celluloid Beilage zur Wiener Zeitung 1a/2013

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celluloid ART IG. NICHT BRAV. Ausgabe 1a/2013 - 15. Dezember 2012 gegründet 2000 MIT AUSGEWÄHLTEN BEITRÄGEN AUS DEM FILMMAGAZIN CELLULOID WWW.CELLULOID-FILMMAGAZIN.COM REGISSEUR ANG LEE IM INTERVIEW filmmagazin Beilage zur Foto: Fox SCHIFFBRUCH MIT TIGER

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Von Ang Lee bis Götz Spielmann: Mit ausgewählten Beiträgen aus dem österreichischen Filmmagazin celluloid, Nr 1/2013

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celluloidARTIG. NICHT BRAV.

Ausgabe 1a/2013 - 15. Dezember 2012 gegründet 2000

Mit ausgewählten beiträgen aus deM filMMagazin celluloidwww.celluloid-filMMagazin.coM

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eDITORIALLiebe Leser,

„Die Zuschauer müssen erzogen werden“. Diesen Satz schnappte ich am Rande der Europa Cinemas-Konferenz im November in Paris auf (einen ausführli-chen Beitrag darüber lesen Sie in unserer vollwertigen Ausgabe celuloid1/2013, jetzt im Handel), aus dem Munde eines deutschen Arthaus-Kinobetreibers. Er versteht nicht, weshalb das Publikum sein breites Filman-gebot, das wöchentlich wechselt, nicht in dem Maße annimmt, wie er es sich vor-stellt. Es wäre reichlich naiv, anzunehmen, dass sich potenzielle Kinobesucher nach den Vorstellungen der Kinobetreiber rich-ten; zu komplex ist heute die terminliche Koordination des Alltags, mit Freizeitaktivi-täten rund um die Uhr, als dass ein neuer Film, der ohne großes Marketingbudget nur gering beworben werden kann, gleich die großen Massen am Starwochenende anzieht. Von diesem Konzept sollten sich die kleineren Kinobetreiber und Verleiher verabschieden und stattdessen auf Mund-propaganda und - so befremdlich das in einer schnellen Welt klingt - auf Ausdauer setzen. Das Publikum drei Wochen nach dem Filmstart mit kleineren Filmen abzu-holen, brächte langfristig mehr Besucher als die derzeitige Politik, Filme nach nur wenigen Tagen wieder aus dem Spielplan zu kippen, weil keiner kommt. Es kommt vermutlich keiner, weil niemand davon weiß.

In diesem Sinne viel Vergnügen beim Lesenwünscht Ihnen

Matthias greuling Chefredakteur & Herausgeber

[email protected]

und die Wiener Zeitung

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C e L Lu L O I D O N L I N e : w w w. C e L Lu L O I D - f I L m m AG A z I N . C O m

a r t i g , n i c h t b r avfilMMagazin - beilage zur wiener zeitungausgabe 1a/2013 - 14. jahrgangdezeMber 2012/jänner 2013 LESE

PROBE

celluloid Filmmagazin Beilage zur Wiener Zeitung Nummer 1a/2013, Dezember 2012/Jänner 2013Beilage zur „Wiener Zeitung“ am 15. Dezember 2012. Medieninhaber und Herausgeber: Werbeagentur Matthias Greuling. Printed in Austria. Die Beiträge in dieser Beilage wurden uns mit freund-licher Genehmigung vom Verein zur Förderung des österreichischen und des europäischen Films zur Verfügung gestellt. Die Interviews wurden von Mitgliedern der celluloid-Redaktion geführt. Die Beiträge geben in jedem Fall die Meinung der AutorInnen und nicht unbedingt jene der Redaktion wieder. Fotos: Filmverleiher. celluloid versteht sich als publizistische Plattform für den österreichischen und den europäischen Film und bringt Berichte über aktuelle Filme. Anschrift: Anningerstrasse 2/1, A-2340 Mödling, Tel: +43/664/462 54 44, Fax: +43/2236/23 240, e-mail: [email protected], Internet: http://www.celluloid-filmmagazin.com Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion und Quellenangabe. © 2012 by Werbeagentur Matthias Greuling

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COVeR6 Ang Lee In unserem Interview spricht der Oscar- Preisträger über seinen neuen 3D-Film „Schiffbruch mit Tiger“. Plus: Die Kritik zum Film

feATuReS4 Michael Haneke Bekommt er nach dem Europäischen Filmpreis nun auch den Oscar?5 Was wird aus Star Wars? Nach George Lucas‘ Ausstieg sind neue Filme geplant8 Joe Wright im Gespräch über „Anna Karenina“ mit Keira Knightley10 Götz Spielmann Besuch in Annaberg, am Set seines neuen Spielfilms „Oktober November“12 Filmkritik: „Angels‘ Share“ und „Searching for Sugar Man“14 Die Top-Filme im Dezember/Jänner

weITeRe THemeNdes celluloid filmmagazins(Ausgabe 1/2013 ist am Kiosk erhältlich)

8 Coverstory: Klaus Maria Brandauer Im exklusiven Interview mit dem großen Schauspieler geht es um seinen neuen Film „Der Fall Wilhelm Reich“, um das Schauspielen als Lebensaufgabe und seinen Zugang zum österreichischen Filmschaffen

feATuReS16 Quentin Tarantino Mit „Django Unchained“ legt Tarantino seinen ersten Spaghetti-Western vor. Das Interview22 Jacques Audiard im Gespräch über seine famose Erzählung „Der Geschmack von Rost und Knochen“24 Helen Mirren blickt mit uns hinter die Kulissen des Films „Hitchcock“26 Jake Gyllenhaal erzählt zu seinem Film „End of Watch“, wie man als Streifenpolizist lebt36 Maria Hofstätter schildert ihren Zugang zu Ulrich Seidls „Paradies: Glaube“38 Tom Schilling streunt in „Oh Boy“ richtungslos durch Berlin42 Hatari! Auf den Spuren eines Klassikers 44 Europa Cinemas Wie man mehr Zuschauer in die Arthaus-Kinos bringt46 HFR Die neue 48fps-Technik hält Einzug in Österreichs Kinos 47 Eastwood Trotz Wahlkampf-Fauxpas überzeugt er als Schauspieler

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Schon das letzte Mal sah es gut aus, und dann habe ich nicht gewonnen“, sagt Michael Haneke. „Wenn es nicht klappt, werde ich auch nicht sterben“.

