Clara Nr. 38 Nein zum Krieg! Für entschlossene Friedenspolitik

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Das Magazin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag clara .

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Topthema der neuesten Ausgabe von clara: „Nein zum Krieg! – Für entschlossene Friedenspolitik.“ Warum der Einsatz der Bundeswehr in Syrien falsch ist und welche Lehren aus den Terrorattacken in Paris gezogen werden müssen. clara hat die neuen Vorsitzenden der Fraktion, Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch, interviewt und stellt deren Leitlinien und Ziele vor. Außerdem berichtet clara über den massiven Anstieg rechter Gewalt gegen Flüchtlinge. Weitere Themen u. a.: Stromsperren, die solidarische Gesundheitsversicherung und Altersarmut.

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Das Magazin der FraktionDIE LINKE. im Bundestag

clara.

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Erwerbslosigkeit bekämpfen, nicht Erwerbslose! Wir wollen Arbeit umverteilen und gute Löhne für alle. Sofortmaßnahme: Die Regelsätze müssen auf 500 Euro erhöht, die Sanktionen abgeschafft werden! Dann wollen wir statt Hartz IV eine sanktionsfreie Mindestsicherung von 1.050 Euro – die sicher vor Armut schützt.

Sanktionsfreie Mindestsicherung statt Hartz IV!

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das Datum war wohl eher zufällig gewählt: Am 11. November 2015 entschied der Bundestag über alle Fraktionen hinweg, erneut einen Untersuchungsausschuss zur NSU-Mordserie und dem damit verbundenen Staatsversagen einzuset-zen. NSU ist das Kürzel von »National-sozialistischer Untergrund«. So nannte sich ein Nazi-Trio. Es war im Jahr 1998 untergetaucht. Auf sein Konto gehen zehn Morde, zwei Bombenanschläge und zahlreiche Banküberfälle. Am 4. Novem-ber 2011 flog die Bande in Eisenach auf, nach knapp 13 Jahren. Bis dahin blieben sie unerkannt und folglich unbehelligt. So sagt es zumindest die offizielle Version von Bundesregierung und Behörden.

Eine Woche später, also auch an einem 11. November, wurden im Bundesamt für Verfassungsschutz die Schredder angeworfen und massenhaft Akten vernichtet. Angeblich aus Datenschutz-gründen. Aber die Frage bleibt seither: Was war an den Papieren so brisant, dass dieser Zerstörungsskandal als das kleinere Übel angesehen wurde?

Und das ist nicht die einzige Frage, die nach dem ersten NSU-Untersuchungs-ausschuss des Bundestags der Jahre 2012 und 2013 offengeblieben war. Genau betrachtet gibt es keinen einzigen Tathergang, bei dem ich sagen könnte: Ja, so wie er erzählt wird, genau so muss es gewesen sein. Auch, dass Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe über so lange Zeit isoliert waren und als Trio allein gehan-delt haben, ist wenig glaubhaft. Immerhin wissen wir aus den NSU-Verhandlungen vor dem Oberlandesgericht München, dass in ihrem Umfeld über 40 V-Leute agiert haben, also vom Staat gekaufte Nazi-Spitzel.

Zu alledem kommt eine höchst aktuelle Brisanz. Anfang der 1990er Jahre gab es bundesweit Anschläge, ja Pogrome gegen Asylbewerberinnen und -bewerber sowie

Migrantinnen und Migranten. In dieser Zeit wurde das spätere NSU-Trio rechts-extrem sozialisiert und gewalttätig radikalisiert. Heute brennen wieder Heime, nahezu täglich. Niemand kann ausschließen, dass nicht längst wieder Rechtsterroristen unterwegs sind. Umso dringender muss das NSU-Desaster weiter aufgeklärt werden, auch im Bundestag.

In dieser Ausgabe analysiert clara die neue Welle rechter Gewalt in Deutsch-land und präsentiert zahlreiche Info-grafiken. Im Schwerpunkt werden zudem die Herausforderungen beleuchtet, mit denen das Land nicht erst seit der Ankunft der Flüchtlinge konfrontiert ist: In welchen Bereichen muss gehandelt werden, welche Aufgaben sind vordring-lich und woher soll das Geld kom-men, um die Flüchtlinge aufzu-nehmen und das Leben aller Menschen hierzulande besser zu machen.

Ausführlich kommen die neuen Vorsitzenden der Fraktion DIE LINKE, Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch, zu Wort, die von ihrem Start, ihren Zielen und Wünschen erzählen. Stéphanie Gibaud, eine ehemalige leitende Ange-stellte der Schweizer Bank UBS, erzählt, wie sie einen der größten

Steuerskandale der jüngeren Geschichte an die Öffentlichkeit brachte. Und in der Gastkolumne erläutert Olaf Zimmermann, der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats, welche Erfolge die Gegner von TTIP und CETA schon erzielt haben und warum der Widerstand gegen die Freihandelsabkommen aufrechterhalten werden muss.

Ich wünsche Ihnen eine kurzweilige und erkenntnisreiche Lektüre.

Petra Pau ist Mitglied der Fraktion DIE LINKE und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags.

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Inhalt

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EditorialAuf ein Wort mit der Herausgeberin Editorial von Petra Pau 3

Foto des MonatsRefugees welcome!� Impressionen von der Flüchtlingshelferkonferenz 6

Schwerpunkt»Wir wollen, dass DIE LINKE stärker wird«� Interview mit Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch, den neuen Vorsitzenden der Fraktion DIE LINKE 8

Handeln aus Überzeugung Positionspapier von Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch für die Arbeit der Fraktion 10

Heute Flüchtling, morgen Nachbar Flüchtlingshelferinnen und -helfer berichten 12

Soziale Integration statt Sündenbockpolitik Essay von Sevim Dagdelen 14

Nein zum Krieg!� Heike Hänsel über den Einsatz der Bundeswehr in Syrien 16

Flucht aus der Armut Menschen fliehen nicht nur vor Krieg 17

Fluchtursachen bekämpfen!� Kommentar von Niema Movassat 17

Taten und Täter Über die Gefahr eines neuen Rechtsterrorismus 18

Gegen den Terror von rechts Kommentar von Ulla Jelpke 20

Kein Stück Freiheit hergeben Jan Korte kommentiert die Terroranschläge von Paris 21

Kalter Herd, warmer Kühlschrank Fast 352 000 Haushalten wurde im vergangenen Jahr der Strom abgestellt 22

Stromsperren verbieten!� Kommentar von Caren Lay 23

Lizenz zum Gelddrucken Pharmaunternehmen zocken bei neuen Medikamenten die Krankenkassen ab 24

Macht der Konzerne brechen!� Kommentar von Kathrin Vogler 25

Krankenversicherten drohen höhere Zusatzbeiträge Die beste Medizin: die solidarische Gesundheitsversicherung 26

Finanzielle Schieflage der Kassen beenden!� Kommentar von Harald Weinberg 27

Schuften im Rentenalter Immer mehr Seniorinnen und Senioren müssen arbeiten gehen 28

Rente muss zum Leben reichen!� Kommentar von Sabine Zimmermann 29

Achtung Vorratsdaten - speicherung Die Bundesregierung will umfassend Kommunikationsdaten speichern lassen 30

RechtsterrorismusGewalt gegen Flücht-linge hat dramatisch zugenommen. Wie groß ist die Gefahr eines neuen Rechtsterroris-mus in Deutschland?

MannschaftsspielDas neue Spitzenduo Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch über ihre Ziele, Wünsche und die Chancen für einen Politikwechsel

8WillkommenskulturWie Flüchtlinge in deutschen Kommunen aufgenommen werden, hängt auch von den Menschen ab, die vor Ort helfen.

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Inhalt

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Eingriff in ein Grundrecht Kommentar von Halina Wawzyniak 31

»Ich wollte nicht Komplizin sein«� Interview mit Stéphanie Gibaud, die als Whistleblowerin die Schweizer Großbank UBS anzeigte 32

Krieg im arabischen Armenhaus Saudi-Arabien & Co. bombardieren seit Monaten die Bevölkerung im Jemen 34

»Deutschland liefert Waffen für den Krieg«� Interview mit Jan van Aken 35

Auf den Zahn gefühlt

Deutsche Renten für spanische Nazis und vieles mehr DIE LINKE bringt mit Kleinen Anfragen Erstaunliches ans Licht 36

EinblickeAbgeordnete unterwegs 38

ServiceIhr gutes Recht Juristischer Rat von Halina Wawzyniak 40Mit links gelesen Buchtipps 41

Gastkolumne

TTIP & Co. bedrohen die Kultur Olaf Zimmermann vom Deutschen Kulturrat über die geplanten Handelsabkommen 42

Impressum Herausgeberin: Fraktion DIE LINKE. im Bundestag Platz der Republik 1, 11011 Berlin Telefon: 030/22 75 11 70 Fax: 030/22 75 61 28 [email protected] V. i. S. d. P.: Heike Hänsel, Jan Korte (Anschrift wie Herausgeberin)Leitung: Steffen TwardowskiRedaktion: Sophie Freikamp, Ruben Lehnert, Frank Schwarz, Benjamin Wuttke, Gisela ZimmerSatz: DiG/Plus GmbHDruck: MediaService GmbH, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 BerlinRedaktionsschluss: 30. November 2015Erscheinungsweise: 4-mal im Jahr

Dieses Material darf nicht zu Wahl kampf-zwecken verwendet werden.

Die Zeitschrift clara wird mit modernen und effizienten Druck verfahren bei Frank- Druck produziert. Die unvermeid-baren Treibhaus-gas emissionen, die durch das Printprodukt dennoch ent stehen, werden durch Investitionen in ein Klimaschutzprojekt in Brasilien kompensiert. Inhalt gedruckt auf 100 % Recyclingpapier

ID 2015-701485

Inhalt

22StromsperrenFast 352 000 Haushalten wurde im vergangenen Jahr der Strom abgestellt. Besonders häufig waren Hartz-IV-Beziehende betroffen.

28Altersarmut So wie Michael Fey müssen immer mehr Seniorinnen und Senioren trotz Ruhe-stand schuften, weil die Rente nicht reicht.

34KriegsschauplatzIm Jemen sind 1,5 Millionen Menschen auf der Flucht vor einem Krieg, über den hierzulande kaum jemand berichtet.

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28. November 2015

Daniel Überall, Hilfsorganisation IHA Lena Mevenkamp (l.) und Alina Weber,

Flüchtlingshelferinnen aus Halle und Leipzig

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Refugees welcome – Aktivenkonferenz im BundestagDie Fraktion DIE LINKE hatte Ende November 400 Helferinnen und Helfer sowie Kommunalpolitikerinnen und -politiker zur Flüchtlingshelferkonferenz in den Bundestag eingeladen. Fraktionschef Dietmar Bartsch würdigte in seiner Begrüßung deren Arbeit und verwies darauf, dass sie Kernaufgaben des Staates übernom-men haben, weil der bislang versage. Wie sich diese Ehrenamtlichen vernetzen und politisch artikulieren können, war Inhalt spannender Redebei-träge und Diskussionen. Dabei vermittelten die Refe-rentinnen und Referenten authentische, teilweise bedrückende Eindrücke ihrer Arbeit vor Ort. Unter dem Titel »Geflüchtete zu Neubürgern machen« fand zudem eine Gesprächsrunde über die notwendige Öffnung gesellschaftlicher Strukturen statt, an der sich auch viele Gäste beteiligten. Katja Kipping schloss mit der Aufforderung, gegen die Abschottung Europas und gegen die Einschränkung der Bewegungsfreiheit vorzugehen. Am Ende schauten alle Beteiligten der Konferenz bei einer Aktion in verschiedene Richtungen, um so deutlich zu machen, dass es jedem Menschen möglich sein müsse, dorthin gehen zu dürfen, wohin er oder sie möchte.

Parteivorsitzende und Abgeordnete Katja

Kipping sprach zum Abschluss der Konferenz.

Gespräch zwischen Thüringens Ministerpräsident

Bodo Ramelow (DIE LINKE), Andrea Dernbach

(Moderatorin des Tagesspiegel) und Esra Küçük

(designierte Leiterin des Gorki-Forums, r.)

Aktion »Schau und geh dahin, wo du möchtest«

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In Unternehmen und Verbänden sind Doppelspitzen extrem selten. Warum hat die Fraktion sich jüngst für ein Duo an der Spitze entschieden? Dietmar Bartsch: Die Doppelspitze ist für die Fraktion die richtige Lösung, denn sie bringt deren pluralen Charakter zum Ausdruck. Zudem bietet sie eine große Chance, unterschiedliche Sichtweisen bei der Erarbeitung gemeinsamer Positionen produktiv zu machen.

Wie führt man zu zweit erfolgreich? Sahra Wagenknecht: Das Erfolgsrezept ist, dass ein gegenseitiges Grundvertrauen existiert und beide ihre jeweiligen Stärken einbringen.

Haben Sie untereinander Arbeitsbe­reiche aufgeteilt: Der eine macht Außenpolitik und Umweltschutz, die

andere kümmert sich um Steuern und Sport?Bartsch: Nein, wir sind als Generalisten gefragt und wollen die Fraktion zusam-menführen. Wir haben eine andere, eine pragmatische Aufgabenteilung: Wir leiten im Wechsel die Fraktionssitzungen und die Tagungen des Vorstands. Und wir wech-seln uns bei den Pressekonferenzen ab.

Welche Rolle spielt der neugewählte Fraktionsvorstand?Bartsch: Eine sehr wichtige. Er ist das Führungsgremium der Fraktion. Alle Mitglieder des Vorstands haben sehr konkrete Aufgaben. Und wir sind über-zeugt, dass wir als gutes, erfolgreiches Team arbeiten werden.

Welche politischen Ziele verbinden Sie mit dem Fraktionsvorsitz?

Bartsch: Wir wollen politisch etwas bewegen und sichtbar machen, dass es Alternativen zu einer Politik gibt, die die Gesellschaft spaltet. Wagenknecht: Wir wollen, dass DIE LINKE nicht nur ein starker Faktor bleibt. Wir wollen, dass sie noch stärker wird, damit es anderen Parteien – auch der SPD – schwerer fällt, eine Politik zu machen, die allen Ansprüchen sozialer Gerechtigkeit ins Gesicht schlägt. Und das ist auch akut der Fall in der Flüchtlingsfrage. So wie es jetzt läuft, läuft es darauf hinaus, dass die Menschen mit niedrigen Löhnen und kleinen Renten am Ende für die Integration der Flüchtlinge zahlen werden.

Warum?Wagenknecht: Weil die Bundesregierung zu feige ist, die Reichen angemessen zu besteuern. Weil sie noch nicht einmal bereit ist, die aktuellen Überschüsse im Bundeshaushalt an die Kommunen weiterzugeben, damit die nicht woanders kürzen müssen, um die Integrationskosten zu tragen. Das ist ein fataler Ansatz.

DIE LINKE fordert »offene Grenzen für Menschen in Not«. Wie realistisch ist diese Forderung angesichts vieler Millionen Flüchtlinge weltweit?Bartsch: Es ist eine notwendige Forderung im Sinne der Würde jedes Menschen. Sie muss Teil eines umfassenden Ansat-zes sein, der insbesondere die Not der Menschen vor Ort lindern will. Flüchtlinge sind Botschafter der Kriege und des Elends der Welt – und wir müssen uns fragen, wer dafür verantwortlich ist. Die deutschen Waffenexporte sind eben mitverantwortlich dafür, dass Menschen aus ihren Heimatländern fliehen müssen.Wagenknecht: Jeder weiß, dass Deutsch-land nicht jedes Jahr Millionen neue Flüchtlinge aufnehmen kann. Aber es ist unendlich verlogen, über Obergrenzen zu reden und gleichzeitig weiter Flucht-ursachen zu produzieren. Die meisten Menschen fliehen nicht aus Ländern, die von Naturkatastrophen heimgesucht wurden, sondern aus Ländern wie Afghanistan oder Syrien, also aus Län-dern, in denen sich der Westen und teilweise auch Deutschland militärisch engagiert und einmischt. Vor allem die USA, aber auch Deutschland haben einen erheblichen Anteil daran, dass in vielen Ländern die Gesellschaft so destabilisiert worden ist, dass dort Bürgerkriege und Kriege herrschen, und wir liefern die Waffen, die diese Kriege am Leben erhalten.

Seit Oktober sind Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch gemeinsam die neuen Vorsitzen-den der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag. In clara sprechen sie über ihre Ziele, über Flucht ursachen und über Chancen für einen Politikwechsel.

Teamplayer

Schwerpunkt

Schwer- punkt

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Bartsch: Aber auch als Exportweltmeister sorgt Deutschland dafür, dass es immer mehr Flüchtlinge gibt.

Inwiefern?Bartsch: Wenn man zum Beispiel im Supermarkt in Nigeria deutsche Hähnchen und Milchprodukte kaufen kann, weil sie billiger sind als vor Ort erzeugte, dann zerstört das die lokale Landwirtschaft und zwingt Menschen, die zu Hause keine Perspektive haben, zur Flucht. Wagenknecht: Die Freihandelsabkommen, die Deutschland mit armen Ländern abschließt, haben zur Folge, dass die europäischen Exportindustrien sich die Märkte unter den Nagel reißen, die örtliche Industrie und Landwirtschaft den Bach runtergehen und die Leute ihre Jobs verlieren.

Wenn Deutschland für Flucht mit­verantwortlich ist, welche Verant­wortung trägt dann die Politik?Wagenknecht: Mit jeder politischen Entscheidung, die hier getroffen wird, wird auch darüber entschieden, ob woanders neue Fluchtursachen entstehen oder nicht. Das Beispiel mit den Freihandels-abkommen zeigt: Fluchtursachen lassen sich beseitigen, man muss einfach aufhören, so eine Politik zu betreiben und derartige Abkommen abzuschließen.Bartsch: Ganz praktisch: Durch Gelder an das UN-Flüchtlingshilfswerk kann die deutsche Politik mitentscheiden, ob die Lebensmittelrationen in den Flüchtlings-lagern gesichert werden. Wegen Geld-mangels mussten sie reduziert werden, ein Skandal! Und in Deutschland kann entschieden werden, ob mit Niedriglöhnen Billigprodukte erzeugt werden, die dann die Märkte in Afrika zerstören oder nicht.

Nach den Anschlägen von Paris wächst auch hierzulande die Angst vor Terror. Wie sollten Politik und Gesellschaft darauf reagieren?Bartsch: Mit einer Politik, die unser Land gerechter, friedlicher, demokrati-scher macht. Wir brauchen eine offene Gesellschaft, in der die Würde aller hier Lebenden ohne Einschränkungen geachtet wird. Die Grundrechte der Einzelnen müssen gestärkt und dürfen nicht abgebaut werden. Es muss soli-darisch zugehen, wozu auch gehört, dass aus Flüchtlingen Nachbarn, Kollegen und Sportfreunde werden.Wagenknecht: Jedenfalls nicht mit noch mehr Krieg. Wenn ich höre, dass es sogar Pläne für einen Kampfeinsatz der Bundes-wehr in Syrien geben soll, fasse ich mir an

den Kopf. Niemand braucht ein zweites Afghanistan. Im Gegenteil: Die Opfer der schrecklichen Anschläge von Paris mahnen uns, den Kreislauf aus Krieg und Terrorismus zu durchbrechen. Die Kriegs- und Regime-Change-Politik unter Führung der USA hat ganze Gesellschaften zerstört. Auf diesem Nährboden sind der »Islamische Staat« und andere Terrorgrup-pen entstanden. Diese verlogene Politik muss endlich beendet werden.

Frau Wagenknecht, jahrelang stand die Banken­ und Finanzkrise im Fokus, derzeit wird kaum darüber diskutiert. Ist das die Ruhe vor dem Sturm?Wagenknecht: Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank, hat mit sehr, sehr viel Geld die bestehenden Probleme überdeckt. Aber sie sind nicht weg. Die europäischen Banken haben nach wie vor faule Papiere im Wert von rund 1.000 Milliarden Euro in ihren Bilanzen, und wir haben jetzt eine riesige Blase auf den Finanzmärkten, weil die Zentralbanken da Milliarden reinpumpen. Unsere Forderung ist seit Langem, dass das Geld der Europäischen Zentralbank nicht mehr an den Finanzmärkten ver-schleudert wird, sondern zur Finanzierung eines europäischen Investitionspro-gramms verwendet wird, um tatsächlich die Wirtschaft zu stärken.

Herr Bartsch, häufig hat man das Gefühl, DIE LINKE überzeichnet die Verhältnisse negativ …Bartsch: Ich bin der Letzte, der alles schwarzmalt. Aber die Frage ist doch: Wie entwickeln sich Einkommen und Vermögen und deren Verteilung in der Gesellschaft?

Die Entwicklung ist inakzeptabel. Die 500 reichsten Familien in Deutschland besitzen 615 Milliarden Euro. Gleichzeitig leben zwei Millionen Kinder und Jugend-liche in Armut, wächst auch die Alters-armut. Unsere Aufgabe ist es, diese ungleiche Einkommens- und Vermögens-verteilung zu verändern. Diese Frage ist zentral – nicht nur für Deutschland. Es geht um Europa und die Welt. Auf diesem Planeten besitzen 85 Milliardäre gemein-sam mehr als die Hälfte dessen, was die Weltbevölkerung besitzt. Es müsste niemand verhungern, wenn wir global eine andere Reichtumsverteilung hätten. Das aber geht nur mit einem anderen System, einer anderen gesellschaftlichen Ordnung.

