Das Feature 2012-11-16 file3 „Ich habe nicht geschrieben, um die Welt zu verändern, sondern um...

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1 DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Sabine Küchler Feature Stimme der Stimmlosen Die Schriftstellerin Mahasweta Devi von Christoph Burgmer Produktion: DLF 2012 Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 16. November 2012, 20.10 - 21.00 Uhr

Transcript of Das Feature 2012-11-16 file3 „Ich habe nicht geschrieben, um die Welt zu verändern, sondern um...

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DEUTSCHLANDFUNK

Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel

Redaktion: Sabine Küchler

Feature

Stimme der Stimmlosen

Die Schriftstellerin Mahasweta Devi

von Christoph Burgmer

Produktion: DLF 2012

Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt

und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein

privaten Zwecken genutzt werden.

Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige

Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz

geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.

©

- unkorrigiertes Exemplar -

Sendung: Freitag, 16. November 2012, 20.10 - 21.00 Uhr

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Regie: Gesang Santal Lied von Taharam (ab 2´45´´-4´ 05´´)

Dritte Sprecherin:

„Am Anfang existierte das Wasser. Und Gott saß auf der Wasseroberfläche. Nur die

Geistwesen huldigten ihm und brachten ihm Erde aus der Tiefe. Nach und nach

entstand so die Welt. Dann erschuf Gott die Meereslebewesen, Fische, Krabben und

alle anderen Meeresbewohner. Aber die Meerestiere konnten keine Erde an die

Oberfläche bringen. Jedes Mal, wenn sie die Erde ablegten, fiel sie zurück in die

Tiefe des Wassers. Da beschloss Gott, die Landwesen zu erschaffen. Und er erschuf

sie als Körper, die schon Erde in sich tragen.“

Regie: Gesang Santal Lied von Taharam (ab 2´45´´-4´ 05´´)

Vierter Sprecher:

Stimme der Stimmlosen. Die indische Schriftstellerin Mahasweta Devi. Feature von

Christoph Burgmer

O-Ton Devi (ohne Übersetzung 41´10´´)

„…continue, continue, continue….have your tea first!“

Dritter Sprecher:

Mahasweta Devi, Schriftstellerin, Journalistin, politische Aktivistin, Feministin, wurde

am 14. Januar 1926 geboren. Sie lebt in Kalkutta, ist heute 86 Jahre alt und hat mehr

als einhundert Romane, Essays, Kurzgeschichten, Dramen und Kinderbücher

veröffentlicht, dazu zahllose Artikel. Ihre Werke sind fast alle in bengalisch

geschrieben, der nach Hindi mit 215 Millionen Muttersprachlern am weitesten

verbreiteten Sprache auf dem indischen Subkontinent.

O-Ton Devi (35´):

“No. I did not write to change the world. It´s my bread and butter. It´s the only source

of my income. But many writings surely had an impact, discussed“

Zweite Sprecherin:

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„Ich habe nicht geschrieben, um die Welt zu verändern, sondern um davon zu leben.

Es ist meine einzige Einnahmequelle. Aber viele meiner Bücher haben Einfluss

gehabt und Diskussionen angestoßen.“

Erster Sprecher:

Dass Mahasweta Devi in Indien so berühmt ist wie in Deutschland nur große

Sportidole, kann nicht an der Verbreitung ihrer Literatur liegen. Im indischen

Buchmarkt gilt schon der Verkauf von 5000 Exemplaren in drei Jahren als Erfolg.

Wird ein Buch mehr als 5000mal verkauft, ist es ein Bestseller. Und Mahasweta Devi

schreibt keine Bestseller.

Dritter Sprecher:

Auch wenn ihre Geschichten ins Hindi, Assamese, Telegu, Malayalam, Marathi,

Oriya, Punjabi, Gujarati und die Adivasisprachen Ho und Santali übersetzt vorliegen.

Und auch im Englischen, Schwedischen, Italienischen, Spanischen und Deutschen?

Erster Sprecher:

Es sind doch nur Kleinverlage wie der Draupadi Verlag in Heidelberg. Sie verkaufen

ein Buch von Mahasweta Devi nur einige hundert Mal.

O-Ton Devi (ohne Übersetzung 41´10´´)

„…continue, continue, continue….have your tea first!“

Erster Sprecher:

Und Literatur wird in Indien offiziell in 22 Sprachen geschrieben. Dazu kommt das

Englische. Daneben werden über 100 Sprachen gesprochen, in denen weitere orale

Literaturtraditionen existieren.

Dritter Sprecher:

Im Westen ist man überzeugt, dass die beste indische Literatur in Englisch

geschrieben wird. Man denkt an den Literaturnobelpreisträger V.S. Naipaul und an

Salman Rushdie. Aber wer könnte behaupten, Literatur in allen 22 indischen

Sprachen gelesen zu haben.

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Erster Sprecher:

Der westliche Blick: Eine bunt-exotische Kolonialphantasie. Man will glauben, die

unbekannte Welt wäre so, wie die Literatur, die sie beschreibt. So lässt sich

Nützliches und Unnützes scheiden. Der Ausbeutung geht immer die Ansicht über das

Fremde voran.

Dritte Sprecherin:

Mahasweta Devi ist Herausgeberin der literarischen Vierteljahreszeitschrift Bortika,

Fackel, die sich um die mündlich überlieferten Literaturen bemüht, hauptsächlich die

der Adivasi, der Ureinwohner Indiens.

Erste Sprecherin (Bengali Mahasweta Devi, kein O-To n):

Folgendes Zitat Devi in Bengali unterlegt

Zweite Sprecherin (Übersetzung Bengali):

„Seit 1980 gebe ich die Zeitschrift „Bortika“ heraus, in der ich regelmäßig

Schriftstücke von Ureinwohnern und auch anderen, nur wenig gebildeten Menschen

veröffentliche. Hier schreiben Bauern, Schuldknechte, Rikschafahrer, Fabrikarbeiter

und Dorffrauen über ihr Leben, ihre Erfahrung, ihr Leid, ihre Dörfer etc. vielleicht zum

ersten Mal. Ich veröffentliche ihre Erzählungen, damit die vermittelnde Position des

gelehrten Schreibers konterkariert wird.“

Erster Sprecher:

Aber diese Zeitschrift ist in keinem Buchladen in Delhi, Bombay oder Kalkutta zu

finden. Wie wird man trotzdem in einer Gesellschaft von Analphabeten zur

Gewissensinstanz?

Dritter Sprecher:

Die indische Gesellschaft verehrt drei Typen moderner Helden. Da sind zunächst die

populären Bollywoodschauspieler, Sänger und Tänzer. Sie setzen sich durch Kino

und Fernsehen bis zur entferntesten Hütte des Subkontinents in Szene und

bevölkern die Träume der Menschen. Die Sadhus dagegen beschwören die tiefe

Sehnsucht nach den alten asketischen spirituellen und religiösen Idealen. Sadhus

sind Männer, die auf dem Weg der Askese zur Erleuchtung gelangen wollen. Die

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Geschichten über ihre wundersamen Fähigkeiten werden von Mund zu Mund

weitererzählt. Und zuletzt der dritte Typus. Er steht für die Emanzipation des

modernen Indien. Es sind jene, die sich ohne Selbstschutz und Karriereambitionen

für die Benachteiligten und Unterdrückten in der indischen Gesellschaft einsetzen. Ihr

öffentlicher Kampf gegen Korruption und Ausbeutung begründet die Hoffnung auf

Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie.