Er ist vorsichtig geworden, wenn es um die allerorts grassierenden Spekulationen um eine mögliche Oscar-Nominierung oder sogar einen Oscar-Gewinn für seinen Film „Amour“ geht. Schon bei „Das weiße Band“, der 2010 als bester fremdsprachi-ger Film nominiert war, sprach man Haneke den Favoritenstatus zu. Umso enttäu-schender, als dann der argentinische, eher belanglose Beitrag „El Secreto de Sus Ojos“ die Trophäe gewann.

Auch 2013 stehen die Zeichen für Ha-neke wieder auf Sieg: „Amour“ hat nach der Goldenen Palme auch insgesamt vier European Film Awards abgeräumt, für den besten europäischen Film 2012, den besten Regisseur (Haneke hat damit nach „Caché“ und „Das weiße Band“ die meisten euro-päischen Filmpreise von allen Regisseuren) und für die beiden Hauptdarsteller Emma-nuelle Riva und Jean-Louis Trintignant.

Als erster Oscar-Indikator gilt traditionell das Jahresvotum der New Yorker Filmkritiker, die „Amour“ Anfang Dezember ebenfalls zum besten fremdsprachigen Film kürten.

Mittlerweile gilt die Nominierung von „Amour“ als fix; zu viele Preise hat Haneke schon abgestaubt, als dass ihn die Oscar-Jury ignorieren könnte. Zudem startet „Amour“ am 19. Dezember auch in den USA im Kino, was ihn theoretisch auch qualifiziert, in weiteren Kategorien nomi-niert zu werden. Schon „Das weiße Band“ war damals auch für die beste Kamera (Christian Berger) nominiert gewesen.

Einer, der es wissen muss, kennt die

Umstände, die Hanekes scheinbar sicheren Triumph noch vereiteln könnten: Stefan Ruzowitzky, selbst Oscar-Gewinner für „Die Fälscher“, meinte beim celluloid-Gespräch: „Es kommt immer darauf an, welche Filme noch in dieser Kategorie nominiert sind. So wie es aussieht, dürfte auch die französische Erfolgskomödie ‚Ziemlich beste Freunde’ nominiert werden, die ein unglaublicher Kassenerfolg war, was in den USA generell hoch bewertet wird. Wenn die Jury-Mitglieder sich nun zur Hälfte auf die Seite dieses Films schlagen, weil sie den kommerzielleren Zugang zu einem schwieri-gen Thema schätzen, und die andere Hälfte, die mehr auf Filmkunst steht, sich unter den vier restlichen Nominierten, darunter mög-licherweise auch auf Haneke, aufteilt, dann kann es durchaus sein, dass Haneke am Ende leer ausgeht. Das lässt sich also beim besten Willen nicht vorhersagen, da gehört auch Glück dazu“, meint Ruzowitzky.

Die Shortlist mit neun Filmen (aus 71 Einreichungen) in der Kategorie „Best Foreign Language Film“ soll am 3. Jänner feststehen, die Oscar-Nominierungen wer-den am 10. Jänner 2013 bekannt gegeben, die Verleihung findet am 24. Februar statt.www.europeanfilMacadeMy.orghttp:// oscar.go.coM

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Interessantes, neues und amüsantes aus der welt des FIlms

TRIVIASCOPe

Michael Haneke mit seinen beiden Euro-

pean Film Awards für „Amour“ am 1. Dezember in Malta

gewinnt haneke diesMalden oscar?

Preisgekrönt: Hanekes „Liebe“ („Amour“) läuft derzeit in den österreichischen Kinos

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George Lucas hat die Lust ver-loren. Wie schon im Frühjahr angekündigt, hat er das Film-geschäft de facto verlassen und zum Abschluss seine

Firma um rund vier Milliarden Dollar an Disney verkauft; wohl unter der Bedingung, dass der Käufer die „Star Wars“-Franchise weiter ausbauen darf, denn zeitgleich mit der Übernahme wurden weitere Fort-setzungen der Saga angekündigt. Diese Ankündigungen scheinen mitunter etwas merkwürdig, hat Lucas doch vor ein paar Jahren noch weitere Ergänzungen der Serie ausgeschlossen und das Vorhan-densein eines Handlungsstranges jenseits von „Episode VI“ dementiert. Für ihn, so gab er in einem Interview bekannt, sei die Geschichte von Luke und Anakin Skywal-ker mit „Episode VI“ beendet, weswegen weitere Teile der Serie keinen Sinn machen würden. Jetzt hat Lucas aber offenbar keine Probleme, Disney bei der Produktion

weiterer Filme konsultierend zu unterstützen. Der Drehbuchautor Michael Arndt, verantwortlich

für die Manuskripte zu „Toy Story 3“ und „Little Miss Sunshine“, wurde bereits engagiert, um das Buch zu „Episode VII“ zu verfassen. Informationen bezüglich der Handlung sind zwar noch rar, aber Gerüch-te über eine Rückkehr der Figuren von Har-rison Ford, Mark Hamill und Carrie Fisher kursieren bereits im Internet. Auch über eine Rückkehr von Darth Vader wird spe-kuliert. Des weiteren wurden die Autoren Lawrence Kasdan und Simon Kinberg für zusätzliche Arbeit angestellt, laut offiziellen Aussagen arbeiten die beiden jedoch nicht notwendigerweise an Episode VIII und IX, sondern an eventuellen Spin-Offs abseits des eigentlichen Hauptstrangs.

wer fÜhrt regie? Ungeklärt ist indes, wer Regie bei zukünftigen „Star Wars“-Produktionen führen soll. Einige Regiestars haben schon abgesagt, so hat Steven Spiel-berg beispielsweise gemeint, „Star Wars“ entspreche nicht seinen Genrevorlieben, und das obwohl er mit Science Fiction nicht unvertraut ist. Guillermo Del Toro meinte, er würde darüber nachdenken, sollte es ihm jemand anbieten, und Quentin Tarantino meinte schroff, es könnte ihn nicht weniger kümmern, er sei nicht scharf auf eine Simon

West-Version von „Star Wars“ (Simon West ist verantwortlich für eher generische Werke wie „Con Air“ oder „The Expendables 2“).

