Das Königreich im Meer - rowohlt.de · sie es für Edgar Allan Poe und Jorge Luis Borges einmal...

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Leseprobe aus: Markus Gasser Das Königreich im Meer Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de. Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Leseprobe aus:

Markus Gasser

Das Königreich im Meer

Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de.

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Markus Gasser

DAS KÖNIGREICHIM MEERDanielKehlmannsGeheimnis

Rowohlt Taschenbuch Verlag

Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag,Reinbek bei Hamburg, August 2013Copyright © 2010 by Wallstein Verlag, GöttingenUmschlaggestaltung any.way, Cordula Schmidt(Umschlagabbildung: Beowulf Sheehan)Satz Quadraat PostScript, PageOne,bei Dörlemann Satz, LemfördeDruck und Bindung Druckerei C. H. Beck, Nördlingen

Printed in GermanyISBN 978 3 499 25852 7

«… Ultima Thule, diese Insel, geboren in dertrostlosen grauen See meines Herzwehs um dich …»Vladimir Nabokov, Ultima Thule

«Wie ein Wahnsinniger sich für Gott hält,so halten wir uns für sterblich.»Pierre Delalande, Abhandlung über die Schatten

«I’m dead, then. Good.»Tom Stoppard, The Invention of Love*

To the Others

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INHALT

I Ein Lächeln vom jenseitigen Ufer 9Unter der SonneWas für Toren waren wir doch 9Der persische Teppich 13Nabokovs Meer 16

II Die verborgenen Gärten 26Beerholms VorstellungWie man sich für keinen Beruf entscheidet 26Die ungeheure Leichtigkeit des Todes 30Während ich schlafe, starrt es mich an 39

III Freund des Fiebers,Zerstörer des Geistes 41Mahlers ZeitDie letzte Drehung der Schraube 41Jaldabaoth 46Gib acht, daß keiner dich erkennt 49

IV Geliehener Staub 55Der fernste OrtDas Königreich im Meer 55Die Wildnis der Spiegel 59Die Freuden des Abschieds 63

V Des Fälschers Furcht 69Ich und KaminskiEin Gewerbe für Selbstmörder 69Kaminski muß sterben 75Luzifer und Clown 89

VI Das Schweigen Gottes um 1828 94Die Vermessung der WeltDas Geheimnis der Luft 94Humboldt trinkt zuviel Wein und rettet damit

den Abend bei Präsident Jefferson 100Unser Erfinder hat genug von uns 117

VII Die Verschwundenen 122RuhmKommt, Geister, die ihr Mordgedanken nährt 122Das Geständnis einer Maske 127Was, zum Teufel, soll ich jetzt mit dir tun? 137Wie finster der Wald 147

VIII Der zerschlissene Vorhang 149FDein Name sei Niemand 149Der Fürst verneigt sich und foltert 154Das Grab in den Sternen 158

Anmerkungen 161

Register 189

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I EIN LÄCHELNVOM JENSEITIGEN UFER

Unter der Sonne

Was für Toren waren wir doch

Stellen wir uns vor, die Welt bestünde nur deshalb weiter, weildie Toten sich an uns erinnern. Wir haben dort Platz genom-men, wo sie sich einst niederließen, und nun beobachten sieuns von ihrer Welt aus, stumm, aufmerksam, geduldig und ho-heitlich, so wie wir bei jeder Lektüre eines Buches die imaginä-ren Wesen der Literatur. Wenn wir im Bewußtsein eines sol-chen Geisterpublikums leben würden – wäre unsere Welt,diese hier, kostbarer für uns? Und was dächten diese Totenko-mitees von uns, wenn sie in ihren Sitzungen ununterbrochenüber unsere Geschicke wachten? Wäre die irdische Welt kost-bar für sie? Oder unsinniger noch, als sie ihnen vielleichtbereits zu Lebzeiten erschienen war?

Als seine Frau nach schleppendem Elend an Kehlkopftuber-kulose gestorben ist, findet sich der Maler Gospodin in Vla-dimir Nabokovs Erzählung Ultima Thule nicht ab mit ihremTod. Wo ist sie jetzt? Sein ganzes Denken stürzt in jenes Loch,das ihr Verschwinden in sein Dasein gerissen hat, und vor Ver-zweiflung und fressendem Schmerz träumt er sie und sich inein Inselreich hinüber «inmitten der Nebelschwaden des Mee-res» – inspiriert vom Versroman Ultima Thule eines isländi-schen Autors, den Gospodin illustrieren soll. Lächelt sie ihmvon einer «wunderbaren Bucht» her zu, wie der Versroman ihm

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anrät? Oder ist sie nirgendwo mehr, dieses «liebe Geschöpf»,im Nichts einfach geworden zu nichts? Gospodins Qual: als ob«einfach» so einfach und zwischen Nichts und Werden keinWiderspruch wäre.

