Digitale Vermessung des Menschen - Freiheit oder Gefängnis? · 2 Wohin führt uns die...

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Lorenzer KommentarGottesdienste zu Ereignissen der Zeit ____________________________________________________________________________ Sonntag, 21. Mai 2017, 11.30 Uhr Lorenzkirche – Nürnberg Digitale Vermessung des Menschen - Freiheit oder Gefängnis? Kommentare: Mara Feßmann Theologiestudentin und Bloggerin Thomas Kranig Präsident des Bay. Landesamt für Datenschutzaufsicht Theologischer Kommentar und Leitung: Pfarrer Tobias Fritsche St. Lorenz ____________________________________________________________________________ www.lorenzkirche.de : Kommentargottesdienst

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Lorenzer KommentarGottesdienste zu Ereignissen der Zeit

____________________________________________________________________________

Sonntag, 21. Mai 2017, 11.30 Uhr Lorenzkirche – Nürnberg

Digitale Vermessung des Menschen - Freiheit

oder Gefängnis?

Kommentare:

Mara Feßmann Theologiestudentin und Bloggerin

Thomas Kranig Präsident des Bay. Landesamt für Datenschutzaufsicht

Theologischer Kommentar und Leitung:

Pfarrer Tobias Fritsche St. Lorenz ____________________________________________________________________________

www.lorenzkirche.de : Kommentargottesdienst

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Wohin führt uns die Digitalisierung – direkt ins Gefängnis oder gibt es einen Fluchtweg? Oder ist es ohnehin der Weg ins digitale Paradies, den uns das weltweite Netz eröffnet? Diesen Fragen spürte der KommentarGottesdienst nach, mit einer digi-tal native und dem obersten Datenschützer Bayerns – und mit einem Pfarrer, der zur Grenzüberschreitung rät. Die Kollekte wurde erbeten für das Medienzentrum PARABOL e.V. (gemeinnützig) Postbank Nürnberg IBAN DE91 7601 0085 0058 1328 50 ViSdP: Wolfram Steckbeck, Laufamholzstr.1, 90482 Nürnberg – Die einzelnen Beiträge geben die Meinung der

Kommentatoren wieder – nicht die der Kirchengemeinde St. Lorenz oder des Lorenzer KommentarTeams.

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Kommentar von Thomas Kranig:

Wenn ich eingeladen bin, eine Rede zu halten und sich mir nicht auf Anhieb aufdrängt, was ich dazu sagen will, tue ich mich etwas leichter, mich über die Definitionen an das Thema heran zu tasten. Ich möchte mich deshalb – als Präsident des Bayerischen Landesamtes für Datenschutzaufsicht – mit der Brille des Datenschützers dem Thema Digitalisierung bzw. der digitalen Vermessung nähern. Datenschutz bedeutet für mich, den Einzelnen davor zu schützen, dass er durch den Umgang mit seinen personenbezogenen Daten in seinem Recht auf informationelle Selbstbestimmung bzw. in seinem Grundrecht auf Daten-schutz gemäß Art. 8 der Grundrechtecharta der Europäischen Union nicht beeinträchtigt wird. Das Bundesverfassungsgericht hat das in der für uns Datenschützer auch heute noch wegweisenden Entscheidung zur Volkszählung im Jahr 1983 wie folgt ins Stammbuch geschrieben: „Mit dem Recht auf informationelle Selbst-bestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Wer unsicher ist, ob