Erster Sprecher:

Dazu muss man absolut unbestechlich sein.

Dritter Sprecher:

Mahasweta Devi ist unbestechlich.

O-Ton Devi (ohne Übersetzung 41´10´´)

„…continue, continue, continue….have your tea first!“

Dritter Sprecher:

Mahasweta Devi reiste jahrzehntelang in die Dörfer der Adivasi. Dort hörte und

sammelte sie die Erzählungen der Ureinwohner, ohne ethnologische Interessen zu

haben, ohne wissenschaftliche Ambitionen zu verfolgen. Dann schrieb sie Briefe an

Politiker, hunderte, tausende, forderte Gerechtigkeit. Als nichts passierte,

prozessierte sie gegen den indischen Staat, und gewann. Als auch das nichts

änderte, organisierte sie den Widerstand der Adivasi gegen Großprojekte, wie

Staudämme und Industrieanlagen in Stammesgebieten.

O-Ton Devi (25´30´´):

“If India wants to build up industry, it´s all right…We call them uncivilized.“

Zweite Sprecherin:

„Indien wollte sich industrialisieren, das ist verständlich. Aber warum auf Kosten

anderer, der Adivasi, auf ihrem Boden, in ihrem Wald, mit ihrem Wasser. Heute

reden alle von einer intakten Umwelt. Dabei sind die Adivasi die tatsächlichen

Umweltspezialisten. Ich war beeindruckt, als ich erfahren habe, dass, wenn ein

Adivasi einen Baum fällt, er im Gegenzug fünf neue Bäume pflanzen muss. Alles

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bestimmt die Dorfgemeinschaft gemeinsam. Das ist nicht primitiv. Die Adivasi sind

die Zivilisiertesten aller Inder. Bei ihnen existiert kein Kastensystem. Dafür, dass man

zwischen verschiedenen Kasten heiraten kann, haben unsere Intellektuellen lange

gekämpft. Bei den Adivasi kann jeder jeden heiraten und eine Frau kann sich nach

der Scheidung wieder verheiraten. Alles, wofür wir gekämpft haben und Gesetze

benötigen, haben sie schon seit tausenden von Jahren. Und das nennen wir

unzivilisiert.“

Dritter Sprecher:

In Kalkutta ist Mahasweta Devi kürzlich ein Denkmal gesetzt worden. Damit ist die

Schriftstellerin und politische Aktivistin endgültig zur lebenden Ikone geworden. Zur

indischsten aller indischen Schriftstellerinnen.

Erster Sprecher:

Was bedeutet das? Vielleicht, dass eine Literatur ohne politisches und soziales

Engagement purer Hedonismus oder einfach nur bequem ist…

Dritte Sprecherin:

„Das Thema ist faszinierend. Ich bin mir nicht sicher, ob ich kompetent genug bin“,

beginnt Mahasweta Devi einen Essay über die Bedeutung oraler Überlieferungen für

die indische Literatur. Oder mehr noch: Für die indische Selbstwahrnehmung. Nur

die Indische?

Erste Sprecherin (Bengali Mahasweta Devi, kein O-To n):

Folgendes Zitat Devi in Begali unterlegt

Zweite Sprecherin (Übersetzung Mahasweta Devi):

„Es mag viele Analphabeten in Indien geben. Aber die Menschen sind nicht

unkultiviert oder naiv. Noch fehlt es ihnen an Bewusstsein. Trotzdem vernachlässigt

die indische Geschichte, wie sie heute verfasst wird, die ungeschriebenen,

mündlichen Überlieferungen der einfachen Leute. Ich aber bin voll und ganz davon

überzeugt, dass die lokal überlieferten Erzählungen unerschöpfliche Reichtümer

sind. Sie werden in vielen Sprachen erzählt und sind reich an phantastischen

Einfällen. Wir sind wie einäugige Rehe, die die Bedeutung des Erbes an Mythen,

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Glaubensvorstellungen, Bräuchen, Liedern und Geschichten nicht erkennen. Aber in

ihnen verbirgt sich die Geschichte der einfachen Leute, ihre Version der historischen

Ereignisse. Das macht sie zu einer bedeutenden Geschichtsquelle und einer

Bereicherung für die Literatur. In diesem Erbe, und ich gebrauche es nicht als

Dekoration, habe ich mein Seelenheil gefunden.“

Vierter Sprecher:

Die Adivasi

Regie: Atmo Bahnhof o.ä.

Zweiter Sprecher:

Stellen Sie sich Reisen vor, kreuz und quer durch Indien. Reisen, die in zehn Jahren

immer mal wieder unternommen wurden, nicht einmal, wie ein Urlaub etwa: Drei oder

vier Wochen Indien, mit Rucksack oder all inclusive, Goas Technoparties, Taj Mahall,

Rajastans Wüstenschlösser, Ayurveda-Kuren in Kerala, Tigersafari, Trekking Touren,

Aschrams, Darjeeling und Ladakh, Bombay, New Delhi, Kalkutta, und so weiter. Kein

Unterschied.

O-Ton Devi (ohne Übersetzung 41´10´´)

„…continue, continue, continue….have your tea first!“

Zweiter Sprecher:

Reisen vielmehr, die immer erst dann begannen, wenn mich die stickigen, mit

Menschen vollgestopften Züge mit zahllosen anderen Reisenden an den indischen

Bahnhöfen ausgespuckt hatten. Jetzt könnte ich die indischen Bahnhöfe

beschreiben: Die Händler, die Bettler, die Diebe, die streunenden Kinder und Hunde,

die Huren, die ohrenbetäubende Lautstärke der Ansagen, die Farben, die wilden

Gerüche nach Schweiß, Urin, und süßlichen Körperölen, den Staub und den

feuchten, modrigen Müll, der Ratten, Mäusen und anderem Getier ausreichend

Lebensraum bietet, die aufgetürmten Berge an Koffern, Kisten und Reisetaschen und

das nicht zu entschlüsselnde Durcheinander der Gespräche in allen möglichen

Sprachen, kurz, das sensibel im Gleichgewicht gehaltene Chaos des indischen

Bahnhofsalltags. Aber dafür bleibt keine Zeit. Kaum am Bahnhof eingetroffen, stopfte

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man mich in einen Ambassador. Seit über 50 Jahren wird das Auto in Indien

produziert. Auf den Rücksitz dieses im allgemeinen Sprachgebrauch als

„schwangerer Büffel“ bekannten Gefährts, eingezwängt zwischen weiteren

Mitfahrern, war ich, noch bevor ich über das heutige Indien nachdenken konnte,

schon auf dem Weg in den Dschungel.

Dritte Sprecherin:

Die Adivasi haben Mahasweta Devi den Namen „Didi“ „ältere Schwester“ gegeben.

Sie nennt sie „Meine Leute“.

Erster Sprecher:

Die Adivasi verehren Mahasweta Devi, vielleicht wegen ihres politischen

Engagements, vielleicht auch aufgrund ihrer literarischen Arbeit. Vielleicht aber auch,

weil sie nicht korrumpierbar ist.

Zweiter Sprecher:

Mit Sozialarbeitern, Missionaren und Wissenschaftlern war ich oft stundenlang im

„schwangeren Büffel“ unterwegs. Über staubige oder je nach Jahreszeit vom

Monsunregen geflutete Landstraßen. Häufig führte der Weg durch

verkehrschaotische Provinzstädte. Durch überfüllte Dörfer, deren Bewohner in den

bis zum Horizont reichenden Feldern für einen Hungerlohn schuften müssen. Und

damit das Überleben der indischen Milliardenbevölkerung sichern. Zuletzt ging es nur

noch zu Fuß weiter. Mit Adivasiführern. Über schmale Wege durch den Dschungel.

