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Das entgrenzte Europa Strategien politischer Gestaltung Vorlage zum International Bertelsmann Forum Weltsaal des Auswärtigen Amts Berlin, 19. - 20. Januar 2001 Bertelsmann Forschungsgruppe Politik Centrum für angewandte Politikforschung Universität München

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Das entgrenzte Europa

Strategien politischer Gestaltung

Vorlage zumInternational Bertelsmann Forum

Weltsaal des Auswärtigen AmtsBerlin, 19. - 20. Januar 2001

Bertelsmann Forschungsgruppe PolitikCentrum für angewandte Politikforschung

Universität München

I.

Jenseits der alten Grenzen

Das Symbol der frühen Jahre europäischer Einigungs-politik ist das der Überwindung von Grenzen – verdich-tet im Abbau der Schlagbäume an den Grenzübergängen

zwischen den Gründungsstaaten der Europäischen Wirtschafts-gemeinschaft. Heute, fünfzig Jahre später, hat diese Symbolikeine neue Dimension erreicht. Die europäische Politik wirddurch Prozesse der Entgrenzung geprägt, von denen jeder spezi-fische Chancen und Risiken enthält. Entgrenzung steht nichtallein für die Aufhebung von Schranken, sondern zugleich fürden Wandel der Bezugssysteme und Zuordnungen. JedeEntgrenzung beinhaltet deshalb auch die Notwendigkeit zurNeudefinition, zur neuen Vermessung der Räume.

Drei Vorgänge der Entgrenzung werden in den kommendenJahren das Gesicht Europas prägen:

- Der Grenzöffnung in Ungarn 1989 wird etwa 15 Jahre spä-ter die Erweiterung der Europäischen Union in den Raumdes untergegangenen Warschauer Paktes folgen – abgese-hen vom Sonderfall der neuen Bundesländer in Deutsch-land, die über die deutsche Einheit auf diesem Weg voran-gegangen sind. Mit der Aufnahme der assoziierten Staatenüberschreitet die EU mehrfach bisherige Begrenzungen:Von der westeuropäischen Nachkriegsgemeinschaft wirdsie zu einer Union mit gesamteuropäischem Anspruch. Inden verschiedenen Stadien der Erweiterung wird die Inte-gration zunächst die Grenzen des lateinischen Europa,dann die des christlichen Europa überschreiten. Mit derAufnahme der Türkei schließlich würde sie am Bosporusauch die geographische Grenzlinie Europas aufheben.

- Nach der weitgehenden Vollendung des Binnenmarktes bil-den nun die staatlichen Leistungen sowie die öffentlichenUnternehmen die Grenzen der Marktöffnung. Ihre künfti-ge Gestaltung und europäische Definition wird im Mittel-punkt europäischer Ordnungspolitik stehen. Gleichzeitigwerden mit der tatsächlichen Einführung des Euro als Zah-lungsmittel die Grenzen der nationalen Währungsräumefallen. Auch die nicht bereits an der Währungsunion teil-nehmenden EU-Staaten werden den Öffnungsdruck derGemeinschaftswährung in ihren Währungsräumen ver-spüren.

- Die institutionellen Reformen des Vertrags von Nizzahaben Grenzen des supranationalen Prinzips deutlichgemacht. Die Schritte der Öffnung nationaler Souveränitätverlangen offenbar nach einer präziseren Bestimmung derReichweite europäischer Integration. Im Reformprozessnach Nizza werden deshalb Schranken der Entgrenzung

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Europasdreifache Entgrenzung

entwickelt werden – vor allem in der Präzisierung derArbeitsteilung zwischen europäischer, nationaler undregionaler Ebene.

Neben diesen tief greifenden Erfahrungen finden sich Phäno-mene der Entgrenzung in verschiedenen Facetten der europäi-schen Politik. Dies reicht von der Globalisierung der Waren- undFinanzströme bis zur Internationalisierung der Zuwanderungnach Europa. Gleichzeitig steckt die politische Entwicklung derIntegration Grenzen neu ab: Mit der Vertiefung der Sicherheits-und Verteidigungspolitik überwindet die Integration dieBegrenzungen der Europäischen Union als „Zivilmacht“.

In der öffentlichen Wahrnehmung dieser europäischen Per-spektiven wird eine Ambivalenz spürbar. Einerseits erweitern dieSchritte der Entgrenzung den Bedeutungsinhalt des Konzeptsder europäischen Einigung und eröffnen neue Felder desSelbstverständnisses und der Selbstverständigung der Europäer.Andererseits erzeugen die mehrfach gelagerten EntgrenzungenUnsicherheiten und Ängste: Je weiter und je tiefer der Integra-tionsprozess reichen wird, desto nachdrücklicher wird die Fragegestellt werden, was dieses Europa zusammen hält und welchemverbindenden Konzept die Ausdehnung folgt.

Die EU am Vorabend der Erweiterung

Die Europäische Union der 15 ist kein statisches Gebilde. InWirtschaft, Gesellschaft und Politik ist neue Dynamik und

gewachsenes Selbstvertrauen erkennbar. Das Bruttosozial-produkt in der EU wächst nachhaltig, neue Arbeitsplätze entste-hen, vor allem in Zukunftsbereichen. Seit Jahren erleben dieEuropäer eine einmalige Phase der inneren Geldwertstabilität. Inden Gesellschaften der Europäischen Union ist die Bereitschaftzur Erneuerung zurückgekehrt. Reformen werden nicht mehrprimär als Einschnitt oder Belastung empfunden, sondern auchals Chance zur Verbesserung. Die Bürger in Europa wollen anden Debatten über die Zukunft von Staat und Gesellschaft, dieSicherung ihrer Interessen und Werte und über die GestaltungGesamteuropas aktiv teilnehmen.

Auch die Politik der europäischen Einigung spiegelt dieseDynamik wider. Für die wesentlichen Bereiche der Integra-tionspolitik sind ambitionierte Vertiefungsprojekte auf demWege:

- Nach Nizza geht es in den kommenden Jahren einerseitsum die Neubestimmung der Arbeitsteilung der staatlichenEbenen – horizontal wie vertikal – und andererseits um dieFortentwicklung einer demokratischen und bürgernahenpolitischen Ordnung auf europäischer Ebene.

- Die Weiterentwicklung der EU zu einem Raum derFreiheit, der Sicherheit und des Rechts wird neue Formen

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Antriebskräfte derIntegration

der inneren Sicherheit wie die Steuerung der Zuwanderungerforderlich machen.

- Die Entwicklung einer Gemeinsamen Europäischen Sicher-heits- und Verteidigungspolitik zielt auf die Stärkung derGlaubwürdigkeit Europas als Friedensfaktor. Die Europäerwerden sich mit den Mitteln ausstatten, um ihre Krisen-beherrschung effektiver zu machen, die Verletzung elemen-tarer Werte und Rechte der Menschen zu verhindern, dieAllianz der Demokratien Nordamerikas und Europas zustärken und die Ordnungskraft der internationalenStaatengemeinschaft zu unterstützen.

- Ein Markt und eine Währung verlangen ordnungspoliti-sche Entscheidungsfähigkeit auf gleicher Augenhöhe –nachhaltige Wirtschaftsentwicklung, Beschäftigung undsoziale Stabilität werden zu Entscheidungsfragen auch dereuropäischen Politik.

