Das Erstaunen

27

description

Die Überlebensgeschichte von Pierre Drai, der einen Großteil seiner Familie in Auschwitz verlohren hat.

Transcript of Das Erstaunen

Page 1: Das Erstaunen
Page 2: Das Erstaunen
Page 3: Das Erstaunen

Pierre Draï

DAS ERSTAUNEN

Eine Überlebensgeschichte

Verlag André Thiele

Leseauszug

© VAT Verlag M

ainz

ww

w.vat-m

ainz.de

Page 4: Das Erstaunen

Unter Mitwirkung von Maryvonne PareauMit einem Vorwort von Serge KlarsfeldAus dem Französischen von Monika Ries

Für die Originalausgabe: © Éditions Gaussen, Marseille 2011Für die deutsche Ausgabe: © VAT Verlag André Thiele, Mainzam Rhein 2012Umschlag: Inka HeerdeDruck und Bindung: CPI Ebner & Spiegel, UlmSatz: Felix Bartels, OsakaAlle Rechte vorbehalten.

www.vat-mainz.de

isbn 978-3-940884-69-5

Page 5: Das Erstaunen

Für meine ermordeten Eltern: Rosine und Isaac Draï.Für meine ermordeten Brüder: André, René und Raymond.

Für Alice und André Funé, PfarrerehepaarFür Eugène Charlet, Pfarrer

Für Jeanne Maré-Funé

Page 6: Das Erstaunen
Page 7: Das Erstaunen

INHAlT

Vorwort 9

Einführung 11Das Gedächtnis ist wie eine Schublade 20Jeanne 27Rosine, meine Mutter 33Der Skandal 37Die Razzia 43Isaac, mein Vater 58Die Pfarrer Charlet und Funé 67Die Flucht zum Nid fleuri 72Pierrot erzählt … Paris – Margency – Bois le Roi –

Saint-Ouen-l’Aumône 88Das leben im Schloss 95Moulin-Vieux oder Die Kinder der Republik 118Von Poissy nach Marseille über Nizza 138Der 12. Juli 2009 167Wachte jemand über mich? 172

Danksagungen 175Anmerkungen 177

7

Page 8: Das Erstaunen
Page 9: Das Erstaunen

vorwort

Der Bericht von Pierre Draï ist noch aufwühlender, als essich sein Autor während des Schreibens vorzustellen ver-mochte. Er schildert und vergegenwärtigt, wie nur wenigeWerke es gemeistert haben, die irreparablen Konsequenzendes Elternverlusts und die Schwierigkeit für ein Waisenkindder Deportation, sein leben als Kind, Jugendlicher und jun-ger Erwachsener im Frankreich der direkten Nachkriegszeitaufzubauen. Pierre Draï war drei Jahre alt, als er sich aneinem Augustmorgen des Jahres 1943 in Paris fast allein aufder Welt wiederfand: Seine Mutter, Rosine, eine Schneiderin,und seine drei älteren Geschwistern, André, René und Ray-mond wurden in ihrer Wohnung am Boulevard Ney in Parisbei einer Razzia verhaftet. Isaac, ihr Vater, ein Metzger, wirddanach im Département Aisne verhaftet. Die Mutter unddie Kinder werden mit dem Konvoi Nr. 59 am 2. September1943 und der Vater mit dem Konvoi Nr. 67 am 3. Februar1944 deportiert. Alle werden in Auschwitz-Birkenau ermor-det. Sein ganzes leben lang wird der kleine Junge, sogar alser schon erwachsen ist, seine Eltern suchen, die ihm so sehrfehlten. Hin- und hergeschoben vom Patronat1 ins Kinder-haus, wird er immer wieder von der Präsenz eines Vatersträumen und vor allen Dingen von der liebe und Zärtlichkeiteiner Mutter. Immer wieder wird er sich Fragen in Bezugauf seine Eltern stellen und wird schließlich eine minutiöseSuche beginnen, um ihren lebensweg, ihre Persönlichkeitenund ihr tragisches Schicksal zusammenzusetzen und darzu-stellen. Diese liebe gegenüber den Eltern, die sein ganzesleben prägen wird, ist ergreifend und exemplarisch. SeineErzieher in den Institutionen, die Pierre besucht hat, warenihm sehr zugeneigt, haben es aber nicht geschafft, sich andie Stelle seiner ermordeten Mutter zu setzen. Dennoch ha-ben sich die Verantwortlichen des protestantischen Patronats,

9

Page 10: Das Erstaunen

die ihn sowie seinen Bruder Paulo und seine ältere SchwesterNelly am Tage der schicksalshaften Razzia gerettet haben,sehr gut um die Kinder gekümmert, die unter ihrem Schutzzurückblieben.

