Burke-Vico. Philosoph, Historiker, Denker einer neuen Wissenschaft

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PETER BURKE VICO Philosoph, Historiker, Denker einer neuen Wissenschaſt Wagenbach

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  • PETER BURKE VICO

    Philosoph, Historiker, Denkereiner neuen Wissenschaft

    Wagenbach

  • Peter BurkeVico

    Philosoph, Historiker, Denker einer neuen Wissenschaft

    Aus dem Englischen von Wolfgang Heuss

    Verlag Klaus Wagenbach Berlin

  • Zitate aus der Neuen Wissenschaft sind mit (N 1, 2 oder 3) gekennzeich- net, je nachdem ob sie aus der ersten, zweiten oder dritten Fassung stammen. Die nachfolgenden Ziffern bezeichnen den entsprechenden Paragraphen entsprechend der von Fausto Nicolini eingerichteten Rei- henfolge. Soweit auffindbar, wurden die bersetzungen von Erich Auerbach (A), (Mnchen 1924) und Ferdinand Fellmann (F), (Frank- furt/M. 1981) benutzt. Zitate aus der Autobiographie sind mit (A) ge- kennzeichnet.

    Die Originalausgabe erschien 1985 bei Oxford University Press unter dem Titel Vico

    fr die deutsche Ausgabe: 1987 Verlag Klaus Wagenbach, Ahorn- strae 4, 1000 Berlin 30. Umschlaggestaltung: Rainer Groothuis unter Verwendung des Bildes Neapel, Blick vom Meer von Gaspar Van Wittel (Archiv fr Kunst und Geschichte Berlin). Satz und Druck durch Poeschel & Schulz-Schomburgk, Eschwege. Gesetzt aus der Korpus Wal- baum-Antiqua Linotype. Bindung: Druckerei Wagner, Nrdlingen.

    Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. isbn 3 8031 3536 2

  • Inhalt

    Der Vico-Mythos7

    Vicos geistige Entwicklung 17

    Die Neue Wissenschaft41

    Recht 42

    Sprache und Mythos49

    Der Lauf der Geschichte67

    Gttliche Vorsehung78

    Quellen und Methoden85

    Vico und die Nachwelt 107

  • Der Vico-Mythos

    Giambattista Vico (16681744) hat als Denker seit seinem Tode bei hchst verschiedenen Lesern auergewhnliche Begeisterung geweckt: bei Radikalen wie Konservativen, bei Dichtern wie Juristen, bei Philosophen wie auch Historikern. Begeistert waren Jules Michelet und Friedrich von Savigny, Karl Marx und Benedetto Croce, Matthew Arnold und Ja- mes Joyce. Oft sah man in ihm einen Vorlufer, einen in der falschen Epoche Geborenen. Der italienische Philosoph Cro- ce (18661952), meinte einmal, bei Vico finde sich das ganze neunzehnte Jahrhundert in nuce. Man hat auch gesagt, er sei von den Zeitgenossen verkannt Begrnder der Ge- schichtsphilosophie bzw. der Gesellschaftswissenschaft gewe- sen, ein Mann, der mit seinen Ideen sptere geistige Ent- wicklungen wie Pragmatismus, Historismus, Existenzialis- mus und Strukturalismus vorweggenommen habe. Fr den englischen Philosophen R. G. Collingwood (18891952) war er seiner Zeit zu weit voraus, um unmittelbaren Einflu haben zu knnen, whrend Isaiah Berlin meinte, Vicos Behauptung, er reise ganz allein durch bislang von nieman- dem erforschtes Gebiet, ist zwar ein abgedroschenes Kli- schee, trifft aber in seinem Fall wortwrtlich zu.

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  • Mir kommen solche Meinungen und Charakterisierungen leicht bertrieben vor. Man knnte hier wohl von einem Vico-Mythos sprechen, einer ins Dramatische stilisierten Deu- tung seines Weges als Tragikomdie der Irrungen und Mi- verstndnisse, die letzten Endes fr den Helden allerdings zu spt doch noch korrigiert werden. Diese Auffassung ist meines Erachtens wirklich irrefhrend, wird doch Vicos Lei- stung dabei aus dem Zusammenhang gerissen und das kul- turelle und soziale Milieu seiner Entwicklung Neapel im spten 17. Jahrhundert auer acht gelassen. Auch die um- fassendere geistige Tradition, in der Vico steht, fllt dabei unter den Tisch: die Tradition nmlich der humanistisch- literarischen res publica, zu deren tonangebenden Brgern insbesondere Juristen zhlten. Vico gewi ein hchst ori- gineller Kopf war dennoch dem Milieu und der Tradition verpflichtet, die ich im folgenden Kapitel darstelle. Richtig bleibt, da Vico ein Prophet war, der in seinem Vaterland nichts galt. Zu Lebzeiten tat man ihn wenn man ihn nicht gleich fr leicht verrckt erklrte als strava- gante ab, als unvernnftigen, spekulativen Dunkelmann. Sein Zeitgenosse und Mitbrger Pietro Giannone, der groe Historiker (16761748), schrieb einmal, es gebe in Neapel keinen, der fantastischer und visionrer denke als Vico, was bestimmt nicht als Kompliment gemeint war. Vico wute, was man von ihm hielt, und sah sich als Fremder im eige- nen Land (straniero nella sua patria). Vierzig Jahre nach seinem Tod wurde dieser Auenseiter in seiner Heimatstadt Neapel zur Kultfigur. Nochmals vier- zig Jahre spter wurde sein Werk ins Franzsische und ins Deutsche bersetzt, und in gewissen intellektuellen Kreisen wurden seine Ideen Mode. Etwa hundert Jahre nach seinem Tod akzeptierten ihn allmhlich auch die Philosophen in Italien; seither zhlt man Vico dort zur philosophischen Tradition. Zweihundert Jahre nach seinem Tod wurde sein

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  • Hauptwerk, die Neue Wissenschaft, endlich auch ins Eng- lische bersetzt. Zum dreihundertsten Geburtstag 1968 gab es ihm zu Ehren groe internationale Kongresse. In den letzten Jahren wurden zwei Institute fr Vicostudien und eine Vicozeitschrift aus der Taufe gehoben. Desinteresse bei den Zeitgenossen, Begeisterung bei der Nachwelt (zumindest bei einem Teil der Nachwelt) wie lt sich dieser verblffende Wandel erklren? Was sah und sieht man eigentlich in diesem Neapolitaner des frhen 18. Jahrhunderts und in seinen Schriften? Bestimmt nicht immer das gleiche; es lohnt also wohl, diese Gestalt der Geistesgeschichte zunchst durch einen wirkungsgeschichtlichen Abri zu beleuchten. Diese Ge- schichte beginnt im spten 18. Jahrhundert in Neapel, wo sich ein Teil der internationalen aufklrerischen Bewegung um eine Neufassung des Rechts bemhte. Dem Recht galt Vicos Interesse in besonderem Mae. Er setzte sich zwar nicht persnlich fr eine Rechtsreform ein, wies aber wie sein Zeitgenosse Montesquieu darauf hin, da unterschied- liche Staats- und Gesellschaftssysteme notwendigerweise auch verschiedene Rechtssysteme entstehen lassen. Von die- ser Prmisse aus lie sich argumentieren, da das Recht den neuen Verhltnissen angepat werden msse, wenn sich die Gesellschaft ndert, was ja in Neapel und anderswo in Eu- ropa im spten 18. Jahrhundert der Fall war. Eine Reihe von Neapolitanern, die sich diese Argumentation zu eigen gemacht hatten und Macht und Privilegien des neapolitani- schen Adels brechen wollten, bewunderten Vico und die Franzsische Revolution gleichermaen. 1799 trieb man die- se Reformer ins Exil, woraufhin sie Vicos Gedanken in Mai- land, Paris und anderen Stdten verbreiteten. Man brauchte aber nicht den Prinzipien von 1789 anzuhngen, um an Vi- cos uerungen zur Revolution des Rechtes Interesse zu fin- den. Vorlufer und verkanntes Genie war Vico beispielswei-

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  • se auch fr Friedrich Carl von Savigny (17791861), den konservativen Grnder der Historischen Schule der deut- schen Rechtswissenschaft, der Rechtsreform mit der Begrn- dung ablehnte, das Recht eines Volkes sei auf natrliche Weise aus seiner Vergangenheit gewachsen. Die Dichtung war ein anderes Hauptinteresse Vicos. Er dichtete selbst und behauptete, da genau wie beim Recht

    fr verschiedene Gesellschaften auch jeweils eine andere Art der Dichtung angemessen sei. Die Primitiven seien zwangslufig Dichter, denn bei ihnen sei die Vernunft nur schwach, die Phantasie dagegen stark entwickelt. Vielleicht veranlate diese Theorie einen neapolitanischen Intellektu- ellen dazu, Goethe (17491832) bei seinem Aufenthalt in der Stadt im Jahre 1787 ein Exemplar von Vicos Neuer Wissen- schaft zu berreichen. Goethe berflog das Buch, war aber ebensowenig beeindruckt wie sein Freund Herder (1744 1803) oder zehn Jahre zuvor dessen Freund, der Philosoph Hamann (173088). Alle drei fanden Vico verworren und bersahen jedenfalls bei der ersten Lektre die hnlich- keiten zwischen seinen Ideen und ihren eigenen. Dabei gab es manche Berhrungspunkte zwischen Vicos Auffassung und den Ansichten, die sie im Kampf gegen die herrschenden Ideale der franzsischen Klassik ins Feld fhrten; wie Vico waren sie davon berzeugt, da in den Anfngen der Ent- wicklung des Einzelnen und der Vlker die Dichtung eine hervorragende Rolle gespielt habe. Im geistigen Deutschland begann erst die nchste Gene- ration Vico langsam ernstzunehmen. Im frhen 19. Jahr- hundert bemerkte man, da er die so revolutionr wirkende neue Deutung der Antike durch Gelehrte wie Wolf und Nie- buhr bereits vorweggenommen hatte. Friedrich August Wolf (17591824) war mit der These berhmt geworden, da we- der die Ilias noch die Odyssee von Homer stammten; beide beruhten vielmehr auf mndlicher berlieferung und seien

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  • erst spter in vernderter Form niedergeschrieben worden. Auch Barthold Georg Niebuhr (17761831) verdankte seinen Ruhm einem genauso dramatischen Angriff auf die herr- schende Lehrmeinung; er behauptete, die Frhgeschichte Roms sei weniger Geschichte als vielmehr Mythos, nmlich im Grunde eine Paraphrase verlorengegangener Epen oder Balladen, wie sie auch aus dem deutschen und dnischen Mittelalter berliefert waren. Diese Auffassung inspirierte brigens den englischen Staatsmann und Historiker Thomas Macaulay (18001859) bei der Rekonstruktion seiner popu- lren Altrmischen Heldenlieder. Wolfs und Niebuhrs The- sen entfesselten einen Gelehrtenstreit; nach einiger Zeit kam man darauf, da Vico rund 75 Jahre frher zu hnlichen Schlssen gelangt war, und zwar ebenfalls mit einer kompa- ratistischen Methode. Es kam zu einer Kontroverse um Wolfs und Niebuhrs Originalitt (die beiden drften Vicos Werk erst nach der Verffentlichung ihrer eigenen Arbeiten ken- nengelernt haben), in deren Gefolge Vico nicht nur in Deutschland berhmt wurde, wo 1822 eine bersetzung der Neuen Wissenschaft erschien, sondern auch in England und Frankreich. Den englischen Dichter und Kritiker Samuel Taylor Cole- ridge (17721834) hatte ein italienischer Exilant auf Vico hingewiesen. Coleridge, der ber die Einbildungskraft selber viel zu sagen hatte, war von Vicos nachdrcklicher Betonung des Themas tief beeindruckt. Der Altphilologe Thomas Arnold (17951842), der spter Rektor des Internats Rugby wurde, lie sich von der neuen Deutung der rmischen Ge- schichte durch Vico und Niebuhr berzeugen. Er nannte die Neue Wissenschaft dermaen tiefschrfend und scharf- sinnig, da man ihre geringe Wirkung auerhalb Italiens zu den bemerkenswertesten Erscheinungen der Literatur- geschichte rechnen mu. Auch sein Sohn Matthew Arnold (182288), bewunderte Vico, zitierte ihn in Vorlesungen und