Für die Europapolitik wird es entscheidend sein, die Begrün-dungen, die Entwicklungsrichtung und die Folgefragen dieserProjekte in der Öffentlichkeit zu vermitteln. Der Prozess derIntegration hat eine Stufe erreicht, die öffentliche Auseinan-dersetzung um die nächsten Schritte erfordert. Europa zu verste-hen, ist die Voraussetzung zur Unterstützung und zur Teil-nahme. Ohne die Zustimmung der Menschen wird keines derambitionierten Vorhaben Europas zu verwirklichen sein. Ohneein energisches Programm der Politik, die Ziele und Schritte derlaufenden Projekte zu vermitteln, wird sich Zustimmung nichtartikulieren. Eine solches Programm ist nicht frei von Risiken –es könnte gesellschaftliche und nationale Grenzen des Konsensesoffenlegen, die Regierungen und Parlamenten eine Weiterent-wicklung Europas unmöglich machen könnten. Eine offeneDebatte lässt sich dennoch nicht vermeiden, denn ohne siekönnten diffuse Ängste und deren Instrumentalisierung dieEuropa-Debatte verformen und den Sinn der Auseinander-setzung ins Gegenteil verkehren: Ohne die Legitimation durchDiskussion und Teilhabe würde die Entscheidungsfähigkeit derEuropapolitik in jedem Fall geschwächt.

Dimensionen der Erweiterung

Die vorgezeichnete Erweiterung nach Osten präzisiertzugleich die geographische Reichweite der Europäischen

Union. Sie umfasst heute den gesamten früheren „Westen“Europas bis auf die Schweiz mit Liechtenstein, Norwegen undIsland – die jederzeit beitreten könnten, wenn sie dies politischwollten. Daneben sind bei aller Unterschiedlichkeit der Ent-wicklungen und regionaler Besonderheiten drei Gruppen vonStaaten zu erkennen, aus denen die künftigen Neumitglieder derEuropäischen Union kommen werden:

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Sicherungder Akzeptanz

- Die erste Gruppe bilden die derzeit verhandelnden Staatenim östlichen Mitteleuropa, im Baltikum, in Südosteuropasowie die beiden Inselrepubliken Zypern und Malta. DieUnterschiede zwischen ihnen sind groß – sowohl in Bezugauf den Abstand im Leistungs- und Einkommensniveau imVergleich zu den schwächeren Staaten der EU als auch imBlick auf die Bereitschaft und Fähigkeit, den wirtschaftli-chen, administrativen und politischen Rahmen der EU vollzu übernehmen. Zu den größten Schwierigkeiten imVerhandlungsprozess zählen die Anpassung der reguliertenPolitikbereiche der EU – vor allem der Agrarpolitik – unddie administrativ-rechtliche Umsetzung des EU-Rechts inden Kandidatenstaaten. Politische Problemlagen könntenden Beitrittsprozess komplizieren: So ist die Integration derrussischen Minderheit in Estland und Lettland bisher nichtabgeschlossen, die Stellung der ungarischen Minderheitenin verschiedenen Staaten erscheint nicht dauerhaft gesi-chert und ein Beitritt nur des griechischen Teils Zypernswürde die Teilung der Insel verfestigen und den türkischenZyprioten den Zugang nach Europa verstellen.

- Eine zweite Gruppe künftiger Mitglieder bilden die Staatendes westlichen Balkan. Über den Stabilitätspakt und durchverschiedene Erklärungen europäischer Gremien haben sieeine Beitrittszusage erhalten, sofern ihre innere Entwick-lung und regionale Verträglichkeit den Anschluss an dieTransformationsentwicklung in Ostmitteleuropa erlaubt.Am weitesten fortgeschritten erscheint derzeit die Entwick-lung in Kroatien, sowohl in Bezug auf die Demokratisie-rung als auch im Blick auf die Pluralisierung der Medien,die Öffnung der Gesellschaft und die Stärkung derPrivatwirtschaft. Problematisch erscheint noch die Minder-heitenpolitik, insbesondere die regional Signal gebendeFrage der Krajina. Mazedonien hat seine Transformationtrotz außerordentlich ungünstiger Umfeldbedingungenstabilisiert und ist auf einem guten Weg der Konsolidie-rung, während in Albanien noch immer die Stabilität derdemokratischen Ordnung und die Handlungsfähigkeit derPolitik deutliche Defizite aufweist.

Für die Bundesrepublik Jugoslawien besteht nun dieChance, an die Entwicklung der Region anzuschließen,wenn es gelingt die demokratische Erneuerung auch aufEbene der Republik Serbien politisch wie institutionell zusichern. Daneben wird die Entwicklung neuer und auf derBasis der Freiwilligkeit beruhender Formen der Re-Födera-lisierung der Bundesrepublik Jugoslawien Erfolg habenmüssen. Weder die Umgestaltung der jetzigen Verhältnissenoch die Rückkehr zum Status quo ante wird hinreichen,um den Erfahrungen und Interessen der Kosovaren wie derMontenegriner gerecht zu werden.

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derwestliche Balkan

dieassoziierten Staaten

Unter den so verbesserten regionalen Rahmenbedingungenbesitzt schließlich auch der wohl fragilste Staat auf demwestlichen Balkan, Bosnien-Herzegowina, eine realeChance, die Friktion ethnischer Gewalt zu überwinden undals Mehrvölkerstaat zu überleben. Aufgrund seiner äußerenwie inneren Lage würde Bosnien-Herzegowina von derBefriedung seines Umfeldes direkt profitieren und dürfteohne größere Schwierigkeiten Anschluss an dieModernisierung der Nachbarschaft halten.

- Die dritte Gruppe schließlich umfasst den Raum im Ostenund Südosten der zuvor genannten Regionen einer erwei-terten Europäischen Union. Unter den damit umrissenenStaaten verfügt derzeit nur die Türkei über eine konkreteBeitrittszusage, obgleich sie von der Eröffnung von Bei-trittsverhandlungen noch recht weit entfernt scheint, so-lange keine wesentliche Umgestaltung der inneren Ord-nung und Verfassungslage des Landes erfolgt ist. FürRussland oder Ukraine, für Moldawien oder Georgien istdamit zugleich die prinzipielle Möglichkeit eröffnet, künf-tig einmal den Weg der Türkei einzuschlagen und wie sieeines Tages einen Platz innerhalb der Europäischen Unioneinzunehmen. Zunächst jedoch steht für diese Staaten dieVorform der mit der Türkei bereits realisierten Zollunionan – die erfolgreiche Entwicklung eines Partnerschaftsver-hältnisses zur EU mit der Perspektive der Bildung einerFreihandelszone.

Die Entscheidung des Gipfels von Helsinki, der Türkei formellden Status des Beitrittskandidaten zuzuerkennen, hat die Gren-zen Europas neu gezogen, denn der Beschluss der Staats- undRegierungschefs überholt frühere und geläufige Definitions-muster Europas: Die Reichweite der Integration ist nicht eindeu-tig geographisch zu bestimmen – die Türkei liegt im Schnitt-punkt mehrerer Großregionen und nur zu einem kleinen Teilauf dem europäischen Kontinent. Integration ist auch nicht ein-fach auf das lateinische Europa zu begrenzen – mit der Osterwei-terung wird die Alleinstellung des orthodoxen Griechenland inder EU überwunden, so wie mit der letzten Erweiterung vorJahren die Vorstellung im Norden Europas obsolet wurde, dasProjekt der Integration sei ein katholisches.

Im Ergebnis macht die Entscheidung von Helsinki die Bereit-schaft zur Einordnung in die künftige Europäische Union unddie Fähigkeit zur Mitwirkung in ihr, getroffen auf der Basis einerfreien und bewussten Entscheidung der Menschen für Europa,zum entscheidenden Kriterium für die Reichweite der Integra-tion. Europas Grenzen werden in diesem Sinne dort liegen, wosich die Menschen – im vollen Bewusstsein der Tragweite diesesSchritts – für das integrierte Europa entscheiden. Damit habendie Europäer beschlossen, zumindest nach Osten keine eindeuti-ge räumliche Abgrenzung vorzunehmen. Möglicherweise wer-den sie in logischer Konsequenz diesen Ansatz später einmal

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die Türkeiund ihre Nachbarn

neue Grenzender Integration

auch auf die Gegenküste des Mittelmeers oder auf Völker desNahen Ostens anwenden müssen.