Diese verhaltenen Reaktionen sind wohl auch darauf zurück zu führen, dass „Star Wars“-Produktionen traditionell von eher unbekannten Regisseuren geleitet wur-den und die künstlerischen Leitfäden von den Produzenten, allen voran von George Lucas, vorgegeben wurden. Disney wird diese Tradition wohl weiter führen und prominente Regisseure höchstens aus Prestigegründen und weniger wegen künstlerischer Gesichtspunkte einsetzen. Ob die Qualität der „Star Wars“-Filme abfällt oder im Gegensatz zu den eher flauen Episoden I bis III gesteigert wird, bleibt abzuwarten. Auch, wenn Kathleen Kennedy, eine Langzeitvertraute Lucas’, an der Spitze der nunmehrigen Disney-Tochter Lucasfilm arbeiten wird, ist im schlimmsten Fall zu befürchten, dass Disney aus „Star Wars“ ein weiteres, nie enden wollendes Hollywood-Massenprodukt machen wird, das ähnlich wie „SAW“, „Fluch der Karibik“ oder „Spider Man“ irgendwann in einer Flut an Weiterverarbeitungen jeglichen Reiz verliert. Alexander Lohninger

infos: www.lucasfilM.coM

George Lucas soll die von Disney produzierten, neuen Star-Wars-Filme als Konsulent begleiten

was wird jetzt aus star wars?

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Bei Fox auf Blu-ray er-

hältlich: Die komplette

„Star-Wars“-Saga

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ang lee hat mit „Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger“ den Roman von Yann Martel als beeindruckendes 3D-Spektakel verfilmt. Der Regisseur im Gespräch.

Celluloid: Bei manchen Bü-chern weiß man ja schon im Vorfeld, dass man sie lieber nicht verfilmt. Bis vor kur-zem dachte man das auch

von Yann Martels Bestseller „Life of Pi“. Sie haben das Gegenteil bewie-sen: Was hat Sie denn dazu gebracht, diesen verrückten Versuch zu unter-nehmen?

ANG LEE: Als ich das Buch zum ersten Mal las, das war vor zehn Jahren, sah ich selbst auch noch keinen Film darin. Ich las es, besprach es mit meiner Frau und den Kindern, wird haben darüber wochenlang diskutiert. Vor viereinhalb Jahren dann än-derte ich meine Meinung: Fox bot mir an, „Life of Pi“ zu verfilmen. Ich hatte sie da-mals acht Monate mit meiner Antwort hin-gehalten, weil ich gerade einen anderen Film drehte. Irgendwas hat mich dann dazu gebracht, ja zu sagen; wahrscheinlich die unglaubliche Herausforderung, etwas Un-

mögliches zu versuchen. Das Buch erforscht die Kraft der Illusion. Es wertschätzt das Ab-strakte, also Dinge, die man nicht beweisen kann, den Glauben. Das kommt mir als Re-gisseur ziemlich nahe, denn ich sehe mich als Geschichtenerzähler, als jemand, der Il-lusionen verkauft. Und ich dachte sofort an 3D. Ich habe bisher einige Cartoons in 3D gesehen, die interessant waren, aber nicht allzu viele Spielfilme. Das sind meistens billi-ge Horror- oder Actionspektakel. Ich dachte aber, wenn ich das Wasser im Film als ei-genständige Figur benutze, dann wäre das mit 3D eine total neue Filmerfahrung. Von dem Moment an brannte ich darauf, den Film zu machen. Und ich machte mich ans Lösen der Probleme einer solchen Großpro-duktion. Das Wichtigste war mir, nicht in den USA, sondern in meiner Heimat Taiwan zu drehen, denn da wäre ich etwas abseits vom Schuss und könnte befreiter arbeiten. Es war ein langer, harter Kampf für mich, den Film vorzubereiten.

Wie bewerten Sie die Aspekte Religi-on und Glaube in Zusammenhang mit der Buchvorlage?

Das Buch bietet die Gelegenheit, sich Ge-danken über Gott zu machen, nicht über Re-ligion, sondern Gott, und zwar in einer sehr abstrakten Weise. Niemand kennt Gott oder weiß, was das ist. Ich glaube, das, was wir Gott nennen, ist eigentlich unsere emotio-nale Verbindung zu diesem Unbekannten. Unbekannt deshalb, weil man die Existenz eines Gottes nicht beweisen kann, wissen-schaftlich. Er ist nicht greifbar. Wie gehen wir mit dieser Abstraktheit um, die ja das größte Geheimnis des Lebens an sich ist? Diese Fragen interessieren mich sehr, auch, wenn keiner eine Antwort darauf haben dürfte. Gott hat noch nie zu mir gespro-chen, ich habe auch keine Wunder erlebt. Aber mich fasziniert das Unbekannte, und ich glaube auch zu wissen, was Glaube ist. In der Geschichte von „Life of Pi“ ist es diese Konfrontation mit dem Unbekannten, diese

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ang lee, 1954 in Taiwan geboren, studierte gemeinsam mit Spike Lee an der New York University und begann seine Filmkarriere mit der „Father-Knows-Best“-Trilogie (1992-94), in der er familiäre Konflikte auslotete. Als in den USA arbeiten-der Filmschaffender realisierte Lee so unterschiedliche Filme wie „Eat Drink Man Woman“, „Sinn und Sinnlichkeit“, „Tiger and Dragon“ oder „Brokeback Mountain“, für den er 2006 den Oscar als bester Regisseur erhielt. Lee lebt mit seiner Frau, der Mikrobiologin Jane Lin, und seinen beiden Söhnen in White Plains, New York.

