Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im...

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THOMAS SÖDING LEHRSTUHL NEUES TESTAMENT KATHOLISCH-THEOLOGISCHE FAKULTÄT RUHR-UNIVERSITÄT BOCHUM Universitätsstraße 150 GA 06/150 (Sekretariat Elisabeth Koch) 151 (Büro) D-44780 Bochum 0049 (0) 234 32-22403 www.rub.de/nt www.facebook.com/neues.testament [email protected] Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel Neutestamentliche Master-Vorlesung im Wintersemester 2013/14 Vorlesungsplan 24. 10. 1. Fragen zum Liebesgebot – exegetisch, katechetisch, didaktisch [31. 10. Probevorträge Theologische Ethik] 7. 11. 2. Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 19,18) 14. 11. 3. Das Liebesgebot im Judentum 21. 11. 4. Das Doppelgebot (Mk 12,28-34 parr.) 28. 11. 5. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) 5. 12. 6. Das Gebot der Feindesliebe (Mt 5,38-48 par. Lk 6,27-36) 12.12. 7. Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16; 1Joh) 19.12. 8. Die Liebe Gottes als Herzstück des Liebesgebotes 9. 1. 9. Liebe als Erfüllung des Gesetzes (Gal 5,13f.; Röm 13,8ff.) 16. 1 10. Liebe innerhalb und außerhalb der Kirche (Röm 12,9-21) 23. 1 11.. Solidarität als Nächstenliebe (Jak) 30. 1 12 Liebe in Bedrängnis (1Petr) 6. 2. 13. Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

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THOMAS SOumlDING LEHRSTUHL NEUES TESTAMENT KATHOLISCH-THEOLOGISCHE FAKULTAumlT RUHR-UNIVERSITAumlT BOCHUM

Universitaumltsstraszlige 150 GA 06150 (Sekretariat Elisabeth Koch) 151 (Buumlro) D-44780 Bochum 0049 (0) 234 32-22403 wwwrubdent wwwfacebookcomneuestestament ntrubde

Das Liebesgebot Eine ethische Orientierung an der Bibel Neutestamentliche Master-Vorlesung im Wintersemester 201314

Vorlesungsplan

24 10 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch [31 10 Probevortraumlge Theologische Ethik] 7 11 2 Das Liebesgebot im Alten Testament

(Lev 1918)

14 11 3 Das Liebesgebot im Judentum

21 11 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)

28 11 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)

5 12 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)

1212 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)

1912 8 Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

9 1 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

16 1 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

23 1 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

30 1 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

6 2 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

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Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium

Das Thema Das Gebot der Naumlchstenliebe ist eine starke Bruumlcke zwischen dem Alten und dem Neuen Testament Im Neuen Testament wird das alttestamentliche Liebesgebot (Lev 1918) vielfach zitiert Es gelangt in den Rang eines Schluumlsselgebotes Diese Akzentuierung steht im Kontext des Judentums das seinerseits in neutestamentlicher Zeit der Naumlchstenliebe groumlszligte Aufmerksamkeit schenkt Was aber heiszligt bdquoLiebeldquo im Gebot der Naumlchstenliebe Wer ist der bdquoNaumlchsteldquo Wie ist das Liebesgebot begruumlndet Die Vorlesung zeichnet eine Grundlinie biblischer Ethik nach Sie beschreibt die alttestamentlichen Basistexte sie zeichnet die juumldische Rezeption nach sie macht das breite neutestamentliche Panorama vom Doppelgebot bis zum Gleichnis vom barmherzigen Samariter von der Feindes- bis zur Bruderliebe und von der Rechtfertigungstheologie des Paulus bis zur Weisheitstheologie des Jakobus sichtbar

Die exegetische Methode Die Vorlesung verbindet ein Konzept kanonischer Exegese mit den Fragestellungen der historischen Bibelkritik Die gesamt-biblischen Bezuumlge sind wesentlich Der histo-risch-kritische Ansatz dient der Kontextualisierung der diversen Schriften Das theolo-gische Interesse richtet sich auf den Stellenwert das Proprium und die Konkretisie-rungsmoumlglichkeiten der Naumlchstenliebe

Das didaktische Ziel Die Vorlesung vermittelt die Kompetenz einer eigenstaumlndigen Beurteilung wesentlicher Tendenzen biblischer Ethik sie motiviert zur Frage nach Konkretionen im Religionsunterricht wie der Katechese sie diskutiert das biblische Konzept der Naumlchstenliebe mit verwandten und kontroversen Positionen heutiger Moraltheologie und Ethik

Pruumlfungsleistungen Im Mag Theol wird der Stoff der Vorlesung in die Abschlusspruumlfung von Modul 12 eingebracht (1 CP) Im MEd gehoumlrt die Vorlesung zu Modul D Individueller Leistungsnachweis ist ein Essay (2 CP) Im MA gehoumlrt die Vorlesung zu Modul V Individueller Leistungsnachweis ist ein Essay (2 CP)

Beratung Sprechstunde in der Vorlesungszeit Mittwoch 12-13 und Donnerstag 13-14 Uhr in GA 6151 Zwischen den Zeiten thomassoedingrubde

Kontakt Universitaumltsstraszlige 150 GA 6150 (Sekretariat Elisabeth Koch) D-44780 Bochum 0049 (0) 234 32-22403 wwwrubdent ntrubde

Thomas Soumlding

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Literaturhinweise

Uumlbergreifende Titel Becker Juumlrgen Feindesliebe - Naumlchstenliebe - Bruderliebe Exegetische Beobachtungen als

Anfrage an ein ethisches Problemfeld in ders Annaumlherungen Zur urchristlichen Theolo-giegeschichte und zum Umgang mit ihren Quellen Ausgewaumlhlte Aufsaumltze zum 60 Ge-burtstag mit einer Bibliographie des Verfassers hg v Ulrich Mell Berlin 1995 382-394

Burchard Christoph Das doppelte Liebesgebot in der fruumlhen christlichen Uumlberlieferung in ders Studien zur Theologie Sprache und Umwelt des Neuen Testaments (WUNT 107) hg v Dieter Saumlnger Tuumlbingen 1998 3-26

Ebersohn Michael Das Naumlchstenliebegebot in der synoptischen Tradition (Marbuger Theolo-gische Studien 37) Marburg 1993

Ebersohn Michael Naumlchstenliebe und Tradition - Traditionen der Naumlchstenliebe In Text und Geschichte Facetten theologischen Arbeitens aus dem Freundes- und Schuumllerkreis Dieter Luumlhrmann zum 60 Geburtstag Marburg 1999 24-36

Furnish Victor Paul The Love Command in The New Testament Nashville 1972

Gionotto Claudio Amerai il prossimo tuo come te stesso Alcune osservazioni sullinterpre-tazione di Lv 1918 nellantica letteratura cristianaldquo in Nicola Ciola (Hg) Nuovo Testa-mento Teologie in dialogo culturale FS Romano Penna (RevBibS 60) Bologna 2008 479-489

Henrix Hans Hermann Selbstliebe als Maszlig der Naumlchstenliebe Biblische und theologische Gedanken aus Judentum und Christentum In KuI 232 (2008) 154 - 165

Kuhn Heinz-Wolfgang Das Liebesgebot Jesu als Tora und als Evangelium Zur Feindesliebe und zur christlichen und juumldischen Auslegung der Bergpredigt in Hubert Frankemoumllle ndash Karl Kertelge (Hg) Vom Urchristentum zu Jesus Fuumlr Joachim Gnilka Freiburg 1989 194-230

Luz Ulrich Uumlberlegungen zum Verhaumlltnis zwischen Liebe zu Gott und Liebe zum Naumlchsten (Mt 2234-40) in Th Soumlding (Hg) Der lebendige Gott Studien zur Theologie des Neuen Tes-taments Festschrift fuumlr Wilhelm Thuumlsing zum 75 Geburtstag Muumlnster 1996 135-148

Nissen Johannes The Distinctive Character of the New Testament Love Command in Relation to Hellenistic Judaism in Peder Borgen ndash Soumlren Giversen (Hg) The New Testament and Hellenistic Judaism Aarhus 1995 123-150

Meisinger Hubert Liebesgebot und Altruismusforschung Ein exegetischer Beitrag zum Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft (NTOA 33) FreiburgSchw ndash Goumlttingen 1996

Pesch Rudolf Jesus und das Hauptgebot in Helmut Merklein (Hg) Neues Testament und Ethik Fuumlr Rudolf Schnackenburg Freiburg 1989 99-109

Schneider Gerhard Die Neuheit der christlichen Naumlchstenliebe in ders Jesusuumlberlieferung und Christologie Neutestamentliche Aufsaumltze 1970-1990 Leiden 1992 168-186

Serrini Lanfranco Un comandamento nuovo Lrsquoamore nello Spirito di Cristo Padova 1996

Soumlding Th Eros und Agape Liebe und Sexualitaumlt im Licht des Neuen Testaments in Geist und Leben 77 (2004) 248-260

- Jesu Guumlte ndash Jesu Zorn ndash Jesu Liebe Communio (D) 34 (2005) 322-332

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- bdquoAm groumlszligten ist die Liebeldquo (1Kor 1313) Eros und Agape im Alten und im Neuen Testa-ment in Gregor Maria Hoff (Hg) Liebe Provokationen Salzburger Hochschulwochen 2008 Innsbruck ndash Wien 2008 66-103

- Der Geist der Liebe Zur Theologie der Agape bei Paulus und Johannes in Edith Duumlsing ndash Hans Dieter Klein (Hg) Geist Eros und Agape Untersuchungen zu Liebesdarstellungen in Philosophie Religion und Kunst Wuumlrzburg 2009 147-168

- Die Verkuumlndigung Jesu ndash Ereignis und Erinnerung Freiburg - Basel ndash Wien 22012 (2011) 541-551

Strecker Georg Gottes- und Menschenliebe im Neuen Testament in Hawthorne Gerald F Betz Otto Tradition and interpretation in the New Testament Essays in Honor of E Earle Ellis Grand Rapids 1987 53-70

Theiszligen Gerd Das Doppelgebot der Liebe Juumldische Ethik bei Jesusldquo in ders Jesus als histo-rische Gestalt Beitraumlge zur Jesusforschung hg v Annette Merz (FRLANT 202) Goumlttingen 2003 57 -72

Altes Testament und Judentum Becking Bob bdquoLove thy neighbour Exegetical remarks on Leviticus 191834ldquo in Reinhard

Achenbach Martin Arneth (Hg) bdquoGerechtigkeit und Recht zu uumlben (Gen 1819) Studien zur altorientalischen und biblischen Rechtsgeschichte zur Religionsgeschichte Israels und zur Religionssoziologie Festschrift fuumlr Eckart Otto (Beihefte zur Zeitschrift fuumlr altorientali-sche und biblische Rechtsgeschichte 13) Wiesbaden 2009 182-187

Chandler Christopher N bdquoLove your neighbour as yourselfldquo (Leviticus 1918b) in Early Jewish-Christian Exegetical Practice and Missional Formulation in CE Evans - H D Zacharias (Hg) What Does the Scripture Say Studies in the Function of Scripture in Early Judaism and Christianity Volume 1 The Synoptic Gospels LondonNew York 2012 12-56

Hruby Kurt Die Naumlchstenliebe im juumldischen Denken in ders Aufsaumltze zum nachbiblischen Judentum und zum juumldischen Erbe der fruumlhen Kirche hg v Peter von der Osten-Sacken und Thomas Wilde (ANTZ 5) Berlin 1996 100 - 124

Kaminsky Joel S Loving ones (Israelite) neighbor Election and commandment in Leviticus 19 in Interpretation 62 (2008) 123-132

Konradt Matthias Menschen- und Bruderliebe Beobachtungen zum Liebesgebot in den Tes-tamenten der Zwoumllf Patriarchen in ZNW 88 (1997) 296-310

Mathys Hans-Peter Liebe deinen Naumlchsten wie dich selbst Untersuchungen zum alttesta-mentlichen Gebot der Naumlchstenliebe (OBO 71) FreiburgSchw ndash Goumlttingen 1986

Nissen Andreas Gott und der Naumlchste im antiken Judentum Untersuchungen zum Doppelge-bot der Liebe Tuumlbingen 1974

Reinbold Wolfgang Die Naumlchstenliebe (Lev 1918) in Bernd Kollmann (Hg) Die Verheiszligung des Neuen Bundes Wie alttestamentliche Texte im Neuen Testament fortwirken Goumlttin-gen 2010) 115 - 127

Schenker Adrian Das Gebot der Naumlchstenliebe in seinem Kontext (Lev 1917-18) Lieben ohne Falschheit in ZAW 124 (2012) 244 - 248

Soumlding Thomas Solidaritaumlt in der Diaspora Das Liebesgebot nach den Testamenten der Zwoumllf Patriarchen im Vergleich mit dem Neuen Testament In Kairos 3637 (199495) 1-19

- Feindeshaszlig und Bruderliebe Beobachtungen zur essenischen Ethik in Revue de Qumran 17 (1995) 601-619

Thomas Soumlding

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- Naumlchstenliebe bei Jesus Sirach Eine Notiz zur weisheitlichen Ethik in Biblische Zeitschrift 42 (1998) 239-247

Matthaumlusevangelium Haumlfner Gerd bdquoSelig sind die Friedensstifterldquo (Mt 59) Feindesliebe und Vergebung als Aspekte

matthaumlischer Friedensethik In Eberhard Bons (Hg) Bible et paix Meacutelanges offerts agrave Claude Coulot Paris 2010 85 - 96

Harnisch Wolfgang Die Goldene Regel und das Liebesgebot Mt 712 im Kontext der Bergpre-digt in ders Rhetorik und Hermeneutik in der Apokalyptik und im Neuen Testament Stuttgart 2009 204-222

Hofius Otfried Naumlchstenliebe und Feindeshass Erwaumlgungen zu Mt 543 In Ibid Neutesta-mentliche Studien Tuumlbingen 2000 137-144

Markusevangelium Kertelge K Das Doppelgebot der Liebe im Markusevangelium in TThZ 103 (1994) 33-55

Kiiliunen Jarmo Das Doppelgebot der Liebe in synoptischer Sicht Ein redaktionskritischer Versuch uumlber Mk 1228-34 und die Parallelen (AASFB 250) Helsinki 1989

Prast Franz bdquoEin Appell zur Besinnung auf das Juden wie Christen gemeinsame Erbe im Mun-de Jesu Das Anliegen einer alten vormarkinischen Tradition (Mk 1228-34)ldquo in Horst Goldstein (Hg) Gottesveraumlchter und Menschenfeinde Juden zwischen Jesus und fruumlh-christlicher Kirche Duumlsseldorf 1979 79-88

Lukasevangelium Oegema Gerbern S Das Gebot der Naumlchstenliebe im lukanischen Doppelwerk in Joseph

Verheyden(Hg) The Unity of Luke-Acts Leuven 1999 507-516

Corpus Iohanneum Augenstein Joumlrg Das Liebesgebot im Johannesevangelium und in den Johannesbriefen Stutt-

gart 1993

Beutler Johannes Das Hauptgebot im Johannesevangelium in Ibid Studien zu den johannei-schen Schriften Stuttgart 1998 107-120

Klauck Hans-Josef Brudermord und Bruderliebe Ethische Paradigmen in 1 Joh 311-17 in Helmut Merklein (Hg) Neues Testament und Ethik Fuumlr Rudolf Schnackenburg Frei-burg 1989 151-169

Rese Martin Das Gebot der Bruderliebe in den Johannesbriefen In ThZ 41 (1985) 44-58

Schlier Heinrich Die Bruderliebe nach dem Evangelium und den Briefen des Johannes in ders Das Ende der Zeit Exegetische Aufsaumltze und Vortaumlge III Freiburg 1971 124-135

Schnelle Udo Die johanneischen Abschiedsreden und das Liebesgebot in Gilbert Van Belle ndash Michael Labahn ndash Pieter Maritz (Hg) Repetitions and Variations in the Fourth Gospel Style Text Interpretation Leuven ua 2009 589-608

Soumlding Th Gott ist Liebelaquo 1Joh 4816 als Spitzensatz Biblischer Theologie in Der lebendige Gott Beitraumlge zur Theologie des Neuen Testaments (NTA XXXI) FS W Thuumlsing Hg v dems Muumlnster 1996 S 306ndash357

- Die Einheit der Liebe Joh 17 auf dem Oumlkumenischen Kirchentag 2003 in Berlin in Bibel und Kirche 58 (2003) 119-126

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- Freundschaft mit Jesus Ein neutestamentliches Motiv in Communio 36 (2007) 220-231

Tacelli Ronald bdquoWir sollen einander liebenldquo (vgl 1 Joh 47) Vom Problem der Naumlchstenlie-beldquo in EuA 783 (2002) 236 - 237

Weder Hans Das neue Gebot Eine Uumlberlegung zum Liebesgebot in Johannes 13 in Andreas Dettwiler ndash Uta Poplutz (Hg) Studien zu Matthaumlus und Johannes FS Jean Zumstein Zuuml-rich 2009 187-205

Corpus Paulinum Boers Hendrikus W Ἀγάπη and Χάρις in Pauls Thought in CBQ 5 (1997 693-713

Giesen Heinz Naumlchstenliebe und Heilsvollendung Zu Roumlm 138-14 in SNTUA 33 (2008) 67-97

Heininger Bernhard Die Inkulturation der Naumlchstenliebe Zur Semantik der bdquoBruderliebeldquo im 1 Thessalonicherbrief in ders Die Inkulturation des Christentums Aufsaumltze und Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt Tuumlbingen 2010 65-88

Kertelge Karl Freiheitsbotschaft und Liebesgebot im Galaterbrief In Ibid Grundthemen paulinischer Theologie Freiburg 1991 197-208

Soumlding Thomas Die Trias Glaube Hoffnung Liebe bei Paulus Eine exegetische Studie Stutt-gart 1992

- Das Liebesgebot bei Paulus Die Mahnung zur Agape im Rahmen der paulinischen Ethik Muumlnster 1995

- Glaube der durch Liebe wirkt Rechtfertigung und Ethik im Galaterbrief in Bernd Koll-mann - Michael Bachmann (Hg) Umstrittener Galaterbrief Studien zur Situierung der Theologie des Paulusschreibens (BThSt 106) Neukirchen-Vluyn 2010 165-206

Wischmeyer Oda Das Gebot der Naumlchstenliebe bei Paulus Eine traditionsgeschichtliche Un-tersuchung in dies Von Ben Sira zu Paulus Gesammelte Aufsaumltze zu Texten Theologie und Hermeneutik des Fruumlhjudentums und des Neuen Testaments Tuumlbingen 2004 137-161

Jakobusbrief Theiszligen Gerd Naumlchstenliebe und Egalitaumlt Jak 21-13 als Houmlhepunkt urchristlicher Ethik in

Petra von Gemuumlnden ndash Matthias Konradt ndash Gerd Theissen Der Jakobusbrief Beitraumlge zur Rehabilitierung der bdquostrohernen Epistelldquo Muumlnster 2003 120-142

Thomas Soumlding

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1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch

a Das Liebesgebot ist zweifellos fuumlr die Ethik Jesu wie des Urchristentums zentral Es weist nicht nur den Weg Jesu selbst und seiner Nachfolger sondern wird auch zum Gegenstand theologischen Nachdenkens Sowohl in der synoptischen und johannei-schen Tradition wie auch bei Paulus und im Jakobusbrief wird der zentrale Stellenwert des Liebesgebotes markiert und argumentativ entfaltet Das spricht fuumlr eine bewuss-te programmatische Positionierung Gerade sie wirft aber exegetische Fragen auf

bull Welches Verhaumlltnis besteht zum Alten Testament und zum Judentum Die Antwort ist nicht offenkundig weil einerseits das bdquoGesetzldquo zitiert (Lev 1918) andererseits aber sein genaues Verstaumlndnis und Gewicht immer wie-der kontrovers diskutiert wird

bull Welches Verhaumlltnis besteht zu den Standards profaner Ethik in der Antike Auch diese Frage hat Gewicht weil gerade das Liebesgebot einerseits gegen alles Sektiererische aufgestellt andererseits aber so profiliert wird dass es zum Kennzeichen der Jesusbewegung und der fruumlhen Kirche wird

bull Worauf richtet sich die Naumlchstenliebe Im Neuen Testament wird nur an einer einzigen Stelle ndashund zwar vom kriti-schen Gesetzlehrer nach Lk 1029 ndash gefragt wer der bdquoNaumlchsteldquo ist den es zu lieben gilt Im uumlbrigen reicht das Spektrum von der Feindes- bis zur Bruderlie-be

bull Was ist eine bdquoLiebeldquo die geboten werden kann Das Alte und das Neue Testament stimmen darin uumlberein dass es ein Liebes-gebot gibt Das laumlsst nach dem Verstaumlndnis der Liebe fragen

o Das Leitwort heiszligt Agape Das Wort im Profangriechischen blass ge-winnt durch die Septuaginta Farbe

o Es meint im Kern die Liebe Gottes zu seinem Volk die auf die Gottes- und die Naumlchstenliebe der Israeliten ausstrahlt Die Liebe Gottes ist kreativ Indem Gott Israel erwaumlhlt ruft er es ins Leben Die Liebe Got-tes ist unverbruumlchlich Auch wenn das Volk untreu ist bleibt Gott treu Die Liebe Gottes ist leidenschaftlich So wie er sein Herz an die Menschen in Israel haumlngt will er sie auch fuumlr sich und fuumlr ihr eigenes Heil gewinnen

o Auf diese Liebe Gottes antwortet die Liebe zu Gott die sich im Be-kenntnis zum einen Gott ausspricht (Dtn 64f) und im uumlberzeugten Gehorsam gegen sein Gebot bewahrheitet Der Liebe zu Gott ent-spricht die Naumlchstenliebe (Lev 1917f) weil man Gott nicht lieben kann ohne auch die zu lieben die er liebt

Auch wenn es einleuchten kann dass eine Liebe geboten werden kann bleiben die Frage wer diese Liebe gebieten kann und wie das Gebot sich erfuumlllen laumlsst Diese Fragen treiben schon Jesus und das Urchristentum um

Die exegetischen Fragen verlangen exegetische Antworten die den Texten ihr Recht geben und die noumltigen Unterschiede herausarbeiten aber auch Gemeinsamkeiten erkennen lassen Auf diese Weise kann ein differenzierter Eindruck der Liebes-Ethik im Neuen Testament und der ganzen Bibel entstehen

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b Die katechetischen und didaktischen Fragen stellen sich auch im Verstaumlndnis bibli-scher Texte die aus der Vergangenheit reden aber darin auf die geschichtlichen Ur-spruumlnge des Glaubens wie der Kirche weisen und den Kanon heiszligt die Richtschnur christlicher Lehre und glaumlubigen Lebens spannen Entscheidend ist die Vergegenwaumlr-tigung

bull Wer ist zur Naumlchstenliebe gerufen Die Konkretion ist wesentlich weil das bdquowie dich selbstldquo zum Liebesgebot ge-houmlrt und damit das bdquoIchldquo des Menschen der das Gebot houmlrt in Rede steht Deshalb geraten die jeweils gegenwaumlrtigen Adressaten zentral in den Blick ihr Ich-Bild ihr Gottes-Bild und ihr Du-Bild Diese anthropologische Konkretisie-rung spiegelt auf die Exegese zuruumlck

bull Wie laumlsst sich die Naumlchstenliebe leben Die exegetischen Klaumlrungen zum Begriff des Naumlchsten (des Freundes des Feindes der Schwester und des Bruders) wie der Agape spitzen die Frage zu auf welchen Feldern und in welchen Formen die Naumlchstenliebe heute und jetzt gefragt ist Das Liebesgebot ist grundsaumltzlich Also ist es auf kreative Konkretisierungen hin angelegt Die katechetische und didaktische Vermitt-lung ist mithin aktive Exegese ndash und laumlsst auch im Ruumlckblick nach Konkretionen fragen Die Forderung der Naumlchstenliebe nimmt das Problem von Handlungskonkur-renzen und Entscheidungsnotwendigkeiten ernst und fordert zu klaren Optio-nen auf ndashdie jeweils heute getroffen werden muumlssen

bull Wer fordert die Naumlchstenliebe Ist Naumlchstenliebe selbstverstaumlndlich und deshalb ein Gebot Gottes Oder ist sie ein Gebot Gottes weil sie menschlich aber nicht selbstverstaumlndlich ist Die Exegese identifiziert (auf der Basis des kanonischen Textes) Moses und Je-sus als Gesetzgeber im Namen Gottes Die Autoritaumltsfrage stellt sich heute dramatisch neu weil die Bibel vermittelte Autoritaumlt ist und der menschliche Faktor bei ihrer Entstehung Uumlbermittlung und Erklaumlrung essentiell Die Exe-gese klaumlrt dies auf und wehrt dadurch jedem Fundamentalismus wird aber auch durch die Vergegenwaumlrtigungen zu kritischer Differenzierung angeleitet