Später, ja sogar viel später, nachdem Pierre sie gesuchtund dank seiner blitzlichtartigen Erinnerungen aus der Kind-heit wiedergefunden hat, erreicht er es, daß sie den Titel»Gerechte unter den Völkern«2 verliehen bekommen. DasNid fleuri, das lungenerholungsheim3 von Brolles, dasSchloss von Saint-Ouen de Maubuisson, le Coteau4 in Vitry,Moulin-Vieux im Département Isère und seine Kinderrepu-blik5 sind die aufeinanderfolgenden Etappen seiner Existenz,ständig in der Gemeinschaft und trotzdem einsam auf Grundseines familiären Schicksals. Ohne festen Halt, unaufhörlichFragen nach der Ursache seines Schicksals stellend, rebelliertPierre als Kind gegen seine Umwelt. Er wird durch den Wil-len gerettet, seine Eltern nicht zu enttäuschen, die er kaumgekannt und doch so sehr geliebt hat. Durch seinen Wunsch,ihnen Ehre zu erweisen, hört er nicht auf, sich intellektuell,beruflich und in sozialem Sinne weiterzuentwickeln. Nachzwei Scheidungen findet er eine Jugendliebe wieder undgründet eine glückliche Familie.

Seinen Kindheitserinnerungen treu geblieben, entwirrtPierre alle Fäden seines Gedächtnisses, das nun endlich befreitist, und befasst sich mit seinem lebensweg, um eine sichtbareSpur seines und des Weges seiner Familie zu hinterlassen.

Jedes Waisenkind der jüdischen Deportation ging eineneinzigartigen, persönlichen und intimen lebensweg. DieKinder aber, die ihre beiden Eltern verloren haben, musstenfürchterlich leiden. Man kann dies nur nachempfinden, wennman Zeitzeugenberichte liest, wie diesen von Pierre Draï,der unser ganzes Interesse, unseren ganzen Respekt und un-sere ganze Aufmerksamkeit verdient.

Serge Klarsfeld

10

Page 11: Das Erstaunen

einführung

Ohne Zweifel ist es sinnvoll, dass ich die Form des folgendenTextes näher erläutere.

Dieses Buch gleicht sowohl einer Biographie, die aus wirk-lichen Begebenheiten besteht, als auch einer romanhaftenGeschichte, da ich, aus Mangel an Beweisen und konkreterenElementen, einige Passagen erfinden musste. Es steht jedemfrei, die Geschichte so zu verstehen, wie er möchte. DieseVoreingenommenheit erschien mir notwendig, um das Ver-gessen zu bekämpfen, das Vergessen meiner Eltern, die vielzu früh aus meinem leben verschwunden sind und von derungezügelten Nazi-Zerstörungswut wie Millionen andereMenschen hinweggerafft wurden. Dieses Hin-und-Her zwi-schen meiner eigenen Stimme – dem »Ich« – und der Stimmeeines Erzählers, versteckt hinter einem »Er« oder »Sie«, ist ge-wollt. Dies trägt dazu bei, dem Bericht einen anderen Rhyth-mus zu verleihen, auf meine Eltern aufmerksam zu machenund ihnen ein eigenes leben zu geben. Ist es nicht seltsam,seinen Eltern das leben zu schenken? Das entspricht ja nichtder Ordnung der Dinge, werden Sie sagen. Und wieso nicht?Wenn uns die Wirklichkeit keine andere Wahl lässt …

Ohne Zweifel ist dieses Buch nichts anderes als ein verbindendes Element …

Um weiterzuführen, was die Leute tun, die das Grauen überlebt haben,

damit man nicht vergisst, was geschehen ist,für alle, die wiedergekehrt sind,

für alle, die nicht mehr sind.

Es gab viele Nazi-Opfer, die ihren Tod in den Gaskammernfanden oder in den Öfen der Krematorien, die, die vor Hun-ger und Kälte in den lagern starben, die Ermordeten …

11

Page 12: Das Erstaunen

Es gab die Deportierten, die Überlebenden der lagerhölle,die unverdrossen das bezeugen, was sie gesehen und erlebthaben …

Es gab auch die überlebenden Kinder, zu früh von ihrenEltern getrennt, die in Razzien verhaftet oder an die Behördenverraten wurden, weil sie Juden waren. Diese Kinder, diewahrhaftig wie durch ein Wunder von diesen blindwütendenund ungeheuerlichen Verhaftungen verschont geblieben wa-ren, wurden von bescheidenen und mutigen leuten gerettet.Von denjenigen, die Juden auf Grund von simpler Mensch-lichkeit, einfach auf Grund von »gesundem Menschenver-stand« versteckt hielten, obwohl sie oft dabei ihr eigenes le-ben riskierten.

Ich bin eines von diesen versteckten und geretteten Kin-dern.

Sicherlich ist dieses Buch keine Abrechnung. Es wäre nichtlegitim gewesen, das Wort zu ergreifen, um jene, die meinerFamilie so übel mitgespielt haben, zur Verantwortung zuziehen und zu verabscheuen. Dieses Buch ist kein Vollstrek-kungsinstrument. Es ist einfach das Fortführen – ich sagenicht das Beenden – meiner langjährigen Suche, um dieStücke des Puzzles, das meine Kindheit darstellt, wieder zu-sammenzufügen. Dieses Buch ist ein Geschenk, das ich denenwidme, die ich nicht gekannt habe, denen, die ich liebe unddie dieselben Tragödien erleben mussten, sowie den Anderen,allen, die nichts wussten oder es vorgezogen haben, wegzu-schauen.