O-Ton Devi (ohne Übersetzung 41´10´´)

„…continue, continue, continue….have your tea first!“

Zweiter Sprecher:

Ich stelle mir Mahasweta Devi vor. Wie sie vor 50 Jahren alleine durch den

Dschungel von einem Dorf zum nächsten wandert. Keine Straßen, nur kleine Wege,

eigentlich nur kleine Trampelpfade. Es ist die Zeit nach der Unabhängigkeit Indiens.

Niemand beachtet die Adivasi. Und ihre Sicht der Geschichte Indiens.

O-Ton Devi (27´30´´)

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„I have been to tribal houses….they know me as a friend.”

Zweite Sprecherin (Übersetzung Devi)

„Ich bin in den Häusern der Adivasi gewesen. Als ich noch gut zu Fuß war, konnte

ich lange Reisen unternehmen. Jetzt kann ich kaum einige Schritte weit gehen. Aber

damals bin ich jeden Tag 10 bis 15 Kilometer weit gelaufen. Da ich immer über die

Adivasi geschrieben hatte, haben sie mich in den Dörfern und auch außerhalb

gekannt. Sie haben gewußt, dass ich ihr Freund bin.“

Dritter Sprecher:

Adi heißt „ursprünglich“ und vasi „Bewohner“. Adivasi: „die ursprünglichen

Bewohner“. Als man 1947 die neue indische Verfassung schrieb, wollte man den

Ureinwohnern eigene Rechte garantieren.

Erster Sprecher:

Die Verwendung der Selbstbezeichnung Adivasi wurde jedoch abgelehnt. Denn das

Wort Adivasi enthält den Hinweis, dass die hinduistischen „Arier“ vor 2500 Jahren,

als sie in den Subkontinent einwanderten, auf die seit wahrscheinlich schon seit

zehntausend Jahren dort lebenden Stammesgesellschaften der Munda, Oraon,

Santal, Kurmi, der Ganju und anderer trafen.

Dritter Sprecher:

Die indischen Arier gründeten also nicht die erste Zivilisation Indiens, das

Kastensystem ist nicht die ursprüngliche Kultur des Subkontinents.

Erster Sprecher:

Diese Geschichtsauffassung gehört bis heute zur Selbstbegründung des modernen

Indien. Um die kastenlosen Adivasi in das traditionelle Kastensystem einzubinden

erfand man den Begriff „scheduled tribes“ und registrierte 645 unterschiedliche

Ureinwohnergemeinschaften. Und garantierte ihnen erstmalig in der Verfassung

besondere Rechte.

Dritter Sprecher:

Die Entwicklung hat gezeigt, dass sich niemand daran gehalten hat.

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Regie: Atmo

Zweiter Sprecher:

Eine Reise führte mich in den indischen Bundesstaat Jharkhand in den Distrikt

Hazaribagh. Eine Stunde lief ich mit dem Adivasiführer durch den Dschungel. Immer

wieder kamen uns Männer entgegen, Säcke mit Holzkohle auf ihren Schultern. Das

Holz hatten die Adivasi tagelang im Wald gesammelt und in Kohlenmeilern zu

Holzkohle verarbeitet. Ein wirtschaftlich aufstrebendes Land wie Indien braucht

Unmengen Energie, egal welcher Art.

Die jungen, starken Männer schleppten die Holzkohle kilometerweit zur Straße, wo

sie an vorbeifahrende Arbeiter verkauft wurde. Jeder Gewinn wird seit

Menschengedenken an alle Familien gleichberechtigt verteilt. Das Dorf lag mitten im

Wald. Es bestand aus etwa dreißig aus Lehm gebauten Häusern. Sie waren von

kleinen parzellierten Feldern umgeben. Ein alter Mann pflügte mit seiner Kuh einen

kleinen Acker um.

O-Ton Adivasi Führer (53´17´´):

„He is ploughing. They plough up till ten or eleven o´clock when the sun is up. Than

they stop….They sell the flowers, makes liquer out of the fruits and oil out of the

seats.”

Vierter Sprecher:

“Er pflügt bis zehn, elf Uhr. Dann ist es zu heiß. Die Felder müssen für die

kommende Saat vorbereitet werden. Zweimal werden die Äcker mit dem Holzpflug

umgegraben. Für den alten Mann ist dies eine langwierige Arbeit, weil die Kuh ihren

eigenen Willen hat. Die Familien bewirtschaften die Felder gemeinsam. Hier wird

später Reis gesät. Es gibt zahlreiche Sorten. Je nach dem, wo das Feld ist, ob es

höher oder tiefer liegt, feuchter oder sonniger ist, wird eine Sorte gewählt. Es sind

Erfahrungen, die von Generation zu Generation weiter gegeben werden. Hier, das

hier ist ein Mahuabaum. Die Adivasi verkaufen die Blüten, aus den Früchten wird ein

Schnaps und aus den Samen ein Öl hergestellt.“

Zweiter Sprecher:

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Die Außenwände der Adivasihäuser waren bemalt. Ich erkannte Tiere und Pflanzen:

Erdbewohner, Bäume, Vögel und die Tiere des Dschungels.

Dritter Sprecher:

Die Adivasikunst erinnert an Graffiti. Man benutzt eine eigene Gravurtechnik: Zuerst

wird eine schwarze Schicht Manganerde auf eine Lehmwand aufgebracht, die man

trocknen lässt. Danach kommt eine Schicht weißen Kalks darauf, die noch im

feuchten Zustand ausgekratzt wird. Die dunkle Schicht kommt wieder zum Vorschein.

Zweiter Sprecher:

Eine andere Reise führte mich im Winter in die Grenzregion der Bundesstaaten

Jharkhand und Westbengalen. In der Nacht war die Temperatur auf wenige Grad

gefallen, und auch tagsüber kletterte die Januarsonne kaum über 15 Grad. Die

kleinen Felder waren schon lange abgeerntet. Die Männer waren auf der Jagd. Das

Gesetz gestattet es ihnen, kleinere Tiere zu jagen, größere, wie Rehe, Hirsche oder

Bären jedoch nicht. Aber der Hunger fragt nicht nach Gesetzen. Von einer älteren

Frau wurde ein Plastikstuhl mitten auf den Dorfplatz gestellt. „Johar“, Friede: Zur

Begrüßung beugt man Kopf und Oberkörper nach Vorne und die zu einer Faust

gemachte Hand wird mit der flachen Seite des Handballens an die eigene Stirn

geführt.

Regie: Gesang zur Begrüßung

Zweiter Sprecher:

Zwei Trommler gaben den Rhythmus vor. Die Dorffrauen tanzten zu meiner

Begrüßung. Die meisten Kinder waren barfuß oder trugen billige Plastiksandalen.

Einige hatten aufgeblähte Hungerbäuche, anderen fehlten Gliedmaße, Finger,

Hände, Füße. Die vom Staat errichtete Schule war verwaist, weil der Lehrer in der

sechzig Kilometer entfernten Provinzhauptstadt geblieben war. Niemand hatte ihn

jemals im Dorf gesehen. Der Dorfälteste fragte, ob ich gekommen sei, um den vor

einigen Jahren von einer christlichen Hilfsorganisation gebohrten Brunnen instand zu

setzen. Das Wasser würde die Kinder zusätzlich krank machen. Neben dem Hunger.