Szenarien von Verdichtung und Auflockerung

Inhalt und Form der Regierungskonferenz von Nizza haben be-wusst werden lassen, dass die Projekte der Vertiefung wie die

Grenzüberschreitungen der Erweiterung die Präzisierung derfrüher vage gehaltenen Vorstellung von der Finalität des Integra-tionsprozesses erzwingen werden. Beide Entwicklungssträngeenthalten Belastungsproben für das System der Integration undden Zusammenhalt seiner Mitglieder, die eine Verstärkung derwechselseitigen Bindungen erfordern. In der Verarbeitung dieserLasten steht der Integrationsprozess an einer konzeptionellenWegscheide, die das bisher übliche Offenhalten der Finalitätnicht zulässt, sondern die Entscheidung zwischen verschiedenenEntwicklungsszenarien verlangt.

Im ersten dieser Szenarien würde die produktive Umsetzungder aktuellen Herausforderungen in einen Systemwandel zurTriebfeder weiterer Integration werden: Die Europäische Unionwürde zu einer Föderation europäischer Staaten, gestützt aufeinen Verfassungsvertrag mit abgegrenzten Zuständigkeiten derverschiedenen Ebenen und demokratischen Legitimations- undKontrollverfahren. Damit wäre die Staatswerdung Europas zu-gunsten der supranationalen Idee entschieden. Dieses Szenariosetzt die Bereitschaft auch der künftigen Mitgliedstaaten zu sub-stanziellem Souveränitätstransfer sowie zum Aufbau europäi-scher Regierungskapazität voraus.

Die europäische Integration kann aber auch einen zweitenWeg nehmen, auf dem supranationales Handeln und Zusam-menarbeit der Regierungen die Politik der Staaten nur ergänzt.Dieses Europa könnte die Form einer vertieften Freihandelszoneannehmen – locker genug, um die divergierenden Interessen-lagen, Ansprüche und Ambitionen der Staaten auszuhalten, aberstark genug, um die Skalenerträge des gemeinsamenWirtschaftsraums in den Stufen der Erweiterung von 15 auf 28und mehr Staaten nicht zu verlieren. In diesem Szenarioerscheint die Weiterentwicklung der politischen Integration füralle weitgehend ausgeschlossen – sie wäre allenfalls über denWeg der verstärkten Zusammenarbeit für den Kreis der Euro-Staaten plausibel.

Ein dritter Weg zwischen diesen beiden Entwicklungs-szenarien wäre der einer differenzierten Integration. Wenn esnicht gelingt, die EU zu erweitern und gleichzeitig ihre politi-schen Ziele zu realisieren, dann läge in der Vorwegnahme derpolitischen Finalität einer großen Europäischen Union durchden Kreis der dazu fähigen Staaten die wohl einzige Chance, denZusammenhalt der EU zu stärken und das Integrationsprojektvoran zu bringen. Eine Gruppe von Staaten würde jeweils dieWirtschaftsunion, die Union der inneren Sicherheit, die Vertei-

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europäischeFöderation

Freihandelszone„de luxe“

differenzierteIntegration

digungsunion bilden. Die Zusammensetzung dieser Avantgarde-Projekte muss nicht identisch sein, dürfte aber weitgehenddeckungsgleich ausfallen und könnte so das Konzept einer Euro-päischen Föderation vital halten: als Zusammenführung derErgebnisse, Erfahrungen und Strukturen tiefer Integration wieals Angebot an alle EU-Mitglieder.

Eine weitere Entwicklungsalternative schließlich läge imZerfall der Integration – nicht als düstere Variante des Schei-terns, sondern aus der möglichen Unzeitgemäßheit des Kon-zepts. Dieses Szenario nimmt an, dass die Integration ein Pro-dukt der Kalten Krieges und der Teilung in antagonistischeBlöcke war und ihren Entstehungskontext mittelfristig nichtüberdauern wird, sei es, weil die Interessendivergenzen derStaaten die Notwendigkeit der Zusammenarbeit überlagern, seies, weil neue Formen transnationaler und globaler Steuerungbzw. Regelbildung die Bedeutung regionaler Integration ablösen.

Welche dieser Entwicklungsalternativen die europäischePolitik bestimmen wird, entscheidet sich nicht anhand einerSituation oder Entscheidung, sondern an den zahlreichen Weg-marken der Integrationspolitik seit dem Fall der Berliner Mauer.Im Blick auf die europapolitische Lage nach dem Gipfel vonNizza sind es drei Kernfragen, deren Beantwortung den Ent-wicklungsweg der Europäischen Union prägen werden:

- Wie soll Europa politisch geordnet werden – wie ist dasDreieck von Effizienz und Handlungsfähigkeit zum einen,von Legitimation und Kontrolle zum zweiten und derArbeitsteilung zwischen EU, Staaten und Regionen zumdritten zu gestalten?

- Welches Sozial- und Gesellschaftsmodell trägt die ZukunftEuropas – wie ist die Balance zwischen Wettbewerb undSolidarität zu definieren und wie können die öffentlichenAufgaben erfüllt werden?

- Welche weltpolitische Verankerung soll das künftige Eu-ropa anstreben, und wie soll außenpolitische Handlungs-fähigkeit gewonnen werden?

II.

Europas politische Ordnung

Die Regierungskonferenz zur Reform der EuropäischenUnion und der Gipfel von Nizza haben Reichweite undIntensität der Positionsdifferenzen und Interessengegen-

sätze demonstriert, welche die EU gegenwärtig kennzeichnen.Der Verstärkung europäischer Handlungsfähigkeit stehen natio-nale Vorbehalte entgegen, die sich entweder auf bestimmte

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Zerfall derIntegrationsstruktur

Handlungsfelder oder auf die Rolle europäischer Institutionenbeziehen. Die Schnittmenge der Vorbehalte ist so groß, dass ausdem Maß der Gemeinsamkeiten kein europapolitisch hinrei-chendes Ergebnis entsteht – damit verliert auch die Regierungs-konferenz als Innovationsinstrument an Bedeutung.

Die Bilanz des Vertrags von Nizza enthält in diesem Sinnegemischte Signale für die Zukunft der Integration. Einerseitssind Schritte in Richtung auf das für Nizza gesetzte Ziel einerverstärkten Handlungsfähigkeit erreicht worden: ein begrenzterAbbau der Bereiche der Einstimmigkeit sowie die Erleichterungund Erweiterung der verstärkten Zusammenarbeit. Mit einerstärker proportional ausgerichteten Zusammensetzung desEuropäischen Parlaments wird die Qualität demokratischerRepräsentanz tendenziell verbessert. Andererseits sind dieseFortschritte mit einer Verstärkung der Vetopositionen und mitNicht-Entscheidungen in sensiblen Bereichen erkauft worden,welche die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union in denStufen ihrer Erweiterung schwächen werden. So sind zentralePolitikbereiche der europäischen Innenpolitik wie die Sozial-und Steuerpolitik ausgespart worden, in der Handelspolitikkönnte sogar eine Rückkehr zur Einstimmigkeit die Folge diffu-ser Schutzklauseln sein, wieder andere Bereiche werden erst zeit-lich verzögert in die Mehrheitsentscheidung überführt, wobeiinsbesondere die Strukturpolitik der Austragungsort vonVerteilungskonflikten in der erweiterten EU bleiben wird. Diekünftigen Mitglieder wurden zudem im Entscheidungssystemherabgestuft: In der Stimmgewichtung im Rat konnte dieSchlechterstellung in der Regierungskonferenz noch weitgehendkorrigiert werden, in der Zuweisung der Sitze im EuropäischenParlament sind jedoch Abstufungen beschlossen worden, diedem Grundsatz proportionaler Repräsentanz in demokratischenGremien widersprechen.