Für Gospodin bildet die Welt ein kugelrundes Verlies, fürihn ist Leben, sich dessen Ende zu nähern, und der eigene Kör-per geliehener Staub. Er fürchtet und ekelt sich vor dem etwai-gen «schwarzen Nichts» jenseits des Grabes, jener Bewußtlo-sigkeit, die uns erwarten und uns nicht einmal mehr denkenlassen könnte: «Jetzt bin ich nichts, und es ist schwarz.» Oderist die Welt statt fadenscheinigen Unsinns ein jenseitsgewirk-tes Gewebe von Sinn? Mit nichts lebt es sich schlecht – ist dadrüben also doch irgendwas? So tastet sich Gospodin von derNichtigkeit des eigenen Seins zu einer Jenseitshoffnung hinund zurück. Er sucht Trost bei Adam Falter, dem sich, als «einunirdischer Blitz» ihn traf, «das Wesen der Dinge» offenbarthaben soll. Ein Psychiater ist vor Erstaunen über Falters Voll-einsicht bereits einem Herzstillstand erlegen, und um Gospo-din nicht zu gefährden, hält Falter sich im Streitgespräch mitihm zurück: Wie soll man das Jenseits in irdischen Begriffenauch zu fassen kriegen? Und doch will sich Falter im arabeskenFaltenwerk seiner Sophismen später dann mit zwei, drei Wor-ten verraten und Gospodin eine Botschaft von seiner geliebtenToten überbracht haben, Hinweise auf das, was sie im Lebenam meisten mochte und von dem Falter nichts wissen kann –«Verse, Wildblumen und ausländische Währung». Mit dem In-selbild der isländischen Verse lag Gospodin also schon einmalrichtig; das irdische Leben, so erschließt sich auch dem Leserbei mehrmaliger Lektüre, ist ein bloßes Vorwort zum eigent-lichen Text, das Jenseits ein Königreich verwilderter Gärtenim Meer, und wer seine wunderbare Bucht erreichte, hält dieSchlüssel zu allen Toren und Schatzkammern dieser Welt inseiner Hand.1

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Es ist gleichgültig, ob man diese Enthüllung glauben oderals hochherzige Unwahrscheinlichkeit verwerfen will: Sie birgtdie ganze Essenz von Literatur – zumindest jener Literatur,die, doch bloß eine Erfindung, jenseits aller Wahrscheinlich-keit steht und so auch keiner Realitätsbeweise bedarf. Das«schwarze Nichts», die «vollendete Dunkelheit traumlosenSchlafs», mag für manche, wie den grimmen Richard Daw-kins, der Wahrheit am nächsten kommen – doch verrät undgewährt sein Gegenteil, Gospodins Inselreich, mehr Phanta-sie, Reichtum und Vitalität: Im Sterbebett zählen dann ohne-hin nur mehr Morphium und Imagination. Dasein ist für sichschon todesseitig genug, und Literatur lebt davon, zu bezwei-feln, daß es nichts darüber hinaus geben können sollte. Siebringt die Kollaborateure des Nichts in Erklärungsnot. Undgenau hier beginnt Daniel Kehlmanns Reich.2

Wie Nabokov ist Daniel Kehlmann ein nüchterner Euphori-ker jener anderen Seite, der im Geisternebel von GospodinsInsel am meisten und am weitesten sieht: Schon in seinen er-sten Erzählungen, ein Jahr nach dem Romandebüt BeerholmsVorstellung von 1997 in dem Band Unter der Sonne versammelt,war «Nebel» die Chiffre für das Gefängnis der Welt, jedochauch für die Ahnung, es gebe da einen Weg heraus. Manage-ment Director Lessing verirrt sich in der Schlußerzählung ver-ärgert und erschöpft in einen Sturm aus Schnee, der sich zu«einem leuchtend weißen, wehenden Nebel» verdichtet, bis erfühlt, wie «die Wirklichkeit sich in eine andere […] schob. Unddann nahm etwas Weiches und Weißes ihn auf und umhüllteihn, und er wußte, daß er jetzt sicher war. […] Und auf einmalverstand er. Er mußte nicht weiter. Es war vorbei.» Das ist derHorizont, den Kehlmann von Buch zu Buch erneut erreichenwill: Von dort aus betrachtet, gestaltet sich die Welt für ihnkostbarer und unsinniger zugleich, und aus diesem Zugleichgewinnt Kehlmann die Perspektive und Dimension seines

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Werks. Wie Gospodin bedrängt ihn die Frage, was außerhalbdes Kerkers der Welt und der eigenen Sterblichkeit liegt. Dermögliche Verlust des eigenen Bewußtseins ist sein abscheu-lichster Alptraum, den er nicht hinzunehmen vermag; auf derWeigerung, sich diesem Bewußtseinsverlust zu beugen, sindalle Zivilisationen gegründet, und eine Grundlage des moder-nen Europas bildet Hamlets Satz, wonach es mehr Dinge zwi-schen Himmel und Erde gibt, als unsere Schulweisheit sichträumen läßt.