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abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauer-haft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. […] Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbe-dingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bür-ger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist. Hieraus folgt: Freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt unter den modernen Bedin-gungen der Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus. Dieser Schutz ist daher von dem Grundrecht auf freie Entfal-tung der Persönlichkeit in Art. 2 GG in Verbindung mit dem Grund-recht auf Unantastbarkeit der Menschenwürde in Art. 1 GG umfasst. Das Datenschutz-grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu be-stimmen.“ Ziel des Datenschutzes ist es damit insbesondere, den Mensch nicht „gläsern“ und damit berechen- und auch erpressbar zu machen. Was bedeutet das heute für uns und wie gehen wir damit um? Digitalisieren bedeutet - nach Duden – „etwas in Ziffern darstellen“. Das klingt recht harmlos. Wenn man sich aber vor Augen hält, dass heutzutage alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, digitalisiert wird, ist das nicht mehr ganz so harmlos. Der Telekom-Chef Timotheus Höttges hat dies in ei-nem Beitrag zur CeBIT 2017 so aus-gedrückt: „Digitalisierung wird heute als Beschreibung der Folgen von Computerisierung und elektronischen Netzwer-ken verwandt. Aber es handelt sich im Kern um ein wesentlich älteres Prinzip der Verwendung von Codes und Zeichen. So gesehen ist das erfolgreichste Projekt der Digitalisierung in unserem Kulturkreis die Erfindung und Nutzung des griechischen Alphabets. Es wurde zunächst durch die Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg und später durch das World Wide Web erheb-lich dynamisiert. Wir müssen also lernen, Digitalisierung als historische Evo-lution zu begreifen, nicht als Revolution.“ Das stimmt schon. Aber, ob Digitalisierung, bezogen auf den Mensch, nur eine Evolution und nicht eine Revolution ist, erscheint mir nicht ganz so ein-deutig.

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Ich erkenne die Vorteile der Informationsgewinnung durch Digitalisierung in vielen Bereichen, sei es Technik, Wissenschaft, Forschung, Medizin oder Kul-tur durchaus an, weil sie die Möglichkeit bietet, viele Informationen einer großen Zahl von Menschen zugänglich zu machen, die früher davon abge-schnitten waren. Dass es sich dabei auch um jede Menge „alternativer Fak-ten“ oder auch mit Schadcode versehenen Informationen handelt, ist ein un-vermeidbarer Kollateralschaden, wenn man nicht eine Totalüberwachung an-strebt, die mit unseren Grundrechten - Gott sei Dank - nicht kompatibel ist. Andererseits macht die Digitalisierung, d.h. im oben genannten Sinne die „Darstellung in Ziffern“, auch von den Menschen nicht halt. Wir erleben dies bei der permanenten Überwachung unseres Nutzungs-verhaltens im Inter-net, der intensiven Videoüberwachung in öffentlich zugänglichen Bereichen, der Bewertung unsere Bonität durch die SCHUFA, der Bewertung unseres Fahrverhaltens durch pay-as-you-drive-Tarife der Autoversicherung oder der Auswertung des gesundheitsbewussten Verhaltens im Zusammenhang mit Krankenversicherungen in täglich steigendem Maße. Wir erleben dies aber ganz besonders auch durch unsere eigene Selbstvermessung durch Fitness-armbänder, die permanente Übertragung unseres Aufenthaltsortes mit unse-ren Handys, durch Preisgabe unseres Konsumverhaltens durch Nutzung zahl-reicher Kundenkarten wie bei Payback o.a. Und nicht zuletzt durch Preisgabe auch intimster personenbezogener Daten in so genannten sozialen Netzwer-ken, d.h. Informationen, die wir wohl kaum so vielen anderen Menschen in der analogen Welt, d.h. von Angesicht zu Angesicht mitteilen würden. Ein typisches Beispiel dafür ist für mich, dass viele von uns, wenn sie Apps für ihr Handy herunterladen wollen, keine Probleme damit haben, dem An-bieter einen vollständigen Zugriff auf ihre Kontaktdaten und damit ihre Be-ziehungen zu geben. Wenn man sie aber in der realen Welt bitten würde, uns als Gegenleistung für eine Wegbeschreibung ihr handgeschriebenes Ad-ressbuch zu überlassen, damit wir alle Adressen abschreiben und auswerten können, mit Entrüstung reagieren würden. Ergebnis dieses zum Teil selbst gesteuerten und verursachten Verhaltens ist, dass der Mensch zunehmend vom selbstbestimmenden Individuum zum Ob-jekt der Datenverarbeitung mutiert. Mit der Freiheit ist es dann vorbei. Wir sind gefangen in der Welt der datengetriebenen Wirtschaft.

