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April 2008 49 Gefängnis Als „damnatio memoriae“, die „Ver- dammung des Gedenkens“, bezeichnet man die Praktik, mit der in der Antike einige unliebsame Herrscher nach ihrem Tod aus dem offiziellen Gedächtnis ge- löscht werden sollten. Die Erinnerun- gen an die betreffende Person und ihre Handlungen sollten aus der Geschichte verschwinden, es wurde quasi ein „offi- zielles Vergessen“ dekretiert. Zu diesem Zweck wurden alle materiellen Spuren wie Statuen, Abbilder, Münzen und In- schriften eingezogen und so weit wie möglich zerstört. Verglichen mit dieser verordneten Am- nesie hat der natürliche Lauf der Zeit eine noch weitaus größere Wirkung. Das menschliche Erinnerungsvermögen ist von Natur aus selektiv. Man sollte es sich keineswegs als eine Art „Festplatte“ vorstellen, auf der Informationen abge- speichert und nach Belieben immer wieder aufgerufen werden können. Er- innern und Vergessen gehen Hand in Hand und durchlaufen eine ständige Veränderung. Auch die wissenschaftli- che Geschichtsschreibung ist einer stän- digen Selektion und Interpretation der Vergangenheit unterworfen. Geschichte ist eigentlich ein fortwährender Pro- zess der Re-Interpretation der Vergan- genheit. Fakten und Handlungen, die in der Gegenwart der Erinnerung nicht für Wert empfunden werden, müssen oft Jahrhunderte später von Historikern und Archäologen in mühsamer Klein- arbeit aus den bleibenden Spuren dieser vergangenen Zeit wieder zusammenge- fügt werden. Unter der Voraussetzung natürlich, dass solche Spuren überhaupt noch vorhanden sind. Ein Gebäude und seine Geschichte Die ehemalige Abtei Neumünster im hauptstädtischen „Gronn“ bietet sich durch ihre bewegte Vergangenheit her- vorragend für eine solche Spurensuche an. Die verschiedenen Nutzungen der materiellen Bauwerke, deren Zerstörun- gen und Rekonstruktionen, Umstruk- turierungen, Erweiterungen, Renovie- rungen und Umbenennungen machen aus dem Gebäudekomplex einen höchst interessanten Kristallisationspunkt der luxemburgischen Geschichte. Sie zeu- gen von vergangenen Realitäten, die heute teils vergessen, teils erinnert und teils verdrängt werden: Nachdem die Abtei Altmünster aus militärischen Sicherheitsgründen auf dem Plateau östlich der Burg abgerissen werden musste und der Mönchskonvent ins St.-Johann-Hospital im „Gronn“ verlegt worden war, wurde um 1600 die Abtei Neumünster am heutigen Standort neu aufgebaut. Nach der Zerstörung durch einen Brand wurde der Kern der Abtei 1691 wieder errichtet. Während der Das ehemalige Gefängnis im hauptstädtischen Grund Spurensuche zwischen Erinnern, Vergessen und Verdrängen Marc Reiter Marc Reiter ist Historiker. „Was nicht erinnert wird, ist nicht Die Vergangenheit entsteht, indem wir uns auf sie beziehen Und wir können uns auf sie nur beziehen, wenn wir uns erinnern und uns mit anderen über diese Erinnerung ver- ständigen“ 1 Während fast 120 Jahren funktionierte in der ehemaligen Benediktinerabtei Neumünster im Viertel Grund (Gronn) das staatliche Männergefängnis. Seit der Inbetriebnahme der Haftanstalt in Schrassig und der Einweihung des Kultur- und Begegnungszentrums Neumünster gerät diese unliebsame Vergangenheit zunehmend in Vergessenheit. In Luxemburg galt der „Gronn“ über Jahrzehnte als Chiffre für „Gefängnis“, bevor 1984 „Schrassig“ diese Bedeutung übernahm.

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Als „damnatio memoriae“, die „Ver-dammung des Gedenkens“, bezeichnetmandiePraktik,mitder inderAntikeeinigeunliebsameHerrschernachihremTodausdemoffiziellenGedächtnisge-löscht werden sollten. Die Erinnerun-genandiebetreffendePersonund ihreHandlungensolltenausderGeschichteverschwinden,eswurdequasiein„offi-ziellesVergessen“dekretiert.ZudiesemZweckwurdenallemateriellenSpurenwieStatuen,Abbilder,MünzenundIn-schriften eingezogen und so weit wiemöglichzerstört.