Literatur zur Vertiefung CS Lewis The four loves London 1960 Deutsch Was man Liebe nennt Zuneigung Freund-

schaft Eros Agape Gieszligen 72004

Thomas Soumlding

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2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)

a Das Gebot der Naumlchstenliebe steht im Kern des Heiligkeitsgesetzes (Lev 17-26) Lev 19 Dieses Gesetz das zu den aumlltesten Textcorpora der Tora gehoumlrt ist von der imitatio Dei gepraumlgt (Lev 191) Gottes Heiligkeit an der Israel sich ausrichten soll ist der Glanz seiner Praumlsenz die Aura seiner Potenz das Strahlen seiner Transzendenz Israels Heiligkeit ist seine Zuwendung zu Gott und seinem Gesetz seine Abwendung von den Goumltzen und dem Unrecht Gottes Heiligkeit fuumlhrt nicht zu religioumlsen Berser-kern die im Namen des Einen alles andere vernichten sondern zu Menschen die lieben koumlnnen

b Das Heiligkeitsgesetz1

Das Liebesgebot ragt aus den ethischen Weisungen heraus Es bildet den kroumlnenden Abschluss einer Reihe sozial engagierter Gebote (Lev 1911-18) die allesamt negativ formuliert sind waumlhrend das Liebesgebot positiv formuliert wird In Lev 1934 findet es ein Echo mit der Ausweitung auf die Fremden als Schlusspointe des Heiligkeitsethos

umfasst einen bunten Strauszlig kultischer und sozialer Gebote Ihr innerer Zusammenhang wird dadurch gestiftet dass Heiligkeit sowohl das Gottes-verhaumlltnis als auch das Verhaumlltnis zum Naumlchsten praumlgt

c Durch die Forderung den Naumlchsten zu lieben geschieht die notwendige Konzentra-tion Der bdquoNaumlchsteldquo dem die Liebe gelten soll ist nicht einfach wer einem mehr oder weniger zufaumlllig begegnet2 sondern nach dem genauen Wortlaut der bdquoBruderldquo der bdquoStammesgenosseldquo das bdquoKindldquo des eigenen Volkes (Lev 1917f)3

Die Beispiele zeigen aber auch dass die Naumlchstenliebe von Anfang an faktisch Fein-desliebe ist Denn durchweg geht es um erlittenes Unrecht begangene Fehler ge-schehene Suumlnden Das Liebesgebot bahnt einen Ausweg aus der verfahrenen Situati-on Es nimmt den moralisch in die Pflicht dem Unrecht widerfahren ist Das Opfer soll aktiv werden um einen neuen Anfang zu setzen ndash nicht um die Taumlter zu entlasten sondern um ihnen zu helfen aus ihrer Schuld herauszukommen Dem entspricht ein offensives Verstaumlndnis von Heiligkeit Sie strahlt aus und zieht an

Das entspricht dem Kontext des Heiligkeitsgesetzes das von der Erwaumlhlung und Verpflichtung Israels handelt Es ist die Gemeinschaft des von Gott geliebten Volkes die durch Naumlchsten-liebe lebendig werden soll Wuumlrden die Grenzen verschwinden staumlnde die Naumlchsten-liebe in der Gefahr sich in unverbindliche Fernstenliebe aufzuloumlsen und den Kontakt zu Gott zu verlieren der sich seines Volkes erbarmt Durch die Konzentration auf die Naumlchsten des Gottesvolkes gewinnt die Zugehoumlrigkeit zu Israel Kontur die Heiligkeit wird konkret Die in Lev 1917f beschriebenen Beispiele setzen durchweg Nahbezie-hungen voraus

1 Vgl (klassisch historisch-kritisch) Klaus Gruumlnwaldt Das Heiligkeitsgesetz Levitkus 17-26 Ge-stalt Tradition und Theologie (BZAW 271) Berlin 1999 2 So jedoch Martin Buber Zwei Glaubensweisen (1950) in ders Werke I Muumlnchen - Heidel-berg 1962 651-782 701f bdquoSei liebreich zugewandt den Menschen mit denen du je und je auf den Wegen deines Lebens zu schaffen bekommst 3 Vgl Hans-Peter Mathys Liebe deinen Naumlchsten wie dich selbst

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d Die Konzentration der Naumlchstenliebe begruumlndet keine Doppelmoral sie ist positiv nicht exklusiv verstanden Das zeigt die Ausweitung auf die bdquoFremdenldquo mit derselben Maszligeinheit bdquowie dich selbstldquo Die Begruumlndung bdquodenn ihr seid selbst Fremde in Aumlgyp-ten gewesenldquo (Lev 1933f) erhellt eine uumlberraschende weil verdraumlngte Naumlhe Israel kann und soll das Leben der bdquoFremdenldquo nachfuumlhlen und sich ihnen in gleicher Weise wie den Mitgliedern des eigenen Volkes ndash bdquowie dich selbstldquo ndash zuwenden Die bdquoFremdenldquo sind in der Rechtssprache der Tora Nicht-Juden die dauerhaft im Hei-ligen Land leben Sie sind Buumlrger zweiter Klasse in Israel ndash wie einst Israel in Aumlgypten Desto wichtiger ist das Liebesgebot Die Septuaginta (LXX) uumlbersetzt mit bdquoProselytldquo um die Situation der Diaspora zu beruumlcksichtigen und den zuweilen prekaumlren Status der Konvertiten zum Judentum zu verbessern Im woumlrtlichen Sinn sind die bdquoProsely-tenldquo diejenigen die von auszligen hinzukommen insofern waren fuumlr die griechischen Uumlbersetzer die Israeliten in Aumlgypten bdquoProselytenldquo Wer nur auf der Durchreise ist ist keineswegs rechtlos er genieszligt Gastrecht und Gastfreundschaft4

Die Direktheit und Nachhaltigkeit des Liebesgebotes wird durch die Ausweitung un-terstrichen

deren Heiligkeit aumllter ist als das geschriebene Gesetz

e Das Liebesgebot wird zwar an anderen Stellen des Alten Testament (lange) nicht zitiert gehoumlrt aber in ein Feld aumlhnlicher ethischer Weisungen Es ist beeinflusst und es hat beeinflusst5

f Eine solche Liebe ist nicht storgeacute weil das Volk Gottes die natuumlrlichen Familienban-de uumlberschreitet wiewohl Israel oft genealogisch verstanden wird Sie ist nicht Freundschaft weil die Beziehung die sie kultiviert nicht freiwillig gewaumlhlt und gestal-tet sondern von Gott vorgegeben ist Diese Liebe kann nicht im Eros aufgehen weil sie weniger das Hingerissensein von anderen als die Weggemeinschaft mit ihnen kul-tiviert sie ist Agape weil sie von Gott kommt auch wenn im Kontext nicht expressis verbis von Gottes Liebe die Rede ist Unleugbar aber ist es Liebe zu vergeben und Rachegeluumlsten nicht nachzugeben sondern am Aufbau einer Friedensbeziehung zu arbeiten Nicht das Begehren sondern die Sympathie ist der Motor der Agape Aber sie begehrt verstanden und angenommen zu werden Getragen ist sie von der heili-gen Liebe Gottes ndash und zwar nicht nur weil allein Gott die Kraft geben kann den ers-ten Schritt der Versoumlhnung zu tun sondern weil Gott diejenigen die auf sein Wort houmlren sollen erst zu Houmlrern des Wortes macht und sie in sein Volk hineinstellt das er sich erwaumlhlt hat

Ex 244f ist ein gutes Beispiel fuumlr angewandte Feindes- Dtn 221-4fuumlr aktive Bruderliebe

4 Vgl Helga Rusche Gastfreundschaft im Alten Testament im Spaumltjudentum und in den Evan-gelien in ZMRW 41 (1957) 170-188 5 Vgl Gianni Barbiero ElAsino dell Nemico Rinuncia alla vendetta e amore dell nemico nella legislatione dellAntico Testamento (Es 234-5 Dt 221-4 Lv 1917-18) (AnBib 128) Rom 1991

Thomas Soumlding

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3 Das Liebesgebot im Judentum

a In den alttestamentlichen Spaumltschriften steigt die Bedeutung des Liebesgebotes bull Die Semantik der Septuaginta (mit der Agape als Zentrum) staumlrkt den theolo-

gischen Grundzug durch die explizit gewordene Verbindung mit der Liebe Gottes und der Liebe zu Gott

bull Nach Tob 413 soll die Naumlchstenliebe als Bruderliebe die juumldische Kommunitaumlt in der Diaspora aber auch im Heiligen Land staumlrken deshalb ist das Liebesge-bot mit der Warnung vor einer Mischehe verbunden

bull Nach Jesus Sirach6

o als Liebe zum Sklaven der aufgrund seiner Treue und Bildung als Partner anerkannt werden soll (Sir 721)

wird das Gebot der Naumlchstenliebe in verschiedenen sozia-len Kontexten konkretisiert

o als Konstituierung einer ethischen Maxime die auf die Goldene Regel zulaumluft (Sir 3115)

o als Schaumlrfung des Gewissens fuumlr den caritativen Einsatz fuumlr Arme (Sir 3423-27)

Die Konkretisierungen passen in das Schema weisheitlicher Ethik das im Neu-en Testament auch der Jakobusbrief ausfuumlllt

Die Steigerung der Bedeutung erklaumlrt sich aus zwei Gruumlnden bull einer Personalisierung der Ethik bull und einer Vermittlung juumldischer Ethik die auf Elementarisierung setzt

Die Bedeutungssteigerung erhoumlht die Attraktivitaumlt der juumldischen Ethik in der antiken Welt

6 Vgl Th Soumlding Naumlchstenliebe bei Jesus Sirach

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b Aus der Septuaginta erklaumlrt sich die hohe Aufmerksamkeit fuumlr das Liebesgebot im hellenistischen Judentum Die Testamente der Zwoumllf Patriarchen7 reden haumlufig im ethischen Sinn von Liebe8 nahezu durchweg in der Form direkter oder indirekter Aufforderungen Die TestXII sind eine griechisch uumlberlieferte im 2 Jh von christlicher Hand redigierte aber dem wesentlichen Textbestand nach urspruumlnglich juumldische Schrift deren Wurzeln bis in das 2 Jh v Chr reichen koumlnnen Die Testamente nehmen Gen 49 auf und lassen die 12 Soumlhne Jakobs ihrerseits Abschiedsreden halten9

Lev 1918 wird zwar nicht explizit zitiert aber an vielen Stellen angespielt und durch-weg aktualisiert

Sie arbeiten das Problem der Diaspo-ra auf die als Zerstreuung gesehen und als Strafe Gottes gedeutet wird In dieser Si-tuation kommt es auf den inneren Zusammenhalt der Juden an der nach den Patriarchentestamenten nicht nur rituell sondern auch ethisch begruumlndet werden soll

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7 Aumlltere Standardausgabe RH Charles The Greek Versions of the Testaments of the Twelve Patriarchs Oxford 1908 Nachdruck Darmstadt 1960 Neuere Edition Mde Jonge - HW Hollander - Hde Jonge - Th Korteweg The Testaments of the Twelve Patriarchs A Critical Edition of the Greek Text (PVTG I2) Leiden 1978 Die aramaumlische Version des TestLevi enthaumllt kein Liebesgebot Deutsche Uumlbersetzung J Becker Die Testamente der zwoumllf Patriarchen in JSHRZ III1 (21980)

Es zeigen sich Rezeptionslinien die im Bedeutungsfeld von Lev 1917f bleiben (vgl TestGad 43-8) die Explikation der Heiligkeit daumlmpfen aber den Bezug auf die Nachbarschaften im Gottesvolk Israel nicht aufgeben sondern unter den Bedingungen der Diaspora konkretisieren Nur in TestIss 76 (bdquohellip jeden Menschen hellipldquo) ist eine universalistische Deutung moumlglich

8 Vgl TestRub 69 Sim 447 Iss 52 76 Seb 85 Dan 53 Gad 42(6)7 613 77 Jos 1723 Benj 33ff 435 81 vgl auch Ass 24 Gad 33 (uumlber den Hasser) 46 Jos 175 Benj 82 (uumlber das Verhaumlltnis des Mannes zur Frau) Gad 15 (uumlber Jakobs Vaterliebe zu Joseph) 9 Vgl Th Soumlding Solidaritaumlt in der Diaspora M Konradt Menschen- und Bruderliebe 10 Ganz deutlich ist Gad 42 Dan 51 bezieht sich direkt auf das Gebot und Gesetz (vgl Iss 51) des Herrn und hat dabei augenscheinlich auch Lev 1918 vor Augen Fuumlr den Einfluss des Lie-besgebots sprechen uumlberdies die Formulierungen von Benj 334 Rub 69b bezieht die Liebe zwar direkt auf den Bruder hat aber im parallelen Teilvers 6a den Naumlchsten aumlhnlich liegt der Fall in Dan 52a3b und Gad 61

Thomas Soumlding

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c Auch Schriften die tiefer in Palaumlstina wurzeln nehmen das Liebesgebot auf Das Buch der Jubilaumlen11

11 Die Originalsprache ist hebraumlisch zu den einschlaumlgigen Qumran-Fragmenten vgl JC VanderKam Textual and Historical Studies in the Book of Jubilees (HSM 14) Missoula 1977 Die davon abhaumlngige griechische Uumlbersetzung ist bruchstuumlckhaft erhalten vgl A-M Denis Fragmenta Pseudepigraphorum quae supersunt Graeca una cum Historicorum et auctorum Iudaeorum Hellenistarum Fragmentis collegit et ordinavit (PVTG 3) Leiden 1970 70-102 Die auf der griechischen Uumlbersetzung fuszligende aumlthiopische Fassung die in den gemeinsam uumlberlie-ferten Partien der Qumran-Version sehr genau entspricht hat ediert RH Charles Mashafa Kufacirclecirc or the Ethiopic Version of the Hebrew Book of Jubilees (Anecdota Oxoniensia) Oxford 1895 Deutsche Uumlbersetzung Klaus Berger Das Buch der Jubilaumlen in JSHRZ II3 (1981)

im 2 Jh vor Chr geschrieben protestiert gegen die Korrup-tion des Makkabaumlerstaates es tritt mit dem Anspruch auf Mose auf dem Sinai offen-bart worden zu sein (Jub 11-29) es will einem Israel das einer schleichenden Hellenisierung verfaumlllt neue Identitaumlt verleihen indem es den Blick auf die normative Anfangszeit die Zeit der Vaumlter und des Mose lenkt und von ihr her eine authentische Halacha entwickelt die es erst ermoumlglicht gerecht zu leben (Jub 2326-31) Zum his-torischen Paradigma wird der Bruderstreit zwischen Jakob und Esau (Jub 3420 - 392a) Das Liebesgebot ndash Lev 1918 wird nicht direkt aber indirekt zitiert ndash hat eine qualitativ groszlige Bedeutung weil es uumlber die Klaumlrung halachischer Fragen hinaus den Geist wie die Praxis des Zusammenhaltes schaumlrft allerdings nicht allein oder als Krouml-nung sondern im konstitutiven Verbund mit anderen ethischen Prinzipien wie Ge-rechtigkeit Die Verzeihung die Joseph den Bruumldern gewaumlhrt macht ihn zum ethi-schen Vorbild dem es nachzueifern gilt Die Pflicht zur Liebe endet aber dort wo es sich nicht mehr nur um persoumlnliche Gegnerschaft sondern um Konflikte mit Frevlern handelt die dem Gebot Gottes grundlegend zuwiderhandeln Eine universalistische Ausweitung der Bruderliebe fasst Jub 202 ins Auge Zwar bezieht sich das Liebesge-bot direkt nur auf die herbeigerufenen Kinder und Enkel Abrahams aber unter ihnen finden sich namentlich genannt auch Ismael mit seinen zwoumllf Kindern und die Kinder der Ketura mit ihren Soumlhnen (Jub 201) Dadurch wird bereits der juumldische Rahmen gesprengt Uumlberdies baut die Formulierung eine Verbindung zwischen Bruderliebe und Menschenliebe auf Im ethischen Nahbereich koumlnnen auch Nicht-Juden Naumlchste werden

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d Die Schriften aus Qumran12 enthalten in zwei Corpora bedeutende Zeugnisse einer Naumlchstenliebe die sich innerjuumldisch aus dem Konflikt mit Frevlern als Gegenstuumlck zum Feindeshass erklaumlrt13

bull Die Gemeinderegel (1QS vgl 1QSa) beschreibt das Zusammenleben einer juuml-dischen Reformbewegung die sich in striktem Gegensatz nicht nur zu den Heiden sondern auch zu den Priestern in Jerusalem als wahres Israel konsti-tuieren abseits vom Tempel Die Forschung diskutiert die Beziehung zu den Esseacutenern uumlber die Philo von Alexandrien (15 v Chr - 40 n Chr ) in seiner Schrift uumlber die Freiheit des Tuumlchtigen (Quod omnis probus liber sit 72-91) der juumldische Historiker Flavius Josephus (3738 - 100 n Chr) in seinen Buuml-chern uumlber den juumldischen Krieg (De bello Judaico 2 119-161) und die Ge-schichte Israels (Antiquitates Judaicae 181118-22) sowie der roumlmische Ge-lehrte Plinius der Aumlltere (23-79 nChr) in seiner Naturgeschichte (Naturalis historia 573) berichten

Fuumlr die Gemeinderegel ist ein religioumlser Dualismus zwischen den bdquoSoumlhnen des Lichtesldquo und den bdquoSoumlhnen der Finsternisldquo wesentlich Er entsteht durch den Frevel derjenigen die das Heilige wahren sollen er wird von Gott sanktio-niert Entscheidend ist in einem aufwendigen Konversionsverfahren den Weg aus der massa damnata in Israel zur Kommunitaumlt der Frommen zu finden um so der Gnade der Rechtfertigung teilhaftig zu werden Die Zugehoumlrigkeit zur Gemeinschaft zeigt sich im Ritus und im Ethos Das Ethos ist durch Naumlchstenliebe strukturiert (1QS 13f9ff 224 5425 82 91621 1026) Sie ist im Kern Zustimmung zu der Erwaumlhlung und Vergebung die dem Mitbruder wie der eigenen Person zuteil geworden ist Deshalb ent-spricht der Naumlchstenliebe der Feindeshass Er ist im Kern Ablehnung und Dis-tanzierung die aber gerade nicht durch Gewalt sondern durch strikte Gewalt-losigkeit strukturiert wird damit das Gesetz des Handelns nicht von den Frev-lern sondern den Gerechten bestimmt wird (1QS 1017f)

bull Die Hymnenrolle (1QH) sammelt Psalmen die den Kampf der Guten gegen die Boumlsen der Gerechten gegen die Ungerechten verherrlichen Die Sprache ist militaumlrisch der Stil metaphorisch Die Spiritualitaumlt passt zur Ekklesiologie und Ethik der Gemeinderegel aber welchen genauen Bezug es gibt ist in der Qumran-Forschung strittig Entscheidend ist Gott fuumlr die eigene Erwaumlhlung zu preisen Das dankbare Gotteslob spiegelt sich in der Abscheu vor dem und den Boumlsen Liebe ist Zu-stimmung zur Liebe Gottes Hass Zustimmung zum Hass Gottes (1QH 142-8)

Die beiden Corpora stammen aus vorchristlicher Zeit Sie dokumentieren die Zerris-senheit des Judentums in Palaumlstina aber auch den Reformeifer derer die ein heiliges Israel erneuen wollen 12 Deutsche Uumlbersetzungen E Lohse Die Texte aus Qumran Hebraumlisch und Deutsch Muumln-chen 21971 K Schubert - J Maier Die Qumran-Essener Texte der Schriftrollen und Lebensbild der Gemeinde (UTB 224) Muumlnchen - Basel 1982 143-312 Zur Tempelrolle vgl die Ausgabe von Y Yadin Megillat ham-Miqdas The Temple Scroll (Hebrew Edition) Bde I-IIIa Jerusalem 1977 deutsche Uumlbersetzung J Maier Die Tempelrolle vom Toten Meer (UTB 829) Muumlnchen - Basel 1977 13 Vgl Th Soumlding Feindeshass und Bruderliebe

Thomas Soumlding

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4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)

a Das Doppelgebot der Naumlchstenliebe uumlberliefert das Neue Testament bei den Synop-tikern in drei Fassungen

bull Markus erzaumlhlt von einem Konsensgespraumlch uumlber das groumlszligte Gebot zwischen Jesus und einem Schriftgelehrten in Jerusalem (Mk 1228-34) die Antwort Je-su eine Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 fuumlhrt zu einer Verstaumlndi-gung

bull Matthaumlus stimmt in der Thematik der Frage der Ortsangabe und der Kombi-nation beider Liebesgebote mit Markus uumlberein (Mt 2234-40) macht aber aus dem Konsens- ein Streitgespraumlch Jesus wird von einem Gesetzeslehrer auf die Probe gestellt und besteht die Herausforderung glaumlnzend indem er das Doppelgebot formuliert

bull Lukas kennt in seiner Version (Lk 1025-37) gleichfalls die Kombination er uumlberliefert wie Matthaumlus einen bdquoGesetzeslehrerldquo ndash nicht wie Markus einen bdquoSchriftgelehrtenldquo ndash als Partner und erzaumlhlt ndash wie Matthaumlus anders als Mar-kus ndash von einem Konfliktgespraumlch Aber bei ihm findet der Dialog auf dem Weg Jesu nach Jerusalem statt (Lk 951 - 1927) die Frage zielt auf das ewige Leben (wie in Mk 1017 par Mt) der Dialog spitzt sich auf die Frage nach dem Naumlchsten zu die Jesus mit dem Samaritergleichnis beantwortet

Die markinische Version ist (nach der Zwei-Quellen-Theorie) die aumllteste Matthaumlus laumlsst sich als Kuumlrzung und Zuspitzung lesen Ob aber Lk 1025-37 sich als Markus-Redaktion erklaumlren laumlsst ist fraglich Womoumlglich hat es ndash durch Q ndash eine Doppeluumlber-lieferung gegeben die eine Kontroverse mit einem Gesetzeslehrer enthalten hat Noch wahrscheinlicher ist dass es von Anfang verschiedene Versionen gegeben hat die von den Evangelisten unterschiedlich rezipiert worden ist In jedem Fall bezeugt die Breite der Uumlberlieferung dass das Liebesgebot fuumlr Jesus typisch gewesen ist

b In allen Versionen des Doppelgebotes gibt es gemeinsame Charakteristika bull die Form des Gespraumlches in der das Doppelgebot entwickelt wird bull den Bezug auf das Gesetz bei Markus (1228) und Matthaumlus (2236) durch die

Jesus gestellte Ausgangsfrage bei Lukas durch die Ruumlckfrage Jesu (1026) bei Matthaumlus durch den Schlusssatz Jesu unterstrichen (2240)

bull die Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 ad vocem Agape bull die Abfolge dass zuerst das Hauptgebot der Gotteslebe (Dtn 64f) dann das

Gebot der Naumlchstenliebe (Lev 1918f) kommt obwohl die kanonische Reihen-folge eine andere ist

Diese Charakteristika sind der Kernbestand der Tradition sie muumlssen zu Eckpfeilern der Interpretation werden

c Die unterschiedlichen Gespraumlchssituationen haben ihre eigene Logik bull Markus will zeigen dass es zu einer fundierten und breiten Verstaumlndigung Je-

su mit den Schriftgelehrten haumltte kommen koumlnnen auf der Basis der Tora bull Matthaumlus will zeigen dass die Hierarchisierung der Gebote strittig war und

geblieben ist bull Lukas will herausarbeiten dass das Doppelgebot Fragen stellt die Jesus be-

antworten kann Die unterschiedlichen Logiken koumlnnen nicht gegeneinander ausgespielt aber jeweils in das Evangelium eingeordnet werden in dem sie sich befinden

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d Alle Versionen bestimmen die Tora als Basis des Dialoges Alle bleiben im Rahmen juumldischer Hermeneutik Schrift legt Schrift aus Alle erweisen sich im religionsge-schichtlichen Vergleich als typisch jesuanisch

bull Einerseits gibt es im Judentum eine lebhafte Debatte aus didaktischen und theologischen Gruumlnden zu einer Hierarchie der Gebote zu gelangen In dieser Debatte ragt das Liebesgebot heraus Es gibt aber immer auch starke Kontro-versen uumlber die Richtigkeit und Guumlltigkeit solcher Elementarisierungen

bull Anderseits steht Jesus nicht gegen die Tora sonder erfuumlllt sie (vgl Mt 517-20) Dese Erfuumlllung hat eine spezifische Qualitaumlt diese Qualitaumlt bezeichnet das Liebesgebot das Jesus selbst praktiziert

Das Doppelgebot bricht nicht aus dem Gesetz aus sondern schlieszligt es auf

e Im fruumlhen Judentum gibt es keine direkte Parallele zum jesuanischen Doppelgebot Aber es gibt eine ganze Reihe von strukturaumlquivalenten Formulierungen sowohl im palaumlstinischen wie auch im hellenistischen Judentum Zum Teil sind sie direkt als Ge-bot einer doppelten Liebe zum Teil mit Varianten vor allem der Gottesfurcht gebil-det Diese Parallelen erhellen den juumldischen Kontext in dem das Doppelgebot steht Auffaumlllig ist in der Jesustradition zweierlei

1 die direkte Schriftzitation 2 der explizite Bezug zur Tora der reflektiert wird

Beides spiegelt die Programmatik der jesuanischen Position

f Die Struktur der Tradition leitet in jeder Variante von der Gottes- zur Naumlchstenliebe und bindet das Liebesgebot zusammen

bull Es gibt keine Gottesliebe ohne Naumlchstenliebe weil Gott den es zu lieben gilt nicht nur die Person liebt die lieben soll sondern auch diejenige die geliebt werden soll Diese Liebe Gottes als Basis ist im Doppelgebot nicht expliziert aber impliziert

o in der Einzigkeit Gottes so wie sie in der Bibel Israels und in der Jesus-tradition als Qualifikation des Schoumlpfers und Erhalters des Versoumlh-ners und Vollender entfaltet wird

o im Wort Agape das eo ipso von der Liebe Gottes gespeist wird Das Doppelgebot ist das beste Gegengift gegen Heuchelei

bull Es gibt keine Naumlchstenliebe ohne Gottesliebe ndash nicht weil es keine Ethik keine Menschlichkeit kein Mitleid und keine Solidaritaumlt ohne Gottesliebe gaumlbe (im Gegenteil) sondern weil die Naumlchstenliebe wie sie alt- und neutestamentlich expliziert wird den Naumlchsten als die von Gott geliebte Person liebt also Ein-stimmung in die Liebe Gottes ist die nur in der Liebe zu Gott explizit beant-wortet werden kann

bull Es gibt einen Primat der Gottes- vor der Naumlchstenliebe ndash nicht weil die Got-tes- wichtiger als die Naumlchstenliebe waumlre sondern weil Gott der Schoumlpfer all derer ist die lieben und geliebt werden sollen und sie alle zur Teilhabe an seiner Liebe fuumlhren will