Wie schätzen Sie die Chancen für einen Politikwechsel ein, beispielsweise bei der nächsten Bundestagswahl?Wagenknecht: Dazu braucht es zunächst auch jenseits von DIE LINKE Parteien, die wollen. Da fängt das Problem an. Wenn die SPD mit Sigmar Gabriel als Kanzlerkandi-dat antritt, der die Vermögenssteuer für nicht mehr zeitgemäß hält, TTIP toll findet und bei Niedrigrenten keinen Handlungs-bedarf sieht, ist es schwer, einen gemein-samen Nenner zu finden. Insofern ist es wahrscheinlicher, dass wir wieder in der Opposition sein werden. Aber auch aus der Opposition kann man manches verändern, wenn uns das Wahlergebnis deutlich den Rücken stärkt.Bartsch: Für uns ist klar: Je stärker DIE LINKE wird, desto größer ist die Chance auf einen Wechsel in der Politik.

Das Interview führten Ruben Lehnert und Benjamin Wuttke.

Dem neuen Vorstand der Fraktion DIE LINKE gehören an: Jan Korte, Frank Tempel, Heike Hänsel, Caren Lay, die Parlamentarische Geschäftsführerin Petra Sitte, Klaus Ernst, die frauenpolitische Sprecherin Cornelia Möhring, Sahra Wagenknecht, Dietmar Bartsch, Sigrid Hupach, Sabine Zimmermann und Wolfgang Gehrcke (v. l. n. r.).

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Die Bundesrepublik Deutschland steht vor einer gesellschaftspolitischen Zeitenwen-de. Entweder Erneuerung für mehr Gerech-tigkeit oder neoliberale Radikalisierung. DIE LINKE. im Bundestag will einen sozia-len Aufbruch und entschlossene Friedens-politik.

Unser Gemeinwesen, laut Grundgesetz eine freiheitlich demokratische Grundord-nung, wird von einer Koalition regiert, in der Hauen und Stechen, Erpressung und Nötigung an der Tagesordnung sind. Die Zahl der Nichtwähler/-innen wächst auch deshalb, weil immer weniger Menschen den Regierenden zutrauen, mit den Her-ausforderungen der Zeit klarzukommen.

Es kann nicht so weitergehen wie bisher. Die falschen politischen Weichenstellun-gen der Vergangenheit, für die in Deutsch-land CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne die Verantwortung tragen, haben eine Ent-wicklung eingeleitet, die die Demokratie, den sozialen Zusammenhalt unserer Ge-sellschaft, die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger, die Idee des geeinten Europas und die Grundwerte einer freiheitlichen Gesellschaft zu zerstören droht. Wir brau-chen einen sozialen Neubeginn, eine wirt-

schaftspolitische Wende, effektiven Klima-schutz und die Rückkehr zu einer deutschen Außenpolitik, die auf Frieden und Diploma-tie statt auf Waffenexporte und militäri-sche Abenteuer setzt.

Die aktuelle Große Koalition hat kein Kon-zept, Deutschlands Zukunft zu gestalten. Sie agiert hilflos, planlos, ziellos. Obwohl der soziale Auftrag des Grundgesetzes allen ein menschenwürdiges Leben garan-tieren soll, müssen in Deutschland immer mehr Menschen mit Niedriglöhnen und Armutsrenten auskommen, wurden Inves-titionen und Bildungsausgaben sträflich vernachlässigt, der öffentliche Dienst kleingespart und immer mehr Aufgaben, die in öffentliche Verantwortung gehören, dem Markt übertragen. Probleme wie der Mangel an Lehrern, Finanznot in Städten und Gemeinden und das Fehlen bezahlba-ren Wohnraums werden durch die große Zahl der Flüchtlinge verschärft, aber neu sind sie nicht. Seit Jahren schon driftet unsere Gesellschaft auseinander, die Un-gleichheit wächst. Den wirtschaftlichen und politischen Eliten ist der Wertekom-pass abhandengekommen. Hochprofitable Konzerne nutzen jede legale und halblegale Gelegenheit, die Löhne zu drücken und

sich ihrer Verpflichtung für das Gemein-wesen zu entziehen. Windige Geschäfte, Manipulation und offener Betrug wurden von VW bis zum DFB offenbar als normale Geschäftspraktiken angesehen. Ein Land, in dem die Kinderarmut wächst, während den Reichsten erlaubt wird, ihr Geld in Steueroasen zu bunkern, wird die aktuellen Herausforderungen nicht bewältigen.

Statt an Willy Brandts Credo festzuhalten, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen darf, hat sich auch Deutsch-land an sogenannten Anti-Terror-Kriegen der USA beteiligt, die Hunderttausenden Zivilisten den Tod gebracht, Wut und Hass gesät und in der Konsequenz den interna-tionalen Terrorismus nicht geschwächt, sondern gestärkt haben. Deutschland schickt Waffen und Soldaten in alle Welt und unterstützt die Regime-Change-Politik von NATO und USA, die mitverantwortlich dafür ist, dass Millionen Menschen ihre Heimat verloren haben und eine der größ-ten Flüchtlingsbewegungen der jüngeren Geschichte ausgelöst wurde.

Statt fairer Handelsabkommen zur weltwei-ten Stärkung von Verbraucherschutz und Mitbestimmung werden armen Ländern

Mitte November traf sich die Fraktion DIE LINKE zur ersten Klausurtagung unter dem Vorsitz von Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch. clara veröffentlicht das Positionspapier, das die beiden dort vorstellten und das die Leitlinien der Arbeit der Fraktion skizziert.

Schwerpunkt

Für einen sozialen Aufbruch 

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Freihandelsabkommen diktiert, die ihre lokale Industrie und Landwirtschaft zerstö-ren und die Armut extrem vergrößern. TTIP und CETA würden die Demokratie zuguns-ten von Profitinteressen ganz beerdigen.

Trotz aller Missstände ist Deutschland im weltweiten Vergleich ein reiches und wirt-schaftlich starkes Land. Zu uns kommen Hunderttausende, die vor Krieg, Hunger und Elend flüchten. Viele – oft ehrenamt-lich aktive – Helferinnen und Helfer heißen sie willkommen. In den Ländern, Landkrei-sen und Kommunen wird eine großartige Arbeit geleistet, oft bis zur Erschöpfung. Flüchtlinge und Asylsuchende stoßen je-doch auch auf Vorbehalte, auf nicht zu tolerierenden Hass und Gewalt. Sie aber sind nicht die Schuldigen an der hiesigen sozialen und gesellschaftlichen Misere. Wir wenden uns entschieden dagegen, die Schwächsten gegen die Schwachen aus-zuspielen. Gerade deshalb muss verhindert werden, dass die Flüchtlingskrise für eine neue Welle von Sozialabbau und Lohndum-ping missbraucht wird.

Auf keinen Fall dürfen jetzt diejenigen noch mehr Aufwind erhalten, die die bar-barischen Terroranschläge von Paris in-strumentalisieren, um ihre Hetze gegen Flüchtlinge voranzutreiben. Die Menschen, die zu uns kommen, fliehen selbst vor Terror, Krieg und Gewalt. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie jetzt unter Generalver-dacht gestellt werden.

Die Bundesrepublik Deutschland muss ihren Beitrag dazu leisten, dass die Würde der Menschen unantastbar ist. Aller Men-schen. Überall. Das Bild des dreijährigen Aylan Kurdi aus der nordsyrischen Stadt Kobane ging um die Welt. Das tote Kind am Strand von Bodrum wurde zum Sinnbild

einer menschenverachtenden Politik. Mit einer solchen Politik wird sich DIE LINKE niemals abfinden.

Wir wollen mit allen zusammenarbeiten, denen Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden am Herzen liegen, die gegen Ras-sismus und Fremdenfeindlichkeit aufste-hen. Die Aufgaben sind nicht von heute auf morgen zu bewältigen, aber heute muss damit begonnen werden. Wir halten es für erforderlich,folgende Maßnahmensofort zu ergreifen:

Ein Bundes-Zukunfts-Programm in Höhe von 25 Milliarden Euro aufzulegen, mit dem Bildung, Gesundheit, Pflege und andere soziale Dienstleistungen sowie öffentliche Infrastruktur für alle ausgebaut, Arbeits-plätze geschaffen und die Kommunen fi-nanziell unterstützt werden. Der Staat muss wieder handlungsfähig werden.

Die Mittel des Bundes für aktive Arbeits-marktpolitik von derzeit 3,9 Milliarden Euro auf 5,6 Milliarden zu erhöhen. Es muss zusätzlich mehr Geld für Personal in der Arbeitsvermittlung und Leistungsgewäh-rung zur Verfügung gestellt werden.

Ab sofort in Deutschland jährlich mindes-tens 200 000 Sozialwohnungen zu bauen. Dafür sind die Kompensationszahlungen an die Länder auf mindesten 1,5 Milliarden Euro pro Jahr aufzustocken.

Die Regelsätze der Grundsicherung auf 500 Euro pro Monat zu erhöhen. Die Sank-tionen sind abzuschaffen. Die Grundsiche-rung ist mittelfristig durch eine bedarfsde-ckende sanktionsfreie Mindestsicherung zu ersetzen.

Das Kooperationsverbot in der Bildungs-politik aufzuheben, damit auch der Bund direkt in die schulische Bildung sowie in die Ausbildung von Lehrenden und Erzie-henden investieren und gemeinsam mit den Ländern die Substanz des Bildungs-systems erhalten und verbessern kann.

Die Vermögenssteuer als Millionärssteuer wieder einzuführen, Kapitalerträge höher zu besteuern und die Erbschaftssteuer zu reformieren.

Eine Sonderabgabe der deutschen Rüs-tungsindustrie zu erheben, um die Kosten der Integration mitzufinanzieren.

Jegliche Waffenlieferungen in Kriegs- und Krisengebiete sowie an in militärische Konflikte involvierte Staaten zu stoppen.

Ein Flüchtlingsaufnahmegesetz zu verab-schieden, das bundesweit einheitliche Standards und Verfahren vorgibt. Kernele-ment muss die Übernahme aller Unterbrin-gungs- und Versorgungskosten durch den Bund für die Dauer des Asylverfahrens und für eine Übergangszeit nach einer Aner-kennung sein.

Effektive Maßnahmen zur Beschleunigung der Asylverfahren zu ergreifen und Inte-gration von Beginn an zu gewährleisten, statt Flüchtlinge zu entrechten und auf Abschreckung zu setzen.

Asylsuchenden schnell Zugang zu Sprach-kursen zu ermöglichen und Schritte zur frühzeitigen und gezielten Eingliederung in Arbeit aufzuschließen.

Die Bundesregierungmuss sich im Rahmender Europäischen Unioneinsetzen:

Für die sofortige Erhöhung der finanziellen Beiträge der EU-Mitgliedsstaaten für die Flüchtlingshilfe der Vereinten Nationen.

Für eine grundlegende Änderung der Dublin-Verordnung zugunsten einer soli-darischen europäischen Flüchtlingspolitik. Länder, die sich der Flüchtlingsaufnahme komplett verweigern, sollten auch nicht mehr uneingeschränkt Zugriff auf die Fi-nanzierungsfonds der EU haben.

Für die Schaffung legaler und sicherer Einreisewege. Als notwendigen Zwischen-schritt erachten wir den Ausbau einer ef-fektiven und zivilen Seenotrettung im Mittelmeer.

Schwerpunkt

Zerstritten und planlos: die Große Koalition bestehend aus Angela Merkel (CDU), Sigmar Gabriel (SPD) und Horst Seehofer (CSU, v. r. n. l.).

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Schwerpunkt

Wie Flüchtlinge in deutschen Kommunen aufgenommen werden, hängt auch von den Menschen ab, die vor Ort helfen. Das beweisen engagierte Menschen in Eisenach und Frankfurt am Main.

Gastfreundschaft und Weltoffenheit haben in Eisenach eine lange Tradition. In der Wartburg fand einst der Reformator Martin Luther Schutz vor Verfolgung. Auf den Spu-ren Luthers kommen Tag für Tag Touristen aus aller Welt in die Stadt. Auch Flüchtlinge kommen in den letzten Jahren hierher, seit diesem Sommer besonders viele.

Eigentlich rechnete man in Eisenach in diesem Jahr mit 100 Flüchtlingen. Doch stattdessen kamen rund 500, viele davon aus Kriegs- und Bürgerkriegsländern wie Afghanistan, dem Irak und Syrien. Damit geht es Eisenach wie vielen anderen Kom-munen im Land: Die Flüchtlinge stellen sie vor gewaltige Herausforderungen.

Um ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu ste-hen, richtete Oberbürgermeisterin Katja Wolf (DIE LINKE) mit ihrem Team im Rat-haus eine Taskforce ein. »Es ist ein Gebot der Menschlichkeit, Menschen in Not will-kommen zu heißen und nicht im Regen stehen zu lassen«, sagt sie. Seit Sommer ist diese Taskforce mit Unterstützung vie-ler Freiwilliger nahezu ununterbrochen beschäftigt, mitunter auch in den Nacht-

stunden, um den neu Angekommenen Geborgenheit und ein sicheres Dach über dem Kopf zu vermitteln. So etwa, als im September eine Gruppe von Flüchtlingen nach extrem kurzfristiger Ankündigung durch die landesweite Aufnahmeeinrich-tung spätabends in die Stadt kam. Notge-drungen mussten sie für zwei, drei Nächte in einer Turnhalle übernachten, bevor ih-nen Wohnungen zugewiesen wurden.

Hohe Quote von EinzelwohnungenFür die Verantwortlichen im Eisenacher Rathaus steht fest: Statt Massenlagern, Zelten und Ghettos, die ausgrenzen und die Gesundheit gefährden, brauchen Flüchtlinge dezentrale Einzelwohnungen. Nur so können die oftmals traumatisierten Menschen Ruhe finden, erfahren Familien wieder etwas Privatsphäre, können sie sich in der neuen Umgebung besser einleben. In leerstehenden Wohnungen der Städti-schen Wohnungsgesellschaft Eisenach mbH (SWG) und anderer Vermieter finden die Flüchtlinge eine neue Bleibe. Flücht-lingsrat und Innenministerium in Thüringen

bescheinigen, dass Eisenach landesweit bislang zu den Kommunen mit der höchs-ten Quote von Einzelwohnungen für Flücht-linge gehört.

Bei der SWG und der Hilfsorganisation Caritas gehen seit Monaten viele Sach-spenden für die Geflüchteten ein. Beide Stellen organisierten im Oktober für die neu Angekommenen einen Rundgang durch die Stadt und zeigten ihnen neben Sehens-würdigkeiten auch für den Alltag Notwen-diges: Behörden, Postfilialen, Sparkassen und Supermärkte. Als Dolmetscher fungier-ten dabei auch Menschen, die vor Jahren selbst als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen waren und am Fuße der Wart-burg eine neue Heimat gefunden haben. In einem neuen SWG-Nachbarschaftstreff können sich Flüchtlinge und Einheimische bei Kaffee und Kuchen persönlich kennen-lernen und mögliche Vorurteile abbauen.

Von der SWG gespendete Schulbücher werden auch beim neuen Projekt »Willkom-mensklassen« eingesetzt, das die Stadt für zugewanderte Schülerinnen und Schüler der Klassen 5 bis 10 gestartet hat. Der

Gestern Flüchtling, heute Schüler

Katja Wolf (DIE LINKE), Oberbürger meisterin von Eisenach, begrüßt

geflüchtete Kinder in einer Willkommens-klasse in den Räumen der Volkshochschule.

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Unterricht findet in den Räumen der städ-tischen Volkshochschule statt. Die beiden Fachlehrerinnen, die hier die Jugendlichen zusätzlich zum regulären Schulbesuch in Deutsch als Fremdsprache unterrichten, hat die Landesregierung eingestellt. Ober-bürgermeisterin Katja Wolf begrüßte bei Projektbeginn im Oktober eine Willkom-mensklasse persönlich. »Das Lernen der deutschen Sprache ist ein wichtiger Schritt, damit wir miteinander sprechen, uns verstehen und kennenlernen können«, sagt sie. »Mit den Willkommensklassen werden die Bildungs- und Integrations-chancen deutlich erhöht.«

Weil SWG-Wohnungen für eine dezentrale Unterbringung nicht unbegrenzt zur Ver-fügung stehen und auch die für das Jahr 2016 erwarteten Flüchtlinge in Eisenach ein festes Dach über dem Kopf brauchen, hat die Stadt jüngst Anteile der lokalen Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft (AWG) gekauft. Somit können Flüchtlinge auch AWG-Wohnungen beziehen. Zudem sollen leer stehende städtische Immobi lien rasch zu menschenwürdigen Gemein-schaftsunterkünften mit kleineren Wohn-einheiten hergerichtet werden. 5,5 Millio-nen Euro für die Sanierung hat das Land Thüringen hierfür bereitgestellt. Die Ge-bäude liegen in der Innenstadt und nicht am Stadtrand oder in Gewerbegebieten. Auch wenn damit der Grundsatz dezentra-ler Einzelwohnungen nicht mehr in Gänze durchgehalten werden kann, wird so Ghet-tobildung und Ausgrenzung verhindert.

Anders sieht die Situation im benachbar-ten Hessen aus, wo die CDU gemeinsam mit den Grünen regiert. Menschenwürdige Unterkünfte sind hier längst nicht selbst-verständlich: Im Oktober waren rund 7 000 von 18 000 Flüchtlingen, also rund 40 Prozent, in Erstaufnahmeeinrichtungen und Zeltstädten untergebracht, viele von

ihnen seit Monaten. Damit nimmt Hessen im Vergleich aller Bundesländer einen traurigen Spitzenplatz ein.

Welcome FrankfurtDoch auch in Hessen gibt es Beispiele, die zeigen, wie Flüchtlingshilfe von unten wir-ken kann. In Frankfurt am Main kümmert sich seit Monaten eine Initiative, die sich aus einem Bündnis gegen den lokalen Pe-gida-Ableger entwickelt hat, um die Flücht-linge. Es begann Ende Juni, als engagierte Bürgerinnen und Bürger das Gespräch mit Flüchtlingen suchten, die in einer Turnhalle einquartiert waren. »Da ein Sicherheits-dienst die Halle absperrte, war die Kontakt-aufnahme zunächst schwierig«, erinnert sich Annette Ludwig, ein Mitglied der Par-tei DIE LINKE, die damals dabei war.

Doch die Akteure ließen sich nicht beirren und organisierten wenige Tage später einen Umsonst-Flohmarkt vor der Halle. »Die Leute kamen raus und berichteten über ihre Erfahrungen. Von uns waren rund 100 Men-schen dabei, darunter 30 Dolmetscher«, freut sich Annette Ludwig. Mittlerweile hätten sich auch viele der jüngeren Flücht-linge aus der Turnhalle mit Einheimischen angefreundet und sind im Kreis von Frank-furter Familien willkommen.

Zusammen mit ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern war sie auch zur Stelle, als in einer Septembernacht ein Sonderzug mit Flüchtlingen den Hauptbahnhof erreichte und viele Menschen die Ankommenden spontan mit Klatschspalier begrüßten. Doch die Zustände waren chaotisch: Behörden und Hilfsorganisationen waren allem Anschein nach nicht vertreten. So packten die Aktivis-tinnen und Aktivisten an und begannen, die Flüchtlinge mit Kleidung, Lebensmitteln, Getränken und Informationen zu versorgen. Später prangerten sie das Versagen der Be-

hörden an. Daraufhin wurde im Bahnhof ein Empfangszelt aufgebaut, ein Sozialverband übernahm die professionelle Betreuung der ankommenden Flüchtlinge. Dieser erste Er-folg war Anlass für festere Organisations-strukturen und die offizielle Gründung der Initiative Welcome Frankfurt.

Als Sprecherin der Initiative verbringt An-nette Ludwig neben ihrem Job als Personal-beraterin seit Sommer fast jede freie Minute in der Flüchtlingsarbeit. Sie besucht auf Einladung von Sozialkundelehrern Schul-klassen und sucht die enge Zusammenar-beit mit regionalen Medien. Inzwischen haben Aktive und Geflüchtete eine gemein-same Facebook-Seite eingerichtet, die zum Kennenlernen und zum Austausch dient. Auch um praktische Dinge kümmert sich die Initiative, etwa um die Sammlung von Sachspenden, Kleidung und Lebensmitteln, aber auch um politische Aufklärung und Argumentation. »In wochenlanger Kleinar-beit ist es gelungen, mit den Geflüchteten selbst auf Augenhöhe zu sprechen und sie in die Veranstaltungen einzubeziehen«, blickt Annette Ludwig zurück. »Schließlich sind die Flüchtlinge von heute unsere Nach-barinnen und Nachbarn, unsere Kolleginnen und Kollegen von morgen.« Hans-Gerd Öfinger

Schwerpunkt

Freiwillige Helferinnen und Helfer begrüßen Anfang

September Flüchtlinge am Frankfurter Hauptbahnhof

mit Lebensmitteln und Getränken.

Annette Ludwig mit Megafon bei einer Kundgebung in Frankfurt am Main gegen Neonazi-Angriffe in Sachsen.

Nr. 38/ Seite 13clara.

Page 14: Clara Nr. 38 Nein zum Krieg! Für entschlossene Friedenspolitik

Ein Essay über die Integration von Flüchtlingen und notwendige politische Veränderungen von Sevim Dagdelen

Als Reaktion auf die barbarischen An-schläge des sogenannten Islamischen Staats in Paris haben Teile der Union nicht nur begonnen, sich für eine völlige Ab-schottung gegenüber Flüchtlingen einzu-setzen. Sie versuchen zudem, Flüchtlinge pauschal unter Terrorismusverdacht zu stellen. Ein solches Verhalten ist aber nicht allein schäbig, es ist auch Gift für die große Aufgabe der Integration der Flücht-linge in Deutschland.

Schaffen wir das?

