.87 Ebd., S. 24-27.88 Vgl. hierzu den unter dem Motto „Das Verhältnis von Bürger und Staat neu austarieren“ an die CDU-Mitglie-

der gerichteten Brief Angela Merkels zum Beginn des Neuen Jahres, in: UiD-Dokumentation Nr. 1/9. Januar2003, S. 4.

Page 29: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

28

und neuen Wegen für eine Revitalisierung des aktiven Bürgers sind die Stärken des Hambur-

ger Grundsatzprogramms wie des CDU-Präsidiumsbeschlusses. Sie haben praktische Hand-

lungsempfehlungen zur Folge, die als konkrete Handlungsplattformen konsequent genutzt

werden sollten. Dabei bleibt abzuwarten, ob es der gestärkt aus den Landtagswahlen in Hessen

und Niedersachsen Anfang Februar 2003 hervorgegangenen und im Bundesrat vertretenen

Union gelingt, die „wahlkampffreieren“ Zeiten zu einer weiteren inhaltlichen Differenzierung

und Vertiefung ihres Politikangebotes im Sinne des aktiven Bürgers und einer aktiven Bürger-

gesellschaft zu nutzen.

89 Ebd. S. 4.

Page 30: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

29

II. Bürgergesellschaft in den Parteiprogrammen - Text-Dokumentation

SPD

SPD-Grundsatzkommission

"Die Aktivierung der Bürgergesellschaft" 90

Das Verhältnis zwischen Individuum, Gesellschaft und Staat muss aufgrund des Wandels und steigender Indivi-dualisierung neu bestimmt werden. Die Begriffe "Zivilgesellschaft" bzw. "Bürgergesellschaft" beschreiben dieSuche nach einem neuen Rahmen für gesellschaftlichen Zusammenhalt bei gewachsener Freiheit und wachsenderBindungslosigkeit des Einzelnen. Die Kommission definiert die soziale Bürgergesellschaft als ein System mitvielen Facetten:

• als Schauplatz demokratischer Selbstbestimmung der Bürger

• als Schule der Demokratie

• als Plattform für Teilhabe und Mitbestimmung

• als Netzwerk bürgerschaftlicher Selbsthilfe

• als Produzent von Wohlstand und Lebensqualität

Die Bürgergesellschaft dient der direkten Verständigung zwischen Menschen, sie vermittelt soziale Sinnerfah-rung, Orientierung und Erneuerung von Solidarität. In der Bürgergesellschaft werden Grundwerte lebendig erfah-ren. Sie stabilisiert die Demokratie und schafft die Grundlagen für Integration und Zusammenhalt sowie für dasZusammenleben von Menschen verschiedenartiger ethnischer und kultureller Identität.

GRUNDWERTEKOMMISSIONVorsitz: Wolfgang Thierse

Programmdebatte

Programmdebatte

Wegmarken für ein neues Grundsatzprogramm91

1. Die Arbeitsweise der KommissionDie vom Parteivorstand eingesetzte Kommission für ein neues Grundsatzprogramm der SPD legt nach einer Ar-beitsphase von 18 Monaten einen Zwischenbericht vor. Erstmals in ihrer Geschichte überarbeitet die SPD ihrProgramm in der Regierungsverantwortung. Daraus ergibt sich eine mehrfache Aufgabe: Es muss ein Programmsein, das unsere Regierungspolitik einbettet in die langfristigen Perspektiven unserer Politik. Es muss zudem einProgramm sein, das angesichts der Herausforderung die Globalisierung menschenwürdig zu gestalten und ihr eineuropäisches Profil zu geben, die internationale, speziell die europäische Debatte sehr viel stärker einbezieht. ...

2. Das Verhältnis zum Berliner ProgrammDas Berliner Programm hat zahlreiche zukunftsfähige Wegweisungen erarbeitet. Dazu gehört vor allem die poli-tische Leitidee des ökologisch und sozial verantwortlichen Wirtschaftens als Voraussetzung für eine nachhaltigePolitik, um die Grundlagen der menschlichen Zivilisation zu sichern und die Zukunftschancen der nachfolgendenGenerationen zu bewahren.

Nicht zuletzt hat das Berliner Programm viel geleistet für die politische Integration der gesellschaftlichen Bewe-gungen. Es hat die Gleichstellung von Frauen in der Gesellschaft, in der Politik und in der SPD in den Mittel-punkt unserer Überzeugungen gerückt. Es hat ein klares Signal gegen Massenvernichtungswaffen, für die Siche-

90 Siehe unter www.spd.de/servlet/PB/menu/1010912/index.html.91 Zwischenbericht „Wegmarken für ein neues Grundsatzprogramm. Soziademokratische Vorstellungen zur

nachhaltigen Gestaltung der globalen Epoche“ der Grundsatzkommission an den SPD-Parteitag in Nürnberg19./22.11.2001, S. 5-23.

Page 31: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

30

rung des Friedens sowie für die Erhaltung einer lebenswerten Umwelt auch im Interesse künftiger Generationengegeben. Diese grundsätzlichen Aussagen bleiben gültig. ...

Globalisierung und Internationalisierung beschleunigen und intensivieren sich und betreffen alle Lebensbereiche.Die durch neue Technologien bewirkte intensive Nutzung der Zeit führt zu immer schwerer überschaubarenWechselwirkungen zwischen Wirtschaft, Gesellschaft, Ökologie und Kultur. Sie sind gekennzeichnet durch fol-gende Haupttendenzen: die Entgrenzung von Wirkungszusammenhängen, die bisher von nationalstaatlichenRahmen begrenzt waren sowie die radikale Beschleunigung des Wandels und die weitere Entwertung von Tradi-tionen und die Auflösung sozial-kultureller Bindungen. ...

Die Arbeit der Programmkommission ist von dem Bemühen geprägt, das, was im Berliner Programm erarbeitetworden ist, für die gegenwärtige Situation und die absehbaren Entwicklungen zu bewerten und auf dieser Basisdie Konturen einer Politik der sozialen Demokratie in der Globalisierung zu erarbeiten. ...

Die Sozialdemokratie bekundet schließlich mit der Arbeit an ihrem neuen Grundsatzprogramm ihren Willen,gerade auch in einer Zeit der kurzlebigen Medienorientierung und der tagespolitischen Zwänge, eine Programm-partei zu bleiben. Das Programm gibt der Gesellschaft Orientierung über die künftige sozialdemokratische Poli-tik. Und für uns ist es eine Verpflichtung, in der vor uns liegenden Zeit die formulierten Ziele zu erreichen.

3. Grundwerte und MenschenbildWir aktualisieren die Grundwerte in unserer Programmarbeit im Hinblick auf die globalen Entwicklungstenden-zen und die neuen Herausforderungen, die in der Zwischenzeit sichtbar geworden sind. Wir stehen am Ende derzwei Jahrzehnte, die von einer Dominanz liberaler und neoliberaler Konzepte und Ideologien geprägt waren undin vielen Bereichen gravierende soziale und ökologische Probleme hinterlassen haben.

Freiheit wurde einseitig als die negative Freiheit der unbegrenzten Handlungschancen interpretiert und Gerech-tigkeit auf die Verteilungsmechanismen des sich selbst überlassenen Marktes verkürzt. Solidarität geriet in denHintergrund und wurde durch die Mechanismen einer allein auf Konkurrenz orientierten Gesellschaft gefährdet.Gegen diese Verkürzungen, die am Ende zu Lasten der Freiheitschancen aller gehen, setzt die Sozialdemokratieihr Grundwerteverständnis für eine Politik der sozialen Demokratie im 21. Jahrhundert.

Auch wenn die Debatte über die Konkretisierung unserer Grundwerte noch nicht abgeschlossen ist, lässt sichfesthalten: Unser Verständnis von Gerechtigkeit beschränkt sich nicht auf bloße Rechtsgleichheit, so unverzicht-bar sie ist. Unser Verständnis von Gerechtigkeit zielt über die Gleichheit der Startchancen hinaus auf die Gleich-heit der grundlegenden Lebenschancen für alle Menschen.

Gerechtigkeit ergibt sich nicht aus den Verteilungsmechanismen des Marktes, sondern aus der bewussten Ent-scheidung der Gesellschaft und dem Primat der Demokratie. Grundwerteorientierte Politik verlangt darum diepolitische Gestaltung.

Solidarität als die Bereitschaft, über Rechtsverpflichtungen hinaus füreinander einzustehen bleibt weiterhin aktu-ell. Solidarität darf sich nicht auf den Zusammenhalt der Schwachen und Benachteiligten beschränken, sondernerfordert vor allem die Verantwortung der Starken für die Entwicklung der ganzen Gesellschaft.

4. Neue Herausforderungen

4.1 Den Prozess der Globalisierung gestaltenZentrale Ursache für viele gesellschaftliche Veränderungen und ihre Wechselwirkungen ist der Prozess der Glo-balisierung. Sie ist durch die eng miteinander verbundenen Entwicklungen der Entgrenzung, der Beschleunigungund der Enttraditionalisierung gekennzeichnet. Sie berührt beinahe alle Lebensbereiche – Wirtschaft und Gesell-schaft ebenso wie Sicherheit, Umwelt und Kultur. ...

Wir verstehen es als unsere Aufgabe, die Globalisierung so zu gestalten, dass durch einen Vorrang der Demokra-tie die Chancen vermehrt und die Risiken dieses Prozesses beherrscht werden. ...

Um die Risiken der Globalisierung zu minimieren, brauchen wir eine Weltordnungspolitik, die den Akteureneinen klaren Rahmen gibt. Es ist unser Ziel die Prinzipien sozialstaatlichen Denkens und der sozialen Marktwirt-schaft auch international zu verankern. ...

Eine neue gerechtere Weltordnungspolitik ist notwendig, um die großen Menschheitsfragen zu lösen. Sie solltezu folgenden Bereichen Regelungen umfassen: Weltsozialordnung und Umwelt, Welthandel und internationalerWettbewerb, Weltwährungssystem und Finanzen. ...

Page 32: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

31

Die Kommission war sich einig, dass die Entwicklung weltstaatlicher Strukturen notwendig ist. Wichtige Impulsefür diesen Prozess müssen auch weiterhin von den demokratisch verfassten Rechtsstaaten und ihren Zivilgesell-schaften ausgehen. ...:

• Bei der ersten Variante, dem Global-Governance-Ansatz, geht es um einen breit angelegten und dynami-schen Prozess interaktiver Entscheidungsfindung, ...

• In der zweiten Variante – dem weitestgehenden Ansatz – wird eine subsidiäre und föderale Weltrepublikgefordert. Angestrebt wird eine Weltrechtsordnung und eine Weltdemokratie, die auf die Menschenrechteund die Gewaltenteilung verpflichtet sind. Die sprunghaft anwachsende globale Vernetzung und gegenseitigeAbhängigkeit benötigen nach dieser Auffassung eigenständig legitimierte und handlungsfähige Institutionenstaatsähnlichen Zuschnitts. Global Governance muss sich auf Elemente globaler Regierung stützen. Nur sokönne der Primat von Politik für die Zukunftsfragen der Menschheit gegen Partikularinteressen jeglicher Artdurchgesetzt werden. Um die Gefahr eines Demokratiedefizits und einer ausufernden Bürokratie zu meiden,wird der subsidiäre und föderale Charakter betont. ...