Die Einheit der Gottes- und Naumlchstenliebe ist keine Identitaumlt sondern eine Spannung die ein hohes Energiefeld aufbaut

g Das Doppelgebot selbst enthaumllt keine Konkretion steht aber in den Evangelien die sich in die Tradition des Alten Testaments stellen und wird dadurch einerseits zum Kompass durch die Tora andererseits zum Katalysator von Aktualisierungen die pa-radigmatisch von Jesus angesprochen werden

Thomas Soumlding

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5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)

a Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter antwortet auf die wichtige Frage bdquoWer ist mein Naumlchsterldquo (Lk 1025-37)

bull Die Frage ist wichtig weil es um die Konkretionen der Liebe geht und Lev 1917f eine klare Antwort gibt Die Naumlchsten sind die Mit-Glieder des Gottes-volkes Hinzu treten die bdquoFremdenldquo (Lev 1934) die dauerhaft in Israel inte-griert sind nach der Septuaginta die Proselyten Die Konzentration auf diese Naumlchsten ist theologisch durch die gemeinsame Berufung des Volkes zur Hei-ligkeit begruumlndet Sie bewaumlhrt sich in Konflikten umfasst also de facto auch Feindesliebe

bull Die Frage wird von Jesus mit einer Geschichte beantwortet die auf provokan-te Weise einen Samariter zu einem Vorbild werden laumlsst Dass Jesus mit ei-nem Gleichnis antwortet setzt auf die argumentative Kraft einer Erzaumlhlung die nicht nur eine Welt vor Augen stellen sondern auch eine Sache klaumlren kann und zwar so dass Anteilnahme entsteht eine Verstrickung in die Ge-schichte durch Dramatik und Identifikation

Die Antwort auf die Frage wird nicht ohne ihre Umkehrung gegeben bdquoWer hellip ist zum Naumlchsten dessen geworden der unter die Raumluber gefallen istldquo (Lk 1036) Damit wird die Ausgangsfrage nicht desavouiert sondern konkretisiert Wer nach dem Naumlchsten fragt fragt auch nach sich selbst Und wer sich selbst von Naumlchsten umgeben weiszlig denen er verpflichtet ist muss selbst zum Naumlchsten derer werden wollen die auf Hilfe angewiesen sind

b Die Geschichte gehoumlrt zum Doppelgebot das bei Lukas (1025ff) wie bei Matthaumlus (2235-40) ein Streitgespraumlch ist waumlhrend es bei Markus ein Konsensgespraumlch ist (Mk 1228-34) Lukas hat es in die Zeit des oumlffentlichen Wirkens Jesu vorgezogen und kompositorisch konkretisiert

bull Mit einem bdquoGesetzeslehrerldquo trifft Jesus auf seinem Weg einen Experte fuumlr die Frage die er stellt

bull Das Doppelgebotsthema wird nicht nur durch das Samaritergleichnis sondern auch durch die Fortsetzung konkretisiert

o Die Beispielgeschichte Lk 1030-35 thematisiert das Tun (Lk 1037) o Die folgende Geschichte von Maria und Martha akzentuiert das Houmlren

(Lk 1038-42) o Die anschlieszligende Gebetslehre konkretisiert jene Gottesliebe die aus

dem Houmlren zum Sprechen fuumlhrt mit dem Vaterunser als Kern Durch die Komposition wird die Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe unter-strichen

Die Szenerie unterstreicht die Brisanz der Frage nach der Geltung des Gesetzes und erhoumlht damit den Stellenwert des Gleichnisses damit aber auch die Praumlgnanz des Samariterbildes Jesu

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c Der gesamte Text hat eine dialogische Struktur 1 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach dem Sinn des Lebens (Lk 1025) 2 Jesus fragt zuruumlck indem er auf das Gesetz verweist (1026) 3 Der Gesetzeslehrer zitiert das Doppelgebot (Lk 1027) 4 Jesus bestaumltigt und fordert zur Praxis (Lk 1028) 5 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach der Identitaumlt des Naumlchsten (Lk 1029) 6 Jesus fragt zuruumlck indem er das Gleichnis erzaumlhlt (Lk 1030-36) 7 Der Gesetzeslehrer gibt die richtige Antwort (Lk 1037a) 8 Jesus fordert zum Handeln (Lk 1037b)

Jesus agiert im sokratischen Stil Er laumlsst den Fragesteller selbst die Antwort finden ndash nicht irgendwo sondern im Gesetz und in seinem Gewissen Das spiegelt fuumlr Lukas die Uumlberlegenheit Jesu und die Menschlichkeit seiner Ethik

d Das Gleichnis arbeitet mit einem scharfen Kontrast bull Auf der einen Seite stehen der Priester und der Levit Repraumlsentanten des Ju-

dentums Sie muumlssten genau wissen was zu tun ist Sie haben wenn sie wie der Verletzte auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho sind auch keinen Grund sich aus kultischen Uumlberlegungen um sich nicht zu verunreinigen an einem vorbeizugehen von dem sie glauben dass er tot sei wenn sie auf dem Weg zuruumlck sind ist fuumlr die ggf erforderliche rituelle Reinigung genuumlgend Zeit

bull Auf der anderen Seite steht der Samariter dem man es am wenigsten zutrau-en wuumlrde dass er tut was recht ist Dessen Rolle wird aber von Jesus stark betont nicht nur durch den Kontrast sondern auch dadurch dass er weit uumlber die Erste Hilfe hinaus mehr als genug tut um dem Verletzten zu helfen Er selbst leistet den sprichwoumlrtlich gewordenen Samariterdienst und treibt ungewoumlhnlich intensive Vorsorge dass der Mann nachhaltig gesundet ndash nach allen Regeln der (damaligen) aumlrztlichen Kunst

Dieser Kontrast war den Menschen sowohl zur Zeit Jesu als auch zur Zeit des Evange-listen Lukas deutlich Lk 952-56 hat ihn frisch in Erinnerung gerufen

e Jesus laumlsst durch die Kunst seiner narrativen Argumentation dem Gesetzeslehrer keine Chance nicht von seiner Antwort uumlberzeugt zu werden die seinen eigenen mo-ralischen Standpunkt veraumlndert Alle Menschen die ein Herz im Leibe haben werden erkennen dass nicht der Priester nicht der Levit sondern ausgerechnet der feindli-che der bdquohaumlretischeldquo Samariter das einzig Richtige getan hat indem er dem unter die Raumluber gefallenen Menschen geholfen hat Das aber ist schon der erste Schritt in die Richtung die Jesus den Menschen zeigt damit sie Gott und den Naumlchsten neu entde-cken koumlnnen Wer aber nicht nur tatkraumlftig wie der Samariter hilft sondern als Jude weiszlig dass er ihn wegen seiner Naumlchstenliebe nachahmen sollte hat eine Grenze uumlberschritten die durch das Nahekommen der Basileia durchlaumlssig geworden ist Der Gesetzeslehrer versperrt sich dieser Lektion nicht Er ist deshalb ein positives Beispiel

Literatur Andregrave Lacoque Lhermeacuteneutique de Jeacutesus au sujet de la loi dans la Parabole du Bon Samari-

tain in Etudes theacuteologiques et religieuses 78 (2003) 25-46

Ruben Zimmermann Die Etho-Poietik des Samaritergleichnisses (Lk 1025-37) Eine Ethik des Schauens in einer Kultur des Wegschauens in Wort und Dienst 29 (2007) 51-69

Thomas Soumlding

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6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)

a Die fuumlnfte und sechste Antithese bilden bei Matthaumlus den Houmlhepunkt der Reihe die sich am Dekalog orientiert in der Feldrede bei Lukas markiert das Gebot der Feindes-liebe den Mittelpunkt der Ethik Die Feindesliebe bezeichnet in groumlszligter Konsequenz den Standpunkt der Moralitaumlt steht aber auch im Brennpunkt der Kritik

bull Ist Gewaltlosigkeit wuumlrdelos verantwortungslos kraftlos So Nietzsche14

bull Ist Feindesliebe unrealistisch So der gesunde Menschenverstand und das Ur-teil professioneller Politik

15 So auch der juumldische Einwand16 den zuletzt Jacob Neusner vorgetragen hat17

Die antithetische Form bei Matthaumlus zeigt das Potential der Kontroverse Es ist nicht das Ziel der Exegese sie aufzuloumlsen sondern sie auszuloumlsen

b Der Blick in die Synopse zeigt im Vergleich mit Lk 627-36 zweierlei bull Die antithetische Form ist ndash hier wie sonst ndash ein matthaumlisches Spezifikum Sie

dient der Profilierung der Ethik Jesu im Gegenuumlber zur Tora ndash unter dem Vor-zeichen der Erfuumlllung (Mt 517-20)

bull Bei Lukas ist Gewaltverzicht direkter Ausdruck der Feindesliebe Matthaumlus dif-ferenziert und kombiniert um zu akzentuieren

Die Synopse fordert bei der lukanischen Uumlberlieferungsform anzusetzen aber die matthaumlische Variante nicht als sekundaumlr abzutun sondern als Reflex jesuanischer Konkretionen in den Blick zu nehmen

c Das Gebot der Feindesliebe tradiert uumlber die Redenquelle (Q) ist Urgestein und Herzstuumlck der Ethik Jesu18

14 Also sprach Zarathustra III 21 (Werke VI1) bdquoIch sollte nur Feinde haben die zu hassen sind aber nicht Feinde zum Verachten ihr muumlsst stolz auf euren Feind sein (260)ldquo

Die Stellung in der matthaumlischen Bergpredigt und der luka-nischen Feldrede zeigt dass im Urchristentum diese zentrale Bedeutung gesehen und tradiert worden ist Paulus reflektiert sie in Roumlm 129-21 Auch im johanneischen Kon-zept der Bruderliebe ist sie vorausgesetzt

15 Max Weber Politik als Beruf (1919) in ders Gesammelte politische Schriften hg v J Winckelmann Tuumlbingen 31971 505-560 bdquoMit der Bergpredigt ist es eine ernstere Sache als die glauben die diese Gebote heute gern zitieren Wenn es in Konsequenz der akosmistischen Liebesethik heiszligt dem Uumlbel nicht widerstehen mit Gewaltlsquo ndash so gilt fuumlr den Politiker der Satz du sollst dem Uumlbel gewaltsam widerstehen sonst ndash bist du fuumlr seine Uumlberhandnahme verantwortlich (550f)ldquo 16 Der Jude Tryphon plaumldiert nach Justin dial 52 bdquoIch weiszlig auch dass eure Lehren die in dem sogenannten Evangelium stehen so erhaben und groszlig sind dass wie ich meine kein Mensch sie beobachten kannldquo 17 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 Neuausgabe Frei-burg - Basel - Wien 2007 (engl 1993) Neusner praumlzisiert Jesus maszlige sich das Recht Gottes an so zu sprechen wie es die Bergpredigt uumlberliefert 18 Th Soumlding Die Verkuumlndigung Jesu 570-583

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d Nach Lk 6 sind alle Houmlrer der Botschaft Jesu zur Feindesliebe gerufen In erster Linie sind es seine Juumlnger als stellvertretende Adressaten der Seligpreisungen und Weherufe (Lk 620-26) Lukas sieht die Kirche als Ort wo primaumlr die Feindesliebe ver-wirklicht sein will gerade auch gegenuumlber Nicht-Christen (und berichtet in der Apos-telgeschichte dass dies in der Urgemeinde auch geschehen sei) Nach Matthaumlus hat Jesus direkt seine Juumlnger angesprochen (Mt 51f) ndash aber so dass alles Volk (vgl 423ff) es houmlren und daruumlber staunen kann (Mt 728f) Die Pointe ist missionstheologisch Wenn die Juumlnger ausziehen alle Voumllker ihrerseits zu Juumlngern zu machen sollen sie nicht nur taufen sondern auch lehren bdquoalles zu haltenldquo was Jesus ihnen bdquogebotenldquo hat (Mt 2818ff)

d Die Feindschaften die Jesu Gebot anspricht sind so paradigmatisch ausgewaumlhlt und scharf zugespitzt dass prinzipiell jede denkbare Feindschaft im Blick stehen muss Es werden die empoumlrendsten Formen paradigmatisch konkretisiert

bull religioumlse Verfolgung (Lk 628 Mt 544) bull koumlrperliche Gewalt selbst wenn sie demuumltigen soll (Lk 628f Mt 539) bull wirtschaftliche Ausbeutung auch wenn sie sich den Anschein des Rechts gibt

(Mt 540) bull politisch-militaumlrische Unterdruumlckung auch wenn sie schier uumlbermaumlchtig

scheint (Mt 541) Jede denkbare Grenze der Feindesliebe wird uumlberschritten der Familie und Ver-wandtschaft des Freundeskreises der Glaubensgenossen der (mehr oder weniger) Guten der Angehoumlrigen des eigenen Volkes (vgl Lk 1025-37)

e Die Feindesliebe zeigt sich in den gleichfalls paradigmatischen Konkretisierungen bull als Fuumlrbitte fuumlr die Verfolger (Lk 628 par Mt 544) und Segnen der

Blasphemiker (Lk 628) ndash im Gegensatz zum Verfluchen und zur Bitte um ihre Vernichtung durch Gottes Strafgericht

bull als aktiver Gewaltverzicht gegenuumlber erlittener Uumlbermacht (Lk 629 Mt 538-42) ndash im Gegensatz dazu Unrecht mit gleicher Muumlnze heimzuzahlen

bull als selbstlose Unterstuumltzung der Armen auch wenn deren Bitten laumlstig faumlllt (Lk 630) ndash im Gegensatz zum Kalkuumll des do ut des

bull als engagierter Einsatz fuumlr das Gute (Lk 62733) ndash im Gegensatz zu einem Mitmachen wie zur Resignation

Feindesliebe ist nicht passiv sondern aktiv Sie kreiert eine neue Situation In diesen Konkretisierungen erhellt die Feindesliebe als radikalisierte Naumlchstenliebe (Lev 1917f) die im Kontext der Gottessliebe steht (Mk 1228-34 parr) Sie ist nicht das Einverstaumlndnis mit Unrecht Schuld und Schwaumlche schon gar nicht schwaumlchliches Hinnehmen von Unrecht sondern im Gegenteil starkes aber deshalb auch leidensfauml-higes Eintreten dafuumlr Boumlses durch Gutes zu uumlberwinden (Roumlm 1221)

Thomas Soumlding

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h Die Feindesliebe ist theologisch begruumlndet und motiviert bull Der theologische Grund ist das Handeln Gottes selbst der als Schoumlpfer und Er-

loumlser permanent Feindesliebe praktiziert (Lk 635 Mt 545 vgl Roumlm 55ff) o Mit dem Blick ins Buch der Natur zeigt Jesus nach Matthaumlus Gott als

den der auch den Boumlsen und Ungerechten das Leben schenkt weil er will dass sie leben (nicht weil er will oder toleriert dass sie Boumlses und Unrechtes tun)

o Der Vergleich mit dem aumlhnlichen Motiv bei Seneca der (nicht zu Feindesliebe aber) zu groszligmuumltiger Gelassenheit gegenuumlber Feinden mahnt macht den Unterschied deutlich denn nach ihm kann Gott nicht anders als die Unterstuumltzung der Boumlsen in Kauf zu nehmen wenn er den Guten helfen will ndash wofuumlr er sich entscheidet weil das Gute mehr wert ist als das Boumlse

bull Das theologische Motiv ist die Nachahmung Gottes die imitatio Dei (Lk 636 Mt 548) der die Verheiszligung ewigen Lebens gilt des bdquoLohnesldquo der in der Gotteskindschaft besteht

In dieser Theozentrik ist die Feindesliebe Zustimmung zu der Liebe mit der Gott auch die Ungerechten und Suumlnder liebt ndash ohne ihre Suumlnde gutzuheiszligen aber auch ohne ihnen wegen ihrer Schuld seine Zuwendung zu entziehen

i Das Gebot der Feindesliebe ist angewandte Christologie bull Einerseits ist es Jesus der das Gebot ndash nach Matthaumlus im Gegensatz zur herr-

schenden Auslegung des atl Liebesgebotes ndash der Feindesliebe aufstellt bull Andererseits ist es Jesus der das Gebot umfassend verwirklicht ndash vorbildlich

in seinem Leiden heilbringend in seiner Lebenshingabe aus reiner Liebe

f Das bdquoAuge um Auge Zahn um Zahnldquo (Ex 2124) begrenzt die Vergeltung das bdquoIch aber sage euchldquo aktiviert zur Versoumlhnung Das alttestamentliche Gebot der Naumlchstenliebe umfasst innerhalb Israels Feindesliebe (Lk 1917f) und weitet sie aus (Lev 1934) Das bdquoIch aber sage euchldquo setzt sich von einer Auslegung ab die aus Sorge um Gottes Gerechtigkeit die Grenzen der Erloumlsung zu eng zieht Dafuumlr gibt es Beispiele in Qumran Der originaumlre Bezug des Gebotes der Naumlchstenliebe auf das Volk Gottes wird nicht aufgegeben aber ausgeweitet

bull In der Juumlngerschaft ist ndash in Israel und uumlber Israel hinaus ndash der Ort an dem die Feindesliebe so praktiziert werden soll dass sie ausstrahlt (vgl Mt 513-16)

bull Zum Volk Gottes gehoumlren nicht nur die Juden und alle die an Jesus glauben Gott hat vielmehr Jesus (nach Matthaumlus wie nach Lukas) deshalb gesendet damit durch seinen Dienst am Heil der Menschen der reine Feindesliebe ist alle Voumllker zu seinem Volk werden Die Kirche repraumlsentiert und realisiert stellvertretend diese Heilsuniversalitaumlt Ihre Feindesliebe konkretisiert sie ethisch

Feindesliebe durchbricht das Prinzip der Vergeltung ohne das Prinzip der Gerechtig-keit aufzugeben Das ist nur deshalb sittlich erlaubt und geboten weil das Gebot in der Liebe Gottes selbst begruumlndet ist die sich in der Feindesliebe Jesu realisiert die ihrerseits der theologische Nerv seines Lebens und Sterbens zur Erloumlsung der Suumlnder ist

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j Das psychologische Problem das Sigmund Freud scharf markiert hat19

Das ethische Problem das Fjodor Dostojewksi (Die Bruumlder Karamasow) Iwan in den Mund legt lautet

besteht da-rin dass blinde Aggressionen entwickelt wer sich moralisch uumlberfordert Dieses Prob-lem laumlsst sich wohl nur spirituell loumlsen in der Nachfolge Jesu die auf seine Kraft setzt in den Nachfolgern das Gute zu tun

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k Das Problem der Erfuumlllbarkeit der Bergpredigt und speziell des Gebotes der Fein-desliebe bewegt Theologie und Kirche seit aumlltester Zeit Eine erhebliche Verschaumlrfung des Problems geschieht durch eine moderne Emotionalisierung der Feindesliebe Wird sie aber als Ausdruck der Agape verstanden begruumlndet sie ndash in der Nachfolge Jesu ndash eine Praxis des Glaubens aus der Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe Als solche kann sie durchaus eingeuumlbt ausgebildet und gefestigt werden Sie setzt die Suche nach dem besten Weg der Verwirklichung nicht aus sondern ein Sie entspricht aber darin der Gottebenbildlichkeit aller Menschen und der Gotteskindschaft der zu Erloumlsenden dass sie an der Unbedingtheit der Bejahung die Gott ihnen zuteilwerden laumlsst Anteil hat

dass Feindesliebe letztlich Kumpanei mit den Taumltern auf Kosten der Opfer sei Dieses Problem das haumlufig nicht gesehen wird laumlsst sich nur soteriolo-gisch loumlsen weil derjenige der selbst aus reiner Liebe die Schuld der anderen ertra-gen und vergeben hat das Reich Gottes als umfassende Vollendung von Gerechtig-keit Friede und Freude (Roumlm 1417) verwirklicht

19 Das Unbehagen in der Kultur in Gesammelte Werke 14 London 1948 419-506 468-475493-506 (Abschnitte V VIII) bdquoNachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte war die aumluszligerste Intoleranz des Christentums gegen die drauszligen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge gewordenldquo (374) 19 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 20 bdquoSchlieszliglich will ich auch gar nicht dass die Mutter den Peiniger umarmt der ihren Sohn von Hunden zerreiszligen lieszlig Sie darf sich nicht unterstehen ihm zu verzeihen Wenn sie will mag sie verzeihen soweit es sie selber angeht sie mag dem Peiniger ihr maszligloses Mutterleid ver-zeihen aber die Leiden ihres zerfleischten Kindes zu verzeihen hat sie kein Recht sie darf es nicht wagen dem Peiniger zu verzeihen auch wenn das Kind selber ihm verzieheldquo (Muumlnchen 1958 330f

Thomas Soumlding

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7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)

71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20) a Mit der Fuszligwaschung21

b Die Fuszligwaschung ist das Zeichen der Passion Ihr folgen Gespraumlche mit den Juumln-gern die zwar von Jesus gewaschen und gereinigt sind aber groumlszligte Schwierigkeiten haben zu verstehen was sich tut

beginnt der 2 Hauptteil des Johannesevangeliums Das oumlffentliche Wirken ist abgeschlossen Jesus konzentriert sich auf seine Juumlnger bevor er oumlffentlich hingerichtet werden wird Er bereitet sie auf seine Passion und seine Auferstehung vor die den Weg zu Gott bahnen werden

bull Auf die Fuszligwaschung folgt zuerst eine Trias unmittelbarer Konsequenzen o Judas wird als Verraumlter identifiziert und verlaumlsst den Juumlngerkreis (Joh

1321-30) o Die Juumlnger werden zur wechselseitigen Liebe gemahnt (Joh 1331-35) o Petrus wird seine Verleugnung vorhergesagt (Joh 1336ff)

bull Auf die Fuszligwaschung folgen ausfuumlhrliche Abschiedsworte (Joh 14-16) die in ein Abschiedsgebet muumlnden (Joh 17)

c Joh 131-20 ist uumlbersichtlich aufgebaut

Joh 131 Der Hintergrund Joh 132-5 Die Fuszligwaschung beim Mahl 132 Die Situation 133ff Die Handlung Jesu Joh 136-11 Das Gespraumlch mit Petrus 136 Der erste Einwand des Petrus 137 Die erste Antwort Jesu 138a Der zweite Einwand des Petrus 138b Die zweite Antwort Jesu 139 Der dritte Einwand des Petrus 1310 Die dritte Antwort Jesu 1311 Kommentar des Evangelisten Joh 1312-20 Die Deutung vor allen Juumlngern 1312-17 Die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu 1318f Die Ansage eines Verrates 1320 Die Juumlnger als Apostel

21 Vgl Luise Abramowski Die Geschichte von der Fuszligwaschung in Zeitschrift fuumlr Theologie und Kirche 102 (2005) 176-203

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d Die Exegese diskutiert in welchem Verhaumlltnis die beiden Deutungen zu einander stehen Die erste ist soteriologisch die zweite ethisch ausgerichtet

bull Recht oft wird aus der Doppelung auf ein literarisches Wachstum des Textes geschlossen

o Moumlglichkeit 1 Die soteriologische Deutung ist die aumlltere die paraumlnetische die se-kundaumlre22

o Moumlglichkeit 2 Die ethische Deutung ist urspruumlnglich die soteriologisch nachtraumlglich zwischengeschoben

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Beide Ansaumltze sind von weitereichenden Voraussetzung zur relativen Chrono-logie des Corpus Johanneum gepraumlgt

o Wer den Ersten Johannesbrief fuumlr aumllter erachtet wird die ethische Deutung fuumlr urspruumlnglich halten

o Wer das Evangelium fuumlr aumllter erachtet wird eher die soteriologische Deutung als originaumlr einschaumltzen

Die ethische Deutung wird dann fuumlr sekundaumlr zu erachten wenn man zu dem Urteil gelangt die johanneische Theologie sei urspruumlnglich wenig konkret und eher spirituell ausgerichtet waumlhrend erst sekundaumlr Johannes gesamtkirchlich eingenordet worden sei Beide Ansaumltze gehen von einem literarischen Schichtenmodell aus das der Ei-genart johanneischer Literatur in den Evangelienerzaumlhlungen nicht angemes-sen ist Beide werden durch das Modell einer bdquorelectureldquo gemildert das ndash aumlhnlich wie in der Prophetenexegese des Alten Testaments ndash mit einer Fortschreibung der Texte rechnet aber sie zugleich als vergegenwaumlrtigende Aneignung des vor-gegebenen Textes versteht24

bull Es mehren sich wieder die Stimmen die Joh 13 als literarisch einheitlich anse-hen

Allerdings stoumlszligt dieses Modell auf die Schwie-rigkeit dass das Liebesgebot das die ethische Deutung vorbereitet in Joh 1331-35 dominant ist und nicht nur in Joh 15-16 ausgefuumlhrt sondern auch in Joh 1421 angebahnt wird

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Die Doppelung erklaumlrt sich aus der Theologie der Liebe Sie hat eine Innenseite die Liebe Jesu zu sein Seinen in der sich nach Joh 1421 die Liebe das Vaters zum Sohn ereignet und sie hat eine Auszligenseite die sich nach Joh 1331-35 und Joh 15 in der Bruderliebe der Juumlnger erweist von der die Welt angezogen werden wird (Joh 17)