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte zwar stets vollmundig erklärt: »Wir schaffen das.« Dann aber hat sie die Län-der und Kommunen alleingelassen. Auch die jetzt verabredete Kostenübernahme des Bundes reicht bei Weitem nicht aus und setzt insbesondere die Kommunen stark unter Druck. Mit dieser Politik aber wird Rassismus regelrecht geschürt. Denn somit ist klar, dass Kommunen die Auf-gabe der Flüchtlingsunterbringung nur bewältigen können, indem sie andere

Aufgaben vernachlässigen. Die Lösung der Aufgabe der sozialen Integration muss mit der Erneuerung des Sozialstaats für alle in Deutschland verknüpft werden. Zur Bewältigung der Flüchtlingskrise ist ein Investitions programm des Bundes für den sozialen Wohnungsbau, für Gesundheit, Bildung und den öffentlichen Nahverkehr notwendig. Bezahlbarer Wohnraum ist gerade in Metropolen ein zunehmendes Problem geworden. Im Jahr 2014 sind le-diglich 9 000 Sozialwohnungen gebaut worden. Nötig aber ist der jährliche Bau von mindestens 200 000 Sozialwohnun-gen.

Sozialstaat erneuern

Die Erneuerung des Sozialstaats lässt sich ebenso wenig wie die Flüchtlingskrise ohne massive Umverteilung von oben nach un-ten bewerkstelligen. Die Superreichen in diesem Land müssen einen gerechten Anteil an den Kosten tragen. Es kann nicht sein, dass oligarchische Strukturen in Deutschland sich immer weiter verfestigen

und mittlerweile die 500 reichsten Fami-lien über ein Vermögen von 600 Milliarden verfügen, das auch noch weit stärker wächst als Löhne und Gehälter. Wenn Fi-nanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) mit einer schwarzen Null im Haushalt plant, gleichzeitig die Schuldenbremse nicht aufgehoben wird und sich dazu noch die Große Koalition einig ist, jegliche stärkere Besteuerung von Vermögenden zu verhin-dern, dann bedeutet das: Beschäftigte und Mittelschicht sollen – wie schon in der Bankenkrise – allein bezahlen.

EU in die Pflicht nehmen

Auch auf europäischer Ebene versagt die Bundesregierung in der Flüchtlingsfrage auf ganzer Linie. Gerade osteuropäische Länder verweigern den Flüchtlingen jede Solidarität, sind aber selbst ganz vorne mit dabei, wenn es darum geht, europäische Solidarität einzuklagen bei der Inanspruch-nahme von EU-Fonds. Die Einigung auf eine Verteilung der Flüchtlinge in der EU ist nicht nur wirklichkeitsfremd, sondern

Schwerpunkt

Soziale Integration statt Sündenbockpolitik

Integration am Arbeitsplatz: Mit den eigenen Händen den Lebensunterhalt verdienen.

Seite 14 / Nr. 38 clara.

Page 15: Clara Nr. 38 Nein zum Krieg! Für entschlossene Friedenspolitik

kommt infolge der Blockade in Osteuropa nicht weiter voran. Die Bundesregierung weigert sich bisher beharrlich, die Einfüh-rung einer europäischen Flüchtlingsabgabe überhaupt in die Diskussion zu bringen, die von Ländern, die keine oder nur wenige Flüchtlinge aufnehmen, zu zahlen wäre. Sie nutzt auch ihren Einfluss nicht, damit die Europäische Zentralbank ein europäisches Investitionsprogramm finanziert, das be-vorzugt den Ländern zugutekommt, die viele Flüchtlinge aufnehmen. Damit macht die Bundesregierung ein Scheitern dieses auch für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft so wichtigen Projekts wahr-scheinlicher.

Radikalisierung vorbeugen

Die jüngsten Anschläge von Paris und das Beispiel Belgien, aus dem einige der mut-maßlichen Attentäter stammen sollen, zeigen: Die Kombination aus sozialer Desintegration, Ausgrenzung und radika-lislamistischen Ideologien bilden einen fruchtbaren Nährboden für barbarische Weltanschauungen. Bereits in den 70er Jahren hatte der belgische Staat Saudi-Arabien großen Einfluss auf die Förderung islamistischer Strukturen in Belgien ein-geräumt. Es ist unbestritten, dass dies zu einer massiven Radikalisierung beigetra-gen hat, die in Kombination mit sozialer Verelendung eine gefährliche Mischung ergibt. Auch Deutschland lässt Saudi-Arabien und seine problematischen För-derer von Bildungseinrichtungen weitge-hend gewähren. Eine Integrationspolitik, die ihren sozialen Auftrag ernst nimmt, muss aber verhindern, dass die Diktatu-ren am Golf versuchen, die Menschen religiös zu spalten und gegeneinander aufzuhetzen.

Nazis raus aus den Köpfen

Fast jede Nacht brennen in Deutschland Flüchtlingsheime. Eine Minderheit von Nazis, Rechtsextremen und Rassisten setzt die Hetze gegen Schutzsuchende, wie sie auch von der Pegida-Bewegung hoffähig gemacht worden ist, in brutale Mordanschläge um. Diese Terrorwelle, die die Integration der Flüchtlinge gewaltsam verhindern will und die sich auch gegen die vielen Flüchtlingshelfer richtet, muss gestoppt werden. CDU-Innenminister Thomas de Maizière, aber auch Polizei und Justiz sind bisher nicht in der Lage, entschieden zu handeln und die Täter dieser Terrorwelle unter Verfolgungsdruck zu setzen. Die Frage der Verteidigung der Flüchtlinge aber ist die Frage nach der

Verteidigung des Rechtsstaats insgesamt. Dieser Rechtsterrorismus muss geächtet und bekämpft werden. Die Täter sind eben keine besorgten Bürger, sondern Menschenfeinde. Sie zielen darauf ab, die Integration gewaltsam zu verhindern. Dagegen muss sich eine demokratische Gesellschaft zur Wehr setzen.

Asylrechtsverschärfungen

Aber nicht nur Rechtspopulisten zielen auf eine Aussonderung von Flüchtlingen. Gerade die Große Koalition hat es mit ihren jüngsten Asylrechtsverschärfungen

regelrecht darauf angelegt, Integration zu hintertreiben. Auch die Grünen haben durch ihre Zustimmung in Baden-Würt-temberg und Hessen dafür gesorgt, dass diese integrationsfeindlichen Gesetze im Eiltempo durchgepeitscht werden konn-ten – ganz im Gegensatz zu den von der Partei DIE LINKE mitregierten Ländern Brandenburg und Thüringen. Kern dieser Asylrechtsverschärfungen ist die zwin-gende künftige Unterbringung von Asyl-bewerberinnen und -bewerbern in Sam-melunterkünften. Diese Kasernierung aber erschwert die Akzeptanz von Flücht-lingen in der Bevölkerung. Das hat erst jüngst eine Studie zur Wohnsituation von Asylbewerbern in Bundesländern und Kommunen ergeben, die von der Robert-Bosch-Stiftung in Auftrag gegeben wor-den war. Dort werden auch die Erfolgs-faktoren für die Integration genannt: langfristige dezentrale Wohnmöglichkei-ten, eine frühzeitige Information und Be-teiligung der Bevölkerung und eine Einbin-dung der Flüchtlinge in das Leben vor Ort.

Potenziale ungenutzt

Das organisierte Staatsversagen im Hin-blick auf die Integration von Flüchtlingen wird auch auf dem Rücken der vielen eh-renamtlichen Helferinnen und Helfer aus-getragen, die mit anpacken und ohne die existenzielle Strukturen nicht aufgebaut werden könnten. Hier darf das ehrenamt-liche Engagement zum einen nicht weiter genutzt werden, um sich aus staatlicher Verantwortung zu stehlen, zum anderen muss es eine Unterstützung und gute Ver-netzung mit diesen ehrenamtlichen Struk-turen geben.

Selbstorganisation

Oft wird in der Integrationsdebatte über die Köpfe der Betroffenen hinweg geredet und entschieden. Dabei organisieren sich viele Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten selbst, um die Integration vor-anzutreiben und gegen gesellschaftliche Ausgrenzung aktiv zu werden. Diese Arbeit von Flüchtlingsinitiativen und Migrantenor-ganisationen muss endlich anerkannt und aufgewertet werden, damit alle davon pro-fitieren. Ziel ist eine Erneuerung des Sozi-alstaats für alle. Die soziale Integration der Flüchtlinge ist dafür ein wichtiger Schritt.

Sevim Dagdelen ist migrations- und integrations-politische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE

Schwerpunkt

Demonstration gegen Islamo phobie sowie gegen die Asylpolitik der

bayerischen Staatsregierung in München

Nr. 38/ Seite 15clara.

Page 16: Clara Nr. 38 Nein zum Krieg! Für entschlossene Friedenspolitik

Die Bundesregierung zieht im Eiltempo in den Krieg in Syrien. Das ist falsch und gefährlich, argumentiert Heike Hänsel.

Nein zum Krieg!

Die Fraktion DIE LINKE. im Deutschen Bun-destag sagt Nein zu diesem neuen Kriegs-einsatz der Bundeswehr. Denn einen rechts-staatlichen Kampf gegen den Terror kann man gewinnen. Aber einen Krieg gegen den Terror kann man nur verlieren. Das zeigen alle Erfahrungen aus 15 Jahren Bundes-wehreinsatz in Afghanistan.

Bereits jetzt ist klar, dass mit einer Verstär-kung der Bombenangriffe der westlichen Koalition auf Syrien noch mehr Zivilistinnen und Zivilisten getötet werden. Die Bombar-dierung von Krankenhäusern, die Tötung ganzer Hochzeitsgesellschaften und die steigenden Drohnenmorde im Krieg gegen den Terror sind aber wesentliche Ursachen dafür, dass aus wenigen Hundert islamisti-schen Terroristen im Nachgang des 11. Septembers 2001 mittlerweile Hunderttau-sende geworden sind.

Nun droht nach den An-schlägen von Paris ein weiterer, lang anhalten-der Antiterrorkrieg, an dem Deutschland sich beteiligt. Im ersten Jahr sollen allein für den Syrienkrieg für die Entsendung von bis zu 1 200 Soldatinnen und Soldaten 134 Millionen Euro ausgegeben werden.

Dazu kommen massive Mehrkosten wegen der geplanten Aufstockung des Bundes-wehrkontingents in Mali auf 650 Soldaten, um französische Truppen für den Krieg in Syrien freizusetzen.

Nicht in unserem NamenWeitere Kriegseinsätze werden offenbar intern von der Bundesregierung diskutiert. Genannt wurden beispielsweise Tunesien und Libyen sowie Staaten im Sahel-Gürtel. Auch ein UN-Mandat für den Krieg in Sy-rien kann die Bundesregierung nicht vor-weisen. Alle einschlägigen Resolutionen beinhalten weder eine Mandatierung nach Kapitel VII der UN-Charta noch einen ex-pliziten Verweis auf das Selbstverteidi-gungsrecht nach Artikel 51 der Charta. So muss allein die Aktivierung der militäri-

schen Beistandsklausel nach Artikel 42 Absatz 7 des EU-Vertrags als

Legitimation für die deutsche Kriegsbeteiligung herhal-

ten, da die EU als Militär-pakt und als »System kollektiver Sicherheit« von der Bundesregie-rung definiert wird.

Es gehört zur Farce der bisherigen undemokrati-

schen Verfahrensweisen, dass diese Beistandsklausel

lediglich auf Zuruf aktiviert und der Bun-destag weder unterrichtet noch an der Entscheidung beteiligt wurde. Die Bundes-regierung tut alles, damit die Öffentlichkeit sich der verheerenden Tragweite der an-stehenden Kriegsentscheidung nicht be-wusst wird.

Und genau hier gilt es anzusetzen und den Widerstand gegen den neuen Krieg gegen den Terror zu verstärken. Das betrifft auch die Entscheidung der Bundesregierung, den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, der Krieg gegen die eigene Bevölkerung führt und den islamistischen Terror in den Nachbarländern Syrien und Irak massiv fördert, jetzt auch noch finan-ziell mit bis zu drei Milliarden Euro zu un-terstützten, damit er der EU die Flüchtlinge »vom Hals hält«. Gegen diese zynische Abschottungspolitik und den neuen Krieg von CDU/CSU und SPD in Syrien kann es nur ein klares und entschiedenes Nein geben. Nicht in unserem Namen!

Schwerpunkt

Heike Hänsel ist stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE

DIE LINKE ruft dazu auf,

alle Aktionen der Friedensbewegung

gegen die Beteiligung der Bundeswehr am Krieg in Syrien zu unterstützen.

Aktuelle Termine und Infos zu Aktivitäten gibt’s unter

www.linksfraktion.de

Seite 16 / Nr. 38 clara.

Page 17: Clara Nr. 38 Nein zum Krieg! Für entschlossene Friedenspolitik

Schwerpunkt

Sechzig Millionen Flüchtlinge weltweit stammen laut Bericht der Vereinten Nati-onen aus zehn Ländern: Syrien, Afghanis-tan, Somalia, Sudan, Südsudan, Republik Kongo, Myanmar, Zentralafrikanische Re-publik, Irak, Eritrea. In diesen Ländern leidet die Bevölkerung unter Krieg und Bürgerkrieg oder unter extremer Armut – in vielen Fällen trifft beides zu.

»Wo Hunger herrscht, ist auf Dauer kein Friede«, sagte Willy Brandt im September 1973 anlässlich des Beitritts der Bundes-republik Deutschland zu den Vereinten Nationen. Diese Aussage gilt leider bis heute. Neben Krieg und Bürgerkrieg zählen Armut und Not zu den wichtigsten Grün-den, weshalb Menschen ihre Heimat ver-lassen.

Rund 800 Millionen Menschen auf der Welt müssen hungern. Jedes vierte Kind auf diesem Planeten ist chronisch unterer-nährt. Hunger ist das größte Gesundheits-risiko: Jedes Jahr sterben mehr Menschen an Hunger als an Aids, Malaria und Tuber-kulose zusammen. Laut einem Bericht der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2014 leben weltweit 1,2 Milliarden Frauen, Män-ner und Kinder in extremer Armut. Sie

müssen mit weniger als einem Euro pro Tag überleben.

Diese Armut hat auch strukturelle Gründe. Sie resultiert aus der Ungleichheit im Han-del, die ein Vorankommen der Staaten des Südens behindert. Der Globale Süden liefert bis heute vor allem die Rohstoffe für die Industriestaaten im Norden. Dort kon-zentrieren sich rund 90 Prozent der verar-beitenden Industrie, die Wohlstand und Arbeitsplätze schafft.

Trotz vielfältiger Kritik ändert sich seit Jah-ren nichts – im Gegenteil: Im Jahr 2010 präsentierte die Bundesregierung eine »Rohstoffstrategie«. Erklärtes Ziel: »Siche-rung einer nachhaltigen Rohstoffversorgung Deutschlands«. Von der Entwicklung der exportierenden Staaten ist keine Rede.

Tatsächlich zementiert die Politik der EU die ökonomische Ungleichheit zwischen Nord und Süd. So verhindern beispielsweise Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit Staaten im afrikanischen, karibischen und pazifischen Raum Schutzmaßnahmen für die nationalen Wirtschaften. Infolgedessen unterliegen lokale Produzenten und Klein-bauern im Wettbewerb mit internationalen

Konzernen. Nur wenigen Ländern des Sü-dens ist es gelungen, die postkoloniale Ordnung zu durchbrechen.

Wer Ursachen von Flucht beseitigen möchte, muss Armut und Hunger in der Welt bekämpfen. Dabei darf nicht überse-hen werden, dass Migration auch Entwick-lungsmöglichkeiten für die Herkunftsländer schaffen kann: Wenn die Ausgewanderten Arbeit und Einkommen haben und Geld in die Heimat transferieren, leisten auch sie einen Beitrag, um die Ungleichheit zwi-schen dem Norden und dem Süden zu überwinden.Harald Neuber

Fluchtursachen statt Flüchtlinge bekämpfen!�Niema Movassat fordert mehr Unterstützung für die Länder des Südens.

Die Europäische Union (EU) und die Bundesregierung benutzen die Flüchtlingskrise, um afrikanische Regierungen einmal mehr über den Tisch zu ziehen. Statt die aktuelle Krise als Chance zu begreifen, um Fluchtursachen endlich umfassend zu bekämpfen, verschieben sie die Außengrenzen der EU bis weit nach Afrika hinein. Sie versuchen afrikani-sche Regierungen zu bestechen – auch diktatorische –, damit in Zukunft

so wenig Migration wie möglich nach Europa stattfindet.

Die Entwicklungszusammenarbeit könnte eigentlich zur Lösung der Krise beitragen. Doch statt den Paradigmen-wechsel zu einer solidarischen Zusam-menarbeit mit den Ländern des Südens zu vollziehen, zweckentfremdet die Regierung Entwicklungsgelder: Auch Regierungen, die Menschenrechte mit Füßen treten, bekommen nun Geld von der EU, um Flüchtlinge mittels Polizei und in Lagern festzuhalten. So schafft man keine Entwicklungs perspektiven, sondern noch mehr Fluchtgründe.

Es ist Zeit für eine völlig andere Außen-, Handels- und Wirtschaftspolitik. Es muss Schluss sein mit neoliberalen Freihandelsabkommen, Waffenexpor-

ten, dem Landraub multinationaler Konzerne und auferlegten Kürzungs- und Privatisierungsprogrammen, die zu noch mehr Armut führen und Menschen in die Flucht treiben. Die Länder des Südens brauchen Unter-stützung, um Ernährungssouveränität zu erlangen und Bildungs- und Gesund-heitssysteme aufzubauen.

Niema Movassat ist Obmann der Fraktion DIE LINKE im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

Flucht aus der ArmutWer die Ursachen von Flucht beseitigen will, muss auch Armut und Hunger in der Welt bekämpfen.

Frauen in Bangladesch, die Schuhe recyceln

Nr. 38/ Seite 17clara.

Page 18: Clara Nr. 38 Nein zum Krieg! Für entschlossene Friedenspolitik

Die Gefahr eines  neuen Rechtsterrorismus

Lebensgefährlich: Brand-stiftungen an geplanten

oder bewohnten Unterkünf-ten für Flüchtlinge haben in

Deutschland dramatisch zugenommen. Eine von der

Fraktion DIE LINKE in Auftrag gegebene Studie

des Antifaschistischen Pressearchivs und

Bildungszentrums (apabiz) dokumentierte bis

Mitte Oktober 2015 deutschlandweit

81 Brandanschläge.Eine Darstellung

mit Details zuden Anschlägenfindet sich unter

www.rechtesland.de

Trassenheide

Büttelborn

BreesenEscheburg

Brodersby

Nauen

Brandenburg

Bochum

Bensheim

Witten

Heppenheim

Neckargemünd

Remchingen WeissachRemseck

Rottenburg

Balingen

Oberteuringen Prien

Burgkirchen

Hepberg

Waldaschaff

Wallersdorf

Wertheim

Neustadt

Reichertshofen

Bad Aibling

Altheim

Dortmund

Merseburg

Lunzenau

Bischhagen

Espelkamp

Coesfeld

Xanten

Niederstedem

Bliesdalheim

Limburgerhof

Traben-Trarbach

Duisburg

Wuppertal

Oberwiehl

Porta Westfalica

Bleicherode

Zossen

LeipzigGrimma

Meißen

Döbeln

Haldensleben

OscherslebenSalzhemmendorf

Sonneberg

Friemar

Ebeleben

Gerstungen

Lüdenscheid

Altena

Berlin

Bremen

Dresden

BoizenburgWirdum

Lübeck

Flensburg

Hoyerswerda

Tröglitz

Großhartmannsdorf

Dippoldiswalde

Aue

Rechte Gewalt gegen Flüchtlinge hat dramatisch zugenommen. clara hat sich Täter und Taten genauer angeschaut und kommt zu äußerst beunruhigenden Erkenntnissen.

Bassum

Seite 18 / Nr. 38 clara.

Page 19: Clara Nr. 38 Nein zum Krieg! Für entschlossene Friedenspolitik

Ein kurzer Blick auf das letzte Oktoberwo-chenende und damit auf den rechten All-tagsterror gegen Flüchtlinge in Deutsch-land: In Magdeburg überfallen 30 Gewalttäter mit Baseballschlägern drei syrische Flüchtlinge und verletzen sie. In Wismar prügeln Vermummte mit Baseball-schlägern auf Flüchtlinge vor einer Asyl-unterkunft ein. In Freital zünden Neonazis einen Sprengkörper an einem von Flücht-lingen bewohnten Haus. Ein Flüchtling wird durch herumfliegende Glassplitter im Gesicht verletzt. In Niedersachsen legt ein 43-Jähriger vor einer Flüchtlingsunterkunft Feuer. Die Bewohner bleiben zum Glück unverletzt.

All diese Szenen rechter Gewalt und ihre derzeitige Alltäglichkeit in Deutschland werfen Fragen auf: Welche Entwicklungen lassen sich derzeit erkennen? Was ist an-ders, was eventuell neu an der rechten Gewalt? Wo lauern neue, bisher kaum in den Blick genommene Gefahren?

Ausmaß der rechten GewaltDie Anzahl der Straftaten und rassisti-schen Angriffe gegen Flüchtlinge und ihre Unterkünfte steigt in einer dramatischen Art und Weise. Vom zweiten zum dritten Quartal 2015 hat sich die Zahl der Taten von 149 auf 293 verdoppelt. Zur Erinne-rung: Vom zweiten zum dritten Quartal 2014 stiegen sie von 24 auf 37. Bis Ende Oktober 2015 gibt die Bundesregierung nun 549 politisch motivierte Delikte gegen Flüchtlinge und ihre Unterkünfte an, 498 davon seien eindeutig politisch rechts motiviert. Im Jahr 2014 waren es 199 Taten insgesamt, davon 177 eindeutig rechts motivierte. Die Zahlen sind Ausdruck ei-nes rassistischen Klimas in Teilen der Bevölkerung, das sich immer stärker ge-gen die Flüchtlinge richtet.