VerglichenmitdieserverordnetenAm-nesie hat der natürliche Lauf der Zeiteine noch weitaus größere Wirkung.DasmenschlicheErinnerungsvermögenistvonNaturausselektiv.MansollteessichkeineswegsalseineArt„Festplatte“vorstellen,aufderInformationenabge-speichert und nach Belieben immerwieder aufgerufen werden können. Er-innern und Vergessen gehen Hand in

Hand und durchlaufen eine ständigeVeränderung. Auch die wissenschaftli-cheGeschichtsschreibungisteinerstän-digen Selektion und Interpretation der

Vergangenheitunterworfen.Geschichteist eigentlich ein fortwährender Pro-zess der Re-Interpretation der Vergan-genheit. Fakten und Handlungen, dieinderGegenwartderErinnerungnichtfür Wert empfunden werden, müssenoftJahrhundertespätervonHistorikernund Archäologen in mühsamer Klein-arbeitausdenbleibendenSpurendieservergangenenZeitwiederzusammenge-fügt werden. Unter der Voraussetzungnatürlich,dasssolcheSpurenüberhauptnochvorhandensind.

Ein Gebäude und seine GeschichteDie ehemalige Abtei Neumünster imhauptstädtischen „Gronn“ bietet sichdurch ihre bewegte Vergangenheit her-vorragend für eine solche Spurensuchean. Die verschiedenen Nutzungen dermateriellenBauwerke,derenZerstörun-gen und Rekonstruktionen, Umstruk-turierungen, Erweiterungen, Renovie-rungen und Umbenennungen machenausdemGebäudekomplexeinenhöchstinteressanten Kristallisationspunkt derluxemburgischen Geschichte. Sie zeu-gen von vergangenen Realitäten, dieheute teils vergessen, teils erinnertund teils verdrängt werden: NachdemdieAbteiAltmünsterausmilitärischenSicherheitsgründen auf dem Plateauöstlich der Burg abgerissen werdenmusste und der Mönchskonvent insSt.-Johann-Hospitalim„Gronn“verlegtwordenwar,wurdeum1600dieAbteiNeumünsteramheutigenStandortneuaufgebaut. Nach der Zerstörung durcheinen Brand wurde der Kern der Abtei1691 wieder errichtet. Während der

Das ehemalige Gefängnis im hauptstädtischen Grund

Spurensuche zwischen Erinnern, Vergessen und Verdrängen

Marc Reiter

Marc Reiter ist Historiker.

„Was nicht erinnert wird, ist nicht . Die Vergangenheit entsteht, indem wir uns auf sie beziehen . Und wir können uns auf sie nur beziehen, wenn wir uns erinnern und uns mit anderen über diese Erinnerung ver-ständigen .“1 Während fast 120 Jahren funktionierte in der ehemaligen Benediktinerabtei Neumünster im Viertel Grund („Gronn“) das staatliche Männergefängnis. Seit der Inbetriebnahme der Haftanstalt in Schrassig und der Einweihung des Kultur- und Begegnungszentrums Neumünster gerät diese unliebsame Vergangenheit zunehmend in Vergessenheit.

In Luxemburg galt der „Gronn“ über Jahrzehnte als

Chiffre für „Gefängnis“, bevor 1984 „Schrassig“ diese

Bedeutung übernahm.

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Französischen Revolution wurden dieBaulichkeitenbeschlagnahmt,dieMön-chezogenaus.„Neumünster“wurdean-schließend teils als Gefängnis genutzt,teilsalsKaserneundMilitärhospital,alsWaisenhaus und als Garnisonslazarett.Von 1867 bis 1984, also während fast120Jahren,warinderAbteiNeumüns-ter die staatliche Männerstrafanstaltuntergebracht. Zu Beginn des ZweitenWeltkrieges nutzten die deutschen Be-satzer die Gebäude zur InhaftierungpolitischerHäftlinge,späterhieltendieBefreier hier die Kollaborateure fest.1993 wurde im luxemburgischen Par-lament ein Gesetz gestimmt, welcheses erlaubte, das damals herunterge-kommene ehemalige Gefängnis in ein„Kultur-undBegegnungszentrum“um-zuwandeln.DieEröffnungfandimJahr2004statt.2