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Wenn der Mensch – wie meines Erachtens bei Facebook – zur Ware, oder in vielen anderen Bereichen zum Objekt wird, spätestens dann sind die Achtung der Menschenwürde und die freie Entfaltung der Persönlichkeit, zwei unserer tragenden Grundrechte, in Gefahr. Ich appelliere deshalb an uns alle, immer mal wieder innezuhalten, um zu fragen, ob wir das alles brauchen, was uns die digitalisierte Welt anbietet: Sei es der selbstlernende Kühlschrank, der meldet, wenn das Bier ausgeht, die digitalisierte Zahnbürste, die aufzeichnet und irgendwo in der Welt spei-chert, wann und wie lange man seine Zähne putzt oder auch eine Barbie-puppe, die die Sprache der Kinder irgendwo in der Welt speichert und zu erkennen versucht, was ein Kind sagt, um mehr oder weniger nichtssagende Antworten zu geben. Ist es gut, unsere Kinder damit ruhig zu stellen? Alle diese smarten technischen Geräte nutzen unsere personenbezogenen Daten. Als Christen glauben wir an einen allwissenden Gott und haben damit kein Problem, selbst wenn es mir zugegebenermaßen manchmal auch unange-nehm ist, das Gefühl zu haben, dass es jemand gibt, der mich auch in Situa-tionen, in denen ich mich nicht gut verhalte, auf dem Schirm hat. Ich glaube aber, dass Gott es mit mir nur gut meint das. Dieses Vertrauen habe ich nicht in gewinnorientierte Unternehmen, die so viele Daten wie möglich von mir haben wollen, um mich und mein Verhalten damit zu digitalisieren, das heißt „in Ziffern darzustellen“ und damit bere-chenbar zu machen. In der Süddeutschen Zeitung von diesem Wochenende steht ein umfangreicher Bericht darüber, wie in China durch die Big Data, Social Media und ein digitales Punkt-system (nach einem Algorithmus der dortigen Machthaber) der brave neue Mensch geformt und je nach Ergebnis von der Gesellschaft behandelt werden soll. Mir machen solche Entwicklun-gen ehrlich gesagt Angst und ich wünsche Ihnen und mir, dass es uns bei allen Vor-teilen und Erleichterungen, die die Digitalisierung uns in bestimm-ten Bereichen bringt, gelingt, uns einen Freiraum zu bewahren, in dem wir unbeobachtet mit uns alleine oder lieben Menschen um uns her-um oder auch unserem Gott zusammen sein können. Das wird uns aber nur gelingen, wenn wir uns mit der zunehmenden digitalen Vermessung kritisch auseinan-dersetzen, uns damit unsere digitale Freiheit bewahren und uns nicht wie die Lemminge einem Herdentier folgend freiwillig in das digitale Gefängnis be-geben, aus dem wir nur sehr, sehr schwer wieder herauskämen.

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Kommentar von Mara Feßmann:

Das erste Wort im Internet war „Lo“. Sie haben mich richtig verstanden. L – o. Lo. Siehe, Schau. Eine, zugegebenermaßen in der englischen Alltagsspra-che nicht mehr wirklich gebrauchte Kurzform von „look!“. In der King James Ausgabe der Bibel kommt „lo“ jedoch immer noch vor. So schön es in den Ohren einer angehenden Theologin klingen mag, diese enge Verbindung zwi-schen einer Bibelübersetzung und dem Internet, es ist nur die halbe Wahr-heit. Aus „Lo“ hätte „Login“ werde sollen, wäre denn das System nicht abge-stürzt. Für meinen Kommentar möchte ich den Zufall jedoch nehmen, wie er ist, denn „lo!“ bringt es auf den Punkt. Siehe, da ist der Mensch. Sichtbar als sich im Internet bewegender. Aber wer sieht ihn eigentlich? Und was passiert mit dem Gesehenen? Dein Mix der Woche. Einer Playlist, die mir, basierend auf der Musik, die ich in der vergangenen Woche gehört habe, neue Lieder vorschlägt. Kundinnen und Kunden, die dieses Buch gekauft haben, interessierten sich auch für… Diesen Personen könntest Du noch folgen…. Vorschläge und Zusammenstellungen, über die wir fast jeden Tag stolpern. Alle basierend auf den Spuren, die wir im Internet hinterlassen. So interessant wie bequem, denn oft ersparen sie uns langwieriges Suchen oder machen uns auf Inhalte aufmerksam, auf die wir von selbst, auf unseren gewohnten Suchwegen nicht gestoßen wären. Dadurch, dass wir alle unsere