Beim größten Teil der Straftaten gegen Flüchtlinge und ihre Unterkünfte handelt es sich um Propagandadelikte, Beleidigungen, Sachbeschädigungen oder Bedrohungen. Aber die Zahl der direkten Angriffe in Form von Brand- und Sprengstoffanschlägen oder Körperverletzungen hat in den letzten Monaten stark zugenommen. Laut Statistik des Bundeskriminalamts (BKA) sind die Brandstiftungen von 6 (jeweils im Jahr 2013 und 2014) auf 28 Anfang Oktober 2015 gestiegen. Anfang November wurde vom Innenministerium schon die Zahl 53 ge-nannt. Diese Zahlen liegen jedoch noch weit unter den Zahlen, die von unabhängigen Einrichtungen genannt werden. Eine von der Fraktion DIE LINKE in Auftrag gegebene Studie des Antifaschistischen Pressearchivs und Bildungszentrums (apabiz) dokumen-tierte bis Anfang Oktober 2015 63 Brand-anschläge – mehr als doppelt so viele, wie zu diesem Zeitpunkt von den Behörden bekannt gegeben wurden. Inzwischen liegt die Zahl laut apabiz bei weit über 80.

Deutlich wird also nicht nur ein steiler An-stieg der Straftaten gegen Flüchtlinge und ihre Unterkünfte allgemein, sondern eine enorme Zunahme direkter Gewalt, die auch vor Angriffen auf Leib und Leben der Schutz suchenden Menschen nicht zurück-schreckt. Angesichts der immer weiter zunehmenden Brand- und Sprengstoffan-schläge auf Flüchtlinge und auch des Ein-satzes von Waffen, ist es reines Glück, dass es bis heute noch keine Todesopfer dieser rassistischen Angriffe gegeben hat.

Wer sind die Täter?Bei der Frage nach den Tätern der Angriffe geben die Behörden an, dass 65 Prozent der namentlich bekannten Täter keinen nachweisbaren Bezug zur Naziszene haben. Über 70 Prozent kommen aus der unmit-telbaren Nähe des Tatorts. Es scheint also so zu sein, dass nicht nur oder vielleicht nicht einmal überwiegend organisierte Nazis zur Tat schreiten. Treffen diese Zah-len der Behörden zu, dann wäre das tat-sächlich eine neue »Qualität«, dass nicht überwiegend organisierte Nazis zur Tat schreiten. »Normale Bürger« von nebenan setzen demnach ihre rassistischen und auf Ausgrenzung gerichteten Vorstellungen angesichts der Flüchtlingssituation in die Tat um und fühlen sich angeheizt durch die schrille Agitation von Pegida und AfD als Vollstrecker eines Mehrheitswillens.

Aber die Analysen der Behörden lassen leider viele Fragen offen, die für eine rich-tige Einschätzung der Gefahr von rechts und für gezielte Gegenmaßnahmen wichtig wären. So gibt es seitens der Behörden keine Aufschlüsselung der Tatverdächtigen nach Gewalttaten und sonstigen Taten. Öffentlich ist nicht nachvollziehbar, ob die bekannten Täter der Brand- und Spreng-stoffanschläge nur zu einem geringeren Teil Bezüge zur Naziszene haben oder ob die schweren Straftaten vermehrt von organi-sierten Nazis verübt werden. Nicht einmal eine Unterscheidung nach Brandanschlä-gen auf bewohnte und unbewohnte Einrich-tungen ist den Zahlen der Bundesregierung zu entnehmen, obwohl sich daraus doch Wichtiges für die Gewalt- und Tötungsbe-reitschaft der Täter ablesen ließe. Denn die Frage, ob wir es mit einer allgemeinen rassistischen Gewaltwelle oder zum Teil mit gezielten Taten von Neonazis zu tun haben, ist von enormer Bedeutung.

Neuer Rechtsterrorismus?Die Gefahr eines neuen Rechtsterrorismus ist allgegenwärtig, und auch die Behörden

Mitgliederzahlen der Nazi-Parteien im Jahr 2014

Quelle: Verfassungsschutzberichte

Brandanschlag auf ein geplantes Flüchtlingswohnheim in Weissach im Tal in Baden-Württemberg

Nr. 38/ Seite 19clara.

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warnen mit Blick auf die Erfahrungen mit dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) vor weiteren Gewalttaten.

Viele Expertinnen und Experten erinnert die gegenwärtige Entwicklung an die Situation zu Beginn der 1990er Jahre. Die rassisti-schen Pogrome von Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda, die tödlichen Anschläge auf Flüchtlinge in Solingen und Mölln waren für viele junge Neonazis der Ausgangspunkt einer militanten Radikalisierung. Auch das NSU-Kerntrio Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe ist in dieser Zeit politisch soziali-siert worden und hat den radikalsten Weg dieser Entwicklung eingeschlagen. Auch heute ist es nicht auszuschließen, dass einzelne Neonazis oder kleinere Gruppen den Weg zur gezielten Gewalt in Form eines neuen Rechtsterrorismus gehen. Gerade deshalb ist ein genauer Blick auf die aktuelle Entwicklung so wichtig.

Der von einem Nazi aus rassistischer Über-zeugung verübte Messerangriff auf die Kölner Oberbürgermeisterkandidatin Hen-riette Reker war die bisherige Spitze des Eisbergs und hat gezeigt, dass neben den Flüchtlingen auch Politiker, Flüchtlingshel-fer und andere im Fokus der Nazis stehen. Vonseiten der Behörden heißt es, es gebe keine Hinweise auf eine Steuerung der Angriffe. Damit ignorieren sie die Erkennt-nisse aus dem NSU-Komplex. Das Stichwort »führerloser Widerstand« aus der Naziszene zeigt, dass es längst nicht mehr um steu-ernde Organisationen oder Ähnliches geht, sondern dass Kleinstgruppen oder auch Einzelne zur Tat schreiten können – auch wenn sie dabei in ein Netzwerk von »Kame-raden« eingebunden sind.

Natürlich sind es auch die organisierten Nazis, die neben Pegida und AfD die Stim-mung anheizen und die verbale Begleitmu-

sik zu den Taten liefern. Im dritten Quartal 2015 organisierten NPD, Die Rechte und andere Nazigruppen 34 Aufmärsche im Zusammenhang mit Flüchtlingsunterkünf-ten, zu denen 5 800 Personen kamen. In den beiden ersten Quartalen waren es 19 und 18 Aufmärsche mit jeweils circa 850 Teilnehmern. Im Frühjahr stellte die Nazi-kleinpartei Der III. Weg eine Internetseite mit geplanten und vorhandenen Flücht-lingseinrichtungen ins Netz – eine klare Aufforderung zum Handeln.

DIE LINKE versucht über regelmäßige Klei-ne Anfragen und Analysen die aktuelle Entwicklung im Blick zu behalten und öf-fentlich zu machen. Denn nur die öffent-liche Diskussion der Gefahr von rechts ist eine Gewähr dafür, wachsam zu bleiben und Druck auf die Behörden auszuüben.Gerd Wiegel

Ulla Jelpke ist innen-politische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE

Die Stimmung verschärft sichDie aktuelle Gewaltwelle von rechts ist Ausdruck einer sich immer stärker polarisierenden Stimmung im Land. Während ein Teil der Gesellschaft sich bewundernswert für die Flüchtlinge engagiert, versuchen AfD, Pegida und Neo-nazis eine ebenfalls vorhandene rassistische Stimmung zu bedienen und anzufeuern. Auch Mitglieder der Bundesregierung schüren durch eine zunehmend schärfer werdende Wortwahl Ressentiments und tragen das Ihre dazu bei, den rechten Angreifern eine vermeint-liche Legitimation zu verschaffen.

Hier zeigt sich, dass das auf »Extremismus« geeichte Konzept der Sicherheitsbehörden zu kurz greift. Wenn sich Teile der Mitte der Gesellschaft radikalisieren, reicht der Blick auf vermeintliche »Extre-misten« nicht aus. Mit einem Inlandsgeheimdienst, der Rassismus und Gewalt nur in den Blick nehmen kann, wenn darauf ein offensichtli-ches Nazisymbol klebt, wird sich die Verfassung nicht schützen lassen.

Aus Sicht der Fraktion DIE LINKE erfordert die aktuelle Bedrohungs-lage ein schnelles und entschlosse-nes Handeln zum Schutz der Flüchtlinge und ihrer Unterstützer. Neben polizeilichen Maßnahmen ist hier aber auch eine bessere Analyse, verbunden mit konkreten Vorschlägen für die Politik, nötig. Das kann und darf nicht dem Verfas-sungsschutz überlassen werden, sondern sollte von Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und antifaschistischer Recherche übernommen werden, die zügig ein Konzept zum Umgang mit dem Terror von rechts liefern könnten.

Steigende Straftaten1 gegen Flüchtlinge

… hat in den vergangenen Jahren enorm zugenommen: Dieses Jahr besonders heftig. Allein in den ersten neun Monaten fanden dreimal so viele Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte statt wie im gesamten Vorjahr.

1 Politisch motivierte rechte Überfälle, Anschläge, Sachbeschädigungen und tätli-che Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte 2 Für 2015 liegen bisher nur die Zahlen der ersten neun Monate vor.

400

300

200

100

02012 2013 2014 20152

Quelle: Antworten der Bundesregierung auf Kleine Anfragen der Fraktion DIE LINKE

Die Tatverdächtigen kommen zu fast 90 Prozent aus der direkten Nachbar-schaft oder einer Entfernung von weniger als 20 Kilometern.

44 Prozent sind zwischen 18 und 25 Jahre alt, 16 Prozent unter 18 Jahre.

42 Prozent sind Einzeltäter, 49 Prozent sind Gruppen mit 2 bis 5 Tätern.

Was die Polizei über die Tatverdächtigen weiß

Von den Tatverdächtigen haben n 65,5 Prozent »keine Bezüge zur rechten Szene«;n 34,4 Prozent »verstärkte Einbindung zur rechten Szene«.

Davon hat mehr als die Hälfte »Funk-tionen, Zuge-hörigkeit oder Ähnliches in rechtsextremis-tischen Organisationen«.

Seite 20 / Nr. 38 clara.

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Die Terroranschläge von Paris vom 13. No-vember haben viele Menschen, auch mich, sehr bewegt. Ich war schon mehrfach dort, habe mit Freunden im Café geses-sen, gelacht und gefeiert. Das Ziel der Terrororganisation, die einen Tag zuvor in Beirut ein Blutbad angerichtet hatte, war in Frankreich kein nationales Symbol, nicht der Élysée-Palast, der Eiffelturm oder der Louvre. Das Ziel waren Men-schen, die in einem aufgeschlossenen Stadtviertel ausgegangen sind, ein Rock-konzert feiern oder einfach Spaß bei einem Fußball-Länderspiel haben wollten. Den Attentätern ging es darum, die Lebens-weise einer jungen, weltoffenen und im Zweifel liberalen, auch linken Generation anzugreifen. Sie haben es zielgenau ge-schafft, die hellen, die positiven, die le-benswerten und aufgeklärten Elemente unserer Gesellschaft anzugreifen.

Wir trauern um die vielen Todesopfer und sind in Gedanken bei den Verletzten und allen Angehörigen. Auch wenn die eigent-liche Attacke vorbei zu sein scheint, müs-sen wir jetzt immer noch dafür sorgen, dass die Terroristen ihre Ziele nicht trotz-dem erreichen.

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat am Tag nach dem Anschlag erklärt, wir sollten »den Terroristen die Antwort geben, indem wir unsere Werte selbstbewusst leben«. Es dauerte aber nur ein paar Stunden, bis

Bayerns Finanzminister Markus Söder (CSU) die Angriffe politisch instrumentali-sierte, um gegen Geflüchtete zu hetzen. Und wie eigentlich nach jedem Anschlag seit den 90er Jahren des letzten Jahrhun-derts stellen der jetzige Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) und andere das Grundgesetz mit ihrer Forderung, die Bun-deswehr im Innern einsetzen zu dürfen, infrage. Bei CDU und CSU regiert offenbar die Angst. Doch wenn die verbreitete Angst dazu führt, dass sich die Gesellschaft ihrer Freiheiten selbst beraubt, haben die Terro-risten gewonnen. Gerade jetzt ist die Poli-tik, auch die der Union, gefragt, Mut und Entschiedenheit statt Angst zu zeigen.

Das Gegenmodell zum Terror ist nicht der Krieg, es ist nicht der Generalverdacht und auch nicht der Überwachungsstaat. Und es ist auch nicht damit getan, von der Verteidigung der Demokratie zu reden, wenn wir sie nicht leben. Demokratie ist Alltagsarbeit.

Das Gegenmodell zum Terror ist eine soli-darische, offene, gleichberechtigte Gesell-schaft, in der die Rechte jeder und jedes Einzelnen im Vordergrund stehen. In der die einen ihrer Religion nachgehen können und andere ohne Religion leben dürfen. In der niemand, ob jung oder alt, in Vorstadt-ghettos und »abgehängten« Stadtvierteln vergessen wird. In der das Leben im Dies-seits in vollen Zügen genossen wird, Kritik

und abweichende Haltungen als Bereiche-rung des öffentlichen und freien Dialogs gesehen werden. In der das gute Leben der einen nicht auf Kosten von anderen geführt wird. Und in der Sicherheit nicht an gesam-melten Gigabytes gemessen wird, sondern am alltäglichen Nutzen einer ansprechba-ren, gut motivierten und ausgestatteten Polizei, die sowohl Bürgerinnen und Bürger als auch deren Rechte schützt.

Es gibt weder »den Islam« noch »den Wes-ten« oder eine Unvereinbarkeit von beiden. Genauso wenig gibt es die eine Antwort auf religiös begründete Gewalt. Kein Einkni-cken vor Terror bedeutet aber – das steht fest –, von der Demokratie, den Bürger-rechten, der Freiheit und der Menschlich-keit kein Stück freiwillig herzugeben. Bei allen Zumutungen des kapitalistischen Systems – diese Errungenschaften sollten wir bis aufs Letzte verteidigen. In die Of-fensive zu gehen bedeutet, an diesem Gegenentwurf beharrlich und mit Überzeu-gung zu arbeiten.

Nach den Terroranschlägen von Paris warnt Jan Korte davor, Freiheits- und Bürgerrechte einzuschränken, und wirbt für die offene, solidarische Gesellschaft.

Jan Korte ist stellvertretender Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE

Kein Stück Freiheit freiwillig hergeben

Hoffnung auf Frieden: Blumen hängen in den Einschusslöchern an der

Rue Alibert in Paris. Bei den Terror-anschlägen am 13. November 2015 wurden in der französischen Haupt-

stadt mindestens 130 Menschen getötet und mehr als 350 verletzt.

Nr. 38/ Seite 21clara.

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Fast 352 000 Haushalten wurde im Jahr 2014 in Deutschland der Strom abgestellt. Besonders häufig betroffen sind Hartz-IV-Beziehende.

Im Dunkeln sitzen gelassen

Wenn man zu Hause den Lichtschalter drückt, geht die Lampe an und erhellt den Raum. Das ist eine Erfahrung, die fast alle Menschen jeden Tag vielfach machen, ohne darüber nachzudenken. Doch wehe,

wenn der Strom abgestellt ist. Mit einem Schlag ändert sich der Alltag radikal.

In der Früh ist die Wohnung dunkel – und oft eisig, falls die Gastherme mit Strom betrieben wird. Weil Wasserkocher, Herd und Backofen nicht funktionieren, muss man auf heiße Getränke und warme Speisen verzichten. Um Kleidung zu waschen, muss die Maschine beim Nachbarn genutzt wer-den. Computer, TV und Stereoanlage ver-stauben als unbrauchbare Möbelstücke.

Im Jahr 2014 wurde laut Bundesnetzagen-tur knapp 352 000 Haushalten in Deutsch-land der Strom abgestellt. Das ist eine erneute Steigerung gegenüber dem Vorjahr (siehe Grafik). Geht man davon aus, dass in jedem Haushalt drei Personen leben, so waren hierzulande im vergangenen Jahr etwa eine Million Menschen von Strom-sperren betroffen. Ein Großteil von ihnen war auf Hartz IV angewiesen.

In Deutschland regelt eine einfache Rechtsvorschrift, wann einem Haushalt der Strom abgestellt werden darf. Eine Stromsperre kann bereits bei einem Zah-lungsrückstand von nur 100 Euro erfolgen. Das Energieunternehmen muss lediglich eine Mahnung verschicken, dann die Stromsperrung mit Fristsetzung androhen und drei Tage vor Ablauf der Frist erneut auf die drohende Abschaltung hinweisen.

Hohe Energiekosten, niedrige LöhneDie Gründe für die vielen Stromsperren liegen auf der Hand: Die Stromkosten haben sich für Haushaltskunden seit dem Jahr 2002 verdoppelt, Löhne und Gehälter sind im selben Zeitraum kaum gestiegen. Seit Jahren müssen Haushalte mit niedri-gem Budget einen relativ hohen Anteil ihres Einkommens für Energie aufwenden. Sie verfügen zudem oft nicht über ausrei-

Stromsperren in Deutschland pro Jahr

Quelle: Monitoringberichte der Bundesnetzagentur

2011: 312 000

2012: 321 000

2013: 345 000

2014: 351 000

Ist der Strom abgestellt, ändert sich der Alltag radikal: Wasserkocher, Kühlschrank,

Herd und Backofen funktionieren nicht, Kerzen müssen Lampen ersetzen.

Seite 22 / Nr. 38 clara.

Page 23: Clara Nr. 38 Nein zum Krieg! Für entschlossene Friedenspolitik

chend Geld, um energiesparende Geräte zu kaufen, was wiederum den Stromver-brauch erhöht. So kommt es, dass Haus-halte, in denen Monat für Monat mit jedem Euro kalkuliert werden muss, rasch finan-ziell überfordert sind, wenn sie eine Nachzahlungsforderung des Stromanbie-ters erhalten. Schnell summieren sich so die Stromschulden – mit verheerenden Folgen.

Hinzu kommt, dass anders als beispiels-weise bei Miete und Heizkosten die Stromrechnung nicht vom Jobcenter oder Sozialamt beglichen wird. Die Kosten müssen aus dem regulären Hartz-IV-Satz bezahlt werden. Harald Thomé vom Er-werbslosen- und Sozialhilfeverein Tache-les e. V. kritisiert, dass bei der Berechnung dieses Regelsatzes die Kosten für Energie zu gering veranschlagt wurden. Pro Monat fehlten rund 13 Euro, um den Energiebe-darf eines Ein-Personen-Haushalts zu decken. Zwar können Jobcenter und So-zialämter ein Darlehen gewähren, um die Rechnung beim Energieunternehmen zu bezahlen. Doch ein solches Darlehen ist an viele Voraussetzungen gebunden, und oft wimmeln Ämter Antragstellerinnen und -steller ab.

Während zum Beispiel in Frankreich und Belgien privaten Haushalten im Winter der Strom nicht abgestellt werden darf, hat die Bundesregierung bisher nichts unter-nommen, um das Problem der Stromsper-ren zu beheben. Statt Menschen zu un-terstützen, die ihre Stromrechnung nicht bezahlen können, subventioniert sie Industriebetriebe mit besonders hohem Energieverbrauch. Diese

Industrierabatte kosten die Steuerzahle-rinnen und -zahler pro Jahr rund fünf Milliarden Euro.

DIE LINKE hat im Mai 2015 die Kampagne »Das muss drin sein.« gestartet. Mit dieser Kampagne will sie prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen thematisieren und bekämpfen. Eines der Ziele dieser Kam-pagne lautet: »Wohnen und Energie be-zahlbar machen!« Aus diesem Grund bildet im Winter 2015/2016 der Einsatz für ein Verbot von Stromsperren einen der

Schwerpunkte der Kampagne. Ruben Lehnert

Caren Lay ist stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE

Strompreis senken!�

Ein Durchschnittshaushalt könnte 185 Euro pro Jahr sparen, erklärt Caren Lay.

Seit Jahren kennt die Zahl der Stromsperren nur eine Richtung: nach oben. 351 000 Menschen waren im Jahr 2014 von Strom-sperren betroffen – 6 000 mehr als im Vorjahr. Die Sperren sind nur die Spitze des Eisbergs: Über 6 Millionen Mal wurde eine Strom-sperre angedroht. Das ist eine stille soziale Katastrophe! Kein Wunder bei der Preisentwicklung: Seit dem Jahr 2002 hat sich der Strompreis verdoppelt, von knapp 14 Cent auf inzwischen fast 30 Cent pro Kilowattstunde.

Die Bundesregierung ignoriert das Problem seit Jahren beharrlich. Statt Stromkundinnen und -kunden zu entlasten, schonte Wirtschafts-minister Sigmar Gabriel (SPD) bei der letzten EEG-Reform die stromin-tensive Industrie mit großzügigen Rabatten. Mehr noch: Die Umset-zung einer EU-Richtlinie aus dem Jahr 2009, die die Mitgliedsstaaten auffordert, Maßnahmen für schutz-bedürftige Kunden zu erlassen, hat die Bundesregierung bis heute nicht umgesetzt.