DiealtenMauernderehemaligenAbteibilden nach der Durchführung vonumfangreichenundaufwendigenReno-vierungsarbeiten heutzutage den sehrgediegenenRahmenfürdieAktivitätendesCentreculturelderencontreAbbayede Neumünster (CCRN).3 Dieelegante, glasüberdachte Agoradient als Kulisse für mondäneEmpfänge,der ehemaligeKreuz-gang beherbergt wechselndeKunstausstellungen und dieSkulpturensammlungvonLucienWercollier. Im ehemaligen Tute-sall, dem Ort wo Gefangenefrüher Papiertüten klebten undStühle flochten, finden Theater-und Konzertaufführungen stattund im ehemaligen Criminel,dem Gebäude, wo einst dieSchwerverbrecherverwahrtwur-den, befinden sich heute dieChefetage des CCRN-Direktorssowie die Räumlichkeiten desInstitut Pierre Werner und desInstitut des itinéraires culturels.Moderne Materialien, Glas undPastellfarben bestimmen die Ku-lisse und machen es dem heuti-gen Besucher äußerst schwer,sich den feuchten Moder undstinkenden Mief des Gefäng-nissesvorzustellen.DieRenovie-rungsarbeiten könnten demnachals„gelungen“gelten,dennsicht-bareSpurenausder120-jährigenZeitalsGefängnissindheutefastkeinemehrzu finden. IrgendwoimDachgeschossdesAbteigebäu-desexistierennochzwei„cellules

témoins“, die auf Anfrage besichtigtwerden können. Sie bilden mit ihremschaurigen Geisterbahneffekt sicher-lich den Höhepunkt einer jeden Abtei-Führung. Der unbescholtene Touristund Ausstellungsbesucher bekommtvonderlangenGefängnisvergangenheitdes Gebäudes heute allerdings nichtsmehrmit.

Vom „Schmuddelviertel“ zur TouristenattraktionDie„PerledesGrund“,wieNeumünsterin poetischen Ausschweifungen schonmalgenanntwird,bildetdenAbschlusseinertiefgreifendenurbanistischenUm-wandlung, die seit den 1980er JahrendasgesamteStadtviertelerfassthat.Dieheutige Generation verbindet mit dem„Gronn“fastausschließlicheinKneipen-undAmüsierviertel.Esseijedochdaranerinnert,dassbisvorgarnichtallzulan-ger Zeit der „Gronn“ einen eher zwei-felhaften Ruf genoss. Hier trafen sichfrüher die Waschfrauen an den UfernderAlzette.DieLedergerbergingenhierwährend Generationen ihrem geruchs-

intensiven Gewerbe nach. Die in dieAlzette geleiteten Abwässer sorgtenlangeZeitfürsehrschlechtehygienischeBedingungen. Zusammen mit Pfaffen-thal und Clausen bildete der „Gronn“das unterprivilegierte hauptstädtischeProletarier- und Arbeiterviertel, woeinerStudievon1907zufolge,Zuständeherrschten,„die sich getrost den traurigs- ten Bildern aus Ost-London an die Seite stellen lassen“.4Im„Gronn“siedeltensichvorwiegendMenschenan,diegezwun-genwarensichamRandderstädtischenGesellschaft zu bewegen. Ober- undUnterstadt, Licht und Schatten warenzu diesem Zeitpunkt Realitäten, dieüber den bloßen Sprachgebrauch hin-aus gültig waren. In dieses Bild pass-ten somit auchdiewegengesetzlichenVergehen offiziell aus der GesellschaftAusgeschlossenen, die Insassen desMännergefängnisses in der Abtei Neu-münsterunddesFrauengefängnissesimehemaligen Hospice Saint-Jean, sowiedie Zöglinge der Besserungsanstalt inderRueSaint-Ulric.InLuxemburggaltder „Gronn“ über Jahrzehnte als Chif-frefür„Gefängnis“(„e sëtzt am Gronn“),

bevor1984„Schrassig“dieseBe-deutungübernahm.