Allerdings braucht es eine Erklaumlrung fuumlr die Deutung Eine moumlgliche Er-klaumlrung waumlre der Adressatenwechsel aber die Petrusszene spielt sich vor den Augen und Ohren aller ab

22 So Rudolf Schnackenburg Joh III passim 23 So Udo Schnelle Joh 237 Er will eine Ursprungsform (132a4512ab162017) die recht nahe bei Lk 22 und der Mahnung der Juumlnger zum Dienen steht zuerst in der johanneischen Schule (der er den Ersten Johannesbrief mit seiner Theologie der Liebe zurechnet) um die Vorbildethik erweitert sehen (1312c13-15) bevor der Evangelist selbst von der Einleitung an (131) konsequent seine soteriologische Deutung ins Fundament der Geschichte eingebaut habe (136-10ab) 24 So Jean Zumstein Joh 25 So Hartwig Thyen Joh

Thomas Soumlding

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711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus a Die Liebe Jesu zu den Seinen (Joh 131) verwirklicht die Liebe Gottes zur Welt (Joh 316) die von der Liebe des Vaters zum Sohn getragen wird (Joh 335 1017) Es ist die nach der Zwischennotiz von Jesu Freundschaft mit Martha Maria und Lazarus (Joh 115) erste Betonung der Agape Jesu von der spaumlter das Liebesgebot Joh 1334 und die Verheiszligung dauernden Beistandes der Juumlnger gedeckt ist (Joh 1421-31)

b In der Liebe Jesu zu den Seinen verbindet sich die Liebe Gottes zur Welt mit der Liebe Jesu zu seinen Freunden (Joh 15) Es ist eine unbedingte Bejahung und Wert-schaumltzung die auf Sympathie beruht und lebendig macht

c Die Liebe erweist Jesus den bdquoSeinenldquo bull Im Ruumlckraum steht Joh 19-13 dass die bdquoSeinenldquo den Logos abgelehnt haben

ndash bis auf diejenigen die an seinen Namen glauben und deshalb das Recht der Gotteskindschaft erhalten

bull Die bdquoSeinenldquo sind die Juumlnger die sich von Jesus in die Nachfolge haben rufen lassen (Joh 135-51) und in der galilaumlischen Krise Jesus nicht verlassen haben (Joh 660-71) Sie haben ihrerseits schwere Glaubensprobleme ndash aber werden sie durch Jesus uumlberwinden

bull In Joh 14 und Joh 17 wird erklaumlrt werden dass die Liebe Jesu zu den Seinen ndash wie die zum Lieblingsjuumlnger ndash nicht exklusiv sondern positiv zu verstehen ist

Dass Jesus den Seinen die Liebe bdquobis zum Endeldquo erweist verweist auf den Tod Jesu Das griechische Wort ist mehrdeutig teloj kann bdquoEndeldquo aber auch bdquoZielldquo bedeuten Beide Bedeutungen schwingen mit

bull Der Tod Jesu ist das definitive Ende seiner geschichtlichen Sendung das zu akzeptieren wird den Juumlngern ungeheuer schwer fallen

bull Der Tod Jesu ist das Ziel seines Wirkens insofern es seine Liebe und Hingabe definitiv werden laumlsst

Der Korrespondenzsatz ist das Todeswort Jesu Joh 1930 bull Es ist ein Gebet wie nach allen Synoptikern (Mk 1534 par Mt 2746 bdquoGott

mein Gott warum hast du mich verlassenldquo ndash Ps 222 Lk 2346 bdquoVater in deine Haumlnde gebe ich meinen Geistldquo ndash Ps 316) aber als letztes Offenba-rungswort an die Welt

bull Die traditionelle Uumlbersetzung lautet bdquoEs ist vollbrachtldquo Man kann aber auch sagen bdquovollendetldquo (Muumlnchner Neues Testament Bible de Jerusaleme bdquoCest acheveacuteldquo) oder bdquozu Endeldquo (King James Bible bdquoIt is finishedldquo)

Eine moumlgliche auf Joh 131 abgestimmte Uumlbersetzung waumlre (wie im Muumlnchener Neu-en Testament) bdquoEs ist vollendetldquo (tetelestai)

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712 Die Fuszligwaschung a Jemandem vor dem Mahl die Fuumlszlige zu waschen ist ein Dienst den traditioneller-weise Sklaven ihren Herren erweisen (vgl 1Sam 2541)26

Joh 1313f zeigt dass die sozialen Dimensionen der Fuszligwaschung klar vor Augen stehen der Gesamttext dass der Ritus sakramental gefuumlllt wird

Das Waschen der Fuumlszlige ist ein Ritus der Vorbereitung der eine koumlrperliche Wohltat mit einer Geste der Houmlflich-keit verbindet die Anerkennung und Ehrerbietung meint (Gen 184 vgl Lk 744) und zudem mit einer rituellen Bedeutung versieht die einen Uumlbergang gestaltet von drauszligen nach drinnen vom Alltag zum Fest vom Profanen zum Heiligen

7121 Die soteriologische Deutung a Im Gespraumlch mit Petrus wird die Bedeutung der Fuszligwaschung soteriologisch gedeu-tet Sie ist eine bdquoReinigungldquo ndash nicht wie in der Taufe sondern wie in der Buszlige Petrus braucht keine Wiederholung der Wiedergeburt die er als glaumlubig gewordener Taumluferjuumlnger erlebt hat aber er bedarf mehr als andere der Vergebung weil er ndash ent-gegen seinem Vorsatz ndash Jesus verleugnet Waumlhrend er sagt fuumlr Jesus sterben zu wol-len muss gerade fuumlr ihn Jesus sterben

b Petrus erkennt nach Joh 136 das Unmoumlgliche der Situation dass der Herr ihm ei-nen Sklavendienst leistet Er wehrt diesen Dienst doppelt ab (Joh 1368a) ndash so wie er nach Joh 1336ff nicht will dass Jesus fuumlr ihn sein Leben einsetzt In diesem Nein kommt eine Liebe zu Jesus zum Ausdruck die bestimmen will Gleichzeitig aber ist das Nein auch Ausdruck des Missverstaumlndnisses dass Petrus der Diakonie Jesu womoumlglich gar nicht bedarf Petrus verschaumlrft seinen Widerspruch der aus Unverstaumlndnis stammt indem er dann ganz gewaschen werden will (Joh 139) ndash womit er aber seine Berufung leugnet

c Jesus deckt das Missverstaumlndnis des Petrus auf Die Fuszligwaschung steht nicht am Anfang sondern an einer Biegung des Weges mit Jesus Die Weg-Gemeinschaft ist darin begruumlndet dass Jesus sich in seinen Dienst stellt Dem muss entsprechen dass Petrus sich den Dienst gefallen laumlsst Er muss Jesus so nahe wie in der Fuszligwaschung an sich heranlassen Er muss den Rollentausch akzeptieren Die Langversion von Vers 10 die durch den Codex Vaticanus gedeckt und als lectio difficilior gesichert ist entspricht dem Kontext

bull Im Bild Auch nach dem Vollbad macht man sich wieder die Fuumlszlige schmutzig Man laumlsst sie sich waschen damit auch sie sauber sind man laumlsst nur sie waschen weil der sonstige Koumlrper gereinigt ist

bull In der Sache Wer durch das Bad der Wiedergeburt die Taufe bdquoganz reinldquo geworden ist muss diese Reinheit aber durch seine Schuld verloren hat muss sich die Fuumlszlige waschen lassen um durch Jesus zu Gott zu gelangen Dem entspricht am ehesten eine Deutung auf die Buszlige wie sie orthodoxen Vaumlter favorisieren

26 Hellenistische Parallelen Neuer Wettstein I2 636-644

Thomas Soumlding

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7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
    • Kontakt
      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
        • Markusevangelium
        • Lukasevangelium
        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 2: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

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Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium

Das Thema Das Gebot der Naumlchstenliebe ist eine starke Bruumlcke zwischen dem Alten und dem Neuen Testament Im Neuen Testament wird das alttestamentliche Liebesgebot (Lev 1918) vielfach zitiert Es gelangt in den Rang eines Schluumlsselgebotes Diese Akzentuierung steht im Kontext des Judentums das seinerseits in neutestamentlicher Zeit der Naumlchstenliebe groumlszligte Aufmerksamkeit schenkt Was aber heiszligt bdquoLiebeldquo im Gebot der Naumlchstenliebe Wer ist der bdquoNaumlchsteldquo Wie ist das Liebesgebot begruumlndet Die Vorlesung zeichnet eine Grundlinie biblischer Ethik nach Sie beschreibt die alttestamentlichen Basistexte sie zeichnet die juumldische Rezeption nach sie macht das breite neutestamentliche Panorama vom Doppelgebot bis zum Gleichnis vom barmherzigen Samariter von der Feindes- bis zur Bruderliebe und von der Rechtfertigungstheologie des Paulus bis zur Weisheitstheologie des Jakobus sichtbar

Die exegetische Methode Die Vorlesung verbindet ein Konzept kanonischer Exegese mit den Fragestellungen der historischen Bibelkritik Die gesamt-biblischen Bezuumlge sind wesentlich Der histo-risch-kritische Ansatz dient der Kontextualisierung der diversen Schriften Das theolo-gische Interesse richtet sich auf den Stellenwert das Proprium und die Konkretisie-rungsmoumlglichkeiten der Naumlchstenliebe

Das didaktische Ziel Die Vorlesung vermittelt die Kompetenz einer eigenstaumlndigen Beurteilung wesentlicher Tendenzen biblischer Ethik sie motiviert zur Frage nach Konkretionen im Religionsunterricht wie der Katechese sie diskutiert das biblische Konzept der Naumlchstenliebe mit verwandten und kontroversen Positionen heutiger Moraltheologie und Ethik

Pruumlfungsleistungen Im Mag Theol wird der Stoff der Vorlesung in die Abschlusspruumlfung von Modul 12 eingebracht (1 CP) Im MEd gehoumlrt die Vorlesung zu Modul D Individueller Leistungsnachweis ist ein Essay (2 CP) Im MA gehoumlrt die Vorlesung zu Modul V Individueller Leistungsnachweis ist ein Essay (2 CP)

Beratung Sprechstunde in der Vorlesungszeit Mittwoch 12-13 und Donnerstag 13-14 Uhr in GA 6151 Zwischen den Zeiten thomassoedingrubde

Kontakt Universitaumltsstraszlige 150 GA 6150 (Sekretariat Elisabeth Koch) D-44780 Bochum 0049 (0) 234 32-22403 wwwrubdent ntrubde

Thomas Soumlding

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Literaturhinweise

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Thomas Soumlding

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Harnisch Wolfgang Die Goldene Regel und das Liebesgebot Mt 712 im Kontext der Bergpre-digt in ders Rhetorik und Hermeneutik in der Apokalyptik und im Neuen Testament Stuttgart 2009 204-222

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Kiiliunen Jarmo Das Doppelgebot der Liebe in synoptischer Sicht Ein redaktionskritischer Versuch uumlber Mk 1228-34 und die Parallelen (AASFB 250) Helsinki 1989

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Beutler Johannes Das Hauptgebot im Johannesevangelium in Ibid Studien zu den johannei-schen Schriften Stuttgart 1998 107-120

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Schlier Heinrich Die Bruderliebe nach dem Evangelium und den Briefen des Johannes in ders Das Ende der Zeit Exegetische Aufsaumltze und Vortaumlge III Freiburg 1971 124-135

Schnelle Udo Die johanneischen Abschiedsreden und das Liebesgebot in Gilbert Van Belle ndash Michael Labahn ndash Pieter Maritz (Hg) Repetitions and Variations in the Fourth Gospel Style Text Interpretation Leuven ua 2009 589-608

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6

- Freundschaft mit Jesus Ein neutestamentliches Motiv in Communio 36 (2007) 220-231

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Heininger Bernhard Die Inkulturation der Naumlchstenliebe Zur Semantik der bdquoBruderliebeldquo im 1 Thessalonicherbrief in ders Die Inkulturation des Christentums Aufsaumltze und Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt Tuumlbingen 2010 65-88

Kertelge Karl Freiheitsbotschaft und Liebesgebot im Galaterbrief In Ibid Grundthemen paulinischer Theologie Freiburg 1991 197-208

Soumlding Thomas Die Trias Glaube Hoffnung Liebe bei Paulus Eine exegetische Studie Stutt-gart 1992

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Wischmeyer Oda Das Gebot der Naumlchstenliebe bei Paulus Eine traditionsgeschichtliche Un-tersuchung in dies Von Ben Sira zu Paulus Gesammelte Aufsaumltze zu Texten Theologie und Hermeneutik des Fruumlhjudentums und des Neuen Testaments Tuumlbingen 2004 137-161

Jakobusbrief Theiszligen Gerd Naumlchstenliebe und Egalitaumlt Jak 21-13 als Houmlhepunkt urchristlicher Ethik in

Petra von Gemuumlnden ndash Matthias Konradt ndash Gerd Theissen Der Jakobusbrief Beitraumlge zur Rehabilitierung der bdquostrohernen Epistelldquo Muumlnster 2003 120-142

Thomas Soumlding

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1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch

a Das Liebesgebot ist zweifellos fuumlr die Ethik Jesu wie des Urchristentums zentral Es weist nicht nur den Weg Jesu selbst und seiner Nachfolger sondern wird auch zum Gegenstand theologischen Nachdenkens Sowohl in der synoptischen und johannei-schen Tradition wie auch bei Paulus und im Jakobusbrief wird der zentrale Stellenwert des Liebesgebotes markiert und argumentativ entfaltet Das spricht fuumlr eine bewuss-te programmatische Positionierung Gerade sie wirft aber exegetische Fragen auf

bull Welches Verhaumlltnis besteht zum Alten Testament und zum Judentum Die Antwort ist nicht offenkundig weil einerseits das bdquoGesetzldquo zitiert (Lev 1918) andererseits aber sein genaues Verstaumlndnis und Gewicht immer wie-der kontrovers diskutiert wird

bull Welches Verhaumlltnis besteht zu den Standards profaner Ethik in der Antike Auch diese Frage hat Gewicht weil gerade das Liebesgebot einerseits gegen alles Sektiererische aufgestellt andererseits aber so profiliert wird dass es zum Kennzeichen der Jesusbewegung und der fruumlhen Kirche wird

bull Worauf richtet sich die Naumlchstenliebe Im Neuen Testament wird nur an einer einzigen Stelle ndashund zwar vom kriti-schen Gesetzlehrer nach Lk 1029 ndash gefragt wer der bdquoNaumlchsteldquo ist den es zu lieben gilt Im uumlbrigen reicht das Spektrum von der Feindes- bis zur Bruderlie-be

bull Was ist eine bdquoLiebeldquo die geboten werden kann Das Alte und das Neue Testament stimmen darin uumlberein dass es ein Liebes-gebot gibt Das laumlsst nach dem Verstaumlndnis der Liebe fragen

o Das Leitwort heiszligt Agape Das Wort im Profangriechischen blass ge-winnt durch die Septuaginta Farbe

o Es meint im Kern die Liebe Gottes zu seinem Volk die auf die Gottes- und die Naumlchstenliebe der Israeliten ausstrahlt Die Liebe Gottes ist kreativ Indem Gott Israel erwaumlhlt ruft er es ins Leben Die Liebe Got-tes ist unverbruumlchlich Auch wenn das Volk untreu ist bleibt Gott treu Die Liebe Gottes ist leidenschaftlich So wie er sein Herz an die Menschen in Israel haumlngt will er sie auch fuumlr sich und fuumlr ihr eigenes Heil gewinnen

o Auf diese Liebe Gottes antwortet die Liebe zu Gott die sich im Be-kenntnis zum einen Gott ausspricht (Dtn 64f) und im uumlberzeugten Gehorsam gegen sein Gebot bewahrheitet Der Liebe zu Gott ent-spricht die Naumlchstenliebe (Lev 1917f) weil man Gott nicht lieben kann ohne auch die zu lieben die er liebt

Auch wenn es einleuchten kann dass eine Liebe geboten werden kann bleiben die Frage wer diese Liebe gebieten kann und wie das Gebot sich erfuumlllen laumlsst Diese Fragen treiben schon Jesus und das Urchristentum um

Die exegetischen Fragen verlangen exegetische Antworten die den Texten ihr Recht geben und die noumltigen Unterschiede herausarbeiten aber auch Gemeinsamkeiten erkennen lassen Auf diese Weise kann ein differenzierter Eindruck der Liebes-Ethik im Neuen Testament und der ganzen Bibel entstehen

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b Die katechetischen und didaktischen Fragen stellen sich auch im Verstaumlndnis bibli-scher Texte die aus der Vergangenheit reden aber darin auf die geschichtlichen Ur-spruumlnge des Glaubens wie der Kirche weisen und den Kanon heiszligt die Richtschnur christlicher Lehre und glaumlubigen Lebens spannen Entscheidend ist die Vergegenwaumlr-tigung

bull Wer ist zur Naumlchstenliebe gerufen Die Konkretion ist wesentlich weil das bdquowie dich selbstldquo zum Liebesgebot ge-houmlrt und damit das bdquoIchldquo des Menschen der das Gebot houmlrt in Rede steht Deshalb geraten die jeweils gegenwaumlrtigen Adressaten zentral in den Blick ihr Ich-Bild ihr Gottes-Bild und ihr Du-Bild Diese anthropologische Konkretisie-rung spiegelt auf die Exegese zuruumlck

bull Wie laumlsst sich die Naumlchstenliebe leben Die exegetischen Klaumlrungen zum Begriff des Naumlchsten (des Freundes des Feindes der Schwester und des Bruders) wie der Agape spitzen die Frage zu auf welchen Feldern und in welchen Formen die Naumlchstenliebe heute und jetzt gefragt ist Das Liebesgebot ist grundsaumltzlich Also ist es auf kreative Konkretisierungen hin angelegt Die katechetische und didaktische Vermitt-lung ist mithin aktive Exegese ndash und laumlsst auch im Ruumlckblick nach Konkretionen fragen Die Forderung der Naumlchstenliebe nimmt das Problem von Handlungskonkur-renzen und Entscheidungsnotwendigkeiten ernst und fordert zu klaren Optio-nen auf ndashdie jeweils heute getroffen werden muumlssen

bull Wer fordert die Naumlchstenliebe Ist Naumlchstenliebe selbstverstaumlndlich und deshalb ein Gebot Gottes Oder ist sie ein Gebot Gottes weil sie menschlich aber nicht selbstverstaumlndlich ist Die Exegese identifiziert (auf der Basis des kanonischen Textes) Moses und Je-sus als Gesetzgeber im Namen Gottes Die Autoritaumltsfrage stellt sich heute dramatisch neu weil die Bibel vermittelte Autoritaumlt ist und der menschliche Faktor bei ihrer Entstehung Uumlbermittlung und Erklaumlrung essentiell Die Exe-gese klaumlrt dies auf und wehrt dadurch jedem Fundamentalismus wird aber auch durch die Vergegenwaumlrtigungen zu kritischer Differenzierung angeleitet

Literatur zur Vertiefung CS Lewis The four loves London 1960 Deutsch Was man Liebe nennt Zuneigung Freund-

schaft Eros Agape Gieszligen 72004

Thomas Soumlding

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2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)

a Das Gebot der Naumlchstenliebe steht im Kern des Heiligkeitsgesetzes (Lev 17-26) Lev 19 Dieses Gesetz das zu den aumlltesten Textcorpora der Tora gehoumlrt ist von der imitatio Dei gepraumlgt (Lev 191) Gottes Heiligkeit an der Israel sich ausrichten soll ist der Glanz seiner Praumlsenz die Aura seiner Potenz das Strahlen seiner Transzendenz Israels Heiligkeit ist seine Zuwendung zu Gott und seinem Gesetz seine Abwendung von den Goumltzen und dem Unrecht Gottes Heiligkeit fuumlhrt nicht zu religioumlsen Berser-kern die im Namen des Einen alles andere vernichten sondern zu Menschen die lieben koumlnnen

b Das Heiligkeitsgesetz1

Das Liebesgebot ragt aus den ethischen Weisungen heraus Es bildet den kroumlnenden Abschluss einer Reihe sozial engagierter Gebote (Lev 1911-18) die allesamt negativ formuliert sind waumlhrend das Liebesgebot positiv formuliert wird In Lev 1934 findet es ein Echo mit der Ausweitung auf die Fremden als Schlusspointe des Heiligkeitsethos

umfasst einen bunten Strauszlig kultischer und sozialer Gebote Ihr innerer Zusammenhang wird dadurch gestiftet dass Heiligkeit sowohl das Gottes-verhaumlltnis als auch das Verhaumlltnis zum Naumlchsten praumlgt

c Durch die Forderung den Naumlchsten zu lieben geschieht die notwendige Konzentra-tion Der bdquoNaumlchsteldquo dem die Liebe gelten soll ist nicht einfach wer einem mehr oder weniger zufaumlllig begegnet2 sondern nach dem genauen Wortlaut der bdquoBruderldquo der bdquoStammesgenosseldquo das bdquoKindldquo des eigenen Volkes (Lev 1917f)3

Die Beispiele zeigen aber auch dass die Naumlchstenliebe von Anfang an faktisch Fein-desliebe ist Denn durchweg geht es um erlittenes Unrecht begangene Fehler ge-schehene Suumlnden Das Liebesgebot bahnt einen Ausweg aus der verfahrenen Situati-on Es nimmt den moralisch in die Pflicht dem Unrecht widerfahren ist Das Opfer soll aktiv werden um einen neuen Anfang zu setzen ndash nicht um die Taumlter zu entlasten sondern um ihnen zu helfen aus ihrer Schuld herauszukommen Dem entspricht ein offensives Verstaumlndnis von Heiligkeit Sie strahlt aus und zieht an

Das entspricht dem Kontext des Heiligkeitsgesetzes das von der Erwaumlhlung und Verpflichtung Israels handelt Es ist die Gemeinschaft des von Gott geliebten Volkes die durch Naumlchsten-liebe lebendig werden soll Wuumlrden die Grenzen verschwinden staumlnde die Naumlchsten-liebe in der Gefahr sich in unverbindliche Fernstenliebe aufzuloumlsen und den Kontakt zu Gott zu verlieren der sich seines Volkes erbarmt Durch die Konzentration auf die Naumlchsten des Gottesvolkes gewinnt die Zugehoumlrigkeit zu Israel Kontur die Heiligkeit wird konkret Die in Lev 1917f beschriebenen Beispiele setzen durchweg Nahbezie-hungen voraus

1 Vgl (klassisch historisch-kritisch) Klaus Gruumlnwaldt Das Heiligkeitsgesetz Levitkus 17-26 Ge-stalt Tradition und Theologie (BZAW 271) Berlin 1999 2 So jedoch Martin Buber Zwei Glaubensweisen (1950) in ders Werke I Muumlnchen - Heidel-berg 1962 651-782 701f bdquoSei liebreich zugewandt den Menschen mit denen du je und je auf den Wegen deines Lebens zu schaffen bekommst 3 Vgl Hans-Peter Mathys Liebe deinen Naumlchsten wie dich selbst

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d Die Konzentration der Naumlchstenliebe begruumlndet keine Doppelmoral sie ist positiv nicht exklusiv verstanden Das zeigt die Ausweitung auf die bdquoFremdenldquo mit derselben Maszligeinheit bdquowie dich selbstldquo Die Begruumlndung bdquodenn ihr seid selbst Fremde in Aumlgyp-ten gewesenldquo (Lev 1933f) erhellt eine uumlberraschende weil verdraumlngte Naumlhe Israel kann und soll das Leben der bdquoFremdenldquo nachfuumlhlen und sich ihnen in gleicher Weise wie den Mitgliedern des eigenen Volkes ndash bdquowie dich selbstldquo ndash zuwenden Die bdquoFremdenldquo sind in der Rechtssprache der Tora Nicht-Juden die dauerhaft im Hei-ligen Land leben Sie sind Buumlrger zweiter Klasse in Israel ndash wie einst Israel in Aumlgypten Desto wichtiger ist das Liebesgebot Die Septuaginta (LXX) uumlbersetzt mit bdquoProselytldquo um die Situation der Diaspora zu beruumlcksichtigen und den zuweilen prekaumlren Status der Konvertiten zum Judentum zu verbessern Im woumlrtlichen Sinn sind die bdquoProsely-tenldquo diejenigen die von auszligen hinzukommen insofern waren fuumlr die griechischen Uumlbersetzer die Israeliten in Aumlgypten bdquoProselytenldquo Wer nur auf der Durchreise ist ist keineswegs rechtlos er genieszligt Gastrecht und Gastfreundschaft4

Die Direktheit und Nachhaltigkeit des Liebesgebotes wird durch die Ausweitung un-terstrichen

deren Heiligkeit aumllter ist als das geschriebene Gesetz

e Das Liebesgebot wird zwar an anderen Stellen des Alten Testament (lange) nicht zitiert gehoumlrt aber in ein Feld aumlhnlicher ethischer Weisungen Es ist beeinflusst und es hat beeinflusst5

f Eine solche Liebe ist nicht storgeacute weil das Volk Gottes die natuumlrlichen Familienban-de uumlberschreitet wiewohl Israel oft genealogisch verstanden wird Sie ist nicht Freundschaft weil die Beziehung die sie kultiviert nicht freiwillig gewaumlhlt und gestal-tet sondern von Gott vorgegeben ist Diese Liebe kann nicht im Eros aufgehen weil sie weniger das Hingerissensein von anderen als die Weggemeinschaft mit ihnen kul-tiviert sie ist Agape weil sie von Gott kommt auch wenn im Kontext nicht expressis verbis von Gottes Liebe die Rede ist Unleugbar aber ist es Liebe zu vergeben und Rachegeluumlsten nicht nachzugeben sondern am Aufbau einer Friedensbeziehung zu arbeiten Nicht das Begehren sondern die Sympathie ist der Motor der Agape Aber sie begehrt verstanden und angenommen zu werden Getragen ist sie von der heili-gen Liebe Gottes ndash und zwar nicht nur weil allein Gott die Kraft geben kann den ers-ten Schritt der Versoumlhnung zu tun sondern weil Gott diejenigen die auf sein Wort houmlren sollen erst zu Houmlrern des Wortes macht und sie in sein Volk hineinstellt das er sich erwaumlhlt hat