Ich war ein gescheitertes, gestörtes Waisenkind. Von einemOrt zum andern geschleppt – ich habe fast eine Tour deFrance gemacht – ertrage ich nur schwer Veränderungen.Verfolgt von meiner Religion, bin ich zwangsläufig Atheistgeworden. Ich war nur ein »Kind von Deportierten«, in dieTiefe des Abgrunds einer gewaltigen Verlorenheit gerissen.Heute noch habe ich Sehnsucht nach meiner Kindheit, einerKindheit, die ich nie hatte, einer Kindheit ohne Familie,ohne Persönlichkeit, ohne liebe.

12

Page 13: Das Erstaunen

Diese lange lebensphase, wo alles nur Sorglosigkeit seinsollte, hat mich tief geprägt, hat mein Wesen für immer miteinem Stempel versehen. Nun, da ich meine Geschichte wie-dergefunden habe, die so lange tief in mir wie ein verfluchtesErbe verborgen lag, kann ich endlich um meine Eltern,meine Brüder trauern. Fast 70 Jahre später!

Warum habe ich so lange gewartet, um diesen Kindheits-schmerz, der an mir genagt hat und immer noch nagt, aufzu-schreiben? Man sollte glauben, dass es eine Zeit für alles gebe.Niemand hat daran Schuld. Es ist einfach so. Mich berührtes sehr, eine Brücke zwischen der Vergangenheit und der Zu-kunft schlagen zu können. Es ist ein ganzer lebensweg, derda vor einem abläuft – wie, wenn man einen Film rückwärtsspult – einen Film vom leben, das mir eine Frau geschenkthat und das in mir fließt; ich spüre, wie wertvoll es ist.

Dem leser wünsche ich die Möglichkeit, dass er sich nichtnur über mein eigenes Schicksal informieren möge, sondernauch, nach und nach, über das von den anderen Millionenvon gejagten, beraubten, negierten Juden, so wie auch überderen versteckte und von guten Seelen geretteten Kinder.

Ich bin dabei, dieses Buch zu beenden, und zwei Neuig-keiten erreichen mich zur selben Zeit: die eine traurig, dieandere froh.

Die traurige Neuigkeit ist das Dahinscheiden von JeanFerrat6, dem Mann, der, meiner Meinung nach, am bestenall meine Gedanken verkörpert hat.

Er hat mich dazu gebracht, die Gebirgslandschaft, in derich aufgezogen wurde, zu lieben.

Durch ihn habe ich das landleben schätzen gelernt, under hat mich mit dem lied »Nuit et brouillard« zum Weinengebracht:

Ils s’appelaient Jean-Pierre, Natacha ou SamuelCertains priaient Jésus, Jéhovah ou VichnouD’autres ne priaient pas, mais qu’importe le cielIls voulaient simplement ne plus vivre à genoux.7

13

Page 14: Das Erstaunen

Er hat so gut die Frauen, die liebe, den Alltag und dieRevolte der Menschen besungen (»Potemkine«8).

Ich bin traurig und beweine diesen Mann, den ich geliebthabe.

Die frohe Neuigkeit ist die, dass mich, dank dem Internet,ein Teil meiner Familie mütterlicherseits wiedergefundenhat, die Familie léon Biton, von denen ich vorher niemalsNeues gehört hatte. Parallele Existenzen, gekreuzte lebens-wege, im labyrinth der Welt … Cousins, Großcousinenschicken mir jetzt herzliche Nachrichten.

Als ich mich im Jahr 2006 entschloss, das Wollknäuelmeiner Vergangenheit zu entwirren, erwartete ich nicht solche»sprunghaften Entwicklungen«.

Angesichts solcher Rückmeldungen durchfluten mich wi-dersprüchliche Emotionen. Zunächst bedrückt mich ein An-flug von Melancholie. »Das leben ist wirklich schlecht ein-gerichtet«, sage ich mir. »Als ich ganz fürchterlich einerFamilie bedurfte, war niemand um mich. Jetzt, am Vorabendmeines 70., bekomme ich Nachrichten von Cousins, Groß-cousins, die, wie mir scheint, noch nicht mal etwas von mei-ner Existenz wussten!« Welche Ironie! Ich war so fürchterlichwütend auf meinen Onkel léon, der meinem Bruder undmeiner Schwester so viel Hoffnung auf ein Familienlebengegeben hatte, umgeben von liebe vielleicht, um sie danachin ein Waisenhaus zurückzustecken und sie dort ihre Kindheitverbringen zu lassen, mutterseelenallein.