Das Verfahren der qualifizierten Mehrheitsentscheidung imRat wird mit dem Vertrag von Nizza nicht im Sinn der Regie-rungsfähigkeit verbessert. Das Regieren über Mehrheiten wirdauch künftig nicht das prägende Politikmuster der Integrationsein, denn neben die Reform der Stimmgewichtung sind neueSicherheitsklauseln getreten. Was die Erhöhung der Stimmen-zahl an Gestaltungspotential eröffnet, wird durch die Anhebungdes Quorums im Zuge der Erweiterung sowie durch dieEinführung zweier zusätzlicher Kriterien (Mehrheit der Staatenund Vertretung von 62% der EU-Bevölkerung) wieder verloren,denn jedes dieser drei Elemente erschwert das Zustandekommenqualifizierter Mehrheiten. Die Gestaltungsmacht in der europäi-schen Politik nimmt ab, während die Verhinderungsmachtwächst.

Jenseits des Vertrages von Nizza bleibt die Frage nach einemangemessenen Regierungssystem für die große EuropäischeUnion bestehen. Die Klärung der Machtfrage hat sich als zuschwierig für das Europa der 15 erwiesen, um zu einer Lösungfür ein Europa der 27 zu kommen. Von der Türkei, dem poten-

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der Vertragvon Nizza

die Schwächungder qualifiziertenMehrheitsentscheidung

tiell 28. Mitgliedstaat, war dabei noch keine Rede. Die künftigeMachtbalance wird deshalb erneut und das nächste Mal unterBeteiligung der bis dahin beigetretenen Kandidatenstaaten ver-handelt werden. Es ist nicht abzusehen, ob und wie Europa dannnoch zu konstitutionellen Korrekturen in der Lage sein wird.

Mit den Entscheidungen von Nizza ist jedoch nur ein Teil derFrage nach der künftigen politischen Ordnung vorläufig beant-wortet. Andere Bereiche erscheinen angesichts der in Nizza zuta-ge getretenen Konflikte in ihrer Bedeutung gewachsen zu sein.Dazu gehören vor allem drei Fragen:

1. die Kompetenzfrage – das Ringen um Einstimmigkeit undVetopositionen in Nizza signalisiert ein Unbehagen mit derReichweite und Intensität von Integration in der Europäi-schen Union, das möglicherweise erst über eine eindeutigeund systematische Abgrenzung der Zuständigkeiten zwi-schen der europäischen und den mitgliedstaatlichen Ent-scheidungsebenen aufzulösen ist. Wirksame vertraglicheSchranken der zentripetalen Dynamik von Integrationkönnten die Voraussetzung zu verbesserter Entscheidungs-fähigkeit sein. Gleichzeitig wäre auf der Basis abgegrenzterZuständigkeit auch das Verhältnis der europäischenInstitutionen zueinander neu zu gestalten.

2. die Akzeptanzfrage – mit dem Vertrag von Nizza liegt einweiteres Dokument europäischer Diplomatie vor, dessenUnlesbarkeit beispielhaft für die Undurchschaubarkeit desIntegrationssystems steht. Der Vertrag von Nizza verein-facht das politische System der EU nicht; infolgedessenmüssen andere Formen verbesserter Transparenz gefundenwerden, um die Zustimmung der Menschen zu erhalten.Dies könnte durch die Entwicklung eines Grundvertragesgeschehen, der die wesentlichen Ziele, die Rechte undPflichten der Bürger, die Zuständigkeiten und die Institu-tionen und Verfahren transparent macht. Alle anderenRegelungen würden als Ausführungsbestimmungen ausge-gliedert und könnten durch ein einfacheres Verfahren alsbisher verändert werden.

3. die Demokratiefrage – in der Vorbereitung auf den Gipfelvon Nizza ist von der „demographischen Frage“ häufig sogesprochen worden, als sei damit bereits eine Verstärkungder demokratischen Qualität verbunden. Nach Nizza wirddiese Vermischung aufgelöst werden müssen in der Klärungder Rolle des Europäischen Parlaments und der nationalenParlamente.

Die schwierigste der drei Fragen wird in den kommendenJahren die nach dem Kompetenzgefüge und der Arbeitsteilungder verschiedenen Ebenen staatlichen Handelns sein. Alle dreiEbenen sind aufeinander angewiesen, müssen jeweils funktions-fähig bleiben und die Aufgaben sinnvoll untereinander aufteilen.Es gibt Aufgaben der Politik, für deren Wahrnehmung dieStaaten zu klein geworden sind und die nur in Zusammenarbeit

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die Reformagendader kommenden Jahre

oder durch supranationale Politik umzusetzen sind. Ebenso gibtes Aufgaben, für die die Europäische Union zu groß gewordenist, um sie noch problemnah und flexibel genug wahrnehmen zukönnen. Politik und politische Kultur in den meisten der kleinenEU-Mitgliedstaaten belegen zudem, dass die regionale Dimen-sion Vorteile für die politische Gestaltung bietet. Diese dreiBeobachtungen bilden die Ratio einer Arbeitsteilung zwischenden politischen Entscheidungsebenen in der EuropäischenUnion. Das gegenwärtige Kompetenzgefüge entspricht wederdieser noch einer anderen Rationalität. Zum Teil wurden der EUüber die Jahrzehnte Kompetenzen übertragen, zum Teil habensich Zuständigkeiten aus dem spill-over der Marktintegrationergeben oder wurden durch die Rechtsprechung des Europä-ischen Gerichtshofes herausgebildet.

Das Subsidiaritätsprinzip aus dem Vertrag von Maastricht warder Einstieg in eine Begrenzung der Zentralisierungstendenzenauf europäischer Ebene. In Zukunft geht es nun um ein Modellder Kompetenzzuweisung, das einerseits die notwendigengemeinsamen Aufgaben auf europäischer Ebene festlegt undandererseits den Mitgliedstaaten und ihren Regionen einenangemessenen Handlungsspielraum belässt. Da die Nationenund Regionen auch weiterhin wesentliche Quellen der Identitätbleiben werden, vermeidet die Klärung der KompetenzfrageIdentitätskonflikte der Bürger und hilft, die Bindung der Men-schen an ihre politische Ordnung zu bewahren. Es wäre fatal fürdie Handlungsspielräume wie für die Wirksamkeit politischenHandelns auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene,wenn aus einem Kompetenzkonflikt heraus die Ebenen staatli-chen Handelns gegeneinander in Stellung gebracht würden.

III.

Gesamteuropäische Solidarität

und die Zukunft

des europäischen Gesellschaftsmodells

Seit ihren Anfängen hat die Integration Europas stets mehrim Sinn gehabt als die reine Maximierung des Nutzensihrer Mitglieder. Die Europäische Union verknüpft wirt-

schaftlichen Aufschwung und politische Stabilität mit Struktu-ren des Interessenausgleichs in produktiver Weise. Zum Grund-gedanken dieser Gemeinschaft gehört das Konzept europäischerSolidarität, das heute in vielen Facetten der Politik und der Insti-tutionen der Europäischen Union verankert ist: in den Politikbe-reichen der EU, vor allem in den Strukturfonds, dem Kohäsions-

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die Abgrenzungder Zuständigkeiten

fonds wie im Bereich der Agrarpolitik, im Rahmen der Wirt-schafts- und Währungsunion, daneben in einer Fülle flankieren-der Politiken, von der beruflichen Bildung bis zur Förderungkleiner Sprachen; in der Finanzierung der Gemeinschaft auf derBasis der Wirtschaftsleistung ihrer Mitglieder, in der institutio-nellen Balance zwischen Gemeinschaftsebene und Ebene derStaaten wie in der Balance großer, kleinerer und kleiner Mit-gliedstaaten in den Institutionen der Europäischen Union.