4.2 Europäische und deutsche Einigung vollendenDas 21. Jahrhundert muss zu einem europäischen Jahrhundert werden. Die Globalisierung bedroht diesen An-spruch nicht. Sie ist eine Herausforderung. Wir wollen ihre Chancen nutzen und ihre Risiken bekämpfen. Wirwollen eine Globalisierung, in der das europäische Profil erkennbar bleibt. ...

Die Akzeptanz der Europäischen Union steht und fällt mit einer solchen öffentlichen Debatte über die Verfasst-heit und die Verfassung Europas. Wir wollen in dieser Debatte gemeinsam mit den Schwesterparteien eine we-sentliche Rolle wahrnehmen. Dazu werden wir unsere Zusammenarbeit intensivieren. Wir wollen die SPE stär-ken. Sie soll langfristig eine Mitglieder- und Programmpartei werden.

Die Zukunft Deutschlands hat nur einen Namen: Europa. Die Einbindung Deutschlands in die europäische Staa-tengemeinschaft schafft bei Deutschlands Nachbarn Vertrauen. ... Ein solches Europa kann für die Welt zu einemattraktiven Modell werden, das vorbildhafte Standards für eine soziale und umweltverträgliche Entwicklungschafft. Die Kombination aus materieller Lebensqualität, aus demokratischer Partizipation, aus sozialer Absiche-rung und Chancen zur Bildung als Voraussetzung für persönliche Entfaltung ist in dieser Form nur in Europa zufinden. ...

Die SPD hat sich als die Partei der inneren Einheit erwiesen. Sie hat in ihrer langen Tradition für Freiheit undsoziale Gerechtigkeit gekämpft. Das verbindet uns: in Ost und West. Diese beiden Werte gehören für die SPDuntrennbar zusammen. Die Aufgaben der Sozialdemokratie bei der Vollendung der inneren Einheit bleiben des-halb weiterhin aktuell. Unser Ziel ist es, gleiche Lebenschancen für die Bürgerinnen und Bürgern in ganzDeutschland herbeizuführen. Sie sind die Voraussetzung für ein gutes Zusammenleben aller Deutschen in einemgemeinsamen Staat. ...

4.3 Die Idee der Nachhaltigkeit umsetzenNachhaltigkeit setzt den Rahmen für eine Entwicklung, die national und international wirksam werden kann. ImZentrum stehen auch mehr Demokratie und Partizipation, um die Menschen zu Teilhabe und zur Übernahme vonMitverantwortung zu motivieren. Nachhaltigkeit als Leitbild wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungist kein neuer Grundwert, sondern ist wesentlicher Teil einer zeitgemäßen Interpretation unserer Grundwerteinsbesondere von „Gerechtigkeit“ und „Solidarität“. ...

Es geht beim Leitbild „Nachhaltigkeit“ jedoch auch um eine gerechte, möglichst gleiche Verteilung von Lebens-chancen innerhalb einer Generation wie zwischen den Generationen. Dabei lässt sich dieses Ziel im Zeitalter derGlobalisierung nicht mehr nur national oder regional realisieren. Es erfordert vielmehr auch mehr Gerechtigkeitzwischen den Weltregionen, in denen natürliche Ressourcen, Kapital, Wissen sowie ökologische Risiken unddamit ökonomische Abhängigkeiten und die Lebenschancen der Menschen nach wie vor ungleich verteilt sind.Noch immer nutzen 20% der Weltbevölkerung 80% der Ressourcen. Akzeptiert man angesichts begrenzter Res-sourcen das Ziel gleicher Nutzungsrechte, müsste beispielsweise Deutschland die Effizienz seiner Ressourcen-nutzung deutlich steigern und seine Energieproduktivität und die Nutzung erneuerbarer Energien wesentlicherhöhen.

Nachhaltigkeit strebt nach sozialverträglicher Zusammenführung von Arbeit und Umwelt durch die stärkereVerlagerung des Produktivitätswachstums auf Energie und materielle Ressourcen. Damit können die beidenGrundübel – Arbeitslosigkeit und Umweltzerstörung – gemeinsam angegangen werden. Willy Brandt hat darin

Page 33: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

32

einen entscheidenden Beitrag zur Gestaltung der Globalisierung gesehen und zur sozialen Zähmung der Welt-ökonomie.

Nachhaltigkeit setzt auf eine massive Steigerung der Effizienz beim Energie- und Materialeinsatz. Dadurch leistetsie auch einen Beitrag zu mehr Dezentralität, denn derartige Lösungen sind in der Regel spezifisch auf die jewei-ligen Bedingungen vor Ort bezogen, um möglichst optimale Ergebnisse zu erreichen. ...

Neben der Neuordnung der Energieversorgung und der Orientierung an einer umweltverträglichen Stoffwirtschaftist das Verkehrswesen – wie schon im Berliner Programm – ein Schwerpunkt der ökologischen Modernisierung.Mobilität ist jedoch auch ein Bedürfnis und im Bewusstsein vieler Menschen ein wichtiges Element von Freiheit.

Die heutige Organisation des Verkehrs gerät an Grenzen, die sich an Umweltbelastungen, dem Flächenverbrauchund der abnehmenden Verfügbarkeit der Ressourcen zeigen. Deshalb ist es eine große Herausforderung, zu einersozial- und umweltverträglichen Mobilität zu kommen, die auch der wirtschafts- und beschäftigungspolitischenBedeutung des Sektors gerecht wird.

4.4 Gleiche Chancen und gemeinsame Verantwortung verwirklichenWir wollen den gesellschaftlichen Wandel auf der Basis unserer Grundwerte gestalten. Das beschleunigte Tempoder Veränderungen hat Unsicherheit geschaffen, welche Werte, Institutionen, Fähigkeiten und Qualifikationen,welche sozialen Beziehungen und Sicherheiten Bestand haben werden. Eine zentrale Herausforderung ist dietiefgreifende Änderung der Bevölkerungsstruktur. Es geht um die Leistungsfähigkeit, Lebensqualität und humaneKultur des Zusammenlebens einer älter werdenden Gesellschaft. Hinzu kommen die Anforderungen an die Ge-sellschaft, ausländische Mitbürger der zweiten und dritten Generation sowie weitere Zuwanderer zu integrieren.Ökonomische Globalisierung und sozialkulturelle Individualisierung bedingen heute, wenn auch aus unterschied-lichen Gründen und auf unterschiedliche Weise, dass Traditionen, Routinen, Rollenvorstellungen und feste Ver-laufsmuster von Erwerbsbiografien, die bislang die Regel waren, zur Ausnahme werden. Durch den Verlust desArbeitsplatzes, durch mangelnde Bildung und Ausbildung besteht die Gefahr, dass Menschen an den Rand derGesellschaft gedrängt werden (Exklusion).

Als Antwort darauf diskutiert die Sozialdemokratie das Ziel einer Gesellschaft gleicher Chancen und gemeinsa-mer Verantwortung, in der sich Freiheitsrechte, aber auch Verpflichtungen des Individuums gegenüber der Ge-sellschaft mit der solidarischen Verantwortung der Gesellschaft für die Freiheit des Einzelnen verbinden. ...

Unabhängig davon, ob man unsere Vorstellungen im Begriff der „Chancengesellschaft“ der „lernenden Gesell-schaft“ (EU-Gipfel in Lissabon) oder auf andere Weise zum Ausdruck bringt, ist für uns folgendes wichtig: Wirwollen gleiche Chancen gewähren und dazu ermutigen, diese Chancen zu nutzen. Wir wollen einen Sozialstaat,in dem Vorsorge und Gestaltung Vorrang vor Reparatur und Nachsorge haben.

Ins Zentrum rücken die gleichen Chancen, auch die zweite und dritte Chance für einen erneuten Start: Wir erstre-ben mehr Bildung und Qualifikation, ebenso Beratung und Hilfe. Das ist kein Rückzug der Politik aus der Ver-antwortung, wohl aber eine Chance für eine höhere Qualität von Partizipation. Diese Prinzipien bedürfen derErgänzung durch den Grundwert der Solidarität und seiner Ausprägung durch den Sozialstaat. Sozialstaat undZivilgesellschaft sind keine Gegensätze, sondern können und müssen sich ergänzen.

Ein leistungsfähiger, moderner Sozialstaat, der die soziale Sicherheit ebenso wie Teilhabe an Bildungschancenund am Erwerbsleben ermöglicht, der fördert aber auch fordert, ist Voraussetzung, sich dem globalen Wettbe-werbsdruck stellen zu können, ohne dass die Folgen dieses Wettbewerbs zu sozialer Desintegration führen. ...

Die Akzeptanz des Sozialstaates hängt dabei auch davon ab, dass er nicht auf die Restfunktion der Sicherungeines Existenzminimums reduziert wird. Wer Pflichtbeiträge zahlt, akzeptiert dies eher, wenn er oder zumindestseine Angehörigen Anspruch auf Leistungen nicht nur im Falle existenzbedrohender Schicksalsschläge erhält.Ein gesellschaftlich akzeptables Sicherungsniveau muss zwischen Existenzminimum und Absicherung des Le-bensstandards für alle Lebenssituationen liegen. Damit bleibt ausreichend Raum für private Vorsorge in Eigen-verantwortung.

Die Ungleichheit in der Verteilung der Einkommens- und Lebenschancen ist nach wie vor eine große Herausfor-derung für den Sozialstaat. Unsere Zukunftsaufgaben lassen sich besser und gerechter bewältigen, wenn jedernach seinen Möglichkeiten einen gerechten Beitrag leistet. Das gilt auch für große Vermögen. Ziele sollten dabeisein, eine übermäßige Belastung von Arbeitseinkommen mit Steuern und Abgaben zu vermeiden und der Recht-sprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu genügen. Der internationale Vergleich zeigt, dass auch das Stif-tungsrecht im Zusammenwirken mit dem Steuerrecht hierzu Möglichkeiten bietet, die geprüft werden sollten. ...

Die Teilhabe an der Erwerbsarbeit und das dadurch erzielbare Einkommen sind eine entscheidende Vorausset-zung für Integration und Teilhabe. Sozialer Ausschluss widerspricht den Grundwerten einer menschenwürdigenGesellschaft. Durch einen vorsorgenden und aktivierenden Sozialstaat und verbesserte Instrumente für eine „in-

Page 34: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

33

klusive“ Gesellschaft wollen wir die Einbeziehung der Betroffenen in den Arbeitsmarkt wesentlich verbessern.Die Verhinderung von Armut durch eine ausreichende einkommensabhängige Grundsicherung ist ein sozialesBürgerrecht.

Wir möchten, dass Kinder in allen Bereichen der Gesellschaft einen Platz haben. Dazu muss die Gesellschaftkinderfreundlicher werden und verlässliche und qualifizierte Betreuungs- bzw. Bildungseinrichtungen für alleAltersstufen bereitstellen.

Politik und Wirtschaft müssen sich gemeinsam um flächendeckende Ganztagsbetreuungsangebote kümmern. Zielist eine deutlich verbesserte Möglichkeit der Kombination von Elternschaft und Berufstätigkeit. ...

4.5 Den Wandel zur Bildungs- und Kommunikationsgesellschaft fördernDer beschleunigte Wandel moderner Gesellschaften wird von einer immer engeren Verzahnung von Wirtschaftund Wissenschaft vorangetrieben. In der Wissens- und Informationsgesellschaft ist Wissen die Hauptressourcefür die Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität und den wissenschaftlich- technischen Fortschritt.