ZurPeRSON

Ang Lee

Hoffnung auf Rettung und die Todesangst gegenüber dem Tiger, die uns interessiert. Ich habe keine Antwort, was Gott und was Glaube sind. Aber ich glaube, ich möchte mit dem Film zumindest das Gefühl ermög-lichen, sich davon berühren zu lassen.

Sind Sie ein religiöser Mensch?Heute nicht mehr. Ich wurde christlich er-

zogen, weil meine Mutter Christin war und mich jeden Sonntag zur Kirche schleppte. Ich musste als Kind vier Mal täglich beten, bis ich 14 war. Irgendwann begann ich aber, das zu hinterfragen. Die anderen Kinder lachten mich immer aus, wenn ich in der Schule betete. Also hörte ich irgendwann mit dem Beten auf und nichts passierte. Ich gehe heute nicht mehr in die Kirche. Ich kann mich selbst nicht als religiös bezeich-nen. Eher als Agnostiker. Oder als irgend-was dazwischen.

Die Computeranimation des Tigers ist ein Herzstück der Produktion. Wie tut man sich als Regisseur, wenn man die ganze Zeit über nur gegen blaue und grüne Leinwände filmt?

Das Wichtigste war: Lass deiner Vorstel-lungskraft freien Lauf. Anders wäre ein solcher Film nicht zu realisieren. Denn er

ist beim Drehen zunächst einmal sehr ab-strakt. Und sehr teuer. Immerhin arbeiten hunderte Menschen mit dir an einem sol-chen Projekt. Das muss man erst mal sehr genau planen, dann das Budget aufstellen und dann die geplanten Einstellungen dre-hen. Das ist sehr mechanisch und sehr an-strengend. Es ist ein schwerfälliger Prozess. Das größte Problem bei einem solchen Film ist für mich, dass man alles rationalisieren muss, um dann später vielleicht etwas zu berühren, was mysteriös ist. Das ist schwer.

Mussten Sie denn viele Kompromis-se eingehen?

Bei der Arbeit am Set nicht, aber die meis-ten Kompromisse bei Studio-Produktionen entstehen im Schneideraum. Man hat eine gewisse Vorstellung von einer Szene, zeigt sie den Studio-Bossen und diskutiert dann darüber. Hier entstehen die Kompromisse, noch bevor ein Film fertig ist. So ist Holly-wood. Das ist schmerzhaft, aber das ist das Schicksal eines solchen Films. Es gibt keinen anderen Weg, einen solchen Film zu drehen.� Matthias Greuling

Das komplette Interview lesen Sie in unserer vollwertigen Ausgabe celluloid Nr. 1/2013, das im gut sortierten Zeitschriftenhandel erhältlich ist

Ein Rettungsboot treibt durch den Pazifik. Die Insassen des Boots: Ein junger Mann und ein bengalischer Tiger. Wie kommen

die beiden dort hin? Wie kommen sie aus der Nummer wieder raus? Wie kann es der Mann schaffen, auch nur einen Tag in Gesellschaft seines bissigen Begleiters zu überstehen?

Die Antworten auf diese Fragen standen 2001 im Roman „Schiffbruch mit Tiger“, der dem kanadischen Autor Yann Martel eine weltweite Leserschaft einbrachte.

Der Bestseller, Originaltitel „Life of Pi“, er-zählt die Geschichte des Inders Piscine Patel, der sich nach einem Schiffsuntergang gerade noch retten kann. Der versinkende Frachter ist eine Art Arche Noah: Patels Familie hat ihren gesamten Geschäftsbetrieb, die Tiere eines Zoos, mit an Bord gebracht. Pi und der Tiger sind die letzten Überlebenden. „Ein echter Abenteuerroman und eine Parabel zugleich“, schrieb die Berliner taz.

Regisseur Ang Lee ist mit der Verfilmung dieser modernen Odyssee gleich mehrere Wagnisse eingegangen – und hat auf ganzer Linie gewonnen. Das Hauptproblem des Projekts wurde mit glanzvoller CGI-Technik gelöst: Natürlich konnte Ang Lee nicht mit ei-nem echten Tiger drehen, wollte er sein Team nicht in ständige Todesgefahr bringen. Also musste die Raubkatze aus dem Computer kommen. Ganze Heerscharen von Trick-Spe-zialisten animierten den Tiger und zahlreiche andere Tiere. Egal ob eine Tüpfelhyäne oder ein Dreifingerfaultier die Leinwand füllt:

die Viecher schauen so lebensecht aus, als stammten sie aus einer Naturdokumentation.

Ang Lee hat für diese fantastische Geschichte die 3D-Technik zu neuer Höhe geführt. Der Zuschauer versinkt in einem realistischen und zugleich surrealen Kosmos einer märchenhaften Welt, in der Traum und Albtraum direkt nebeneinander stehen.

Im Storytelling – Wagnis zwei – vertraute Ang Lee der epischen Struktur des Romans. Es vergeht viel Zeit, bis die Seereise beginnt. Der Regisseur zeigt in der ersten Stunde kleine Episoden über Menschen und Tiere, die wie feine Kurzfilmminiaturen wirken. Und er reißt ein Thema an, das später noch an Bedeutung gewinnt: Glaube und Religi-onen. „Dies ist eine Geschichte, die Ihnen den Glauben an Gott geben wird“, heißt es schon zu Beginn. In einem überraschenden Finale löst der Film dieses Versprechen ein – freilich auf eine Art, die niemand voraus-ahnen kann und die den Betrachter auf intelligente, witzige Weise verblüfft.

Bleibt zu erwähnen, dass der Film auch schauspielerisch überzeugt, obwohl er – Wagnis drei – nicht auf Megastars setzt. Gérard Depardieu (als finsterer Schiffskoch) und Bollywood-Star Irfan Khan sind die bekanntesten Namen. Die Leinwand gehört aber dem 19-jährigen Suraj Sharma, der den Titelhelden Pi mit so viel Humor, Neugier, Le-benslust und Todesangst füllt, dass sich nicht nur das Publikum vor ihm verneigt, sondern auch der Tiger. Gunther Baumann

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joe wright hat sich in seiner dritten Zusammenarbeit mit Keira Knightley erneut eines Literaturklassikers angenommen: „Anna Karenina“ (derzeit in den österreichischen Kinos) von Leo Tolstoi.