Konstitutiver Bestandteil dieses europäischen Solidarkonzeptsist dessen Offenheit für weitere Mitglieder. Zwar lag der Aus-gangspunkt der Integration im Kalten Krieg und in der beson-deren Interessenkonstellation Westeuropas begründet, dochreichte der Anspruch weiter. Europa zu einigen hatte stets aucheine nach Osten gerichtete und über den Systemkonflikt hinausweisende Dimension, greifbar vor allem in der Teilung Deutsch-lands. Nach dem Selbstverständnis des integrierten Europa istder Weg der ostmitteleuropäischen, baltischen und südosteu-ropäischen Staaten Europas zu Demokratie und Marktwirtschaftdeshalb zugleich auch der Weg in die Europäische Union – esliegt in der Logik der Integration, dass die Grundentscheidungfür diesen Schritt nicht bei der EU und ihren Mitgliedern liegt,sondern bei diesen europäischen Staaten selbst.

Im Lauf der kommenden fünf Jahre wird dieser Anspruch fürdie ersten der neuen Demokratien wirtschaftliche, politischeund gesellschaftliche Realität werden – in einem Verhandlungs-prozess, dessen Schwierigkeit in der Komplexität des Integra-tionsprozesses selbst liegt. Die bisherigen Leistungen in derTransformation und sicher auch die Integrationsperspektive inder Europäischen Union haben Stabilität und Sicherheit inMittel- und Osteuropa erheblich gefördert. Der Beitritt zur EUkann deshalb nach Maßgabe der Fähigkeit zur Mitwirkung inder Integration und zur Teilnahme an ihrer Weiterentwicklungerfolgen. Was wäre gewonnen, wenn die „Rückkehr nachEuropa“ zum Solidarbruch unter den Europäern und zumGestaltungsverlust europäischer Politik führte?

Das größere Europa braucht grundlegende Anpassungen andie größere Zahl seiner Mitglieder, nicht, weil die Neumitgliedernicht produktiv wären, sondern weil ihr Beitritt einen funda-mentalen Konstellations- und Strukturwandel bedeutet. Die ein-fache Verlängerung der bisherigen Solidarstrukturen und ihrerEntscheidungsverfahren wird an der Frustration der Nettozahlerund der Konkurrenz der Empfängerregionen scheitern. Ent-scheidungspakete zur Sicherung eines allseitigen materiellenVorteils werden in einer großen EU nicht mehr möglich, weilnicht länger finanzierbar, sein. Europa könnte in kleineSolidarräume zerfallen und einen Hauptbestandteil seiner Iden-tität in Frage stellen. Das Risiko eines Solidarbruchs und derIdentitätskrise erfordert mehr als die Reform von Politiken undFinanzausstattung nach dem Muster gradueller Anpassungen –je grundsätzlicher die bisherigen Politiken, Programme undVerfahren zu überdenken sind, desto grundsätzlicher wird auch

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das Risikodes Solidarbruchs

die Neukonzeption des Solidargedankens in der EuropäischenUnion ausfallen müssen.

Prioritäten der Politikreform

Mit der Erweiterung nach Osten stößt die europäische Poli-tik an die Grenzen ihrer bisherigen Haushaltsphilosophie.

Seit der Entwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik ist die Aus-gabenpolitik der EU auf die Aushandlung eines allseitigenNutzens ausgerichtet gewesen, die jeden Mitgliedstaat – auch diewirtschaftlich starken – in den Genuss von Rückflüssen aus demGemeinschaftshaushalt bringen sollte. Zugleich enthielt dasSystem in seinen vielfältigen Formen Elemente des Finanz-ausgleichs zu Gunsten der schwächeren Staaten in derGemeinschaft – gewissermaßen in Verrechnung des wirtschaftli-chen Nutzens der Marktöffnung für die stärkeren Wirtschaften.Das Entwicklungsgefälle, die Intensität der Modernisierungs-probleme wie die starken Agrarsektoren in vielen der künftigenMitgliedstaaten sprengen dieses System.

Zielperspektive einer durchgreifenden Reform der Gemein-samen Agrarpolitik müsste ein Binnenmarkt für Agrarproduktesein, in dem die Wettbewerbsvorteile der Produktionsstandortezur Geltung kommen könnten. Daraus entstünden dezentraleWachstumsimpulse, die sowohl für die künftigen Mitglieder alsauch für strukturschwache Gebiete der heutigen EU mit günsti-ger Faktorausstattung attraktiv sind. Es wäre belastend für denZusammenhalt der EU und wirtschaftlich unrentabel, wenn dieReformwirtschaften Mittel- und Osteuropas die Modernisierungihrer Landwirtschaft im Blick auf ihre Mitgliedschaft an denRahmenbedingungen des bestehenden Subventionssystems aus-richten würden. So sollten diejenigen Landwirte in den Kandida-tenstaaten, die nicht für den Markt produzieren, auch nicht indas Subventionsregime der Agrarpolitik einbezogen werden.

Ebenso unumgänglich ist eine durchgreifende Reform derStrukturpolitik der EU. 2005 wird das Bruttoinlandsprodukt inOstmitteleuropa voraussichtlich nur 40 Prozent des EU-Durch-schnitts erreichen. Bei Aufrechterhaltung der jetzigen Struktur-politik käme auf die EU eine Kostenbelastung zu, die keiner derMitgliedstaaten zu tragen bereit wäre. Zwar wird die Erweite-rung nicht kostenneutral bleiben können, doch sollten die Fondskonsequent nach den Kriterien der Bedürftigkeit und derEffizienz des Mitteleinsatzes reformiert werden. GeeigneteAnsatzpunkte der Reform wären die Überprüfung der Qualifika-tionsschwelle von derzeit 75 Prozent des durchschnittlichen ge-meinschaftlichen Bruttoinlandsprodukts, eine Erhöhung der na-tionalen Finanzierungsanteile in Projekten der Strukturförde-rung oder auch die Einsetzung von regionalen Entwicklungs-agenturen, die anstelle ineffizienter Zentralverwaltungen dieKonzeption und Durchführung von Projekten übernehmenkönnten.

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die Reform derGemeinsamenAgrarpolitik

eine Zuspitzungder Stukturförderung

Auch in anderen Politikbereichen wird der Paradigmen-wandel der Erweiterung spürbar werden: Im Bereich der innerenSicherheit spricht die stark unterschiedliche Leistungsfähigkeitfür europäische Programme der Grenzsicherung. Auch inZukunft wird die erweiterte Europäische Union nach Ostenkeine eindeutige Abgrenzung vornehmen – umso wichtiger wer-den gemeinsame Ansätze in der Flüchtlings-, Visa- undAsylpolitik werden. In anderen Bereichen sollten die Erfahrun-gen früherer Erweiterungen angewandt werden. So können dieArbeitsmarktwirkungen der Freizügigkeit am besten durchgezielte Entwicklungsprogramme in den Grenzregionen derheutigen EU und nachhaltiges Wachstum in den Beitrittsstaatenabgefedert werden. Schließlich bedürfen alle verteilungswirksa-men Politikfelder der Überprüfung: So wäre beispielsweise inder Forschungspolitik eine Konzentration der Förderung auf dieglobal wettbewerbsfähigen Champions sinnvoller als derVersuch, den Rückstand der Forschungsleistung der künftigenMitglieder in vielen Bereichen durch europäische Mittel auszu-gleichen. Was als strukturpolitische Maßnahme sinnvollerscheint, schwächt gleichzeitig die globale Wettbewerbs-fähigkeit der EU.