Kehlmann ist fasziniert von der Bodenlosigkeit formallogi-scher Systeme, wie sie Kurt Gödel umtrieb, von Gödels Geister-furcht und der Schönheit alter Gottesbeweise, den Phantasmenvon Theologie und Philosophie, die Kehlmann als intellektu-ellen Luxus statt als Ballast begreift, von Nabokovs Metaphy-sik und von Gespenstergeschichten, von den Koma-Visionenund Traum-in-Traum-Sequenzen Anthony Sopranos und denmilchigen Phantomen des Horrorfilms. Schon Arthur Beer-holm kam sich reichlich erfunden vor und mithin nicht ganzvon dieser Welt; David Mahler in Mahlers Zeit von 1999 mußtean der Einrichtung seines Verstandes zweifeln oder an derdes Universums; Julian im Fernsten Ort 2001 ist, kaum daß ersich vorm Ertrinken bewahren konnte, erst recht in das Ge-schling seiner eigenen Vorstellungswelten hineingeraten; fürManuel Kaminski in Ich und Kaminski 2003 ist die Welt ein uni-verseller Betrug wie dann wieder für Carl Friedrich Gauß 2005in der Vermessung der Welt; Miguel Auristos Blancos in Ruhm2009 erlebt jeden Sonnenuntergang über Rio de Janeiro als einExperiment, das jederzeit mißlingen kann, und hält sich an-gesichts dieser Kosmosgebrechlichkeit eine Pistole an denKopf: Wüßte man doch nur, wer da experimentiert und wozu;und in F von 2013 ist die Realität samt und sonders nichtsals ein infernalischer Alptraum, bizarr, endlos, komisch undgrandios.

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So sind alle Geschöpfe Kehlmanns schon von Geburt anhalbe Schatten – Grenzgänger zwischen der diesseitigen Weltund dem Jenseits. Sie durchherrscht der Verdacht, unter demJoch feindseliger Gestirne zu stehen und von Grund auf ge-täuscht zu werden, dürrem Unsinn ausgesetzt zu sein unddas Entsetzlichste erst noch vor sich zu haben. Dieser Verdachtmacht gerade vor Kehlmanns Schreiben selbst niemals halt.Daß zuletzt auch seine Literatur – konfrontiert mit der alltäg-lich widrigen Wirklichkeit, der körperlichen Erniedrigung desAlterns, dem Sterbenmüssen und dem Tod eines jeden – keineBedeutung hat, ist Kehlmanns Gewißheit. Aus dieser Gewiß-heit heraus will er alle Erdenschwere überwinden – bis die so-genannte Realität, wie von Gospodins Inselreich aus besehen,nur mehr ein Wortspiel ist und, nach Gauß in der Vermessung,ein bloßer Traum, den man hinieden so ernst nimmt, wie mansich in der «stärkeren Wirklichkeit» auf der anderen Seite dannüber den eigenen Ernst von einst prächtig amüsiert: «Was fürToren waren wir doch!» Daher auch Kehlmanns lightness oftouch: seine unverwechselbare Grazie und Leichtigkeit.3

Der persische Teppich

Noch keiner habe sein Werk wirklich verstanden: so entschul-digt sich der Schriftsteller Hugh Vereker in der Erzählung TheFigure in the Carpet von Henry James nach dem Dinner bei einemKritiker, dessen Rezension seines neuen Romans Vereker «dasübliche Geschwätz» genannt hat. Es gebe in seinen zwanzigBänden ein bislang unentdecktes verborgenes Etwas, dem mit«billigem Feuilletonistenjargon» freilich nicht beizukommensei: «Also geben Sie’s auf.» Schlicht und ungeheuerlich sei esund doch so belustigend offensichtlich, daß er sich geniere, esbeim Namen zu nennen – gleich dem Muster in einem persi-

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schen Teppich. Die Literaturexperten, ansonsten doch solche«Dämonen des Feinsinns», sähen nur nicht genau hin.4

Wie Verekers Werk gilt auch dasjenige Kehlmanns vor al-lem als «clever» – als klug und gewandt, charmant und fastunverschämt unterhaltsam, humorvoll, temporeich und poin-tiert … bis zu dem Verdikt, man könne kaum «ganz große Li-teratur» nennen, was dermaßen angenehm zu lesen sei. Aberist es das wirklich? Bei keinem anderen Autor der deutschenGegenwartsliteratur wird so viel, so quälend ungern und oftdrastisch gestorben: Jedes Werk hat den Moment, da den Le-sern in die Knochen fährt, wie wirklich der Tod ist, und dasie nicht mehr nur wissen, sondern auch glauben, daß sie ster-ben müssen. Wer sich mit einer ersten Lektüre von Ruhm oderF nicht begnügt, wird die Erfahrung machen, ein Horrorstückgelesen zu haben, das so grundbeglückend wie grundverstö-rend ist: eine spezifische Kehlmann-Kombination. Bei kei-nem sonst suchen derart dämonenstark Alpträume und Vi-sionen die Figuren heim; Kehlmanns Spiegel sind nicht dieabgegriffene Metapher für Identitäts- und andere Probleme,sondern wieder so entsetzlich und im Kern existentiell, wiesie es für Edgar Allan Poe und Jorge Luis Borges einmal ge-wesen sind. Die «realistische» Politur seiner Romane ist vonRissen zerfurcht, und sie werfen unentwegt Fragen auf: Ist,wie es gegen Ende von Beerholms Vorstellung heißt, nichts andieser «Vorstellung» wahr, oder täuscht Beerholm Unwahr-heit nur vor? Wie kann Julian im Fernsten Ort seinen Vater imKrankenhaus besuchen, da dieser doch schon längst gestor-ben ist? Wenn Kaminski blind ist, wie kann er dann das Ge-mälde mit dem Sonnenaufgang in Therese Lessings Flur ge-sehen haben? Was hört Gauß, wenn gegen Schluß seinesLebens aus dem Nichts «ein tiefes Brummen» die Luft erfüllt?Warum tauchen periodisch ungerufen zwielichtige Taxifahrerauf und setzen einen dann auch noch an den falschen Stra-