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  • lie in Gedichten seine Thesen anklingen. In Versen wie Time may restore us in its course oder auch And centu- ries came and ran their course sprt man den Bezug zu Vicos Theorie vom zyklischen Ablauf der Geschichte als corso und ricorso (vgl. S. 69). In Frankreich machte ebenfalls ein italienischer Exilant den romantischen Historiker Jules Michelet (17981874) auf Vicos Ideen aufmerksam. Michelet, damals noch keine drei- ig, entschlo sich sofort, diesen Propheten, wie er ihn nannte, durch eine Auswahlbersetzung bekannter zu ma- chen. Ihm imponierte es besonders, da Vico der Kreativitt von Vlkern strkeres Gewicht beima als der sogenannter groer Mnner. In seiner typischen lebhaften Bilderspra- che schrieb er: Vico verdanke ich meine Geburt; der Vico- taumel hat mich erfat. Michelets recht freie bersetzung erschien 1827, 1844 folgte eine weitere bersetzung ins Franzsische. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in gewissen franzsischen Kreisen eine Vico-Mode; im Zeichen der ro- mantischen Schwrmerei fr Volk und Zeitgeist war der Augenblick zur Assimilation Vicos in die franzsische Kultur gekommen. Anerkennung fand Vico aber auch bei den bewut un- romantischen Positivisten, die Geschichtsschreibung und Soziologie diesen Begriff hatten sie geprgt zu Wissen- schaften wie Physik oder Zoologie erheben wollten; whrend sein Interesse an Entwicklungsgesetzen der Geschichte ihnen zusagte, warfen sie ihm doch auch Neigung zur Spekulation und mangelndes Interesse am Faktensammeln vor. Karl Marx, der mit den Positivisten manches gemeinsam hatte, kannte Vico ebenfalls und empfahl die Neue Wissenschaft in den sechziger Jahren einem seiner Briefpartner mit der Bemerkung, das Buch enthalte so manchen genialen Zug. Zweifellos sah er in Vico einen Protomarxisten, und es gibt wirklich interessante Parallelen zwischen den Ideen dieser

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  • beiden Denker; vor allem betonen beide, da gesellschaft- liche Konflikte fr die Geschichte entscheidender sind als groe Mnner. Whrend der sogenannten Revolte gegen den Positivis- mus im spten 19. Jahrhundert nahm bei den europischen Intellektuellen das Interesse an Vico weiter zu. Vico hatte zwischen der Natur, die wir nur von auen kennen knnen, und der menschlichen Gesellschaft unterschieden, die wir von innen kennen, da wir sie gewissermaen selbst geschaf- fen haben. Diese Unterscheidung gefiel denen, die sich gegen den Versuch der Gesellschaftswissenschaftler wehr- ten, Menschen wie Objekte zu untersuchen. So nannte z. B. der deutsche Philosoph Wilhelm Dilthey (18331911) die Neue Wissenschaft einen der grten Triumphe des moder- nen Denkens. Auch Benedetto Croce fand Gefallen an dem Werk, als er es in den neunziger Jahren las. 1911 lie er eine Monographie darber erscheinen bis heute die wich- tigste und einflureichste Abhandlung ber die Neue Wis- senschaft. Croces Arbeit wurde von R. G. Collingwood un- verzglich ins Englische bersetzt. Collingwood, der oft als Croce-Schler bezeichnet wird, sagte selbst wiederholt, nie- mand habe ihn strker beeinflut als Vico. Jedenfalls hat Collingwood vermutlich mehr als jeder andere dazu bei- getragen, da Vico im Geistesleben der angelschsischen Welt auftauchte, wenn man von den amerikanischen Ge- lehrten Bergin und Fisch einmal absieht, die in den vierziger Jahren unseres Jahrhunderts also reichlich spt die Scien- za Nuova ins Englische bersetzten. Wie Dilthey und Croce interessierte sich Collingwood be- sonders fr Vicos unterschiedliche Methoden bei der Erfor- schung der Natur bzw. des Menschen. Aus ganz anderen Grnden waren einige Dichter und Denker des frhen 20. Jahrhunderts von Vico fasziniert: sie fesselte seine Ansicht, der Mythos sei konkretes Denken und ein mythisches Zeit-

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  • alter sei eine notwendige geistige Entwicklungsstufe der Menschheit. So las z. B. der deutsche Philosoph Ernst Cassi- rer (18741945) Vico schon als Student, und diese Lektre brachte Cassirer dazu, sich ein Leben lang mit Mythen und anderen symbolischen Formen zu befassen. Auch Erich Auerbach (18921957), einer der einflureichsten Literatur- wissenschaftler des 20. Jahrhunderts, war ein groer Bewun- derer der Neuen Wissenschaft, die er erneut ins Deutsche bersetzte. Auerbach bernahm viele Ansichten Vicos zur Kulturgeschichte, vor allem die Auffassung, da in verschie- denen Epochen zwangslufig auch verschiedene sthetische Wertvorstellungen herrschen. James Joyce (18821941) stie auf die Neue Wissenschaft, als er in Triest lebte. Er las das Werk im Original und war von Vicos Ansichten ber Mythos und Metapher, ber Ho- mer und Sprache, ber Psychologie und vieles andere faszi- niert. Wenn ich Vico lese, gestand er einmal, wird mei- ne Phantasie ganz anders angeregt als bei der Lektre von Freud oder Jung. Besonders interessierte ihn Vicos zyklische Geschichtsdeutung, und in Finnegans Wake findet sich das Wortspiel vicous cicles. (Vicious cycle heit circulus vitiosus, also Teufelskreis; Joyces doppelte Wortprgung lt die Aussprache Vicos cycles, also Vicos Kreise zu. A. d. .). Neben Philosophen, Literaturwissenschaftlern und Dich- tern hat Vico auch Gesellschaftswissenschaftler an- und auf- geregt. So hielt der Nationalkonom Joseph Schumpeter (18831950) Vico fr einen der grten Denker aller Zeiten auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften. Seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es denn auch eine Art Vicorenaissance, und mittlerweile gilt Vico endlich als eine Hauptgestalt der eu- ropischen Geistesgeschichte. Hier und da findet man Philo- sophen, Literaten, Psychologen und sogar Geographen, die sich wie andere sich Marxisten nennen als Vicoaner

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  • bezeichnen. Einige Enthusiasten gehen wie gesagt so weit, in Vico einen Vorlufer von Psychoanalyse, Existenzialis- mus, Strukturalismus und anderen geistigen Bewegungen der Gegenwart zu sehen. Angesichts dieser wechselhaften Wirkungsgeschichte sollte man sich davor hten, einzelne Urteile allzu wrtlich oder allzu ernst zu nehmen. Zu allen Zeiten schufen Menschen ihre Vorlufer gern nach ihrem eigenen Bild, und so wurde Vico bald als Revolutionr, bald als Reaktionr interpretiert, einmal als Romantiker, einmal als Positivist, dann wieder als Antipositivist und so fort. Der Mythos vom Vorlufer, von Johannes dem Tufer, entfaltet in der abendlndischen Kulturtradition nach wie vor eine uerst starke Wirkung. Vico bietet sich anscheinend mehr als andere Denker fr ganz unterschiedliche Deutungen an. Zum Teil liegt das daran, da bestimmte Hauptstellen seines Werkes dunkel oder mehrdeutig sind eine Ambiguitt, die ihm zu Leb- zeiten geschadet, auf Dauer aber wohl gentzt hat , zum Teil an der Vielfalt seiner Interessen und der geistigen Tra- ditionen, auf die er sich sttzte. Er war vieles in einem: Dichter und Jurist, Platoniker und Baconianer. Bedenkt man auerdem, da er einige seiner entscheidenden Gedan- ken nur skizziert hat andere konnten sie dann nach Gut- dnken in Marmor hauen und polieren , so begreift man unschwer, warum er auf hchst verschiedene Geister so stark gewirkt hat. Diese starke Wirkung ist frher wie heute vor allem aus zwei Grnden gerechtfertigt. Erstens ist die Neue Wissen- schaft, wie auch seine anderen Werke, sehr lesenswert, und zwar als ein Stck Literatur. Vico entwirft ein Bild der Ver- gangenheit, das so groartig und phantasiereich ist wie in den Gedichten William Blakes, der ja auch eine denkwrdi- ge private Mythologie geschaffen hat. Zweitens sollten wir Vico lesen, weil er sich auf originelle und konstruktive Weise

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  • mit einigen bis heute keineswegs gelsten Problemen der Anthropologie auseinandergesetzt hat. Hat Geschichte eine Struktur? Ist die menschliche Natur berall gleich? Wenn nicht, welche orts- und zeitgebundenen Unterschiede gibt es dann? Wie und warum kommt es zu gesellschaftlichen Ver- nderungen? Wenn derartige Fragen uns interessieren, sind Vicos Reflexionen auch heute noch relevant. Er ging verglei- chend vor, lie sich nicht auf eine Einzeldisziplin festlegen und entwickelte betrchtliche Vorstellungskraft, um fremde Kulturen zu verstehen alles Methoden, die Bewunderung und soweit mglich Nachahmung verdienen. Heutzu- tage, da die Kluft zwischen geistes- und naturwissenschaft- lichen Anstzen bei der Erforschung der menschlichen Ge- sellschaft langsam zum Abgrund wird, haben wir von Vico viel zu lernen. Wir knnten und sollten von ihm lernen; das gibt uns aber noch lange nicht das Recht, in ihm einen Mann der Moderne zu sehen, der blo zur Unzeit zur Welt kam. Seine Zeit hat ihm zwar vielleicht nicht immer gepat, und er hat auch mit Kritik nicht gespart. Dennoch gehrte Vico in das kulturelle Milieu Neapels im ausgehenden 17. Jahrhundert

    eine These, die ich im folgenden Kapitel belegen will.

  • Vicos geistige Entwicklung

    Wenn wir uns mit Vicos Milieu und seiner geistigen Entwicklung befassen, knnen wir glcklicherweise auf eine reichhaltige Quelle zurckgreifen die Autobiogra- phie, die er 1728 erscheinen lie. Es handelt sich dabei um eine der allerersten Autobiographien, die die geistige Ent- wicklung zum Strukturprinzip erhebt, was mittlerweile ja ganz natrlich und naheliegend scheint. Man knnte versucht sein, auch hierin wieder einen Beleg dafr zu sehen, da Vico seiner Zeit voraus war. Dabei war Vico gar nicht selber auf die Idee gekommen, eine derartige Autobiographie zu schreiben; es war vielmehr eine Auftragsarbeit, bestellt von einem gewissen Grafen Porcia, einem literarisch interessier- ten Soldaten im Dienst der Republik Venedig. Der an Vico ergangene Auftrag war Teil eines umfassenderen Vorha- bens, bei dem geistige Autobiographien hervorragender Kpfe gesammelt werden sollten, um deren Untersuchungs- methoden sowie die Hindernisse, mit denen sie zu kmpfen hatten, zu dokumentieren. Ziel des ganzen war eine Reform des Bildungswesens, das auf eine vernnftige empirische Basis gestellt werden sollte. Der geistige Vater des Projekts

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  • war vermutlich der venezianische Universalgelehrte Carlo Lodoli (16901761), ein Mnch und Architekt, der Vico be- wunderte und genau wie dieser in seiner eigenen Zeit nicht richtig zur Geltung kam. Vicos Autobiographie ist wie seine anderen Werke auch

    hinsichtlich der Fakten nicht immer ganz zuverlssig. Die Darstellung seiner Jugend lt Gedchtnislcken erkennen, wie sie bei einem fast Sechzigjhrigen zu erwarten sind, und deckt sich nicht immer mit den Angaben in Vicos erhaltenen Briefen oder den uerungen seiner Zeitgenossen. Dennoch hat diese Quelle einen unschtzbaren Vorteil: Wir sehen Vico von innen und bekommen einen Eindruck von den geistigen Entwicklungsstufen, die er durchlief. Vico kam 1668 als Sohn eines Buchhndlers in Neapel zur Welt. Bei Anbruch des 18. Jahrhunderts war er ber dreiig, und um 1720 war er bereits davon berzeugt, er lebe in einer Zeit des Niederganges. Er war also wohl im wesentlichen eine Gestalt des 17. Jahrhunderts. Als Kind zog er sich bei einem Sturz einen Schdelbruch zu, war dann ein krnkelnder und, wie er selbst sagt, me- lancholischer Junge, mit einem Hang zu einsamen Studien

    das Leben in der Buchhandlung drfte solche Neigungen begnstigt haben. Seine Lehrer eine Reihe neapolitani- scher Geistlicher nahmen mit ihm die Geistesgeschichte der voraufgegangenen vier Jahrhunderte durch, von der scholastischen Philosophie bis zur Rhetorik des Barock. Al- lein oder mit einem Lehrer studierte Vico das bekannte Lo- gik-Lehrbuch von Petrus Hispanus (122676), die Philoso- phie des schottischen Franziskaners Duns Scotus (12651308) und die Metaphysik des spanischen Jesuiten Francisco Sua- rez (15481617), der in die philosophische Tradition des Mittelalters Gedanken der Renaissance einbezogen hatte. Vico berichtet, anschaulich wie immer, er habe sich ein Jahr lang zuhause eingesperrt, um Suarez zu studieren.