Wir verteidigen die Freiheit der Wissenschaft, sie ist ein hohes Gut. Aktive Forschungspolitik soll durch die Ent-wicklung von Technologien und ihre anwendungsorientierte Umsetzung Innovationen fördern.

Doch eine moderne Innovationspolitik ist mehr als eine erfolgreiche Technologiepolitik. Sie muss den wissen-schaftlichen und technischen Veränderungsprozessen in ihren vielfältigen Wechselwirkungen und Gestaltungs-spielräumen in Wirtschaft und Gesellschaft Rechnung tragen. Dabei wird es darauf ankommen, eine ausgewo-gene Balance herzustellen zwischen den berechtigten Interessen der Wissenschaft auf Erkenntnisgewinn, derWirtschaft auf Anwendung und Verwertung neuer Erkenntnisse und dem Anspruch der Gesellschaft, ihre kultu-rellen Normen und Werte zu respektieren.

Besondere Beachtung findet heute die Entwicklung der Bio- und Gentechnik, die uns durch rasanten wissen-schaftlichen Erkenntnisgewinn und seine Anwendung große Chancen verspricht, aber auch nicht minder großeGefahren birgt. Darum müssen wir einen Weg finden, der die Freiheit der Forschung im Interesse des medizini-schen Fortschritts soweit wie nötig sichert und soviel Transparenz, Kontrolle und ethische Begleitung wie mög-lich gewährleistet. Gentechnik und Biomedizin sind Zukunftstechnologien. Mit Vernunft und Maß angewandt,können sie einen wichtigen Beitrag zur Sicherung und Förderung unserer wissenschaftlichen, wirtschaftlichenund sozialen Entwicklung leisten.

Wenn wir heute von Wissens- und Informationsgesellschaft sprechen, kennzeichnet dies vor allem die weitereBeschleunigung der Verbreitung und Verarbeitung von Information durch die Digitalisierung der Technik. InZukunft wird es für Teilhabe, individuelle Chancen und die persönlichen Perspektiven im politischen, wirtschaft-lichen, im sozialen und kulturellen Leben wesentlich sein, über eine ausreichende Kompetenz im Umgang mitden modernen Kommunikationsmedien zu verfügen. ...

In der Wissens- und Informationsgesellschaft wird es für den Einzelnen ebenso wie für die Entwicklungspotenti-ale des Einzelnen und damit des Gemeinwesens entscheidend darauf ankommen, Wissen, Qualifikationen undKompetenzen lebensbegleitend zu aktualisieren. Das betrifft insbesondere die Umbruchsphasen der individuellenBiographie und hilft Arbeitslosigkeit vorzubeugen. ...

Für Sozialdemokraten wird aber Bildung immer mehr sein, als der Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten fürdie sich verändernden Anforderungen des Arbeitsmarktes. Bildung bedeutet für uns umfassende Persönlichkeits-entwicklung, die kulturelle und musische Fähigkeiten ebenso einschließen muss (Sie ist die Voraussetzung fürTeilhabe und für die Bewältigung verschiedener Umbrüche im Lebenslauf.) wie die Förderung von sozialer Ver-antwortung, Demokratie und politischer Teilhabe.

Die Politik hat in der Informationsgesellschaft die Aufgabe, den Zugang aller – unabhängig von Einkommen undHerkunft – zu Wissen und Informationen und den neuen Medien zu gewährleisten. Sie muss auch solche Ange-bote garantieren, die der Markt nicht zur Verfügung stellt. ...

Zu diesen Gestaltungsaufgaben gehört es, auch die öffentlichen Aufwendungen für Bildung deutlich zu steigern.Wie diese erhöhten Aufwendungen in der Zukunft sicherzustellen sein werden, wird Gegenstand unserer weiterenBeratungen sein müssen.

4.6 Die Veränderung der Arbeitswelt bewältigenZiel sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik bleibt auch unter den Bedingungen der Globalisierung eine sozialeund ökologisch verträgliche Wirtschaft. Sie ist durch den Vorrang der Demokratie vor den Märkten und durch einqualitatives Wachstum gekennzeichnet.

Page 35: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

34

Der umfassende Arbeitsbegriff des Berliner Programms (Erwerbsarbeit, Familienarbeit, gesellschaftliche Arbeit)bleibt unser Leitbild. Negative wie positiv gemeinte Utopien vom „Ende der Arbeit“ haben sich nicht bewahr-heitet. Es kann keine Rede davon sein, dass das sozialdemokratische Ziel der Vollbeschäftigung überholt sei.Durch eine verstärkte und gewünschte Erwerbsbeteiligung von Frauen gewinnt es zusätzlich an Gewicht. ...

Neue Beschäftigungsformen wie Teilzeit, befristete oder geringfügige Beschäftigung, Leiharbeit oderScheinselbständigkeit nehmen zu. Mögliche positive Beschäftigungseffekte und Probleme von Leiharbeit undZeitarbeitsagenturen müssen in der Programmkommission noch weiter debattiert werden.

Der Bereich der personenbezogenen Dienstleistungen ist in Deutschland im internationalen Vergleich wenigausgeprägt. Es stellt sich die Frage, ob und wie dieser Bereich gestärkt werden kann, auch weil sich hier Chancenfür gering qualifizierte Arbeitnehmer bieten.

Einigkeit besteht darin, Armut trotz Arbeit (working poor) zu verhindern und Qualifikationspotentiale aus zuschöpfen. Darüber hinaus wurde in der Kommission erörtert, inwieweit durch die Kombination von Sozialtrans-fers und Arbeitseinkommen oder die Subventionierung eines Niedriglohnsektors Anreize für die Arbeitsaufnah-me und für neue Arbeitsplätze geschaffen werden können.

Andere Sektoren können ebenfalls Arbeitsplätze für gering qualifizierte Arbeitnehmer bieten. Insgesamt muss diespezifische Qualifizierung, Förderung und Unterstützung gering qualifizierter Arbeitnehmer in den Betriebenweiter entwickelt werden. ...

Es gibt Tendenzen, dass zukünftig verstärkt Eigenverantwortung und Gruppenarbeit im Mittelpunkt stehen, oderaber in einigen Bereichen auch neue Formen tayloristischer Arbeitsorganisation, z.B. in Call-Centern.

Durch die Forderung nach Flexibilität, Eigeninitiative und Selbständigkeit erhöht sich aber in vielen Bereichender Leistungsdruck für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Zudem zeichnen sich zum Teil neue Manage-mentmethoden ab, die das unternehmerische Risiko mehr und mehr auf die Beschäftigten selbst verlagern.

Die notwendige Flexibilität darf nicht zum Abbau sozialer Standards führen, sondern muss auf die Nutzungmenschlicher Fähigkeiten unter humanen Arbeitsbedingungen zielen und die Möglichkeiten individueller Le-bensgestaltung erweitern. ...

In diesem Zusammenhang ergibt sich die Frage, wie diese neu verstandene Flexibilität in Flächentarifverträgenverankert werden kann. Außerdem muss diskutiert werden, wie in Zukunft Verträge, u.a. für formal selbständigeAuftragnehmer, gestaltet werden können.

Um die Arbeitsprozesse zukünftig stärker auf Kooperation auszurichten, muss die Mitbestimmung auf betriebli-cher und Unternehmensebene im Interesse der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit weiterentwickelt werden.Neue Betriebsformen, Telearbeit, Unterscheidung von Kern- und Randbelegschaften durch die Unternehmens-leitungen, das Outsourcing bestimmter Unternehmensbereiche sowie die Arbeitsvergabe an (schein-)selbständigeAuftragnehmer machen neue Formen der Arbeitnehmervertretung erforderlich. Die Reform des Betriebsverfas-sungsgesetzes hat wichtige Herausforderungen bereits angenommen. Die weitere Diskussion muss auch zeigen,in welcher Form die Mitbestimmung auf Unternehmens- und Konzernebene im europäischen Rahmen ausgebautwerden kann und muss.

Auch eine effektive Vertretung von Arbeitnehmerinteressen im Betrieb wird die betriebsübergreifende Interes-senvertretung durch Gewerkschaften nicht überflüssig machen. Im Gegenteil, dort wo Anstellungsverhältnissediversifiziert werden, wächst die Bedeutung überbetrieblicher (und gesetzlicher) Rahmensetzungen. Dies erfor-dert die Herausbildung neuer Interessensvertretungs- und Organisationsformen. Wie solche Prozesse durch diePolitik unterstützt werden können, muss das neue Programm beantworten. Der Begriff der Wirtschaftsdemokratiemuss neu definiert werden, wenn er tragfähig bleiben soll.

4.7 Demokratie und Partizipation ausbauen

Wir wollen einen modernen demokratischen Staat, getragen vom politischen Engagement seiner Bürgerinnen undBürger in der Zivilgesellschaft. Diesen Gedanken wollen wir in unseren Debatten weiter entwickeln. Wir brau-chen einen Staat, der zur Durchsetzung gesellschaftlicher Ziele fähig ist und sich an neuen Aufgaben bewährt.Wir sind den Menschenrechten verpflichtet. Staat und Wirtschaft sind für die Menschen da, nicht umgekehrt. Zuden Grundbedürfnissen zählt auch das Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz vor Verbrechen und Gewalt. Nur woFreiheitsrechte garantiert sind und genutzt werden können, leben Menschen als Freie und Gleiche und erfüllendie Demokratie mit Leben. Nur wo soziale Grundrechte verwirklicht sind, können Freiheitsrechte und politischeTeilhaberechte von allen wahrgenommen werden.

Die Sicherungsgarantien des Staates und das Engagement seiner Bürgerinnen und Bürger bedingen sich gegen-seitig. Staatliches Handeln orientiert sich an den gesellschaftlichen Kräften. Der Staat ist nicht Selbstzweck, son-

Page 36: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

35

dern Instrument zur Gestaltung der Gesellschaft. Die Parteien sind Anreger, Mittler und Umsetzer. Als Teil derGesellschaft will die SPD gesellschaftliche Impulse und Erfordernisse aufgreifen und in Gesetzgebung und Re-gierungshandlung umsetzen. Politik ist nicht der Vollzug vermeintlicher Sachzwänge, sondern die Durchsetzungdes Vorrangs des demokratischen und sozialen Rechtsstaates.

Politik vollzieht sich nicht allein im staatlichen Handeln, auch die Foren, Initiativen, Organisationen und Netz-werke der Zivilgesellschaft sind Teil der demokratischen Steuerung gesellschaftlicher Entwicklung. Entscheidendfür die demokratische Qualität und die gesellschaftliche Akzeptanz des demokratischen Staates ist die aufgaben-orientierte politische Arbeitsteilung zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Seine Aufgabe zur Sicherung von Frei-heit und Gerechtigkeit muss der Staat überall dort und dann übernehmen, wo Einzelne oder Gruppen die Voraus-setzungen dafür nicht von sich aus erfüllen können und die Ziele des Gemeinwohls auf andere Weise nicht er-reicht werden können. Wo immer möglich ist die Selbstorganisation der Bürger in Initiativen, Vereinen und Ver-einigungen Vorrang einzuräumen. Bürgerschaftliches Engagement muss nicht nur akzeptiert, sondern aktiv unter-stützt werden. Diese Form des Engagements wächst ebenso über nationale Grenzen hinaus. ZivilgesellschaftlicheInstitutionen, beispielsweise Nichtregierungsorganisationen, sind zu wichtigen Partnern und Akteuren der inter-nationalen Politik geworden.