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Spuren im Internet hinterlassen, werden wir dort auf eine gewisse Art und Weise sichtbar: Sichtbar durch das, was wir von uns preisgeben, Bilder, Worte – zustimmende wie ablehnende. Menschen finden so zusammen, auf der Plattform Twitter gibt es beispielsweise eine inzwischen relativ große „Community“ von Menschen, die auf welche Art und Weise auch immer, mit Glauben und auch den Kirchen verbunden. Sie tauschen sich online aus über die Fragen aus, die sie bewegen; Manche dieser Fragen könnten sie in ihren Gemeinden, sofern sie einer zugehörig sind, nicht stellen. Ihnen bietet ver-schiedene Netzwerke eine Plattform zum Dialog. Dass durch das Internet diese Möglichkeit geboten ist, ist wunderbar. Aber es ist noch lange nicht alles. Denn fast alle Plattformen, Soziale Netzwerke, Suchmaschinen, Nachrichtenseiten. Sie alle schauen mit und sammeln Infor-mationen über uns, die ausgewertet werden. Nicht aus reiner Nächstenliebe, sondern um ebendiese Daten zu verwerten. Nutzerinnen und Nutzern, denen dieser Beitrag gefällt, mochten auch... Kau-fen Sie jetzt! Die Vermessung des Menschen im digitalen Raum beginnt noch vor Smart-watches und Fitnessarmbändern, denn wenn wir ganz normal im Internet surfen, hinterlassen wir schon Unmengen an Spuren, ob wir wollen oder nicht. „Lo!“ Da schaut jemand mit. Es ist paradox: Das Internet, das die freie Verfügbarkeit von Informationen für alle Menschen, überall auf der Welt möglich gemacht und damit eine große Freiheit eröffnet hat, beschränkt den Menschen wieder. Reduziert ihr auf einen Datenhaufen vorhersagbaren Verhaltens und persönlicher Details für Marktzwecke. Aber es war nicht „das Internet“, es waren und sind die Menschen, die es nutzen. Auf Seiten der Konzerne, wie auf Nutzerinnen- und Nutzerseite. Ich bin überzeugt davon, dass es ersteren an Interesse am „großen“ Frei-heitsversprechen inzwischen mangelt, denn es würde die „Filterbubbles“, die sie mit ihren Algorithmen konstruieren oder unterstützen, zum Bersten brin-gen. Vom Grundversprechen der freien Verfügbarkeit von verschiedenen In-formationen aus gesehen, sind diese „Filterblasen“ ein Worst-Case-Szenario. Auf uns zugeschnittene Inhalte, die ganz dem entsprechen, was wir bereits verfolgen und bejahen. Die großen Anbieter machen es uns gemütlich, rich-ten uns ein nettes, digitales Wohnzimmer ein. Sie machen es uns bequem, um mehr Informationen über uns zu sammeln, weiter zu verwerten und zu verkaufen.