DIE LINKE hat mehrfach Anträge für ein Verbot von Stromsperren eingebracht und die Umsetzung der EU-Richtlinie gefordert. Außerdem muss der Strom für alle günstiger werden. Vorschläge dazu hat die Fraktion DIE LINKE schon lange vorgelegt: Stromsteuer runter, ungerechtfertigte Industrierabatte abschaffen und Strompreisaufsicht wieder einführen. Damit spart ein Durchschnittshaushalt 185 Euro im Jahr!

DIE LINKE fordert Verbot von StromsperrenDie Fraktion DIE LINKE setzt sich für ein Gesetz ein, das »schutzbe-dürftigen Kundinnen und Kunden eine Grundversorgung mit Strom« gewähr-leistet. Dieses Gesetz soll zudem den Energieversorgern untersagen, Ver-braucherinnen und Verbraucher auf-grund von Zahlungsunfähigkeit den Strom abzustellen.Einen entsprechenden Antrag hat DIE LINKE im Bundestag gestellt. Das Parlament wird darüber voraussicht-lich im Dezember diskutieren und ent-scheiden. Die Begründung des Antrags verweist darauf, dass ein erheblicher

Teil der Men-schen, die von Stromsperren betroffen sind, Hartz-IV-Leis-tungen bezie-

hen. Die Versorgung mit Strom müsse aber als »ein Grund-recht einer jeden Bürgerin und eines jeden Bürgers« anerkannt werden, ar-gumentiert DIE LINKE. Das sei »Grund-voraussetzung für ein menschenwür-diges Wohnen und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben«.Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Antrag angenommen wird, ist jedoch gering. Schließlich hatte DIE LINKE seit dem Jahr 2008 regelmäßig ähnliche Anträge ins Parlament eingebracht. Bisher wurden sie alle abgelehnt.

Der gelbe Zettel signalisiert: Diesem Haushalt wurde der Strom abgestellt.

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Weil Pharmakonzerne die hiesigen Krankenkassen insbesondere bei neuen Medika-menten abzocken, könnten bald die Beiträge für Millionen Versicherte steigen.

So eine drastische Kostenexplosion bei Arzneimittelausgaben gab es seit Jahren nicht: Um unglaubliche 3,2 Milliarden Euro stiegen die Ausgaben der Krankenkassen für Medikamente im Jahr 2014. Ein Anstieg um 10,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, obwohl gerade mal ein Prozent mehr Arz-neimittel verordnet wurden.

Preistreiber sind dabei insbesondere pa-tentierte Medikamente, die neu auf dem Markt sind. Für Pharmakonzerne sind diese eine Lizenz zum Gelddrucken: Im ersten Jahr der Einführung eines neuen Medika-mentes können die Konzerne den Preis selbst festlegen und nutzen dieses Privileg dazu, Mondpreise aufzurufen. Diese sind völlig unabhängig von den tatsächlichen Kosten für Forschung und Herstellung. Erst ein Jahr nach Einführung gilt ein mit den Kassen ausgehandelter Preis, der ange-sichts der Einführungspreise noch immer astronomisch ist. Die Rechnung dafür müs-sen die Krankenkassen teuer bezahlen – also alle gesetzlich Versicherten.

Was derzeit falsch läuft im Pillengeschäft, lässt sich am Beispiel von Sovaldi zeigen, einem Medikament gegen Hepatitis C. Im Februar 2014 bringt der US-Konzern Gilead Sciences das Präparat auf den deutschen Markt. 700 Euro kostet eine Pille. Für die Packung, die für eine zwölfwöchige Thera-pie notwendig ist, kassiert das Unterneh-men 60.000 Euro. Nach Einschätzung von AOK-Chef Jürgen Peter kostet die Herstel-lung aber kaum mehr als 100 Euro.

Allein im Jahr 2014 zahlten die deutschen Krankenkassen für dieses Medikament 424 Millionen Euro an die US-amerikani-sche Pharmafirma. Für den Konzern ist das ein Hauptgewinn: Im Jahr der Zulassung von Sovaldi vervierfacht er seinen Profit auf sagenhafte 12 Milliarden Euro. Und die Zahlen fürs erste Halbjahr 2015 weisen nochmals fette Gewinnsteigerungen aus.

Aber selbst wenn nach einem Jahr der Preis für ein Medikament zwischen Kon-zern und Krankenkassen verhandelt wird, sind die Kassen in einer schlechten Posi-tion. Je wirksamer das Präparat, desto größer die Macht der Pharmakonzerne, denn sie haben einen entscheidenden Trumpf in der Hand: Wenn ihnen der Preis nicht gefällt, drohen sie damit, sich vom deutschen Markt zurückzuziehen. Den Nachteil hätten dann alle Patientinnen und Patienten, die mit den neuen Medika-

Lizenz zum Gelddrucken

2006 2014

Krankenversich erte zahlenAusgaben der gesetz lichen Krankenkassen für Arzneimittel in Milliarden Euro

35,4

25,1 Quelle: destatis, www.wallstreet-online.de

Die hohen Preise für Medikamente begründen Pharmakonzerne mit hohen Forschungs- und Entwick-lungskosten. Allerdings geben die

Pharmakonzerne mehr Geld für Werbung aus als für Forschung.

2006 2014

1,1

16,3

12,1

10,2

1,4

4,5

7,2

1111,9

Konzerne kassierenGewinne ausgewählter Pharma-unternehmen in Milliarden US-Dollar

Quelle: destatis, www.wallstreet-online.de

1,2

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3,9

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Seite 24 / Nr. 38 clara.

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menten behandelt werden. Das Ergebnis davon ist: Im Normalfall erreichen die Krankenkassen in den Verhandlungen im Durchschnitt gerade mal 20 Prozent Ra-batt. Im Fall von Sovaldi sogar ein biss-chen mehr, aber eine einzige Pille kostet immer noch 500 Euro.

Bisher weigert sich die Bundesregierung, neue Gesetze zu erlassen, die diese Abzo-cke verhindern. Mit den bekannten Neben-wirkungen: Aktuell warnen Experten vor drastisch steigenden Beiträgen zur Kran-kenversicherung in den nächsten zwei Jahren, von bis zu 300 Euro zusätzlich pro

Person ist die Rede. Der Grund: die hohen Ausgaben der Kassen – unter anderem wegen der astronomischen Preise, die Pharmakonzerne für neue Arzneimittel kassieren. Ewald Riemer

So läuft es jetzt Das will DIE LINKE

Für neu auf den Markt gebrachte paten-tierte Medikamente können Pharmakon-zerne ein Jahr lang den Preis festlegen, erst danach handeln sie mit den Kranken-kassen Rabatte aus.

Der rabattierte Preis, den die Kranken-kassen nach einem Jahr mit den Unter-nehmen aushandeln, muss rückwirkend auch für die ersten zwölf Monate gel-ten.

Die Preis- und Rabattverhandlungen zwi-schen Konzernen und den gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen laufen hinter verschlossenen Türen und sind intrans-parent.

Eine transparente und nachvollziehbare Preisfestsetzung in den Händen einer Behörde nach klaren Kriterien.

Pharmakonzerne haben immer noch Mög-lichkeiten, massiv bei Ärzten für ihre Pro-dukte zu werben und Anreize zu schaffen, damit bestimmte Präparate verschrieben werden – unter anderem durch aufwän-dige Werbeaktionen, Pharmavertreter, fingierte Studien, durch kostenlose Ab-gabe von Arzneimittelmustern, gespon-serte Praxis- und Krankenhaussoftware sowie Fortbildungsveranstaltungen, die von der Pharmaindustrie veranstaltet werden.

Der Einfluss der Pharmaindustrie muss zurückgedrängt werden. Werbung bei Fachpublikum darf nicht irreführend sein und muss strenger überwacht werden. Die für Ärztinnen und Ärzte vorgeschrie-benen Fortbildungen sollten nicht von der Industrie finanziert sein. Die Tätig-keit von Pharmavertretern gehört einge-schränkt. Alle kommerziellen Anreize zur Verordnung eines bestimmten Präparats müssen abgeschafft werden.

Negative Forschungsergebnisse werden von der Industrie zum Teil geheim gehal-ten oder nachträglich geschönt. Manch-mal wird versucht zu verschleiern, dass es sich um eine kommerzielle Studie han-delt. Viele Studien werden überwiegend aus Marketinggründen durchgeführt.

Ein offen zugängliches Studienregister. Nur so ist gewährleistet, dass For-schungsmanipulationen entdeckt wer-den und für eine unabhängige Überprü-fung auch alle Daten zur Verfügung stehen.

Kathrin Vogler ist Sprecherin für Arzneimittel-politik und Patientenrechte der Fraktion DIE LINKE

Macht der Pharma-konzerne muss gebrochen werden

Der Fall Sovaldi beweist: Alle bisherigen Versuche, bei neu zugelassenen Arzneimitteln auf vernünftige Preise hinzuwirken, sind gescheitert. Die Pharmakonzerne sind Herr über die Verwertungs-rechte und haben damit alle Karten in der Hand.

Staat und Gesundheitssystem sind letztlich erpressbar, denn niemand kann und will den Menschen verbesserte Therapien vorenthal-ten. In allen Verhandlungen kann die Firma damit drohen, das Mittel vom Markt zu nehmen. Darauf gibt es bis heute keine Antwort. Deshalb müssen wir über ganz neue Wege nachdenken. Schließlich ist es kein Naturgesetz, dass Arzneimittel-patente und -zulassungen fast ausschließlich in der Hand großer Konzerne liegen.

Eine öffentlich finanzierte Arznei-mittelforschung ermöglicht nicht nur eine neue Preisgestaltung. Es könnten auch Arzneimittel entwi-ckelt werden, welche die Medizin tatsächlich voranbringen. Es gäbe weniger Anreize, Forschungsergeb-nisse zu verfälschen und Mittel zu vermarkten, die in Wirklichkeit gar keine Vorteile für die Patienten bringen. Und nicht zuletzt kann so darauf Einfluss genommen werden, dass auch Menschen in weniger reichen Ländern vom therapeuti-schen Fortschritt profitieren.

Die Macht der Pharmakonzerne muss endlich gebrochen werden – im Interesse aller Menschen, die moderne und bezahlbare Medikamente benötigen.

Pharmakonzerne weisen Gewinn-margen auf, von denen andere Branchen nur träumen können.

Einige Unternehmen kommen auf Margen von über 50 Prozent.

clara. Nr. 38/ Seite 25

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Krankenversicherten drohen steigende ZusatzbeiträgeDie beste Medizin gegen einseitige Beitragserhöhungen ist die solidarische Gesundheitsversicherung.

Mit der ersten Gehaltsabrechnung des Jahres 2016 erleben Millionen Versicherte eine böse Überraschung: Sie müssen mehr Geld für ihre Krankenversicherung ausge-ben. Die Beiträge steigen im Schnitt um 0,2 Prozentpunkte. Bei einem Bruttoein-kommen von 2.500 Euro sind das 5 Euro im Monat. Und das ist nur der Anfang, weitere Erhöhungen werden folgen.

Die gesetzlichen Krankenversicherungen gehen davon aus, dass die Beiträge in den nächsten drei Jahren um weitere 1,4 bis 1,8 Prozent steigen werden. Bei 2.500 Euro Monatseinkommen summieren sich die Zusatzbeiträge auf 45 Euro im Monat, das

macht 540 Euro im Jahr. Da Bezieherinnen und Bezieher kleiner und mittlerer Einkom-men jeden Euro ihres Einkommens benö-tigen, vertieft diese Belastung die soziale Schieflage.

Ungerecht ist auch, dass nur die Beiträge der Versicherten erhöht werden. Für die Arbeitgeber bleibt der Beitrag konstant: Ihre Beitragssätze wurden 2011 auf 7,3 Prozent festgeschrieben. Hier wird deut-lich, für wen CDU/CSU und SPD Politik machen. Sie haben die von der Vorgänger-regierung eingeführten Zusatzbeiträge ausgeweitet und belasten einseitig die Versicherten.

Die Fraktion DIE LINKE fordert hingegen eine paritätische Beitragszahlung: Die Arbeitgeber müssen wieder die Hälfte der gesamten Versicherungsbeiträge zahlen. Diese Umverteilung würde für alle Beschäf-tigten spürbar mehr Netto bedeuten. Das stärkt die Kaufkraft und befeuert die Kon-junktur.

Beitragserhöhungen kommen nicht von ungefähr. Sie sind die Folge der jahrelan-gen Ungleichbelastung der Versicherten. Gutverdienende zahlen auf ihr Einkommen oberhalb von 4.237,50 Euro (Stand im Jahr 2016) gar keine Krankenversicherungsbei-träge mehr. Immer mehr Rentnerinnen und Rentner, Selbstständige mit geringem Einkommen oder privat Versicherte sind hingegen von steigenden Beiträgen über-fordert. Hunderttausende Privatversi-cherte haben Beitragsschulden angesam-melt und müssen in den Notlagentarif wechseln. Gerade Ältere sind betroffen und haben dadurch nur noch Versiche-rungsschutz bei akuten Krankheiten.

Eine sozial gerechte Alternative liegt auf dem Tisch: die solidarische Gesundheits- und Pflegeversicherung, für die sich DIE LINKE seit Jahren einsetzt (siehe Info-kasten). Ein solches Versicherungsmodell führt zu einer soliden Finanzierung der Krankenkassen, ein wichtiger Schlüssel für eine gute Versorgung. Denn das Gesund-heitssystem muss den Menschen dienen

Sieben Grundsätze der solidarischen Gesundheits-versicherungDIE LINKE setzt sich ein für ein sozial gerechtes Modell der Kranken versicherung: die solida-rische Gesundheitsversicherung.

1. Alle Menschen, die in Deutschland leben, werden Mitglied.2. Alle entrichten denselben Prozent-satz auf ihr gesamtes Einkommen für die Gesundheits- und Pflege-versicherung.

3. Für alle Menschen stehen sämtliche erforderlichen Leistungen zur Verfügung. Der medizinische Fortschritt wird einbezogen.4. In der Pflegeversicherung wird die Unterfinanzierung beendet und das Leistungsniveau angehoben.5. Niemand wird aus der Verantwor-tung entlassen – weder durch eine Privatversicherung noch durch eine Beitragsbemessungsgrenze, die gerade die höchsten Einkommen entlastet.6. Zuzahlungen und Zusatzbeiträge entfallen.7. Die private Krankenversicherung wird auf Zusatzleistungen beschränkt.

DIE LINKE fordert, dass die Arbeitgeber wieder die Hälfte der Krankenversicherungsbeiträge zahlen.

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und ihnen sämtliche medizinisch erforder-lichen Leistungen bereitstellen. Das be-deutet auch, dass alle Menschen in ihrer Nähe eine hochwertige ambulante und stationäre medizinische und pflegerische Versorgung erhalten.

Die solidarische Gesundheitsversicherung würde zudem faire Löhne und bessere Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten in Krankenhäusern und Pflegeheimen er-möglichen, deren Arbeitsbedingungen gegenwärtig prekär sind. Insbesondere Frauen käme das zugute, denn im Gesund-heitswesen sind zu über 70 Prozent Frauen beschäftigt. Durch deutliche Leistungsan-hebung der Pflegeversicherung können zudem pflegende Angehörige, falls ge-wünscht, professionelle Pflege in Anspruch

nehmen. Das entlastet fast 1,2 Millionen Menschen, die zu Hause ausschließlich von ihren Angehörigen, meist von Frauen, gepflegt werden.

Die SPD hat sich vor der vergangenen Bundestagswahl im Jahr 2013 für ein ähn-liches Modell starkgemacht. Für den Ko-alitionsvertrag mit CDU und CSU hat sie die Bürgerversicherung jedoch kurzerhand über Bord geworfen und einvernehmlich mit der Union steigende Zusatzbeiträge beschlossen. Nun scheinen die Sozialde-mokraten abzuwarten, bis der Unmut der Bevölkerung über die Beitrags erhöhungen hoch ist, um dann vor der nächsten Bun-destagswahl wieder die Bürgerversiche-rung aus dem Hut zu zaubern. Regina Stosch

Höhere Beiträge nur für Beschäftigte

durchschnittliche Beitragssätze der gesetzlichen Krankenkassen in Prozentn Beschäftigte n Unternehmer

Quelle: ver.di

2005 2010 2015 2016 2017

8,5

8

7,5

7

Schieflage bei den Kassenfinanzen beendenDie Arbeitgeber müssen wieder die Hälfte der Beiträge übernehmen, fordert Harald Weinberg.

Im Jahr 2015 betrug das Defizit der Krankenkassen mehr als 11 Milliarden Euro, im Jahr 2016 werden es über 14 Milliarden Euro sein. Diese Summen zahlen die Versicherten aus der eigenen Tasche, so wollen es CDU/CSU und SPD. Die Arbeitgeber beteiligen sich nicht an diesen zusätz-lichen Beiträgen. Durchschnittsver-dienende zahlen so im Jahr 2016 genau 271,12 Euro an Zusatzbeiträgen.

Deshalb will DIE LINKE die Parität, das Prinzip halbe-halbe, wiederherstellen. Dann würden die Arbeitgeber endlich wieder genauso viel zahlen wie die abhängig Beschäftigten. Denn es ist die Verantwortung der Arbeitgeber, für die medizinische Behandlung ihrer Beschäftigten aufzukommen. Schließ-lich profitieren sie von gesunden und arbeitsfähigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Außerdem bestimmen sie in der Selbstverwaltung der Krankenversicherung auch paritätisch mit. Deshalb sollen sie auch paritä-tisch zahlen.

Es ist zu erwarten, dass es nun jedes Jahr einen Anstieg der Beiträge für die Versicherten in dieser Größenordnung geben wird. Denn regelmäßig steigen

die Ausgaben der Krankenkassen stärker als ihre Einnahmen. Um dieses Problem zu lösen, gibt es zwei Möglichkeiten: entweder ungerechte und einseitige Beitragserhöhungen, wie die Bundesregierung sie will, oder die Einführung der solidarischen Gesundheitsversicherung, wie es DIE LINKE seit Langem fordert.

Harald Weinberg ist gesundheits-politischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE

Aufsicht im Museum

Logistik-arbeiter

Kranken-schwester Bauingenieur Geschäfts -

führerin

Einkommen pro Monat (brutto) 1.000 Euro 1.500 Euro 2.000 Euro 4.000 Euro 10.000 Euro

monatliche Ersparnis 33,50 Euro 50,25 Euro 83,75 Euro 134 Euro -149,05 Euro

jährliche Ersparnis 402 Euro 603 Euro 1.005 Euro 1.608 Euro -1.788,60 Euro

Was bringt mir die solidarische Gesundheits-versicherung?So würde sich die solidarische Gesundheitsversicherung auf die Höhe der Beiträge zur Krankenversicherung auswirken:

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Nr. 38/ Seite 27clara.

Page 28: Clara Nr. 38 Nein zum Krieg! Für entschlossene Friedenspolitik

Zu seiner Altersarmut bekennt sich Ulrich F. (69) aus Hessen in seinem Umfeld. Der gelernte Gärtner zeigt vielen freimütig den amtlichen Bescheid, der ihm eine karge Altersrente von etwa 650 Euro zuspricht. In Wahlkämpfen sucht er Infostände von Parteien auf und konfrontiert sie damit, dass sie in früheren Bundesregierungen mit Rentenkürzungen auch ihn »um die Lebensleistung betrogen« haben. Er ist auf Wohngeld und Nebenjobs angewiesen und kommt »mehr schlecht als recht über die Runden«.

Ulrich F. arbeitete jahrzehntelang als angelernter Laborant in einer Klinik. Spä-

ter absolvierte er eine Umschulung zum Bürokaufmann. Doch mit 50 Jahren galt er für den Arbeitsmarkt schon als »zu alt«. Gut 150 Absagen machten ihn krank. Einen Herzinfarkt konnte er auskurieren. »Aber dann war der Ofen ganz aus«, erin-nert er sich. Jetzt reicht das Geld nur »mit Ach und Krach«. So wird schon das Ticket zum Verwandtenbesuch im 200 Kilometer entfernten Heimatdorf zum Luxus. Er hat in Minijobs Supermarktregale aufgefüllt, hat Häuser gehütet und Pflanzen gegos-sen. »Aber ich werde nicht jünger, und mit zunehmendem Alter wird es immer schwerer, solche Jobs zu finden«, sagt Ulrich F.

Sein Altersgenosse Michael Fey wohnt in Nordbayern. Er beherrscht viele Sprachen und war viele Jahrzehnte lang bei Migran-tinnen und Migranten ein gefragter freibe-ruflicher Übersetzer und Dolmetscher, zeitweilig auch Dozent auf Honorarbasis. Sein Schicksal steht für das, was in den kommenden Jahren immer mehr Menschen droht, die sich heute freiwillig oder unfrei-willig als Soloselbstständige durchschlagen müssen. Zwar reichte Michael Feys Einkom-men für ein Leben mit bescheidenen An-sprüchen, der Zugang in die gesetzliche Renten- und Krankenversicherung blieb ihm jedoch versperrt, insbesondere für eine private Altersvorsorge fehlte das Geld.

Im Rentenalter als Dolmetscher weiterar-beiten, das war Michael Feys Plan, als er vor vielen Jahren an die Konsequenz seiner Selbstständigkeit ohne Rentenvorsorge dachte. Doch es kam anders: Irgendwann ließ die Nachfrage nach seinen Diensten als Dolmetscher nach, auch weil viele sei-ner Kunden mittlerweile selbst Deutsch konnten. Gleichzeitig wurde Michael Feys private Krankenversicherung immer teurer. Die Rechnung ging nicht auf. Michael Fey ist auf Grundsicherung im Alter, die Sozi-alhilfe für Ältere, und auf Lebensmittel aus einer von bundesweit über 900 Tafeln an-gewiesen.