Aber die Melancholie macht schnell Platz für ein Gefühlder leichtigkeit und der Dankbarkeit für dieses leben, dasuns schöne Geschenke macht, gerade in dem Moment, wowir am wenigsten damit rechnen. Gibt es wirklich eine Zeitfür alles? Wahrscheinlich … nur, mit 20 Jahren glaubt man,dass die Zeit ein Verbündeter sei; mit 70 kennt man ihrenWert und ihre Zerbrechlichkeit. Wenn man sie zu schnellan sich vorbeiziehen lässt, kann man die Möglichkeiten zumWiedersehen verpassen. In diesem besonderen Fall haben

14

Page 15: Das Erstaunen

die Umstände für mich gesprochen, wie die Mail von mei-nem Cousin Roger, einer der Söhne meines Onkels mütter-licherseits, beweist. Diese Mail bekam ich am Mittwoch,den 21. April 2010:

Shalom Pierre,ich bin Roger Biton, dein Cousin, eins von sechs Kinderndeines Onkels Léon, dem älteren Bruder deiner Mutter… Ich bin so alt wie Nelly, die ich nur einmal in meinemLeben gesehen habe, als sie in Oran war. Ich muss damalssieben, acht oder neun Jahre alt gewesen sein.Wir kennen uns überhaupt nicht und das finde ich sehrschade.Ich habe von der Mail erfahren, die du an Babette ge-schrieben hast. Ich muss dir gestehen, dass ich davon sehrberührt war und dass du in mir Gedanken geweckt hast,die ich bedauerlicherweise nicht schon früher gehabt habe.Es ist tatsächlich ziemlich inkonsequent, dass man plötzlichdie Mitglieder seiner eigenen Familie wiederfinden will,die man während eines ganzen Lebens vergessen hat.Es ist offensichtlich, dass jeder von uns seine Gründe hierfürhatte, doch rechtfertigen sie in keinem Fall eine so langeandauernde Abwesenheit und Schweigen.Ihr habt eine solche unmenschliche Lebensprüfung durch-machen müssen, dein Bruder, deine Schwester und auchdu, und Worte werden niemals das Ausmaß dieser Kata-strophe darstellen können, die den Namen Shoah undihrer Konsequenzen trägt.Als ich deine Mail las, habe ich mir erlaubt, ein Urteilüber meine Eltern zu fällen (was bei uns Juden verbotenist), wie auch über meine Onkel Jacques und Maurice.Wir, meine Brüder und ich, sind nicht vor demselben Ur-teil gefeit. Wir haben tatsächlich, genau wie unsere Elternund Onkel, unbewusst oder unfreiwillig, da bin ich mirsicher, die Vogel-Strauß-Taktik angewandt. Die Parole»keine Nachrichten sind gute Nachrichten« ausgebend,

15

Page 16: Das Erstaunen

haben wir zugelassen, dass uns das Leben trennt, ja sogar,dass die anderen uns vergessen.Ich danke dem Zufall, der meinen Freund André Bettan,deinen Cousin väterlicherseits, dazu brachte, mir das Do-kument zuzuschicken, das von der Verhaftung und De-portation der Deinen berichtet, als auch von den Detailseures Überlebens.Einer der Grundsätze des Judentums beruht auf dem Aus-druck: Im Volk Israel bürgt jeder für jeden.9 Mir scheint,dass das moderne Leben und im Besonderen die französischeMentalität uns unser jüdisches Verhalten vergessen ließen.Und aus diesem Grund bitte ich dich um Verzeihung.Ich muss dir unbedingt sagen, dass ich ganz intensiv amTag des Gedenkens10 an deine Eltern und Brüder gedachthabe, die ich nicht gekannt habe. An diesem Tag heulendie Sirenen in ganz Israel zwei Minuten lang. Alles setztsich in Bewegung. Diese Situation nötigt dich, dich zusammeln, und ich schäme mich nicht, dir zu gestehen,dass ich deine Eltern und mit ihnen alle vernichtetenJuden beweine, und dies tue ich jedes Jahr.Einige Worte über den Cousin, den du nicht kennst.Ich bin 72 Jahre alt und lebe seit 1962 in Israel;verheiratet, Vater von vier Kindern (drei Mädchen undein Junge) und Großvater von 11 Enkeln (in Erwartungdes Zwölften …).Ich lebe in Beerscheba und danke Gott jeden Tag für das,was er mir gegeben hat.Hoffentlich werden wir die Möglichkeit haben, uns zutreffen. Meine Schwester, Viviane, lebt in Fréjus und ichwerde nicht versäumen, dich zu kontaktieren, wenn ichdas nächste Mal zu ihr fahre.Ich bitte dich, meine Mail an Nelly und Paulo weiterzu-leiten.Fühlt euch alle drei ganz herzlich umarmt.Shalom.Roger

16

Page 17: Das Erstaunen

Ich habe diese Botschaft gelesen und wieder gelesen, gleich-sam ungläubig und überrascht. Ich habe mir sehr schnell ge-dacht, dass ich, indem ich begonnen habe, meine Geschichteniederzuschreiben, einen Mechanismus ausgelöst hatte, derziemlich dem von Dominosteinen glich, die einer nach demanderen fallen, wenn man den Ersten anstößt. Warum habeich das nicht früher schon getan?