Ex 244f ist ein gutes Beispiel fuumlr angewandte Feindes- Dtn 221-4fuumlr aktive Bruderliebe

4 Vgl Helga Rusche Gastfreundschaft im Alten Testament im Spaumltjudentum und in den Evan-gelien in ZMRW 41 (1957) 170-188 5 Vgl Gianni Barbiero ElAsino dell Nemico Rinuncia alla vendetta e amore dell nemico nella legislatione dellAntico Testamento (Es 234-5 Dt 221-4 Lv 1917-18) (AnBib 128) Rom 1991

Thomas Soumlding

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3 Das Liebesgebot im Judentum

a In den alttestamentlichen Spaumltschriften steigt die Bedeutung des Liebesgebotes bull Die Semantik der Septuaginta (mit der Agape als Zentrum) staumlrkt den theolo-

gischen Grundzug durch die explizit gewordene Verbindung mit der Liebe Gottes und der Liebe zu Gott

bull Nach Tob 413 soll die Naumlchstenliebe als Bruderliebe die juumldische Kommunitaumlt in der Diaspora aber auch im Heiligen Land staumlrken deshalb ist das Liebesge-bot mit der Warnung vor einer Mischehe verbunden

bull Nach Jesus Sirach6

o als Liebe zum Sklaven der aufgrund seiner Treue und Bildung als Partner anerkannt werden soll (Sir 721)

wird das Gebot der Naumlchstenliebe in verschiedenen sozia-len Kontexten konkretisiert

o als Konstituierung einer ethischen Maxime die auf die Goldene Regel zulaumluft (Sir 3115)

o als Schaumlrfung des Gewissens fuumlr den caritativen Einsatz fuumlr Arme (Sir 3423-27)

Die Konkretisierungen passen in das Schema weisheitlicher Ethik das im Neu-en Testament auch der Jakobusbrief ausfuumlllt

Die Steigerung der Bedeutung erklaumlrt sich aus zwei Gruumlnden bull einer Personalisierung der Ethik bull und einer Vermittlung juumldischer Ethik die auf Elementarisierung setzt

Die Bedeutungssteigerung erhoumlht die Attraktivitaumlt der juumldischen Ethik in der antiken Welt

6 Vgl Th Soumlding Naumlchstenliebe bei Jesus Sirach

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b Aus der Septuaginta erklaumlrt sich die hohe Aufmerksamkeit fuumlr das Liebesgebot im hellenistischen Judentum Die Testamente der Zwoumllf Patriarchen7 reden haumlufig im ethischen Sinn von Liebe8 nahezu durchweg in der Form direkter oder indirekter Aufforderungen Die TestXII sind eine griechisch uumlberlieferte im 2 Jh von christlicher Hand redigierte aber dem wesentlichen Textbestand nach urspruumlnglich juumldische Schrift deren Wurzeln bis in das 2 Jh v Chr reichen koumlnnen Die Testamente nehmen Gen 49 auf und lassen die 12 Soumlhne Jakobs ihrerseits Abschiedsreden halten9

Lev 1918 wird zwar nicht explizit zitiert aber an vielen Stellen angespielt und durch-weg aktualisiert

Sie arbeiten das Problem der Diaspo-ra auf die als Zerstreuung gesehen und als Strafe Gottes gedeutet wird In dieser Si-tuation kommt es auf den inneren Zusammenhalt der Juden an der nach den Patriarchentestamenten nicht nur rituell sondern auch ethisch begruumlndet werden soll

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7 Aumlltere Standardausgabe RH Charles The Greek Versions of the Testaments of the Twelve Patriarchs Oxford 1908 Nachdruck Darmstadt 1960 Neuere Edition Mde Jonge - HW Hollander - Hde Jonge - Th Korteweg The Testaments of the Twelve Patriarchs A Critical Edition of the Greek Text (PVTG I2) Leiden 1978 Die aramaumlische Version des TestLevi enthaumllt kein Liebesgebot Deutsche Uumlbersetzung J Becker Die Testamente der zwoumllf Patriarchen in JSHRZ III1 (21980)

Es zeigen sich Rezeptionslinien die im Bedeutungsfeld von Lev 1917f bleiben (vgl TestGad 43-8) die Explikation der Heiligkeit daumlmpfen aber den Bezug auf die Nachbarschaften im Gottesvolk Israel nicht aufgeben sondern unter den Bedingungen der Diaspora konkretisieren Nur in TestIss 76 (bdquohellip jeden Menschen hellipldquo) ist eine universalistische Deutung moumlglich

8 Vgl TestRub 69 Sim 447 Iss 52 76 Seb 85 Dan 53 Gad 42(6)7 613 77 Jos 1723 Benj 33ff 435 81 vgl auch Ass 24 Gad 33 (uumlber den Hasser) 46 Jos 175 Benj 82 (uumlber das Verhaumlltnis des Mannes zur Frau) Gad 15 (uumlber Jakobs Vaterliebe zu Joseph) 9 Vgl Th Soumlding Solidaritaumlt in der Diaspora M Konradt Menschen- und Bruderliebe 10 Ganz deutlich ist Gad 42 Dan 51 bezieht sich direkt auf das Gebot und Gesetz (vgl Iss 51) des Herrn und hat dabei augenscheinlich auch Lev 1918 vor Augen Fuumlr den Einfluss des Lie-besgebots sprechen uumlberdies die Formulierungen von Benj 334 Rub 69b bezieht die Liebe zwar direkt auf den Bruder hat aber im parallelen Teilvers 6a den Naumlchsten aumlhnlich liegt der Fall in Dan 52a3b und Gad 61

Thomas Soumlding

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c Auch Schriften die tiefer in Palaumlstina wurzeln nehmen das Liebesgebot auf Das Buch der Jubilaumlen11

11 Die Originalsprache ist hebraumlisch zu den einschlaumlgigen Qumran-Fragmenten vgl JC VanderKam Textual and Historical Studies in the Book of Jubilees (HSM 14) Missoula 1977 Die davon abhaumlngige griechische Uumlbersetzung ist bruchstuumlckhaft erhalten vgl A-M Denis Fragmenta Pseudepigraphorum quae supersunt Graeca una cum Historicorum et auctorum Iudaeorum Hellenistarum Fragmentis collegit et ordinavit (PVTG 3) Leiden 1970 70-102 Die auf der griechischen Uumlbersetzung fuszligende aumlthiopische Fassung die in den gemeinsam uumlberlie-ferten Partien der Qumran-Version sehr genau entspricht hat ediert RH Charles Mashafa Kufacirclecirc or the Ethiopic Version of the Hebrew Book of Jubilees (Anecdota Oxoniensia) Oxford 1895 Deutsche Uumlbersetzung Klaus Berger Das Buch der Jubilaumlen in JSHRZ II3 (1981)

im 2 Jh vor Chr geschrieben protestiert gegen die Korrup-tion des Makkabaumlerstaates es tritt mit dem Anspruch auf Mose auf dem Sinai offen-bart worden zu sein (Jub 11-29) es will einem Israel das einer schleichenden Hellenisierung verfaumlllt neue Identitaumlt verleihen indem es den Blick auf die normative Anfangszeit die Zeit der Vaumlter und des Mose lenkt und von ihr her eine authentische Halacha entwickelt die es erst ermoumlglicht gerecht zu leben (Jub 2326-31) Zum his-torischen Paradigma wird der Bruderstreit zwischen Jakob und Esau (Jub 3420 - 392a) Das Liebesgebot ndash Lev 1918 wird nicht direkt aber indirekt zitiert ndash hat eine qualitativ groszlige Bedeutung weil es uumlber die Klaumlrung halachischer Fragen hinaus den Geist wie die Praxis des Zusammenhaltes schaumlrft allerdings nicht allein oder als Krouml-nung sondern im konstitutiven Verbund mit anderen ethischen Prinzipien wie Ge-rechtigkeit Die Verzeihung die Joseph den Bruumldern gewaumlhrt macht ihn zum ethi-schen Vorbild dem es nachzueifern gilt Die Pflicht zur Liebe endet aber dort wo es sich nicht mehr nur um persoumlnliche Gegnerschaft sondern um Konflikte mit Frevlern handelt die dem Gebot Gottes grundlegend zuwiderhandeln Eine universalistische Ausweitung der Bruderliebe fasst Jub 202 ins Auge Zwar bezieht sich das Liebesge-bot direkt nur auf die herbeigerufenen Kinder und Enkel Abrahams aber unter ihnen finden sich namentlich genannt auch Ismael mit seinen zwoumllf Kindern und die Kinder der Ketura mit ihren Soumlhnen (Jub 201) Dadurch wird bereits der juumldische Rahmen gesprengt Uumlberdies baut die Formulierung eine Verbindung zwischen Bruderliebe und Menschenliebe auf Im ethischen Nahbereich koumlnnen auch Nicht-Juden Naumlchste werden

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d Die Schriften aus Qumran12 enthalten in zwei Corpora bedeutende Zeugnisse einer Naumlchstenliebe die sich innerjuumldisch aus dem Konflikt mit Frevlern als Gegenstuumlck zum Feindeshass erklaumlrt13

bull Die Gemeinderegel (1QS vgl 1QSa) beschreibt das Zusammenleben einer juuml-dischen Reformbewegung die sich in striktem Gegensatz nicht nur zu den Heiden sondern auch zu den Priestern in Jerusalem als wahres Israel konsti-tuieren abseits vom Tempel Die Forschung diskutiert die Beziehung zu den Esseacutenern uumlber die Philo von Alexandrien (15 v Chr - 40 n Chr ) in seiner Schrift uumlber die Freiheit des Tuumlchtigen (Quod omnis probus liber sit 72-91) der juumldische Historiker Flavius Josephus (3738 - 100 n Chr) in seinen Buuml-chern uumlber den juumldischen Krieg (De bello Judaico 2 119-161) und die Ge-schichte Israels (Antiquitates Judaicae 181118-22) sowie der roumlmische Ge-lehrte Plinius der Aumlltere (23-79 nChr) in seiner Naturgeschichte (Naturalis historia 573) berichten

Fuumlr die Gemeinderegel ist ein religioumlser Dualismus zwischen den bdquoSoumlhnen des Lichtesldquo und den bdquoSoumlhnen der Finsternisldquo wesentlich Er entsteht durch den Frevel derjenigen die das Heilige wahren sollen er wird von Gott sanktio-niert Entscheidend ist in einem aufwendigen Konversionsverfahren den Weg aus der massa damnata in Israel zur Kommunitaumlt der Frommen zu finden um so der Gnade der Rechtfertigung teilhaftig zu werden Die Zugehoumlrigkeit zur Gemeinschaft zeigt sich im Ritus und im Ethos Das Ethos ist durch Naumlchstenliebe strukturiert (1QS 13f9ff 224 5425 82 91621 1026) Sie ist im Kern Zustimmung zu der Erwaumlhlung und Vergebung die dem Mitbruder wie der eigenen Person zuteil geworden ist Deshalb ent-spricht der Naumlchstenliebe der Feindeshass Er ist im Kern Ablehnung und Dis-tanzierung die aber gerade nicht durch Gewalt sondern durch strikte Gewalt-losigkeit strukturiert wird damit das Gesetz des Handelns nicht von den Frev-lern sondern den Gerechten bestimmt wird (1QS 1017f)

bull Die Hymnenrolle (1QH) sammelt Psalmen die den Kampf der Guten gegen die Boumlsen der Gerechten gegen die Ungerechten verherrlichen Die Sprache ist militaumlrisch der Stil metaphorisch Die Spiritualitaumlt passt zur Ekklesiologie und Ethik der Gemeinderegel aber welchen genauen Bezug es gibt ist in der Qumran-Forschung strittig Entscheidend ist Gott fuumlr die eigene Erwaumlhlung zu preisen Das dankbare Gotteslob spiegelt sich in der Abscheu vor dem und den Boumlsen Liebe ist Zu-stimmung zur Liebe Gottes Hass Zustimmung zum Hass Gottes (1QH 142-8)

Die beiden Corpora stammen aus vorchristlicher Zeit Sie dokumentieren die Zerris-senheit des Judentums in Palaumlstina aber auch den Reformeifer derer die ein heiliges Israel erneuen wollen 12 Deutsche Uumlbersetzungen E Lohse Die Texte aus Qumran Hebraumlisch und Deutsch Muumln-chen 21971 K Schubert - J Maier Die Qumran-Essener Texte der Schriftrollen und Lebensbild der Gemeinde (UTB 224) Muumlnchen - Basel 1982 143-312 Zur Tempelrolle vgl die Ausgabe von Y Yadin Megillat ham-Miqdas The Temple Scroll (Hebrew Edition) Bde I-IIIa Jerusalem 1977 deutsche Uumlbersetzung J Maier Die Tempelrolle vom Toten Meer (UTB 829) Muumlnchen - Basel 1977 13 Vgl Th Soumlding Feindeshass und Bruderliebe

Thomas Soumlding

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4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)

a Das Doppelgebot der Naumlchstenliebe uumlberliefert das Neue Testament bei den Synop-tikern in drei Fassungen

bull Markus erzaumlhlt von einem Konsensgespraumlch uumlber das groumlszligte Gebot zwischen Jesus und einem Schriftgelehrten in Jerusalem (Mk 1228-34) die Antwort Je-su eine Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 fuumlhrt zu einer Verstaumlndi-gung

bull Matthaumlus stimmt in der Thematik der Frage der Ortsangabe und der Kombi-nation beider Liebesgebote mit Markus uumlberein (Mt 2234-40) macht aber aus dem Konsens- ein Streitgespraumlch Jesus wird von einem Gesetzeslehrer auf die Probe gestellt und besteht die Herausforderung glaumlnzend indem er das Doppelgebot formuliert

bull Lukas kennt in seiner Version (Lk 1025-37) gleichfalls die Kombination er uumlberliefert wie Matthaumlus einen bdquoGesetzeslehrerldquo ndash nicht wie Markus einen bdquoSchriftgelehrtenldquo ndash als Partner und erzaumlhlt ndash wie Matthaumlus anders als Mar-kus ndash von einem Konfliktgespraumlch Aber bei ihm findet der Dialog auf dem Weg Jesu nach Jerusalem statt (Lk 951 - 1927) die Frage zielt auf das ewige Leben (wie in Mk 1017 par Mt) der Dialog spitzt sich auf die Frage nach dem Naumlchsten zu die Jesus mit dem Samaritergleichnis beantwortet

Die markinische Version ist (nach der Zwei-Quellen-Theorie) die aumllteste Matthaumlus laumlsst sich als Kuumlrzung und Zuspitzung lesen Ob aber Lk 1025-37 sich als Markus-Redaktion erklaumlren laumlsst ist fraglich Womoumlglich hat es ndash durch Q ndash eine Doppeluumlber-lieferung gegeben die eine Kontroverse mit einem Gesetzeslehrer enthalten hat Noch wahrscheinlicher ist dass es von Anfang verschiedene Versionen gegeben hat die von den Evangelisten unterschiedlich rezipiert worden ist In jedem Fall bezeugt die Breite der Uumlberlieferung dass das Liebesgebot fuumlr Jesus typisch gewesen ist

b In allen Versionen des Doppelgebotes gibt es gemeinsame Charakteristika bull die Form des Gespraumlches in der das Doppelgebot entwickelt wird bull den Bezug auf das Gesetz bei Markus (1228) und Matthaumlus (2236) durch die

Jesus gestellte Ausgangsfrage bei Lukas durch die Ruumlckfrage Jesu (1026) bei Matthaumlus durch den Schlusssatz Jesu unterstrichen (2240)

bull die Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 ad vocem Agape bull die Abfolge dass zuerst das Hauptgebot der Gotteslebe (Dtn 64f) dann das

Gebot der Naumlchstenliebe (Lev 1918f) kommt obwohl die kanonische Reihen-folge eine andere ist

Diese Charakteristika sind der Kernbestand der Tradition sie muumlssen zu Eckpfeilern der Interpretation werden

c Die unterschiedlichen Gespraumlchssituationen haben ihre eigene Logik bull Markus will zeigen dass es zu einer fundierten und breiten Verstaumlndigung Je-

su mit den Schriftgelehrten haumltte kommen koumlnnen auf der Basis der Tora bull Matthaumlus will zeigen dass die Hierarchisierung der Gebote strittig war und

geblieben ist bull Lukas will herausarbeiten dass das Doppelgebot Fragen stellt die Jesus be-

antworten kann Die unterschiedlichen Logiken koumlnnen nicht gegeneinander ausgespielt aber jeweils in das Evangelium eingeordnet werden in dem sie sich befinden

16

d Alle Versionen bestimmen die Tora als Basis des Dialoges Alle bleiben im Rahmen juumldischer Hermeneutik Schrift legt Schrift aus Alle erweisen sich im religionsge-schichtlichen Vergleich als typisch jesuanisch

bull Einerseits gibt es im Judentum eine lebhafte Debatte aus didaktischen und theologischen Gruumlnden zu einer Hierarchie der Gebote zu gelangen In dieser Debatte ragt das Liebesgebot heraus Es gibt aber immer auch starke Kontro-versen uumlber die Richtigkeit und Guumlltigkeit solcher Elementarisierungen

bull Anderseits steht Jesus nicht gegen die Tora sonder erfuumlllt sie (vgl Mt 517-20) Dese Erfuumlllung hat eine spezifische Qualitaumlt diese Qualitaumlt bezeichnet das Liebesgebot das Jesus selbst praktiziert

Das Doppelgebot bricht nicht aus dem Gesetz aus sondern schlieszligt es auf

e Im fruumlhen Judentum gibt es keine direkte Parallele zum jesuanischen Doppelgebot Aber es gibt eine ganze Reihe von strukturaumlquivalenten Formulierungen sowohl im palaumlstinischen wie auch im hellenistischen Judentum Zum Teil sind sie direkt als Ge-bot einer doppelten Liebe zum Teil mit Varianten vor allem der Gottesfurcht gebil-det Diese Parallelen erhellen den juumldischen Kontext in dem das Doppelgebot steht Auffaumlllig ist in der Jesustradition zweierlei

1 die direkte Schriftzitation 2 der explizite Bezug zur Tora der reflektiert wird

Beides spiegelt die Programmatik der jesuanischen Position

f Die Struktur der Tradition leitet in jeder Variante von der Gottes- zur Naumlchstenliebe und bindet das Liebesgebot zusammen

bull Es gibt keine Gottesliebe ohne Naumlchstenliebe weil Gott den es zu lieben gilt nicht nur die Person liebt die lieben soll sondern auch diejenige die geliebt werden soll Diese Liebe Gottes als Basis ist im Doppelgebot nicht expliziert aber impliziert

o in der Einzigkeit Gottes so wie sie in der Bibel Israels und in der Jesus-tradition als Qualifikation des Schoumlpfers und Erhalters des Versoumlh-ners und Vollender entfaltet wird

o im Wort Agape das eo ipso von der Liebe Gottes gespeist wird Das Doppelgebot ist das beste Gegengift gegen Heuchelei

bull Es gibt keine Naumlchstenliebe ohne Gottesliebe ndash nicht weil es keine Ethik keine Menschlichkeit kein Mitleid und keine Solidaritaumlt ohne Gottesliebe gaumlbe (im Gegenteil) sondern weil die Naumlchstenliebe wie sie alt- und neutestamentlich expliziert wird den Naumlchsten als die von Gott geliebte Person liebt also Ein-stimmung in die Liebe Gottes ist die nur in der Liebe zu Gott explizit beant-wortet werden kann

bull Es gibt einen Primat der Gottes- vor der Naumlchstenliebe ndash nicht weil die Got-tes- wichtiger als die Naumlchstenliebe waumlre sondern weil Gott der Schoumlpfer all derer ist die lieben und geliebt werden sollen und sie alle zur Teilhabe an seiner Liebe fuumlhren will

Die Einheit der Gottes- und Naumlchstenliebe ist keine Identitaumlt sondern eine Spannung die ein hohes Energiefeld aufbaut

g Das Doppelgebot selbst enthaumllt keine Konkretion steht aber in den Evangelien die sich in die Tradition des Alten Testaments stellen und wird dadurch einerseits zum Kompass durch die Tora andererseits zum Katalysator von Aktualisierungen die pa-radigmatisch von Jesus angesprochen werden

Thomas Soumlding

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5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)

a Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter antwortet auf die wichtige Frage bdquoWer ist mein Naumlchsterldquo (Lk 1025-37)

bull Die Frage ist wichtig weil es um die Konkretionen der Liebe geht und Lev 1917f eine klare Antwort gibt Die Naumlchsten sind die Mit-Glieder des Gottes-volkes Hinzu treten die bdquoFremdenldquo (Lev 1934) die dauerhaft in Israel inte-griert sind nach der Septuaginta die Proselyten Die Konzentration auf diese Naumlchsten ist theologisch durch die gemeinsame Berufung des Volkes zur Hei-ligkeit begruumlndet Sie bewaumlhrt sich in Konflikten umfasst also de facto auch Feindesliebe

bull Die Frage wird von Jesus mit einer Geschichte beantwortet die auf provokan-te Weise einen Samariter zu einem Vorbild werden laumlsst Dass Jesus mit ei-nem Gleichnis antwortet setzt auf die argumentative Kraft einer Erzaumlhlung die nicht nur eine Welt vor Augen stellen sondern auch eine Sache klaumlren kann und zwar so dass Anteilnahme entsteht eine Verstrickung in die Ge-schichte durch Dramatik und Identifikation

Die Antwort auf die Frage wird nicht ohne ihre Umkehrung gegeben bdquoWer hellip ist zum Naumlchsten dessen geworden der unter die Raumluber gefallen istldquo (Lk 1036) Damit wird die Ausgangsfrage nicht desavouiert sondern konkretisiert Wer nach dem Naumlchsten fragt fragt auch nach sich selbst Und wer sich selbst von Naumlchsten umgeben weiszlig denen er verpflichtet ist muss selbst zum Naumlchsten derer werden wollen die auf Hilfe angewiesen sind

b Die Geschichte gehoumlrt zum Doppelgebot das bei Lukas (1025ff) wie bei Matthaumlus (2235-40) ein Streitgespraumlch ist waumlhrend es bei Markus ein Konsensgespraumlch ist (Mk 1228-34) Lukas hat es in die Zeit des oumlffentlichen Wirkens Jesu vorgezogen und kompositorisch konkretisiert

bull Mit einem bdquoGesetzeslehrerldquo trifft Jesus auf seinem Weg einen Experte fuumlr die Frage die er stellt

bull Das Doppelgebotsthema wird nicht nur durch das Samaritergleichnis sondern auch durch die Fortsetzung konkretisiert

o Die Beispielgeschichte Lk 1030-35 thematisiert das Tun (Lk 1037) o Die folgende Geschichte von Maria und Martha akzentuiert das Houmlren

(Lk 1038-42) o Die anschlieszligende Gebetslehre konkretisiert jene Gottesliebe die aus

dem Houmlren zum Sprechen fuumlhrt mit dem Vaterunser als Kern Durch die Komposition wird die Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe unter-strichen

Die Szenerie unterstreicht die Brisanz der Frage nach der Geltung des Gesetzes und erhoumlht damit den Stellenwert des Gleichnisses damit aber auch die Praumlgnanz des Samariterbildes Jesu

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c Der gesamte Text hat eine dialogische Struktur 1 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach dem Sinn des Lebens (Lk 1025) 2 Jesus fragt zuruumlck indem er auf das Gesetz verweist (1026) 3 Der Gesetzeslehrer zitiert das Doppelgebot (Lk 1027) 4 Jesus bestaumltigt und fordert zur Praxis (Lk 1028) 5 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach der Identitaumlt des Naumlchsten (Lk 1029) 6 Jesus fragt zuruumlck indem er das Gleichnis erzaumlhlt (Lk 1030-36) 7 Der Gesetzeslehrer gibt die richtige Antwort (Lk 1037a) 8 Jesus fordert zum Handeln (Lk 1037b)

Jesus agiert im sokratischen Stil Er laumlsst den Fragesteller selbst die Antwort finden ndash nicht irgendwo sondern im Gesetz und in seinem Gewissen Das spiegelt fuumlr Lukas die Uumlberlegenheit Jesu und die Menschlichkeit seiner Ethik

d Das Gleichnis arbeitet mit einem scharfen Kontrast bull Auf der einen Seite stehen der Priester und der Levit Repraumlsentanten des Ju-

dentums Sie muumlssten genau wissen was zu tun ist Sie haben wenn sie wie der Verletzte auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho sind auch keinen Grund sich aus kultischen Uumlberlegungen um sich nicht zu verunreinigen an einem vorbeizugehen von dem sie glauben dass er tot sei wenn sie auf dem Weg zuruumlck sind ist fuumlr die ggf erforderliche rituelle Reinigung genuumlgend Zeit

bull Auf der anderen Seite steht der Samariter dem man es am wenigsten zutrau-en wuumlrde dass er tut was recht ist Dessen Rolle wird aber von Jesus stark betont nicht nur durch den Kontrast sondern auch dadurch dass er weit uumlber die Erste Hilfe hinaus mehr als genug tut um dem Verletzten zu helfen Er selbst leistet den sprichwoumlrtlich gewordenen Samariterdienst und treibt ungewoumlhnlich intensive Vorsorge dass der Mann nachhaltig gesundet ndash nach allen Regeln der (damaligen) aumlrztlichen Kunst