Als Zeitungsausträger verdient sich Mi-chael Fey ein kleines Zubrot. Wenn er bei Wind und Wetter seinen schweren Wagen kilometerweit durch die Gegend zieht und die Zeitungen gewissenhaft in die Briefkäs-ten steckt, kommt ihm immer wieder in den Sinn, dass ihm als Sozialhilfeempfän-ger 70 Cent von jedem erarbeiteten Euro wieder abgenommen werden. Phrasen wie »Leistung muss sich lohnen« klingen da wie Hohn in seinen Ohren. »Ich muss so sehr sparen, dass ich mir kaum noch Bücher leisten kann, geschweige denn neue Klei-dung oder eine angenehm geheizte Woh-nung«, sagt er.

Nicht alle Betroffenen »outen« sich mit Namen und Gesicht wie Michael Fey. Viele scheuen aus Scham den Weg zum Sozial-amt und verzichten auf Sozialleistungen, die ihnen zustehen. Anonym bleiben will auch Lieselotte W. (73). Sie wohnt im »Wohlstandsgürtel« um Stuttgart. Die ge-lernte Frisörin und zweifache Mutter arbei-tete bis zur Rente. Harte Arbeit und Dienst am Kunden verrichtete sie gerne. Heute bezieht sie eine ähnlich mickrige Alters-rente wie Ulrich F. Weil sie hin und wieder die Enkelkinder besuchen und beschenken will, geht sie regelmäßig putzen.

Schufterei im hohen AlterImmer mehr Seniorinnen und Senioren gehen im Rentenalter schuften – viele wegen Altersarmut.

Die Rente von Michael Fey (69) aus Bayern reicht zum Leben nicht. Er bekommt

Grundsicherung im Alter und verdient sich als Zeitungsausträger ein Zubrot.

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Fast vier Jahrzehnte lang hat auch Kerstin C. (67) aus Südniedersachsen in die Ren-tenkasse einbezahlt. Da sie ihre drei Kinder allein erzog, konnte sie lange nur in Teilzeit arbeiten. Mit 630 Euro Rente ist sie auf Grundsicherung, einen kleinen Nebenver-dienst und die Tafel angewiesen. Dort trifft sie regelmäßig Menschen, die trotz renom-mierter Berufe und guter Ausbildung allein von der Rente nicht leben können.

Immer mehr Menschen, die ein Leben lang redlich gearbeitet haben, landen im Alter unter der Armutsgrenze. Viele arbeiteten im Niedriglohnsektor oder waren zeitweilig arbeitslos, haben sich aufopferungsvoll um Kinder und Angehörige gekümmert oder konnten als Soloselbstständige keine Rücklagen bilden. Sie konnten sich die fragwürdige private Riester-Rente nicht leisten, die ohnehin voll auf die Sozialhilfe angerechnet wird. Für sie gibt es auch keine Betriebsrente. Anders als gut situ-ierte Senioren können sie von Urlaub und

Überwintern im warmen Süden nur träu-men. Anstatt den Lebensabend zu genie-ßen, tragen sie Zeitungen aus, füllen Re-gale, fahren Bus und Taxi oder putzen Betriebe und Wohnungen. Wer keinen Job findet, wühlt in Abfallkörben nach Pfand-flaschen.

Bundesweit gingen im März 2015 knapp 914 000 Menschen im Rentenalter einem Minijob nach, im Jahr 2003 waren es erst knapp 533 000. Nummer eins unter den Branchen ist mit fast 154 000 Minijobbe-rinnen und -jobbern im Rentenalter der Handel. Dies teilte die Bundesagentur für Arbeit der Bundestagsabgeordneten Sa-bine Zimmermann (DIE LINKE) mit. Zwar gebe es auch viele rüstige ältere Minijob-ber ohne Existenzsorgen, die gerne aktiv bleiben wollten, erklärt Zimmermann. »Aber immer mehr Ruheständler treibt nicht Spaß und Zeitvertreib, sondern Not zur Jobsuche.«

All dies ist nicht gottgewollt, sondern von Menschenhand gemacht. Seit der von SPD und Grünen durchgesetzten Rentenreform aus dem Jahr 2001 sinkt das Rentenniveau fast stetig. Die von CDU/CSU und SPD eingebrachte Anhebung der Regelalters-rente auf 67 Jahre bringt schmerzhafte Kürzungen für alle, die es nicht bis 67 schaffen – Niedriglöhne und Lücken in der Erwerbsbiografie tun das Übrige. So droht auch etlichen Durchschnittsverdienern die Altersarmut.

Dies bestätigt auch der Sozialverband VdK. »Durch das Absenken des Rentenniveaus befinden sich die Neurenten seit Jahren im Sinkflug, sodass immer mehr Rentner unter die Armutsschwelle rutschen«, warnt VdK-Präsidentin Ulrike Mascher.Hans-Gerd Öfinger

Sabine Zimmermann ist stellvertre-tende Vorsit-zende und arbeitsmarkt-politische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE

Die Rente muss zum Leben reichen Sabine Zimmermann kritisiert, dass immer mehr Rentnerinnen und Rentner arbeiten müssen.

Immer mehr Seniorinnen und Senioren haben einen Minijob. Diese Zunahme nicht als Beleg für die steigende Altersarmut zu verstehen, hieße die Augen vor der Realität zu verschließen.

Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass viele auf das zusätzliche Geld angewiesen sind, da ihre Renten nicht zum Leben reichen. Das Rentenniveau sinkt beständig und immer mehr Rentnerinnen und Rentner beziehen Grundsicherung im Alter. Die Zahl der Empfänge-rinnen und Empfänger stieg von 257 734 im Jahr 2003 auf 512 198 Ende 2014.

Rentnerinnen und Rentner sollen sich gerne etwas hinzuverdienen dürfen, verhindert werden muss aber, dass dies zum Überleben notwendig ist. Deswegen muss die gesetzliche Rente wieder existenz-sichernd sein. Das Rentenniveau muss wieder angehoben werden, auf mindestens 53 Prozent. Die Kürzungsfaktoren und die Rente erst ab 67 müssen abgeschafft, dafür muss die solidarische Mindestrente eingeführt werden.

Aber auch dem ausufernden Niedriglohnsektor muss ein Riegel vorgeschoben werden. Der Min-destlohn ist nicht ausreichend, damit Arbeit und auch die Renten wieder existenzsichernd werden. Dafür gibt es zu viele Ausnahmen, und mit 8,50 Euro ist der Mindest-lohn einfach zu gering bemessen.

Immer mehr Mini jobber im Rentenalter Menschen ab 65 Jahren, die einer geringfügig entlohnten Beschäftigung mit Einnahmen bis zu 450 Euro (Minijob) nachgehen: in Millionen Beschäftigte

Quelle: Bundesagentur für Arbeit.

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Weil Grundsicherung und Zuverdienst nicht ausreichen, muss Michael Fey regelmäßig

zur Tafel gehen, um Lebensmittel zu erhalten.

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Wer, wann, wo und mit wemIm Jahr 2010 hat das Bundesverfassungsgericht die Vorratsdatenspeicherung als verfassungswidrig zurückgewiesen. Jetzt haben CDU/CSU und SPD sie erneut beschlossen, obwohl diesem Gesetz dasselbe Schicksal prophezeit wird.

Stellen Sie sich vor, Sie könnten einen Brief nicht einfach so in einen Briefkasten wer-fen. Erst, wenn ein Sensor am Kasten Ab-sender- und Empfängeradresse erfasst hat, würde sich die Klappe öffnen, denn die Post muss auf Anweisung des Staats speichern, wer wann wem von wo etwas schickt. Ihren Ausweis, oder zumindest eine Meldebescheinigung, müssten Sie deshalb als Beweis für die Richtigkeit der Absenderadresse ebenfalls an den Sensor halten.

Wenn Ihnen diese Vorstellung unangenehm ist, haben Sie Grund zur Beunruhigung. Denn die Regierung will genau diese Infor-mationen erheben und speichern lassen – allerdings nicht für die traditionelle Post, sondern für die digitale Telekommunikation. Hier ist die Erfassung besonders leicht, und deshalb stellt sich für die Behörden die Frage besonders stark, warum sie da nicht zugreifen sollten.

Wer mit wem wann und von wo per Mobil-telefon kommuniziert hat, sollen fortan die Telekommunikationsanbieter prinzipiell für einen bestimmten Zeitraum speichern und Behörden auf Anfrage zugänglich machen. Dasselbe gilt für IP-Adressen, mit denen ein Computer beim Surfen im Internet identifi-ziert wird. E-Mails sind nicht betroffen.

Mitte Oktober passierte das Gesetz den Bundestag, Anfang November den Bundes-rat. Es sieht vor, dass Verbindungsdaten

zehn Wochen lang gespeichert werden müssen, Standortdaten vier Wochen lang. Ein Bundesratsantrag der Regierung Thü-ringens, wo DIE LINKE den Ministerpräsi-denten stellt, verwies auf die Unvereinbar-keit mit der EU-Grundrechtecharta. Diesem Antrag mochte sich aber nur Schleswig-Holstein anschließen. Im September schon hatte die EU-Kommissarin für Binnen-markt, Industrie und Unternehmen die Grundrechtsdefizite des deutschen Ge-setzentwurfs in einer Stellungnahme kriti-siert.

Ablehnung durch VerfassungsgerichtDieses Gesetz zur Vorratsdatenspeiche-rung hat eine Vorgeschichte. Ein ähnliches Gesetz wurde bereits im Jahr 2007 be-schlossen und trat im darauffolgenden Jahr in Kraft. Gegen dieses Gesetz gab es da-mals erheblichen Widerstand. Schon die Verfassungsbeschwerde gegen die erste Version der Vorratsdatenspeicherung wurde im Namen von 35 000 Menschen eingereicht, ein Rekordwert. Auch Berufs-verbände, deren Angehörige einen spezi-ellen Geheimhaltungsschutz in Anspruch nehmen können, sowie Politikerinnen und Politiker klagten. Auch der damalige Bun-desdatenschutzbeauftragte Peter Schaar teilte die Bedenken.

Im Jahr 2010 lehnte das Bundesverfas-sungsgericht die Vorratsdatenspeicherung

als verfassungswidrig ab. Es verdammte das Ansinnen aber nicht grundsätzlich. Dem Gericht zufolge muss klarer geregelt werden, wie die Daten sicher gespeichert werden und bei welchen Straftatbeständen die Behörden Zugriff haben sollen. Der starke Eingriff in die Privatsphäre sei nur bei einem »durch bestimmte Tatsachen begründeten Verdacht einer schweren Straftat« zulässig. Allgemein Gefahrenab-wehr oder Bedürfnisse von Geheimdiens-ten anzuführen, reiche nicht aus.

Nach diesem Urteil war es etwas stiller um das Thema geworden, auch die jährlichen Demonstrationen »Freiheit statt Angst« in Berlin fielen kleiner aus. Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung aber arbeitete weiter. Das Bündnis aus Organisationen und Initiativen sowie Einzelpersonen hat wiederholt Dokumente veröffentlicht – da-runter Beschwerden der heutigen Bundes-datenschutzbeauftragten –, die belegen sollen, dass die Telekommunikationsanbie-ter nicht immer vertrauenswürdig sind, was Datensicherheit angeht.

Auch Inhalte von SMS werden gespeichertIm Oktober wurde zudem bekannt, dass bei der erlaubten Speicherung der SMS-Verkehrsdaten die SMS-Inhalte ebenfalls erhalten bleiben, da beide zusammenhän-gen. Zwar ist der SMS-Text dann nicht ohne Weiteres einsehbar. Fakt ist aber, dass die

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Vorratsdatenspeicherung, anders als die politisch Verantwortlichen immer betont haben, auch zur Speicherung von Kommu-nikationsinhalten führt. In Zeiten von Da-tenbankeinbrüchen in großem Stil und allgegenwärtiger Geheimdienste ist das bedenklich.

Unabhängig davon sagt auch die Speiche-rung der sogenannten Metadaten – also wer wann mit wem von wo kommuniziert – viel über jeden Betroffenen aus. Bewe-gungs- und sogar Persönlichkeitsprofile sind damit in greifbarer Nähe. Das war das erste Argument von etlichen, mit denen der EU-Gerichtshof im Jahr 2014 die EU-Vor-ratsdatenspeicherungsrichtlinie für ungül-tig erklärte, auf die sich die einstige Bun-desregierung berufen hatte.

Zu alledem bringt der Arbeitskreis Vorrats-datenspeicherung vor, dass die Datenspei-

cherung Terrorismus nicht vorbeuge. Er kann dabei sowohl auf Studien als auch auf Aussagen hochrangiger Politiker und eines europäischen Polizeiverbands ver-weisen. In Frankreich gilt bereits eine einjährige Vorratsdatenspeicherung. Ob-wohl sie die Attentate vom 13. November nicht verhindert hat, und wohl auch nichts zu ihrer Aufklärung beiträgt, forderte die Gewerkschaft der Polizei umgehend die-selbe Regelung für Deutschland.

Neue Klagen angekündigtTrotz all dieser Kritik hat die Bundesregie-rung auf einem neuen Gesetz zur Vorrats-datenspeicherung bestanden. Bemerkens-wert dabei ist, wie wenig sich das aktuelle Gesetz an der höchstrichterlichen Recht-sprechung orientiert. Im August veröffent-lichte das Magazin Der Spiegel Dokumente

aus dem Justizministerium selbst, in de-nen hohe Beamte auf die unerfüllten Vorgaben des EU-Gerichtshofs verweisen. Im Juni schon war der wissenschaftliche Dienst des Bundestags zu demselben Er-gebnis gekommen. Ebenfalls im Juni kriti-sierte die Konferenz der Datenschutzbe-auftragten des Bundes und der Länder den Gesetzentwurf. Die Konferenz könne »nicht erkennen, dass die Regelungen grundrechtlichen Anforderungen genügen. Dies gilt namentlich für die Kommunika-tion mit Berufsgeheimnisträgern (zum Beispiel Abgeordneten, Ärzten, Rechtsan-wälten und Journalisten)«.

Nun klagen gerade Angehörige und zum Teil Verbände besagter Berufsgruppen wieder gegen das Gesetz zur Vorratsda-tenspeicherung. Experten räumen den Klagen gute Erfolgsaussichten ein.Ralf Hutter

Eingriff in ein Grundrecht

Halina Wawzyniak rechnet mit der Vorratsdatenspeicherung ab.

Bisher durften Telekommunikations-daten zu Abrechnungszwecken gespei-chert werden. Telekommunikationsan-bieter konnten darauf verzichten, wenn sie zum Beispiel ein datenschutzfreund-liches Geschäftsmodell anbieten wollten. Jetzt müssen sie Daten spei-chern: Verkehrsdaten für zehn Wochen, Standortdaten für vier Wochen.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem ersten Urteil zur Vorratsdaten-speicherung klargestellt, dass auch die

Vertraulichkeit der näheren Umstände des Kommunikationsvorgangs unter den Schutz von Artikel 10 des Grund-gesetzes fällt. Ob, wann und wie oft zwischen welchen Personen Kommuni-kation stattfindet, ist durch die Verfas-sung geschützt. Das gilt auch dann, wenn private Anbieter die Speicherung vornehmen.

Das ist das Kernproblem. Die Vorrats-datenspeicherung ist ein Eingriff in ein Grundrecht der Bürgerinnen und Bürger, dessen Erforderlichkeit sich nicht begründen lässt. Es wird immer wieder behauptet, sie diene der Strafverfolgung und der Gefahren-abwehr. Aber es gibt keinerlei Nach-weis, dass sie dafür erforderlich ist und ohne sie eine Schutzlücke entsteht.

Ein Rechtsstaat verlangt aber für einen Eingriff in ein Grundrecht, dass dieser erforderlich ist. Die Vorrats-datenspeicherung ohne Nachweis der Erforderlichkeit einzuführen, ist ein Angriff auf die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger. Das gehört sich in einer Demokratie nicht.

Halina Wawzyniak ist netzpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE

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»Ich wollte nicht zur Komplizin werden«

Jahrelang arbeitete Stéphanie Gibaud für die Schweizer Großbank UBS in Frankreich. Im Jahr 2009 zeigte sie ihren Arbeitgeber wegen des Verdachts auf Geldwäsche und Beihilfe zur Steuerhinterziehung an und brachte einen der größten Steuerskandale der jüngeren Geschichte ins Rollen.

Ihre Enthüllungen haben einen der weltweit größten Vermögensver­walter mächtig unter Druck gesetzt. In Frankreich ermittelt die Staats­anwaltschaft gegen die Schweizer Bank UBS und ihr französisches Tochterunter nehmen. Wie kam es, dass Sie Whistleblowerin wurden?Stéphanie Gibaud: Irgendwann habe ich realisiert, dass mein Arbeitgeber mögli-cherweise zu Steuervermeidung und Geldwäsche in Frankreich beiträgt. Ich wollte mich dabei nicht zur Komplizin machen. Aber das war keine Erkenntnis von einem Tag auf den anderen, sondern ein langwieriger Prozess.

Wann begann er?Im Juni 2008 wurde das Büro des Pariser Geschäftsführers durchsucht. Kurz zuvor hatte es einen riesigen Skandal in den USA gegeben, wo gegen die UBS wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung ermittelt wurde. Nach diesen Vorfällen forderte mich mein direkter Vorgesetzter auf, die Inhalte meiner Festplatte zu löschen. Ich befolgte die Anweisung nicht. Später sollte ich auch noch meine schriftlichen Unterlagen vernichten. Da fing ich an, Fragen zu stellen, auch an meine Vorgesetzten, aber

ich bekam keine Antworten. Ich brauchte sechs Monate, um alle Puzzleteile zusam-menzutragen. Im Jahr 2009 reichte ich dann eine Strafanzeige gegen meinen Arbeitgeber wegen Steuerhinterziehung, Geldwäsche und illegalen Verkaufs von Offshoreprodukten ein.

Mit welchem Ergebnis?Nichts passierte, aber zwei Jahre später wurde ich plötzlich von einem Journalisten kontaktiert. Er sagte mir, er recherchiere über die UBS und ihre Aktivitäten und hätte mich gern als Quelle.

Wie kam der Journalist darauf, Sie zu kontaktieren? Immerhin waren

Sie bis dato nicht öffentlich in Erscheinung getreten.Er sagte, er habe während seiner Recher-chen über die Bank von einem französi-schen Geheimdienstmitarbeiter den Hinweis erhalten, dass man mich über-wache: mein Handy, meinen Computer, einfach alles.

Gaben Sie dem Journalisten Informationen?Anonym. Sein Buch kam im Jahr 2012 raus und schlug ein wie eine Bombe. Zu dieser Zeit wurde dann auch für meine schon drei Jahre alte Klage ein Richter eingesetzt, der jetzt schon seit mehr als drei Jahren Untersuchungen gegen die UBS und zu ihren Geschäftspraktiken anstellt. Überall in Frankreich wurden Büros durchsucht, einige Kollegen wurden in Handschellen abgeführt, andere angeklagt.

Viele Jahre agierten Sie anonym. Wie kam es zu Ihrem ersten öffentlichen Auftritt?Über den Autor des Enthüllungsbuchs suchten Journalisten Kontakt zu mir. Das war im Jahr 2013, als der Skandal um UBS in Frankreich richtig groß wurde, und da sprach ich dann erstmals vor Kameras

Seit Jahren ermitteln die französi-schen Behörden gegen die Schweizer Bank UBS und deren Umfeld; im März dieses Jahres wurde ein offizielles Ermittlungsverfahren eröffnet. Die französischen Behörden vermuten, dass die Bank über Jahre vermögen-den Franzosen beim Steuer-betrug gehol-fen habe.

Whistleblowerin Stéphanie Gibaud

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über die Vorgänge. Wegen der ersten Interviews wurde ein Verleger auf mich aufmerksam und bot mir an, ein Buch über meine Geschichte zu schreiben, das im Jahr 2014 veröffentlicht wurde und für Schlagzeilen sorgte. Seitdem kontaktieren mich viele Menschen, die in Botschaften, Banken und Ministerien arbeiten und Skandale öffentlich machen wollen.

Was machen Sie mit diesen Menschen?Ich unterstütze sie, ich berate sie und vermittle ihnen Kontakte, beispielsweise zu Journalisten, damit ihre Informationen publik werden. Das Hauptproblem ist: Es gibt keinen Schutz von Whistleblowern. Wenn du etwas herausfindest, bist du diejenige, die rausgeschmissen wird. Du als Whistleblowerin bist diejenige, die alles verliert. Die Unternehmen hingegen haben die Macht und die Kraft, vor allem finanziell, weiterzumachen.

Man liest, dass Sie zusammen mit anderen Whistleblowern eine Plattform für Whistleblower gründen wollen. Was verbirgt sich dahinter?Wir versuchen, eine internetbasierte Plattform für Whistleblower zu entwickeln, damit sie miteinander kommunizieren und Erfahrungen austauschen können. Ich und andere Whistleblower haben die Erfahrung gemacht, wie schwer es ist, vereinzelt zu sein. Die Lehre daraus ist für uns: Whist-leblower müssen vereint arbeiten, um voranzukommen, denn ein Whistleblower hat es meistens mit einem übermächtigen Gegner zu tun, einem Filz aus Politik, Wirtschaft und dem großen Geld. Es geht darum, diese Menschen zu unterstützen.

Wie sieht diese Unterstützung konkret aus?Als Whistleblower ist man immer ein Anfänger. Man weiß vieles einfach nicht: mit wem reden, welchen Anwalt nehmen, wie die riesigen Anwaltshonorare bezah-len, wie sich schützen? Für all das braucht ein Whistleblower Unterstützung, und die wollen wir organisieren. Zudem sammeln wir Spenden und suchen Firmen, die Whistleblowern Jobs anbieten, denn viele verlieren ihre Arbeit und finden keine mehr – so wie ich.