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  • Kurzum, er eignete sich die christlich-aristotelische Bildung an. Auerdem erhielt er, wie seit der Renaissance blich, eine klassisch-humanistische Bildung und lernte lateinische Prosa und Verse verfassen. Als er siebzehn war, riet ihm sein Vater zu dem Studium, an dem damals fr einen ehrgeizigen und vielversprechenden jungen Mann kein Weg vorbeifhrte, nmlich Jura, genauer: die beiden Rechte, das brgerliche Recht des Staates und das kanonische Recht der Kirche; bei- de basierten weitgehend auf rmischem Recht. Vicos Zeit- genosse Giannone, der auch aus Neapel stammte, absolvierte einen hnlichen Bildungsweg von Duns Scotus bis zum Kir- chenrecht bevor er einer der wichtigsten Antiklerikalen sei- ner Zeit wurde und ein bedeutender Historiker. Dieser Lehrplan drfte also im damaligen Neapel ziemlich gngig gewesen sein. In seinen Muestunden schrieb Vico Gedichte, zunchst, wie er spter sagte, in der allerkorruptesten mo- dernen Manier also im Stil des Barock , dann aber in einem einfacheren, klassischeren Stil. Als Gelegenheitsdich- ter, der zu einer Aristokratenhochzeit oder -bestattung in der Stadt wohlgesetzte lateinische oder italienische Verse bei- steuern konnte, war Vico fast sein Leben lang gefragt. Sein Jurastudium betrieb er an der Universitt Neapel, Philosophie las er jetzt in seiner Freizeit, die er oft auf dem Land in Vatolla bei Salerno verbrachte, wo er als Hauslehrer die Shne eines Marquis unterrichtete. Die Autobiographie erweckt den Eindruck, als habe Vico seine Ideen fast vllig selbstndig entwickelt. Andere Quellen lassen aber vermu- ten, da er als etwa Zwanzigjhriger einem Literatenzirkel in Neapel angehrte. Italienische Intellektuelle kamen da- mals gern mehr oder minder zwanglos in Clubs, Akademien und Salons zusammen, wo man sich Vortrge ber alle er- denklichen Themen anhrte, um hinterher zu diskutieren. Wenn sich Vico in seiner Autobiographie auch noch so sehr

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  • als einsamer Denker zu prsentieren trachtet er hatte doch seinen Verein und stie dort auf Zeitgenossen mit hnlichen Interessen. Er gibt sogar zu, da nicht nur eines seiner B- cher abends mitten im Gesprch mit seinen Freunden ent- standen sei. Als hufiger Gast in Akademien und Salons war er mit dem geistigen Leben der Stadt durchaus vertraut. Neapel war im spten 17. Jahrhundert keineswegs Pro- vinz, sondern Metropole und mit etwa einer halben Million Einwohnern eine der grten Stdte Europas, kleiner zwar als London und Paris, doch deutlich grer als beispielsweise Amsterdam, das florierende Zentrum einer reichen Repu- blik. In diesen drei Stdten herrschte damals zwar ein rege- res geistiges Leben als in Neapel, wo es aber auch hitzige Debatten gab; die Stadt wurde allmhlich zum Kampfplatz rivalisierender Weltanschauungen, Traditionalisten und Neuerer, Orthodoxie und Heterodoxie, Altes und Modernes lagen hier im Streit miteinander. Im spteren 17. Jahrhundert gab es in Neapel eine kleine Gruppe weltoffener Intellektueller, vorwiegend Juristen und Mediziner, die die Autoritt der Alten mehr und mehr in Frage stellten. In der Medizin erhoben sich Zweifel gegen Hippokrates (ca. 460ca. 380 v. Chr.) und Galen (ca. 129 199), auf vielen Gebieten gegen Aristoteles (384322 v. Chr.), der fr die meisten europischen Intellektuellen im 17. Jahr- hundert immer noch die Autoritt schlechthin war, eine Stellung, die er seit seiner Wiederentdeckung im 13. Jahr- hundert behauptet hatte. Die wichtigsten Verfechter der neuen Philosophie, wie man damals sagte, waren in Nea- pel der Professor fr Medizin und Mathematik Tommaso Cornelio (161484), der Arzt Leonardo di Capoa (161795) und der angesehene Rechtsanwalt Francesco DAndrea (162598). Sie begeisterten sich fr die Ideen von Galileo, Bacon und Descartes und diskutierten sie immer wieder in ihrer Akademie der Investigatoren.

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  • Diese Modernen lehnten das Studium der Antike nicht etwa rundweg ab, sondern propagierten eine nicht-aristo- telische man knnte sagen alternative Altertumswissen- schaft; vielleicht wollten sie damit nur vertuschen, wie neu- artig ihre Ansichten waren, um mit dieser Verbeugung vor der Antike mehr Anhnger zu gewinnen, vielleicht impo- nierten ihnen manche Ideen der Alten auch wirklich. Platon z. B. und die neuplatonische Tradition der italienischen Re- naissance interessierten sie, und sie versuchten auch, zwi- schen Neuplatonismus und Descartes eine Brcke zu schla- gen. Wie einigen zeitgenssischen franzsischen und engli- schen Intellektuellen hatten es auch diesen Neapolitanern der griechische Philosoph Epikur (341270 c. Chr.) und sein Anhnger, der rmische Dichter Lukrez (ca. 9555 v. Chr.), angetan. Ihre Ideen boten einen Weg zur Befreiung aus der Ty- rannei des Aristoteles (so Leonardo di Capoa); allerdings brachten epikureische Gedanken nicht nur das Lehrgebude des Aristoteles und der scholastischen Philosophie des Mittel- alters ins Wanken, sondern auch das Christentum; schlie- lich hatte Epikur behauptet, der Ursprung der Religion liege in der Angst, und die Welt sei nicht nach einem Plan ge- schaffen, sondern aus einer zuflligen Verbindung von Ato- men hervorgegangen. Nun darf aber nicht der irrefhrende Eindruck entstehen, es habe sich bei dieser Gruppe in Neapel um einen Atheistenzirkel gehandelt. Die Investigatoren ver- suchten anscheinend, epikureische und katholische Vorstel- lungen in Einklang zu bringen wie auch der von ihnen bewunderte franzsische Philosoph Pierre Gassendi (1592 1655). Dennoch berrascht es kaum, da die Inquisition in Neapel die Sache anders sah. In der protestantischen Welt zhlten damals eine Reihe von Geistlichen zu den Anhngern der neuen Philosophie, darunter auch einige wenige Bischfe wie Wilkins von Che-

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  • ster, der ber Mathematik schrieb, Sprat von Rochester, der eine Geschichte der Royal Society verfate, und Burnet von Salisbury. Auch im katholischen Frankreich vertraten Geist- liche die neue Philosophie allerdings nicht so viele wie in England. Gassendi war Priester, und Marin Mersenne, ein fhrender Kopf der wissenschaftlichen Revolution, war Mnch. In Spanien und Italien jedoch stand der Klerus den neuen Ideen feindselig gegenber. Der Fall Galileo er war 1633 verurteilt worden hatte diese ablehnende Haltung noch verstrkt. Ein Englnder, der 1664 nach Neapel kam und einer Versammlung der Investigatoren beiwohnte, ver- zeichnete Klagen der Intellektuellen ber die Inquisition, die ablehnende Haltung der Geistlichen gegen die neue Philosophie und ber die Schwierigkeiten beim Beschaffen von Bchern aus England, Holland usw.. Werke, die die Kirche auf den Index verbotener Bcher gesetzt hatte, durfte man nur mit besonderer Erlaubnis lesen und die gab es nicht immer. 1685 besuchte ein anderer Englnder Neapel und die Investigatoren, nmlich Gilbert Burnet, Bischof von Salisbury. Er stellte einerseits fest, es gebe in Neapel Ver- einigungen von Mnnern, die freier denken als irgendwo sonst in Italien, andererseits hielt er fest, da diese Mn- ner vom Klerus scheel angesehen und als Atheistenbande bezeichnet werden. Burnets Beobachtungen sollten sich sechs Jahre danach dramatisch besttigen: 1691 wurde in Neapel vier Mnnern der Proze gemacht, denen die Inqui- sition vorwarf, sie glaubten, die Welt bestehe aus Atomen, es habe schon vor Adam Menschen auf der Erde gegeben was bedeuten wrde, da die Bibel ber die Ursprnge der Menschheit nur unvollstndig Auskunft gab und Christus sei ein Betrger gewesen. Zwei der Angeklagten waren mit dem damals dreiundzwanzigjhrigen Vico befreundet. Man darf nicht bersehen, da unorthodoxe Meinungen im Italien der frhen Neuzeit gefhrlich werden konnten,

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  • und bei der Lektre Vicos sollte man stets daran denken, da er vielleicht mehr unorthodoxe Gedanken hegte als er bereit war offen einzugestehen (vgl. S. 10203). Andererseits mu man wissen, da die Inquisition in Neapel auerstande war, den Streit zwischen Traditionalisten und Neuerern zu unterdrcken. Vicos Ideen nahmen im Verlauf dieser Aus- einandersetzung Gestalt an. Zum Teil waren sie eine Syn- these zwischen entgegengesetzten Auffassungen oder der Versuch, einen Schritt weiter zu kommen. Epikur und Gassendi waren also in Neapel Mode, wie Vico selbst sagte. Er scheint auch wirklich eine epikureische Phase durchlebt zu haben, die zwar in der Autobiographie

    vielleicht aus Vorsicht nicht erwhnt wird, in einem Ge- dicht des Fnfundzwanzigjhrigen aber Spuren hinterlassen hat. Pessimismus kennzeichnet die Gefhle eines Verzwei- felten (Affetti di un Disperato), wo der Dichter klagt, er be- finde sich im Krieg mit sich selbst, und seine Zeit ein ei- sernes Zeitalter nennt, das seinem Untergang zustrebt. Viele Leser haben daraus den Schlu gezogen, Vico habe damals eine geistige Krise erlebt. Im spteren Leben lehnte er Epikurs Glauben an den Zufall ausdrcklich aufs schrf- ste ab, doch das berhmte Bild der ursprnglichen Gesell- schaft, das er in der Neuen Wissenschaft entwirft, wo Mn- ner und Frauen wie wilde Tiere im Wald leben, enthlt viele Details, die sich schon in Lukrez groem philosophischen Lehrgedicht Von der Natur der Dinge finden, bis hin zu dem Donnerschlag, der die Menschen an einen Gott glauben lt. Etwa um diese Zeit drfte Vico auf Spinozas Theologisch- philosophischen Traktat gestoen sein; der hollndische Jude Baruch Spinoza (163277) galt damals allgemein als Epikureer. Spter kam Vico zwar nur dann auf ihn zu spre- chen, wenn er ihn widerlegen wollte, doch der Tractatus, der sich unter anderem mit dem Dichterischen in der Bibel

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  • auseinandersetzt, hat ihm wahrscheinlich strker imponiert als er je eingestanden hat. Wie viele seiner Zeitgenossen begeisterte sich Vico auch eine Zeitlang fr die Ideen Ren Descartes (15961650) ber die Wissenschaft (wie wir heute sagen wrden) wie auch ber die reine Philosophie. Der Autobiographie zu- folge erfuhr Vico, da die Physik des Ren Descartes alle frheren Systeme weit hinter sich gelassen habe, so da in ihm das brennende Verlangen erwuchs, Kenntnis davon zu erlangen (A 128). Vico scheint Descartes auf Latein gelesen zu haben, und vermutlich hat er auch Malebranches ber die Suche nach der Wahrheit in lateinischer bersetzung kennengelernt. Der franzsische Priester Nicolas Malebran- che (16381715) war ein Anhnger Descartes und bezeich- net in dieser Abhandlung Sinne, Vorstellungskraft und Lei- denschaften als Hindernisse bei der Suche nach Wahrheit; er gibt auch eine an die Mathematik angelehnte Methode an, um diese Hindernisse zu berwinden. Vico hielt zwar spter nicht mehr viel von der Philosophie Descartes, doch seine geometrische Methode bewunderte er weiterhin. Die wichtigsten Schlufolgerungen der Neuen Wissenschaft de- duzierte er denn auch wie in der Geometrie von einer Grup- pe von Axiomen. Auch in seiner Autobiographie folgt er Descartes, der in der Abhandlung ber die Methode seine geistige Entwicklung dargestellt hatte. Vico warf Descartes zwar vor, seinen Lebensbericht verflscht zu haben, um seine Philosophie in einem gnstigeren Licht erscheinen zu lassen, doch sein eigener Ansatz, zeigen zu wollen, da sein geisti- ges Leben so und nicht anders verlaufen mute (A 182), ist ganz cartesisch. 1699 wurde Vico zum Professor fr Rhetorik an der Uni- versitt Neapel ernannt, ein Amt, welches er ber vierzig Jahre ausbte. Unter anderem war es seine Pflicht, alljhr- lich die Festrede zum Beginn des Studienjahres zu halten.