Dieser Kontrast war den Menschen sowohl zur Zeit Jesu als auch zur Zeit des Evange-listen Lukas deutlich Lk 952-56 hat ihn frisch in Erinnerung gerufen

e Jesus laumlsst durch die Kunst seiner narrativen Argumentation dem Gesetzeslehrer keine Chance nicht von seiner Antwort uumlberzeugt zu werden die seinen eigenen mo-ralischen Standpunkt veraumlndert Alle Menschen die ein Herz im Leibe haben werden erkennen dass nicht der Priester nicht der Levit sondern ausgerechnet der feindli-che der bdquohaumlretischeldquo Samariter das einzig Richtige getan hat indem er dem unter die Raumluber gefallenen Menschen geholfen hat Das aber ist schon der erste Schritt in die Richtung die Jesus den Menschen zeigt damit sie Gott und den Naumlchsten neu entde-cken koumlnnen Wer aber nicht nur tatkraumlftig wie der Samariter hilft sondern als Jude weiszlig dass er ihn wegen seiner Naumlchstenliebe nachahmen sollte hat eine Grenze uumlberschritten die durch das Nahekommen der Basileia durchlaumlssig geworden ist Der Gesetzeslehrer versperrt sich dieser Lektion nicht Er ist deshalb ein positives Beispiel

Literatur Andregrave Lacoque Lhermeacuteneutique de Jeacutesus au sujet de la loi dans la Parabole du Bon Samari-

tain in Etudes theacuteologiques et religieuses 78 (2003) 25-46

Ruben Zimmermann Die Etho-Poietik des Samaritergleichnisses (Lk 1025-37) Eine Ethik des Schauens in einer Kultur des Wegschauens in Wort und Dienst 29 (2007) 51-69

Thomas Soumlding

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6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)

a Die fuumlnfte und sechste Antithese bilden bei Matthaumlus den Houmlhepunkt der Reihe die sich am Dekalog orientiert in der Feldrede bei Lukas markiert das Gebot der Feindes-liebe den Mittelpunkt der Ethik Die Feindesliebe bezeichnet in groumlszligter Konsequenz den Standpunkt der Moralitaumlt steht aber auch im Brennpunkt der Kritik

bull Ist Gewaltlosigkeit wuumlrdelos verantwortungslos kraftlos So Nietzsche14

bull Ist Feindesliebe unrealistisch So der gesunde Menschenverstand und das Ur-teil professioneller Politik

15 So auch der juumldische Einwand16 den zuletzt Jacob Neusner vorgetragen hat17

Die antithetische Form bei Matthaumlus zeigt das Potential der Kontroverse Es ist nicht das Ziel der Exegese sie aufzuloumlsen sondern sie auszuloumlsen

b Der Blick in die Synopse zeigt im Vergleich mit Lk 627-36 zweierlei bull Die antithetische Form ist ndash hier wie sonst ndash ein matthaumlisches Spezifikum Sie

dient der Profilierung der Ethik Jesu im Gegenuumlber zur Tora ndash unter dem Vor-zeichen der Erfuumlllung (Mt 517-20)

bull Bei Lukas ist Gewaltverzicht direkter Ausdruck der Feindesliebe Matthaumlus dif-ferenziert und kombiniert um zu akzentuieren

Die Synopse fordert bei der lukanischen Uumlberlieferungsform anzusetzen aber die matthaumlische Variante nicht als sekundaumlr abzutun sondern als Reflex jesuanischer Konkretionen in den Blick zu nehmen

c Das Gebot der Feindesliebe tradiert uumlber die Redenquelle (Q) ist Urgestein und Herzstuumlck der Ethik Jesu18

14 Also sprach Zarathustra III 21 (Werke VI1) bdquoIch sollte nur Feinde haben die zu hassen sind aber nicht Feinde zum Verachten ihr muumlsst stolz auf euren Feind sein (260)ldquo

Die Stellung in der matthaumlischen Bergpredigt und der luka-nischen Feldrede zeigt dass im Urchristentum diese zentrale Bedeutung gesehen und tradiert worden ist Paulus reflektiert sie in Roumlm 129-21 Auch im johanneischen Kon-zept der Bruderliebe ist sie vorausgesetzt

15 Max Weber Politik als Beruf (1919) in ders Gesammelte politische Schriften hg v J Winckelmann Tuumlbingen 31971 505-560 bdquoMit der Bergpredigt ist es eine ernstere Sache als die glauben die diese Gebote heute gern zitieren Wenn es in Konsequenz der akosmistischen Liebesethik heiszligt dem Uumlbel nicht widerstehen mit Gewaltlsquo ndash so gilt fuumlr den Politiker der Satz du sollst dem Uumlbel gewaltsam widerstehen sonst ndash bist du fuumlr seine Uumlberhandnahme verantwortlich (550f)ldquo 16 Der Jude Tryphon plaumldiert nach Justin dial 52 bdquoIch weiszlig auch dass eure Lehren die in dem sogenannten Evangelium stehen so erhaben und groszlig sind dass wie ich meine kein Mensch sie beobachten kannldquo 17 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 Neuausgabe Frei-burg - Basel - Wien 2007 (engl 1993) Neusner praumlzisiert Jesus maszlige sich das Recht Gottes an so zu sprechen wie es die Bergpredigt uumlberliefert 18 Th Soumlding Die Verkuumlndigung Jesu 570-583

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d Nach Lk 6 sind alle Houmlrer der Botschaft Jesu zur Feindesliebe gerufen In erster Linie sind es seine Juumlnger als stellvertretende Adressaten der Seligpreisungen und Weherufe (Lk 620-26) Lukas sieht die Kirche als Ort wo primaumlr die Feindesliebe ver-wirklicht sein will gerade auch gegenuumlber Nicht-Christen (und berichtet in der Apos-telgeschichte dass dies in der Urgemeinde auch geschehen sei) Nach Matthaumlus hat Jesus direkt seine Juumlnger angesprochen (Mt 51f) ndash aber so dass alles Volk (vgl 423ff) es houmlren und daruumlber staunen kann (Mt 728f) Die Pointe ist missionstheologisch Wenn die Juumlnger ausziehen alle Voumllker ihrerseits zu Juumlngern zu machen sollen sie nicht nur taufen sondern auch lehren bdquoalles zu haltenldquo was Jesus ihnen bdquogebotenldquo hat (Mt 2818ff)

d Die Feindschaften die Jesu Gebot anspricht sind so paradigmatisch ausgewaumlhlt und scharf zugespitzt dass prinzipiell jede denkbare Feindschaft im Blick stehen muss Es werden die empoumlrendsten Formen paradigmatisch konkretisiert

bull religioumlse Verfolgung (Lk 628 Mt 544) bull koumlrperliche Gewalt selbst wenn sie demuumltigen soll (Lk 628f Mt 539) bull wirtschaftliche Ausbeutung auch wenn sie sich den Anschein des Rechts gibt

(Mt 540) bull politisch-militaumlrische Unterdruumlckung auch wenn sie schier uumlbermaumlchtig

scheint (Mt 541) Jede denkbare Grenze der Feindesliebe wird uumlberschritten der Familie und Ver-wandtschaft des Freundeskreises der Glaubensgenossen der (mehr oder weniger) Guten der Angehoumlrigen des eigenen Volkes (vgl Lk 1025-37)

e Die Feindesliebe zeigt sich in den gleichfalls paradigmatischen Konkretisierungen bull als Fuumlrbitte fuumlr die Verfolger (Lk 628 par Mt 544) und Segnen der

Blasphemiker (Lk 628) ndash im Gegensatz zum Verfluchen und zur Bitte um ihre Vernichtung durch Gottes Strafgericht

bull als aktiver Gewaltverzicht gegenuumlber erlittener Uumlbermacht (Lk 629 Mt 538-42) ndash im Gegensatz dazu Unrecht mit gleicher Muumlnze heimzuzahlen

bull als selbstlose Unterstuumltzung der Armen auch wenn deren Bitten laumlstig faumlllt (Lk 630) ndash im Gegensatz zum Kalkuumll des do ut des

bull als engagierter Einsatz fuumlr das Gute (Lk 62733) ndash im Gegensatz zu einem Mitmachen wie zur Resignation

Feindesliebe ist nicht passiv sondern aktiv Sie kreiert eine neue Situation In diesen Konkretisierungen erhellt die Feindesliebe als radikalisierte Naumlchstenliebe (Lev 1917f) die im Kontext der Gottessliebe steht (Mk 1228-34 parr) Sie ist nicht das Einverstaumlndnis mit Unrecht Schuld und Schwaumlche schon gar nicht schwaumlchliches Hinnehmen von Unrecht sondern im Gegenteil starkes aber deshalb auch leidensfauml-higes Eintreten dafuumlr Boumlses durch Gutes zu uumlberwinden (Roumlm 1221)

Thomas Soumlding

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h Die Feindesliebe ist theologisch begruumlndet und motiviert bull Der theologische Grund ist das Handeln Gottes selbst der als Schoumlpfer und Er-

loumlser permanent Feindesliebe praktiziert (Lk 635 Mt 545 vgl Roumlm 55ff) o Mit dem Blick ins Buch der Natur zeigt Jesus nach Matthaumlus Gott als

den der auch den Boumlsen und Ungerechten das Leben schenkt weil er will dass sie leben (nicht weil er will oder toleriert dass sie Boumlses und Unrechtes tun)

o Der Vergleich mit dem aumlhnlichen Motiv bei Seneca der (nicht zu Feindesliebe aber) zu groszligmuumltiger Gelassenheit gegenuumlber Feinden mahnt macht den Unterschied deutlich denn nach ihm kann Gott nicht anders als die Unterstuumltzung der Boumlsen in Kauf zu nehmen wenn er den Guten helfen will ndash wofuumlr er sich entscheidet weil das Gute mehr wert ist als das Boumlse

bull Das theologische Motiv ist die Nachahmung Gottes die imitatio Dei (Lk 636 Mt 548) der die Verheiszligung ewigen Lebens gilt des bdquoLohnesldquo der in der Gotteskindschaft besteht

In dieser Theozentrik ist die Feindesliebe Zustimmung zu der Liebe mit der Gott auch die Ungerechten und Suumlnder liebt ndash ohne ihre Suumlnde gutzuheiszligen aber auch ohne ihnen wegen ihrer Schuld seine Zuwendung zu entziehen

i Das Gebot der Feindesliebe ist angewandte Christologie bull Einerseits ist es Jesus der das Gebot ndash nach Matthaumlus im Gegensatz zur herr-

schenden Auslegung des atl Liebesgebotes ndash der Feindesliebe aufstellt bull Andererseits ist es Jesus der das Gebot umfassend verwirklicht ndash vorbildlich

in seinem Leiden heilbringend in seiner Lebenshingabe aus reiner Liebe

f Das bdquoAuge um Auge Zahn um Zahnldquo (Ex 2124) begrenzt die Vergeltung das bdquoIch aber sage euchldquo aktiviert zur Versoumlhnung Das alttestamentliche Gebot der Naumlchstenliebe umfasst innerhalb Israels Feindesliebe (Lk 1917f) und weitet sie aus (Lev 1934) Das bdquoIch aber sage euchldquo setzt sich von einer Auslegung ab die aus Sorge um Gottes Gerechtigkeit die Grenzen der Erloumlsung zu eng zieht Dafuumlr gibt es Beispiele in Qumran Der originaumlre Bezug des Gebotes der Naumlchstenliebe auf das Volk Gottes wird nicht aufgegeben aber ausgeweitet

bull In der Juumlngerschaft ist ndash in Israel und uumlber Israel hinaus ndash der Ort an dem die Feindesliebe so praktiziert werden soll dass sie ausstrahlt (vgl Mt 513-16)

bull Zum Volk Gottes gehoumlren nicht nur die Juden und alle die an Jesus glauben Gott hat vielmehr Jesus (nach Matthaumlus wie nach Lukas) deshalb gesendet damit durch seinen Dienst am Heil der Menschen der reine Feindesliebe ist alle Voumllker zu seinem Volk werden Die Kirche repraumlsentiert und realisiert stellvertretend diese Heilsuniversalitaumlt Ihre Feindesliebe konkretisiert sie ethisch

Feindesliebe durchbricht das Prinzip der Vergeltung ohne das Prinzip der Gerechtig-keit aufzugeben Das ist nur deshalb sittlich erlaubt und geboten weil das Gebot in der Liebe Gottes selbst begruumlndet ist die sich in der Feindesliebe Jesu realisiert die ihrerseits der theologische Nerv seines Lebens und Sterbens zur Erloumlsung der Suumlnder ist

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j Das psychologische Problem das Sigmund Freud scharf markiert hat19

Das ethische Problem das Fjodor Dostojewksi (Die Bruumlder Karamasow) Iwan in den Mund legt lautet

besteht da-rin dass blinde Aggressionen entwickelt wer sich moralisch uumlberfordert Dieses Prob-lem laumlsst sich wohl nur spirituell loumlsen in der Nachfolge Jesu die auf seine Kraft setzt in den Nachfolgern das Gute zu tun

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k Das Problem der Erfuumlllbarkeit der Bergpredigt und speziell des Gebotes der Fein-desliebe bewegt Theologie und Kirche seit aumlltester Zeit Eine erhebliche Verschaumlrfung des Problems geschieht durch eine moderne Emotionalisierung der Feindesliebe Wird sie aber als Ausdruck der Agape verstanden begruumlndet sie ndash in der Nachfolge Jesu ndash eine Praxis des Glaubens aus der Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe Als solche kann sie durchaus eingeuumlbt ausgebildet und gefestigt werden Sie setzt die Suche nach dem besten Weg der Verwirklichung nicht aus sondern ein Sie entspricht aber darin der Gottebenbildlichkeit aller Menschen und der Gotteskindschaft der zu Erloumlsenden dass sie an der Unbedingtheit der Bejahung die Gott ihnen zuteilwerden laumlsst Anteil hat

dass Feindesliebe letztlich Kumpanei mit den Taumltern auf Kosten der Opfer sei Dieses Problem das haumlufig nicht gesehen wird laumlsst sich nur soteriolo-gisch loumlsen weil derjenige der selbst aus reiner Liebe die Schuld der anderen ertra-gen und vergeben hat das Reich Gottes als umfassende Vollendung von Gerechtig-keit Friede und Freude (Roumlm 1417) verwirklicht

19 Das Unbehagen in der Kultur in Gesammelte Werke 14 London 1948 419-506 468-475493-506 (Abschnitte V VIII) bdquoNachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte war die aumluszligerste Intoleranz des Christentums gegen die drauszligen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge gewordenldquo (374) 19 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 20 bdquoSchlieszliglich will ich auch gar nicht dass die Mutter den Peiniger umarmt der ihren Sohn von Hunden zerreiszligen lieszlig Sie darf sich nicht unterstehen ihm zu verzeihen Wenn sie will mag sie verzeihen soweit es sie selber angeht sie mag dem Peiniger ihr maszligloses Mutterleid ver-zeihen aber die Leiden ihres zerfleischten Kindes zu verzeihen hat sie kein Recht sie darf es nicht wagen dem Peiniger zu verzeihen auch wenn das Kind selber ihm verzieheldquo (Muumlnchen 1958 330f

Thomas Soumlding

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7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)

71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20) a Mit der Fuszligwaschung21

b Die Fuszligwaschung ist das Zeichen der Passion Ihr folgen Gespraumlche mit den Juumln-gern die zwar von Jesus gewaschen und gereinigt sind aber groumlszligte Schwierigkeiten haben zu verstehen was sich tut

beginnt der 2 Hauptteil des Johannesevangeliums Das oumlffentliche Wirken ist abgeschlossen Jesus konzentriert sich auf seine Juumlnger bevor er oumlffentlich hingerichtet werden wird Er bereitet sie auf seine Passion und seine Auferstehung vor die den Weg zu Gott bahnen werden

bull Auf die Fuszligwaschung folgt zuerst eine Trias unmittelbarer Konsequenzen o Judas wird als Verraumlter identifiziert und verlaumlsst den Juumlngerkreis (Joh

1321-30) o Die Juumlnger werden zur wechselseitigen Liebe gemahnt (Joh 1331-35) o Petrus wird seine Verleugnung vorhergesagt (Joh 1336ff)

bull Auf die Fuszligwaschung folgen ausfuumlhrliche Abschiedsworte (Joh 14-16) die in ein Abschiedsgebet muumlnden (Joh 17)

c Joh 131-20 ist uumlbersichtlich aufgebaut

Joh 131 Der Hintergrund Joh 132-5 Die Fuszligwaschung beim Mahl 132 Die Situation 133ff Die Handlung Jesu Joh 136-11 Das Gespraumlch mit Petrus 136 Der erste Einwand des Petrus 137 Die erste Antwort Jesu 138a Der zweite Einwand des Petrus 138b Die zweite Antwort Jesu 139 Der dritte Einwand des Petrus 1310 Die dritte Antwort Jesu 1311 Kommentar des Evangelisten Joh 1312-20 Die Deutung vor allen Juumlngern 1312-17 Die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu 1318f Die Ansage eines Verrates 1320 Die Juumlnger als Apostel

21 Vgl Luise Abramowski Die Geschichte von der Fuszligwaschung in Zeitschrift fuumlr Theologie und Kirche 102 (2005) 176-203

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d Die Exegese diskutiert in welchem Verhaumlltnis die beiden Deutungen zu einander stehen Die erste ist soteriologisch die zweite ethisch ausgerichtet

bull Recht oft wird aus der Doppelung auf ein literarisches Wachstum des Textes geschlossen

o Moumlglichkeit 1 Die soteriologische Deutung ist die aumlltere die paraumlnetische die se-kundaumlre22

o Moumlglichkeit 2 Die ethische Deutung ist urspruumlnglich die soteriologisch nachtraumlglich zwischengeschoben

23

Beide Ansaumltze sind von weitereichenden Voraussetzung zur relativen Chrono-logie des Corpus Johanneum gepraumlgt

o Wer den Ersten Johannesbrief fuumlr aumllter erachtet wird die ethische Deutung fuumlr urspruumlnglich halten

o Wer das Evangelium fuumlr aumllter erachtet wird eher die soteriologische Deutung als originaumlr einschaumltzen

Die ethische Deutung wird dann fuumlr sekundaumlr zu erachten wenn man zu dem Urteil gelangt die johanneische Theologie sei urspruumlnglich wenig konkret und eher spirituell ausgerichtet waumlhrend erst sekundaumlr Johannes gesamtkirchlich eingenordet worden sei Beide Ansaumltze gehen von einem literarischen Schichtenmodell aus das der Ei-genart johanneischer Literatur in den Evangelienerzaumlhlungen nicht angemes-sen ist Beide werden durch das Modell einer bdquorelectureldquo gemildert das ndash aumlhnlich wie in der Prophetenexegese des Alten Testaments ndash mit einer Fortschreibung der Texte rechnet aber sie zugleich als vergegenwaumlrtigende Aneignung des vor-gegebenen Textes versteht24

bull Es mehren sich wieder die Stimmen die Joh 13 als literarisch einheitlich anse-hen

Allerdings stoumlszligt dieses Modell auf die Schwie-rigkeit dass das Liebesgebot das die ethische Deutung vorbereitet in Joh 1331-35 dominant ist und nicht nur in Joh 15-16 ausgefuumlhrt sondern auch in Joh 1421 angebahnt wird

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Die Doppelung erklaumlrt sich aus der Theologie der Liebe Sie hat eine Innenseite die Liebe Jesu zu sein Seinen in der sich nach Joh 1421 die Liebe das Vaters zum Sohn ereignet und sie hat eine Auszligenseite die sich nach Joh 1331-35 und Joh 15 in der Bruderliebe der Juumlnger erweist von der die Welt angezogen werden wird (Joh 17)

Allerdings braucht es eine Erklaumlrung fuumlr die Deutung Eine moumlgliche Er-klaumlrung waumlre der Adressatenwechsel aber die Petrusszene spielt sich vor den Augen und Ohren aller ab

22 So Rudolf Schnackenburg Joh III passim 23 So Udo Schnelle Joh 237 Er will eine Ursprungsform (132a4512ab162017) die recht nahe bei Lk 22 und der Mahnung der Juumlnger zum Dienen steht zuerst in der johanneischen Schule (der er den Ersten Johannesbrief mit seiner Theologie der Liebe zurechnet) um die Vorbildethik erweitert sehen (1312c13-15) bevor der Evangelist selbst von der Einleitung an (131) konsequent seine soteriologische Deutung ins Fundament der Geschichte eingebaut habe (136-10ab) 24 So Jean Zumstein Joh 25 So Hartwig Thyen Joh

Thomas Soumlding

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711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus a Die Liebe Jesu zu den Seinen (Joh 131) verwirklicht die Liebe Gottes zur Welt (Joh 316) die von der Liebe des Vaters zum Sohn getragen wird (Joh 335 1017) Es ist die nach der Zwischennotiz von Jesu Freundschaft mit Martha Maria und Lazarus (Joh 115) erste Betonung der Agape Jesu von der spaumlter das Liebesgebot Joh 1334 und die Verheiszligung dauernden Beistandes der Juumlnger gedeckt ist (Joh 1421-31)

b In der Liebe Jesu zu den Seinen verbindet sich die Liebe Gottes zur Welt mit der Liebe Jesu zu seinen Freunden (Joh 15) Es ist eine unbedingte Bejahung und Wert-schaumltzung die auf Sympathie beruht und lebendig macht

c Die Liebe erweist Jesus den bdquoSeinenldquo bull Im Ruumlckraum steht Joh 19-13 dass die bdquoSeinenldquo den Logos abgelehnt haben

ndash bis auf diejenigen die an seinen Namen glauben und deshalb das Recht der Gotteskindschaft erhalten

bull Die bdquoSeinenldquo sind die Juumlnger die sich von Jesus in die Nachfolge haben rufen lassen (Joh 135-51) und in der galilaumlischen Krise Jesus nicht verlassen haben (Joh 660-71) Sie haben ihrerseits schwere Glaubensprobleme ndash aber werden sie durch Jesus uumlberwinden

bull In Joh 14 und Joh 17 wird erklaumlrt werden dass die Liebe Jesu zu den Seinen ndash wie die zum Lieblingsjuumlnger ndash nicht exklusiv sondern positiv zu verstehen ist

Dass Jesus den Seinen die Liebe bdquobis zum Endeldquo erweist verweist auf den Tod Jesu Das griechische Wort ist mehrdeutig teloj kann bdquoEndeldquo aber auch bdquoZielldquo bedeuten Beide Bedeutungen schwingen mit

bull Der Tod Jesu ist das definitive Ende seiner geschichtlichen Sendung das zu akzeptieren wird den Juumlngern ungeheuer schwer fallen

bull Der Tod Jesu ist das Ziel seines Wirkens insofern es seine Liebe und Hingabe definitiv werden laumlsst

Der Korrespondenzsatz ist das Todeswort Jesu Joh 1930 bull Es ist ein Gebet wie nach allen Synoptikern (Mk 1534 par Mt 2746 bdquoGott

mein Gott warum hast du mich verlassenldquo ndash Ps 222 Lk 2346 bdquoVater in deine Haumlnde gebe ich meinen Geistldquo ndash Ps 316) aber als letztes Offenba-rungswort an die Welt

bull Die traditionelle Uumlbersetzung lautet bdquoEs ist vollbrachtldquo Man kann aber auch sagen bdquovollendetldquo (Muumlnchner Neues Testament Bible de Jerusaleme bdquoCest acheveacuteldquo) oder bdquozu Endeldquo (King James Bible bdquoIt is finishedldquo)

Eine moumlgliche auf Joh 131 abgestimmte Uumlbersetzung waumlre (wie im Muumlnchener Neu-en Testament) bdquoEs ist vollendetldquo (tetelestai)

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712 Die Fuszligwaschung a Jemandem vor dem Mahl die Fuumlszlige zu waschen ist ein Dienst den traditioneller-weise Sklaven ihren Herren erweisen (vgl 1Sam 2541)26

Joh 1313f zeigt dass die sozialen Dimensionen der Fuszligwaschung klar vor Augen stehen der Gesamttext dass der Ritus sakramental gefuumlllt wird

Das Waschen der Fuumlszlige ist ein Ritus der Vorbereitung der eine koumlrperliche Wohltat mit einer Geste der Houmlflich-keit verbindet die Anerkennung und Ehrerbietung meint (Gen 184 vgl Lk 744) und zudem mit einer rituellen Bedeutung versieht die einen Uumlbergang gestaltet von drauszligen nach drinnen vom Alltag zum Fest vom Profanen zum Heiligen