Vierter Sprecher:

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Die Herkunft

Dritte Sprecherin:

Mahasweta Devi wuchs in einer bengalischen Intellektuellenfamilie auf. Ihr Großvater

unterhielt in Dhaka, der Hauptstadt des heutigen Bangla Desh, Mahasweta Devis

Geburtsort und damals Teil Britisch-Indiens, eine Anwaltskanzlei. Er wollte das

indische Bildungs- und Sozialsystem nach westlichen Bildungsvorstellungen

reformieren. Als aufgeklärter Intellektueller sah er in der Förderung einer modernen

bengalischen Literatur eine geeignete Ausdrucksmöglichkeit.

Erster Sprecher:

Es ist die Zeit der so genannten „Bengalischen Renaissance“. Seit Beginn des 19.

Jahrhunderts hatte man schon begonnen, die klassischen Texte, die Veden und

Upanishaden, neu zu interpretieren. Im Zentrum stand das aus den Texten

herausinterpretierte Subjekt, dessen Aufgabe nicht mehr der Dienst innerhalb einer

„göttlichen Ordnung“ ist.

Dritter Sprecher:

Die Vernunft gilt als wichtigste Handlungsmaxime. So soll die indische Gesellschaft

erneuert werden.

Erster Sprecher:

Als man feststellte, dass die britische Kolonialherrschaft nicht bereit war, die neuen

einheimischen Eliten politisch und ökonomisch partizipieren zu lassen, wurde die

bengalische Renaissance seit Ende des 19. Jahrhunderts durch indisch-

nationalistische Vorstellungen ergänzt.

Dritte Sprecherin:

Mahaswetas Devis Vater gehörte in den Zwanziger Jahren des vergangenen

Jahrhunderts einer Gruppe von Schriftstellern an, die die Literatur revolutionierten.

Sie rückten das Leben der Slumbewohner und die Analphabeten des ländlichen

Indien ins Zentrum ihrer realistischen Erzählungen.

Dritter Sprecher:

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Dies bedeutete einen Bruch mit den jahrhundertelang dominierenden literarischen

Traditionen.

O-Ton Devi (1h18´50´´-1h20´)

„I show you this thing. This is extremely interesting I find…published. It is something

really important and a tribal thing.”

Zweite Sprecherin (Übersetzung Devi):

“Ich möchte Ihnen etwas sehr Interessantes zeigen. Mein Vater hat viele Jahre lang

in einem Dorf eine kleine Literaturzeitschrift herausgegeben. Als er starb, war ich

leider nicht anwesend. Später bin ich dann in dieses Dorf gegangen und habe seine

Beerdigung organisiert. Sofort sind die Bewohner auf mich zugekommen und haben

gefragt, ob ich die Zeitschrift meines Vaters nicht weiter herausgeben könnte. Ich

habe sie dann weitergeführt. Aber ich wollte keine normalen Geschichten und

Gedichtsammlungen veröffentlichen. Ich habe damals schon mit den Adivasi

zusammengelebt. Die Zeitschrift sollte sich ab jetzt mit ihrem Leben

auseinandersetzen. Ich habe also die Adivasi gebeten, in der Zeitschrift ihre eigenen

Lebensgeschichten zu veröffentlichen. Das ist das erste Mal gewesen, dass Adivasi

in Indien etwas schriftlich veröffentlicht haben.“

Dritte Sprecherin:

Auch Mahasweta Devis Mutter, Dharitri Devi, hat schon literarische und soziale

Arbeit miteinander verbunden. Einerseits lehrte sie Kinder armer Familien lesen und

schreiben. Daneben hat sie Romane der Amerikanerin Pearl S. Buck ins Bengalische

übersetzt. Pearl S.Buck, heute fast vergessen, war 1938 für ihre „reichen und

wahrhaften Schilderungen des chinesischen Bauernlebens“ mit dem

Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden.

Erster Sprecher:

Durch Kunst, Literatur, Malerei und Musik, als wichtige Bestandteile einer

emanzipatorischen Pädagogik, sollten Kinder unabhängig von Kaste, Religion und

Herkunft gefördert werden. Das Ziel bestand in der Formung einer neuen

aufgeklärten Elite. Sie sollte die indischen Gesellschaft von ihren jahrhundertealten

religiösen oder sozialen Fesseln befreien.

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Dritter Sprecher:

Ideengeber und geistiges Zentrum dieser letzten Phase der „bengalischen

Renaissance“ war der erste asiatische Literaturnobelpreisträger, Rabindranath

Tagore. In Shantinekatan, auf dem Familiensitz 150 Kilometer nordöstlich von

Kalkutta, hatte er 1901 eine Muster- Bildungseinrichtung eröffnet.

Dritte Sprecherin:

Hierhin wurde auch Mahasweta Devi geschickt.

O-Ton Devi (21´05´´-

„You see, when I was a child…

Zweite Sprecherin (Übersetzung Devi):

„Als ich ein Kind war, bin ich in Shantinekatan zur Schule gegangen. „Rabi“, wie man

Rabindranath Tagore nannte, hat dort noch selbst unterrichtet. Wir Kinder sind immer

zu ihm gegangen und haben mit leuchtenden Augen ihm gegenüber gesessen.

Damals war ich zehn Jahre alt und Shantinekatan ist ganz anders gewesen als

heute. Aber 1936 ist außerhalb von Shantinekatan die gemeinsame Erziehung von

Jungen und Mädchen völlig undenkbar gewesen. Diese Freiheit hat es nur dort

gegeben. Wir sind so in völliger Freiheit aufgewachsen. Wir durften schwimmen

gehen, sind überall frei herumgesprungen, und natürlich haben wir zusammen mit

den Jungen gespielt. Und die Jungen mit uns. Muslims, Hindus, das war egal. Selbst

die Kastenunterschiede sind ignoriert worden.“

Dritter Sprecher:

Damals war Kalkutta das kulturelle und intellektuelle Zentrum Indiens. Noch heute

finden sich hier die meisten und wichtigsten Verlage. Man träumte von einem

unabhängigen indischen Staat, der allen Indern gleiche Rechte und Wohlstand

garantieren sollte.

Erster Sprecher:

Katastrophen erschütterten diese Vision.

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Dritter Sprecher:

1943 kam es zu einer Hungersnot, als in Folge des Zweiten Weltkriegs

Reislieferungen aus Birma ausblieben und indische Bauern und Großhändler die

knappen Lebensmittel horteten, um die Preise zu erhöhen. 700.000 Menschen

verhungerten. In Kalkuttas Straßen wurden die Leichen öffentlich verbrannt.

Zweiter Sprecher:

Ich sehe die junge College Studentin Devi vor mir, wie sie die Straßen Kalkuttas

nach Überlebenden absucht und die Verhungerten mit gleichaltrigen

Kommilitoninnen auf Holzkarren lädt, um sie zu den Verbrennungsorten zu bringen.

Früher hat sie manchmal davon erzählt, wie sie sich durch diese Ereignisse

veränderte. Als sie ein Baby neben der verhungerten Mutter fand, es ins

Krankenhaus brachte und wie entsetzt sie war, als es dort nach kurzer Zeit ebenfalls

verstarb. Heute spricht sie nicht mehr davon.