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Und das darf nicht sein, so werden wir nicht nur durchsichtiger und durch-sichtiger, sondern auch eindimensionaler. Das große Versprechen von der Freiheit, da schwindet es dahin. Was also tun? Es bedarf der Regulierung, der Einschränkung der Unterneh-men, die über uns Daten sammeln. Ich bin keine Expertin in Rechtsdingen, ich bin nur eine Nutzerin unter Millionen. Eine, die immer wieder zähneknir-schend feststellen muss, dass auch sie in einer solchen Blase gefangen ist. Aber ich durfte auch Menschen erleben, die sich genau gegen das zur Wehr setzen, den Chaos Computer Club zu Beispiel. Eine Gruppe von Netzaktivis-tinnen und Aktivisten, Hackerinnen und Hackern. Digital natives wie ich, die stetig versuchen, auf diese Gefahren hinzuweisen und aktiv zu intervenieren. Menschen, die dazu anregen, es nicht beim Vermessen werden zu belassen. Sie fordern das ein, was über sie gesammelt wird und ich finde, das ist das Erste, was wir alle tun sollten: Lo! Wer versucht da was über uns herauszu-finden? Wenn wir Nutzerinnen und Nutzer beginnen, uns diese Frage zu stellen wer-den wir unbequem und wir müssen es werden. Wir müssen, mit dem großen Freiheitsversprechen im Hinterkopf, die Freiheit (leider) aktiv einfordern. Wir befinden uns in einem stetigen Lernprozess mit und im Digitalen. Innovation um Innovation werden uns mehr Komfort, mehr Leistungssteigerung ver-sprochen. Doch was diese Versprechen wollen, sind eigentlich unsere Daten. Ich bin so realistisch, dass ich meine, dass es am Ende an uns liegen wird, unsere Rechte einzufordern: Ein Recht auf nicht-gesehen und vermessen werden. Ein Recht auf mehr als das, was unsere Filterblasen bequem gestaltet. Ein Recht auf die freie Verfügbarkeit der Informationen. Wir können es nicht alleine, wir müssen uns gemeinsam bewusst werden, über das, was von uns erfasst und verwertet wird. Wir müssen uns organi-sieren und mutig sein, unsere eigenen bequemen Blasen zum Platzen brin-gen. Wir müssen kreativ werden, um Orte im Netz zu schaffen, die frei von kommerziellen Interessen sind, um uns freier auszutauschen. Wir alle müs-sen es erst lernen, was es bedeutet, den „Datensammlern“ gegenüberzu-stehen. Wir müssen uns fragen, was wir von uns preisgeben wollen. Wir müssen erkennen, dass die Art und Weise, in der wir bisher vermessen werden, zwar zu bequemen Resultaten im Alltag führt, uns aber eigentlich reduziert. Die Erkenntnis des Vermessen-seins könnte zu einem heilsamen

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Schock werden, der uns unserer digitalen Mündigkeit näherbringt, damit wir die „digitale Welt“ wieder selbst gestalten und zurück zum erstaunten „Lo!“ kommen über das, was eigentlich möglich ist. Theologischer Kommentar von Pfarrer Tobias Fritsche:

Ich beginne mit einigen Zitaten: Sie ist für die Staaten und die Verbindung der Völker von einer ebenso un-berechenbaren Wichtigkeit, wie die Erfindung der Buchdruckerkunst. (für ih-ren geistigen Verkehr.) Unsere Zeit ist ohnehin schon nervös und hastig genug; man soll dem nicht durch immer größere Geschwindigkeiten noch Vorschub leisten. Sie ist der Herkules in der Wiege, der die Völker erlösen wird von der Plage des Krieges, der Teuerung und der Ungenauigkeit (wörtl.: des Schlendrians).