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ßenecken ab? Weshalb muß der Schriftsteller Leo Richter inRuhm die Geschichte seiner «klügsten» Figur Rosalie um-schreiben, wer ändert aus welchen Gründen die Regeln sei-nes Spiels? Und gibt es die labyrinthischen Kellerfluchten in Ftatsächlich, worin sich Eric Friedland verläuft, und verfügtErics Vater über die Gabe des Zweiten Gesichts? Was geht hiervor?

Als wär’s eine Finte, hat die so unbeschwert anmutende Er-scheinung dieses Autors noch fast jeden in die Irre geführt.Denn es ist auch eine: Kehlmann hat stets eine zweite, eigent-liche Geschichte in die halbdurchsichtige Handlungsober-fläche hineinverwoben, die sich in sachten Ungereimtheiten,Falltüren ins Irreale bemerkbar macht, in Wundern und Mon-strositäten, die das Licht verändern, in dem man sie eben nochwahrgenommen und für «leicht» befunden hat. Schließt mandas jeweilige Buch, wirkt gerade sie, und nicht die Leichtigkeit,in uns untergründig fort. Wer dem «Phänomen Kehlmann»nachrätselt und es sich mit außerkünstlerischen Ursachen er-klärt, übersieht die komplexe Figur in Kehlmanns persischemTeppich, das bald gütige, bald fratzenhafte Gesicht darin – undbei all dieser Heiterkeit die Furcht, Not, Panik und Verloren-heit, mit der dieser Teppich gewoben ist. Erst Kehlmanns light-ness of touch und das Dunkle, Unheimliche, Bedrohliche unddann auch wieder Tröstliche machen zusammengenommen dieBezauberung aus, die so viele Leser erfüllt und belebt. Ohnedie Leichtigkeit wäre, was darunter lauert und flüstert, nichtzu ertragen. Das Darunterliegende aber ist Kehlmanns großesGeheimnis: Wie ist uns allen zu leben und durchzukommenüberhaupt möglich? Was ist Wirklichkeit, und wer steckt da-hinter? Wie fühlt es sich an, wenn man stirbt, und was ist da-nach? Wie kann Kehlmann lesbar und gewichtig in einem sein,und warum macht das manche Kritiker gerade im deutschenSprachraum so seltsam nervös?5

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Gleich Adam Falters drei, vier Worten für Gospodin inUltima Thule bildet Daniel Kehlmanns Geheimnis eine Ge-schichte für sich. Folgt man ihr chronologisch von Buch zuBuch durch das bisherige Gesamtwerk hindurch, von BeerholmsVorstellung bis zu F, ergibt sich der Plot eines Thrillers, als wäreer vom Autor selbst im Anfang schon so vorbedacht gewesen.Natürlich war er das nicht. Doch Kehlmann selbst betonte,daß der Autor sein Werk keineswegs am besten kennt, und sohat, wie – der allerdings paranoide – Charles Kinbote in Kehl-manns Lieblingsbuch Fahles Feuer von Nabokov aus dem Jahr1962 bemerkt, der Kommentator eines Werks, dieser Henry-Jamessche Dämon des Feinsinns, zum Glück immer das letzteWort.6

Nabokovs Meer

Im Falle Henri Bonvards aus Unter der Sonne gilt das allerdingsnicht. Als der mittlerweile achtzigjährige Schriftsteller einerunheilbaren Krankheit zuvorkommend sich eine Kugel in denKopf geschossen hat, reist noch so ein kleiner Dämon desFeinsinns, Dozent Dr. Kramer, zwischen die Weinberge undPalmen in Bonvards südfranzösisches Dorfdomizil Oury-sur-Mer, um wenigstens ein Foto von dessen Grab für das Titel-blatt seiner Habilitationsschrift zu erhaschen, die das letztegroße Wort sein soll zu Bonvards Werk. Mit dem Foto vornedrauf würde er auch seinem «größten Erlebnis», ganz auf duund du, sein letztes Geleit geben; denn persönlich begegnet istKramer dem maestro zu seinem Leidwesen nie. Ganze vierWochen hat er gebraucht, um den ersten Brief, dann drei, umden zweiten an diesen König seines Ultima Thule zu schrei-ben. Wie der Hauptmann von Karfarnaum sich «nur ein Wort»von Christus erbittet (nur ein Wort, und seine Seele würde wie-