Die Zukunft des Gesellschaftsmodells

Parallel zur Vorbereitung der Erweiterung tritt die heutigeEuropäische Union in die zweite Phase der Binnenmarkt-

vollendung ein: Gut ein Jahrzehnt nach dem Durchbruch desKonzepts auf dem Sondergipfel von Brüssel 1988 haben derWettbewerbsdruck und die Wettbewerbspolitik die Staatswirt-schaft, die öffentlichen Unternehmen und die Versorgungsstruk-turen erreicht, in denen der Markt aus vielfältigen Überlegungennicht gilt, obwohl er gelten könnte. Mit der durch die Wäh-rungsunion geschaffenen Kostentransparenz wird eine zumin-dest ungefähre Vergleichbarkeit der öffentlichen Leistungenmöglich. Neue Begründungen und Strukturen für die Beschrän-kung des Marktes wie für eine Ordnungspolitik im europäischenRahmen werden die Folge sein.

Wirtschaftlicher Wettbewerb einerseits und sozialer Aus-gleich, Solidarität und Gerechtigkeit andererseits schließen ein-ander nicht aus – im Blick auf den Zusammenhalt der Gesell-schaften in Europa bedingen sie sich vielmehr gegenseitig.

Mit der Vollendung des Binnenmarktes hat sich die Balancezwischen Wettbewerb und Solidarität verschoben: Die öffentli-chen Sektoren der Mitgliedstaaten geraten unter Wettbewerbs-druck. Während die politische Macht des Marktes zugenommenhat, sind Elemente „positiver Integration” nur schwer zu veran-kern gewesen. Eine Asymmetrie kennzeichnet auch den Fokusder europäischen Institutionen: Sie besitzen klare Zuständigkeitin der Wahrung des Wettbewerbs im Binnenmarkt, ohne durchdie Schranken eines europäischen Sozialmodells gebunden zu

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Balance vonWettbewerbund Solidarität

sein. Daraus entstehen ordnungspolitische Konflikte wie dieAuseinandersetzung um die „Daseinsvorsorge“ durch öffentlicheUnternehmen und Dienstleister in Deutschland. Ein fest umris-senes europäisches Sozial- und Gesellschaftsmodell bestehtjedoch nicht. Zu unterschiedlich sind bei aller Gemeinsamkeitder Europäer im Vergleich zu nicht-europäischen Gesellschaftendie Traditionen, Regelungsinteressen und Präferenzen.

Damit steht die Europapolitik vor der Entscheidung zwischendrei grundlegenden Wegen: Einerseits könnten die öffentlichenAufgaben dem Wettbewerb insgesamt entzogen werden – eineOption, die durch die weitgehend erfolgreiche Privatisierung derPost- und Telekommunikationsdienste und die Verpflichtungender privaten Anbieter auf das Universaldienstprinzip bereitsrelativiert wird. Diese Erfahrungen zeigen, dass es möglich ist,Ziele einer flächendeckenden und umfassenden Versorgungauch mit privaten Anbietern zu erreichen.

Zum zweiten könnte es den Mitgliedstaaten überlassen blei-ben, den Bereich der Daseinsvorsorge zu definieren, die demBeihilferecht nicht unterworfen werden sollen. Diese Option istdurch die Artikel 16 und 86 des Vertrags über die EuropäischeGemeinschaft (EGV) auch gemeinschaftsrechtlich gesichert. Inder Praxis würde sie allerdings zum einen die Abgrenzung derrein wirtschaftlichen Bereiche der so geschützten Unternehmenerfordern, zum anderen auch eine positive Bestimmung dergemeinwohlorientierten Aufgaben. Reichte bereits der Verweisauf „gewachsene Strukturen” aus, so ginge ein wichtiges Elementder Binnenmarktphilosophie verloren.

Eine dritte Option wäre die der Verankerung eines europäi-schen Gesellschafts- und Sozialmodells auf europäischer Ebene– zur Balancierung von Markt und Wettbewerb und als Umset-zung der oft diskutierten „sozialen Dimension” des Binnen-marktes. Dabei ginge es um eine „dosierte Europäisierung”, nichtum eine Vergemeinschaftung der ordnungspolitischen Elementeeines europäischen Modells. Letztere liefe auf eine Zentralisie-rung hinaus, die weder sachgerecht oder politisch zu implemen-tieren noch akzeptanzfördernd wäre. Besser als durch Harmo-nisierung ließe sich das soziale Gesicht Europas wahrscheinlichdurch die Erarbeitung von Mindeststandards gestalten, in denendie Grundsätze und Rahmenvorgaben der Daseinsvorsorge defi-niert würden. In der Sozialcharta, später im AmsterdamerSozialprotokoll und den Umsetzungsbeschlüssen ist dieseOption bereits angelegt. Der Ansatz schont die Kompetenzen derMitgliedstaaten, denn er bringt vorwiegend Regelungen unter-halb eines mittleren Niveaus hervor.

Mindeststandards stellen sicher, dass soziale Vorschriften auchunter schwierigen ökonomischen Bedingungen Bestand haben.Dabei ist nicht zu erwarten, dass sich die einzelnen Interpreta-tionen des europäischen Modells zu weit voneinander entfernen.Denn Mindeststandards setzen Regelungsgrenzen nach unten,während nach oben mindestens ebenso stabile ökonomischeGrenzen bestehen. Würde sich ein Mitgliedstaat des integrierten

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die Definition deröffentlichen Aufgaben

Mindestnormeneuropäischer Solidarität

Europas in dieser Hinsicht zu weit von den anderen entfernen,dann würde seine Wettbewerbsfähigkeit Schaden nehmen.Insofern besteht bereits heute in Europa implizit ein beständigerWettbewerb der Systeme, der Ausuferungen verhindert, und esden Staaten ermöglicht, innerhalb ihrer jeweiligen Handlungs-spielräume Prioritäten zu setzen.

IV.

Europas Rolle in der internationalen Politik

In einer Welt des Übergangs zählt die Europäische Union zuden wenigen Stabilitätsproduzenten. Die gemeinsameWährung, der große Binnenmarkt und die Ausstrahlung des

Integrationsmodells einer Union von 28 und mehr Staatenmachen die EU bereits zu einem wichtigen Faktor der Welt-politik, selbst wenn ihre Ausstattung mit außen- und sicherheits-politischen Instrumenten hinter den selbst gesteckten An-sprüchen wie den Erwartungen Dritter zunächst noch zurück-bleibt. Europas weltpolitisches Profil wird von drei Kern-aufgaben bestimmt: ob es gelingt, die Nachbarschaft der erwei-terten Union stabil zu halten und in einen kooperativen Inter-essenausgleich mit der EU zu führen; ob es gelingt, Krisen undKonflikte im weiteren Umfeld der EU zu kontrollieren und dieGlaubwürdigkeitslücke europäischer Friedenssicherung zuschließen, und ob es gelingt, das Defizit strategischen Denkens inder europäischen Weltpolitik auszugleichen.