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  • Die Reden der Jahre 1699 bis 1706 sind erhalten; es geht darin um Zweck und Methodik der Bildung. Die Themen waren durch die Tradition vorgegeben (Beispiel: Wie lassen sich Waffendienst und Geistesleben miteinander vereinba- ren?), und wer die Reden heute liest, knnte leicht meinen, er habe Texte eines Humanisten der Renaissance vor sich, wren da nicht die Verweise auf Naturwissenschaften und die Skepsis gegenber antiquarischen und philologischen Traditionen. Schon Descartes hatte sich ber Altertumswis- senschaftler lustig gemacht, die den Sinn ihres Lebens darin sehen, ber das Leben im alten Rom Einzelheiten zu ent- decken, die z. B. Ciceros Dienerin ohne jede Wissenschaft auch wute, und Vico schlug 1701 in seiner dritten akade- mischen Festrede einen hnlichen Ton an:

    Du rhmst, Philolog, dich umfassender Kenntnis rmi- scher Mbel und rmischer Kleidung, kennst rmische Straen und Viertel genauer als die deiner eigenen Stadt. Und worauf bist du so stolz? Was du kennst, kannte in Rom ein jeglicher Tpfer, die Kchin, der Schuster, der Reisende wie auch der Herold.

    Eine derartige Kritik darf nun aber nicht so interpretiert werden, als htte Vico das Studium der Antike berhaupt abgelehnt. Im gleichen Jahr, in dem er seine Professur er- hielt, wurde er Mitglied der Accademia Palatina, die in- zwischen anstelle der Investigatoren zur bedeutendsten wis- senschaftlichen Gesellschaft Neapels geworden war und den dortigen Vizeknig des spanischen Herrschers zum Schirm- herrn und Mzen hatte. Zu den Mitgliedern zhlten der Literaturwissenschaftler Gregorio Caloprese (16501715) und sein Schler, der Philosoph Paolo Mattia Doria (1662 1746), beide wie zu dieser Zeit Vico auch Platoniker und Cartesianer; ferner Giuseppe Valletta (16361714), ein viel- seitig interessierter Jurist, der die Ideen Descartes gegen-

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  • ber der Inquisition verteidigte und eine berhmte groe Bibliothek zusammengetragen hatte, in der Vico arbeiten konnte. Valletta berredete ihn auch, sein Gedicht Gefhle eines Verzweifelten in Druck zu geben. In der Accademia Palatina spielte die Altertumswissen- schaft eine groe Rolle. Bei den Sitzungen hrte man Vor- trge ber Themen wie die Philosophie der alten Assyrer oder die Politik bestimmter rmischer Kaiser wie Claudius oder Caligula. Vico selbst hielt einen Vortrag ber Prunk- feste der Rmer, in dem es aber nicht um die Ausbreitung dessen geht, was im alten Rom jede Kchin wute. Bei ihm hatte die Geschichte eine Moral, denn er behauptet, das sieg- gewohnte Rom sei selbst vom Luxus asiatischer Prgung besiegt worden. Auch andere in der Akademie zur Debatte gestellte Themen waren keineswegs so unbedeutend, wie die Titel heute vermuten lassen, denn man zog gern Analogien zwischen antiker und zeitgenssischer Philosophie einerseits und dem Niedergang Roms und dem des spanischen Welt- reichs, zu dem Neapel ja noch gehrte, andererseits. Anfang des neuen Jahrhunderts hatte sich der zweiund- dreiigjhrige Vico also im akademischen Leben etabliert und Interessen entwickelt, deren Vielfalt und Breite selbst in dieser noch nicht dem Spezialistentum verfallenen Zeit den blichen Rahmen sprengte. Er lehrte Rhetorik, beschftigte sich mit dem Recht und war als Philosoph auch mit neuen Entwicklungen der Mathematik und Naturwissenschaften vertraut; mit seinem Freund Doria sprach er oft ber Medi- zin und Magnetismus. Als Dichter gehrte er einer weiteren Akademie an, der Arcadia, die die Dichtkunst von den Aus- wchsen des Barock befreien wollte. Vico trat fr einen strengen Stil ein statt des ppigen oder verspielten, er war nicht auf das Prchtige und das Verblffende aus, sondern strebte nach dem Erhabenen. Als Historiker lie er seinem Essay ber den Niedergang des rmischen Reiches bald eine

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  • weitere knappe Untersuchung folgen, einen Bericht ber die vereitelte Verschwrung gegen die spanische Herrschaft in Neapel im Jahre 1701. Die Frstenverschwrung in Neapel, etwa zwei Jahre nach den Ereignissen verfat, wurde zu Vicos Lebzeiten nicht verffentlicht. Das Vorbild, die Catili- narische Verschwrung des rmischen Geschichtsschreibers Sallust (86ca. 34 v. Chr.), zeigt sich auch am klassischen Latein des Textes; in den schnellen Flu sind formelhafte Charakterisierungen der Hauptgestalten und eine dem Vize- knig in den Mund gelegte Rede eingearbeitet, daneben sind aber auch wirtschaftliche Aspekte bercksichtigt wie der Sturm auf die Banken und die Handelsbeziehungen zwischen Spanien und England. Im alten Rom galt derglei- chen als unter der Wrde der Geschichtsschreibung, doch jetzt schenkte man wirtschaftlichen Fragen zunehmende Beachtung. Vico hatte also schon einiges geleistet, doch seine geistige Entwicklung war keineswegs abgeschlossen. Als der Fnf- zigjhrige einen Blick zurck warf, verzeichnete er auf dem zurckgelegten Weg vier Meilensteine, vier Autoren, denen er zu besonderem Dank verpflichtet war, zwei klassische und zwei moderne: Platon und Tacitus, Bacon und Grotius. Die beiden ersteren gehrten um 1700 schon zum festen Bestand der Kultur, in der Vico lebte. Platon und die Plato- niker der Renaissance entfalteten eine breite Wirkung. Vico z. B. interessierte sich fr Platons Sprachtheorie (vgl. S. 50 51) und bewunderte den gttlichen Platon, wie er ihn gelegentlich nannte, weil er bei der Beschreibung der idea- len Gesellschaft in der Politeia und in den Gesetzen den Menschen so dargestellt hatte, wie er sein sollte. Als Vico spter die Neue Wissenschaft schrieb, war er zwar zu Platon bereits auf Distanz gegangen, doch Platons Ideenlehre wirkt nach in der fr das Werk zentralen Errterung der idealen ewigen Geschichte, worunter Vico das bestndige Schema

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  • versteht, das dem erkennbaren Flu der Ereignisse zugrun- deliegt. Auerdem interessierte sich Vico fr die Neuplato- niker der Sptantike (z. B. Iamblichus) und der Renaissance wie Ficino, Pico und andere Vertreter der hermetischen Tradition, also fr die uralten Weisheiten, die man dem gyptischen Weisen Hermes Trismegistus zuschreibt. Wie Vicos Plato die Neuplatoniker mit einbezieht, so umfat auch sein Tacitus die sogenannten Tacitisten des 17. Jahrhunderts, die den groen Historiker der rmi- schen Kaiserzeit, Cornelius Tacitus (ca. 55125), beraus bewunderten, in ihren Tacitus-Kommentaren Parallelen zwischen den rmischen Kaisern und den absoluten Herr- schern ihrer eigenen Zeit zogen und Tacitus zahlreiche pessimistische Zwischenbemerkungen ber das Wesen der Menschen und der Politik zu systematisieren suchten. Sie brachten Tacitus Auffassungen gern mit denen von Niccolo Machiavelli (14691527) in Verbindung, der als politischer Theoretiker von der Natur des Menschen auch nicht viel hielt, aber systematischer schrieb als Tacitus. Fr Vico spielte Machiavelli hnlich wie Spinoza eine grere Rolle, als er zugeben mochte. Eine Reihe von Vortrgen der Accademia Palatina ber das rmische Reich galten Platon und Tacitus. Vico, philoso- phisch geschulter als Tacitus, historisch geschulter als Platon, empfing dabei zweifellos Anregungen fr eine Synthese der beiden antiken Schriftsteller, die den Menschen betrachten, wie er ist bzw. wie er sein sollte. Die Verbindung des Idealen mit dem Realen war im Grunde Vicos grtes gei- stiges Anliegen. Bacon und Grotius, seine modernen Meister, entdeckte Vico erst in seinen mittleren Jahren; beide waren Protestan- ten, stammten aus dem Norden und gehrten ins frhe 17. Jahrhundert. Auf den ersten Blick wirkt es befremdlich, da Vico um

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  • 1707, als er noch glhender Platoniker und Cartesianer war, in dem Erzempiriker Francis Bacon (15611626) ein Vorbild entdeckte. Ursprnglich gefiel ihm der kleine lateinische Traktat ber die Weisheit der Alten, wo die Mythen der Antike als politische oder wissenschaftliche Allegorien inter- pretiert werden, bei denen es z. B. um die Atomstruktur des Universums gehe (symbolisiert so merkwrdig dies auch scheint durch Cupido) oder darum, da der Frst einen Favoriten brauche (symbolisiert durch Endymion). Spter bezeichnete Vico diesen Traktat als eher geistreich und ge- lehrt denn wahr, doch ursprnglich fand er ihn wohl ber- zeugend. Noch besser gefiel ihm Bacons Groe Erneuerung der Wissenschaften, die er wohl in der lateinischen Fassung las (De Augmentis Scientiarum), da er Englisch kaum ver- standen haben drfte. Hier fand er neben einem berblick ber die verschiedenen Wissensgebiete eine Analyse ihrer je- weiligen derzeitigen Schwachpunkte sowie Vorschlge zur Reform. Wichtig wurde fr ihn in dieser Zeit vor allem Ba- cons Novum Organum, das zuerst in Aphorismen die Regeln festhlt, die bei der Erforschung der natrlichen Welt zu befolgen sind. Man hat gesagt, Vicos Bericht ber seine vier Autoren sei als Allegorie seiner geistigen Entwicklung, als eine Art persnlicher Mythos zu verstehen. Wie dem auch sei, fest steht, da Vico keineswegs sich nur passiv beeinflussen lie. Zog er eine Idee in seinen Bannkreis, so vernderte sie sich unweigerlich, geriet sie doch in ein System, zwischen dessen Bestandteilen es zahlreiche mchtige Beziehungen gab. Manchmal projizierte Vico eigene Auffassungen in seine Lektre: So hielt er beispielsweise Tacitus fr einen Meta- physiker. Was er bernahm, eignete er sich verwandelt und assimiliert an. Ein gutes Beispiel dafr ist seine Festrede zum Beginn des Studienjahres 1708, ber die wissenschaft- lichen Methoden unserer Zeit.

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  • Vico beginnt mit einem Hinweis auf Die groe Erneue- rung der Wissenschaften und handelt dann, hnlich ambi- tioniert wie Bacon, alle Knste und Wissenschaften ab. Im Wesentlichen geht es um die Frage, ob die geistigen Errun- genschaften der Antike bedeutender sind als die der Moder- ne oder umgekehrt. Vico fllt kein Urteil, sondern weist Unterschiede auf. Er wrdigt besonders was die Mathe- matik angeht die Ergebnisse der neuen kritischen Metho- de (womit er die geometrische Methode Descartes und seiner Nachfolger meint) und bezeichnet sie als allen Kn- sten und Wissenschaften gemeinsam, bestreitet aber, da sie auf den Gebieten der Lebensweisheit, also der Ethik, der Politik und des Rechts, Anwendung finden knne. Dort seien die Methoden der Alten immer noch berlegen; den Carte- sianern wirft er vor, der Welt des Menschen nicht die ge- bhrende Aufmerksamkeit zu widmen. Vico hatte sich also nicht etwa zum Baconschen Empirizismus bekehrt, sondern sich in der Begegnung mit Bacons Gedankenwelt von Des- cartes gelst; der kritischen Methode stand er jetzt selber kritisch gegenber. Whrend Descartes betont hatte, wie wichtig klare und deutliche Ideen sind, behauptete Vico, in der menschlichen Erkenntnis sei klares und deutliches Wissen nicht etwa eine Tugend, sondern ein Laster. Womit er diese Erkenntnisweise ersetzen wollte, deutet sich in seinem ersten greren Werk an, ber die uralte Weisheit der Italer, das 1710 erschien. Lateinisch geschrie- ben und dem Freund Paolo Mattia Doria gewidmet, gibt sich das Buch als Fortsetzung einer nach einem Abendessen bei Doria begonnenen Diskussion. Vico will es als bescheide- nen Beitrag zum Baconschen Ideal des Fortschritts der Wis- senschaften verstanden wissen, doch sein eigentliches Vorbild ist Platons Kratylos; diesen Dialog ber den Ursprung der Sprache deutet Vico als einen Versuch Platons, die uralte Weisheit der Griechen wieder zu entdecken.