Das Prinzip der Subsidiarität, des Vorrangs der kleineren Einheit vor der großen, kann Macht begrenzen, Teil-habe verbessern und Verantwortlichkeit stärken. Demokratie lebt vom Prinzip der Öffentlichkeit. Das Recht allerauf Zugang zu Informationen und die Selbstbestimmung über die eigenen Daten sind darum Grundrechte. In ihrerweiteren Arbeit wird sich die Programmkommission u.a. mit dem Verhältnis von Selbstbestimmung und Frei-heitsrechten auf der einen Seite und der Notwendigkeit das staatliche Gewaltmonopol und die Sicherheit derBürger zu gewährleisten auf der anderen Seite weiter beschäftigen. Die Forderungen des Berliner Programmszum Volksbegehren, zum Volksentscheid und anderen plebiszitären Elementen sind weiterhin aktuell. In gesetz-lich festgelegten Grenzen sollen Volksbegehren und Volksentscheid in Gemeinden, Ländern und Bund parla-mentarische Entscheidungen ergänzen. In allen Ländern und vielen Kommunen sind das Volksbegehren und derVolksentscheid verfassungsmäßig garantiert. Die Zeit ist reif auch für den Ausbau der Beteiligungsrechte derBürgerinnen und Bürger auf Bundesebene. Wir haben im Parteivorstand einen Beschluss gefasst, die Beteili-gungsrechte der Bürger an wichtigen politischen Sachentscheidungen mit Elementen der direkten Demokratie zustärken. Vor weitergehenden Forderungen müssen wir die Erfahrungen mit diesen Elementen erst auswerten.

Page 37: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

36

CDU

1. Grundsatzprogramm der CDU Deutschlands „Freiheit in Verantwortung“ vom 20.-23. Februar 1994, 5. Parteitag, 21. - 23. Februar 1994, Hamburg:

K A P I T E L IWIR CHRISTLICHE DEMOKRATEN1. WER WIR SIND1. ... Unsere Politik beruht auf dem christlichen Verständnis vom Menschen und seiner Verantwortung vor Gott.Für uns ist der Mensch Geschöpf Gottes und nicht das letzte Maß aller Dinge. Wir wissen um die Fehlbarkeit desMenschen und die Grenzen politischen Handelns. Gleichwohl sind wir davon überzeugt, dass der Mensch zurethisch verantwortlichen Gestaltung der Welt berufen und befähigt ist.

Unser Verständnis vom Menschen

8. Aus der Würde des Menschen erwächst das Recht eines jeden auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit. DieFreiheit gibt dem Menschen die Möglichkeit zur sittlichen Entscheidung. Jeder Mensch trägt dafür die Verant-wortung vor seinem Gewissen und nach christlichem Verständnis vor Gott.

9. Jeder Mensch ist auf Gemeinschaft mit seinen Mitmenschen angelegt und angewiesen. Die Freiheit des einzel-nen verwirklicht und bewährt sich in der Zuwendung zum Nächsten und in der Gestaltung des menschlichenZusammenlebens. Das bedeutet, dass der einzelne Verantwortung für sich und seine Mitmenschen tragen muss.

Die Grundwerte unserer Politik - Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit

12. Unser Gemeinwesen lebt von geistigen Grundlagen, die nicht selbstverständlich und für alle Zeiten gesichertsind. Es ist die besondere Selbstverpflichtung der CDU, die christlich geprägten Wertgrundlagen unserer frei-heitlichen Demokratie zu bewahren und zu stärken. Dies unterscheidet uns Christliche Demokraten wesentlichvon sozialistischem, nationalistischem und liberalistischem Denken.

Grundlage und Orientierung unseres politischen Handelns sind das christliche Verständnis vom Menschen unddie daraus abgeleiteten Grundwerte Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit. Die Grundwerte erfordern und be-grenzen sich gegenseitig. Keiner erfüllt ohne die anderen seinen Sinn. Ihre Gewichtung untereinander richtig zugestalten ist Kern der politischen Auseinandersetzung.

Die Grundwerte sind als unteilbare Menschenrechte nicht auf nationale Grenzen beschränkt und sind verpflich-tende Grundlage für unsere Außenpolitik.

Freiheit

13. Wir Christliche Demokraten treten für das Recht des einzelnen auf freie Entfaltung der Person ein. Als sittli-ches Wesen kann der Mensch vernünftig und verantwortlich entscheiden und handeln. Es ist Aufgabe der Politik,den Menschen den notwendigen Freiheitsraum zu sichern. Freiheit umfasst Rechte und Pflichten. Wer Freiheitfür sich fordert, muss die Freiheit seines Mitmenschen anerkennen. Die Freiheit des einzelnen findet ihre Grenzenin der Freiheit des anderen und in der Verantwortung für die zukünftigen Generationen und für die Bewahrungder Schöpfung.

14. Der Mensch entfaltet sich in der Gemeinschaft. Freiheit verwirklicht sich durch Selbstverantwortung undMitverantwortung. Jeder Bürger soll im geeinten Deutschland Freiheit in Familie, Nachbarschaft, Arbeitsweltund Freizeit sowie in Gemeinde und Staat erfahren und verwirklichen können. Die Verwirklichung der Freiheitdes einzelnen ist ohne die Übernahme von Verantwortung für sich und die Gemeinschaft ethisch nicht möglich.

Page 38: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

37

Wir wenden uns gegen einen falsch verstandenen Individualismus auf Kosten anderer. Wir wollen den Sinn fürVerantwortung und Gemeinwohl, für Pflichten und Bürgertugenden stärken.

16. Die Verwirklichung der Freiheit bedarf der eigenverantwortlichen Lebensgestaltung. Aus ihr ergibt sich fürdie Ordnung des gesellschaftlichen Lebens das Prinzip der Subsidiarität, nach dem Staat und Gemeinden auf dieÜbernahme von Aufgaben verzichten, die von den einzelnen Bürgern oder jeweils kleineren Gemeinschaftenerfüllt werden können.

Was der Bürger allein, in der Familie und im freiwilligen Zusammenwirken mit anderen ebenso gut leisten kann,soll ihm vorbehalten bleiben. Der Grundsatz der Subsidiarität gilt auch zwischen kleineren und größeren Ge-meinschaften sowie zwischen freien Verbänden und staatlichen Einrichtungen. Zur Verpflichtung des Staates undder Gemeinschaft gehört es, die subsidiäre Aufgabenwahrnehmung zu erleichtern und zu fördern.

Das Prinzip der Subsidiarität verlangt aber auch, dass die größeren Gemeinschaften, zuletzt auch die staatlicheEbene, tätig zu werden haben, wenn gesellschaftspolitische Erfordernisse die Leistungskraft der einzelnen oderder kleineren Gemeinschaften überfordern.

19. Die eigene Leistung gehört zur freien Entfaltung der Person. Unsere Gesellschaft ist auf die Leistungsbereit-schaft ihrer Mitglieder angewiesen. Sie ist eine der wesentlichen Grundlagen für Wohlstand und sozialen Frieden.Wir wollen den persönlichen Leistungswillen und die Initiative einzelner anerkennen und fördern. Seine Würdeund sein Recht hat der Mensch unabhängig von jeder Leistung.

20. Zur Freiheit gehört die Bereitschaft, sie nach außen und innen zu schützen und für sie zu kämpfen. Wir be-kennen uns zum Prinzip der wehrhaften Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Wer frei ist, hat die Pflicht, für dieFreiheit derer einzutreten, denen Freiheit vorenthalten wird. ...

Solidarität

21. Solidarität heißt füreinander da sein, weil der einzelne und die Gemeinschaft darauf angewiesen sind. Solida-rität ist Ausdruck der sozialen Natur des Menschen und folgt aus dem Gebot der Nächstenliebe. Ihren ethischenMaßstab gewinnt sie aus der Würde des Menschen. Das Ziel, ein menschenwürdiges Leben für alle zu ermögli-chen, verpflichtet uns zu solidarischem Handeln. Solidarität muss deshalb vor allem den Menschen gelten, dieihre Rechte nicht selbst vertreten können.

22. Der einzelne und die Gemeinschaft sind auf die solidarische Mitwirkung aller angewiesen. Jeder hat dasRecht auf und die Pflicht zur Solidarität und trägt mit seiner Arbeit und Leistung dazu bei, dass die Gemeinschaftaller für die einzelnen eintreten kann. Wir bekennen uns zu dieser wechselseitigen Verantwortung des einzelnenund der Gemeinschaft. Elementare Formen der Solidarität sind Hilfe und Unterstützung im unmittelbaren per-sönlichen Miteinander - in der Familie, unter Nachbarn und in privaten Gemeinschaften. Dort aber, wo die Kräftedes einzelnen, von freien Verbänden oder Gruppen überfordert sind, müssen die Gemeinschaft und der Staathelfen. Er muss die verantwortliche Selbsthilfe im Rahmen des Möglichen erleichtern und zumuten. Die CDUbekennt sich zu dieser wechselseitigen Verantwortlichkeit, die gleich weit entfernt ist vom ungebundenen Indivi-dualismus wie vom Kollektivismus.

23. Die soziale Sicherung beruht auf den Prinzipien der Solidarität und Subsidiarität. Durch die soziale Sicherungwerden gemeinschaftlich die Risiken abgesichert, die der einzelne allein nicht bewältigen kann. Die soziale Si-cherung hat befriedende und befreiende Wirkung. Solidarität verbietet den Missbrauch des Systems der sozialenSicherung. Durch die soziale Sicherung werden keine widerruflichen Almosen, sondern es wird für den einzelnenein Recht auf Sicherheit begründet.

Solidarität ist ohne Opfer nicht denkbar. Wer Hilfe und Solidarität von anderen erwartet, muss selbst bereit sein,anderen zu helfen. Wer sich davon ausschließt und nur für seinen persönlichen Vorteil wirtschaftet und lebt,entzieht der Gemeinschaft die Grundlage für den sozialen Frieden. Solidarität verbindet nicht nur Interessengrup-pen in der Wahrnehmung ihrer berechtigten Anliegen, sondern greift über die widerstreitenden Interessen hinaus.Solidarität verpflichtet die Starken zum Einsatz für die Schwachen und alle im Zusammenwirken für das Wohldes Ganzen.

Page 39: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

38

Gerechtigkeit

26. Grundlage der Gerechtigkeit ist die Gleichheit aller Menschen in ihrer von Gott gegebenen Würde und Frei-heit. Gerechtigkeit bedeutet gleiches Recht für alle. Recht schützt vor Willkür und Machtmissbrauch. Es sichertFreiheit auch für den Schwächeren und schützt ihn.

27. Gerechtigkeit fordert die Anerkennung der persönlichen Leistung und Anstrengung ebenso wie den sozialenAusgleich. Gerechtigkeit verlangt, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Chancengerechtigkeitist die notwendige Ergänzung der Gleichheit vor dem Recht. Sie soll jedem die Möglichkeit geben, sich in glei-cher Freiheit so zu entfalten, wie es seiner persönlichen Eigenart entspricht. Wir setzen uns dafür ein, dass jederMensch seine Lebenschancen frei und verantwortlich wahrnehmen kann. Deshalb treten wir für eine Politik aus-gleichender Gerechtigkeit ein. Chancengerechtigkeit wächst auf dem Boden möglichst gerecht verteilter Lebens-chancen; dazu gehört ein offener Zugang zu den Bildungseinrichtungen unter Ausgleich nachteiliger Vor-bedingungen ebenso wie die Möglichkeit der Mitsprache und Mitverantwortung, die Nutzung lebenswichtigerGüter und der Erwerb persönlichen Eigentums.