Dritte Sprecherin:

1946 wurde Mahasweta Devi Mitglied in der Kommunistischen Partei Indiens und

begann, in bengalischen Zeitschriften zu veröffentlichen.

Dritter Sprecher:

Bengalen wurde im August 1947 geteilt, in ein hinduistisches Westbengalen und ein

muslimisches Ostpakistan, aus dem später der unabhängige Staat Bangla Desh

hervorging. Als im Zuge der Teilung Bengalens und der Gründung Indiens Millionen

von Menschen ermordet wurden, waren auch die Ideen der „bengalischen

Renaissance“ gescheitert.

Erster Sprecher:

[ Der indische Staat ist nicht in Vernunft, sondern in Bluttaufe entstanden. ]

Dritte Sprecherin:

Bis heute betrachtet Mahasweta Devi das unabhängige Indien als ein in der

Gründungsphase gescheitertes Experiment.

Vierter Sprecher:

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Das literarische Verfahren

Erster Sprecher:

Und wieder muss man der westlichen Indienwahrnehmung eine etwas andere

Geschichte hinzufügen.

Dritter Sprecher:

In dem kleinen Dorf Naxalbari in Westbengalen rief am 18. Mai 1967 eine kleine

Gruppe radikaler Linker zum Volksaufstand gegen die Landakquisition der

Großgrundbesitzer auf.

Erster Sprecher:

Die Geschichte, wie und warum Maos kulturrevolutionäre Ideen in Indien an Einfluss

gewannen.

Dritter Sprecher:

Linksintellektuelle in Kalkutta, Bombay und Delhi unterstützen den als „naxalitisch“

bezeichneten Aufstand.

Erster Sprecher:

Die Geschichte von dem bis heute andauernden Krieg gegen den indischen Staat,

von den zehntausend bewaffneten Naxaliten, den Bombenanschlägen auf

Güterzüge, den Entführungen von Ausländern und Überfällen auf Polizeistationen mit

zahlreichen Toten. Und von den Einsätzen der indischen Armee und den

korrumpierten politischen Versuchen, dem Widerstand durch Entwicklung der

ländlichen Regionen den Nährboden zu entziehen.

Dritter Sprecher:

In Indien jemanden als Naxaliten zu bezeichnen ist genauso gefährlich, als wenn im

Westen jemand als Islamischer Fundamentalist oder Terrorist bezeichnet wird. Jeder,

der die Adivasi in Jharkhand, Westbengalen, Orissa und sogar im 2000 Kilometer

entfernten Gujarat unterstützt, ist verdächtig.

Dritte Sprecherin:

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Mahasweta Devi ist doch nur Schriftstellerin.

Dritter Sprecher:

Aber wenn man so deutlich Partei ergreift wie sie, ist man verdächtig. Nicht nur in

Indien.

Vierter Sprecher (Literaturzitat):

„Name Dopdi Mejen. Alter 27 Jahre, Ehemann Dulna Majhi (tot), wohnhaft in

Cherakhan, Kreis Bankrajharh; an der Schulter von einer Schusswunde stammende

Narbe. Einhundert Rupien für Angaben ob tot oder lebendig und für Hinweise, die zur

Ergreifung führen…“

Erster Sprecher:

Devis Erzählung Draupadi nimmt Bezug auf das berühmteste indische Epos, das

Mahabharata. Dieses 2500 Jahre alte Epos enthält für strenggläubige Hindus bis

heute gültige Ethikvorstellungen zu den Aufgaben der Kasten und den Pflichten von

Frauen.

Dritte Sprecherin:

Mahasweta Devi setzt dies in Beziehung zur Adivasifrau Dopdi Mejen. Ihr Schicksal

wird mit dem Schicksal der Prinzessin Draupadi aus dem Mahabharata gleichgesetzt.

Dopdi Mejen wird zur Draupati, Draupati ist Dopdi Mejen.

Vierter Sprecher (Literaturzitat):

„Der Hintergrund: Dulna und Draupadi waren als Erntehelfer ständig unterwegs.

1971, als bei der berühmten „Operation Bakuli“ drei Dörfer abgeriegelt und unter

Maschinengewehrfeuer genommen wurden, entkamen die beiden, indem sie sich zu

den Leichen legten und totstellten. In Wahrheit waren sie die Rädelsführer. Sie

steckten dahinter, als die Dorfbewohner während der Dürre die Brunnen, die den

höheren Kasten vorbehalten sind, in Besitz nahmen. Und als der Hauptmann Arjun

Singh am nächsten Morgen die Leichen nachzählte und das Paar nicht darunter war,

schoss sein Blutzuckerspiegel in ungeahnte Höhen, was einmal mehr beweist:

Zuckerkrankheit hat viel mit Angst und Aufregung zu tun. Diabetes hat zwölf

Ernährer, darunter die Angst.“

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Dritte Sprecherin:

Der Vorwurf der Kritiker: Mahasweta Devis Literatur sei zu „realistisch“. Aber kann

Literatur überhaupt realistisch sein?

Vierter Sprecher:

„Draupadi Mejhen wird um 18.57 Uhr festgenommen. Eine Stunde dauert es, sie zum

Camp zu bringen. Eine Stunde genau dauert das Verhör. Niemand rührt sie an, und

sie darf auf einem Feldstuhl aus Leinwand sitzen. 20.57 Uhr ist die Zeit für

Senanayaks Abendessen gekommen. „Tut das Notwendige. Richtet sie schön

zurecht“, sagt er beim Hinausgehen.“

Erster Sprecher:

Während in dem indischen Epos die Prinzessin Draupadi aufgrund der strikten

Befolgung von traditionellen Verhaltensregeln gleichzeitig von fünf Brüdern

geheiratet wird, wird die gefangene Adivasi Dopdi Mejen bei ihrer Folterung von

zahllosen Soldaten vergewaltigt.

Vierter Sprecher:

„Dann gehen eine Million Monde vorüber. Eine Million Mondjahre. Als sie nach

Tausenden von Lichtjahren die Augen öffnet, sieht Draupadi, wie sonderbar, den

Himmel und den Mond. Langsam driften die blutigen Stecknadelköpfe aus ihrem

Gehirn. Sie versucht sich zu bewegen und begreift, dass ihre Arme und Beine an vier

Pflöcken festgebunden sind. Unter Hintern und Hüften ist etwas Klebriges. Ihr

eigenes Blut. Nur den Knebel hat sie nicht mehr im Mund… Schrecklicher Durst. Um

nicht „Wasser“ zu rufen, beißt sie sich mit den Zähnen in die Unterlippe. Aus ihrer

Scheide läuft Blut. Wie viele haben sie „zugerichtet“?“

O-Ton Devi (ohne Übersetzung 41´10´´)

„…continue, continue, continue….have your tea first!“

Vierter Sprecher:

„Sie schämt sich, weil ihr die Tränen aus den Augenwinkeln rinnen. Im trüben

Mondlicht senkt sie ihre glanzlosen Augen, erblickt ihre Brüste und begreift, dass sie

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Senanayaks Befehl vollends ausgeführt haben. Jetzt müsste sie ihm gefallen. Ihre