In Deutschland sagt man: Die Menschen lieben den Verrat, aber nicht den Verräter. Beschreibt das das Problem von Whistleblowern?Ich sage immer: doppeltes Urteil. Du verlierst deinen Job, die Gesundheit, deine Freunde, eigentlich alles, weil du die Wahrheit sagst und ehrlich bist. Und dann hast du noch die öffentliche Meinung der Menschen gegen dich, die dich dafür verurteilen, dass du etwas verraten hast. Aber Dinge, die von öffentlichem Interesse sind, müssen gesagt und veröffentlicht werden. Dass der Nachbar seine Frau betrügt, ist nicht von Interesse, aber wenn Medikamente Menschenleben gefährden oder Banken den Staat betrügen, dann muss das publik werden.

Warum unternehmen Staaten wie Frankreich oder Deutschland nichts, um Whistleblower besser zu schützen?Weil Whistleblower sehr sensible Themen ansprechen. Im Falle der Finanzindustrie wissen wir jetzt, dass die Top-Politiker extrem eng mit den Banken verbandelt sind. Stichwort Lobbyismus: Der Finanz-sektor gibt für Lobbyarbeit nur bei den europäischen Institutionen mehr als 120 Millionen Euro pro Jahr aus. Die einfache Wahrheit lautet: Informationen sind besser geschützt als Whistleblower.

Von welchen Informationen sprechen Sie?Von Bank- und Staatsgeheimnissen, Verteidigungsgeheimnissen und zukünftig in Europa sogar von Unternehmensgeheim-nissen, die per Gesetz geschützt sind.

Sie meinen die geplante EU­ Richtlinie zu Geschäftsgeheimnis­sen, die schon von Journalisten­verbänden und Gewerkschaften heftig kritisiert wurde?Ja, diese Richtlinie würde es Unternehmen erlauben, um es mal ganz einfach zu sagen, alle internen Informationen, wie

etwa illegale Steuertricks oder andere für die Gemeinschaft schädliche Geschäfts-praktiken, unter Geheimnisschutz zu stellen. Damit würde sich ein Mitarbeiter, der dies der Öffentlichkeit berichtet, strafbar machen.

Was muss Ihrer Meinung nach passieren?Wir brauchen endlich Gesetze, die Whistleblower schützen. Von dem Moment an, wo jemand auftaucht und Informatio-nen und Dokumente bereithält, die von generellem Interesse für die Gesellschaft sind, muss sie oder er geschützt werden.

Das Interview führte Benjamin Wuttke.

Whistle- blower- schutz Schon seit vielen Jahren setzt sich DIE LINKE für einen Schutz von Whist-leblowern ein, unter anderem mit verschiedenen parlamentarischen Initiativen, die jedoch immer wieder von den Regierungskoalitionen abge-blockt wurden. Zuletzt stellte sie den Antrag »Gesellschaftliche Bedeutung von Whistleblowing anerkennen – Hinweisgeberinnen und Hinweisge-ber schützen«.

Nachzulesen hier: gleft.de/15b

Steuerflucht und Steuerdumping Wer mehr über die Tricks der großen Unternehmen wie McDonald’s und Google beim Steuerdumping erfahren will, wer wissen will, wie Steueroasen funktionieren und wie sich das alles verhindern ließe, dem sei die neueste Broschüre der Fraktion DIE LINKE. im Europä-ischen Parlament empfohlen: Lux Leaks: von Oasen und Briefkästen.

Kostenlos runterladbar unter: gleft.de/15c

Anfang November trifft Sahra Wagenknecht (l.),

Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE, Stéphanie

Gibaud in Berlin.

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Krieg im arabischen ArmenhausSeit März bombardieren Saudi-Arabien und seine Verbündeten Dörfer und Städte im Jemen. Mehr als 1,5 Millionen Menschen sind auf der Flucht vor einem Krieg, über den man hierzulande oft wenig erfährt.

In den frühen Nachtstunden des 26. Oktober 2015 er-schüttern die ersten De-tonationen das kleine Krankenhaus im Bezirk Hajdan, im Nordwes-ten des Jemens, das von der internationalen Organisation Ärzte ohne Grenzen betrieben wird. Zwar gelingt es Pa-tienten, Ärzten und Pflege-kräften, ins Freie zu fliehen. Doch der mehr als zweistündige Raketenbeschuss zerstört das Gebäude vollständig. Fortan haben, laut Ärzte ohne Grenzen, 200 000 Menschen keinen Zugang mehr zu lebenswichtiger medizinischer Hilfe.

Dieser Angriff ist einer von unzähligen Luftangriffen im Jemen, für die seit Ende März 2015 ein von Saudi-Arabien geführtes Militärbündnis verantwortlich ist, zu dem beispielsweise die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar und Kuwait gehören. Unter-stützung erhalten sie von den USA, Groß-britannien und Frankreich.

Aus der Luft, zu Wasser und seit einiger Zeit auch am Boden führt dieses Bünd-nis Krieg gegen Rebellen und Milizen, die den Übergangspräsidenten Abed Rabbo Mansur Hadi im März ver-trieben und Teile

des Landes eingenommen haben. Bei Luftschlägen dieser Militärallianz starben mittlerweile mehr als 5 000 Menschen, vor allem Zivilistinnen und Zivilisten. Zehn-tausende Menschen wurden verletzt und verstümmelt, unzählige Dörfer

und Städte in Schutt und Asche gelegt. Der Präsident des Internationalen Komi-tees vom Roten Kreuz, Peter Maurer, sagte nach einem Besuch in den Trümmern der Hauptstadt Sanaa: »Nach fünf Monaten Krieg sieht der Jemen bereits aus wie Sy-rien nach fünf Jahren Krieg.«

Doch auch schon davor hatte es die Bevöl-kerung schwer. Jahrzehntelang wurden sie von Diktator Ali Abdullah Salih unterdrückt. Der bot sich den USA als Verbündeter an und gestattete dem US-amerikanischen Geheimdienst CIA, jahrelang Ziele im Sü-den des Landes mit Kampfdrohnen anzu-greifen. Im Jahr 2011 erhob sich ein Teil der Bevölkerung gegen den Diktator. Aus Angst, der Widerstand könne auf das ei-gene Land übergreifen, bemüht sich die benachbarte Regionalmacht Saudi-Arabien seitdem, die Kontrolle über das Land zu bekommen. Unter saudischer Führung wurde im Jahr darauf ein Deal eingefädelt, der den Rücktritt von Salih vorsah, aber das alte Regime bestehen ließ. Als im Jahr 2014 Hunderttausende Stammesangehö-rige der Huthi gegen dieses prosaudische

Im Jemen leben rund 24,5 Millionen Menschen

auf einem Gebiet, das etwa eineinhalb Mal so groß ist wie

Deutschland. Das Land gilt als Armen-haus der arabischen Welt: Laut Schät-zungen leben rund 40 Prozent der Be-völkerung in Armut, es existiert keine Sozialversicherung, weniger als die Hälfte der Bevölkerung ist an das Stromnetz angeschlossen.

Saudi-Arabien

Äthiopien Somalia

Eritrea

Sudan

Iran

Katar

VAE

Oman

Jemen

Ein Junge steht in den Trümmern eines Wohn-hauses in Sanaa, der Hauptstadt des Jemen. Bei diesem Luftangriff der saudischen Militärallianz starben Mitte September mindesten 20 Menschen.

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Regime rebellierten und Teile des Landes eroberten, entschied sich Saudi-Arabien zum Angriff. Die Huthi gelten als Verbün-dete des Iran, der mit Saudi-Arabien um die regionale Vorherrschaft kämpft.

Der Krieg wird von beiden Seiten ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung geführt. Laut den Vereinten Nationen benötigen derzeit rund 21 Millionen Jemenitinnen und Jemeniten, etwa 80 Prozent der Bevölke-rung, Hilfe von außen. Es mangelt an Le-bensmitteln, an Trinkwasser und an medi-zinischer Versorgung. Rund 1,5 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Der UN-Chef für humanitäre Hilfe, Stephen O’Brien, urteilt: »Das Ausmaß des menschlichen Leidens ist unbeschreiblich.« Die Situation wird von Tag zu Tag dramatischer: Kriegs-schiffe der Militärallianz blockieren die meisten jemenitischen Häfen und behin-dern die Einfuhr von Reis, Gemüse, Medi-kamenten und Werkzeug.

Deutschland unterstützt die saudi-arabi-sche Militärallianz nach Kräften, vor allem durch Rüstungslieferungen. Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar, alle am Krieg im Jemen beteiligt,

zählen seit Jahren zu den besten Kunden der deutschen Rüstungsindustrie.

Der Ausbruch des Kriegs hat die Bundes-regierung nicht dazu veranlasst, Rüstungs-exporte in die beteiligten Länder zu stop-pen. Im Gegenteil: Im Juni 2015 hat der Bundessicherheitsrat beispielsweise die Ausfuhr von 15 Patrouillenbooten an Saudi-Arabien genehmigt – in vollem Wissen um die Seeblockade, unter der die jemeniti-sche Bevölkerung leidet. Jüngst wurde auch der Export von Kampfpanzern und Haubitzen an Katar genehmigt. Und die Vereinigten Arabischen Emirate, die im Jemen mit Bodentruppen präsent sind, erhielten unlängst die Erlaubnis für den Import von vollautomatischen Gewehren und Maschinenpis-tolen. Die verteidi-gungs-

politische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, Christine Buchholz, forderte in einer Rede im Bundestag, Deutschland solle Trinkwasser, Nahrung und Medika-mente in den Jemen liefern. »Das sind Dinge, die die Menschen brauchen, nicht Kampfpanzer und Militärboote.«

Dass übrigens bisher sehr wenige Men-schen aus dem Jemen in Deutschland um Asyl gebeten haben, hat einen einfachen Grund: Es ist ihnen nämlich kaum möglich, ihr Land zu verlassen. Saudi-Arabien hat die Landesgrenze abgeriegelt, und wegen der Seeblockade ist ihnen auch der Flucht-weg über das Rote Meer versperrt.Ruben Lehnert

Jan van Aken, Rüstungsexperte der Fraktion DIE LINKE, analysiert den Export von Kriegswaffen an arabische Dikta-turen und wirbt für eine einfache Lösung.

Die Bundesregierung hat jüngst die Lieferung von vier Kampfpanzern und drei Panzerhaubitzen an die Diktatur Katar genehmigt. Wie ist das möglich, immerhin befeuert das Land den Bürgerkrieg in Syrien und führt im Jemen Krieg?Jan van Aken: Diese Bundesregierung hat bei den Waffenexporten offenbar jegliche Hemmung verloren. Deutschland liefert Panzer mitten hinein in den Krieg. Die Regierung macht sich mitschuldig an den Toten im Jemen.

Sigmar Gabriel (SPD), als Wirt­schaftsminister für die Genehmigung von Waffenexporten verantwortlich, verweist darauf, dass diese Lieferun­gen noch von der vorherigen Regie­rung eingefädelt wurden.

Fakt ist, dass er diesen Export hätte stoppen können und es nicht getan hat, obwohl Katar seit Monaten am Krieg im Jemen beteiligt ist. Jetzt versucht er hektisch, die Schuld auf andere zu schieben.

Auch andere Despoten am Golf, die im Jemen Krieg führen, dürfen weiterhin deutsches Kriegsgerät kaufen.Allein die genehmigten Rüstungslieferun-gen an Saudi-Arabien, das die Kriegsallianz im Jemen anführt und generell von Menschenrechten nichts hält, sind in diesem Jahr gestiegen. Und noch in der letzten Sitzung des Bundessicherheitsrats im Oktober haben Kanzlerin Angela Merkel und Sigmar Gabriel die Lieferung von Maschinenpistolen und Gewehren an die Vereinigten Arabischen Emirate genehmigt. Die Emirate sind mit Bodentruppen im Jemen, und Merkel und Gabriel drücken ihnen die Waffen dafür in die Hand!

Was ist aus Gabriels Ziel geworden, bei Rüstungsexporten strengere Kriterien anzulegen?Aktuelle Zahlen belegen, dass das nur hohles Gerede war: Die Rüstungsexporte

im ersten Halbjahr 2015 haben nahezu das Volumen des gesamten Vorjahres erreicht, jeweils mehr als 6 Milliarden Euro. Im Jahr 2015 genehmigt die Regierung damit aller Voraussicht nach Rüstungsexporte in Rekordhöhe.

Was fordert DIE LINKE?Unser Ziel ist ein generelles Verbot von Waffenexporten. Gabriels Ankündigungen und seine tatsächliche Politik zeigen: Wir kommen nur mit klaren Verboten weiter. Sonst findet sich immer irgendein Grund, irgendjemand doch etwas zu liefern. Und vollkommen klar ist, dass in einem ersten Schritt gesetzlich verankert werden muss, dass an Krieg führende Staaten nichts geliefert wird – kein Panzer, kein Gewehr und nicht einmal eine Schraube dafür!

»Deutschland liefert Panzer mitten hinein in den Krieg«�

Jan van Aken ist außenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE

Ein Leopard-Kampf-panzer des deutschen

Rüstungskonzerns Krauss-Maffei

Wegmann

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Altersarmut, Selbstständige mit Hartz IV und Krieg in der Ukraine

Woche für Woche fühlt die Fraktion DIE LINKE der Bundesregierung mit parlamentarischen Anfragen auf den Zahn. Was die Regierung gerne verheim-licht, kommt so ans Licht. Das ist wichtig für die Betroffenen und für die Öffentlich-keit. Oft sind diese Anfragen auch für Journalistinnen und Journalisten der Stoff, aus dem sie ihre Artikel weben. So auch bei den folgenden Anfragen.

Um im Ruhestand eine Rente zu erhalten, die über der aktuellen Grundsicherung im Alter von 769 Euro liegt, müsste ein Beschäftigter bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Wochenstunden einen

Stundenlohn von 11,50 Euro be-kommen. Das musste das Bun-desarbeitsminis-terium auf eine schriftliche Frage des rentenpoliti-schen Sprechers der Bundestags-fraktion DIE LINKE, Matthias W. Birk-wald, einräumen. Der Mindestlohn von aktuell 8,50 Euro ist somit ganze 3 Euro zu niedrig, um nach 45 Jahren Erwerbs-arbeit eine Rente zu beziehen. Die Süddeutsche Zei-tung berichtete aus-führlich über die parlamentarische

Anfrage und sprach exklusiv mit Matthias W. Birkwald. Der Zeitung sagte er: »Wir brauchen ein höheres Rentenniveau, um Rentner vor weiteren Kaufkraft-verlusten zu schützen.«

Nur jede vierte Klinik ist auf Sterbende vorbereitetFür die Hälfte der Menschen in Deutschland endet das Leben in einem Krankenhaus. Eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung von Birgit Wöllert, Abge-ordnete der Fraktion DIE LINKE, ergab nun, dass gerade einmal 500 von 2 000 Kliniken in Deutschland speziell darauf vorbereitet sind, Sterbende zu betreuen. Jährlich ver-bringen rund 440 000 Menschen ihre letzten Tage in einer Klinik. Aber nur 58 691 bekamen im vergangenen Jahr eine spezi-elle palliativmedizinische Versorgung. Birgit Wöllert, Gesundheits- und Pflege-expertin der Fraktion DIE LINKE, sprach mit der Zeitung Rheinische Post über ihre Anfrage und forderte: »Bedarfsgerechtig-keit muss endlich Maßstab der Gesund-heitsversorgung werden. Das gilt beson-ders für die stationären Angebote zur

Palliativ- und Hospizversorgung.« Ein Defizit sehe sie insbeson- dere in den Pflegeheimen: »Auch schwerstkranke und sterbende Menschen in Pflegeheimen müssen denselben Anspruch auf eine hoch-wertige Versorgung haben wie Menschen im stationären Hospiz«, sagte Wöllert.

Hunderttausend Selbstständige müssen Hartz IV aufstockenDie Zahl der Selbstständigen, die ergänzendes Arbeitslosengeld II erhalten, hat sich seit dem Jahr 2007 verdoppelt: Bezogen damals 66 910 Selbstständige Hartz-IV-Leistungen,

waren es im Mai dieses Jahres 119 275. Das geht aus der Antwort des Statistischen Bundesamts auf eine Anfrage von Sabine Zimmermann (DIE LINKE) hervor. Die On-line-Nachrichtenseite n-tv.de sprach mit der Arbeitsmarktexpertin über diese pre-käre Situation von Selbstständigen und fasste zusammen: »Die LINKEN-Politikerin forderte die Bundesregierung auf, die Rah-menbedingungen für Selbstständige zu verbessern. Sie regte unter anderem an, über die Einführung eines Mindesthonorars für Soloselbstständige zu diskutieren. Der Beitrag zur Krankenversicherung für Gering-verdienerinnen und Geringverdiener müsse zudem reduziert werden; die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung müssten sich am realen Einkommen orientieren.«

Auf den Zahn gefühlt

Auf den Zahn gefühlt

vom 5. Oktober 2015

vom 20. Oktober 2015

vom 27. Oktober 2015

Seite 36 / Nr. 38 clara.

Page 37: Clara Nr. 38 Nein zum Krieg! Für entschlossene Friedenspolitik

Deutsche schuften immer häufiger in zwei JobsEine weitere brisante Antwort auf eine Frage bekam Sabine Zimmermann, ar-beitsmarktpolitische Sprecherin der Frak-tion DIE LINKE, von der Bundesagentur für Arbeit: Immer mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen neben ihrer regulären Arbeit noch in einem Minijob schuften, weil Lohn und Gehalt nicht zum Leben ausreichen. Die Zeitung Die Welt widmete sich dem Thema ausführlich in einem Artikel mit dem Titel »Nach der Ar-beit ist vor der Arbeit«. Seit dem Jahr 2004 hat sich die Zahl der Menschen, die zweitjobben müssen, um über die Runden zu kommen, um mehr als 1 Million erhöht: Im März 2004 waren es nach Angaben der Bundesagentur für Ar-beit weniger als 1,4 Millionen, im März 2015 bereits mehr als 2,4 Millionen. Die Welt schreibt dazu: »Ein ›absolutes Alarm-zeichen‹ sei das, meint Sabine Zimmermann, Bundestagsabgeordnete der Linken. ›Der über wiegende Teil dürfte dies aus purer fi-nanzieller Not tun und nicht freiwillig, wie manch einer mutmaßen mag.‹ Ein Arbeits-verhältnis, von dem man le-ben könne, sei offensichtlich für viele mehr Wunsch als Realität.«

Behinderung von OSZE-Aufklärung in der UkraineBeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusam-menarbeit in Europa (OSZE) haben große Probleme, klare Lagebilder aus den Konflikt-zonen im Südosten der Ukra-ine zu bekommen. Sowohl Regierungstruppen als auch

Rebellen würden versuchen, eine Aufklärung der Ereignisse im Kriegsgebiet zu verhindern. Die Bundesregierung schreibt auf An-frage der Fraktion DIE LINKE in ihrer aktuellen Bilanz der OSZE-Mission: »Drohnen werden regelmäßig elektro-nischen Störsen-dern wie auch ver-einzelt direktem Beschuss über dem Gebiet der Separa-

tisten ausgesetzt.« Über dem von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiet sei es vereinzelt ebenfalls zu funk-elektronischen Angriffen gekommen. Aus der Antwort der Bundesregierung geht auch hervor, dass beide Seiten massiv aufgerüstet haben. Die Regierungstruppen wurden innerhalb eines Jahres von 32 000 auf 73 000 Soldaten verstärkt, nach ukra-inischen Angaben gebe es 33 000 prorus-sische Kämpfer sowie 9 000 russische Soldaten in der Region.»Die militärischen Arsenale auf beiden Seiten müssen dringend abgebaut wer-den«, erklärte Katrin Kunert, Expertin für Außenpolitik der Fraktion DIE LINKE, der Rheinischen Post. Nicht erst die Über-nahme des OSZE-Vorsitzes im Jahr 2016 solle Deutschland nutzen, um mit der Bei-legung des Konfliktes voranzukommen. »Die Bundesregierung muss den Druck auf die ukrainische Regierung erhöhen, damit diese in direkte Verhandlungen mit Vertre-

tern der abtrünnigen Donbass-Regionen eintritt«, erklärt Kunert.

Deutsche Renten für spanische AltnazisDie Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage des Abgeordnete Andrej Hunko (DIE LINKE) offenbarte einen Skan-dal, über den Berliner Zeitung und Frankfur-ter Rundschau berichteten: Auf Grundlage eines Vertrags zwischen Exbundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) und dem spani-schen Diktator Francisco Franco aus dem Jahr 1962 erhalten ehemalige Mitglieder der Blauen Division – Spanier, die im Zweiten Weltkrieg an der Seite der Wehrmacht ge-

gen die Sowjetunion kämpften – und deren Hinterbliebene bis heute Ver-sorgungszahlungen. Diese belaufen sich nach Angaben der Bundesregie-rung aktuell auf jährlich 107.352 Euro. Von 1941 bis 1943 kämpften etwa 47 000 spanische Soldaten aufsei-ten der Wehrmacht gegen die Sow-jetunion. Das kritisiert Andrej Hunko: »Es ist ein Skandal, dass Deutsch-land mehr als 70 Jahre nach Kriegs-ende noch immer jährlich über 100.000 Euro an Nazikollaborateure bezahlt.« Es sei völlig unverständ-lich, »dass die Bundesregierung an diesen Versorgungszahlungen fest-hält, während so viele Opfer des Krieges bis heute auf Entschädi-gungen warten«. Sophie Freikamp

vom 4. November 2015

vom 31. Oktober 2015

vom 4. November 2015

Nr. 38/ Seite 37clara. Auf den Zahn gefühlt

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Seite 38 / Nr. 38 clara.Einblicke

Berlin. Jürgen Müller, Mitarbeiter der

Fraktion DIE LINKE im Bereich Öffent-

lichkeits arbeit, spen- dete Ende November

Stammzellen. Empfän-ger ist ein 54-jähriger

Mann aus den USA, der an Leukämie

leidet. Helfen auch Sie, den Blutkrebs zu besiegen: Registrie-rung unter dkms.de

Erftstadt. Matthias W. Birkwald (Mitte) besuchte die Flücht-lingsunterkunft in einem ehemaligen Schulungsgebäude eines Versicherungskonzerns. Eine Bowlingbahn wurde zur Kleider-kammer umgebaut. Die Spendenbereitschaft aus der Bevölke-rung sei nach wie vor erfreulich hoch, sagte Birkwald.