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Es ist unverkennbar, dass durch sie zahllose Menschen (Fuhrleute, Kutscher, Schmiede, Wagner, Sattler und Seiler) der Vernichtung ihrer Berufe (Ge-werbe) entgegengehen. Gemeint ist in diesen Zitaten nicht die Digitalisierung, sondern die Dampflo-komotive. Gelesen habe ich sie im Museum der Deutschen Bahn hier in Nürn-berg. Die Diskussion um die Einführung der Dampflok hat erstaunlich viele Parallelen mit der Diskussion, die derzeit um die Digitalisierung geführt wird. Auch bei der Einführung des Telefons, des Autos und des Computers finden wir solche Zitate, die einerseits in hemmungsloser Begeisterung aufgehen, andererseits geradezu apokalyptische Ängste verbreiten. Es wird nicht weiter überraschen, dass Kirchenvertreter bei allen diesen Neuerungen in der Regel auf der Seite der Skeptiker und Mahner standen. Für viele Menschen agiert Kirche auch heute nach diesem Schema: Fortschritt ist gefährlich und grund-sätzlich kritisch zu beäugen. Im Rückblick gesehen waren manche Sorgen doch etwas übertrieben. Der Besuch im Museum könnte uns jedenfalls helfen, auch die aktuelle Debatte um die Digitalisierung etwas gelassener anzugehen. Denn als spätmoderne Menschen wissen wir ja eigentlich längst, dass weder ein ungebremster Fort-schrittsoptimismus und Machbarkeitswahn, noch eine Verteufelung jeglichen Fortschritts im Namen des Christentums den Kern der Sache trifft. Sicher ist, dass die Digitalisierung in ihren verschiedenen Spielarten der Kom-munikation, in der Arbeitswelt und für Forschungszwecke erneut eine bahn-brechende Grenzüberschreitung darstellt. Grenzüberschreitung – das ist das Stichwort für meinen Kommentar. Aber das klingt schon wieder gefährlich. Wie lässt sich Grenzüberschreitung – theologisch einordnen? Im Reformationsjubiläum wird immer wieder gefragt, ob Martin Luther wohl soziale Netzwerke und die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation für seine Zwecke genutzt hätte. Viele sind sich sicher: Luther hätte getwittert. Denn ihm ging es um die Entgrenzung der Kommunikation um des Evange-liums willen: er setzte sprachliche Hürden herab, damit das Wort Gottes nicht weiter in lateinische, griechische oder hebräische Grenzen gefasst wurde: die deutsche Lutherbibel ist ein Dokument der Grenzüberschreitung.

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Luther nutzte die Flugblätter als neues Medium, um die Idee der Reformation der breiten Masse zugänglich zu machen. Dass mit demselben Medium auch Ablasswerbung unter der Volk gebracht wurde, hinderte ihn nicht an seiner Nutzung. Luther vertrat ein Konzept von Gottesdienst, das den Monolog von Geistli-chen in einen Dialog erweiterte: Denn im Gottesdienst solle nichts anderes geschehen, als „dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir umgekehrt mit ihm reden durch unser Gebet und Lobgesang.“ Und so führte Luther deutsche Gebete und deutschsprachige Lieder mit po-pulären Melodien in den Gottesdienst ein. Schließlich sei noch Luther Einsatz für die Mündigkeit des einzelnen Christen genannt. Jedes einzelne Gemein-deglied hat Anteil am Priestertum und soll seinen Glauben in eigene Worte fassen können. Dies alles sind Grenzüberschreitungen, die den Entgrenzungen durch die Di-gitalisierung sehr nahe kommen: jenseits von Hierarchien können Menschen direkt über digitale Netzwerke kommunizieren. Menschen werden Subjekte ihrer Glaubens-Kommunikation, indem sie sich ohne große Zugangshürden am Dialog beteiligen können. Ländergrenzen werden dank Glasfaser kommu-nikativ überschritten, Online-Verbindungen sind in der Lage zu Brücken der Verständigung zu werden. Mut zur Grenzüberschreitung hatte aber nicht nur Luther. Auch bei Jesus können wir fragen: War er es nicht, der aus Liebe manch Grenze seiner Zeit hinter sich ließ: hinein in die Welt, zu den Sündern, den ausgestoßenen? War er es nicht, der dazu aufrief, hinaus in alle Welt zu gehen und dort das Evangelium vom Lebens verändernden Reich Gottes zu predigen? Führte nicht die grenzüber-schreitende Erfahrung der Auferstehung zur Geburt der Kirche an Pfingsten, als die frohe Botschaft über ethnische und sprachliche Grenzen hinweg ver-kündigt wurde? Die Erlanger Professorin Johanna Haberer sieht in all dem eine Parallele zur digitalen Welt und stelle eine provokante These auf: die Digitalisierung ist geradezu eine pfingstliche Idee.