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der gesund), so Kramer einst von Bonvard: «Ein Wort von Bon-vard wäre genug gewesen, um die Nebel aufzulösen» – auf eineAntwort von der «anderen, hellen Seite» des Lebens wartet Kra-mer indes vergebens, und als Bonvards offizieller Biographkommt ihm sein zackig arroganter Kollege Hans Bahring zu-vor. Seit Kramer fünfzehnjährig Bonvard zum ersten Mal las,trieb ihn die Sehnsucht um, aus dem Nebel seiner Existenz inBonvards Werk und Welt zu verschwinden, in ihre «silbrigeStille» und traumleichte Wirklichkeit; und nun, um 1989, hater es doch endlich geschafft – Kramer fährt tief hinein ins Jen-seits von Bonvards Sonne und Meer. Bonvard wird ihn nichtmehr von sich fernhalten können.7

Mit der Ankunft Kramers im fiktiven Oury-sur-Mer in Unterder Sonne beginnt Daniel Kehlmanns Geschichte, die uns aufdie Spur seines Geheimnisses setzt. Fast jeder Autor hat einanfängliches Schlüsselstück, in dem er auch zu sich selberspricht und laut darüber nachdenkt, was sein Schriftstellerda-sein ausmachen, worauf es hinauslaufen, woran es scheiternkönnte: eine Erzählung, wenige Seiten oft nur, die uns die Blei-kammern zu seinem Inneren einen Spalt breit öffnet. Immerwenn Henry James sich fürchtete – vorm eigenen Versagenetwa (also meistens) –, schrieb er eine Geschichte darüber –und James schrieb insgesamt mehr als einhundert. Glaubte er,er tauge zu nichts, dann starb ein Maler in Florenz über seinemMadonnen-Meisterwerk, das nur eine blanke Leinwand war,und dessen Konkurrent hatte bloß Affen und Katzen in obszö-nen Posen zu bieten: Besser nichts geschrieben und tot, sagtesich James, als so was. Fühlte sich James zu Tode erschöpft,kam The Middle Years und die zentrale Arbeitsmaxime für alleMenschen aller Zeiten dabei heraus: «Wir arbeiten im Dun-keln – wir tun, was wir können – wir geben, was wir haben.Unser Zweifel ist unsere Leidenschaft und unsere Leidenschaftunsere Aufgabe.» Drohte eine Sinnkrise, überraschte er sich

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mit The Figure in the Carpet – stets war es the very best of HenryJames. Und Unter der Sonne, Anfang der neunziger Jahre nochvor Beerholms Vorstellung verfaßt, ist die bislang beste Erzählungvon Daniel Kehlmann. Sie fixiert erstmals sein Grundmotiv,die Flucht aus dem Gefängnis der Welt, «there must be some wayout of here» in den Worten Bob Dylans. Sie zeigt, welchen Au-tor – einen Ozean von einem Schriftsteller – Kehlmann gelesenund dabei wie ein Orakel befragt, welche Zeitgeistwiderständeer mit dessen Hilfe überwunden hat und daß er sogar schonahnt, wie er sich auch aus diesem Ozean einmal wird frei-schwimmen müssen. So wie Bonvards Romantrilogie «Unterder Sonne» Kramer durchs Leben schleppt, gibt NabokovsWelt Kehlmanns Imaginationsbedürfnis eine Dramaturgieund läßt ihn erahnen, wie es denn wäre, Kehlmann zu sein.Kehlmanns Erzählung besitzt Verallgemeinerungswert: Dieerste Realität eines Schriftstellers und seine letzte ist immerLiteratur. Sie ist entscheidender als jede Begegnung mit denMenschen jenseits von ihr. Er existiert nur in dem, was erschafft, und ist folglich uninteressant in dem, was er ist.8

Darum auch nehmen es Biographien von Schriftstellernan Spannung für gewöhnlich mit jedem Telefonbuch auf:Wenn Schriftsteller nicht nebenbei für den Geheimdienstunterwegs sind wie einst Graham Greene, statt ihre Intrigen-tätigkeit auf ihren Schreibtisch zu beschränken, geht ihremLeben oft jede dramatische Qualität ab wie dem Alltag einesPostbeamten. Zumeist muß ein Biograph dem Biographiertenvermittels Freudscher Sexualmythologie eine Urkatastrophehinzurätseln oder – wie es Borges und Proust zugefügt wor-den ist – frühe onanistische Exzesse anmahnen, damit der Le-ser die ersten zwanzig Jahre und Seiten übersteht. Bei einemSchriftsteller ist alles nur Bleistift und Papier. Seine Existenzsetzt nicht ein mit seiner Geburt – in Kehlmanns Fall wäre das1975 in München gewesen, ein wichtiges Jahr zumindest für