Berlin. Anfang November empfing Eva Bulling-Schröter (Mitte, mit rotem Schal) 50 energiepolitisch interessierte und engagierte Bürgerinnen und Bürger aus Bayern im Bundestag. Im Rahmen einer vom Bundes-

presseamt finanzierten Reise diskutierten sie auch mit Vertretern des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, der Bundesnetzagentur

und des Übertragungsnetzbetreibers 50Hertz Transmission GmbH.

Diyarbakır/Türkei. Karin Binder (6. v. r.) und Heike Hänsel (2. v. r.) gehörten Anfang November zu den Wahlbeobachte-rinnen aus 18 Ländern in der Türkei. In der kurdischen Stadt kam es dabei auch zur Begegnung mit Vertreterinnen und Vertretern der kurdischen Partei HDP.

Berlin. Die Fraktion DIE LINKE würdigte Mitte November mit einer Gedenkveranstaltung das Leben von Gerhard Zwerenz. Der einstige

parteilose PDS-Bundestagsabgeordnete und Schriftsteller war im Juli verstorben. Diether Dehm trug bei der Veranstaltung im

Bundestag unter anderem Lieder und Texte vor.

Berlin. Mitte November demonstrierten Friedensaktivisten vor dem Bundestag für ein Ende der Auslandseinsätze der Bundes-wehr. Sie forderten ein sofortiges Verbot für Rüstungsexporte, somit auch keine Panzerlieferungen nach Katar. Mit dabei waren Heike Hänsel, Kathrin Vogler, Inge Höger, Hubertus Zdebel (v. l.) und Annette Groth (2. v. r.).

Einblicke

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Berlin. Gesine Lötzsch ist zu Gast bei Schülerinnen und Schülern der Klasse 10 d des Leibniz-Gymnasiums. Dabei geht

es um einen Wettbewerbsbeitrag für Schülerzeitungen zum Thema »Armut und Obdachlosigkeit«. Dazu zitierte die Abge-

ordnete Bertolt Brecht: »Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an. Und der Arme sagte bleich:

›Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.‹«

Hoyerswerda. Caren Lay (r.) und Petra Pau

trafen im Oktober in Hoyers- werda Vertreterinnen und

Vertreter verschiedener Willkommensbündnisse,

die sich um Flüchtlinge kümmern. Gleichzeitig

beklagten die beiden Abgeordneten die wach-

sende Gewalt rechter Gruppen gegen sozial

engagierte Menschen. Das Büro von Caren Lay war

bereits mehrfach Ziel von Angriffen geworden.

Bad Saarow. Während der Fraktionsklausur waren auch linke Kommunal-politikerinnen und -politiker zu Gast. Thema war die aktuelle Situation bei der

Aufnahme von Flüchtlingen. Kornelia Wehlan (Landrätin Teltow-Fläming, Brandenburg), Michaela Sojka (Landrätin Altenburger Land, Thüringen), Sahra

Wagenknecht, Dietmar Bartsch, Dominike Pauli (Fraktionsvorsitzende Frank-furter Römer), Angelika Gramkow (Oberbürgermeisterin Schwerin), Barbara

Schmidt (Fraktionsvorsitzende Bielefeld), Malte Krückels (Bevollmächtigter des Freistaates Thüringen beim Bund; v. l.n. r.) forderten von der Bundesregierung,

die Kommunen besser mit Finanzen und Personal für die Aufnahme und Betreuung von Flüchtlingen auszustatten.

Gorlowka/Südostukraine. Wolfgang Gehrcke (vorn) und Andrej Hunko übergeben im Kinderkrankenhaus Medikamente aus ihrer Spendeninitiative. Ein Teil der Hilfe kommt dem Kinderkrankenhaus Lugansk zugute, das im Norden der Region mehr als 16 000 Kinder versorgt.

Zwickau. Sabine Zimmermann (2. v. r.) und Jörn Wunderlich (r.) übergaben im Oktober im SOS-Kin-derdorf Spielgeräte. Diese wurden von einem Teil der 100.000 Euro gekauft, die von den Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE gespendet wurden.

Berlin. Dietmar Bartsch und Gregor Gysi trafen Boliviens Präsidenten Evo Morales (v. l.n. r.) Anfang November in Berlin. Der Präsident kämpfe leidenschaftlich für eine eigenständige politische und ökonomische Entwicklung des Landes und für einen Wissens-transfer. Evo Morales mache eine Politik, die viele Menschen aus der Armut herausführe und unsere Unterstützung verdiene, sagten die Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE.

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Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das Tarifeinheitsgesetz abgelehnt In einem Beschluss vom 6. Oktober 2015 (1 BvR 1588/15) hat das Bundesverfas-sungsgericht (BVerfG) eine einstweilige Anordnung gegen das Tarifeinheitsgesetz abgelehnt. Vor das BVerfG waren soge-nannte Berufsgruppengewerkschaften, unter anderem die Ärztegewerkschaft Marburger Bund und die Pilotenvereini-gung Cockpit, gezogen. Mit dem neuen Gesetz müssen Tarifverhandlungen be-kanntgegeben werden. Alle konkurrieren-den Gewerkschaften müssen gehört werden. Wenn ein Arbeitgeber einen Ta-rifvertrag für einen Betrieb schließen möchte, in dem die Beschäftigten in un-terschiedlichen Gewerkschaften organi-siert sind, kann eine Gewerkschaft bean-tragen, dass ein Arbeitsgericht den Kollisionsfall feststellt. Stellt das Gericht einen solchen Kollisionsfall fest, gilt das Mehrheitsprinzip. Das bedeutet, es gilt der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft,

die in dem jeweiligen Betrieb die meisten Mitglieder hat. Die klagenden Berufsgrup-pengewerkschaften argumentierten, durch das Tarifeinheitsgesetz würden Arbeitgeber sich weigern, Tarifverhand-lungen aufzunehmen, teilweise würde die Offenlegung der Mitgliedschaft in Bran-chengewerkschaften gefordert und ohne einstweilige Anordnung würden »kaum mehr korrigierbare organisations- und verbandspolitische Entscheidungen« zu treffen sein, die zu Mitgliederverlusten oder atypischen Vertragsabschlüssen führen würden. Obwohl die Verfassungs-beschwerden nicht offensichtlich unbe-gründet sind, hat das BVerfG eine einst-weilige Anordnung abgelehnt. Es sei derzeit nicht feststellbar, dass bei Fort-geltung des Gesetzes bis zur eigentlichen Entscheidung die Nachteile so gravierend und schwer revidierbar seien, dass es unabdingbar wäre, das Gesetz außer Voll-zug zu setzen. Dies würde nur in Betracht kommen, wenn den klagenden Berufs-gruppengewerkschaften das Aushandeln von Tarifverträgen langfristig unmöglich gemacht werden würde und das Fortgel-ten des Gesetzes schon jetzt zu einer Mitgliederveränderung in dem Umfang führen würde, dass die Tariffähigkeit in-frage gestellt werden würde. Da das Ge-richt eine Entscheidung bis Ende 2016 anstrebe, sei dies nicht gegeben.

Sozialrechtlicher Unterhaltsbedarf und Heimunterbringung Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit

Urteil vom 7. Oktober 2015 (XII ZB 26/15) über den Unterhaltsanspruch von sozial-hilfebedürftigen Eltern gegenüber ihren Kindern bei Unterbringung in einem Heim entschieden. Der BGH sieht einen Unter-haltsbedarf grundsätzlich durch die Un-terbringung in einem Heim und die regel-mäßig dort anfallenden Kosten als gedeckt an. Der angemessene Lebensbedarf von Eltern richte sich nach deren konkreter Lebenssituation. Wenn Eltern im Alter sozialhilfebedürftig werden, beschränkt sich der angemessene Lebensbedarf auf das Existenzminimum und damit auf eine einfache und kostengünstige Heimunter-bringung. Selbst wenn das Kind in besse-ren Verhältnissen lebt, hat dies auf den Unterhaltsbedarf der Eltern keinen Ein-fluss.

Keine Vergütung für ambulanten Pflegedienst bei nicht vertraglich vereinbarter Qualifikation Im Rahmen eines Urteils vom 8. Oktober 2015 (III ZR 93/15) urteilte der Bundesge-richtshof (BGH) zum Vergütungsanspruch eines ambulanten Pflegedienstes aus ei-nem Vertrag über ambulante Pflegeleistun-gen. Er entschied, dass kein Vergütungs-anspruch besteht, »soweit die eingesetzten Pflegekräfte nicht über die in dem Pflege-vertrag vorausgesetzte Qualifikation ver-fügten. Dies gilt unabhängig davon, ob die Leistungen im Übrigen ordnungsgemäß erbracht wurden.« Dies gilt zumindest dann, wenn die Leistungen nach Sozial-recht abgerechnet werden.

Ihr gutes RechtHalina Wawzyniak, Rechtsanwältin und Mitglied der Fraktion DIE LINKE, kommentiert für clara aktuelle Urteile.

Service

ServiceSeite 40 / Nr. 38 clara.

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Joseph E. Stiglitz, Bruce C. Greenwald: Die innovative Gesellschaft. Econ 608 Seiten 28 Euro

Beate und Serge Klarsfeld: Erinnerungen. Piper 624 Seiten 28 Euro

Wieder das richtige Buch zur richtigen Zeit! Auch die Bundesregierung trennt gern Ent-wicklungen wie den wachsenden Wider-stand gegen Freihandelsabkommen und die Eurokrise. Stiglitz und Greenwald wei-sen Zusammenhänge nach: »Präsident Ob-ama hat gesagt, dass diese Handelsab-kommen Arbeitsplätze schaffen werden. Doch diese Handelsabkommen haben sehr wenig mit neuen Jobs oder steigenden Löh-nen zu tun.« Sie sehen einen großen Teil der Probleme Europas als Resultat struk-tureller Fehler »und falscher politischer Ansätze, insbesondere der Sparpolitik«. Im Kern geht es ihnen um die lernende Gesell-schaft. Wenn im Zuge von Handelsabkom-men Arbeitsplätze ganzer Branchen kom-plett verlagert werden, gehen nicht nur Jobs, sondern geht auch Wissen verloren. Auf diese Weise können auch starke Volks-wirtschaften in die Schieflage geraten.

Manchmal verändert eine Sekunde alles. »Sie trug ein tailliertes blaues Kleid, ihre Silhouette gefiel mir, und als sie sich um-drehte, gefiel mir auch ihr klares, energi-sches Gesicht.« So erinnert sich Serge an den Augenblick, als er Beate das erste Mal sah. Beide trieben die Aufarbeitung der Na-ziverbrechen, die Jagd nach den Schuldi-gen am Holocaust, entscheidend voran. Allein der Bogen von Beates Ohrfeige für Bundeskanzler Kiesinger 1968 bis zur Kan-didatin als Bundespräsidentin im Jahr 2012 und zur Verleihung des Bundesverdienst-kreuzes 2015 macht ihre Erinnerungen zur spannenden Reise durch die europäische Nachkriegszeit. Doch vor allem sind sie die Geschichte einer großen Liebe, die alle Be-währungsproben bestand.Steffen Twardowski

Anja Reschke zählt zu den engagiertesten Fernsehjournalistinnen, in ihrer ARD-Sen-dung »Panorama« bringt sie die Dinge kri-tisch auf den Punkt. Im Sommer positio-nierte sie sich klar gegen Flüchtlingshetze. Für den Band »Und das ist erst der Anfang« suchte sie Autorinnen und Autoren, »die sich oft seit Jahren mit den Themen von Flucht und Vertreibung beschäftigen«. Sie berichten über Ursachen, Wege und Folgen von Flucht. Daniela Dahn fasst knapp zu-sammen: »Wer Kriege sät, wird Flüchtlinge ernten.« Auch das Versagen der deutschen und europäischen Politik wird ausführlich beleuchtet. Schließlich unterbreiten die Au-toren Vorschläge, wie die Integration dau-erhaft verbessert werden kann: »Wir befin-den uns in einer Zeit des Umbruchs, des Neudenkens, des Schärfens unserer Vor-stellungen.« Ein Teil des Verkaufserlöses wird der Flüchtlingshilfe gespendet. n »Seit jeher hat uns das Land, auf dem wir leben, geformt. Es hat die Kriege, die Macht, die Politik und die gesellschaftliche Entwick-lung der Völker geformt, die mittlerweile nahezu jeden Teil der Erde bewohnen.« So fasst Tim Marshall knapp zusammen, wie er die Macht der Geografie versteht. Er er-klärt, wie die kalte Arktis den Spielraum des riesigen Russlands begrenzt und die USA von ihrer vielfältigen Formation aus Ebenen, Gebirgen und Flüssen profitieren. Im euro-päischen Flachland konnten sich Handel und Kultur nahezu ungehemmt entwickeln, mit dem Lineal am grünen Tisch gezogene Grenzen im Nahen Osten und in Afrika sor-gen bis heute für schwere Konflikte. Insge-samt streift er durch zehn Regionen. Tim Marshall schrieb ein kluges Buch mit fri-schem, freiem Blick auf die Weltpolitik und die Geschichten dahinter.

Gängige Vorstellungen über den IS als mächtigste Terrororganisation lauten: Al-Qaida-Abspaltung, kriminelles Kartell, Got-teskrieger mit apokalyptischen Visionen. Für Christoph Reuter trifft keine dieser The-orien allein zu: »Die Paradoxie am Aufstieg des ›Islamischen Staates‹ liegt darin, dass er in dem Moment möglich wurde, als sich viele Menschen in Syrien – wie zuvor in Tu-nesien, Ägypten, Libyen – gegen Diktatur und Unterdrückung erhoben.« Er sieht im IS ein tödliches Bündnis aus ehemaligen Ge-heimdienstlern und Militärs des Saddam-Regimes im Irak mit Dschihadisten. Chris-toph Reuter beschreibt detailliert Aufbau und Entwicklung der Organisation, ihre Er-folge und Niederlagen. Er setzt sich mit ih-rer Wirtschaft und ihrer Propaganda ausei-nander, untersucht Strategien und Ziele. Leider wurden einige Szenarien inzwischen Realität. Wer sich darüber Gedanken macht, wie der Terrorexport gestoppt werden kann, kommt an diesem Buch kaum vorbei. n Zu-gegeben, der Titel »Garantiert beschissen!« klingt krass, doch das Buch hat es in sich. Holger Balodis und Dagmar Hühne nehmen die Versicherungswirtschaft von allen Sei-ten penibel unter die Lupe, ihr hartes Fazit: »Hier wird das Volk zur Beute von Politik und Versicherungswirtschaft. Und die vermeint-liche Altersvorsorge wird zum Selbstbedie-nungsladen.« Wie kam es dazu? Vor allem der inzwischen breite Niedriglohnsektor drückt das Niveau, zudem zahlen Selbst-ständige, Freiberufler, Beamte und Politiker nicht in die Rentenkasse ein. Doch damit nicht genug, »die Qualität der Lebens- und Rentenversicherungen ist ein Desaster, heute noch mehr als früher. Über 80 Prozent der Kunden werden damit effektiv Geld ver-lieren.« Statt für eine auskömmliche Rente zu sorgen, haben Bundesregierungen den Markt für die Versicherungsunternehmen geschaffen.

Holger Balodis, Dagmar Hühne: Garantiert beschissen! Westend 256 Seiten 17,99 Euro

Christoph Reuter: Die schwarze Macht. DVA Sachbuch 352 Seiten 19,99 Euro

Tim Marshall: Die Macht der Geographie. dtv 304 Seiten 22,90 Euro

Anja Reschke (Hg.): Und das ist erst der Anfang. Rowohlt 336 Seiten 12,99 Euro

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Service Nr. 38/ Seite 41clara.

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Am 10. Oktober 2015 fand – nach der Demonstration gegen den Irakkrieg im Jahr 2003 – die zahlenmäßig größte Demonst-ration in Berlin statt. Und um die Superla-tive noch zu steigern: Es gab bisher wohl kaum eine Demonstration, die von einem so breiten und großen Bündnis unter-schiedlicher zivilgesellschaftlicher Organi-sationen getragen wurde. Neben globali-sierungskritischen Organisationen wie attac und neuen Organisationen wie cam-pact waren es vor allem die demonstrati-onserfahrenen Gewerkschaften, Umwelt- und Naturschutzverbände sowie DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen, die dazu bei-trugen, dass 250 000 Menschen nach Berlin kamen und »Stop TTIP, Stop CETA! Für einen gerechten Welthandel!« riefen.

Der Deutsche Kulturrat war als Demonst-rationsnovize Mitveranstalter dieses Ereig-nisses. Wir haben an diesem Tag lernen müssen, dass es auch so etwas wie eine »Demonstrationskultur« gibt, die uns noch unbekannt ist. Wir besitzen zum Beispiel nicht eine einzige Fahne, und unser Präsi-dent trug ein handgemachtes Pappschild während der Demonstration mit Stolz in der ersten Reihe.

Die verschiedenen Organisationen, egal ob als Träger oder als Unterstützer der De-monstration, verbindet, dass sie TTIP und CETA für nicht geeignet halten, einen Bei-trag zum gerechten Welthandel zu leisten. Daher soll CETA nicht ratifiziert und die Verhandlungen über TTIP sollen gestoppt werden.

Kulturstaatsministerin Monika Grütters und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel legten zwei Tage vor der Großde-monstration ein »Positionspapier der Bun-

desregierung zu den TTIP-Verhandlungen der EU-Kommission mit den USA im Be-reich Kultur und Medien« vor. Die Vorlage dieses Positionspapiers ist allein deshalb ein Erfolg, weil bis zu diesem Zeitpunkt speziell das Bundesministerium für Wirt-schaft und Energie die Auffassung vertrat, Kultur und Medien seien von TTIP gar nicht berührt. Das Positionspapier macht deut-lich, was der Deutsche Kulturrat und viele seiner Mitglieder schon lange sagen, dass Kultur und Medien selbstverständlich fun-damental von TTIP betroffen sind.

Das Positionspapier der Bundesregierung ist ein wichtiger Schritt, weil sie sich hier auf konkrete Maßnahmen zum Schutz der kulturellen Vielfalt festlegt, ohne aber zu sagen, wie sie ihre Ziele praktisch errei-chen will. Aber trotzdem ist es ein deutli-ches Zeichen dafür, dass das Insistieren auf Schutzmechanismen wirkt. Denn ohne das ständige Nerven aus dem Kultur- und Medienbereich wäre ein solches Positions-papier nicht zustande gekommen.

Jetzt droht die Gefahr, dass die Politik die TTIP-Verhandlungen schnell abschließen will, um einem weiteren wachsenden Pro-test vorzubeugen. Im kommenden Jahr finden die Präsidentschaftswahlen in den USA statt und im Jahr 2017 stehen Präsi-dentschaftswahlen in Frankreich und Bundestagswahlen in Deutschland an. Bislang ist nicht zu erkennen, dass CDU oder SPD gesteigerten Wert darauf legen, TTIP zum Wahlkampfthema zu machen. So wäre eine Variante, sich jetzt schnell zu verständigen, um das Abkommen rasch aus den Wahlkämpfen herauszuhalten. Zumal die französische Regierung bereits anklingen lassen hat, dass sie sich einen Abbruch der Verhandlungen vorstellen

könne. Für mich zeigt das deutlich, dass trotz der großen Erfolge bei der Mobilisie-rung gegen TTIP, CETA & Co. die Gefahr mitnichten gebannt ist. Gerade jetzt dürfen wir nicht nachlassen und müssen gemein-sam den Widerstand gegen die Freihan-delsabkommen aufrechterhalten.

Olaf Zimmermann, Jahrgang 1961, ist ein deutscher Publizist, ehemaliger Kunsthändler und seit März 1997 der Geschäftsführer des Deutschen Kultur-rats. Dieser ist der Spitzenverband der Bundeskulturverbände, dem sich mehr als 246 Verbände und Organisationen angeschlossen haben. Viele Jahre lang war Olaf Zimmermann zudem für Sach verständigen-Kommissionen des Deutschen Bundestags tätig.

Gast-kolumne

Gastkolumne

Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats, warnt seit Jahren davor, dass der Kultur- und Medienbereich massiv von den Freihandelsabkommen betroffen ist.

Widerstand gegen TTIP, CETA & Co. aufrechterhalten – gerade jetzt!

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Kultur ist mehr als eine Ware – TTIP stoppen!Das Handelsabkommen TTIP gefährdet die kultu-relle Vielfalt. In Europa wird Kultur als Gemeingut gefördert, in den USA wird sie hauptsächlich privat-wirtschaftlich organisiert. Durch TTIP kann die eu-ropäische Kulturförderung infrage gestellt werden: US-Produktionsfirmen könnten gegen die öffentliche Unterstützung des hiesigen Kultursektors klagen.

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