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Reflexartig melden sich da meine Bedenken: Ist das nicht doch wieder ein naiver Fortschrittsoptimismus? Wird der Mensch im Namen der Grenzüber-schreitung am Ende nicht doch zum Knecht von Bits und Bytes? Riskiert er damit nicht alles, was ihn als menschliches Individuum ausmacht und sperrt sich in einen goldenen Käfig, weil er seine Mündigkeit an Unternehmen wie Facebook oder Google verkauft? Sind wir nicht sogar wieder einmal an dem Punkt, wo wir selbst Gott spielen wollen, indem wir unsere Grenzen immer weiter hinaus schieben wollen? Das Risiko besteht. Aber zumindest wenn es um die Weitergabe der Liebes-botschaft Gottes ging, standen sowohl für Jesus als auch für Martin Luther keine Sicherheitsbedenken im Vordergrund. Also los – auch wenn es ohne eine Ethik des Digitalen nicht gehen wird. Aber ohne Ethik ging es auch bei der Dampflok und beim Autofahren nicht. Eine hilfreiche Perspektive finde ich bei Paulus. Auch er ist ein Grenzüber-schreiter, der jedoch keiner hemmungslosen Entgrenzung das Wort redet. Im Brief an die Galater, Kapitel 5 schreibt er: Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Man könnte ergänzen: Weder das Joch der Angst vor der Freiheit, die eine digitale Welt mit sich bringt. Noch die Knechtschaft der Unfreiheit, die durch die digitale Vermessung des Menschen entstehen kann. Einen ganz praktischen Tipp gibt Paulus hinterher, den man prima für die Diskussionskultur in den sozialen Netzwerken anwenden könnte. „Wenn ihr euch aber untereinander beißt und fresst, so seht zu, dass ihr nicht einer vom andern aufgefressen werdet.“ Am Ende des Kapitels wird Paulus noch einmal ganz grundsätzlich und be-nennt klare Maßstäbe für einen fruchtbaren Geist der Freiheit. Ich nehme vorweg: Könnten das nicht auch Früchte einer geistreichen Digitalisierung sein? Paulus schreibt: Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Frieden, Ge-duld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Rücksichtnahme und Selbstbeherrschung.

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Besser kann man das Gegenteil von HateSpeech – also von Hasssprache, wie sie sich gerade im Netz verbreitet nicht beschreiben. Und ja – längst nicht überall sprießen diese Früchte – dort müssen wir – gerade auch als Kirche aktiv werden. Aber nicht durch Ablehnung oder Abwesenheit in der digitalen Welt, sondern durch ein vitales Leben geistreicher Freiheit, die Früchte her-vorbringt. Auch das gibt es schon jetzt. Digitalisierung als Gefängnis oder Freiheit? Das ist die falsche Alternative. Unsere Tradition als Kirche lässt uns viel Spielraum, mutig neue Wege zu gehen. Grenzüberschreitend, aber ohne naives Ignorieren der Gefahren. In dieser Spannung zu leben, heißt als Christ in der Welt, aber nicht von der Welt zu leben. Ich wünsche mir eine Kirche, die keine Angst vor dieser Art der Grenzüberschreitung hat und einen geistreichen Umgang mit ihr prakti-ziert – so wie sie es mit der Dampflok auch schon ganz gut geschafft hat.

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Pressespiegel:

"Bei Facebook wird der Mensch zur Ware" Digitalisierung: Bayerns oberster Datenschützer sieht die Grundrechte in Gefahr

von Sabine Stoll

Er sieht die Grundrechte in Gefahr: Thomas

Kranig, Präsident des Bayerischen Landesamtes

für Datenschutzaufsicht, warnt vor dem unkriti-

schen Umgang mit Digitalisierung und leichtfer-

tiger Datenpreisgabe an sammelwürdige Unter-

nehmen. Mit der Freiheit sei es dann nämlich

schnell vorbei.