Es steht außer Frage, dass dasaktuelleBilddiesesStadtviertelssichwiderspruchslosindieSelb-stinszenierung des modernenLuxemburg als Tourismusma-gnet und internationale Finanz-plattform einfügt. Im Zuge derModernisierung der Stadt, diesich in den 1960er und 1970erJahren besonders auf dem Kir-chbergundamBoulevardRoyalbemerkbar machte, entwickeltesich das im wahrsten Sinne desWortes „mittelalterlicheGefäng-nis“ im „Gronn“ allmählichzueinemstörendensteinernenAna-chronismus. Trotzdem dauerteesbisindiefrühen1980erJahrebevor eine neue und moderneGefängnisanstalt erbaut wurde.Diese Gelegenheit wurde danngenutzt,umdasGefängnis end-gültig aus dem Stadtbild zuentfernen und die Gefangenenin der Nähe des beschaulichenDorfes Schrassig zu installieren.Gemäß der Redewendung „ausden Augen, aus dem Sinn“ ver-schwand mit dieser physischenUmsiedlung langsam auch dieErinnerungandasalteGefängnis

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und seine Insassen; sie gehören nichtmehr zum täglich erlebten Stadtbilddazu.

Ein Beispiel von selektiver GeschichtsauffassungIm Falle von Neumünster verschwan-den bei der Renovierung quasi sämt-liche materiellen Spuren an die als„düstere Zeit“ empfundene Vergangen-heitalsGefängnisanstalt.Derschimme-ligeMiefderZellenistlängstverflogenundfreundlichePastelltönebeherrschenheutedasBild.Beobachtetmandieoffi-ziellePressearbeitdesCCRN,kannmanfeststellen, dass besonders die Vergan-genheit als Benediktinerabtei als eineArtneuzeitliches„Kulturzentrum“her-vorgehoben wird. Demnach bemühtensichandiesemOrtbereitsvordreihun-dertJahrenMöncheumdenFortbestandund die Verbreitung der christlichenKultur. So wird ein schöner Brücken-schlagvonderursprünglichenNutzungzudenheutigenAktivitätensuggeriert,der gleichzeitig die aktuelle kulturelleFunktion legitimiert. Quasi als „Anti-pode“,alspervertierterMissbrauchdie-serzukulturellenZweckenbestimmtenGebäude,wirdparalleldieNutzungalsKerkerdurchdienationalsozialistischenBesatzer verstärkt hervorgehoben. Un-gefähr 4 000 luxemburgische und aus-ländischepolitischeGefangenewurdenwährend der Besatzung über kürzereoder längere Zeit in der ehemaligenAbteifestgehalten.5Fürvielevonihnenwar Neumünster nur eine Zwischen-stationvorder endgültigenAbführungineinKonzentrationslagerodergarvorder Hinrichtung. An diese Gefangenenerinnert eine Plakette in der Nähe desHaupteingangs.AberauchdieheutigenNamen einzelner Gebäude mahnen andiese Zeit: das Bâtiment Robert BruchunddieSalleRobertKriepserinnernunsan die beiden im „Gronn“ inhaftiertenLuxemburger Persönlichkeiten. Auchdie Agora wurde offiziell nach demfranzösischen Resistenzler, Autor undRegisseur Marcel Jullian benannt, der1940inNeumünsterinhaftiertwar.Derluxemburgische Bildhauer Lucien Wer-collier wurde 1942 vom „Gronn“ ausin ein Konzentrationslager geschickt.Die Skultpturen aus seinem Nachlassschmücken heute den Cloître LucienWercollier.AlleindurchdieToponymiewirddermateriellenRealitätvonNeu-münstersomiteinezusätzlichesymbo-lische Dimension gegeben, die diesen

Ortzueinemnationalen„Erinnerungs-ort“macht.6

Die viel längere und unbeachtete undvielleichtauch ineinemgewissenSinnunangenehmere Vergangenheit als ehe-maliges staatliches Gefängnis ist heuteauf gutem Weg fast komplett aus der

kollektiven Erinnerung zu verschwin-den. Hierzu bedurfte es nicht einmaleinerkonsequentdurchgeführten„dam-natio memoriae“. Nicht nur die mate-riellen Zeugnisse dieser Vergangenheithaben sich mittlerweile in Luft aufge-löst,sondernesexistierenauchnahezukeinenennenswertenschriftlichenSpu-renausdieserZeit.BisdatowurdenochkeinewissenschaftlicheArbeitgeschrie-ben,dieauchnureinenTeilderbeweg-tenVergangenheitderNeumünsterabteigenauer behandelt hätte.7 HistorischeAbhandlungen zum luxemburgischenGefängniswesen, Publikationen oder

ArchivmaterialzudiesemThemahabenSeltenheitswert.8DieAusführungendesehemaligen Gefängnisdirektors NicolasEnsch sind allem Anschein nach dieeinzigen direkt zugänglichen QuellenzudiesemsichernichtuninteressantenThema. Die wichtigsten Aufzeichnun-genvonEnschgehenallerdingsaufdie1930er Jahre zurück.9 Der chronischeMangel an nationalen Historikern undSoziologen wird wahrscheinlich zurFolge haben, dass diese wichtigengesellschaftlichenAspekte,wiesovieleandere, auch weiterhin unbehandeltbleiben.