Zehn Jahre nach dem Ende des sowjetischen Blocks ist die EUfür die meisten der post-kommunistischen Staaten noch immerder einzige zur Verfügung stehende Integrationsanker. Seine An-ziehungskraft reicht immer weiter über den historischen KernMittel- und Osteuropas hinaus. Weder die GUS noch irgendeineandere regionale Initiative in Südosteuropa hat sich zu einemähnlichen Integrations- und Stabilitätspol entwickelt. Von denEntwicklungen in ihrer Nachbarschaft bleiben die EU-Staatennicht unberührt und sie müssen sich den Erwartungen und demDruck ihrer Umgebung stellen. Deshalb ist es dringlich, dassIntegration und Osterweiterung durch eine kohärente Strategieder direkten Nachbarschaft ergänzt werden. Ein stabiles undumfassendes Netzwerk von Zusammenarbeit, Partnerschaftenund Beziehungen muss für jene Staaten entwickelt werden, dieauf absehbare Zeit nicht der EU beitreten können.

Das Hauptproblem in Europas Nachbarschaft ist jedoch daswachsende normative Gefälle an seiner Peripherie. Europaszukünftige Grenzen werden zunehmende politische, wirtschaft-liche und soziale Asymmetrien markieren. Die Osterweiterungdroht diese Divergenz zu verstärken. Die künftige Trennlinie

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Risiken fürFrieden und Stabilität

durch den Kontinent wird das Modernisierungsgefälle sein.Dieses Gefälle ist am deutlichsten auf der wirtschaftlichen Ebenesichtbar. Gleichzeitig wächst das soziale Gefälle. Die weitgehen-de Vernachlässigung demokratischer und marktwirtschaftlicherWertvorstellungen und des westlich-liberalen Gesellschafts-modells könnten zur zentralen Bedrohung werden. Nicht dasGespenst einer durch das Schengener Abkommen entstehendenGrenze, sondern dieses normative Gefälle mit den daraus resul-tierenden Risiken der grenzüberschreitenden Kriminalität,Migration und der Bedrohung durch Umweltschäden bildet diegrößte Herausforderung für gutnachbarschaftliche Beziehungenin Europa. In ähnlicher Form weist auch die südliche Nach-barschaft der erweiterten Europäischen Union Risiken auf, dieaus dem Gefälle wirtschaftlicher, sozialer und politisch-normati-ver Entwicklungen entstehen. In einer Reihe von für dieStabilität der Region zentralen Staaten sind Prozesse des Genera-tionswechsels und der Erneuerung im Gange, deren konstrukti-ver Ausgang im unmittelbaren Interesse Europas liegt. EineStrategie direkter Nachbarschaft, welche die Ostpolitik wie dieMittelmeer- und Nahostpolitik der Europäischen Union undihrer Mitglieder bündelt, wird sich als ein wichtiger weltpoliti-scher Beitrag Europas erweisen. Priorität europäischer Politikmüsste es sein, um die erweiterte EU herum den Frieden zu wah-ren, politische Stabilität zu fördern und kooperative politischeFührungen zu unterstützen – daraus werden Chancen entstehen,die eigentlichen Anreize der Zusammenarbeit mit Europa zurEntfaltung zu bringen: Handel, Entwicklung und politischeModernisierung.

Die Herausforderung robuster Friedenspolitik

Auf grausame Weise hat der letzte Jugoslawien-Krieg dieinhärenten Bruchstellen des nach dem Kalten Krieg ent-

standenen Flickwerks der europäischen Sicherheitsarchitekturunter Beweis gestellt: Die NATO musste ohne formelles Mandatdurch den UN-Sicherheitsrat eingreifen und ihre Politik primärmit humanitären Gründen legitimieren. Während die einzigelegitime internationale, mit Krisenmanagement befassteInstitution aufgrund des russischen und chinesischen Wider-stands blockiert war, konnten regionale Sicherheitsgremien wiedie OSZE oder die Balkan-Kontaktgruppe keinen angemessenenErsatz bieten. Gleichzeitig liest sich die Geschichte der NATO-Operation wie eine Demonstration der wachsenden Kluft zwi-schen den militärischen Möglichkeiten der Vereinigten Staatenund ihrer europäischen Verbündeten. Europas Rang als strategi-scher Partner im westlichen Verbund sinkt.

Der Kern der friedenspolitischen Herausforderung Europasliegt jedoch in der Wirkung dieser Schwäche auf die europäischeAußen- und Sicherheitspolitik selbst. Die Glaubwürdigkeit euro-päischer Krisenprävention und Friedenspolitik schwindet in

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eine Strategie„direkterNachbarschaft“

dem Maße, in dem die Wahrung europäischer Normen und In-teressen, die Wiederherstellung des Friedens und die Integritäthumaner politischer Ordnungen von den Europäern selbst nichterbracht werden kann. Damit schwächt die militärische Hand-lungsunfähigkeit zugleich die handels- und entwicklungspoliti-schen Ressourcen europäischer Politik und diskreditiert die nor-mativen Prämissen der Integrationspolitik, in der die Friedlich-keit des Interessenausgleichs eine besondere Bedeutung ein-nimmt.

Vor diesem Hintergrund bildet das Aufgehen der West-europäischen Union in der EU und der Aufbau einer europäischeinsetzbaren Krisenreaktionsfähigkeit ein Schlüsselthema derEuropapolitik. Seine Implikationen reichen weit über dieBenennung der europäisch verfügbaren Instrumente und dieergänzenden Infrastrukturprogramme hinaus: Erst eine sicher-heitspolitische wie militärische Analyse- und Planungskapazitätder EU führt alle wesentlichen Dimensionen der Konflikt-bearbeitung in einer europäischen Institution zusammen. DieEntwicklung einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidi-gungskomponente schafft daneben den erforderlichen politi-schen Rahmen einer effizienten Rüstungsstruktur, indem sie dasenorme Maß der Duplizierung unter den europäischen Staatenreduziert, und stützt die technologische wie industrielle Basismilitärischer Sicherheitsvorsorge in Europa. Mittelfristig kanndiese Entwicklung die Machthierarchie wie die Führungskulturdes Atlantischen Bündnisses verändern. Entgegen mancher dergegenwärtig spürbaren Vorbehalte auf amerikanischer Seitewürde der Wandel auch amerikanischen Interessen gerecht – inder Konsequenz der europäischen Ambitionen liegt erstens einegleichgewichtigere Teilung der Lasten, zweitens die strategischeEntlastung amerikanischer Krisenintervention und drittens dieStärkung der gemeinsamen Handlungsfähigkeit in der NATO.Europas Handlungsfähigkeit schließlich erlaubt eine differen-zierte Krisenreaktion und könnte so den Widerstand derjenigenweltpolitischen Akteure unterlaufen, die bereits in der Uner-setzlichkeit amerikanischen Handelns eine Herausforderungihrer Interessen sehen.

Mit der Intensivierung einer Politik der direkten Nachbar-schaft wie mit der Entwicklung einer europäisch einsetzbarenmilitärischen Kapazität vervollständigen die Europäer dasInstrumentarium ihrer Außen- und Sicherheitspolitik. BeideSchwerpunkte werden auf die bereits bestehenden Strukturenzurückwirken. So erscheint die auch im Vertrag von Nizza nichtaufgehobene Zersplitterung der außenwirtschaftlichen Vertre-tung europäischer Interessen zunehmend anachronistisch.Unbefriedigend sind daneben die Versuche zur Bündelung dernationalen und europäischen Instrumente der Entwicklungs-zusammenarbeit. Die weltpolitischen Beratungs- und Entschei-dungsprozesse auf EU-Ebene wären ebenfalls fortzuentwickeln –doch die Defizite beginnen bereits bei der Auffächerung derZuständigkeiten innerhalb der Europäischen Kommission, set-

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eineKrisenrteaktions-fähigkeitfür die EU

Flexibilität fürdie Sicherheits-und Verteidigungspolitik

zen sich fort in der Stellung des Generalsekretärs des Rates imKrisenmanagement und der Konkurrenzlage der verschiedenenKoordinationsgremien der Mitgliedstaaten und reichen bis zurAbgrenzung der Arbeitsteilung zwischen der europäischenEbene und der Politik der Mitgliedstaaten. Eine noch weiter alsim Vertrag von Nizza reichende Anwendung der verstärktenZusammenarbeit im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitikkönnte sich in den kommenden Jahren als die einzige Mög-lichkeit erweisen, diese Defizite zu überwinden und Koalitionenhandlungswilliger Staaten die Chance eröffnen, die weltpoliti-sche Verantwortung und Rolle der EU weiterzuentwickeln.