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Celluloid: Mister Wright, „Anna Karenina“ ist schon oft für die Leinwand verfilmt worden – und dennoch haben Sie es ge-schafft, hier etwas Neues zu

erzählen. Sie vermischen Film, Theater, Realismus und Magie – wie haben Sie das Konzept für den Film entwickelt?

JOE WRIGHT: Ich selbst gehe öfter ins Theater als ins Kino. Ich bin in einem Pup-pentheater in London groß geworden. Ich wollte ausloten, wie weit ich gehen kann, Möglichkeiten erkunden, die klassische Film-form zu verlassen. Dieser filmische Natura-lismus macht mich klaustrophob. Ich wollte es expressionistischer machen. Mit dieser filmischen Lebensnähe kratzt man doch nur an der Oberfläche, es ist und bleibt eine Zurschaustellung der Realität. Davon bin ich kein großer Freund.

Wie hat Ihre Hauptdarstellerin Keira Knightley auf das Konzept reagiert?

Es hat sie nervös gemacht. Aber zum Glück sind wir uns sehr ähnlich. Wir beide sind in gewisser Weise sehr sorgenfrei, manchmal auch schon rücksichtslos. Wir arbeiten beide gerne außerhalb unserer Komfortzone. Und wir lieben die Herausforderung. Es geht hier doch darum, alle Hüllen fallen zu lassen, die Oberfläche zu durchbrechen und zum Kern der Sache vorzustoßen. Und der Kern der Dramen sind immer die Charaktere und ihre Darbietung.

Zu Ihrer Handschrift als Regisseur gehören diese ewig langen Planse-quenzen. Ohne Schnitt, ohne Unter-brechung fahren Sie mit der Kamera ganze Geschichten ab. Das haben Sie in „Abbitte“ gemacht, das machen Sie hier. Ist das für Sie als Regisseur die ul-timative Herausforderung?

Natürlich gibt es keine Garantie, dass es auf Anhieb klappt. Aber ich liebe diese lan-gen Shots. Sie sind eine eindringliche Erfah-rung. Für mich und fürs Publikum. Ich liebe auch aufwendige Montagen und die Idee, wie ein Puzzle einzelne Bilder zu einem Gan-zen zusammenzusetzen. Aber genauso liebe ich eben diese zusammenhängende, lange Bewegung, mit der ich einen ganz eigenen kinematografischen Rhythmus erzeugen kann. Ein Rhythmus, der im Rahmen bleibt. Diese langen Einstellungen sind für mich der perfekte Rhythmus. Und um den geht es im Kino eben.

Was fasziniert Sie so an Kostümfil-men?

Kostümfilme sind für mich wie Fantasyfil-me. Es geht nicht darum, eine Epoche exakt nachzubilden. Für mich geht es um die Frei-heiten meiner eigenen Vorstellungskraft.

Wenn ich Filme im Hier und Jetzt mache, fühle ich mich eingeengt. Ich muss mich an das Zeitgenössische anpassen. Im Kostüm-film habe ich viel mehr Freiheiten.

Sie lieben nicht nur Kostümfilme, Sie haben auch eine Vorliebe für klassische Literaturadaptionen. Nach Jane Austen und Ian McEwan jetzt Tolstoi. Wie viel Freiheiten haben Sie bei solch großen Vorlagen überhaupt?

So unlogisch es vielleicht klingen mag, aber diese Einschränkungen befreien mich künstlerisch. Mit dem vorgegebenen Mate-rial kann ich umgehen wie ich will. Ich kann mich daran festhalten. Das ist mir wesent-lich lieber, als hätte ich nur ein weißes Blatt Papier. Ich habe Literatur nicht studiert, bin sogar Legastheniker und habe erst mit 16 angefangen, Bücher zu lesen. Ich bin ein sehr langsamer Leser, aber damals habe ich gemerkt, dass die Geduld sich lohnt. Jeder Film, den ich mache, ist für mich ein Prozess des Lernens. Meine Karriere ist also ein Teil meiner eigenen Ausbildung.

Wofür steht Anna Karenina denn für Sie?

Ich glaube nicht, dass sie für irgendetwas steht. Ich versuche immer, sie nicht als Sym-bol zu begreifen, sondern als Individuum. Die anderen Leinwandadaptionen geben immer vor, dass Anna Karenina symbolhaft für etwas steht. Ein Opfer der damaligen Gesellschaft zum Beispiel. Für mich ist das aber nicht das, was Tolstoi wollte. Er hat ei-nen sehr genauen Charakter erschaffen. Je typischer der ist, desto universeller wird er natürlich. Ich habe jede Art von Symbolik vermieden. Metaphern ja – Symbole nein.

Auch, wenn Filmemacher nicht ger-Joe Wright instruiert Keira Knightley am Set von „Anna Karenina“

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Komplexe, lange Einstellungen, so wie diese Tanzsequenz, sind eine Spezialität von Regisseur Joe Wright

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ne über Geld sprechen: „Anna Kareni-na“ sieht sehr teuer aus – obwohl Sie vermutlich kein großes Budget hatten. Wie haben Sie das geschafft?

Wir haben alles Geld, was wir hatten in die Leinwand gesteckt. Fragen Sie mal Kei-ra Knightley nach ihrer Gage – oder lieber nicht. Das meiste Geld ging natürlich in die Ausstattung. Im Vergleich zu Hollywoodfil-men war unser Budget klein, für europäi-sche Verhältnisse war es aber schon viel. Wir hatten 31 Millionen Dollar. Zudem sind mein Team und ich eingespielt – wir arbeiten teilweise schon seit über zwanzig Jahren miteinander. Meine Filme sind, was sie sind, wegen der Menschen, mit denen ich zusammenarbeite. Film ist ein Gemein-schaftsprodukt. Ich glaube nicht an das Au-torenprinzip. Sie reden jetzt zwar mit mir, könnten aber genauso mit jedem anderem aus meinem Team sprechen. Er würde ihnen vermutlich das gleiche erzählen.