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die Zeugen Jehovas (sie erwarteten das Ende der Welt), fürAndreas Baader (der Stammheim-Prozeß begann) und JohnLennon (sein Sohn Sean wurde geboren und entband ihn vonden zu exzessiv gewordenen Freuden des Alkohols). EinSchriftsteller kommt über einen Umweg zur Welt: mit dem er-sten Buch, das er in die Hand nimmt und von dem er nicht las-sen kann. Er hat mehr Vorfahren in der Literatur als in seinerFamilie. Ein Schriftsteller ist jemand, der schreibt, weil er ge-lesen hat, der bald nur mehr liest, um zu schreiben, und dereines Tages tatsächlich ein Schriftsteller ist, weil er überm Le-sen mit dem Schreiben nicht aufgehört hat. Was er liest undwann, in welcher Weise und wogegen: danach ordnet sichseine eigentliche, seine geistige Biographie. Der Rest? Ist un-endliche Mühe, wie man den Notizbüchern von Henry Jamesexemplarisch entnehmen kann, erschöpft sich in Problemender Komposition, die in einem herumkreiseln wie ein Roulettevor besonders verbissenen Spielern in Monte Carlo: Man redetsich gut zu, «Fang endlich an! Sprich nicht immer nur darüberund drum herum!» Man beschwört «die großen Toten» herabwie Schutzgeister, drängt vorwärts, «Schlag zu! Schlag hartzu!», will aufhören, hofft auf die ruhigen, großzügigen, gedul-digen Vormittage und beginnt von vorn, «Laß dich doch bittenur einmal gehen!», hindert sich am Trinken und versagt, umam nächsten Morgen dennoch weiterzuarbeiten an etwas, dasnoch immer nicht wirklich begonnen, das noch immer denfalschen Farbton oder Dreh hat oder noch gar keinen. Nur daßer nicht aufgibt, rechtfertigt des Schriftstellers Existenz. ImGrunde geht es so jedem: Ein Schriftsteller ist eben nicht ir-gendwer, sondern einer von uns.9

Mit dem Erwachsenwerden sterben leider die Kinderkrank-heiten aus, Mumps und Scharlach, die uns fieberbeflügeltewige Tage zur Lektüre schenken und die Eltern dazu zwingen,uns vorzulesen: Den Umzug von München nach Wien machte

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1981 auch die große Bibliothek der Eltern mit, und der Vaterträgt Kehlmann, teils aus dem Gedächtnis, deutsche Lyrik vor,Joseph von Eichendorff und Matthias Claudius, und der Sohnhört väterlich die Erde rauschen «wie in Träumen / Wunderbarmit allen Bäumen», hört, wie Eichendorffs Hexe einen Reiter,«den Mann» schlechthin und eine ziemliche Kanaille also, ausihrem «weiten Wald» nicht mehr heimkommen läßt, wie Gottüber die Berggipfel geht und das Land segnet in seiner Stille,und hört vom «weißen Nebel» aus dem Abendlied, diesem Ge-bet um «einen sanften Tod» – in den Zeilen Kehlmanns kannman später neben dem Nebelmotiv von Claudius auch Eichen-dorffs überirdisch schlichten Ton, mit geisterhaft Großemund Phantastischem verwoben, nachhallen hören. Dem Zehn-jährigen sind «Bücher wichtiger und wirklicher […] als allesandere», die von Karl May zunächst noch, von Michael Endeund Jules Verne. Für ihn ist Lesen, als werde man unermeß-lich reich dadurch, und niemand wüßte davon; es hätte einenkaum verwundert, zu erfahren, Kehlmann wäre – auch später –allmorgendlich mit einem Buch sogar unter die Dusche ge-gangen.10

Seit Thomas Mann macht es sich im Lebenslauf eines Au-tors gut, wenn er ein schlechter Schüler war. Kehlmann wares nicht, auch wenn er nur ungern zur Schule ging und späterbefand, «daß Kinder zuviel Zeit in der Schule verbringen».Doch das von Jesuiten geleitete Privatgymnasium Kalksburgam südlichen Rand von Wien war nicht das Kindergefäng-nis Friedrich Dürrenmatts, «angeblich eingerichtet, um denKindern jene Bildung beizubringen, die sie nach Einbildungder Erwachsenen haben sollten, um durch das Leben zu kom-men». Die Gefängnisse liegen in den achtziger Jahren woan-ders, und zum Mißfallen der privilegierten kulturellen Elitenwollen die Staatsinsassen da nicht nur durch, sondern raus.Christa Wolf und Günter Grass, zumindest dem Namen nach

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die zwei Klassenbesten des deutschen Literaturbetriebs dies-und jenseits der Berliner Mauer jener Jahre, hoffen um 1989 anStelle der Wiedervereinigung auf einen «sozialistischen Son-derweg» für die DDR – Christa Wolf stellt sich vor, es sei Sozia-lismus, und «keiner geht weg», und für Günter Grass gibt dieNazi- eine Erbschuld her, die sich mit einem neuen «Groß-deutschland» nicht vertrüge. «Wir müssen», so Kehlmann inseinen Göttinger Poetikvorlesungen 2006, «dankbar sein fürjeden Autor, dem Macht versagt bleibt.»11