Brüste sind von Bissen zerfleischt, die Brustwarzen zerfetzt. Wie viele? Vier, fünf,

sechs, sieben, dann hatte Draupadi das Bewusstsein verloren. Sie blickt zur Seite

und sieht etwas Weißes. Ihre eigene Bekleidung, sonst nichts. Plötzlich hofft sie auf

ein Wunder. Vielleicht hatte man sie aufgegeben und zum Fraß für die Schakale

nach draußen gebracht. Aber da hört sie schon das Scharren von Füßen. Sie wendet

sich zur Seite und erkennt den Wachposten, der sich auf sein Bajonett stützt und sie

angrinst. Draupadi schließt die Augen. Sie braucht nicht lange zu warten. Wieder

machen sie sich über sie her. Endlos. Der Mond speit noch ein paar Brocken Licht

aus und geht dann schlafen. Zurück bleibt nur Dunkelheit. Ein Leib, der mit

gewaltsam gespreizten Beinen reglos daliegt. Über ihm heben und senken sich

eifrige Kolben aus Fleisch, heben und senken sich. Dann wird es Morgen.“

Erste Sprecherin (Bengali):

Zweite Sprecherin (Übersetzung des Bengali):

„Es ist notwendig, existierende Mythen wiederzubeleben und sie an die Gegenwart

anzupassen und, der oralen Tradition folgend, genauso auch neue zu kreieren. Die

Heldin meiner Geschichte „Draupadi“ ist eine Santal-Frau und eine Aktivistin der

Naxaliten-Bewegung der 1970er Jahre. Da die Santals und viele andere

Stammesgruppen dem Mondkalender folgen, ist das Auf- und Untergehen des

Mondes sehr bedeutsam für sie. Draupadi wird verhaftet, die Kleider werden ihr vom

Leib gerissen, und sie wird von mehreren Polizisten vergewaltigt. Sie aber weigert

sich, ihre Blöße zu bedecken. Ihre letzte aufsässige Begründung ist, dass ihre

Folterer gar keine Männer seien und sie sich nicht schäme, sich ihnen nackt zu

zeigen. Denn eine Stammesfrau glaubt, dass ein richtiger Mann niemals eine Frau

herabwürdigen würde. Dadurch erlangt sie eine bedeutende Größe als Königin wie

im indischen Mahabharata Epos und legt eine brutale Wahrheit über die indische

Männlichkeit bloß.“

Erster Sprecher:

Draupadi behauptet sich im altinidischen Epos „Mahabharata“. Als einer ihrer fünf

Ehemänner sein Königreich im Würfelspiel an einen anderen Herrscher verliert,

verweigert sich Draupadi dem siegreichen Fürsten. Der Sari, den der neue Herrscher

20

bei dem Versuch der Vergewaltigung Draupadis herunterreißen will, erneuert sich

mit göttlicher Hilfe.

Dritte Sprecherin:

Die vergewaltigte Draupadi bei Mahasweta Devi dagegen lässt sich ihre

Selbstachtung nicht rauben, indem sie sich weigert, ihren vergewaltigten Körper zu

bedecken.

Vierter Sprecher:

„Wo ist ihre Kleidung?“ „Die zieht sie nicht an, Sir, sie hat sie zerrissen.“ Draupadis

schwarzer Körper kommt noch dichter an ihn heran. Sie wird, völlig unverständlich für

Senanayak, von einem unbändigen Lachen geschüttelt. Ihre zerschundenen Lippen

bluten bei diesem Lachen. Sie wischt das Blut mit dem Handrücken ab und sagt mit

schriller, scharfer Stimme, einer Stimme, gleich einem Heulen, das den Himmel

zerreißt: „Kleidung, kann Kleidung das zudecken? Ausziehen kannst du mich. Aber

anziehen? So was will ein Mann sein!“ Draupadi sieht sich um, sucht sich

Senanayaks weißes Buschhemd als Ziel, um einen Klumpen blutige Spucke darauf

zu platzieren, und sagt: „Hier gibt es keinen richtigen Mann, dass ich mich schämen

müsste. Von euch lass ich mich nicht anziehen. Was wollt ihr machen? Los, richtet

mich zurecht, na los!“

Vierter Sprecher:

Entwicklung ohne Fortschritt

O-Ton Santal Song ab 3´26´´ (Alter Mann)

Dritte Sprecherin (Übersetzung Santal Song) :

„1855 hat die Ausbeutung begonnen. Geschützt von bewaffneten Polizisten sind

skrupellose Händler und blutsaugende Geldverleiher zu den Santal gekommen.

Siddu und Kanhu haben uns damals in den Kampf geführt. Auch heute stellen wir

uns wieder die Frage, wohin wir gehen sollen? Wie können wir überleben? Wie wird

unsere Kultur überleben? Denn heute sind diese üblen Elemente zurück. Sie beuten

unsere Mutter-Erde aus. Gleich irre gewordenen Wildkatzen greifen sie unsere Kultur

an, mit gewaltigen Pranken entreißen sie dem Land unserer Vorfahren das Metall

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und verkaufen es in aller Welt. Unsere Bäume werden abgeholzt. Von unseren

Wäldern entblößt ist die Erde nackt. Unser Land ist unfruchtbar. Schützt unsere

Mutter-Erde. Seid bereit für den Kampf. Hört den Rhythmus des Widerstands.“

Regie: Gesang Santal

Zweiter Sprecher:

Ich erinnere mich. Mahasweta Devi hatte mir einmal erzählt, dass es für die

britischen Kolonialherren der in Kalkutta residierenden East India Company völlig

unbegreiflich gewesen sei, dass es Stämme gab, die so etwas wie „Landbesitz“ nicht

kennen. So sehr sich britische Ethnologen, Religionswissenschaftler, Archäologen

und Offiziere mit indischen Traditionen beschäftigten, die Adivasi blieben ihnen

fremd.

O-Ton Devi (8´00´´- 10´)

„They never thought of the tribes….

Zweite Sprecherin (Übersetzung Devi)

„Die Briten haben sich niemals mit den Stämmen beschäftigt. In Westbengalen leben

die Shawar-Lodha. Sie fertigen für sich sogar individuell Schuhe an. Die Briten haben

gewusst, dass es so etwas gibt, aber sie haben die Adivasi absichtlich ignoriert. Weil

sie überhaupt nicht verstehen konnten, dass manche Stämme kein Land besaßen

und keinen Ackerbau betrieben, dagegen jedoch alles über den Dschungel wussten.

Bis heute hängt das Überleben dieser Stämme vom Dschungel ab. Vor neun Tagen

habe ich Vertreter aller dieser Stämme aus Westbengalen und Jharkhand hier in

meinem Haus empfangen. Sie haben ihre Geschichten erzählt. Das ist fantastisch.

Wenn ich ihnen die Vielfalt der Namen nennen würde, sie könnten wahrscheinlich

nichts damit anfangen. Die Baigars, die Bihors, die Logars, die Schawas, alle sind

gekommen.“

Dritter Sprecher:

Als Indien britische Kronkolonie wurde, begann man, industriell Bergbau zu

betreiben. Kohlen-, Eisenerz- und Asbestminen wurden in Adivasigebiet errichtet.

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Erster Sprecher:

Wer der Industrialisierung im Wege stand, sich dem Takt der Produktion nicht

unterordnete, wurde als genetisch kriminell stigmatisiert. Die Nomadenstämme

haben die Briten in Umerziehungslager gesteckt und zur Zwangsarbeit verpflichtet.

Dritter Sprecher:

Die Adivasi, die im Dschungel lebten, sind einfach vertrieben worden. Im Verlauf von

150 Jahren hat sich so die Kohle und Eisenindustrie immer tiefer in die Wälder

Bengalens und Jharkhands gefressen.