Gehören da auch die Schauspieler dazu?

Ich mag es, immer wieder mit den glei-chen Schauspielern zu drehen, weil ich ih-nen vertrauen kann. Und sie mir. So fühlen

wir uns beide sicher. Ich bin kein intellek-tueller Regisseur. Es geht bei mir nicht um irgendwelche Theorien, sondern um Emo-tionen. Wir reden viel über unsere eigenen Lebenserfahrungen. Es ist ein sehr intimes Arbeiten und das setzt Vertrauen voraus. Und nicht zuletzt müssen wir uns auch mögen. Immerhin erzählen wir uns unsere tiefsten Geheimnisse.

So wie Keira Knightley und Sie?Keira ist eine ungemein mutige Schau-

spielerin. Viele junge Filmstars spielen doch immer nur Figuren, die liebenswert sind. Weil sie selbst geliebt werden wollen und künstlerische Anerkennung mit Zuneigung verwechseln. Dabei unterfordert man aber das Publikum. Keira hat keine Angst vor am-bivalenten Reaktionen.

Es ist ihre dritte Zusammenarbeit. Hat sich etwas verändert in der Bezie-hung zwischen Keira Knightley und Ihnen?

Wir sind näher zusammengewachsen. Aber wir streiten uns auch mehr. Auf einer argumentativen Ebene. Bei „Abbitte“ zum Beispiel mussten wir kaum miteinander re-

den. Kleine Handgesten haben gereicht und Keira wusste was ich wollte. Hier haben wir geredet und geredet. Bei „Stolz und Vorur-teil“ war Keira 18, bei „Abbitte“ 21. Dann habe ich sie ein paar Jahre nicht gesehen. In dieser Zeit ist viel passiert in ihrem Leben.

Sie hat Karriere in Hollywood ge-macht.

Ja und Nein. Sie hat vor allem sehr mit sich gehadert, überlegt die Schauspielerei auf-zugeben. Sie hatte das Gefühl, sich künst-lerisch nicht weiterzuentwickeln. Sie konnte mit dem Starsein nicht umgehen. Für ihren frühen Erfolg hat sie einen hohen Preis ge-zahlt. Dann ist sie aber zurück gekommen. Sie war vier Jahre lang nicht in Hollywood, ist im wahrsten Sinne des Wortes nicht nach L.A. geflogen. Stattdessen hat sie viel The-ater gespielt und wieder zu sich selbst ge-funden. Wir haben dann zusammen einen Werbespot gedreht. Sie war eine vollkom-men neue Person, hatte sich immens weiter entwickelt, war in vielerlei Hinsicht selbstsi-cherer. Ich glaube in dieser Zeit ist sie eine Frau geworden. Da wusste ich, sie ist bereit für die Rolle der Anna Karenina.

Interview: Anna Wollner

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am set

gÖtz sPielMann drehte seinen neuen Film mit Ursula Strauss und Peter Simonischek zu großen Teilen im niederösterreichischen Annaberg bei Mariazell. Beim Setvisit verriet er schon einige Details zu „Oktober November“

fAmILIeNGeSCHICHTeEine komplexe

Über gut ein Dutzend Kehren muss man sich bergauf winden, um in den kleinen niederösterreichischen

Ort Annaberg, unweit von Mariazell, zu gelangen. Bei gutem Wetter entlohnt eine schmucke Fernsicht auf die niederösterrei-chischen Voralpen, und im Winter kann man den bezwungenen Hang auch zum Schifahren nutzen. Aber in dem an sich verschlafenen Nest war in diesem Herbst einiges los: Götz Spielmann drehte hier nämlich große Teile seines neuen Spielfilms „Oktober November“: Darin geht es um einen wenig rentablen Gasthof in den Al-pen. Die Besitzer haben zwei Töchter, die sich sehr unterschiedlich entwickelt haben: Sonja, die jüngere, lebt in Berlin. Sie ist sehr erfolgreich, zu einer bekannten Schauspie-lerin geworden. Verena hat das Elternhaus nie für lange verlassen, lebt noch immer in dem kleinen Dorf, mit Mann und Kind. Der Vater ist ein müde gewordener Patriarch, ein Herrscher ohne Reich. Vor allem, als er

einen Herzinfarkt erleidet, verschieben sich die Prioritäten in der Familie beträchtlich. In diesem Spannungsfeld entwickelt Götz Spielmann eine komplexe Erzählstruktur, um familiäre Konflikte aufzuschlüsseln. In den Hauptrollen sind Ursula Strauss, Nora von Waldstätten, Sebastian Koch und Peter Simonischek zu sehen. Hinter der Kamera steht Martin Gschlacht.

koMpleXe faMilienstrukturen „Fa-miliengeschichten sind oft voll von Hass und Selbstzerstörung, Familie kann aber auch ein Rückzugsort und ein Kraftfeld sein“, sagt Götz Spielmann. „Was mich interessiert, sind die Verbundenheiten untereinander, im Schönen wie im Problematischen, die in Familienstrukturen geballt und komplex aufeinander treffen. Das wird ein zentrales Thema in ‚Oktober November’ sein.“

Ein anderes ist der im Leben allgegen-wärtige Tod. „Der Tod ist als Thema eine Art Schwerpunkt im Hintergrund“, sagt Spiel-

mann, der sich schon seit seiner Jugendzeit mit dem Sterben beschäftigt. „Aber das Wissen vom Tod allein genügt ja nicht, ich arbeite bis heute daran, damit zu leben. Mir war das Sterben bewusst, schon in einem Alter, in dem nicht viele darüber nachden-ken, weil der Tod so weit weg und so abs-trakt ist. Und weil es so viel zu tun gibt. Das war bei mir anders“.