29. Gerechtigkeit schließt die Übernahme von Pflichten entsprechend der Leistungsfähigkeit des einzelnen zumWohle des Ganzen ein. Soziale Gerechtigkeit verlangt, vor allem denjenigen Menschen zu helfen, die nur unzu-reichend zur Selbsthilfe fähig sind und allein ihre Belange nicht wirkungsvoll vertreten und durchsetzen können.Wir fühlen uns den Schwachen und sozial Benachteiligten besonders verpflichtet. Für uns gilt, niemanden fallenzu lassen und jedem in unserer Gesellschaft menschenwürdige Lebensverhältnisse zu sichern.

2. CDU-Präsidiumskommission „Spielraum für kleine Einheiten“ im Diskussionspapier„Starke Bürger. Starker Staat“ vom 9. Oktober 2000:

Vorwort

Wir wollen die aktive Bürgergesellschaft, denn die Menschen können und wollen mehr mit und in unserer Ge-sellschaft tun als ihnen die überregulierte, undurchsichtige, verantwortungs- und zuständigkeitsverschleierndestaatliche Kompetenzverteilung zur Zeit einräumt. Innerstaatlich erfahren die Bürger "ihren" Staat als unüber-sichtlich mit ausufernder Zuständigkeit und freiheitsgefährdender Regulierung. Wir wollen für alle staatlichenEbenen, wie für die europäische Ebene, klare Zuständigkeiten und Verantwortungsbereiche. Das Konnexi-tätsprinzip (wer bestellt, bezahlt) muss durchgesetzt werden. Unser Ziel ist ein erneuerter und schlanker Staat, derEigenverantwortung, vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten ermutigt bzw. zulässt. Die Menschen erleben ihreGestaltungs- und Freiheitsspielräume zu aller erst vor Ort, in der Kommune. Dort ist zu erfahren und zu erleben,was Subsidiarität, Spielraum, Chance, Befähigung der kleinen Einheiten tatsächlich bedeuten können. Deshalbhat die Kommission „Spielraum für kleine Einheiten“ den Staat vom Kopf auf die Füße gestellt. Ausgehend vomBürger zeigen wir Reformmöglichkeiten für alle staatlichen Ebenen auf – von unten nach oben, von der Kom-mune über die Länder bis zur Europäischen Union. Wir wollen den Staat aus der Sicht des Bürgers betrachtenund die vielfältigen Defizite wegräumen. Darstellung der aktuellen Situation, Formulierung des Soll-Zustandsund Aufzeigen der Lösungsinstrumente. Dieser Dreiklang liegt diesem Reformpapier zu Grunde.

Christa Thoben, Senatorin a.D., Vorsitzende der CDU-Präsidiumskommission „Spielraum für kleine Einheiten“

I. Einleitung

... Der christdemokratische Denkansatz geht im Wandel vom Beständigen aus. Das Bild, das die CDU vom Men-schen hat, wandelt sich nicht. Es geht heute, wie gestern, um ein freiheitliches und sicheres, ein individuelles undsolidarisches Leben.

Eine offene Gesellschaft eröffnet den Menschen vielerlei individuelle Chancen und Freiheiten; sie ist aber auchdarauf angewiesen, dass die Menschen sich auf vielfältige Weise in das Gemeinwesen einbringen und so zumGelingen des Ganzen beitragen: Als Staatsbürger (homo politicus), als Wirtschaftsbürger (homo oeconomicus)und verstärkt auch als Sozialbürger (homo civiles). Eine gute Gesellschaft braucht die sichtbaren und unsichtba-ren Hände derer, die miteinander, füreinander und für andere etwas unternehmen.

Page 40: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

39

Diesem Grundverständnis steht eine Entwicklung des Staates entgegen, der versucht, mehr und mehr zu steuern:mit Gesetzen, Verordnungen und Genehmigungen. Der Staat hat nach und nach seine Rolle als Verantwortungs-staat zum Zuständigkeitsstaat verschoben.

... Zu Beginn des 21. Jahrhunderts brauchen wir ein erneuertes Selbstverständnis von Bürger und Staat, vonRechten und Pflichten und den staatlichen Ebenen untereinander. Tradiertes Misstrauen gegen die eigenen Bür-ger, das erinnert an hochgezogene Brücken mittelalterlicher Burgen. Herabgelassene Zugbrücken, Offenheit istunser Weg in Vertrauen und Toleranz.

Wir wissen um die Verantwortung auch des Staates, die Menschen zu ermutigen und zu befähigen, ihr eigenesLeben und ihr Leben in der Gemeinschaft verantwortlich zu gestalten. Voraussetzung ist die Vermittlung vonWissen (Bildung) und Werten durch Familie, Kirchen und Staat (Schulen, Hochschulen).

Heute ist der Staat zu weit weg vom Bürger, Entscheidungen werden anonym getroffen. Wir wollen – ausgehendvon unserem Menschenbild – einen partnerschaftlichen Staat, der dem Bürger „erfahrbar“ und zumutbar an derSeite steht. Einen Staat, der der jeweils kleineren Einheit Freiheit und Selbstverantwortung einräumt, um denMenschen mit seinen Fähigkeiten und Erwartungen entgegenzukommen. Der Bürger erwartet einen starken Staat,der hilft, gewährleistet, sichert und befähigt.

Doch nicht nur das „ob“, sondern auch das „wie“ liegt im Interesse des Bürgers. Er wünscht sich einen schnellen,transparenten, flexiblen und entscheidungsstarken Staat. Netzwerke statt Hierarchien bedeutet dies in der Um-setzung. Die technischen Revolutionen der letzten Jahrzehnte, vor allem das Internet, stellt für den Staat eineChance dar, schneller und besser Prozesse zu gestalten und zu steuern. Die Transparenz wird dann erheblicherhöht, wenn Verantwortung dezentral übernommen wird. Die Qualität steigt sobald die Mitarbeiter des öffentli-chen Dienstes auf diesem Weg mitgenommen werden und die Ängste und Sorgen, ausgelöst durch Verände-rungsprozesse, ernst genommen und durch Weiterqualifizierung und Anreizstrukturen überwunden werden. Des-halb gilt: Dezentral und vernetzt, statt zentral und bevormundend.

II. Der Bürger

In den letzten Jahrzehnten hat sich immer mehr eine Schieflage zwischen der bestehenden Bereitschaft der Bür-ger entwickelt, sich in die Gesellschaft einzubringen und den Möglichkeiten, die ihnen dazu geboten werden.Dadurch werden die Kräfte des Einzelnen und der Gesellschaft geschwächt. Auf diesem Weg werden zu vieleErwartungen an den Staat provoziert. Der umgekehrte Weg ist richtig. Die Rangfolge der Fragen muss lauten:Was kann der Einzelne leisten?, Was muss der Staat ihm zutrauen?, Was leisten die verschiedenen Gemein-schaften der Gesellschaft, was die Allgemeinheit?. Erst eine Neuordnung entlang dieser Prioritäten führt dazu,dass die Bürgerschaft ihre eigenen, oft brach liegenden Potenziale entfaltet.

1. Für eine bürgerschaftliche Kultur

Die soziale und bürgerschaftliche Kultur, in der Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement eine zentrale Rollespielen, soll aufbauen auf einer neuen Phase der sozialen Marktwirtschaft, in der Solidarität, Subsidiarität undverantwortete Freiheit die Pyramide der Werte und Ziele darstellen. Die CDU will keine Gesellschaft, die nurvom Staat oder von ökonomischen Interessen dominiert wird. Es gibt Tugenden (z. B. Engagement, Disziplin,Fleiß) und Werte (z. B. Freiheit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe), die jenseits von Angebot und Nachfrage liegen,und es gibt Formen der sozialen Zuwendung und Aktivitäten, die vom Staat weder geschaffen noch verordnetwerden können. Die CDU sieht es deshalb als eine zentrale politische Aufgabe an, jene Räume zu schaffen undzu schützen, in denen Menschen freiwillig, aber nicht privat, öffentlich wirksam, aber nicht unter staatlicher Re-gie, tätig werden. Das 21. Jahrhundert braucht eine neue Balance zwischen Staat, Markt und Gesellschaft; es er-fordert insgesamt eine neue soziale und bürgerschaftliche Kultur.

Die neue soziale und bürgerschaftliche Kultur braucht eine Ordnungspolitik, die ihre Aufgabe darin sieht, Hin-dernisse zu beseitigen und günstige Rahmenbedingungen (Anreize) zu schaffen, damit sich die Potenziale fürehrenamtliche und bürgerschaftliche Aktivitäten optimal entfalten können. Sowie eine gute wirtschaftliche Infra-struktur Voraussetzung dafür ist, dass Menschen in wirtschaftlicher Hinsicht etwas unternehmen und die Wirt-schaft blüht und gedeiht, so ist eine gute soziale Infrastruktur Voraussetzung dafür, dass Menschen in sozialerHinsicht etwas unternehmen und so auch das soziale Gemeinwesen blüht und gedeiht.

Page 41: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

40

Die neue soziale und bürgerschaftliche Kultur braucht nicht zuletzt sozial aktive Bürger. Ehrenamtliche zu fin-den, zu mobilisieren und weiterzubilden und in ihrer Arbeit zu unterstützen, ist oft eine Aufgabe, die selbst nichtmehr ehrenamtlich erbracht werden kann, weil sie Kontinuität und Professionalität im Detail erfordert. Wer mehrEhrenamtliche haben will, darf diejenigen nicht vergessen, die in diesen Bereichen hauptberuflich tätig sind. Vie-le von ihnen haben die Sorge, dass durch ehrenamtliche Tätigkeit ihre Aufgabe entfällt. Die Sorge ist unbegrün-det. Die Wahrheit sieht anders aus. Die personenbezogenen sozialen Dienstleistungen werden zu den Wachs-tumsbranchen auf dem regulären Arbeitsmarkt gehören. Für die in diesem Feld Berufstätigen eröffnet sich ein zu-sätzliches Aufgabenfeld: die Rekrutierung, Organisation und Koordinierung der Aktivitäten von Ehrenamtlichen.

In jedem Fall erfordert die neue soziale Kultur eine neue Kooperation zwischen „Professionellen“ und „Laien“auch in den Einrichtungen des Bildungs- und Sozialwesens (Schulen, Altersheimen, Kindergärten). Unterstüt-zende Nachbarschaften können diese Einrichtungen zu sozial-lebendigen Orten machen, die Betroffene und Be-teiligte sowohl entlasten als auch zum Mitmachen einladen. Voraussetzung dafür sind mehr Autonomie und De-zentralisierung. Die CDU sieht in diesen Aufgaben ein weites Feld für eine neue Politik der Subsidiarität.

2. Ehrenamt hat Zukunft

Das Ehrenamt ist ein unverzichtbares Element für den Zusammenhalt derGesellschaft. Das ehrenamtliche Enga-gement ist auch in der heutigen Zeit Teil und Ausdruck einer Gesellschaft, für deren „Bestand und noch viel mehrfür deren Gedeihen es von wesentlicher Bedeutung ist“, wie Alexis de Tocqueville es einmal ausgedrückt hat,„dass die Gesinnung aller Bürger immer von einigen Leitideen zusammengehalten wird“. Ohne ehrenamtlicheAktivitäten würde unsere Gesellschaft verarmen. In Deutschland sind Millionen von Bürgerinnen und Bürgernehrenamtlich tätig: In Vereinen und Verbänden, in Initiativen und Selbsthilfegruppen, in Gewerkschaften undParteien, in kulturellen und sozialen, kirchlichen und politischen Gemeinschaften und nicht zuletzt im sportlichenBereich. Ohne dieses bürgerschaftliche Engagement wäre unser Land ärmer. Alltagssolidaritäten würden zusam-menbrechen, die soziale Temperatur im Lande sinken.