Diese Botschaft folgte auf eine Mail vom 19. April 2010 vonElisabeth, der Tochter meiner Cousine Jeanne, der jüngerenSchwester von Roger, eine Großcousine also, die mir schrieb:

Ich habe eine Mail von meinem Onkel Roger aus Israelbekommen, der mich bat, eine Verbindung, die Deporta-tion Ihrer Mutter betreffend, herzustellen … Sie war dieSchwester meines Großvaters Léon Biton, ich heiße Elisa-beth C. Hier meine Kontaktdaten. Ich kann Sie mit IhrenCousins Viviane, Roger, Jeanne, meiner Mutter und denanderen Bitons in Kontakt bringen.

Am 22. April, schreibt mir Elisabeth C., Babette genannt,noch einmal:

Lieber Pierre!Unnötig, dir zu sagen, dass mich unser Telefongesprächvon gestern sprachlos gemacht hat.Wir waren heute wie betäubt (Roger, Mama und ich).Wie könnte man auch das Unverständliche verstehen!Ich habe mit meiner Mutter gesprochen (Jeanne, sie ist soalt wie du). Sie erinnert sich nicht daran, deine SchwesterNelly und deinen Bruder in Oran gesehen zu haben, siewar noch zu klein. Sie ist entsetzt, über das, was wir ihrerzählt haben. Aber wir haben keine Antworten, niemandist mehr da, um uns zu sagen, welche ihre Motivation,ihre Gründe waren, die sie dazu brachten, so zu handeln(oder nicht zu handeln).

17

Page 18: Das Erstaunen

Hast du Antworten?Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll, außer, dass ich esbereue, dich nicht gesucht zu haben, vielleicht hat micheine kleine unsichtbare Hand gesucht …Wisst ihr erst seit deinen Recherchen aus dem Jahr 2006darüber Bescheid? Hast du erst dann die Familie Funéwiedergefunden? Gut, ich lasse wohl besser all diese Fragen…Ich werde dir ab und zu eine kurze Mail schicken und dukannst mir schreiben, wenn du Lust hast. Und wenn dunach Paris kommst, sag mir auf jeden Fall Bescheid!Außerdem … habe ich vergessen, deine Fragen zu beant-worten. Ich bin seit 28 Jahren mit Jeff verheiratet undhabe zwei Jungs: Raphaël, 26, Zeichner, Nicholas, 23, erist auch Zeichner. Ich arbeite mit meinem Bruder Laurentund meiner Mutter Jeanne in unserer Boutique für Frau-enbekleidung in Paris. Aber … wir werden bald mitein-ander reden! Bizzz11Babette

Es war schließlich André, der Älteste der Brüder, der michaus Casablanca angerufen hat. Eine langes Gespräch mitEntschuldigungen, Unverständnis, die Rückkehr von Paulound Nelly nach Frankreich betreffend, nach ihrem mehr-monatigen Aufenthalt bei meinem Onkel léon in Alge-rien, ihrem Vater. Er will auch die Verbindungen knüpfen,die es viel zu lange gar nicht gegeben hat. Es ist nicht zuspät …

Und dann, eines Abends, ist es Jeanne, die mich anruft.Sie ist auch entsetzt von dem, was sie erfahren hat. DasSchweigen dauert zu lange, wir müssen uns wiedersehen.»Heute Abend, am Shabbat, wird die ganze Familie da sein.An diesem Abend wird es um das Wiedersehen unserer Fa-milien gehen.« Mit Sicherheit Fragen ohne Antworten unterder Führung von Babette, die entschlossen ist, mehr zu er-fahren. Wacht jemand über mich? Vielleicht …

18

Page 19: Das Erstaunen

Die Spontaneität dieser Anrufe und Mails bringen michaus der Fassung. Wie meine lebensgefährtin sagt: »Für einWaisenkind hast du aber eine große Familie!«

In meinem Umkreis stimmten alle darin überein, dass, ja,wirklich, das kleine Wollknäuel dabei ist, sich zu entwirren.

19

Page 20: Das Erstaunen

das gedächtnis istwie eine schublade

Das Gedächtnis ist wie eine Schublade. Man legt alle seineErinnerungen hinein. Die ältesten kommen zuunterst. EinesTages schließt man die Schublade mit einem Schlüssel ab.Das Möbelstück wird in eine alte Scheune gestellt.

lange Zeit später entdeckt man das Erinnerungsmöbel-stück wieder. Die Schublade ist jedoch verschlossen und derSchlüssel findet sich nicht mehr. Man muss das Schloss auf-brechen. Schließlich stellen sich die Erinnerungen, mehroder weniger lesbar, wieder ein. Auf dem Boden der ladeein Blatt, eine fast ausgelöschte Erinnerung, unlesbar, so zer-brechlich. Da, ein paar Wörter: Monsieur et Madame Funé.Ein bisschen tiefer, zwei weitere Worte: rue Belliard. Ganzunten erscheinen weitere Worte auf diesem Blatt, das mitder Zeit gelblich geworden ist: das Nid fleuri.