Schwermütig soll „Oktober November“ aber nicht werden. Wie immer bezeichnet Spielmann seine Projekte als „optimistische, keineswegs depressive“ Geschichten, die der Regisseur mit viel Intuition findet: „Beim Schreiben ist für mich sehr viel Bewusstsein nötig, um an den Punkt zu kommen, an dem man spürt, dass etwas richtig ist. Erst dann schreibe ich es auf, und zwar intuitiv. Das bedeutet für mich, dass ich beim Insze-nieren etliche Entdeckungen mache, denn als Regisseur musst du sehr viel verstandes-mäßiger und intellektueller arbeiten als als Autor. Meine Drehbücher entdecke ich ge-

Peter Simonischek als alternder Patriarch in Götz Spielmanns neuem Projekt „Oktober November“

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Götz Spielmann in Annaberg, am Drehort seines neuen Films „Oktober November“, den er mit Peter Simonischek (unten) und den Filmschwes-tern Nora von Waldstätten und Ursula Strauss (ganz unten) inszenierte

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danklich erst am Set.“Besonders wichtig sind Spielmann die

Orte, an denen seine Geschichten spielen. „Sie sind der Raum, in dem meine Figuren agieren. Mich interessiert an Menschen auch der Raum, der sie umgibt. Das ist eine ande-re Blickweise, denn das erzählt unglaublich viel über die Figuren“, sagt Spielmann.

die wichtigkeit der orte Zur Wahl für „Oktober November“ standen das Wald-viertel, Oberösterreich und die niederöster-reichischen Voralpen. „Ich habe zunächst eine Geschichte, in der noch vieles abstrakt ist, wo ich mir auch noch keine präzisen Bil-der vorstelle. Mit dieser Geschichte gehe ich dann hinaus in die Welt und schaue, wie sie darauf reagiert. Hier in Annaberg war bereits jemand für mich unterwegs gewe-sen, weil wir nach Gasthöfen suchten“, sagt Spielmann. „Als ich nach Annaberg kam, stellte ich fest, dass die Geschichte am bes-ten hierher passte. Danach schrieb ich das Drehbuch. Auch das ist ein sehr komplexes Suchen, wo die Geschichte und der Ort ei-nander immer wieder wechselweise beein-flussen.“ Insgesamt fünf Wochen drehte das Team hier, bewohnte auch die umliegenden Gasthöfe. Die Dreharbeiten mit einer solch hochkarätigen Besetzung ließ die Annaber-ger nicht kalt: Stolz und mit viel Gastfreund-schaft kümmerten sich die Bewohner um

das Wohl der Crew. „Man hat uns hier sehr gut umsorgt“, sagt Götz Spielmann. „Ich glaube, es ist nur mehr eine Frage der Zeit, bis man uns einbürgert“.

„Oktober November“ soll im zweiten Halbjahr 2013 fertig gestellt sein.�� Matthias Greuling

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filmkritik

Film

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GB/F 2012. Regie: Ken Loach. Mit Paul Brannigan, Siobhan Reilly, John HenshawFILMSTART: 21. 12. 2012

ANGELS' SHARE

ANGeLS' SHAReAlkohol kann Leben zerstören – oder wie in Ken Loachs Komödie die Basis für einen Neuanfang sein.

Nur der bevorstehenden Geburt sei-nes Sohnes verdankt der Prota-gonist in „Angels’ Share“, dass er

statt hinter schwedischen Gardinen in ei-nem Sozialprojekt landet: Wegen schwerer Körperverletzung wird Robbie von einem Richter zu gemeinnützigen Hilfsdiensten verdonnert. Neben Malerarbeiten und Müll-sammeln steht – typisch schottisch – auch der Besuch einer Whisky-Destillerie am Re-sozialisierungsprogramm. Die Einführung in die Geheimnisse der Herstellung dieses „Lebenswassers“ eröffnet dem kriminellen Underdog eine völlig neue (Promille-)Welt: schwenken, riechen und degustieren statt Komasaufen!

Dabei zeigt sich, dass Robbie über einen ausgeprägten Geschmackssinn für die Nu-ancen der verschiedenen Whiskysorten ver-fügt. Überrascht vom feinen Gaumen seines Schützlings nimmt Sozialarbeiter Harry den Taugenichts zu einer Whiskymesse mit, auf der sich Liebhaber des schottischen Natio-nalgetränks auf eine exklusive Auktion vorbe-reiten: die Versteigerung des teuersten Malt Whiskys der Welt. Für Robbie eine einmalige Gelegenheit, einen irren Coup auszuhecken, der ihm eine sorgenfreie Zukunft bescheren kann – oder ein Leben hinter Gittern.

„Angels’ Share“ bezeichnet jenen Alko-hol-Anteil, der sich bei der Whiskylagerung aus den Holzfässern verflüchtigt und nach einer alten Tradition den Engeln gewidmet wird. Ein solcher war (Laien-)Darsteller Paul Brannigan nie: Bevor er als Robbie vor der Kamera stand, machte der Schotte bereits mehrmals Bekanntschaft mit dem Gesetz.

Ideale Voraussetzungen also, um seiner Filmfigur authentisches Leinwand-Leben einzuhauchen und persönliche Erfahrungen in den Plot einfließen zu lassen. „Die Ge-schichte erzählt auch von meiner Kindheit in Glasgow: Was ich im Leben darüber ge-lernt habe, wie Drogen und Alkohol Men-schen verändern können und wie das Leben im Gefängnis tatsächlich aussieht. Für mich war das wie eine Therapie“, meint Brannig-an über seine Katharsis.

neue perspektiVen Ein Schritt, bei dem Robbie auf die Unterstützung von „Big Harry“ zählen kann: Der engagierte Street-worker ist der einzige, der an den von der Gesellschaft abgeschriebenen Loser glaubt – der nicht auf seiner kriminellen Vita he-rumtrampelt, sondern ihm eine neue Pers-pektive bietet.