Die CDU wird ehrenamtliches Engagement in allen Formen, den traditionellen wie den neu entstehenden, unter-stützen und sich als Anlaufstelle anbieten. Sie versteht sich als politischer Partner dieser Bewegung und sieht sichselbst als Teil dieser sozialen Infrastruktur.

Das Ehrenamt hat Tradition und Zukunft. Viele Potenziale für ehrenamtliches Engagement liegen noch brach.Die Bereitschaft (Motivation) der Menschen und die politisch-gesellschaftlichen Arrangements („Gelegenheits-strukturen“) passen häufig nicht mehr zusammen. Das ehrenamtliche Engagement kennt vielfältige Formen. Dieeinen engagieren sich aus christlichen Motiven der Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Religiöse Orientierungenund Verwurzelungen haben Caritas und Diakonie begründet und getragen und sind noch immer in unserer Gesell-schaft lebendig.

Andere engagieren sich auch deshalb, weil sie aktiv teilhaben wollen am Leben der Gemeinde; weil sie Lebens-situationen gemeinsam besser bewältigen oder sich sozial einbringen und verwirklichen wollen, weil es Spaßmacht, selber Dinge zu regeln. Die einen suchen nach wie vor das dauerhafte Engagement in Organisationen undVerbänden; eine wachsende Anzahl zieht die Mitarbeit in Projekten und Initiativen vor. Die 13. Jugendstudie vonShell dokumentiert dies deutlich. So verlieren traditionelle und formal geprägte Vereinigungen deutlich an jungenMitgliedern. Aber auch die angeblich attraktiven Organisationen wie Umweltschutz- und Menschenrechtsgrup-pen kommen nicht voran. Der Rückgang in Vereinen und Organisationen ist aber nicht gleichzusetzen mit einermangelnden Bereitschaft, sich zu engagieren. Viel mehr äußern die Jugendlichen den Wunsch, projektbezogen zuarbeiten und sich nicht langfristig festlegen zu müssen.

Helfen macht Freude! Aber: Vorschriften und Reglementierung dürfen die Menschen nicht entmutigen, wie dasso oft der Fall ist.

Die CDU erkennt und anerkennt die ganze Breite ehrenamtlicher Motivationen und Tätigkeiten. Viele betrachtenihr Engagement mehr als „freiwillige Arbeit“, denn als klassisches Ehrenamt. Auch dieses Selbstverständnis wirdvon der CDU anerkannt und gefördert. Soziales Engagement und Selbstverwirklichung als Person sind keine Ge-gensätze. Die CDU hat kein eindimensionales Menschenbild. Menschen können sich auch und gerade in sozialemEngagement selbst verwirklichen, indem sie gemeinsam mit anderen etwas für sich und andere tun. Wer sichselbst für andere engagiert, führt ein >reicheres< Leben. Die CDU ist willens und fähig, aus ihren Traditionenheraus eine nachhaltige Politik des Ehrenamtes für die Menschen und die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts zuentwerfen.

Page 42: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

41

3. Die Bürgergesellschaft als lebendige Demokratie

Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Reform des Wohlfahrts-staates und zur Erneuerung des Gemeinwesens durch eine aktive Bürgergesellschaft. Unser Menschen- und Ge-sellschaftsbild orientiert sich an sozialer Fairness und an sozialer Vielfalt, an dem Bild einer Gesellschaft derwechselseitigen Verpflichtungen und an der republikanischen Vorstellung eines auch in sozialer Hinsicht aktiven,verantwortlichen Menschen.

Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement können den Sozialstaat, die Familie und die Erwerbsarbeit nichtersetzen. Aber sie bieten nicht nur den Menschen sinnvolle Tätigkeiten, sondern sie tragen auch bei zur Reformdes Wohlfahrtsstaates und zur Erneuerung der Demokratie durch eine aktive Bürgergesellschaft. Eine „starke De-mokratie“ (Benjamin Barber) in den Städten und Gemeinden drückt sich nicht nur in Wahlen und Abstimmun-gen, nicht nur in Rechten und Ansprüchen, sondern verstärkt in sozialer Teilnahme und Teilhabe am Gemeinwe-sen aus. Aktive Bürger realisieren den partizipativen Anspruch der Demokratie, indem sie die öffentlichen Dingeund die sozialen Angelegenheiten nicht einfach an andere, an den Staat oder die Kommune delegieren, sondernwieder verstärkt in Eigenverantwortung wahrnehmen.

Die Zukunft der Freiwilligenarbeit liegt in einer lebendigen Demokratie, und eine lebendige Demokratie brauchtsozial aktive Bürger.

Zur Sache – Wir fordern:

Ehrenamtliche Aktivitäten in Vereinen und Projekten des bürgerschaftlichen Engagements, wie Freiwilligen-agenturen, Seniorengenossenschaften, Mütterzentren und Selbsthilfeinitiativen brauchen Unterstützung durchanerkannte staatliche Förderinstrumente, zum Beispiel:

• Der Staat soll soziale Aktivitäten der Bürger nicht ersetzen oder instrumentalisieren, sondern ermöglichen,evozieren und so die sozialen Ressourcen der Gesellschaft mobilisieren. Das einfachste Mittel ist, Engage-ment zuzulassen statt zu behindern. Wenn sich engagierte Bürgerinnen und Bürger zusammenschließen undlediglich nach einem Raum fragen (z. B. ungenutzte Schulräume am Nachmittag) darf es nicht an der Frageder Schlüsselgewalt oder des Versicherungsschutzes scheitern.

• Durch Einordnung als „besonders förderungswürdig im Sinne der Abgabenordnung“, damit sie berechtigtsind, Spendenbescheinigungen auszustellen.

• Durch Einführung von „favor credits“: Durch soziales Engagement können Berechtigung zur kostenlosenNutzung von spezifischen Dienstleistungen erworben werden. Der Staat soll solche Gegenseitigkeitsver-hältnisse weder einer Steuerpflicht unterwerfen noch gewerberechtlich reglementieren. Eine Missbrauchs-kontrolle bleibt aber erlaubt und erwünscht. Dadurch soll die Idee des Realtausches gefördert werden.

• Zu einer sozialen Infrastruktur und Ordnungspolitik gehören Anreize und Instrumente zur Mobilisierung der„schlafenden Reserven“ ehrenamtlichen und bürgerschaftlichen Engagements, etwa durch Fördertöpfe beiden Kommunen; durch Schaffung von kommunalen Unterstützungsstellen und durch soziale Büros („Mak-ler“), die das Angebot und die Nachfrage nach freiwilligen sozialen Diensten zusammenbringen; oder durcheine kleine soziale Task-Force in großen Einrichtungen (Krankenhäusern, Behörden, Unternehmen), derendoppelte Aufgabe darin besteht, Ehrenamtliche für die Mitarbeit zu gewinnen und ihren Einsatz sinnvoll zugestalten.

• Zu einer solchen Ordnungspolitik gehören eine Reform des Gemeinnützigenrechtes und des Stiftungsrechtes;die Beseitigung zeitlicher Obergrenzen für ehrenamtliche Aktivitäten, zum Beispiel bei Arbeitslosen; Fragennach der stärkeren Anerkennung von Tätigkeiten jenseits der Erwerbsarbeit in der Berufs- und Rentenbio-graphie und nicht zuletzt die Förderung einer entsprechenden sozialen Infrastruktur als einer kommunalenund damit öffentlich verantworteten Aufgabe.

Die CDU will eine neue Ordnungspolitik als Teil und Ausdruck eines anderen Verständnisses staatlicher undkommunaler Tätigkeit. Dieses neue Staatsverständnis ist die andere Seite des Menschenbildes der CDU: AlleMenschen, Junge wie Alte, Erwerbstätige wie Arbeitslose haben Fähigkeiten, die sie einbringen können und diedas Gemeinwesen bereichern.

Page 43: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

42

Die neue soziale Kultur braucht Wirtschaft und Unternehmen, die sich zu ihrer sozialen Verantwortung beken-nen. Sie können auf vielfältige Weise zur sozialen Lebendigkeit der Gesellschaft und zur Förderung des Ehren-amtes beitragen:

• durch eine Organisations-, Personal- und Arbeitszeitpolitik, die Rücksicht nimmt auf ehrenamtliche Tätig-keiten,

• durch die Anerkennung von Ehrenamt und sozialem Engagement in der Personalakte und in der Berufsbio-graphie,

• durch Spenden und Sponsorship.

Wenn Unternehmen den sozialen Aktivitäten ihrer Mitarbeiter einen größeren Stellenwert einräumen und auchganz konkret, US-amerikanischen Beispielen folgend, bezahlte Zeit für soziales Engagement zur Verfügung zustellen, dann leisten sie nicht nur einen wichtigen Beitrag für eine bessere Gesellschaft, sondern sie erweisen sichauch selbst einen guten Dienst. Sie werden attraktiver im Wettbewerb um qualifizierte Mitarbeiter und Kunden.Die Mitarbeiter erwerben soziale Kompetenzen, die sie dann im Unternehmen gewinnbringend einsetzen können.Nicht zuletzt können Unternehmen so die Kritik widerlegen, es ginge ihnen nur um den Shareholder-Value, derRest der Gesellschaft sei ihnen gleichgültig. Auf diese Weise können sie ihr Ansehen in der Öffentlichkeitverbessern.

4. Direkte Demokratie – Mitgestaltung durch Einbindung

Das Rückgrat einer lebendigen Bürgergesellschaft sind die Strukturen der demokratischen Mitwirkungsmöglich-keiten. Gerade unsere bundesstaatliche Ordnung mit ihren Städten, Kreisen, Kommunen und Ländern ist wie keinanderes Gesellschaftsmodell geeignet, die Bürgerinnen und Bürger einzuladen, durch direkte Beteiligung ankonkreten Projekten unsere Gesellschaft mitzugestalten.

Vielfach wird über die immer größere Distanz der Bürger zu den politischen Institutionen und Strukturen geklagt.Die Revitalisierung des Vertrauens in Politik und staatliche Strukturen ist allein von oben her nicht möglich. Wermehr Bürgerbeteiligung ermöglichen möchte, muss deshalb verstärkt dort ansetzten, wo die Menschen denstärksten Bezug zu ihrem Umfeld erfahren. Dort werden die meisten Entscheidungen getroffen, die den Bürgerkonkret in seinem Lebensbereich betreffen. Auch deshalb halten wir die Einführung von Volksentscheiden aufBundesebene für den falschen Weg.

Vielerorts werden hervorragende Erfahrungen mit der Einbindung der Bürgerinnen und Bürger in konkrete Vor-haben gemacht. Die Möglichkeit auch eigenständige Anträge bzw. Petitionen einzubringen, bereichert das Ge-meinwesen und gibt positive Anregungen.

Zur Sache – wir fordern:

Die CDU will den Beteiligungsformen der direkten Demokratie einen neuen Impuls geben. Deshalb fordern wireine Weiterentwicklung der Beteiligungsformen auf kommunaler wie auf Landesebene.