Und genau dort beginnt meine Geschichte …Ein Rentenformular, dass ich ausfüllen soll, um meine

Kindheit als verstecktes Kind12 während des dunklen Kriegesvon 1943–1945 zu belegen, lässt mir bewusst werden, dassich niemals versucht habe, herauszufinden, warum ich nochlebe; obwohl ich seit meinem dritten lebensjahr Waise bin.Wie konnte ich überhaupt diesen Alptraum überleben, ob-wohl meine Eltern tot waren? Und wo war ich? Wer hat sichum mich gekümmert? Wieso bin ich am leben geblieben?

Wir waren eine Familie von sechs Kindern: fünf Jungen,ein Mädchen. Ich bin der Jüngste. Mir bleiben nur ein ältererBruder, Paulo, und eine Schwester, Nelly. Wie habe ich meineEltern und meine drei älteren Brüder verloren? Ich muss eserfahren. Ich kann nicht mehr schlafen; der Schlaf hat michim Stich gelassen.

Mein Bruder Paulo ist fünf Jahre älter als ich. Ich bringeihn dazu, sich an die Sachen von Früher zu erinnern. Wie

20

Page 21: Das Erstaunen

war Papa? Wie war Mama? Welche Erinnerungen hat er ausdieser Zeit, als wir noch zusammen wohnten? Für Paulo,wie auch für mich, sind viele Dinge verblasst. Ich drängeihn. Ich lasse nicht locker. Ich gebe das Bild einer Bulldoggeab, die nicht locker lassen will. Meine Schwester Nelly, diezwei Jahre älter ist als ich, befrage ich ebenfalls. Für sie habensich die Erinnerungen auch verflüchtigt. Doch unter meinemDrängen kommt ihr eine Erinnerung, ein Name taucht auf:Monsieur und Madame Funé. Es ist vage und konkret zu-gleich, ein erster Anhaltspunkt, ein Auftakt. Ich hake noch-mals nach. Warum dies, warum das? Wie? Wo? Ein Meervoller Fragen stürzt auf sie ein. Schließlich erinnert sichPaulo an eine Ferienkolonie, ohne zu wissen, wo sie sich be-findet: das Nid fleuri. Meine Schwester und mein Brudererinnern sich an ein Zentrum oder eher ein Patronat, wowir hunderte Male hingegangen sind, auf der anderen Seitedes Boulevards. Der große Boulevard konnte kein anderersein als der Boulevard Ney im 18. Arrondissement von Paris,wo wir lebten, in der Nummer 150.

Also muss ich an diesen wenigen Bruchstücken von In-formationen meine Recherchen orientieren. Es sind schongut drei Monate vergangen. Ich bin mittlerweile 67 Jahre altund seit dem Beginn meiner Rente lernte ich, einen Com-puter zu benutzen und zu surfen, was sehr hilfreich seinwürde. Ich hoffte es zumindest.

Anfang 2007. Ich beginne mit meinen Recherchen nachdem Patronat. Ich fange meine Untersuchungen mit der ruedu Poteau an: nichts. Rue Ordener, rue Cardinet: nichts.Rue Belliard. »Schau an, eine Kirche!« In einer Kirche gibtes vielleicht ein Patronat. Ich notiere die Kontaktdaten undrufe an. Eine Frau hebt ab: »Ja, bitte?«

»Guten Tag, Madame. Ich rufe an, weil ich ein Formularausfüllen muss, das belegt, dass ich ein verstecktes Kind wäh-rend des Kriegs von 1939–1945 war. Ich würde gerne wissen,ob sich in dieser Zeit Menschen in Ihrer Kirche versteckthaben.«

21

Page 22: Das Erstaunen

»In der Tat! Unsere Kirche hat wirklich Menschen gehol-fen, die sich vor den Deutschen und der französischen Polizeiversteckten!«

»Sagt Ihnen der Name Funé etwas?«Ihre Antwort ertönt augenblicklich:»Ja, natürlich. So hieß unser ehemaliger Pfarrer!«.Ich glaube, vor lauter Glück ohnmächtig zu werden. Ich

hatte endlich einen Anfang! Das Gefühl überwältigt mich.Ich habe einen dicken Kloß im Hals. Ich brauche eine Weile,um wieder klar denken zu können. Trotz der Distanz fühleich, dass diese Frau mein Glücksgefühl teilt. Wieder mit bei-den Beinen auf der Erde stehend frage ich sie: »Und habenSie auch von einem Haus, das Nid fleuri genannt wurde, ge-hört?«

»Ja, das war nämlich und ist noch unsere Ferienkolonie,und es ist wahr, dass wir, während des Krieges, dort Kinderversteckt hatten!« antwortet sie mir Schlag auf Schlag.