Wer auf der Straße von einem Fremden gebeten

wird, ihm einfach so sein ganzes Adressbuch zu

überlassen, der stieße auf erhebliche Entrüstung,

sagt Kranig. Wer sich eine App auf sein Handy

herunterlädt, stimmt dem in der Regel ohne mit

der Wimper zu zucken zu. Er gewährt dem An-

bieter mit einem Klick den vollständigen Zugriff

auf alle Kontakte. Gerade schildert dieses Bei-

spiel, um deutlich zu machen, wie leichtfertig

viele im Netz mit ihren Daten umgehen. Diese

Sorglosigkeit auf der einen und die Datensam-

melwut der Unternehmen auf der anderen Seite

machen Bayerns oberstem Datenschützer Sor-

gen. "Der Mensch wird vom selbstständigen In-

dividuum zunehmend zum Objekt der Datenver-

arbeitung", kritisiert er. Mit der Freiheit sei es

dann schnell vorbei. Kranig sieht das Grundrecht

auf Datenschutz bzw. informationelle Selbstbe-

stimmung in Gefahr. Der Mensch sei in der Welt

der datengetriebenen Wirtschaft gefangen, sagt

der Jurist unter Anspielung auf den Titel der Ver-

anstaltung.

"Digitale Vermessung des Menschen – Freiheit

oder Gefängnis?" So ist der Kommentargottes-

dienst im St. Lorenz überschrieben. Die Referen-

ten – neben Kranig die Theologiestudentin und

Bloggerin Mara Feßmann ("Mara Wandelbar") –

liegen am Ende aber gar nicht so weit auseinan-

der mit ihrer Einschätzung.

Denn auch Mara Feßmann, die Pfarrer Tobias

Fritsche als "digital native", also als „digitale Ur-

einwohnerin" vorstellt, findet, "dass es einer Re-

gulierung bedarf", um die Unternehmen zu be-

schränken.

Sie ist aber nicht der Auffassung, dass man alles

dem Staat überlassen kann. Feßmann appelliert

an die Zuhörer, dass "wir als Nutzer unsere

Rechte selbst einfordern müssen". Das Recht auf

Nichtgesehenwerden, auf Vergessen im Netz, auf

Freiheit. "Wir müssen uns fragen, was wollen wir

preisgeben und wem?" Denn nach der Erkennt-

nis, dass man von vorne bis hinten vermissen

wird könnte ein "heilsamer Schock" stehen. Der

dann im Idealfall zur "Rückkehr zur Mündigkeit"

führt.

Die Bloggerin betont aber auch die wunderbare

Grundidee des Internets, Wissen allen zugänglich

zu machen. Oder die Möglichkeit, miteinander in

Kontakt zu treten. "Menschen, die sich in echt nie

sehen würden, finden im Internet zusammen."

Auch Kranig zählt die Vorteile der Digitalisie-

rung auf. Er wünscht sich aber auch, "dass es uns

gelingt, uns einen Freiraum zu bewahren", indem

man unbeobachtet Zeit allein oder mit einem lie-

ben Menschen oder mit Gott zu bringen könne.

Das gelinge nur dann, "wenn wir uns nicht wie

die Lemminge freiwillig in das digitale Gefäng-

nis begeben."

Pfarrer Fritsche zieht Parallelen zwischen der Di-

gitalisierung und anderen kulturellen oder tech-

nischen Revolutionen wie der Erfindung der

Dampflok, des Autos oder Telefon zum Beispiel.

Auch da pendelten die Reaktionen zwischen

"hemmungsloser Begeisterung" und "apokalypti-

schen Ängsten". Er selbst sieht mehr Chancen als

Risiken in der Digitalisierung, plädiert aber für

eine "Ethik des Digitalen". Und für die Kirche

wünscht er sich, "dass sie keine Angst vor dieser

Art der Grenzüberschreitung hat". Luther hätte

übrigens getwittert, ist er sicher.

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Lorenzer KommentarGottesdienste zu Ereignissen der Zeit

Die KommentarGottesdienste 2017:

Sonntag, 22.01., 19.02., 19.03., 21.05.,

18.06., 23.07., 24.09., 15.10.2017

- jeweils um 11.30 Uhr in der Lorenzkirche -

http://www.lorenzkirche.de

Sehen, Hören, Erleben Gottesdienste

Lorenzer Kommentar