Dieser Satz könnte auch von Nabokov stammen, den Kehl-mann, während er noch an «schlechten Gedichten» schreibt,um 1989 wie Kramer seinen Bonvard mit derselben Verve zulesen beginnt, mit der seine Altersgenossen Nintendo und Fuß-ball spielen: «Die Welt verwandelte sich», erinnert sich Kra-mer, «Wiesen, Bäume und Himmel, aber auch Autos, Straßenund die klotzigen Betonbauten an ihrem Rand überzogen sichmit Farben. Die Menschen, auch die langweiligsten und blas-sesten, zeigten sich auf einmal als undurchschaubare Wesen.Und durch abgenutzte Wortfügungen schimmerten plötzlichMusik und Licht». So wie Nabokov selber als Kind im Sommer-sitz seiner Familie in das gerahmte Aquarell über seinem Bett,so wie Gospodin in den Versroman Ultima Thule, so wie Kramerin Bonvards Sonne und Meer, so will Kehlmann in NabokovsUniversum hineinsteigen, um, in Nabokovs Worten, «mit an-deren Seinszuständen in Berührung zu sein, bei denen Kunst(Neugier, Zärtlichkeit, Güte, Harmonie, Leidenschaft) die Normist». Nabokov lehrt ihn, den Schauer zu suchen, der «einem dieNackenhärchen aufstellt und zwischen den Schulterblätterndie Wirbelsäule hinunterläuft»; die Geschichte der Literatur,lehrt ihn Nabokov, ist die Evolution des Vermögens, sehen zumachen, was so sonst noch niemand gesehen hat, und bald hatsich Nabokov für Kehlmann zu einem Emblem für das Gefühlausgewachsen, in der Literatur sei einfach – wieder; noch

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immer – alles möglich und demnach erlaubt. Auch das wirdKehlmann von den übrigen Autoren seiner Generation unter-scheiden: Früher als andere liest er die als «schwierig» gelten-den Autoren «mit Erschütterung und Liebe». Kehlmanns Be-reitschaft, zu erstaunen und zu bewundern, hat ihn zu einerAusnahmeerscheinung in der neueren deutschen Literatur ge-macht, die eine ansonsten oft nah am Verstummen stotterndeTradition der Traditionslosigkeit pflegt und von dem trügeri-schen Gedanken nicht lassen kann, viel gelesen zu haben er-sticke den Schöpfungstrieb eines angehenden Schriftstellersim Keim. Für Kehlmann ist die Tradition das beste Instru-ment zur Erneuerung, und Weltliteratur wird hinter Kehlmanngleich einem freundlichen Schatten von nun an immer gegen-wärtig sein: neben Nabokov auch Borges, Leo Perutz, ThomasMann, Marcel Proust, Iris Murdoch, Gabriel García Márquez,Tom Stoppard und Philip Roth.12

Namen, die man nach Kehlmanns Erinnerung und zu sei-nem Ärger an der Universität Wien, wo er – wie sein Vater zu-vor – Philosophie und Germanistik studiert, kaum zu hören be-kommt. Noch immer gilt dort die «Wiener Gruppe» als dieAvantgarde, die Kehlmann später als humorlose Fortsetzungdes Dadaismus der Vorkriegszeit erscheinen will. In Deutsch-land ist mit Grass, Christa Wolf und Heinrich Böll sozial enga-gierter Realismus en vogue, in Österreich ein Gemisch aus Laut-poesie, Abenteuer- und Spannungsabstinenz und – natürlich –«Gesellschaftskritik». Fröhlich bis verbissen begeht man De-likte gegen ein selbst erfundenes österreichisches Selbstver-ständnis, um eine Art intellektuellen Dissidententums zu si-mulieren, wie es sonst nur Diktaturen anzubieten vermögen.Vor einem solchen Hintergrund mußte Nabokov wie ein Erd-beben wirken: Kehlmann kommt Fahles Feuer experimenteller,aufregender, gemütvoller, unterhaltsamer, komischer vor undein Wechselverhältnis zwischen Politik und Kunst alles andere

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als zwingend. Daß sich von Nabokovs Fahlem Feuer seit sei-ner Erstübersetzung ins Deutsche 1968 bis heute nicht einmalachttausend Stück verkauften und er vollends einflußlos blieb,wird Kehlmann später als Erklärung dafür dienen, warumdeutschsprachige Gegenwartsliteratur sich bisweilen so blei-ern ernst und langweilig ausnimmt wie das akademische Re-den über sie.13