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  • Vico meint, viele Wrter waren so gelehrten Ursprungs, da sie wohl nicht aus dem allgemeinen Gebrauch, sondern aus einem inneren Lernen stammten. Da die Rmer der Frhzeit keine Interessen auer Ackerbau und Krieg kannten, folgert Vico, sie htten die fraglichen Begriffe von einem anderen, kultivierteren Volk bernommen, z. B. von den Etruskern (Italer 49). Ihm ging es darum, aufgrund der Etymologie bestimmter lateinischer Wrter die Ansichten der frhen Philosophen Italiens zu rekonstruieren. So be- zieht er das Wort fatum (Schicksal) gleichzeitig auf factum (geschaffen) und auf fatus est (er sprach), um darlegen zu knnen, den alten italischen Philosophen habe das Schicksal als unentrinnbar gegolten, weil geschaffene Dinge Worte Gottes sind und Geschaffenes nicht ungeschaffen gemacht werden kann. Ferner wies er darauf hin, da die alten Rmer das Denken im Herzen ansiedelten, whrend die Modernen mit dem Gehirn zu denken behaupten. Diese rekonstruierte Philosophie fhrte er dann gegen die geometrische Methode und die klaren und deutlichen Ideen der Cartesianer ins Feld, um an deren Stelle der schon in der Festrede von 1708 errterten Lebensweisheit und dem ingenium das Wort zu reden, in seiner Definition das Ver- mgen, getrennte und verschiedene Elemente zu verknp- fen. Vico, der Dichter, hatte dem Philosophen Vico unter die Arme gegriffen. Die Zeitgenossen reagierten auf das Buch schon ganz hn- lich wie spter auf die Neue Wissenschaft. Damals wurden gerade die ersten literarischen Zeitschriften ins Leben geru- fen, und ber die uralte Weisheit der Italer wurde im vene- zianischen Giornale deLetterati besprochen. Das Urteil: kaum verstndlich und zu spekulativ. Diese Kritik krnkte Vico, und in zwei langen Briefen an die Zeitschrift beharrte er auf seiner Beweisfhrung. Es sollte nicht das letzte Mal sein, da er sich miverstanden fhlte.

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  • Vielleicht blieb Die uralte Weisheit aus diesem Grunde Fragment; die vorgesehenen Kapitel ber Logik, Physik und Ethik fehlen. Statt in seiner philosophischen Etymolo- gie fortzufahren, schrieb Vico eine Biographie des neapoli- tanischen Aristokraten Antonio Caraffa (164293). Vorge- schlagen hatte ihm dies ein Schler, ein Neffe dieses bedeu- tenden Mannes. Caraffa war zur Zeit des Aufstandes von Graf Tkly gegen Kaiser Leopold I. Befehlshaber der kai- serlichen Truppen in Ungarn. Wie die Beschreibung der Verschwrung von 1701 gehrt diese ebenfalls lateinisch geschriebene Biographie in die Tradition der humanisti- schen Historiographie. Neben Reden, die dem Helden zuge- schrieben werden, finden sich weitere vorgeschriebene Ver- satzstcke des Genres wie z. B. eine Beschreibung der Bela- gerung Wiens durch die Trken im Jahre 1683. Wie bei den klassischen Vorbildern, insbesondere Tacitus, zhlen bei der Schilderung militrischer Operationen nur Legionen und Zenturionen. Mitten im klassischen Latein verwendet Vico allerdings auch trkische Begriffe wie Wesir, Janitscha- ren (Infanterie) und Spahis (Kavallerie). Er kam ohne solche Begriffe nicht aus, denn sein Ziel war, Geschichte so zu schreiben, wie Bacon angeregt hatte, also um die Men- schen weise zu machen. Fr Vico hie das auch, da der besondere Wert der Geschichtsschreibung darin liegt, dem Leser Verstndnis zu vermitteln fr die kleinen Dinge, die groe Folgen haben, was Detailgenauigkeit erfordert. Die- se Biographie eines neapolitanischen Generals steht Vicos philosophischen Interessen nher, als man auf den ersten Blick meinen mchte. Antonio Caraffas Leben ist noch aus einem weiteren Grund fr Vicos Entwicklung wichtig. Whrend der Arbeit an dieser auf Familiendokumenten beruhenden Biographie eines neapolitanischen Aristokraten war Vico gezwungen, sich auch anderweitig umzutun; er befate sich nicht nur

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  • mit der Politik Ludwigs XIV., die er in der Frstenverschw- rung zu Neapel schon einmal errtert hatte, sondern auch mit Ungarn und dem Ottomanischen Reich. Um Caraffa an dessen repressives Regime sich die Ungarn bis heute er- innern richtig einordnen zu knnen, war Vico verpflich- tet, wie er selber sagt, sich wieder mit juristischen Studien abzugeben; vor allem las er die Abhandlung Vom Recht des Krieges und des Friedens des groen niederlndischen Ge- lehrten Hugo de Groot (15831645), genannt Grotius. Fr Grotius interessierten sich auch einige von Vicos Freunden, so Valletta und Doria. Die Lektre der Drei Bcher vom Recht des Krieges und des Friedens machte auf Vico, der damals Mitte vierzig war, einen solchen Eindruck, da er einen (nicht erhaltenen) Kommentar dazu verfate und Gro- tius gleichrangig als seinen vierten Autor neben Platon, Tacitus und Bacon stellte. An Grotius Werk gefiel ihm vor allem, da hier in ein universales Rechtssystem die ganze Philosophie und die ganze Philologie miteinbezogen sind (A 155), wodurch der Zusammenhang zwischen gesellschaft- lichen Prinzipien und gesellschaftlicher Praxis offengelegt und ein nicht-cartesisches System der Humanwissenschaften begrndet wird (vgl. S. 95). Andererseits mifiel Vico, da Grotius System der Vorsehung keinen Platz einrumte. Von Grotius also zugleich begeistert und frustriert, gab Vico das Kommentarvorhaben auf und trat dem Gedanken nher, selber etwa? ber das System der Jurisprudenz zu schreiben. Daraus wurde die zwischen 1720 und 1722 in drei Teilen erschienene Abhandlung, die heute unter dem Titel Synop- sis des universalen Rechts bekannt ist. Nach Vico grndet das Recht philosophisch gesehen in erster Linie auf der natrlichen Gleichheit der Menschen sowie auf ihrem Bedrfnis nach Geselligkeit, dann aber auch und das ist genauso wichtig auf gttlicher Vor- sehung. Was die Vorsehung angeht, folgt Vico Grotius also

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  • nicht, whrend er sich auf ihn beruft, wenn er der Auffas- sung widerspricht, die Menschen bildeten Gesellschaften lediglich aus Eigeninteresse. Diese Ansicht sei typisch fr Skeptiker wie Machiavelli und Hobbes. Auf der Suche nach den geschichtlichen Ursprngen des Rechts geht Vico zurck bis in die Zeit, als die Menschen wie wilde Tiere ber die Erde streiften, um dann in chronologischer Reihenfolge die Entstehung verschiedener Gesellschaftsformen zu be- schreiben Familien, Gefolgschaften, Aristokratien, Monar- chien und Demokratien sowie deren jeweils eigene Rechts- formen, seien sie ffentlich oder privat, streng oder milde. Als nchstes setzt er diese politische Geschichte der Mensch- heit in Beziehung zur psychologischen Entwicklung des Menschengeschlechts von der vernunftschwachen, aber phan- tasiereichen Kindheit zur Reife und Rationalitt. Sprach- geschichte, Literatur und Religion werden ebenso errtert wie die Bedeutung der griechischen Mythen, die Ursprnge der italischen Kultur sowie eine ganze Reihe weiterer The- men, die mit der Rechtswissenschaft an sich nicht mehr viel zu tun haben. Womglich will Vico damit plausibel machen, da Vernderungen des Rechts unverstndlich bleiben, wenn man sich nicht gleichzeitig vor Augen fhrt, wie andere Aspekte einer Kultur sich verndern; ausdrcklich sagt er das allerdings nicht. Die Synopsis des Universalen Rechts wurde unterschied- lich aufgenommen. Einige Zeitgenossen tadelten das Werk als unklar, whrend andere viel Gutes daran fanden, so z. B. Jean LeClerc (16571736), der Herausgeber einer der bedeu- tendsten damaligen Zeitschriften, der Bibliothque Univer- selle. Vico selber war ausreichend berzeugt von seinem Bei- trag zur Rechtswissenschaft, um sich 1723 um den vakanten Lehrstuhl fr Zivilrecht an der Universitt Neapel zu be- werben. Er hielt wie damals blich eine Probevorlesung, konnte aber nicht ressieren. Von der Juristerei enttuscht

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  • nutzte er seine Mue, ein noch ehrgeizigeres Vorhaben ins Werk zu setzen. So verdanken wir zweifellos den Juristen, die seine Kandidatur ablehnten, sein bedeutendstes Werk, die Neue Wissenschaft, die 1725 erschien, als Vico sieben- undfnfzig war. Das Buch, dem Vico seinen heutigen Ruhm verdankt, ist im Gegensatz zu den frheren Werken nicht Lateinisch, sondern Italienisch geschrieben, als wre es fr ein nicht-akademisches Publikum gedacht. Mit den Grundzgen einer neuen Wissenschaft ber die Natur der Vlker, wie Vico das Werk nannte, schlug er genau genommen keine neue Richtung ein, sondern erwei- terte und vertiefte vielmehr einige Hauptthemen des Uni- versalen Rechts. Schon dort trgt ein Kapitel die berschrift Versuch einer Neuen Wissenschaft. Auch aus der Uralten Weisheit der Italer taucht hier einiges wieder auf. Vicos weitgespannte Interessen konzentrierten sich nun schlielich doch auf ein zentrales Problem. Da es ihm immer noch darum ging, die Prinzipien des Naturrechts festzustellen, versuchte er durch Konjektur die Welt der Primitiven zu rekonstruieren, die er meistens die ersten Menschen nennt. Er war immer noch auf der Suche nach uralter Weisheit, glaubte inzwischen aber nicht mehr, da sie den frhen Philosophen zu verdanken sei, im Gegenteil: die lteste Weisheit war Volksweisheit (sapienza volgare) und kam in Traditionen, Mythen und Ritualen zum Ausdruck. Vico war mittlerweile berzeugt davon, da seine Vorlufer von Platon ber Bacon und Machiavelli bis hin zu Grotius einer vllig anachronistischen Betrachtungsweise zum Opfer ge- fallen waren. Ihre Vorstellung vom Frhmenschen ent- spricht unseren heutigen Ideen, nicht aber den ihnen eige- nen ursprnglichen. Es galt nun, durch hchste Anstren- gung den Geist von modernen Auffassungen zu reinigen und durch die Kraft unseres Verstehens in die Natur der ersten Menschen einzudringen (N 7780).