Ich breche in Tränen aus. Ich kann nicht mehr sprechen.Am anderen Ende der leitung bemerkt meine Gesprächs-partnerin meine Bestürzung, vermischt mit Gefühlen desGlücks. Sie spricht zu mir, ihre Stimme besänftigt und be-ruhigt mich. Sie begreift, dass gerade etwas Wichtiges passiertist. Ich gebe ihr den Beginn einer Erklärung, sage ihr, dassich sicherlich eines dieser Kinder bin, die in dieser Koloniewaren. »Monsieur«, sagte sie, »ich glaube, dass diese NeuigkeitIhnen einen großen Schock bereitet hat. Ich denke, Sie solltenaufhängen und ich rufe Sie morgen wieder an. Ich recher-chiere und gebe Ihnen die Kontaktdaten unseres Dokumen-talisten, der Ihnen besser Auskunft geben kann. Ich bin Ma-dame Anne Ruolt. Sagen Sie mir bitte Ihren Namen?«

»Ich heiße Pierre Draï. Ich habe eine Schwester mit demNamen Nelly und einen Bruder, der Paul Draï heißt.«

»…«»Madame, Sie wissen nicht wie glücklich ich über diese

gute Neuigkeiten bin, die Sie mir gerade gegeben haben. Siesind der Beginn des Wollknäuels, das ich nun endlich ent-

22

Page 23: Das Erstaunen

wirren kann. Andererseits, können Sie mir sagen, ob Mon-sieur und Madame Funé noch leben und ob ich sie erreichenkann?«

»leider nein, Monsieur Draï, sie sind beide verstorben!«Dann, nach einer kurzen Pause des Schweigens, sagt sie

mir: »Aber sie haben eine Tochter, ich werde Ihnen IhreKontaktdaten morgen geben!«

»Ich danke Ihnen nochmals, Madame. Dann erwarte ichalso Ihren Anruf.«

Ich lege auf. Ich lache. Ich weine. Ich entwerfe lauter fan-tastische Gedanken. Was wird sie mir sagen? Hat sie andereInformationen? Die Wartezeit bis morgen scheint mir un-endlich zu sein.

Diese Nacht schlafe ich sehr schlecht: Ich träume vomKrieg. Ich stelle mir meine Mutter und meinen Vater vor.Ich sehe mich, umgeben von meiner Familie, in unserer gro-ßen Wohnung mit meinen Brüdern, meiner Schwester. Zumersten Mal passiert mir das. Vorher habe ich nie daran ge-dacht.

Dann kommt mir eine »echte« Erinnerung dieser Zeit inden Sinn. Sie verfolgt mich oft und ist mir so vertraut gewor-den, wie einem nur eine Familie vertraut sein kann. Ich findemich in der Mitte einer Straße wieder, auf feuchten Steinen.Es ist Nacht. Der Himmel wird von Blitzen durchzuckt undein Sergeant der Stadt bringt mich zum Kommissariat. Ichfinde mich auf einer Bank kauernd wieder und esse ein StückBrot, während die Polizisten Karten spielen. Plötzlich tritteine Frau schreiend ein: »Mein Kleiner, mein Kleiner, da ister ja!« Sie nimmt mich in ihre Arme und nimmt mich mit.Unruhige Nacht, lückenhafte Nacht. Wer war sie?

Am nächsten Morgen, endlich, klingelt das Telefon. »Gu-ten Tag, Monsieur Draï, hier ist Anne Ruolt.«

»Guten Tag, Madame, ich habe auf Ihren Anruf, Sie wer-den es ahnen, voller Ungeduld gewartet!«

»Also: Ich habe es geschafft, die Adresse von MadameFuné zu finden. Sie wohnt mittlerweile im Département lo-

23

Page 24: Das Erstaunen

zère, in Collet-de-Dèze. Sie ist mit einem Monsieur Maréverheiratet. Ich gebe Ihnen ihre Telefonnummer. Und auchdie Adresse von Monsieur Patin. Er ist der Dokumentalistunserer Kirche und vom Nid fleuri. Ich denke, er wird Ihnensehr gut bei Ihren Recherchen helfen können.«

»Danke, Madame. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen für soviel Geduld und Freundlichkeit danken soll!«

»Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Recherche. WennSie mich noch einmal brauchen, bin ich für Sie da.«

»Wenn Sie erlauben, dann halte ich Sie über meine Re-cherchen am laufenden.«

Nachdem ich aufgelegt habe, bleibe ich einige Minutenlang ruhig, hin- und hergerissen zwischen lachen und Wei-nen. Ich bin mir nun bewusst, dass ich das Ende des Woll-knäuels fest in der Hand halte. Ich fühle, wie eine großartigeEnergie mich durchdringt. Ich werde es schaffen. Ich werdemeine Geschichte wieder zusammensetzen können: DiesenSchwur habe ich geleistet.

Dieser erste Austausch mit Madame Ruolt wird zu weite-ren führen. Mit ihr natürlich, aber auch mit Jacques Blocher,dem Archivar der Kirche des Tabernakels und mit FernandCharlet, dem Sohn von Eugène Charlet, der bereits tot ist.