7121 Die soteriologische Deutung a Im Gespraumlch mit Petrus wird die Bedeutung der Fuszligwaschung soteriologisch gedeu-tet Sie ist eine bdquoReinigungldquo ndash nicht wie in der Taufe sondern wie in der Buszlige Petrus braucht keine Wiederholung der Wiedergeburt die er als glaumlubig gewordener Taumluferjuumlnger erlebt hat aber er bedarf mehr als andere der Vergebung weil er ndash ent-gegen seinem Vorsatz ndash Jesus verleugnet Waumlhrend er sagt fuumlr Jesus sterben zu wol-len muss gerade fuumlr ihn Jesus sterben

b Petrus erkennt nach Joh 136 das Unmoumlgliche der Situation dass der Herr ihm ei-nen Sklavendienst leistet Er wehrt diesen Dienst doppelt ab (Joh 1368a) ndash so wie er nach Joh 1336ff nicht will dass Jesus fuumlr ihn sein Leben einsetzt In diesem Nein kommt eine Liebe zu Jesus zum Ausdruck die bestimmen will Gleichzeitig aber ist das Nein auch Ausdruck des Missverstaumlndnisses dass Petrus der Diakonie Jesu womoumlglich gar nicht bedarf Petrus verschaumlrft seinen Widerspruch der aus Unverstaumlndnis stammt indem er dann ganz gewaschen werden will (Joh 139) ndash womit er aber seine Berufung leugnet

c Jesus deckt das Missverstaumlndnis des Petrus auf Die Fuszligwaschung steht nicht am Anfang sondern an einer Biegung des Weges mit Jesus Die Weg-Gemeinschaft ist darin begruumlndet dass Jesus sich in seinen Dienst stellt Dem muss entsprechen dass Petrus sich den Dienst gefallen laumlsst Er muss Jesus so nahe wie in der Fuszligwaschung an sich heranlassen Er muss den Rollentausch akzeptieren Die Langversion von Vers 10 die durch den Codex Vaticanus gedeckt und als lectio difficilior gesichert ist entspricht dem Kontext

bull Im Bild Auch nach dem Vollbad macht man sich wieder die Fuumlszlige schmutzig Man laumlsst sie sich waschen damit auch sie sauber sind man laumlsst nur sie waschen weil der sonstige Koumlrper gereinigt ist

bull In der Sache Wer durch das Bad der Wiedergeburt die Taufe bdquoganz reinldquo geworden ist muss diese Reinheit aber durch seine Schuld verloren hat muss sich die Fuumlszlige waschen lassen um durch Jesus zu Gott zu gelangen Dem entspricht am ehesten eine Deutung auf die Buszlige wie sie orthodoxen Vaumlter favorisieren

26 Hellenistische Parallelen Neuer Wettstein I2 636-644

Thomas Soumlding

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7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

48

c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
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      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
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        • Lukasevangelium
        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 3: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

Thomas Soumlding

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Jakobusbrief Theiszligen Gerd Naumlchstenliebe und Egalitaumlt Jak 21-13 als Houmlhepunkt urchristlicher Ethik in

Petra von Gemuumlnden ndash Matthias Konradt ndash Gerd Theissen Der Jakobusbrief Beitraumlge zur Rehabilitierung der bdquostrohernen Epistelldquo Muumlnster 2003 120-142

Thomas Soumlding

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1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch

a Das Liebesgebot ist zweifellos fuumlr die Ethik Jesu wie des Urchristentums zentral Es weist nicht nur den Weg Jesu selbst und seiner Nachfolger sondern wird auch zum Gegenstand theologischen Nachdenkens Sowohl in der synoptischen und johannei-schen Tradition wie auch bei Paulus und im Jakobusbrief wird der zentrale Stellenwert des Liebesgebotes markiert und argumentativ entfaltet Das spricht fuumlr eine bewuss-te programmatische Positionierung Gerade sie wirft aber exegetische Fragen auf

bull Welches Verhaumlltnis besteht zum Alten Testament und zum Judentum Die Antwort ist nicht offenkundig weil einerseits das bdquoGesetzldquo zitiert (Lev 1918) andererseits aber sein genaues Verstaumlndnis und Gewicht immer wie-der kontrovers diskutiert wird

bull Welches Verhaumlltnis besteht zu den Standards profaner Ethik in der Antike Auch diese Frage hat Gewicht weil gerade das Liebesgebot einerseits gegen alles Sektiererische aufgestellt andererseits aber so profiliert wird dass es zum Kennzeichen der Jesusbewegung und der fruumlhen Kirche wird

bull Worauf richtet sich die Naumlchstenliebe Im Neuen Testament wird nur an einer einzigen Stelle ndashund zwar vom kriti-schen Gesetzlehrer nach Lk 1029 ndash gefragt wer der bdquoNaumlchsteldquo ist den es zu lieben gilt Im uumlbrigen reicht das Spektrum von der Feindes- bis zur Bruderlie-be

bull Was ist eine bdquoLiebeldquo die geboten werden kann Das Alte und das Neue Testament stimmen darin uumlberein dass es ein Liebes-gebot gibt Das laumlsst nach dem Verstaumlndnis der Liebe fragen

o Das Leitwort heiszligt Agape Das Wort im Profangriechischen blass ge-winnt durch die Septuaginta Farbe

o Es meint im Kern die Liebe Gottes zu seinem Volk die auf die Gottes- und die Naumlchstenliebe der Israeliten ausstrahlt Die Liebe Gottes ist kreativ Indem Gott Israel erwaumlhlt ruft er es ins Leben Die Liebe Got-tes ist unverbruumlchlich Auch wenn das Volk untreu ist bleibt Gott treu Die Liebe Gottes ist leidenschaftlich So wie er sein Herz an die Menschen in Israel haumlngt will er sie auch fuumlr sich und fuumlr ihr eigenes Heil gewinnen

o Auf diese Liebe Gottes antwortet die Liebe zu Gott die sich im Be-kenntnis zum einen Gott ausspricht (Dtn 64f) und im uumlberzeugten Gehorsam gegen sein Gebot bewahrheitet Der Liebe zu Gott ent-spricht die Naumlchstenliebe (Lev 1917f) weil man Gott nicht lieben kann ohne auch die zu lieben die er liebt

Auch wenn es einleuchten kann dass eine Liebe geboten werden kann bleiben die Frage wer diese Liebe gebieten kann und wie das Gebot sich erfuumlllen laumlsst Diese Fragen treiben schon Jesus und das Urchristentum um

Die exegetischen Fragen verlangen exegetische Antworten die den Texten ihr Recht geben und die noumltigen Unterschiede herausarbeiten aber auch Gemeinsamkeiten erkennen lassen Auf diese Weise kann ein differenzierter Eindruck der Liebes-Ethik im Neuen Testament und der ganzen Bibel entstehen

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b Die katechetischen und didaktischen Fragen stellen sich auch im Verstaumlndnis bibli-scher Texte die aus der Vergangenheit reden aber darin auf die geschichtlichen Ur-spruumlnge des Glaubens wie der Kirche weisen und den Kanon heiszligt die Richtschnur christlicher Lehre und glaumlubigen Lebens spannen Entscheidend ist die Vergegenwaumlr-tigung

bull Wer ist zur Naumlchstenliebe gerufen Die Konkretion ist wesentlich weil das bdquowie dich selbstldquo zum Liebesgebot ge-houmlrt und damit das bdquoIchldquo des Menschen der das Gebot houmlrt in Rede steht Deshalb geraten die jeweils gegenwaumlrtigen Adressaten zentral in den Blick ihr Ich-Bild ihr Gottes-Bild und ihr Du-Bild Diese anthropologische Konkretisie-rung spiegelt auf die Exegese zuruumlck

bull Wie laumlsst sich die Naumlchstenliebe leben Die exegetischen Klaumlrungen zum Begriff des Naumlchsten (des Freundes des Feindes der Schwester und des Bruders) wie der Agape spitzen die Frage zu auf welchen Feldern und in welchen Formen die Naumlchstenliebe heute und jetzt gefragt ist Das Liebesgebot ist grundsaumltzlich Also ist es auf kreative Konkretisierungen hin angelegt Die katechetische und didaktische Vermitt-lung ist mithin aktive Exegese ndash und laumlsst auch im Ruumlckblick nach Konkretionen fragen Die Forderung der Naumlchstenliebe nimmt das Problem von Handlungskonkur-renzen und Entscheidungsnotwendigkeiten ernst und fordert zu klaren Optio-nen auf ndashdie jeweils heute getroffen werden muumlssen

bull Wer fordert die Naumlchstenliebe Ist Naumlchstenliebe selbstverstaumlndlich und deshalb ein Gebot Gottes Oder ist sie ein Gebot Gottes weil sie menschlich aber nicht selbstverstaumlndlich ist Die Exegese identifiziert (auf der Basis des kanonischen Textes) Moses und Je-sus als Gesetzgeber im Namen Gottes Die Autoritaumltsfrage stellt sich heute dramatisch neu weil die Bibel vermittelte Autoritaumlt ist und der menschliche Faktor bei ihrer Entstehung Uumlbermittlung und Erklaumlrung essentiell Die Exe-gese klaumlrt dies auf und wehrt dadurch jedem Fundamentalismus wird aber auch durch die Vergegenwaumlrtigungen zu kritischer Differenzierung angeleitet

Literatur zur Vertiefung CS Lewis The four loves London 1960 Deutsch Was man Liebe nennt Zuneigung Freund-

schaft Eros Agape Gieszligen 72004

Thomas Soumlding

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2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)

a Das Gebot der Naumlchstenliebe steht im Kern des Heiligkeitsgesetzes (Lev 17-26) Lev 19 Dieses Gesetz das zu den aumlltesten Textcorpora der Tora gehoumlrt ist von der imitatio Dei gepraumlgt (Lev 191) Gottes Heiligkeit an der Israel sich ausrichten soll ist der Glanz seiner Praumlsenz die Aura seiner Potenz das Strahlen seiner Transzendenz Israels Heiligkeit ist seine Zuwendung zu Gott und seinem Gesetz seine Abwendung von den Goumltzen und dem Unrecht Gottes Heiligkeit fuumlhrt nicht zu religioumlsen Berser-kern die im Namen des Einen alles andere vernichten sondern zu Menschen die lieben koumlnnen

b Das Heiligkeitsgesetz1

Das Liebesgebot ragt aus den ethischen Weisungen heraus Es bildet den kroumlnenden Abschluss einer Reihe sozial engagierter Gebote (Lev 1911-18) die allesamt negativ formuliert sind waumlhrend das Liebesgebot positiv formuliert wird In Lev 1934 findet es ein Echo mit der Ausweitung auf die Fremden als Schlusspointe des Heiligkeitsethos

umfasst einen bunten Strauszlig kultischer und sozialer Gebote Ihr innerer Zusammenhang wird dadurch gestiftet dass Heiligkeit sowohl das Gottes-verhaumlltnis als auch das Verhaumlltnis zum Naumlchsten praumlgt

c Durch die Forderung den Naumlchsten zu lieben geschieht die notwendige Konzentra-tion Der bdquoNaumlchsteldquo dem die Liebe gelten soll ist nicht einfach wer einem mehr oder weniger zufaumlllig begegnet2 sondern nach dem genauen Wortlaut der bdquoBruderldquo der bdquoStammesgenosseldquo das bdquoKindldquo des eigenen Volkes (Lev 1917f)3

Die Beispiele zeigen aber auch dass die Naumlchstenliebe von Anfang an faktisch Fein-desliebe ist Denn durchweg geht es um erlittenes Unrecht begangene Fehler ge-schehene Suumlnden Das Liebesgebot bahnt einen Ausweg aus der verfahrenen Situati-on Es nimmt den moralisch in die Pflicht dem Unrecht widerfahren ist Das Opfer soll aktiv werden um einen neuen Anfang zu setzen ndash nicht um die Taumlter zu entlasten sondern um ihnen zu helfen aus ihrer Schuld herauszukommen Dem entspricht ein offensives Verstaumlndnis von Heiligkeit Sie strahlt aus und zieht an

Das entspricht dem Kontext des Heiligkeitsgesetzes das von der Erwaumlhlung und Verpflichtung Israels handelt Es ist die Gemeinschaft des von Gott geliebten Volkes die durch Naumlchsten-liebe lebendig werden soll Wuumlrden die Grenzen verschwinden staumlnde die Naumlchsten-liebe in der Gefahr sich in unverbindliche Fernstenliebe aufzuloumlsen und den Kontakt zu Gott zu verlieren der sich seines Volkes erbarmt Durch die Konzentration auf die Naumlchsten des Gottesvolkes gewinnt die Zugehoumlrigkeit zu Israel Kontur die Heiligkeit wird konkret Die in Lev 1917f beschriebenen Beispiele setzen durchweg Nahbezie-hungen voraus

1 Vgl (klassisch historisch-kritisch) Klaus Gruumlnwaldt Das Heiligkeitsgesetz Levitkus 17-26 Ge-stalt Tradition und Theologie (BZAW 271) Berlin 1999 2 So jedoch Martin Buber Zwei Glaubensweisen (1950) in ders Werke I Muumlnchen - Heidel-berg 1962 651-782 701f bdquoSei liebreich zugewandt den Menschen mit denen du je und je auf den Wegen deines Lebens zu schaffen bekommst 3 Vgl Hans-Peter Mathys Liebe deinen Naumlchsten wie dich selbst

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d Die Konzentration der Naumlchstenliebe begruumlndet keine Doppelmoral sie ist positiv nicht exklusiv verstanden Das zeigt die Ausweitung auf die bdquoFremdenldquo mit derselben Maszligeinheit bdquowie dich selbstldquo Die Begruumlndung bdquodenn ihr seid selbst Fremde in Aumlgyp-ten gewesenldquo (Lev 1933f) erhellt eine uumlberraschende weil verdraumlngte Naumlhe Israel kann und soll das Leben der bdquoFremdenldquo nachfuumlhlen und sich ihnen in gleicher Weise wie den Mitgliedern des eigenen Volkes ndash bdquowie dich selbstldquo ndash zuwenden Die bdquoFremdenldquo sind in der Rechtssprache der Tora Nicht-Juden die dauerhaft im Hei-ligen Land leben Sie sind Buumlrger zweiter Klasse in Israel ndash wie einst Israel in Aumlgypten Desto wichtiger ist das Liebesgebot Die Septuaginta (LXX) uumlbersetzt mit bdquoProselytldquo um die Situation der Diaspora zu beruumlcksichtigen und den zuweilen prekaumlren Status der Konvertiten zum Judentum zu verbessern Im woumlrtlichen Sinn sind die bdquoProsely-tenldquo diejenigen die von auszligen hinzukommen insofern waren fuumlr die griechischen Uumlbersetzer die Israeliten in Aumlgypten bdquoProselytenldquo Wer nur auf der Durchreise ist ist keineswegs rechtlos er genieszligt Gastrecht und Gastfreundschaft4

Die Direktheit und Nachhaltigkeit des Liebesgebotes wird durch die Ausweitung un-terstrichen

deren Heiligkeit aumllter ist als das geschriebene Gesetz

e Das Liebesgebot wird zwar an anderen Stellen des Alten Testament (lange) nicht zitiert gehoumlrt aber in ein Feld aumlhnlicher ethischer Weisungen Es ist beeinflusst und es hat beeinflusst5

f Eine solche Liebe ist nicht storgeacute weil das Volk Gottes die natuumlrlichen Familienban-de uumlberschreitet wiewohl Israel oft genealogisch verstanden wird Sie ist nicht Freundschaft weil die Beziehung die sie kultiviert nicht freiwillig gewaumlhlt und gestal-tet sondern von Gott vorgegeben ist Diese Liebe kann nicht im Eros aufgehen weil sie weniger das Hingerissensein von anderen als die Weggemeinschaft mit ihnen kul-tiviert sie ist Agape weil sie von Gott kommt auch wenn im Kontext nicht expressis verbis von Gottes Liebe die Rede ist Unleugbar aber ist es Liebe zu vergeben und Rachegeluumlsten nicht nachzugeben sondern am Aufbau einer Friedensbeziehung zu arbeiten Nicht das Begehren sondern die Sympathie ist der Motor der Agape Aber sie begehrt verstanden und angenommen zu werden Getragen ist sie von der heili-gen Liebe Gottes ndash und zwar nicht nur weil allein Gott die Kraft geben kann den ers-ten Schritt der Versoumlhnung zu tun sondern weil Gott diejenigen die auf sein Wort houmlren sollen erst zu Houmlrern des Wortes macht und sie in sein Volk hineinstellt das er sich erwaumlhlt hat

Ex 244f ist ein gutes Beispiel fuumlr angewandte Feindes- Dtn 221-4fuumlr aktive Bruderliebe

4 Vgl Helga Rusche Gastfreundschaft im Alten Testament im Spaumltjudentum und in den Evan-gelien in ZMRW 41 (1957) 170-188 5 Vgl Gianni Barbiero ElAsino dell Nemico Rinuncia alla vendetta e amore dell nemico nella legislatione dellAntico Testamento (Es 234-5 Dt 221-4 Lv 1917-18) (AnBib 128) Rom 1991

Thomas Soumlding

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3 Das Liebesgebot im Judentum

a In den alttestamentlichen Spaumltschriften steigt die Bedeutung des Liebesgebotes bull Die Semantik der Septuaginta (mit der Agape als Zentrum) staumlrkt den theolo-

gischen Grundzug durch die explizit gewordene Verbindung mit der Liebe Gottes und der Liebe zu Gott

bull Nach Tob 413 soll die Naumlchstenliebe als Bruderliebe die juumldische Kommunitaumlt in der Diaspora aber auch im Heiligen Land staumlrken deshalb ist das Liebesge-bot mit der Warnung vor einer Mischehe verbunden

bull Nach Jesus Sirach6

o als Liebe zum Sklaven der aufgrund seiner Treue und Bildung als Partner anerkannt werden soll (Sir 721)

wird das Gebot der Naumlchstenliebe in verschiedenen sozia-len Kontexten konkretisiert

o als Konstituierung einer ethischen Maxime die auf die Goldene Regel zulaumluft (Sir 3115)

o als Schaumlrfung des Gewissens fuumlr den caritativen Einsatz fuumlr Arme (Sir 3423-27)

Die Konkretisierungen passen in das Schema weisheitlicher Ethik das im Neu-en Testament auch der Jakobusbrief ausfuumlllt

Die Steigerung der Bedeutung erklaumlrt sich aus zwei Gruumlnden bull einer Personalisierung der Ethik bull und einer Vermittlung juumldischer Ethik die auf Elementarisierung setzt

Die Bedeutungssteigerung erhoumlht die Attraktivitaumlt der juumldischen Ethik in der antiken Welt

6 Vgl Th Soumlding Naumlchstenliebe bei Jesus Sirach

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b Aus der Septuaginta erklaumlrt sich die hohe Aufmerksamkeit fuumlr das Liebesgebot im hellenistischen Judentum Die Testamente der Zwoumllf Patriarchen7 reden haumlufig im ethischen Sinn von Liebe8 nahezu durchweg in der Form direkter oder indirekter Aufforderungen Die TestXII sind eine griechisch uumlberlieferte im 2 Jh von christlicher Hand redigierte aber dem wesentlichen Textbestand nach urspruumlnglich juumldische Schrift deren Wurzeln bis in das 2 Jh v Chr reichen koumlnnen Die Testamente nehmen Gen 49 auf und lassen die 12 Soumlhne Jakobs ihrerseits Abschiedsreden halten9

Lev 1918 wird zwar nicht explizit zitiert aber an vielen Stellen angespielt und durch-weg aktualisiert

Sie arbeiten das Problem der Diaspo-ra auf die als Zerstreuung gesehen und als Strafe Gottes gedeutet wird In dieser Si-tuation kommt es auf den inneren Zusammenhalt der Juden an der nach den Patriarchentestamenten nicht nur rituell sondern auch ethisch begruumlndet werden soll

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7 Aumlltere Standardausgabe RH Charles The Greek Versions of the Testaments of the Twelve Patriarchs Oxford 1908 Nachdruck Darmstadt 1960 Neuere Edition Mde Jonge - HW Hollander - Hde Jonge - Th Korteweg The Testaments of the Twelve Patriarchs A Critical Edition of the Greek Text (PVTG I2) Leiden 1978 Die aramaumlische Version des TestLevi enthaumllt kein Liebesgebot Deutsche Uumlbersetzung J Becker Die Testamente der zwoumllf Patriarchen in JSHRZ III1 (21980)

Es zeigen sich Rezeptionslinien die im Bedeutungsfeld von Lev 1917f bleiben (vgl TestGad 43-8) die Explikation der Heiligkeit daumlmpfen aber den Bezug auf die Nachbarschaften im Gottesvolk Israel nicht aufgeben sondern unter den Bedingungen der Diaspora konkretisieren Nur in TestIss 76 (bdquohellip jeden Menschen hellipldquo) ist eine universalistische Deutung moumlglich

8 Vgl TestRub 69 Sim 447 Iss 52 76 Seb 85 Dan 53 Gad 42(6)7 613 77 Jos 1723 Benj 33ff 435 81 vgl auch Ass 24 Gad 33 (uumlber den Hasser) 46 Jos 175 Benj 82 (uumlber das Verhaumlltnis des Mannes zur Frau) Gad 15 (uumlber Jakobs Vaterliebe zu Joseph) 9 Vgl Th Soumlding Solidaritaumlt in der Diaspora M Konradt Menschen- und Bruderliebe 10 Ganz deutlich ist Gad 42 Dan 51 bezieht sich direkt auf das Gebot und Gesetz (vgl Iss 51) des Herrn und hat dabei augenscheinlich auch Lev 1918 vor Augen Fuumlr den Einfluss des Lie-besgebots sprechen uumlberdies die Formulierungen von Benj 334 Rub 69b bezieht die Liebe zwar direkt auf den Bruder hat aber im parallelen Teilvers 6a den Naumlchsten aumlhnlich liegt der Fall in Dan 52a3b und Gad 61

Thomas Soumlding

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c Auch Schriften die tiefer in Palaumlstina wurzeln nehmen das Liebesgebot auf Das Buch der Jubilaumlen11

11 Die Originalsprache ist hebraumlisch zu den einschlaumlgigen Qumran-Fragmenten vgl JC VanderKam Textual and Historical Studies in the Book of Jubilees (HSM 14) Missoula 1977 Die davon abhaumlngige griechische Uumlbersetzung ist bruchstuumlckhaft erhalten vgl A-M Denis Fragmenta Pseudepigraphorum quae supersunt Graeca una cum Historicorum et auctorum Iudaeorum Hellenistarum Fragmentis collegit et ordinavit (PVTG 3) Leiden 1970 70-102 Die auf der griechischen Uumlbersetzung fuszligende aumlthiopische Fassung die in den gemeinsam uumlberlie-ferten Partien der Qumran-Version sehr genau entspricht hat ediert RH Charles Mashafa Kufacirclecirc or the Ethiopic Version of the Hebrew Book of Jubilees (Anecdota Oxoniensia) Oxford 1895 Deutsche Uumlbersetzung Klaus Berger Das Buch der Jubilaumlen in JSHRZ II3 (1981)

im 2 Jh vor Chr geschrieben protestiert gegen die Korrup-tion des Makkabaumlerstaates es tritt mit dem Anspruch auf Mose auf dem Sinai offen-bart worden zu sein (Jub 11-29) es will einem Israel das einer schleichenden Hellenisierung verfaumlllt neue Identitaumlt verleihen indem es den Blick auf die normative Anfangszeit die Zeit der Vaumlter und des Mose lenkt und von ihr her eine authentische Halacha entwickelt die es erst ermoumlglicht gerecht zu leben (Jub 2326-31) Zum his-torischen Paradigma wird der Bruderstreit zwischen Jakob und Esau (Jub 3420 - 392a) Das Liebesgebot ndash Lev 1918 wird nicht direkt aber indirekt zitiert ndash hat eine qualitativ groszlige Bedeutung weil es uumlber die Klaumlrung halachischer Fragen hinaus den Geist wie die Praxis des Zusammenhaltes schaumlrft allerdings nicht allein oder als Krouml-nung sondern im konstitutiven Verbund mit anderen ethischen Prinzipien wie Ge-rechtigkeit Die Verzeihung die Joseph den Bruumldern gewaumlhrt macht ihn zum ethi-schen Vorbild dem es nachzueifern gilt Die Pflicht zur Liebe endet aber dort wo es sich nicht mehr nur um persoumlnliche Gegnerschaft sondern um Konflikte mit Frevlern handelt die dem Gebot Gottes grundlegend zuwiderhandeln Eine universalistische Ausweitung der Bruderliebe fasst Jub 202 ins Auge Zwar bezieht sich das Liebesge-bot direkt nur auf die herbeigerufenen Kinder und Enkel Abrahams aber unter ihnen finden sich namentlich genannt auch Ismael mit seinen zwoumllf Kindern und die Kinder der Ketura mit ihren Soumlhnen (Jub 201) Dadurch wird bereits der juumldische Rahmen gesprengt Uumlberdies baut die Formulierung eine Verbindung zwischen Bruderliebe und Menschenliebe auf Im ethischen Nahbereich koumlnnen auch Nicht-Juden Naumlchste werden

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d Die Schriften aus Qumran12 enthalten in zwei Corpora bedeutende Zeugnisse einer Naumlchstenliebe die sich innerjuumldisch aus dem Konflikt mit Frevlern als Gegenstuumlck zum Feindeshass erklaumlrt13

bull Die Gemeinderegel (1QS vgl 1QSa) beschreibt das Zusammenleben einer juuml-dischen Reformbewegung die sich in striktem Gegensatz nicht nur zu den Heiden sondern auch zu den Priestern in Jerusalem als wahres Israel konsti-tuieren abseits vom Tempel Die Forschung diskutiert die Beziehung zu den Esseacutenern uumlber die Philo von Alexandrien (15 v Chr - 40 n Chr ) in seiner Schrift uumlber die Freiheit des Tuumlchtigen (Quod omnis probus liber sit 72-91) der juumldische Historiker Flavius Josephus (3738 - 100 n Chr) in seinen Buuml-chern uumlber den juumldischen Krieg (De bello Judaico 2 119-161) und die Ge-schichte Israels (Antiquitates Judaicae 181118-22) sowie der roumlmische Ge-lehrte Plinius der Aumlltere (23-79 nChr) in seiner Naturgeschichte (Naturalis historia 573) berichten