III. Rolle des Staates

Der Staat muss wieder überschaubar werden. Es muss wieder klar werden, wer oder welche Institution für diejeweiligen Entscheidungen der öffentlichen Hand verantwortlich ist. Wo die Verantwortung nicht klar definiertist, da kann man auch von den Bürgern nicht erwarten, dass sie die Verantwortung selbst übernehmen.

1. Lokale Gemeinschaft

Die Kommunen sind der Seismograph gesellschaftlicher Entwicklung und Veränderung. Die Kommune stellt dieunmittelbarste und häufigste Begegnungsebene des Bürgers mit Staat und Verwaltung dar. Hier erfährt und erlebt

Page 44: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

43

er Demokratie. Deswegen müssen die Spielräume für kommunales Gestalten ausgeweitet werden, das gilt insbe-sondere auch für eine größere finanzielle Handlungsfreiheit. Die CDU will der Kommune wieder mehr Aufgabenüberlassen und sie besser vor dem reglementierten Zugriff der oberen staatlichen Stellen schützen. Sie akzeptiertdas größere Maß an Unterschiedlichkeit, das sich daraus ergibt. Der Wettbewerb um die besten Ideen und Lö-sungen soll nicht nur geduldet, sondern bewusst gefördert werden. Wettbewerb ist kein Selbstzweck, er dient denMenschen.

a) Besinnen auf Kernkompetenzen

Grundidee der kommunalen Selbstverwaltung ist, dass die lokale Gemeinde ihren Bürgern eine gute Heimat istund dass sowohl das für die Daseinsvorsorge der Bürger, wie auch das für die Zukunftssicherung der lokalenGemeinde Erforderliche geschieht. Aber nicht alles, was der Bürger braucht, muss von der Gemeinde selber an-geboten werden. Die Erfahrung zeigt: Ein fairer Wettbewerb zahlt sich für den Bürger aus (z. B. Telekommuni-kation, Energiewirtschaft). Das Angebot der Leistungen wächst und sie werden effizienter erbracht. Die CDUpocht dabei deshalb nicht auf bestimmte Rechtsformen, sondern auf Berücksichtigung dieser Erfahrung und aufdie Rückbesinnung auf die Grundsätze von Subsidiarität und Selbstverantwortung. Die Wege dahin sind vielfäl-tig, sie reichen von der völligen Privatisierung von Aufgaben über die Ausschreibung, an der sich Eigenbetriebebeteiligen können, bis zu transparenten Benchmarks (Leistungsvergleiche zwischen Kommunen).

...

Die Kommunen übernehmen bei Privatisierungen die besondere Gewährleistungsaufgabe, sicherzustellen, dassdie Bürger vor den wichtigsten Risiken geschützt bleiben. Soweit kommunale Eigenbetriebe weiterhin an derAufgabenerfüllung teilhaben und damit in Konkurrenz mit privaten Unternehmen stehen, muss der faire Wettbe-werb und die steuerliche Gleichbehandlung gesichert sein. ...

b) Verantwortung: Transparent und Bürgernah

... Die Kommunen müssen wieder mehr Freiraum von Land und Bund erhalten und vor zu weitgehenden Eingrif-fen der europäischen Ebene geschützt werden. Ihrerseits müssen die Kommunen den Bürgern wieder mehr Ei-genverantwortung zutrauen und sich als gewährleistende Kommune in den Dienst des bürgerschaftlichen Enga-gements stellen.

c) Eigenständigkeit stärken

Subsidiarität (Entscheidungen werden dezentral und basisnah getroffen) ernst zunehmen heißt, der kleinen Ein-heit mehr Verantwortung zuzutrauen. Die Kommunen und Kreise werden täglich mit den Anliegen und Sorgender Bürger konfrontiert, sie kennen die Probleme und auch die Lösungsmöglichkeiten. Schließlich ist der Ver-weis auf andere Zuständigkeiten und komplizierte Verfahrensregeln für jeden Bürger eine Zumutung und letztlicheine Kapitulation vor dem gewachsenen Wildwuchs der Regelungs- und Gesetzesdichte. Der Bürger spürt nichtnur die Schwierigkeiten der politischen Strukturen, den Herausforderungen des Wandels begegnen zu können. Erweiß auch immer weniger, wen er für Erfolg und Versagen haftbar machen soll – sei es, weil der Verantwortlicheviel zu viele Hierarchieebenen entfernt sitzt, sei es, weil die Verantwortlichkeit auf viel zu viele Gremien undPersonen aufgespalten ist.

Dieses unüberschaubare Gestrüpp muss entflochten werden. Es muss durch klare Verantwortlichkeiten und fürden Bürger nachvollziehbare Entscheidungen ersetzt werden. Ein klar abgegrenzter und eigenverantwortlicherEntscheidungsspielraum bedeutet, dass Ressort- und Schubladendenken zurückgedrängt werden können underlaubt regionale Unterschiedlichkeit der Ergebnisse politischer Entscheidungen. Auf der Siegerseite steht derBürger gemeinsam mit den Angestellten und Beamten der Städte, Kreise und Kommunen, die so befähigt wer-den, wieder mehr Verantwortung zu übernehmen.

Transparente und bürgernahe Verantwortung sowie stärkere Eigenständigkeit der Kommunen sollte im Ergebnisauch dem gegenseitigen „moralisieren“, also das Vorhalten von Ratschlägen und Beschlüssen, die den jeweilsanderen binden, zwischen Kommune und Land bzw. Land und Kommune ein Ende bereiten.

Zur Sache – Wir fordern:

Page 45: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

44

Wir wollen, dass bei jeder Entscheidung eine konkret handelnde Person (Amtsleiter, Bürgermeister/Landrat bzw.ein Minister oder die Landesregierung) zuständig ist und als Verantwortlicher erkennbar wird:

• Möglichst alle örtlichen Verwaltungsaufgaben sind den kommunalen Verwaltungsebenen zuzuordnen. Diesbietet ein weites Feld zur Rückgewinnung kommunalen Handlungsspielraumes z. B. beim Denkmalschutz,bei der Landwirtschaft und den Forsten, in der Gewerbeaufsicht oder der örtlichen Raumplanung. Konse-quent ist es dann auch die Sonderbehörden der Länder entweder zu kommunalisieren oder in die allgemeineVerwaltung der Länder einzugliedern. ...

• Die Finanzverteilung muss zwischen allen staatlichen Ebenen durch Kompensation so erfolgen, dass dieFinanzrelationen nicht zu Lasten der Kommunen verändert werden. Wir wollen ein differenziertes Konne-xitätsprinzip einführen: Wo die Kosten überwiegend durch gesetzliche Regelungen verursacht werden, solldie gesetzgebende Ebene für die Finanzierung zuständig sein. Wo die Kosten überwiegend durch die Art desVollzuges bestimmt werden, soll die ausführende Ebene Kostenträger sein. ...

2. Die Länder und der Bund

a) Starker Föderalismus – klare Zuständigkeit

Föderalismus braucht Subsidiarität, Subsidiarität braucht eindeutig definierte Einheiten. Das heißt: Wenn wir denFöderalismus stärken wollen, müssen wir die Misch- oder Einheitsstrukturen, die sich gebildet haben, aufbrechen.Das gilt auch für die neuen Bundesländer, denn die Chance zu einem transparenten und gleichsam schnellen Staathaben wir nach der Wiedervereinigung nicht genügend genutzt. Nur so wird es möglich sein, die Handlungsfä-higkeit aller politischen Ebenen, auch die des Bundes, zu stärken bzw. wieder herzustellen. Leitidee für eineStärkung des Föderalismus in Deutschlands ist daher Eigenständigkeit, klare Verantwortlichkeit und Transparenz.Das setzt eine umfassende Entflechtung der bisherigen Entscheidungsstrukturen voraus.

Ausreichender Spielraum alleine reicht nicht aus. Jede Einheit braucht eine ausreichende Leistungskraft, die siein die Lage versetzt, den vorhandenen Raum nutzen zu können. Wo sie dies aus eigener Kraft nicht kann, bedarfes der „Hilfe zur Selbsthilfe“. Und jede Einheit braucht Anreize, ihre Fähigkeiten und Potentiale einzusetzen. Siemuss die Folgen ihres Handelns wie Nicht-Handelns spüren. Effektivität und Kreativität setzen deshalb einenWettbewerb um die beste politische Lösung voraus.

Wir wollen den Wettbewerb um bessere Lösungen auch zwischen den Ländern. Wir wollen zwischen den Län-dern mehr Unterschiedlichkeiten eröffnen; wir sehen die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse nicht bedroht,wenn – je nach Entscheidung – Länder zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen! Zugleich machen wir deut-lich, dass gewollte Vielfalt keine Absage an Ausgleich der unterschiedlichen Leistungskräfte bedeutet.

In Deutschland ist somit die föderale Struktur durch diese beiden Elemente gekennzeichnet: Wettbewerb zwi-schen den Ländern und die Bereitschaft, einen finanziellen Ausgleich solidarisch zu gestalten. Diese Erfahrunggilt es „zukunftsfest“ zu machen. Denn insbesondere die in einer bundesstaatlichen Ordnung möglichen Verglei-che bieten auch die Chance frühzeitiger Fehlerkorrekturen. Dieser gewollte Prozess entwickelt sich allerdings nurdann, wenn die Länder darauf verzichten, Verabredungen zu treffen, die den Wettbewerb von vorneherein aus-schalten, wie dies z. B. die Kultusministerkonferenz in etlichen Fällen getan hat.

Die föderale Neuordnung im Sinne der Subsidiarität muss deshalb einem Dreiklang folgen: Kompetenzspiel-räume, solidarischer Ausgleich, wettbewerblicher Anreiz.

Zur Sache – Wir fordern:

Größere Freiräume, klare Zuständigkeiten und effiziente Entscheidungsstrukturen für die Länder und für denBund können im Rahmen einer Föderalismusreform geschaffen werden. ...

c) Vielfalt nach innen – Handlungsfähigkeit in Europa

Die Forderung nach Vielfalt entspricht unserem Verständnis von Subsidiarität, das fest in der Programmatik derCDU verankert ist. Aber der alleinige Ruf nach einer Stärkung der Länder entspricht einer eindimensionalen

Page 46: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

45

Betrachtung. Bei Verhandlungen mit den Instanzen der EU wird die Verhandlungsposition der Bundesrepublikdurch „Vielstimmigkeit“ eher geschwächt. Die Summe der Einzelinteressen wird so oft zum Gegenteil des Ge-samtinteresses.

Das zusätzliche Konfliktpotential, das durch eine neue Kompetenzverteilung hinsichtlich des Verhältnisses vonLändern und Bund in europäischen Entscheidungsprozessen entsteht, wird ausdrücklich anerkannt. Die Gefahrwird gesehen, dass ein Gerangel um Kompetenzen und Zuständigkeiten die Verhandlungsposition des Gesamt-staates schwächt und zudem die Meinungsbildung verkompliziert. Deshalb müssen im Rahmen einer Föderalis-musreform und einer einher gehenden neuen Kompetenzzuordnung die bundesstaatlichen Entscheidungsmecha-nismen in Europaangelegenheiten überprüft und gegebenenfalls modifiziert werden.