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  • Dementsprechend sah Vico sich gezwungen, die Geistes- geschichte ebenso zu untersuchen wie die Geschichte der Institutionen und beides noch enger zu verknpfen als im Universalen Recht. Vico unterschied drei Zeitalter er ber- nahm den sptklassischen Begriff Zeitabschnitte (tre sette detempi) nmlich das aberglubische, das heroische und das menschliche. Jedes dieser drei Zeitalter entwik- kelte neben einer eigenen Weltanschauung und einem eige- nen Rechtssystem auch eine typische Ausdrucksweise; Vico meinte, nach fnfundzwanzigjhrigem Nachdenken (so sagt er selber) als Grundprinzip dieser Wissenschaft entdeckt zu haben, da die ersten Menschen Dichter waren, die wie ihre Rituale, Symbole und Mythen bezeugen mehr Einbil- dungskraft als Rationalitt besaen und eher konkret als abstrakt dachten. Dem Historiker und Rechtsphilosophen war der Dichter und Rhetorikprofessor zu Hilfe gekommen. Vico erhoffte sich von der Neuen Wissenschaft eine starke Wirkung und schien damit zu rechnen, das Buch werde fr die Untersuchung der Gesellschaft (die er Brgerwelt oder Vlkerwelt nennt) hnliches leisten wie vor kurzem die Principia Mathematica des groen Gelehrten Sir Isaac New- ton (16421727) fr die Welt der Natur. Jedenfalls schickte er ber einen Rabbiner aus Livorno Newton ein Widmungs- exemplar des Werkes; ob es den Empfnger je erreichte, wis- sen wir nicht. Ein weiteres Exemplar ging auf demselben Wege an LeClerc, der seine Bewunderung fr das Universale Recht bekundet hatte, doch auch von seiner Seite erfolgte keine Reaktion. Der Autor war bitter enttuscht, da das Publikum von seinem Buch keine Notiz nahm. Mich deucht, schrieb er aus Neapel, da ich das Werk in dieser Stadt in die Wste geschickt habe, und ich meide alle beleb- ten Orte, um nur ja keinem zu begegnen, dem ich ein Ex- emplar geschickt habe, und wenn ich doch einen treffe, gre ich nur flchtig; kein einziger gibt bei einer solchen

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  • Gelegenheit zu erkennen, da er das Buch gelesen hat, so da ich in meiner berzeugung bestrkt bin, es in die Wste geschickt zu haben. In einem anderen Brief merkt er be- trbt an, in Neapel htte man eigentlich damit rechnen mssen, da das Werk auf Ablehnung stoen wrde, da Descartes hier immer noch hoch im Kurs stehe. Erfreut eilte der Enttuschte eines Tages auf die Post, als er hrte, es seien Briefe voll des Lobes eingetroffen. Carlo Lodoli berichtete aus Venedig, dort seien ausgezeichnete Mnner von dem Buch begeistert; Lodoli schlug Vico vor, sofort einen Nachdruck zu veranlassen. Es zeugt von einem fast bemitleidenswerten Verlangen nach Besttigung, wenn Vico den Brief in seiner Autobiographie, die, wie wir ge- sehen haben, auf Lodolis indirekten Vorschlag hin entstan- den ist, vollstndig wiedergibt. In den Leipziger Acta Eruditorum (Gelehrte Mitteilun- gen) jedoch ein Organ, das internationale Verbreitung geno wurde die Neue Wissenschaft verrissen. Vico hielt diese Kritik fr eine krasse Fehldarstellung und fhlte sich wie schon bei den negativen Besprechungen der Uralten Weisheit der Italer zu einer ausfhrlichen Erwiderung be- migt. Das Gefhl, miverstanden und nicht anerkannt zu werden, bestrkte ihn in der Auffassung, Fremder im eigenen Land zu sein. Sptestens in den Zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts scheint er sich aus der Gesellschaft zu- rckgezogen zu haben an seinen Schreibtisch als seine hohe uneinnehmbare Zitadelle (A 200). Einsam und melancho- lisch gab er anscheinend sogar das Lesen auf oder zumindest die Lektre von Neuerscheinungen. Einem Briefpartner im Ausland schrieb er, in Neapel sei das Geistesleben dem Ende nahe, denn der Preis fr griechische und lateinische Bcher gehe aufgrund mangelnder Nachfrage zurck. Auf diesem Gebiet kannte er sich aus, hatte er doch die Scht- zung der herrlichen Bibliothek seines 1714 gestorbenen alten

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  • Freundes und Gnners Giuseppe Valletta vorgenommen. Da Vico den Stand einer Kultur an diesem Mastab mit, deutet darauf hin, da er im Grunde seines Herzens Huma- nist war. Seine Distanz zu den neuen geistigen Entwicklun- gen seiner Zeit nahm stetig zu; da er sich dessen bewut war, zeigt die Stelle in seiner Autobiographie, wo er den Grund dafr, da das Glck angeblich der Jugend hold ist, darin findet, da sich der Geschmack der Welt ihrem We- sen entsprechend Jahr um Jahr wandelt; spter, im Alter, stellt man fest, da man an einer Weisheit reich ist, die nicht mehr gefllt und daher nicht mehr ntzt. Er war also zumindest imstande, seinen Fall unter historischer Perspek- tive zu betrachten. Unter den Festreden, die er auch weiter hielt, ist ber den heroischen Geist (1732) hervorzuheben, wo Vico die Leistungen von Columbus und bei aller Kritik Descartes wrdigt. Sein Lehrbuch der Rhetorik berarbeitete er fr eine zweite Auflage, und fr die neapolitanische Aristokratie verfate er weiterhin Gelegenheitsgedichte. 1735 wurde der Siebenundsechzigjhrige zum offiziellen Geschichtsschreiber des neuen Herrschers von Neapel, Charles Bourbon, ernannt. Sein Hauptanliegen blieb jedoch weiteres Nachdenken ber die Neue Wissenschaft. Er berarbeitete das Werk un- ablssig; die letzte Fassung wird gern als die neunte be- zeichnet, verschiedene Ausgaben gab es jedoch nur drei. Die erste war 1725 herausgekommen, fr die 1730 erschienene zweite wurde der Stoff weitgehend neu organisiert. Die re- vidierte und erweiterte dritte Ausgabe erschien 1744 kurz nach dem Tod des Verfassers. Diese Ausgabe letzter Hand ist in fnf Bcher unterteilt. Einem von dem neapolitiani- schen Knstler Domenico Vaccaro unter Mitwirkung des Verfassers gestalteten kunstvollen allegorischem Frontispiz war eine Einleitung beigegeben, in der die Ikonographie erlutert und dem Leser somit indirekt eine vorlufige Idee

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  • des Werkes vermittelt wurde. Wie schon im Universalen Recht gab es eine Zeittafel; ausfhrlich waren in sieben Spalten die wichtigsten Ereignisse aus der Geschichte von sieben Vlkern aufgefhrt: Hebrer, Chalder, Skythen (diese mit nur einem Datum), Phnizier, gypter, Griechen und Rmer. Im dritten Buch ging es jetzt um die Darlegung der Prinzipien, wobei Vico 114 Axiome aufstellte (er nannte sie Dignitten), welche die Voraussetzungen und Schlufol- gerungen des gesamten Werkes zusammenfaten. Das Zweite Buch, Poetische Weisheit, betraf den sogenannten Hauptschlssel dieser Wissenschaft, nmlich den Ver- gleich von Kindern, Dichtern und Primitiven. Vico entwik- kelte diesen Vergleich recht ausfhrlich und schilderte poe- tische Logik, poetische Politik, poetische Chronologie, poetische Geographie und so fort. Das Dritte Buch, Die Entdeckung des wahren Homer, verriet radikales Umden- ken bei Vico. Whrend er frher die homerischen Dichtun- gen stets als Quellen gelten lie er bezeichnete sie gern als Fundgrube alter Sitten war er mittlerweile zu dem Schlu gekommen, diese Dichtungen htten eine lange Ent- wicklung und Bearbeitung hinter sich, und die Person, die wir Homer nennen, habe es nie gegeben. Im Vierten Buch, Der Lauf der Vlker, entwickelte Vico in grerer Breite die Vorstellung vom corso (Lauf) der drei Zeitalter der Menschheitsgeschichte (die er in der ihm eigenen an- schaulichen Weise als gttlich, heroisch und mensch- lich bezeichnete), jedes mit eigenen Sitten, Recht, Sprache, Herrschaftssystem und sogar einer ihm eigentmlichen Aus- prgung der menschlichen Natur. Laut Vico ist die Reihen- folge nicht irreversibel, und im Fnften Buch greift er eine Idee wieder auf und entwickelt sie weiter, die bereits in der ersten Ausgabe kurz angesprochen war, nmlich die Vor- stellung vom ricorso, der Wiederkehr oder dem Wieder-

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  • lauf eines frheren Zeitalters. Hier wird z. B. das euro- pische Mittelalter als ein zweites Zeitalter der Heroen bzw. Barbaren dargestellt. Zwar wird das gesamte Werk nach wie vor als System des Naturrechts bezeichnet, doch die anderen Themen Vico nennt nicht weniger als sechs sind jetzt deutlicher herausgearbeitet. Da Vico die Auffassung vertritt, dem Wandel der Sitten liege ein Wandel der Ideen zugrunde, spricht er auch von einer Geschichte der menschlichen Ideen. Auerdem bezeichnet er es als historische Mytho- logie, weil Mythen auf eine neuartige Weise interpretiert werden, und als eine neue Kunst der Kritik, weil Regeln gegeben werden, nach denen sich in an sich sagenhaften geschichtlichen Berichten die wahren Elemente erkennen lassen. Des weiteren bietet die Neue Wissenschaft eine s- kulare Theologie, weil sie darlegt, wie die Vorsehung unter den Unglubigen wirkt, ein gttlich gesetzgebender Geist . der aus den Leidenschaften der Menschen (die alle nur an ihrem persnlichen Nutzen hngen) die brger- lichen Ordnungen (ordini civili) hervorbringt, durch die sie in menschlicher Gemeinschaft leben knnen. (N2. 133/A77) Vico berarbeitete die 1744 erschienene Ausgabe der Neu- en Wissenschaft auch nach literarischen Kriterien. Der neue Text liest sich mhsamer als die frheren, denn er ist in einem persnlicheren Stil gehalten; je mehr Vico sich in sich selber zurckzog, desto strker wurde seine Tendenz, sich einer privaten Sprache zu bedienen. Andererseits ist diese berarbeitete Ausgabe auch lebendiger, anschaulicher und poetischer oder, um einen von Vicos Lieblingsausdrcken zu verwenden, erhabener. Diese Ausgabe letzter Hand, die dritte (irrefhrender- weise meist als zweite Neue Wissenschaft bezeichnet), soll im folgenden Kapitel ausfhrlich errtert werden.

  • Die Neue Wissenschaft

    Der Gedankenreichtum der Neuen Wissenschaft lt das Buch fast aus den Nhten platzen. Untersucht werden Geschichte, Philosophie, Dichtkunst, Theologie und Recht, des weiteren Probleme heutiger Schlsseldisziplinen, die es damals noch gar nicht gab, wie Soziologie und Sozialanthro- pologie. Es berrascht daher nicht, da es Vico schwerfiel, seinen Stoff zu ordnen, wie die vielen nderungen, die er am Aufbau des Buches vornahm, erkennen lassen. Weil Vicos Anordnung fr heutige Leser oft nur schwer nachvoll- ziehbar ist, scheint es ratsam, den Text hier nicht kapitel- weise durchzugehen, sondern einige Hauptthemen vier an der Zahl auszuwhlen und zu errtern, nmlich Recht, Sprache und Mythos, den Lauf der Geschichte und zuletzt die Quellen und Methoden sowie den wissenschaftlichen Standort der Neuen Wissenschaft. Bei allen vier Themen sollen Vicos Auffassungen mit denen seiner Zeitgenossen und Vorlufer verglichen werden. Anders gesagt wird das Werk wieder in seinen kulturellen Kontext gestellt, damit sich besser feststellen lt, inwiefern Vico ein origineller Denker war und worin genau seine Originalitt bestand.

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  • Recht

    Vico bezeichnete die Neue Wissenschaft als System des Na- turrechts. Die Idee des Naturrechts ist sehr alt und geht mindestens bis auf Aristoteles zurck, der in seiner Ethik die Auffassung verwarf, Gerechtigkeit sei lediglich eine Frage der bereinkunft und auerdem ortsgebunden. Fr ihn be- stand ein groer Unterschied zwischen Gerechtigkeit und Sitten; letztere seien durch bereinkunft auf der Basis der Zweckmigkeit zustandegekommene Regeln wie z. B. Mae und Gewichte und dementsprechend von Ort zu Ort verschieden. Die Gerechtigkeit dagegen hielt Aristoteles fr etwas Natrliches, Unvernderliches und Universales. Eine hnliche Unterscheidung trafen auch die alten Rmer, die Naturrecht mit den Schlufolgerungen der sogenannten rechten Vernunft gleichsetzten. Verwandte Gedanken fin- den sich in der mittelalterlichen Philosophie, insbesondere bei Thomas von Aquin (ca. 122574), dessen groe Leistung in einer Synthese aus aristotelischen Vorstellungen und dem Gedankengut des christlichen Abendlands im 13. Jahrhun- dert bestand. Im 16. und 17. Jahrhundert war der Begriff des Natur- rechts Gegenstand einer langandauernden lebhaften Debat- te. Zu dieser Kontroverse kam es nach der Entdeckung Ame- rikas, einer neuen Welt, die den Europern gnzlich fremd vorkam und somit wieder einmal die alte Frage aufwarf, ob der augenflligen Vielfalt menschlicher Sitten irgendeine Ordnung zugrundeliege. Neue Nahrung gab dieser Diskus- sion auch der Aufstieg der Nationalstaaten. Wenn nmlich jeder Staat das Recht hatte, durch eigene Regeln positives Recht zu setzen, so war doch keineswegs klar, wie die Be- ziehungen zwischen den Staaten zu regeln waren. War Vl- kerrecht Naturrecht? Hatte es schon gegolten, bevor organi- sierte Gesellschaften oder Staaten entstanden waren? Der-