Am 4. Oktober 2007 bekomme ich eine Mail von AnneRuolt, dem ersten Glied in meiner Recherche: »Ich freuemich, dass Sie mit Jacques Blocher, dem Archivar (wenn ichihn so nennen kann), hinsichtlich vieler Dinge, die die Kirchedes Tabernakels und das Nid fleuri betreffen, einen erstenKontakt aufbauen konnten […]«

Dann, am 4. Dezember 2007, bekomme ich diese andereNachricht: »Wir freuen uns alle noch mehr darüber, dass Siebegonnen haben, Ihrer eigenen Geschichte den richtigenPlatz einräumen zu können. Für uns, die Jüngsten dieserKirchengemeinde, heißt das auch, dass wir uns anderer Er-eignisse bewusst werden, wobei sich diejenigen in dieser Zeitdes Krieges engagiert haben, die vor uns, hier in der rue Bel-liard, waren.«

24

Page 25: Das Erstaunen

Dann kommt eine Mail von Jacques Blocher: »Ich warglücklich darüber, dass ich die Möglichkeit hatte, mit Ihnenzu diskutieren. Diese Kontaktaufnahme bereitet mir sehrviel Vergnügen, und ich freue mich darüber, dass Sie sichwiedergefunden haben. Madame Maré hat mir schon vorlangem von den Kindern der Familie Draï erzählt, und ichhabe mich immer wieder gefragt, was wohl aus ihnen ge-worden sein mag. Ich habe Monsieur Fernand Charlet wie-dergefunden, den Sohn von Eugène Charlet. Er wohnt mitt-lerweile in der Schweiz in Neuchâtel. Er sagte mir, dass erkaum eigene Erinnerungen an diese Zeit habe. Er wird sehrfroh darüber sein, mit Ihnen sprechen zu können, er ist dazubereit, Ihnen jegliche Information über seinen Vater zukom-men zu lassen, die Sie interessieren könnte.«

Ich antworte Madame Ruolt: »Danke nochmals, wennauch nachträglich, für Ihre Hilfe bei meiner Vergangenheits-recherche. Sie waren der erste Schritt auf dieser Suche, undich bin Ihnen dafür sehr verbunden. Dank Ihnen und allderer, die ich durch Sie kennengelernt habe: zunächst Ma-dame Maré, Madame und Monsieur Patin, Monsieur Blo-cher, dann Monsieur Fernand Charlet, den ich gerade kon-taktiert habe. Nun kann ich endlich einen Teil meines lebensausfüllen, der mir bisher unbekannt war. Ich bin fürchterlichwütend auf mich selbst, dass ich nicht schon viel früherdaran gedacht habe, diese Schritte zu unternehmen. Wieschade! Ich hätte so gerne Monsieur und Madame Funé undMonsieur Eugène Charlet kennengelernt.«

Am 25. Oktober 2007 schreibe ich eine Mail an FernandCharlet: »[…] Können Sie sich daran erinnern, was Ihr Vaterdamals alles getan, und welche Risiken er auf sich genommenhat, um Sie und uns ins Nid fleuri zu bringen? Seien Sie mirbitte nicht böse, das ich immer wieder diese Erinnerungenmit Ihnen durchgehen will, aber es ist sehr wichtig für uns zuwissen, weshalb wir noch am leben sind und dank wem.«

Die Antwort von Fernand Charlet lässt nicht lange aufsich warten (am 29. Oktober 2007): »Wenn man einmal da-

25

Page 26: Das Erstaunen

mit anfängt: Ich habe lange Zeit im Keller verbracht, um inden verschiedenen Fotoalben die Fotos wiederzufinden, diemit deiner (unserer) Geschichte zu tun haben. […] Dabeihabe ich so viele Erinnerungen durchlebt, ja, ich konntemich sogar an Gerüche und Gefühle erinnern. Das geht ei-nem an die Nieren. Es ist auf keinen Fall überflüssig gewesen,denn so können auch meine eigenen Kinder davon profitie-ren, indem sie Kenntnis vom Erlebten ihrer Vorfahren be-kommen. Mein Vater hat fast nie mit mir über diese Zeitgesprochen, und ich habe diesen Koffer niemals geöffnet.«

Eine andere Mail von Fernand: »Da wir uns ja jetzt schonduzen, könnten wir uns vielleicht im Nid fleuri wie die klei-nen Jungs zanken?«

Diese Mail hatte im Anhang Fotos der Eltern Fernandos,der Elendsviertel von Saint-Ouen, durch die sein Vater undMonsieur Funé gingen, und der Gebäude vom Nid fleuri:»Ansonsten ist es schwierig zu beschreiben, was ich fühle.Du weißt es besser. Ich nehme mir das, was du erzählt hastzu Herzen, eine Art Vermächtnis für meine beiden Kinder.Wie leer unsere Fragen doch klingen, wenn die Eltern unddamit die Antworten nicht mehr sind!

Was an unserer Geschichte entscheiden wir und was istAuswirkung des Schicksals?«

Das Wollknäuel entwirrt sich …Die Schlösser des Gedächtnisses springen auf …

26

Page 27: Das Erstaunen