Regisseur Ken Loach beweist, dass er nach

fast 30 Filmen im Laufe seiner 45-jährigen Karriere immer noch für eine Überraschung gut ist. Der Godfather des Sozialdramas ist bekannt für seinen nihilistischen Blick auf unschuldig in Not geratene Menschen, die Arbeit und Ansehen verlieren, an Drogen- und Alkoholproblemen scheitern oder wie in seinem mehrfach ausgezeichneten Meis-terwerk „The Wind that Shakes the Barley“ an Loyalitätskonflikten zerbrechen.

Auch in der Figur des jungen Robbie spie-geln sich jene sozialen Fragen wider, die für Loachs filmisches Oeuvre charakteristisch sind. In einem Punkt unterscheidet sich sei-ne aktuelle Leinwand-Arbeit jedoch von frü-heren Filmen: Mit fortlaufender Handlung reift „Angels’ Share“ zu einer unterhalt-samen Komödie, die wie ein gehaltvoller Whisky ihr wahres Bouquet erst im Nachge-schmack entfaltet. Jürgen Belko

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SWE/GB 2012. Regie: Malik Bendjelloul. Mit: Sixto Rodriguez, Stephn „Sugar“ Segerman FILMSTART: 28. 12. 2012

SEARCHING FOR SUGAR MAN

Spuren verlaufen sich bekanntlich oft im Sand. Was aber, wenn die Spuren nie-mals existierten und nur ein dubioser

Mythos zwischen Suchendem und Gesuch-tem steht? So geschehen im Fall von „Sugar Man“. Die Intention der Protagonisten in Malik Bendjellouls Dokumentarfilm ist es, Näheres über den Siebzigerjahre-Musiker Sixto Rodriguez in Erfahrung zu bringen. Gerüchten zufolge beging dieser während eines Konzertes Selbstmord. Die Versionen der Todesursache variieren: Manche sagen, Rodriguez erschoss sich auf der Bühne. An-dere behaupten, er goss Benzin über seinen Leib und entzündete sich selbst. Doch Sixtos Tod blieb ein Gerücht.

Ausgangspunkt der Suche sind drei zeit-genössische Schauplätze, die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten: Kapstadt, Detroit und Palm Springs. Ein Plat-tenladenbesitzer, dessen Spitzname „Sugar“ ist, bildet den Rahmen des Filmes, weiht die Zuseher in die Geheimnisse rund um Rod-riguez’ Tod und dessen Nicht-Karriere ein; Nicht-Karriere deshalb, weil Rodriguez in seiner Heimat USA bloß eine Handvoll Plat-ten verkaufte und nur Insidern ein Begriff war. Am Beginn aller drei Stränge stehen Establishing-Shots. Mithilfe von animierten

Illustrationen deckungsgleicher Motive ver-sucht Regisseur Malik Bendjelloul, den Kon-nex zur Vergangenheit herzustellen. Zeit-genossen von Rodriguez präsentieren ihre Sicht auf die mystifizierten Geschehnisse in Interviews, welche durch Archivaufnah-men – zum Beispiel Einstellungen in Super8, Schwarz-Weiß oder Homevideos – und Fo-tos grundiert werden.

Musik & filM iM flow Strukturell un-terbricht Bendjelloul die eigentliche Hand-lung oftmals mit Sequenzen mit Musik von Rodriguez. Dies führt zu dem einzigartigen Flow von „Searching for Sugar Man“, wel-cher sich – mit geringen Abstrichen gegen Ende – durch den ganzen Film zieht. Kame-rafahrten durch die Straßen Detroits schmie-gen sich beispielsweise an Rodriguez’ Songs und versinnbildlichen den urbanen Mythos. Rodriguez’ Musik, das erkennt man auch als Laie, ähnelt jener von Bob Dylan. Möchte man den Personen von „Searching for Su-gar Man“ glauben, so sind Rodriguez’ Texte jedoch um ein Vielfaches poetischer und ausgefeilter.

Obwohl der Musiker praktisch keinen Er-folg in seiner Heimat verzeichnen konnte, schaffte es seine Musik paradoxerweise in

das ferne Südafrika: Dort wird das Album „Cold Fact“ gar als Hymne einer Revoluti-onsbewegung der Siebziger bezeichnet. Bis in die späten Neunziger wussten weder der Singer-Songwriter noch seine Plattenfirma von diesem überwältigenden Erfolg. Rod-riguez, der auf der anderen Seite des Atlan-tiks ein bescheidenes Leben führt und seine professionellen Ambitionen längst aufge-geben hat, sieht sich plötzlich mit seinem Rockstarstatus in Südafrika konfrontiert. Ende der Neunziger holt er dort eine Reihe an Konzerten nach – so als hätte er nie et-was anderes getan.

Bendjellouls Dokumentation lebt zu gro-ßen Teilen von dem Umstand, dass Rod-riguez’ Geschichte eigentlich zu unglaublich ist, um wahr zu sein. Auch die fabelhafte Musik Rodriguez’ trägt ihren Teil zum kon-sistenten Gesamtpaket „Searching for Sugar Man“ bei. Matthias Heschl

SeARCHING fOR SuGAR mANEin Dokumentarfilm auf den Spuren eines unbekannten Musikers: Dabei war Sixto Rodriguez in Südafrika ein Superstar, ohne es zu wissen.

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DieTopderRedaktion

1DeR GeSCHmACK VON ROST & KNOCHeN von jacques audiard - ab 11.01. im kino

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Marion Cotillard brilliert in Jacques Audiards‘ Drama „Der Geschmack von Rost und Knochen“, in dem sie eine Wal-Trainerin spielt, die bei einem U

nfall beide Beine verliert. An ihrer Seite: M

atthias Schoenaerts.

Zweiter Teil von Ulrich Seidls Trilogie: Der Film folgt einer radikalen Christin (gespielt von Maria H

ofstätter), die missionierend von H

aus zu Haus zieht.

Tom Schilling, orientierungslos in der Groß-stadt: Toller Berlin-Film

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Jake Gyllenhaal kämpft sich durch den har-ten Alltag eines Polizisten4 eND Of wATCH

ab 21.12. im kino

Ken Loachs köstliche Komödie über vier Whisky-D

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OH, BOYab 28.12. im kino

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