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  • artige Fragen beschftigten im 17. Jahrhundert u. a. den spanischen Philosophen Suarez (mit dem sich Vico, wie wir gesehen haben, in seiner Jugend befat hatte) und auch die drei Frsten des Naturrechts, wie Vico sie gern nannte, Grotius, Seiden und Pufendorf. Grotius konzipierte seine Drei Bcher vom Recht des Krie- ges und des Friedens (1625) als Abhandlung ber Vlker- recht und kam dabei um eine Errterung des Naturrechts nicht herum. Er definierte es als das von rechter Vernunft oder gesundem Menschenverstand nahegelegte Recht, er- blickte seinen entscheidenden Wesenszug im Respekt fr die Rechte anderer, setzte das Naturrecht wie schon andere vor ihm mit dem Vlkerrecht gleich und behauptete dar- ber hinaus, es wrde selbst dann seine Gltigkeit behalten, wenn es Gott nicht geben sollte. Wie Aristoteles hielt Grotius den Menschen fr ein sanftes und geselliges Lebewesen. Der vielseitig interessierte englische Gelehrte John Selden (15841654) verglich die Sitten der Hebrer mit den Prin- zipien des Naturrechts; Naturrecht war fr ihn was die natrliche Vernunft allen Menschen nahelegt. Seiden ver- trat die damals ungewhnliche Auffassung, die Menschen der Frhzeit htten solange in vlliger moralischer Freiheit gelebt, bis sie Gottes Gebote kennenlernten. Der deutsche Jurist Samuel Pufendorf (163294) griff auf die gngigere aristotelische Auffassung zurck, wonach die Menschen der Frhzeit natrliche Gesetze befolgt htten, von denen das grundlegende das Gesetz der Geselligkeit gewesen sei. In der Gesellschaft leben heie der mensch- lichen Natur entsprechend leben. Sein System setzt genau wie das Grotiussche keinen Gott voraus. Vico fhlte sich in zwei entgegengesetzte Richtungen ge- zogen. Einerseits glaubte er wie zwei seiner Frsten, Platon und Suarez, an universelle, ewige Gerechtigkeit. Bei beiden bemngelte er sogar, da sie das Naturrecht allzu skular

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  • darstellten, denn fr ihn war im Naturrecht sichtlich die gttliche Vorsehung am Werk. Kritik bte er an Pufendorfs epikureischer Hypothese, da die Menschen ohne Hilfe und Mitwirkung Gottes in diese Welt gefallen seien (N2. 397/F63). Andererseits besa Vico einen so ausgeprgten Sinn fr Wandel und Anachronismen, da ihm auch die relativisti- sche Position der Skeptiker, wie er sie nannte, zusagte. Mit der herkmmlichen Darstellung des Lebens der Menschen der Frhzeit, wonach sie vor der Entstehung der Gesell- schaften in einem sogenannten Naturzustand gelebt ht- ten, konnte er besonders wenig anfangen.

    Die Philosophen haben nmlich ber eine menschliche Natur nachgedacht, die bereits durch Religionen und Rechtssysteme zivilisiert war, und in der, und nur in der, Philosophen in Erscheinung traten; nicht nachgedacht haben sie ber jene menschliche Natur, welche die Reli- gionen und Rechtssysteme entstehen lie, in der dann Philosophen auftraten. (N2. 23)

    Pufendorf war zu seinem Bild des frhen Menschen im Naturzustand gelangt, indem er den Menschen nahm, wie er jetzt ist, und sich die Gesellschaft als nicht existent vor- gestellt hatte. Fr Vico hie das, in der Mitte anzusetzen statt zum Anfang zurckzugehen. hnliche kritische An- merkungen machten spter auch Jean-Jacques Rousseau (171278) der brigens Vicos Werk nicht gekannt zu haben scheint als er John Locke vorwarf, sein Bild des Primitiven sei nichts weiter als ein Bild des modernen Menschen in einer primitiven Umgebung, und David Hume (171176), der ebenfalls argumentierte, der frhe Mensch htte in sei- nem wilden unkultivierten Urzustand die Vorteile des Gesellschaftsvertrags gar nicht einsehen knnen, wie Locke und Pufendorf angenommen hatten.

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  • Vico selbst hatte vom Naturzustand des Menschen eine vllig andere Vorstellung. Er meinte, damals seien die Men- schen gefhllose, schreckliche Tiere (bestioni) mit riesigem Krper und trgem Geist gewesen. Diese Vorstellung gleicht in mancher Hinsicht der des englischen Philosophen Thomas Hobbes (15881679), der in seinem Leviathan den Natur- zustand hchst anschaulich als eine Zeit beschreibt, in der das menschliche Leben einsam, arm, scheulich, brutal und kurz war. (Den Leviathan hat Vico anscheinend nicht ge- kannt, doch Hobbes frhere lateinische Abhandlung ber den Brger hatte er gelesen.) Hobbes Behauptung, Angst und das Streben nach vernnftigem Eigeninteresse habe den Menschen aus dem Naturzustand heraustreten lassen, moch- te Vico jedoch nicht mehr teilen. Alles in allem lief sein Ver- such, das Problem des Wesens des Naturrechts zu lsen, auf eine Synthese entgegengesetzter Auffassungen hinaus. Er meinte, das Naturrecht sei zwar der Idee nach ewig, habe aber zwangslufig verschiedene Stadien durchlaufen und in verschiedenen Zeitaltern bei ihm waren es, wie gesagt, drei verschiedene Form angenommen, da sich die mensch- liche Natur selber im Lauf der Geschichte in verschiedenen Stadien entwickelt habe. Um zu zeigen, da Unterschiede zwischen den Sitten und Gesetzen verschiedener Vlker und Zeiten vllig natrlich, ja notwendig sind, mute Vico also diese Unterschiede dar- stellen. Besonders gut kannte er sich im damals Zivilrecht genannten rmischen Recht aus, das in Sditalien wie auch in vielen anderen Teilen Europas immer noch geltendes Recht war; wie viele seiner Zeitgenossen hatte er es als jun- ger Mann studiert. Das rmische Recht hatte im Mittelalter prinzipiell noch die Form, die ihm im 6. Jahrhundert der byzantinische Kaiser Justinian und sein Minister Tribonian gegeben hatten, war aber seit dem 11. Jahrhundert an den italienischen und franzsischen Universitten von einer lan-

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  • gen Reihe von Rechtsgelehrten interpretiert, angewendet und neuen Gegebenheiten angepat worden, manchmal be- wut, manchmal eher unbewut. Wie auch einigen der humanistischen Juristen der Re- naissance, deren Arbeiten er sicher gut kannte, ging es Vico darum, die spteren Interpretationsschichten abzulsen und darunter das ursprngliche rmische Recht freizulegen. Er unternahm sogar einen Rekonstruktionsversuch der frhe- sten rmischen Sitten. Dazu mute er sich auch mit den Zwlf Tafeln befassen, einem heute nur noch fragmenta- risch erhaltenen Rechtskodex, den in der Antike zumindest theoretisch jedes Schulkind auswendig gelernt hatte. Der berlieferung zufolge gingen diese Gesetze auf das Jahr 451 v. Chr. zurck, als eine Delegation mit dem Auftrag nach Griechenland geschickt wurde herauszufinden, welche Gesetze eineinhalb Jahrhunderte zuvor der groe Reformer Solon in Athen erlassen hatte. Vico allerdings argumentierte mit dem fr ihn typischen Nachdruck, im Universalen Recht und dann wieder in der Neuen Wissenschaft, die Rmer htten ihr Recht keineswegs von anderen bernommen. Er vertrat vielmehr die Auffassung, da die Zwlf Tafeln eine Kodifizierung der Sitten Roms und Latiums, der Ge- gend um Rom, darstellten. Gleichzeitig hielt er den Kodex fr eine Schatzkammer des Naturrechts, der zeige, was der Zeit, dem Ort und der damaligen Ausprgung der mensch- lichen Natur angemessen war. Die Zwlf Tafeln waren Vico aber immer noch nicht ursprnglich genug. Er wollte noch weiter zurckgehen, und zwar in die Zeit, als es weder Gesetzbcher noch Stdte gab. Vor der wohlwollenden Jurisprudenz Athens und Roms, also einer Rechtsverfassung, die durch die voll ent- wickelte menschliche Vernunft bestimmt war, gab es laut Vico ein Zeitalter, in dem die Menschen ihre Angelegen- heiten durch das Recht auf individuelle Gewalt regelten.

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  • An den homerischen Gedichten, die Vico als Fundgrube des Naturrechts den Zwlf Tafeln gleichsetzte, glaubte er zeigen zu knnen, da die Griechen kein anderes Recht als das Recht der Gewalt kannten, das Gesetz Achills, der jede Rechtsfrage mit der Speerspitze entschied. Damit sind wir in Vicos zweitem, heroischen Zeitalter. Noch frher, im ersten Zeitalter, war das Recht gttlich, denn die Men- schen glaubten, da sie samt allen ihren Institutionen von den Gttern abhingen (Na. 9224). Streitfragen wurden durch Anrufung der gttlichen Urteilsinstanz entschieden. Davor wiederum lag das z. B. von Hobbes oder Lukrez be- schriebene Zeitalter des Naturzustandes, als die Menschen im Grunde noch gar keine Menschen waren. Sein Interesse fr Streit und Ordnung whrend der langen Zeit vor den Zwlf Tafeln hebt Vico deutlich von den humanistischen Rechtsgelehrten ab, ebenso wie er sich bei der Errterung des Naturzustandes durch die Verwendung historischer Quellen von den Philosophen unterscheidet, die darber lediglich spekuliert hatten. Auch in der Frage nach dem Ursprung des Feudalrechts fhrt ihn die Untersuchung der Rechts- geschichte zu einer Synthese gegenstzlicher Auffassungen. Schon die humanistischen Rechtsgelehrten der Renais- sance hatten festgestellt, da sich das mittelalterliche Eigen- tumsrecht, insbesondere das an die Bedingung des Lehens- dienstes geknpfte Lehensrecht, so wie es sich in Frankreich, Italien, England und anderswo entwickelt hatte, vom klassi- schen rmischen Recht deutlich unterschied. Einige Huma- nisten, wie z. B. der Franzose Jacques Cujas (152290), hat- ten die Auffassung vertreten, da die Ursprnge dieses Le- hensrechts, des sogenannten Feudalrechts, in Rom lagen und da die Vasallen, denen die Lehensherren als Gegenleistung fr Militrdienst Land berlieen, sich aus den Klienten im alten Rom entwickelt hatten, die ihren Herren hnliche Dienste leisten muten, whrend ihre Pflichten weniger

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  • genau definiert waren. Andere Wissenschaftler meinten, das Feudalrecht sei eine Schpfung der Gallier gewesen, und wieder andere, wie z. B. der Franzose Francois Hotman (152490), es gehe auf die spter Franken genannten germa- nischen Barbaren zurck. Dieser Gelehrtenstreit der Renaissance erwachte im sp- ten 17. Jahrhundert in Neapel zu neuem Leben, wo die Machtentfaltung des dortigen niederen Adels das Thema hatte aktuell werden lassen. In der Vorliebe dieser Adeligen fr Duelle sah Vico einen Beweis dafr, da sich hier eine Tradition des heroischen Zeitalters erhalten habe, nmlich die des Gottesgerichts. Sein System bot also Raum fr eine Erscheinung, die man in der modernen Soziologie gern als cultural lag bezeichnet. Auch in der Accademia Palatina spielte die Frage nach dem Ursprung der Lehen eine gewisse Rolle, und ein anderes Mitglied, Nicolo Caravita (1647 1717), einer von Vicos Gnnern, hatte den Lehrstuhl fr Feudalrecht an der Universitt Neapel inne. In neapolitani- schen Juristenkreisen kannte man Cujas und Hotman sehr genau (in der Neuen Wissenschaft heien sie Cuiaco und Ottomano), und es gab lebhafte Debatten ber den Ur- sprung der Lehen. Vico suchte diese umstrittene Frage zu lsen, indem er einerseits die Analogie zwischen Vasallen und Klienten gelten lie, die Romanisten wie Cujas ver- traten, andererseits aber den Germanisten wie Hotman darin folgte, da er die Theorie der Herleitung einer Insti- tution aus einer ganz anderen ablehnte (wie ja auch bei den Zwlf Tafeln, von denen einige meinten, sie seien aus den solonischen Gesetzen abzuleiten) und statt dessen eine autonome, eigenstndige Entwicklung betonte. Zur Erkl- rung der Parallelen zwischen der Entwicklung im alten Rom und im mittelalterlichen Europa meinte er, dies liege ein- fach daran, da Militrisches in der gesellschaftlichen Orga- nisation eben ein Aspekt des heroischen Zeitalters sei, der

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  • in der Geschichte der Menschheit mehr als einmal wieder- kehre. Vico war ein Vertreter der Theorie der Rechtsevolu- tion (im Gegensatz zur Theorie der Erfindung bzw. Diffu- sion von Recht). Seinem Werk gebhrt daher ein besonderer Rang in jeder Ideengeschichte der Rechtsevolution. Waches Interesse fr die Beziehungen zwischen Recht, Gesellschaft und Kultur kennzeichnen auch das Werk eines Jngeren, das eine viel unmittelbarere Wirkung entfaltete als Vicos Buch. 1748 erschien ber den Geist der Gesetze von Charles-Louis Secondat, Baron de Montesquieu (1689 1755). Als Montesquieu zwanzig Jahre zuvor eine Italien- reise machte, hatte man ihm empfohlen, sich ein Exemplar der eben erst erschienenen Neuen Wissenschaft zu besorgen; es lt sich aber nicht nachweisen, da er das Buch kaufte, geschweige denn las. Wie Newton scheint auch Montesquieu nicht gewut zu haben, da Vicos berlegungen sich teil- weise mit seinen eigenen deckten. Vicos Kritik am Diffusionismus sowie seine Alternative zu dieser Theorie waren auerordentlich originell. Wir ha- ben es hier mit zwei besonders fruchtbaren Ideen dieses erstaunlich vielseitigen Denkers zu tun. Mglicherweise war auch die Zeit fr derartige Neuanstze reif die Parallele zu Montesquieu deutet eigentlich darauf hin. Ideen reifen aber nicht von selber, sondern mssen irgendwann von Ein- zelnen wirklich zu Ende gedacht werden. Vico sind diese Gedanken nicht nur eingefallen, er hat sie auch durchgear- beitet. Sein Begriff der inneren Entwicklung stellt eine sei- ner hervorragendsten Leistungen dar.