So steckt auch Kramers Universität «voll von Leuten, würde-vollen älteren und bissig dreinschauenden jungen, die […] inernstem knorrigem Ton allerlei Dinge von der Literatur forder-ten, ein Wort, das in ihrem Mund eine Färbung von Langwei-ligkeit, etwas Sandkuchen- und Knäckebrothaftes annahm».Von Herzen mißfällt Kehlmann der kalt unintuitive, stattlich-massiv abstrakte und stets «politisch» fordernde universitäreUmgang mit Literatur, der sie in «Diskursbezüge» zwingt wieLabormäuse in ein Untersuchungskorsett. Spätestens seit demfranzösischen Literaturtheoretiker Michel Foucault leidet dieakademische Welt an einem Gott-ist-tot-Syndrom, das andereToterklärungen nach sich gezogen hat wie den Tod des Autors,des Romans und «das Ende des Erzählens». Diese für Kramerso «stickige Atmosphäre» aus Krisensucht und fruchtlosenDiskussionen darüber, ob nicht ohnehin alles Sagbare schongesagt und der «Erwartungshorizont» des Lesers stets zu ent-täuschen sei, läßt ihn wieder und wieder zu Bonvards Welt«voll Reichtum und Schönheit» flüchten, die seine lebensläng-liche Haft in einer bedeutungslosen Welt erträglicher stimmt.«Man konnte vieles werden und tun, nichts davon war wün-schenswert.» So rechnet sich auch der Student Kehlmann inUnter der Sonne seine künftigen Möglichkeiten vor.

Er ist inzwischen von seinen Gedichtversuchen zu Er-zählungen übergegangen und verfolgt mit Unter der Sonne zuseinen eigenen Gunsten eine finstere Strategie: Erstmals er-scheint darin das Bedrohliche hinter der beschwingt unbe-

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schwerten Kraft – jene Kombination aus lightness und existen-tieller Schwere, die Kehlmann in seinen dark tales, in MahlersZeit und im Fernsten Ort, dann zur vollen Entfaltung bringt.Im Duell zwischen dem Großschriftsteller und seinem größ-ten Fan gibt er hochbewußt sein Votum ab für den Weg desSchriftstellers und gegen jeden anderen, der ihm «wie eineunvorstellbare Zeitverschwendung» vorkommen will. Bon-vard ist in vielem der Gestalt Nabokovs nachgebildet mit ih-ren Matrosenanzügen, Gouvernanten, Hauslehrern, Kurortenund dem «eisigen Spott», den Bonvard für die «parasitären»Journalisten und Literaturexperten übrig hat; und die Kunst,die Welt und sich selbst von oben zu sehen wie aus den Augeneines Kranichs, statt lediglich als Leser die gelungene Fluchtanderer zu bestaunen, wird zu Kehlmanns erklärtem Ziel.Hineinversetzt hat Kehlmann sich zwar in beide, in Kramerwie in Bonvard, doch der Weg Kramers, so sorgsam und an-rührend er ihn auch imaginiert, ist schon ad acta gelegt: InBonvards «Gebilden voller Rätsel, Spiegelungen und seltsa-mer mathematischer Beziehungen» nimmt Kehlmann die Es-senz Nabokovs auf und bereits sein eigenes Werk vorweg. DieLeichtigkeit, in der er sich dabei übt, ist makaber und unheim-lich, gerade weil er sie durchhält bis zum bitteren Ende unddabei so tut, als sei es keins: Kramer findet Bonvards Grab-stein nicht und fährt mit leerer Kamera und Tränen in den Au-gen an jenem Ort vorbei, wo der maestro beerdigt liegt. Undfast ist es so, als stünde Kramer vor seinem eigenen offenenGrab, um seine Gebete an Bonvard, die kalte Asche seinerLiaison mit einer Universitätskollegin und seinen Traum voneinem Weg hinaus darin zu versenken. «Es war vorbei. Bon-vard hatte gewonnen. Wieder einmal. Er dachte daran, wie dasLeben verging, an seine zwei Bücher, die keinen interessier-ten, und an die Zeit, die er in Seminarräumen verbrachte. Undandere […] schufen Meisterwerke und wurden von der Welt

geliebt. Jetzt wußte er es: Er würde nie auf der hellen Seitestehen.» In Bonvards Jenseits hinüber führt kein Weg. «Undder Ozean strahlte», lauten die letzten Worte der Erzählung:Vom jenseitigen Ufer ihrer Literatur her lächeln Bonvard undNabokov Kramer entgegen, beglückt über sich selbst und zu-gleich kalt über Kramers Elend hinweg. Und auch Kehlmannlächelt ein wenig mit.

Noch haben Bonvard und Nabokov das letzte große Wort.Bald aber droht Nabokovs Ozean auch Kehlmanns Landge-winnungen zu überfluten – wie seine gleichaltrige britischeKollegin und Nabokov-Enthusiastin Zadie Smith, die zur Ent-stehungszeit von Unter der Sonne in Cambridge ihre ersten Kurz-geschichten zu publizieren beginnt, bekümmert Kehlmanndas jetzt jedoch nicht. Denn unter Nabokovs Sonne hat er 1996bereits das Manuskript von Beerholms Vorstellung zu schreibenbegonnen, das er vier Monate später abschließen wird. Solltedieser erste Roman auch nicht immer des Meisters Zustim-mung finden: es ruhe denn doch sein Segen darauf.14