3. Der Nationalstaat in der Europäischen Union

a) Akzeptanz für Europa durch klare Zuständigkeiten

Wir wollen nicht, dass die Bürger sich innerlich vom Einigungsprozess verabschieden. Die Tatsache, dass sichnur jeder zweite Bürger an der Europawahl 1999 beteiligt hat, ist ein Alarmsignal.

Das „Projekt Europa“ geht alle an. In Europa spielen die Regionen zur Wahrung der gewachsenen Vielfalt undder Bürgernähe eine wichtige Rolle. Deswegen fordert die CDU auch hier die Durchsetzung des Subsidiaritäts-prinzips: Wahrung der Eigenständigkeit der Mitgliedstaaten sowie deren Regionen (Länder und Kommunen),Wettbewerb, klare Zuständigkeiten und Transparenz. In einem wachsenden Europa, muss die EU jene Aufgabewahrnehmen, die nur gemeinschaftlich bewältigt werden können.

Zur Sache – Wir fordern:

... Die Mitgliedsstaaten und Regionen müssen örtliche Angelegenheiten selbst regeln. Aus diesem Gedanken derSubsidiarität müssen den Ländern und Gemeinden ausreichende Kompetenzen bleiben.

• Die Europäische Union soll als Fundament einen Verfassungsvertrag der Mitgliedsstaaten erhalten. Essollte die der Union zugrundeliegenden Wertentscheidungen, einschließlich einer Grundrechte-Charta, dieZiele und Grundsätze, den institutionellen Rahmen, das Subsidiaritätsprinzip und eine klare Kompetenzab-grenzung zwischen europäischer und nationaler Ebene erhalten.

IV. Spielregeln für den „schnellen Staat“

Diesen Vorschlägen zur Neubegründung des Verhältnisses der Bürger zu „ihrem“ Staat und der staatlichen Ebe-nen untereinander liegt ein Menschen und Gesellschaftsbild zugrunde, das sich an sozialer Fairness und Vielfalt,an dem Bild einer Gesellschaft der wechselseitigen Verpflichtungen, am Prinzip der Gegenseitigkeit orientiert.

Es geht nicht alleine darum, wer was macht. Genauso entscheidend ist, wie es gemacht wird. Deswegen gilt es,sich auf „Spielregeln“ zu verständigen.

Dabei ist wichtig: Wir brauchen Regeln, die näher an die Lebenswirklichkeit heranführen, sonst sucht sich dasLeben einen Weg außerhalb der Normen. Steuerung ist überhaupt nicht mehr möglich, der Regelverstoß wirdgeradezu vorprogrammiert und auch die sinnvollen Normen werden delegitimiert.

Eine Gesellschaft braucht zu ihrem Gelingen verschiedene starke Elemente: Eine öffentliche Debatte darüber,was ihr wichtig und wertvoll ist und worauf sie sich verständigen kann; eine richtige Wirtschaftsordnung, da diefalschen ökonomischen Anreize für niemanden einen sozialen Gewinn darstellen; und schließlich einen starkenStaat, der Recht, Sicherheit und Ordnung für alle durchsetzt.

Page 47: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

46

Der Anhang des CDU-Präsidiumspapiers fasst die Grundaussagen zum subsidiären Verhältnisvon Bürger und Staat zusammen und gibt gleichzeitig einen repräsentativen Überblick überdie neueren Beschlüsse zur Bürgergesellschaftstheamtik.

Bisherige Beschlusslage der CDU Deutschlands

Die CDU Deutschlands hat sich als die Partei der Deutschen Einheit im Jahre 1994 auf dem 5. Parteitag als erstedemokratische Volkspartei ein gesamtdeutsches Grundsatzprogramm „Freiheit in Verantwortung“ gegeben.

Wir bekennen uns zur Würde des Menschen und das Recht eines jeden auf die freie Entfaltung der Persön-lichkeit. Dabei ist jeder Mensch auf Gemeinschaft mit seinen Mitmenschen angelegt und angewiesen. Die Frei-heit des Einzelnen verwirklicht und bewährt sich in der Zuwendung zum Nächsten und in der Gestaltung desmenschlichen Zusammenlebens. (Ziffer 7,8,9).

Nach Auffassung der CDU ergänzen sich freiheitlicher Rechtsstaat und Sozialstaat.

1. Unser Sozialsystem soll dem Einzelnen in den Grundrisiken des Lebens die Sicherung der Grundbedürfnissegeben. Dabei soll die sozialstaatliche Daseinsvorsorge weder in Entmündigung durch den Staat ausarten nochdie eigene Leistungsfähigkeit des Einzelnen und das solidarische Engagement hemmen. Der Sinn des Sozi-alstaatsgebotes soll darin bestehen, subsidiär die Voraussetzungen für eine selbstverantwortliche Lebens-führung zu sichern. Solidarität und Subsidiarität sind damit wesentliche programmatische Fundamente derCDU (Ziffer 115).

Die CDU bekennt sich zum Föderalismus und ihrer neuen Belebung durch die Deutsche Einheit. Födera-lismus und kommunale Selbstverwaltung verteilen die staatliche Macht und schaffen zusätzliche Möglich-keiten demokratischer Mitwirkung und Teilhabe. Die Vielfalt ermöglicht den Wettbewerb und die Berück-sichtigung regionaler Eigenarten. Dabei soll das Prinzip der Subsidiarität auch im Verhältnis der Europäi-schen Union zu den Regionen und lokalen Gebietskörperschaften zur Geltung gebracht werden. Zuständig-keiten und Kompetenzen sollen auf die Europäische Union nur übertragen werden, wenn sie auf dieser Ebenegemeinsam effektiv wahrgenommen werden können.

Bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben der Europäischen Union, des Bundes und der Länder soll die Zu-ständigkeit soweit wie möglich bürgernah im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung liegen. Die Fä-higkeit von Gemeinden und Ländern zur Erfüllung ihrer Aufgaben muss dabei gesichert sein. Zugleich mussdie Kooperation zwischen Bund, Ländern und Gemeinden verbessert und ein ausgewogenes Kräfteverhältnishergestellt werden.

Die Finanzverfassung muss den Ländern und Kommunen Spielraum lassen, damit sie handlungsfähigbleiben und gleichwertige Lebensbedingungen in allen Ländern hergestellt werden können. Wie der Bund unddie Länder müssen auch die Kommunen sparsamer haushalten. Länderegoismen und Solidaritätsverweigerun-gen zwischen Bund und Ländern sowie der Bundesländer untereinander widersprechen unserem Verständnisder bundesstaatlichen Ordnung Deutschlands (Ziffer 116).

2. Der 12. Bundesparteitag hat diese programmatischen Aussagen des Grundsatzprogramms zu Freiheit in Ver-antwortung und Subsidiarität in seinen Erfurter Leitsätzen 1999 konkretisiert. In den Kapiteln „Aktive Bür-gergesellschaft – Das ist unser Land“, „Für eine Gesellschaft freier und verantwortlicher Bürger – Spielraumfür kleine Einheiten schaffen“ – und „Föderalismus reformieren – Klare Verantwortung für jede Ebene“ sinddie Aussagen des Grundsatzprogramms weiter fortgeschrieben und mit politischem Handlungsaufträgen andie Partei versehen worden.

Die politische und ökonomische Globalisierung sowie die Entwicklung der Telekommunikation fordernheute von der Politik erst recht, dass die Menschen in ihrem persönlichen Umfeld eigenverantwortlichihr Leben gestalten können. Deshalb tritt die CDU nachdrücklich für eine Stärkung der kleinen, über-schaubaren Einheiten ein.

In den Erfurter Leitsätzen wird noch einmal ausdrücklich betont, dass die Gestaltung der Gesellschaft nachdem Prinzip der Subsidiarität im Sinne von Freiheit und Solidarität am besten gelingt.

Page 48: Bürgergesellschaft in programmatischen Aussagen der … · Deutschland u.a. in der „Frankfurter Schule“ fand und die bis ... „Rechte und Pflichten ... später in seinem Werk

47

Zentrale Aussagen sind, dass eine Übernahme von Aufgaben durch den Staat dann nicht vorgenommenwerden soll, wenn Menschen alleine oder im freiwilligen Zusammenwirken diese Leistung vollbringenkönnen.

Dieses Plädoyer für das Private gegen das Staatliche, für das Privatrecht gegen das Öffentliche Recht wirdferner durch die Aussage konkretisiert, dass die Bürgergesellschaft für Dezentralisierung, Teilhabe, Selbst-verwaltung und Selbstorganisation stehe und deshalb die Subsidiarität im Verhältnis von Kommunen undLändern eindeutig zugunsten der Kommunen gelebt werden soll.

Wer Subsidiarität und kleine Einheiten will, der muss „von unten her“ neu ordnen.

Dabei wird festgestellt, dass die Länder als dezentrale und autonome Entscheidungsträger die regionale Iden-tität sichern sowie Effizienz und Bürgernähe. Der Föderalismus verteilt staatliche Macht und Verantwortungund schafft zusätzliche Möglichkeiten demokratischer Mitwirkung. Die föderale Struktur Deutschlands kanndeshalb Vorbild für ein Europa der Regionen sein.

Die Stärkung der kommunalen Ebene im Föderalen Staat wird unterstrichen durch die Forderung nach derstrikten Beachtung des Konnexitätsprinzips: Die Ebene, die über die Erfüllung einer Aufgabe ent-scheidet, muss grundsätzlich auch die damit verbundenen Finanzierungslasten tragen.

3. In den Erfurter Leitsätzen sind demzufolge die Handlungsaufträge an die Partei weiter präzisiert („Daran ar-beiten wir“):

- Subsidiarität funktioniert nur dort, wo es genug Freiräume für eigenverantwortliches Handeln gibt. Des-halb treten wir ein für die Deregulierung und Entbürokratisierung, Wettbewerb und Regionalisierung.

- Das Ehrenamt ist ein Wesensmerkmal unserer Gesellschaft. Wir setzen uns ein für Regelungen, die si-cherstellen, dass ehrenamtliche Tätigkeiten möglich und anerkannt wird.

- Wir wollen Überlegungen anstellen, wie die Bürgerinnen und Bürger auf den verschiedenen Ebenennoch besser in die demokratische Verantwortung einbezogen werden können.

- Die CDU wird ein Konzept vorlegen, dass die unverzichtbaren Kernaufgaben des Staates benennt undWege aufzeigt, die Bürgergesellschaft im Sinne der Verantwortungsgesellschaft weiterzuentwickeln.

- Dieses Konzept soll auch Aussagen zur Modernisierung des Föderalismus in Deutschland enthalten.Dabei soll geprüft werden, in wie weit die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern neu geregeltwerden muss. Dazu gehört auch ein Konzept für eine neue Finanzverfassung der BundesrepublikDeutschland, die den Zusammenhang zwischen öffentlichen Ausgaben und der daraus folgenden Steuer-und Abgabenbelastung unmittelbar sichtbar werden lässt.

Das Konzept soll darüber hinaus aufzeigen, wie dem Gedanken der Regionen in Europa unter den Bedingungeneines modernen Föderalismus in Deutschland verstärkt Rechung getragen werden kann.

- Schließlich soll ein kommunalpolitisches Aktionskonzept vorgelegt werden, das Wege zur Stärkung derkommunalen Selbstverwaltung durch die Rückgewinnung finanzieller Spielräume in den Kommunen auf-weist. Gleichzeitig soll mehr Möglichkeit der direkten Bürgerbeteiligung bei politischen Entscheidungen inden Städten und Kreisen geschaffen werden.