    Sprache und Mythos

    Wie wir gesehen haben, ging es Vico beim Nachdenken ber die Geschichte des Rechts um ein Problem, das bereits die griechischen Philosophen der Antike aufgeworfen hatten:

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  • Gibt es ein Naturrecht oder beruhen Gesetze nur auf ber- einkunft? Auch bei der Reflexion ber Ursprung und Ge- schichte der Sprache whlte Vico einen hnlichen Ansatz- punkt. Die Frage, ob die Sprache aus der Natur entspringt oder auf bereinkunft basiert, ist bekanntlich das zentrale Thema von Platons Dialog Kratylos. Whrend Kratylos ge- wisse natrliche Affinitten zwischen den Wortbedeutungen und den damit gemeinten Dingen zu beweisen sucht, stellt Hermogenes dieser These die Behauptung entgegen, der Ursprung der Wrter sei durchaus willkrlich und ihre Be- deutung beruhe lediglich auf gesellschaftlicher berein- kunft. Sokrates sagt, wie gewhnlich, er wisse nicht, wer von den beiden Recht habe, um dann und auch dies ist typisch fr ihn eine Reihe von Etymologien, die die Wrter eng mit den Dingen verknpfen, zunchst zu entwickeln und dann in Frage zu stellen. Die von Platon aufgeworfene Frage bewegte im 16. und 17. Jahrhundert erneut die Geister. Die Entdeckung der Neuen Welt und die immer hufigeren Kontakte mit China und Japan lieen den Europern deutlicher als frher be- wut werden, da es eine groe Flle verschiedener Spra- chen gab. Gleichzeitig brachten die Fortschritte der Mathe- matik einige Intellektuelle auf den Gedanken, es sei viel- leicht mglich, eine universelle Sprache zu erfinden, in der Miverstndnisse ausgeschlossen sind, da jedem Zeichen nur eine Bedeutung und jeder Bedeutung nur ein einziges Zei- chen zugeordnet ist. Gesten und Bildsymbole fate man als

    allerdings unvollstndige Beispiele fr solche universel- len Sprachen auf, wobei die Bedeutung natrlich sei und nicht auf bereinkunft zurckgehe. In der Groen Erneue- rung der Wissenschaften fate Francis Bacon das einschl- gige Denken der Renaissance zusammen und unterschied zwei Arten der Sprache, die natrliche und die auf berein- kunft beruhende; zur ersten Kategorie rechnete er die gyp-

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  • tischen Hieroglyphen, die er, genau wie seine Zeitgenossen, als symbolische Bilder oder Embleme deutete, sowie Ge- sten, die er als transitorische Hieroglyphen bezeichnete. In der Sprachwissenschaft des 16. und 17. Jahrhunderts spielte die Bibel eine hnlich hervorragende Rolle wie Pla- ton. Die Gelehrten gaben die Hoffnung nicht auf, irgendwie doch noch das babylonische Sprachengewirr durchdringen zu knnen, die Menschheit vom Fluch der Vielfalt der Spra- chen zu befreien und die primitive Sprache, wie sie es nannten, wiederzufinden, die Sprache also, in der Adam bei der Schpfung allen Tieren und Vgeln Namen gegeben hatte (Genesis 2:1920). Die meisten meinten, Adam habe Hebrisch gesprochen, einige tippten auf Chinesisch, und eine kleine Minderheit vertrat die Auffassung, er habe eine europische Sprache wie Hollndisch oder Schwedisch ge- sprochen. Vico war schon seit der Uralten Weisheit der Italer von Platons Kratylos fasziniert. Die Neue Wissenschaft zeigt, da er inzwischen auch die neue Diskussion um die natr- liche Sprache samt dem von Bacon, einem seiner vier Auto- ren, dazu geleisteten Beitrag zur Kenntnis genommen hat- te. Drei Hauptformen der Kommunikation unterschied er und setzte sie zu seinen drei Zeitaltern in Beziehung. Im Zeitalter der Gtter waren Rituale das Kommunikations- mittel der Menschen, stumme religise Handlungen oder gttliches Zeremoniell, wobei Gesten eine besondere Be- deutung zukam; bei allen Vlkern bedeutete die Hand Macht. Wenn z. B. bei den alten Griechen jemand durch Wahl zur Macht kam, so wurde ihm diese Macht dadurch bertragen, da man ihm die Hand auf den Kopf legte; bereits frher verliehene Macht wurde durch Handaufhe- ben besttigt (N2.1027). Die Menschen der Frhzeit be- dienten sich auch heiliger Schriftzeichen, also Hierogly- phen. Vico verwies aber nicht nur auf die berhmten gyp-

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  • tischen Hieroglyphen, sondern auch auf die Bilderschrift der Mexikaner und die chinesischen Ideogramme. Diese erste Sprachform hielt er in dem Sinne fr natrlich, da sowohl Hieroglyphen als auch Rituale in einer natrlichen Bezie- hung zu den Ideen standen, die durch sie bezeichnet werden sollten. Im Zeitalter der Heroen dagegen bedienten die Menschen sich einer konventionell symbolischen Bilderspra- che (man mu sie sich als der heraldischen Sprache hnlich vorstellen, die Vico als Beleg fr die Wiederkehr des heroi- schen Zeitalters im Mittelalter anfhrt). Im dritten Zeitalter schlielich, dem der Menschen, wurden die verschiedenen Alphabete erfunden. Vico meinte, auch die gesprochene Sprache habe einen hnlichen Entwicklungsproze vom Natrlichen zum Kon- ventionellen durchlaufen. Zunchst habe es Lautmalerei gegeben wiederum ein Beispiel fr eine natrliche Bezie- hung zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten. Die Philologen, so kritisierte er, haben alle mit zu viel gutem Glauben angenommen, da die Vulgrsprachen will- krliche Bedeutungen htten; whrend sie (die Laute) doch, wegen ihres natrlichen Ursprungs, natrliche Bedeutungen haben mssen. (N2.444/A190) In einem durch zunehmende Abstraktion gekennzeichneten Proze entwickelten sich dann in den gesprochenen Sprachen Ausrufe, Pronomina, Verben usw. Auch fr regionale und soziale Unterschiede in den Volkssprachen lieferte Vico eine Erklrung. So wie die Vlker durch die Verschiedenheit des Klimas verschiedene Wesensart bekommen haben, woraus die Verschiedenheit ihrer Sitten hervorgegangen ist: so sind daraus wiederum verschiedene Sprachen entstanden. (N2. 445/A 191) In dieser Darstellung Vicos finden sich viele Gedanken wieder, die im 16. und 17. Jahrhundert in den gelehrten Diskussionen ber Sprache aufgetaucht waren. Die These, wonach die sprachliche Vielfalt sich nur allmhlich entwik-

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  • kelt habe, die im Gegensatz zur Theorie der pltzlichen Ka- tastrophe beim Turmbau zu Babel steht, findet sich auch in einem Essay des englischen Lehrer Thomas Hayne (1582 1645), den Vico an anderer Stelle zitiert. Auch hatte man lngst vor Vico Parallelen zwischen den Bildersprachen gyptens, Chinas und Mexicos festgestellt. Ungewhnlich fr die Zeit war lediglich, da Vico sich im Rahmen seiner Sprachtheorie genau wie bei seiner Rechtstheorie so ein- gehend mit der Frhgeschichte der Menschheit beschftigte. Die Frage nach Herkunft und frherer Entwicklung der Sprachen sollte dann in der zweiten Hlfte des 18. Jahrhun- ters eine sehr viel grere Rolle spielen, als sich z. B. Rous- seau und Herder mit diesem Thema befaten. Noch origineller war jedoch Vicos Auseinandersetzung mit der konkreten Natur primitiver Sprache und ihrer Ana- logie zur Sprache der Dichter in anderen Zeitaltern. Im Wortschatz begrenzt, sei die Sprache der ersten Menschen um so erhabener im Ausdruck gewesen eine These, die in seinem System an ganz zentraler Stelle steht. Fr ihn lag der Hauptschlssel seiner Neuen Wissenschaft in der Tat- sache, da die ersten Vlker Dichter waren. Dichtung sei lter als Prosa, und im heroischen Zeitalter htten die Men- schen in heroischen Versen gesprochen. Das alte rmische Recht der Zwlf Tafeln sei ein ernstes Gedicht, das r- mische Schulbuben im Singsang auswendig lernen muten. Es darf nicht verschwiegen werden, da auch diese Thesen nicht neu waren. Einer von Vicos lteren Freunden, der Ju- rist Domenico Aulisio (16491717), hatte darauf aufmerk- sam gemacht, da die ersten Gesetze des Volkes Israel in Versform verfat waren, und die Vorstellung, die ersten Historiker seien Dichter gewesen und die Dichtkunst habe beim bergang aus der Barbarei in die Zivilisation eine ent- scheidende Rolle gespielt, war in der Renaissance ein Ge- meinplatz. Vicos Theorie ist also nicht ungewhnlich, weil

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  • er so viel ber Verse spricht, sondern weil es ihm um Meta- phern und konkretes Denken geht. Die Auseinandersetzung mit konkretem Denken ist auch der Schlssel um Vicos eigenen Ausdruck zu verwenden seiner Mythentheorie, auf der zu einem groen Teil sein Ruhm grndet. Schon die Antike kannte die verschiedensten Interpreta- tionen der Mythen. Diese bei Homer und vielen anderen Dichtern berlieferten Gttererzhlungen wollten viele nicht wrtlich nehmen, weil die oft respektlose Darstellung der Gottheiten sie strte. Schon im sechsten vorchristlichen Jahr- hundert hielten manche Kommentatoren die Mythen fr Allegorien natrlicher Vorgnge, wobei dann z. B. der Gott Apollon fr das Feuer stand und Poseidon fr das Wasser. Im vierten Jahrhundert v. Chr. deutete Euhemerus von Messina die Mythen nicht als Allegorien, sondern als ent- stellte historische Berichte, in denen einzelne Menschen, die sich durch besondere Leistungen hervorgetan hatten, im Ge- dchtnis der Nachwelt gttliche Zge annahmen, eine Auf- fassung, die man ihm zu Ehren bis heute Euhemerismus nennt. Die griechischen und rmischen Stoiker lieferten neue allegorische Deutungen der Mythen und betonten ihre mo- ralischen Lehren. Eine verwandte Betrachtungsweise ermg- lichte es im Mittelalter den Kommentatoren, in den heidni- schen Erzhlungen christliche Bedeutungen aufzuspren. In der Renaissance verknpfte der Verfasser der bekanntesten Abhandlung ber die Mythen, Natale Conti (ca. 152082), die drei gngigsten Deutungen, nmlich die natrliche, die historische und die moralische. Bacon, der sich auf Conti sttzte, gab in seinem Werk Die Weisheit der Alten, wie wir oben gesehen haben (S. 29), einige neue politische und na- trliche Deutungen einer Reihe griechischer Mythen. Selbst alchemistische Vorstellungen lieen sich in den Mythen wie- derfinden. Weit verbreitet war bei den Gelehrten die Auf-

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  • fassung, in den Mythen sei Wissen absichtlich vor dem ge- meinen Volk verborgen worden; jetzt sei es an ihnen, diese Geheimsprache zu dekodieren. Der entscheidende Neuansatz bei der Beschftigung mit den Mythen kam im 17. Jahrhundert, als man mit verglei- chenden Untersuchungen begann. Es gab mittlerweile im Abendland einige Gelehrte, die verschiedene orientalische Sprachen so gut kann