Sokommtesschlussendlich,dassdieseVergangenheit,dieseaufdenerstenBlickunspektakuläreund ineinemgewissenSinnestörendeVergangenheit,derErin-nerungnichtfürwürdigerachtetwird.Somit wird aus der Abtei Neumünsternichtnurein„Erinnerungsort“,sonderngleichzeitig auch ein „Ort des Verges-sens“.WeitgehendausdemkollektivenGedächtnis verschwunden sind zumBeispiel auch die beiden „Revolten“,die in den Jahren 1972 und 1976 füreinigeAufregunggesorgthatten.10Erstdurch die Mediatisierung dieser Ereig-nisse wurde die öffentliche Aufmerk-samkeit verstärkt auf die unmenschli-chenZuständeim„Gronn“gelenkt.Dieteils spektakulären Verzweiflungstaten

Im Falle von Neumünster ver-schwanden bei der Renovierung

quasi sämtliche materiellen Spuren an die als „düstere Zeit“ empfundene Vergangenheit als

Gefängnisanstalt.

aus: Ensch, N. A., Les prisons de la Ville de Luxembourg, Editions les Cahiers luxembourgeois, Luxembourg, 1934.

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1 Baberowski, Jörg, Der Sinn der Geschichte, München, 2005, S.159.2 Einen ersten Eindruck zur Geschichte der Abtei Neumünster bietet der dreisprachige Band Abbaye de Neumünster, le Centre Culturel de Rencontre, Luxem-burg, 2004. Hervorzuheben ist insbesondere der historische Überblick von Michel Pauly: „Die Abtei Neumünster und ihr historisches Stadtviertel“, SS. 26-51. 3 Cf. www.ccrn.lu.4 Schreiber, Adele, „Licht- und Schattenbilder aus einem Miniaturstaat“, in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, 15. Mai 1907, zitiert in: Goetzinger, Germaine, „Sozialenquete 1907“, in: Lëtzebuerger Almanach 1989, Luxemburg, 1989, S. 60. 5 Cf. Raths, Aloyse, Livre d’or des prisons, répertoire des prisons nazies et des détenus luxembourgeois de la période 1940-1945, Luxembourg, 1996. 6 Die Abtei Neumünster wurde erstaunlicherweise nicht in die Publikation der „Erinnerungsorte in Luxemburg“ aufgenommen. Cf. Kmec, Sonja; Majerus, Benoît; Margue, Michel; Péporté, Pit, Lieux de mémoire au Luxembourg . Erinnerungsorte in Luxemburg, Luxemburg, 2007.7 Die einzige nennenswerte Publikation ist der bereits erwähnte Band Abbaye de Neumünster, Le Centre Culturel de Rencontre (cf. Fußnote 1). Trotz einiger sehr aufschlussreichen und interessanten Beiträge zählt dieses Buch dennoch zu der Kategorie der „beaux livres“ und nicht zu den wissenschaftlichen Abhandlungen. 8 René Clesse hat in einem kurzen Artikel in Ons Stad die Haftbedingungen im Neumünster-Gefängnis skizziert: Clesse, René, „Das alte Gefängnis von Stadtgrund. Mittelalterlich anmutende Verhältnisse bis ins Jahr 1985“, in: Ons Stad, Nr. 51, 1996. Einen historischen Einblick erlaubt der Artikel von Serge Hoffmann, „Les établissements pénitentiaires du Grund et les conditions de vie de ses prisonniers (1889-1940)“,in: Galerie 3 (1985), Nr. 2.9 Ensch, N. A., Les prisons de la Ville de Luxembourg, Editions les Cahiers luxembourgeois, Luxembourg, 1934, sowie Ensch, N. A., Die Gefängnisse der Stadt Luxemburg . Geschichtliche Abrisse, Luxemburg, 1934 (Typoskript).10 Raus, Michel, „Kurze Knastologie“, in: Abbaye de Neumünster, op. cit., S. 77.11 Feltes, Yves, „De Prisong am Gronn“, in: d’Lëtzebuerger Land, Nr. 29, 1987. 12 forum hat die verschiedenen Projekte im Grund sehr genau verfolgt. Berichte findet man u. a. in forum Nr. 111, April 1989, Nr. 128/129, Juli 1991, Nr. 137, Juli 1992, Nr. 138, Oktober 1992 und Nr. 175, April 1997.13 „Abtei Neumünster: Ein Kultur- oder Bauprojekt?“, in: forum Nr. 137, Juli 1992, S. 4.