Zweiter Sprecher:

Die Reise führte nach Rourkela. Mitten im Dschungel steht ein von Deutschland

gebautes Stahlwerk. Irgendwann traf ich Manfred Tiefensee aus Wilhelmshaven. Er

war 1959 im Januar bis zum September 1959 als Monteur für die Firma Krupp Adelt

in Rourkela und baute im Stahlwerk die Kräne auf.

O-Ton Tiefensee (1´-2´ und 11´34´´- 14´11´´)

„Es war das bildhaft schöne Indien, was ich in Gedanken hatte und die Träume vom

Tiger a la Eschnapour. Und wenn ich dann an den Tag im Januar dachte als ich

dann Rourkela betrat, da sah das Leben dann schon ein bisschen anders aus. Der

erste Tag auf der Planzeit, da hatte ich einen der gravierendsten Eindrücke gehabt,

schon auf der Fahrt dorthin, dass die Frauen dort die Erdarbeiten gemacht haben.

Als ich die tausenden von Frauen gesehen habe, wie sie die Körbe auf den Köpfen

hatten und dort diese Lasten trugen. Es waren zu meiner Zeit etwa 1000 Deutsche

da. Das wichtigste war natürlich die Arbeit unter schweren Bedingungen. Das Klima

war das größte Problem. Wir hatten Tage gehabt, da hatten wir 46 bis 50 Grad im

Schatten und eine Luftfeuchtigkeit von 98 Prozent. Wir konnten unsere Leute damals

selbst einstellen. Im Prinzip sind wir nach Rourkela gekommen um Anweisungen zu

geben und Einheimische einzustellen. Und diese Leute waren nur selten Adivasis,

sondern es waren aus ganz Indien zusammengepferchte Leute. Es bestand damals

eine Auflage und die Auflage bestand darin, dass ca. 15 Einheimische auf einen

Deutschen eingestellt werden sollten. Aber es stand nicht drin, dass es nur Adivasi

gewesen sind, sondern die sah man draußen für die, schlechter Ausdruck, niederen

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Arbeiten gedacht. Aber die technisch komplizierteren, wie die Fachkräfte etwa,

wurden in ganz Indien rekrutiert.“

Dritte Sprecherin:

Für Mahasweta Devi war der erste Besuch bei Adivasis im Bezirk Palamau 1965 ein

Schock. Auf ihren Streifzügen von Dorf zu Dorf hat sich ihr immer wieder das gleiche

Bild geboten. Die Umwelt ist zerstört, für die Adivasi hat es weder Bildung, noch

medizinische Versorgung gegeben. Das Land war enteignet worden und die

Bewohner lebten unter menschenunwürdigen Bedingungen.

Zweiter Sprecher:

Eine Reise führte mich in das 90 Kilometer entfernt von Rourkela liegende Dorf

Latchera. Die letzten 30 Kilometer fuhren wir mit dem allradgetrieben Jeep auf der

Piste durch den Dschungel. Vor mir fuhr ein Führer mit einem kleinen Moped. Der

Weg in das Dorf verändert sich ständig, mit jedem Regen.

Regie: Atmos

Vierter Sprecher:

„Vor 50 Jahren bin ich auf einen LKW geladen und hier herausgeschmissen worden.

Damals ist hier nichts als dichter Dschungel gewesen. Am Anfang hat man uns noch

Wasser und Essen gebracht. Aber wenn der Monsun kommt, sind die Wege

unpassierbar. Und so hat sich niemand mehr um unser Schicksal gekümmert. In

dieser Zeit sind viele von uns an Cholera und Windpocken gestorben. Die anderen

haben überlebt, weil sie Blätter von Bäumen und Blumen gegessen haben.

Manchmal müssen wir dies heute auch noch tun. Es ist schwierig, hier zu überleben.

Es gibt noch nicht einmal sauberes Trinkwasser. Aber wohin sollen wir gehen. Vor 50

Jahren ist uns als Entschädigung für unser Land Arbeit im Stahlwerk versprochen

worden. Aber die gibt es bis heute nicht. Wir gehören unterschiedlichen Stämmen

an. Einige sind Oráon andere Múnda, Khária oder Kissán. Damals, als man mich

hierher gebracht hat, bin ich erst neun Jahre alt gewesen. Deshalb kann ich mich

nicht mehr an die Namen derjenigen erinnern, die gestorben sind. Es sind zu viele

gewesen.“

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Zweiter Sprecher:

An einer Stelle am Rande des Dorfes war eine Grabstelle angelegt. Die

Dorfbewohner sagten, hier lägen diejenigen, die 1958 nach ihrem Abtransport in den

Dschungel starben. Über 500 Adivasi sollen es gewesen sein. Weiter hinten im Wald

wurden noch einmal 200 begraben, Christen und Animisten. Heute ist es ein heiliger

Platz für die Adivasi.

O-Ton Tiefensee (28´30´´- 31´50´´)

„Ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass der Herakut Staudamm, der vorher

schon gebaut wurde und auch mit deutscher Hilfe, mit Hoch-Tief und später mit der

BBC, dass die schon zur Stromgewinnung für Rourkela bestimmt waren. Auch dort

sind damals jede Menge Adivasi vertrieben worden und dann ging es erst in

Rourkela los. Von der Vertreibung selbst wussten wir nichts. Aber wer länger da

gelebt hatte, der konnte sich aufgrund des riesigen Areals, was da zur Verfügung

stand, der musste sich einfach Gedanken machen: Hier haben ja vorher Menschen

gelebt. Es gibt zwar in Indien in der Verfassung einen Minderheitenschutz, bloß, der

zählt nicht viel, der steht mehr auf dem Papier und die Ansiedlung, die

Industrieansiedlungen laufen immer nach dem gleichen Schema ab mit Vertreibung

und Enteignung. Und Versprechungen, die nicht eingehalten werden. Mir ist relativ

schnell klar geworden, dass es dort so abgelaufen sein musste. Das Allerwichtigste

ist, dass man nicht an die Ausbildung der Adivasi gedacht hat, sondern sie sind eben

eine Unterschicht und man hat sie als Minderheit anerkannt und lässt sie dort leben

und verdrängt sie immer weiter und nimmt ihnen den Lebensraum aber an die

Ausbildung denkt niemand.“

Vierter Sprecher:

Das kulturelle Erbe

Erste Sprecherin (Bengali)

Zweite Sprecherin (Übersetzung Bengali):

„Die lebendige Sprache der einfachen Leute ist ein Muss für meine Literatur. Der

Reichtum der Sprache ist nicht genügend ausgeschöpft worden. Will man aber über

das alltägliche Leben der Menschen schreiben, muss man die Menschen kennen,

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über die man schreiben möchte. Unter Schriftstellern besteht aber nur geringes

Interesse, etwas über das ländliche Indien und seine Bevölkerung zu erfahren. Eine

gewaltige Fülle an Material bleibt dadurch ungenutzt. Ich versuche mein Bestes. Eine

Lebenszeit des Schreibens und der Feldforschung reichen nicht aus, und eine

Punarjanma, eine Wiedergeburt, gibt es nun einmal nicht. Wir müssen verstehen,

was die Menschen zu sagen haben.“

Atmo: Gehen und Vogelgeräusche

O-Ton Autor: (57 / ab 9´56´´ – 13´25´´)

„How many….in India“

Zweiter Sprecher (Übersetzung Autor):

„Wie viele Sprachen sind in Gefahr auszusterben?“

O-Ton Ashok Chaudhari:

„More than 600.“

Vierter Sprecher (Übersetzung):

„Mehr als 600.“

O-Ton Autor: (57 / ab 9:56

„Do you have…vanished?“

Zweiter Sprecher (Übersetzung Autor):

„Sind schon Sprachen ausgestorben?“

O-Ton Ashok Chaudhari:

„Yes,…Mesoran“

Vierter Sprecher (Übersetzung):

„Ja, einige. 52 kleinere Adivasigesellschaften sind bedroht. Sie könnten jederzeit

verschwinden… Jeder Baum hier steht für eine andere Sprache Indiens. Eines

Tages werden diese Bäume der Adivasi-Akademie Schatten spenden. Dies sind die

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Sprachen des Himalaya, wie die Dhiva Sprache oder das Ulushai aus dem

Nordosten Indiens aus der Provinz Mesoran.“

Zweiter Sprecher:

Eine Reise führte ins Dreiländereck der indischen Bundesstaaten Gujarat, Madhya

Pradesh und Maharashtra. Am Dorfrand von Tejgadh lag die aus luftgetrockneten,

roten Ziegelsteinen errichteten Gebäude der Adivasi-Akademie: Eine Art kulturelles

Labor der Adivasi Kulturen der Gegenwart. Es ist der größte und Einzige Ort seiner

Art.

Dritter Sprecher:

Unsoziales Verhalten bedeutet für die Adivasi den Untergang der Gemeinschaft. Die

Tradition erachtet soziales Verhalten als Nutzen und Vorteil bringend. Die

Ahnenverehrung und die beseelte Natur mahnen eine Lebensführung an, in der sich

jeder der Folgen seines Tuns bewusst sein muss.

Zweiter Sprecher:

Im Zentrum befindet sich die Bibliothek mit ihren 28.000 Büchern und 185

Fachzeitschriften zur Kultur, Geschichte und Gegenwart der 70 Millionen Adivasi

Indiens. Wie alle Gebäude des Campus ist auch sie architektonisch traditionellen

Adivasi Häusern nachempfunden. Die bis zu zehn Meter hohen Räume mit ihrer an

gotische Kreuzrippengewölbe erinnernde Dachkonstruktion aus Backsteinen kühlen

die heiße Luft.

Dritte Sprecherin:

Mahasweta Devi ist monatelang mit dem Englischprofessor Ganesh Devy durch den

westindischen Bundesstaat Gujarat gefahren. Sie haben einen Ort gesucht, an dem

eine Akademie gebaut werden könnte. In ihrer Vorstellung wird es ein Ort, der von

den Ureinwohnern selbst verwaltet wird, an dem das vom Untergang bedrohte

Wissen versammelt wird.

Zweiter Sprecher:

Der Direktor des Adavisi Instituts führte mich auf die Anpflanzung mit einigen

Hundert kleinen Bäumchen. Um jeden Stamm war mit einer Schnur ein Schild

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gebunden. Darauf war der Name einer Adivasisprache geschrieben, in lateinischer

Schrift. Der „Wald der Sprachen“ ist ein Symbol für die zahlreichen Sprachen des

indischen Subkontinents. Und eine Mahnung der Adivasi, die kulturelle und

sprachliche Vielfalt als kulturelles Erbe der gesamten Menschheit zu betrachten.

Regie: Gesang Adivasikinder

Dritte Sprecherin: (Übersetzung Gesang der Waisenki nder)

„Wir sind die Kinder der Sonne

Auch wenn wir klein sind,

werden wir euch in der Dunkelheit leuchten

Und auch

wenn es immer dunkler wird auf der Erde

Das schreckt uns nicht

Wir werden immer ein Licht

in der Dunkelheit sein.“

Vierter Sprecher:

Epilog: Mahasweta Devi in Kalkutta

Zweiter Sprecher:

In einer englischsprachigen indischen Tageszeitung ist ein Bild von Mahasweta Devi

abgedruckt. Die Schriftstellerin trägt eine dicke Brille. Mahasweta Devi kennt keine

Eitelkeiten. In dem Artikel beschimpft sie den Staatssekretär der regierenden

Kommunistischen Partei im südindischen Bundesstaat Kerala. Sie würde seiner

Einladung nicht nachkommen, da er in einem Palast lebe. Mahasweta Devi ist

gefürchtet.

O-Ton Devi (ohne Übersetzung 41´10´´)

„…continue, continue, continue….have your tea first!“

Zweiter Sprecher:

Die letzte Reise führte nach Kalkutta in das Haus von Mahasweta Devi. Zwei Tage

dauerte die Suche. Niemand wusste, wo die berühmte Schriftstellerin lebt. Alle

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Adressen und Telefonnummern waren falsch. Endlich erhielt ich den entscheidenden

Hinweis. Hinter einer Polizeistation führte ein staubiger Weg zwischen Feldern von

der Hauptstraße weg aus der Stadt. Nach einem Kilometer stand ich vor einem

kleinen dreistöckigen Haus. Warum sollte gerade hier eine Hausnummer und ein

Name an der Tür zu finden sein, wenn dies in Indien niemals der Fall ist.

O-Ton Devi (57´-59´)

„It was a rented house and I was sick of….

Zweite Sprecherin (Übersetzung Mahasweta Devi):

„Ich habe in einem Mietshaus gewohnt und habe genug davon gehabt. Dann habe

ich dieses Stück Land bekommen. Als das Haus gebaut worden ist, bin ich kein

einziges Mal hierher gekommen. Nachdem es fertig war, bin ich eingezogen. Ich

habe den Platz für meine Bücher gebraucht. Überall sind meine Bücher, hier, im

Keller und im unteren Stockwerk, überall. Ich habe entschieden, dass ich eine

Mahasweta-Devi-Stiftung gründen werde. Sie soll dazu dienen, über meine Literatur

und über alles, was ich über die Adivasi gesammelt habe, zu forschen. Außerdem

soll meine Literatur in andere Sprachen übersetzt werden. Ich habe geschrieben und

war politische Aktivistin. Alles ist in meinem Haus vorbereitet. Bücher sind so wichtig

und es gibt immer wieder Anfragen von Forschern…“

Regie: Atmo: Telefon klingelt und sie telefoniert

Zweiter Sprecher:

Unablässig klingelte das Telefon, kamen Besucher, Hausangestellte geisterten

gleichzeitig ständig um die alte Frau herum. Sie meinten wohl, Mahasweta Devi

beschützen zu müssen. Das Gespräch war der Schriftstellerin sichtlich unangenehm.

Was sollte sie auch einem Journalisten erklären wollen, der in einem anderen Erdteil

lebt. Was er wohl verstanden hätte?

O-Ton Devi (1h 15´-1h 18´46´´)

„How does it feel..

Zweite Sprecherin (Übersetzung Mahasweta Devi):

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„Wie man sich mit 86 fühlt? Toll! Was ich noch vorhabe? Ich schreibe, schreibe,

schreibe. Ich habe keine festen Zeiten. Denn schon ab dem frühen Morgen kommen

Leute aus den Dörfern. Leute, die in einer misslichen Lage sind, kommen immer zu

mir. Ich kenne die Adivasi-Dörfer, aus denen sie kommen. Sie fühlen, dass sie den

Weg zu mir gehen können. Ich helfe ihnen, wo ich kann. Sie rufen mich auch ständig

an. Aber ich bin kein Anwalt für sie. Ich bin nur ich selbst, ich denke, ich bin nur ich

selbst.“

ENDE