Von zentraler Bedeutung wird dabei die Entwicklung strategi-schen Denkens in der europäischen Außenpolitik sein, ohne dasweltpolitische Interessensicherung nicht möglich ist. Der regio-nal ausgerichtete Sensor europäischer Politik benötigt eine welt-politische Ergänzung und erfordert Sensibilität für die künftigenMachtverschiebungen, Akteurskonstellationen und Problem-lagen jenseits des europäischen Kontinents. Ein strategischerFokus der europäischen Politik bedeutet auch, die verschiedenenHandlungsfelder – Wirtschaft und Handel, Entwicklung undZusammenarbeit sowie Außenpolitik und Sicherheitsvorsorge –zusammen zu denken und abgestimmt einsetzen zu können.

V.

Europa braucht den öffentlichen Dialog

In einer Zeit der Entgrenzung und Neudefinition, in der dieEinigung Europas ihrer Vollendung entgegen geht, ist derZusammenhalt der Menschen wie der Staaten in der Europäi-

schen Union in besonderer Weise gefordert. Die Gestaltung derWirtschafts- und Währungsunion, die Reform des politischenSystems, die Aufnahme weiterer Staaten wie die Erneuerung derinternationalen Rolle der EU

- benötigen eine Klärung der Ziele und Prinzipien gesell-schaftlicher Solidarität;

- erfordern die Neuverständigung über die Aufgabenteilung;

- verlangen eine Neubestimmung der Kohäsion und dessozialen Ausgleichs in Europa

- und setzen den Willen zum gemeinsamen Handeln voraus.Europa wird die Vitalität europäischer Nationen und die krea-

tive Vielfalt seiner Kulturen bewahren – wenn es gelingt, diePrinzipien von Nation und Integration, die ethnischen, regiona-len, nationalen und europäischen Bezüge der Menschen alskomplementäre Schichten der Identität der Bürger Europas zuvermitteln.

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Vieles spricht dafür, neue Wege in der Entscheidung überdiese Grundfragen zu gehen und sie nicht allein über dieAushandlung von Positionen in Regierungskonferenzen undVerträgen abzuarbeiten. Zukunftsgestaltung in dieser entschei-denden Phase der Integration benötigt den öffentlichen Dialogund die Beteiligung vieler. Die Beratungen einer Reflexions-gruppe vor Eröffnung der Regierungskonferenz zum Amster-damer Vertrag, der Bericht der Drei Weisen im Vorfeld der letz-ten Regierungskonferenz, die Einsetzung eines Konvents zurErarbeitung einer Grundrechtscharta – jedes dieser Beispielesteht für den Versuch, die klassische Verhandlungsdiplomatie derRegierungen zu ergänzen, eine Debatte anzustoßen, Öffentlich-keit herzustellen und den Sachverstand in den Parlamenten, derWissenschaft und den gesellschaftlichen Gruppen zu integrieren.In diesem Sinn benötigt auch die Klärung des europäischenGesellschaftsmodells den sozialen Dialog auf europäischerEbene und die Erschließung des Gestaltungspotentials derSozialpartner.

Die auch künftig erforderliche Fixierung von Reformergeb-nissen in Vertragsänderungen sollte den Endpunkt von Europa-debatten und nicht ihren Anfang bilden. Regierungskonferen-zen, in denen die Mitgliedstaaten letztendlich die politischenEntscheidungen treffen, würden damit nicht zum Ersatz derReformdebatte sondern gewissermaßen zu ihrem Resümee. DasJahr 2001 sollte zu einem Jahr der öffentlichen Debatte über dasKompetenzgefüge wie über die politische Grundordnung Euro-pas werden. Diese sollte nicht allein von den Regierungen, son-dern auch von den Multiplikatoren, den Parlamenten wie denInteressengruppen und Verbänden getragen werden. Im darauffolgenden Jahr 2002 könnten Expertengruppen die Ergebnissezusammen führen und Vorschläge ausarbeiten. So könnte dasInstrument des Konvents für die Erarbeitung eines Grundver-trages genutzt werden, während sich die Frage des Kompetenz-gefüges für die Behandlung durch Sachverständige eignen würdeund für die Klärung der Rolle der nationalen Parlamente eineinterparlamentarische Kommission gebildet werden könnte.2003 wäre dann Gelegenheit für eine Reflexionsgruppe ausVertretern von Regierungen und Parlamenten, die Debatten undVorschläge zu bündeln und zur Behandlung im Rahmen einerneuen Regierungskonferenz 2004 vorzubereiten.

In diesen Prozess sollten die künftigen Mitglieder eingebun-den werden. Die Erweiterungsverhandlungen mit den am weite-sten fortgeschrittenen Staaten könnten 2002 abgeschlossen sein,so dass einige Staaten mit dem Beginn der nächsten Regierungs-konferenz den Beitritt vollziehen und Sitz wie Stimme in derRegierungskonferenz beanspruchen dürfen. Die öffentlichenDebatten und Expertenberatungen der kommenden beidenJahre sollten deshalb alle Staaten, die in Verhandlungen um denBeitritt stehen, einbeziehen. Die Vorbereitungsphase derRegierungskonferenz könnte dann bereits diejenigen formell

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ein neuesKonzept derWeiterentwicklung

einbeziehen, deren Beitritt in die Zeit der Regierungskonferenzfallen wird.

Europas Politik benötigt Zukunftsorientierung. Die Voll-endung und Ausgestaltung der Einheit des Kontinents in einergroßen Europäischen Union stellt sich nicht von selbst ein: DieAuflösung seiner alten Konflikte, die Rekonstruktion europäi-scher Solidarität, die friedliche Entwicklung seiner Nachbar-schaft und die Behauptung der Interessen Europas in der Weltvon morgen brauchen politische Führung. In einer Zeit, in dereine alles verbindende Idee von den Möglichkeiten Europasgeschwächt erscheint, entsteht Orientierung und Führung nurdurch gemeinsames Handeln. Die künftige Europäische Unionbraucht deshalb den Handlungswillen und die Handlungs-fähigkeit ihrer Mitglieder, um selbst handlungsfähig zu bleiben,sie braucht den Spielraum der Differenzierung, damit die unter-schiedlich starken Ambitionen und Potenziale der Nationenzum Nutzen Europas eingesetzt werden können, und sie brauchtdie Öffnung ihrer Strukturen, so dass politische Führung euro-päische Aufgaben und Rollen finden kann.

Bisher hat sich die Europäische Union ohne eine markanteordnungspolitische Debatte fortentwickelt. Heute steht dieIntegration an einem Punkt, an dem die Auseinandersetzung umGrundfragen des Zusammenhalts unverzichtbar geworden ist.Was Europa leisten soll und wie es verfasst sein soll, was dieMenschen erwarten und was Europas Gesellschaften zusammen-hält – plausible Antworten auf diese Fragen sind der Schlüsselzur Zukunft Europas.

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