einiger Gefangener, die sich auf dieDächer des Tutesall und des Criminelgeflüchtethatten,habenschließlichdielängst überfällige Debatte über einenGefängnisneubau losgetreten. Wie esbeiGroßprojekten inLuxemburg leiderüblich ist, zog sich der Bau des neuenGebäudes in Schrassig allerdings überJahre hin und konnte erst 1984 fertig-gestelltwerden.DerklaustrophobischeAlltag imNeumünstergefängniswurdedem Großteil der Bevölkerung wohlerstnachderUmsiedlungnachSchras-sig durch den luxemburgischen FilmTroublemakers(1988)sorichtigbewusst.Ein großer Teil der Aufnahmen wurdeimdamalsnochunrenoviertenGefäng-nis des „Gronn“ gedreht und hieltensomit die äußerst prekären Bedingun-gen des luxemburgischen Strafvollzugswenigstens im Film für die Nachweltfest.

Um keinen falschen Eindruck zu hin-terlassen, muss abschließend präzi-siert werden, dass mit der Einrichtungdes CCRN in den Gemäuern des altenGefängnissessicherlicheinederbeiwei-tem attraktivsten Nutzungsvariantengewählt wurde. Wir sollten in diesemKontextnichtvergessen,dasseszahlrei-cheAlternativplänegab,dieunterande-rem den Bau von Sozialwohnungen,ein Luxushotel oder einen Bankensitzin Neumünster vorsahen.11 SicherlichhättekeinesdieserProjektedashistori-scheErbederGebäudebesserbewahrenkönnen als es heute der Fall ist. Aller-

dingsgabesauchandereanregendeundniedurchgeführteIdeenfüreinarchäo-logischesMuseum,einMuseumfürreli-giöse Kunst, eine Ausstellungshalle fürdieAusstellung„150JahreUnabhängig-keit“sowieeineBibliothekfürdiewert-vollen historischen Bestände des Insti-

tut grand-ducal, die heute weiterhindem Verfall preisgegeben sind.12 DasimGrunderelativpositiveEndergebnissollteunsallerdingsnichtvordenGefah-reneinerselektivenGeschichtsvermitt-lungablenken.Wirmüssenunsstärkerbewusstmachen,warumwirwaserin-nern und vergessen. 1992 schrieb einRedaktionsmitgliedvonforumineinemArtikelzurRenovierungderNeumüns-terabtei:„In Luxemburg (...) geht die Fas-sade vor der historischen Forschung, geht die Ästhetik vor der Wissenschaft“.13DieseFeststellung ist 2008 immer noch vongroßerAktualität.Dennmitreinästhe-tischen potemkinschen Fassaden alleinwerden keine Erinnerungen an einegemeinsame Vergangenheit bewahrt.

Durch das selektive Ausblenden vongewissen,manchmalunbequemen,ver-gangenen Realitäten wird lediglich diekünstliche Illusion eines identitäts-stiftenden Gemeinschaftsgefühls auf-rechterhalten, dessen Glaubwürdigkeitjedoch zunehmend in Frage gestelltwird.VerstärktekritischeForschungimhistorischen,soziologischenundpolito-logischenBereichkannhelfen,sichderVergangenheit inihrerganzenKomple-xitätanzunähernundausihrwertvolleLektionen für die Gegenwart und dieZukunftzuziehen.

Durch das selektive Ausblenden von gewissen, manchmal

unbequemen, vergangenen Realitäten wird lediglich die

künstliche Illusion eines identi- tätsstiftenden Gemeinschafts-gefühls aufrechterhalten [...].

Kulturzentrum Abtei Neumünster (© Wolfgang Staudt)