Fuumlr die Gemeinderegel ist ein religioumlser Dualismus zwischen den bdquoSoumlhnen des Lichtesldquo und den bdquoSoumlhnen der Finsternisldquo wesentlich Er entsteht durch den Frevel derjenigen die das Heilige wahren sollen er wird von Gott sanktio-niert Entscheidend ist in einem aufwendigen Konversionsverfahren den Weg aus der massa damnata in Israel zur Kommunitaumlt der Frommen zu finden um so der Gnade der Rechtfertigung teilhaftig zu werden Die Zugehoumlrigkeit zur Gemeinschaft zeigt sich im Ritus und im Ethos Das Ethos ist durch Naumlchstenliebe strukturiert (1QS 13f9ff 224 5425 82 91621 1026) Sie ist im Kern Zustimmung zu der Erwaumlhlung und Vergebung die dem Mitbruder wie der eigenen Person zuteil geworden ist Deshalb ent-spricht der Naumlchstenliebe der Feindeshass Er ist im Kern Ablehnung und Dis-tanzierung die aber gerade nicht durch Gewalt sondern durch strikte Gewalt-losigkeit strukturiert wird damit das Gesetz des Handelns nicht von den Frev-lern sondern den Gerechten bestimmt wird (1QS 1017f)

bull Die Hymnenrolle (1QH) sammelt Psalmen die den Kampf der Guten gegen die Boumlsen der Gerechten gegen die Ungerechten verherrlichen Die Sprache ist militaumlrisch der Stil metaphorisch Die Spiritualitaumlt passt zur Ekklesiologie und Ethik der Gemeinderegel aber welchen genauen Bezug es gibt ist in der Qumran-Forschung strittig Entscheidend ist Gott fuumlr die eigene Erwaumlhlung zu preisen Das dankbare Gotteslob spiegelt sich in der Abscheu vor dem und den Boumlsen Liebe ist Zu-stimmung zur Liebe Gottes Hass Zustimmung zum Hass Gottes (1QH 142-8)

Die beiden Corpora stammen aus vorchristlicher Zeit Sie dokumentieren die Zerris-senheit des Judentums in Palaumlstina aber auch den Reformeifer derer die ein heiliges Israel erneuen wollen 12 Deutsche Uumlbersetzungen E Lohse Die Texte aus Qumran Hebraumlisch und Deutsch Muumln-chen 21971 K Schubert - J Maier Die Qumran-Essener Texte der Schriftrollen und Lebensbild der Gemeinde (UTB 224) Muumlnchen - Basel 1982 143-312 Zur Tempelrolle vgl die Ausgabe von Y Yadin Megillat ham-Miqdas The Temple Scroll (Hebrew Edition) Bde I-IIIa Jerusalem 1977 deutsche Uumlbersetzung J Maier Die Tempelrolle vom Toten Meer (UTB 829) Muumlnchen - Basel 1977 13 Vgl Th Soumlding Feindeshass und Bruderliebe

Thomas Soumlding

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4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)

a Das Doppelgebot der Naumlchstenliebe uumlberliefert das Neue Testament bei den Synop-tikern in drei Fassungen

bull Markus erzaumlhlt von einem Konsensgespraumlch uumlber das groumlszligte Gebot zwischen Jesus und einem Schriftgelehrten in Jerusalem (Mk 1228-34) die Antwort Je-su eine Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 fuumlhrt zu einer Verstaumlndi-gung

bull Matthaumlus stimmt in der Thematik der Frage der Ortsangabe und der Kombi-nation beider Liebesgebote mit Markus uumlberein (Mt 2234-40) macht aber aus dem Konsens- ein Streitgespraumlch Jesus wird von einem Gesetzeslehrer auf die Probe gestellt und besteht die Herausforderung glaumlnzend indem er das Doppelgebot formuliert

bull Lukas kennt in seiner Version (Lk 1025-37) gleichfalls die Kombination er uumlberliefert wie Matthaumlus einen bdquoGesetzeslehrerldquo ndash nicht wie Markus einen bdquoSchriftgelehrtenldquo ndash als Partner und erzaumlhlt ndash wie Matthaumlus anders als Mar-kus ndash von einem Konfliktgespraumlch Aber bei ihm findet der Dialog auf dem Weg Jesu nach Jerusalem statt (Lk 951 - 1927) die Frage zielt auf das ewige Leben (wie in Mk 1017 par Mt) der Dialog spitzt sich auf die Frage nach dem Naumlchsten zu die Jesus mit dem Samaritergleichnis beantwortet

Die markinische Version ist (nach der Zwei-Quellen-Theorie) die aumllteste Matthaumlus laumlsst sich als Kuumlrzung und Zuspitzung lesen Ob aber Lk 1025-37 sich als Markus-Redaktion erklaumlren laumlsst ist fraglich Womoumlglich hat es ndash durch Q ndash eine Doppeluumlber-lieferung gegeben die eine Kontroverse mit einem Gesetzeslehrer enthalten hat Noch wahrscheinlicher ist dass es von Anfang verschiedene Versionen gegeben hat die von den Evangelisten unterschiedlich rezipiert worden ist In jedem Fall bezeugt die Breite der Uumlberlieferung dass das Liebesgebot fuumlr Jesus typisch gewesen ist

b In allen Versionen des Doppelgebotes gibt es gemeinsame Charakteristika bull die Form des Gespraumlches in der das Doppelgebot entwickelt wird bull den Bezug auf das Gesetz bei Markus (1228) und Matthaumlus (2236) durch die

Jesus gestellte Ausgangsfrage bei Lukas durch die Ruumlckfrage Jesu (1026) bei Matthaumlus durch den Schlusssatz Jesu unterstrichen (2240)

bull die Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 ad vocem Agape bull die Abfolge dass zuerst das Hauptgebot der Gotteslebe (Dtn 64f) dann das

Gebot der Naumlchstenliebe (Lev 1918f) kommt obwohl die kanonische Reihen-folge eine andere ist

Diese Charakteristika sind der Kernbestand der Tradition sie muumlssen zu Eckpfeilern der Interpretation werden

c Die unterschiedlichen Gespraumlchssituationen haben ihre eigene Logik bull Markus will zeigen dass es zu einer fundierten und breiten Verstaumlndigung Je-

su mit den Schriftgelehrten haumltte kommen koumlnnen auf der Basis der Tora bull Matthaumlus will zeigen dass die Hierarchisierung der Gebote strittig war und

geblieben ist bull Lukas will herausarbeiten dass das Doppelgebot Fragen stellt die Jesus be-

antworten kann Die unterschiedlichen Logiken koumlnnen nicht gegeneinander ausgespielt aber jeweils in das Evangelium eingeordnet werden in dem sie sich befinden

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d Alle Versionen bestimmen die Tora als Basis des Dialoges Alle bleiben im Rahmen juumldischer Hermeneutik Schrift legt Schrift aus Alle erweisen sich im religionsge-schichtlichen Vergleich als typisch jesuanisch

bull Einerseits gibt es im Judentum eine lebhafte Debatte aus didaktischen und theologischen Gruumlnden zu einer Hierarchie der Gebote zu gelangen In dieser Debatte ragt das Liebesgebot heraus Es gibt aber immer auch starke Kontro-versen uumlber die Richtigkeit und Guumlltigkeit solcher Elementarisierungen

bull Anderseits steht Jesus nicht gegen die Tora sonder erfuumlllt sie (vgl Mt 517-20) Dese Erfuumlllung hat eine spezifische Qualitaumlt diese Qualitaumlt bezeichnet das Liebesgebot das Jesus selbst praktiziert

Das Doppelgebot bricht nicht aus dem Gesetz aus sondern schlieszligt es auf

e Im fruumlhen Judentum gibt es keine direkte Parallele zum jesuanischen Doppelgebot Aber es gibt eine ganze Reihe von strukturaumlquivalenten Formulierungen sowohl im palaumlstinischen wie auch im hellenistischen Judentum Zum Teil sind sie direkt als Ge-bot einer doppelten Liebe zum Teil mit Varianten vor allem der Gottesfurcht gebil-det Diese Parallelen erhellen den juumldischen Kontext in dem das Doppelgebot steht Auffaumlllig ist in der Jesustradition zweierlei

1 die direkte Schriftzitation 2 der explizite Bezug zur Tora der reflektiert wird

Beides spiegelt die Programmatik der jesuanischen Position

f Die Struktur der Tradition leitet in jeder Variante von der Gottes- zur Naumlchstenliebe und bindet das Liebesgebot zusammen

bull Es gibt keine Gottesliebe ohne Naumlchstenliebe weil Gott den es zu lieben gilt nicht nur die Person liebt die lieben soll sondern auch diejenige die geliebt werden soll Diese Liebe Gottes als Basis ist im Doppelgebot nicht expliziert aber impliziert

o in der Einzigkeit Gottes so wie sie in der Bibel Israels und in der Jesus-tradition als Qualifikation des Schoumlpfers und Erhalters des Versoumlh-ners und Vollender entfaltet wird

o im Wort Agape das eo ipso von der Liebe Gottes gespeist wird Das Doppelgebot ist das beste Gegengift gegen Heuchelei

bull Es gibt keine Naumlchstenliebe ohne Gottesliebe ndash nicht weil es keine Ethik keine Menschlichkeit kein Mitleid und keine Solidaritaumlt ohne Gottesliebe gaumlbe (im Gegenteil) sondern weil die Naumlchstenliebe wie sie alt- und neutestamentlich expliziert wird den Naumlchsten als die von Gott geliebte Person liebt also Ein-stimmung in die Liebe Gottes ist die nur in der Liebe zu Gott explizit beant-wortet werden kann

bull Es gibt einen Primat der Gottes- vor der Naumlchstenliebe ndash nicht weil die Got-tes- wichtiger als die Naumlchstenliebe waumlre sondern weil Gott der Schoumlpfer all derer ist die lieben und geliebt werden sollen und sie alle zur Teilhabe an seiner Liebe fuumlhren will

Die Einheit der Gottes- und Naumlchstenliebe ist keine Identitaumlt sondern eine Spannung die ein hohes Energiefeld aufbaut

g Das Doppelgebot selbst enthaumllt keine Konkretion steht aber in den Evangelien die sich in die Tradition des Alten Testaments stellen und wird dadurch einerseits zum Kompass durch die Tora andererseits zum Katalysator von Aktualisierungen die pa-radigmatisch von Jesus angesprochen werden

Thomas Soumlding

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5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)

a Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter antwortet auf die wichtige Frage bdquoWer ist mein Naumlchsterldquo (Lk 1025-37)

bull Die Frage ist wichtig weil es um die Konkretionen der Liebe geht und Lev 1917f eine klare Antwort gibt Die Naumlchsten sind die Mit-Glieder des Gottes-volkes Hinzu treten die bdquoFremdenldquo (Lev 1934) die dauerhaft in Israel inte-griert sind nach der Septuaginta die Proselyten Die Konzentration auf diese Naumlchsten ist theologisch durch die gemeinsame Berufung des Volkes zur Hei-ligkeit begruumlndet Sie bewaumlhrt sich in Konflikten umfasst also de facto auch Feindesliebe

bull Die Frage wird von Jesus mit einer Geschichte beantwortet die auf provokan-te Weise einen Samariter zu einem Vorbild werden laumlsst Dass Jesus mit ei-nem Gleichnis antwortet setzt auf die argumentative Kraft einer Erzaumlhlung die nicht nur eine Welt vor Augen stellen sondern auch eine Sache klaumlren kann und zwar so dass Anteilnahme entsteht eine Verstrickung in die Ge-schichte durch Dramatik und Identifikation

Die Antwort auf die Frage wird nicht ohne ihre Umkehrung gegeben bdquoWer hellip ist zum Naumlchsten dessen geworden der unter die Raumluber gefallen istldquo (Lk 1036) Damit wird die Ausgangsfrage nicht desavouiert sondern konkretisiert Wer nach dem Naumlchsten fragt fragt auch nach sich selbst Und wer sich selbst von Naumlchsten umgeben weiszlig denen er verpflichtet ist muss selbst zum Naumlchsten derer werden wollen die auf Hilfe angewiesen sind

b Die Geschichte gehoumlrt zum Doppelgebot das bei Lukas (1025ff) wie bei Matthaumlus (2235-40) ein Streitgespraumlch ist waumlhrend es bei Markus ein Konsensgespraumlch ist (Mk 1228-34) Lukas hat es in die Zeit des oumlffentlichen Wirkens Jesu vorgezogen und kompositorisch konkretisiert

bull Mit einem bdquoGesetzeslehrerldquo trifft Jesus auf seinem Weg einen Experte fuumlr die Frage die er stellt

bull Das Doppelgebotsthema wird nicht nur durch das Samaritergleichnis sondern auch durch die Fortsetzung konkretisiert

o Die Beispielgeschichte Lk 1030-35 thematisiert das Tun (Lk 1037) o Die folgende Geschichte von Maria und Martha akzentuiert das Houmlren

(Lk 1038-42) o Die anschlieszligende Gebetslehre konkretisiert jene Gottesliebe die aus

dem Houmlren zum Sprechen fuumlhrt mit dem Vaterunser als Kern Durch die Komposition wird die Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe unter-strichen

Die Szenerie unterstreicht die Brisanz der Frage nach der Geltung des Gesetzes und erhoumlht damit den Stellenwert des Gleichnisses damit aber auch die Praumlgnanz des Samariterbildes Jesu

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c Der gesamte Text hat eine dialogische Struktur 1 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach dem Sinn des Lebens (Lk 1025) 2 Jesus fragt zuruumlck indem er auf das Gesetz verweist (1026) 3 Der Gesetzeslehrer zitiert das Doppelgebot (Lk 1027) 4 Jesus bestaumltigt und fordert zur Praxis (Lk 1028) 5 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach der Identitaumlt des Naumlchsten (Lk 1029) 6 Jesus fragt zuruumlck indem er das Gleichnis erzaumlhlt (Lk 1030-36) 7 Der Gesetzeslehrer gibt die richtige Antwort (Lk 1037a) 8 Jesus fordert zum Handeln (Lk 1037b)

Jesus agiert im sokratischen Stil Er laumlsst den Fragesteller selbst die Antwort finden ndash nicht irgendwo sondern im Gesetz und in seinem Gewissen Das spiegelt fuumlr Lukas die Uumlberlegenheit Jesu und die Menschlichkeit seiner Ethik

d Das Gleichnis arbeitet mit einem scharfen Kontrast bull Auf der einen Seite stehen der Priester und der Levit Repraumlsentanten des Ju-

dentums Sie muumlssten genau wissen was zu tun ist Sie haben wenn sie wie der Verletzte auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho sind auch keinen Grund sich aus kultischen Uumlberlegungen um sich nicht zu verunreinigen an einem vorbeizugehen von dem sie glauben dass er tot sei wenn sie auf dem Weg zuruumlck sind ist fuumlr die ggf erforderliche rituelle Reinigung genuumlgend Zeit

bull Auf der anderen Seite steht der Samariter dem man es am wenigsten zutrau-en wuumlrde dass er tut was recht ist Dessen Rolle wird aber von Jesus stark betont nicht nur durch den Kontrast sondern auch dadurch dass er weit uumlber die Erste Hilfe hinaus mehr als genug tut um dem Verletzten zu helfen Er selbst leistet den sprichwoumlrtlich gewordenen Samariterdienst und treibt ungewoumlhnlich intensive Vorsorge dass der Mann nachhaltig gesundet ndash nach allen Regeln der (damaligen) aumlrztlichen Kunst

Dieser Kontrast war den Menschen sowohl zur Zeit Jesu als auch zur Zeit des Evange-listen Lukas deutlich Lk 952-56 hat ihn frisch in Erinnerung gerufen

e Jesus laumlsst durch die Kunst seiner narrativen Argumentation dem Gesetzeslehrer keine Chance nicht von seiner Antwort uumlberzeugt zu werden die seinen eigenen mo-ralischen Standpunkt veraumlndert Alle Menschen die ein Herz im Leibe haben werden erkennen dass nicht der Priester nicht der Levit sondern ausgerechnet der feindli-che der bdquohaumlretischeldquo Samariter das einzig Richtige getan hat indem er dem unter die Raumluber gefallenen Menschen geholfen hat Das aber ist schon der erste Schritt in die Richtung die Jesus den Menschen zeigt damit sie Gott und den Naumlchsten neu entde-cken koumlnnen Wer aber nicht nur tatkraumlftig wie der Samariter hilft sondern als Jude weiszlig dass er ihn wegen seiner Naumlchstenliebe nachahmen sollte hat eine Grenze uumlberschritten die durch das Nahekommen der Basileia durchlaumlssig geworden ist Der Gesetzeslehrer versperrt sich dieser Lektion nicht Er ist deshalb ein positives Beispiel

Literatur Andregrave Lacoque Lhermeacuteneutique de Jeacutesus au sujet de la loi dans la Parabole du Bon Samari-

tain in Etudes theacuteologiques et religieuses 78 (2003) 25-46

Ruben Zimmermann Die Etho-Poietik des Samaritergleichnisses (Lk 1025-37) Eine Ethik des Schauens in einer Kultur des Wegschauens in Wort und Dienst 29 (2007) 51-69

Thomas Soumlding

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6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)

a Die fuumlnfte und sechste Antithese bilden bei Matthaumlus den Houmlhepunkt der Reihe die sich am Dekalog orientiert in der Feldrede bei Lukas markiert das Gebot der Feindes-liebe den Mittelpunkt der Ethik Die Feindesliebe bezeichnet in groumlszligter Konsequenz den Standpunkt der Moralitaumlt steht aber auch im Brennpunkt der Kritik

bull Ist Gewaltlosigkeit wuumlrdelos verantwortungslos kraftlos So Nietzsche14

bull Ist Feindesliebe unrealistisch So der gesunde Menschenverstand und das Ur-teil professioneller Politik

15 So auch der juumldische Einwand16 den zuletzt Jacob Neusner vorgetragen hat17

Die antithetische Form bei Matthaumlus zeigt das Potential der Kontroverse Es ist nicht das Ziel der Exegese sie aufzuloumlsen sondern sie auszuloumlsen

b Der Blick in die Synopse zeigt im Vergleich mit Lk 627-36 zweierlei bull Die antithetische Form ist ndash hier wie sonst ndash ein matthaumlisches Spezifikum Sie

dient der Profilierung der Ethik Jesu im Gegenuumlber zur Tora ndash unter dem Vor-zeichen der Erfuumlllung (Mt 517-20)

bull Bei Lukas ist Gewaltverzicht direkter Ausdruck der Feindesliebe Matthaumlus dif-ferenziert und kombiniert um zu akzentuieren

Die Synopse fordert bei der lukanischen Uumlberlieferungsform anzusetzen aber die matthaumlische Variante nicht als sekundaumlr abzutun sondern als Reflex jesuanischer Konkretionen in den Blick zu nehmen

c Das Gebot der Feindesliebe tradiert uumlber die Redenquelle (Q) ist Urgestein und Herzstuumlck der Ethik Jesu18

14 Also sprach Zarathustra III 21 (Werke VI1) bdquoIch sollte nur Feinde haben die zu hassen sind aber nicht Feinde zum Verachten ihr muumlsst stolz auf euren Feind sein (260)ldquo

Die Stellung in der matthaumlischen Bergpredigt und der luka-nischen Feldrede zeigt dass im Urchristentum diese zentrale Bedeutung gesehen und tradiert worden ist Paulus reflektiert sie in Roumlm 129-21 Auch im johanneischen Kon-zept der Bruderliebe ist sie vorausgesetzt

15 Max Weber Politik als Beruf (1919) in ders Gesammelte politische Schriften hg v J Winckelmann Tuumlbingen 31971 505-560 bdquoMit der Bergpredigt ist es eine ernstere Sache als die glauben die diese Gebote heute gern zitieren Wenn es in Konsequenz der akosmistischen Liebesethik heiszligt dem Uumlbel nicht widerstehen mit Gewaltlsquo ndash so gilt fuumlr den Politiker der Satz du sollst dem Uumlbel gewaltsam widerstehen sonst ndash bist du fuumlr seine Uumlberhandnahme verantwortlich (550f)ldquo 16 Der Jude Tryphon plaumldiert nach Justin dial 52 bdquoIch weiszlig auch dass eure Lehren die in dem sogenannten Evangelium stehen so erhaben und groszlig sind dass wie ich meine kein Mensch sie beobachten kannldquo 17 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 Neuausgabe Frei-burg - Basel - Wien 2007 (engl 1993) Neusner praumlzisiert Jesus maszlige sich das Recht Gottes an so zu sprechen wie es die Bergpredigt uumlberliefert 18 Th Soumlding Die Verkuumlndigung Jesu 570-583

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d Nach Lk 6 sind alle Houmlrer der Botschaft Jesu zur Feindesliebe gerufen In erster Linie sind es seine Juumlnger als stellvertretende Adressaten der Seligpreisungen und Weherufe (Lk 620-26) Lukas sieht die Kirche als Ort wo primaumlr die Feindesliebe ver-wirklicht sein will gerade auch gegenuumlber Nicht-Christen (und berichtet in der Apos-telgeschichte dass dies in der Urgemeinde auch geschehen sei) Nach Matthaumlus hat Jesus direkt seine Juumlnger angesprochen (Mt 51f) ndash aber so dass alles Volk (vgl 423ff) es houmlren und daruumlber staunen kann (Mt 728f) Die Pointe ist missionstheologisch Wenn die Juumlnger ausziehen alle Voumllker ihrerseits zu Juumlngern zu machen sollen sie nicht nur taufen sondern auch lehren bdquoalles zu haltenldquo was Jesus ihnen bdquogebotenldquo hat (Mt 2818ff)

d Die Feindschaften die Jesu Gebot anspricht sind so paradigmatisch ausgewaumlhlt und scharf zugespitzt dass prinzipiell jede denkbare Feindschaft im Blick stehen muss Es werden die empoumlrendsten Formen paradigmatisch konkretisiert

bull religioumlse Verfolgung (Lk 628 Mt 544) bull koumlrperliche Gewalt selbst wenn sie demuumltigen soll (Lk 628f Mt 539) bull wirtschaftliche Ausbeutung auch wenn sie sich den Anschein des Rechts gibt

(Mt 540) bull politisch-militaumlrische Unterdruumlckung auch wenn sie schier uumlbermaumlchtig

scheint (Mt 541) Jede denkbare Grenze der Feindesliebe wird uumlberschritten der Familie und Ver-wandtschaft des Freundeskreises der Glaubensgenossen der (mehr oder weniger) Guten der Angehoumlrigen des eigenen Volkes (vgl Lk 1025-37)

e Die Feindesliebe zeigt sich in den gleichfalls paradigmatischen Konkretisierungen bull als Fuumlrbitte fuumlr die Verfolger (Lk 628 par Mt 544) und Segnen der

Blasphemiker (Lk 628) ndash im Gegensatz zum Verfluchen und zur Bitte um ihre Vernichtung durch Gottes Strafgericht

bull als aktiver Gewaltverzicht gegenuumlber erlittener Uumlbermacht (Lk 629 Mt 538-42) ndash im Gegensatz dazu Unrecht mit gleicher Muumlnze heimzuzahlen

bull als selbstlose Unterstuumltzung der Armen auch wenn deren Bitten laumlstig faumlllt (Lk 630) ndash im Gegensatz zum Kalkuumll des do ut des

bull als engagierter Einsatz fuumlr das Gute (Lk 62733) ndash im Gegensatz zu einem Mitmachen wie zur Resignation

Feindesliebe ist nicht passiv sondern aktiv Sie kreiert eine neue Situation In diesen Konkretisierungen erhellt die Feindesliebe als radikalisierte Naumlchstenliebe (Lev 1917f) die im Kontext der Gottessliebe steht (Mk 1228-34 parr) Sie ist nicht das Einverstaumlndnis mit Unrecht Schuld und Schwaumlche schon gar nicht schwaumlchliches Hinnehmen von Unrecht sondern im Gegenteil starkes aber deshalb auch leidensfauml-higes Eintreten dafuumlr Boumlses durch Gutes zu uumlberwinden (Roumlm 1221)

Thomas Soumlding

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h Die Feindesliebe ist theologisch begruumlndet und motiviert bull Der theologische Grund ist das Handeln Gottes selbst der als Schoumlpfer und Er-

loumlser permanent Feindesliebe praktiziert (Lk 635 Mt 545 vgl Roumlm 55ff) o Mit dem Blick ins Buch der Natur zeigt Jesus nach Matthaumlus Gott als

den der auch den Boumlsen und Ungerechten das Leben schenkt weil er will dass sie leben (nicht weil er will oder toleriert dass sie Boumlses und Unrechtes tun)

o Der Vergleich mit dem aumlhnlichen Motiv bei Seneca der (nicht zu Feindesliebe aber) zu groszligmuumltiger Gelassenheit gegenuumlber Feinden mahnt macht den Unterschied deutlich denn nach ihm kann Gott nicht anders als die Unterstuumltzung der Boumlsen in Kauf zu nehmen wenn er den Guten helfen will ndash wofuumlr er sich entscheidet weil das Gute mehr wert ist als das Boumlse

bull Das theologische Motiv ist die Nachahmung Gottes die imitatio Dei (Lk 636 Mt 548) der die Verheiszligung ewigen Lebens gilt des bdquoLohnesldquo der in der Gotteskindschaft besteht

In dieser Theozentrik ist die Feindesliebe Zustimmung zu der Liebe mit der Gott auch die Ungerechten und Suumlnder liebt ndash ohne ihre Suumlnde gutzuheiszligen aber auch ohne ihnen wegen ihrer Schuld seine Zuwendung zu entziehen

i Das Gebot der Feindesliebe ist angewandte Christologie bull Einerseits ist es Jesus der das Gebot ndash nach Matthaumlus im Gegensatz zur herr-

schenden Auslegung des atl Liebesgebotes ndash der Feindesliebe aufstellt bull Andererseits ist es Jesus der das Gebot umfassend verwirklicht ndash vorbildlich

in seinem Leiden heilbringend in seiner Lebenshingabe aus reiner Liebe

f Das bdquoAuge um Auge Zahn um Zahnldquo (Ex 2124) begrenzt die Vergeltung das bdquoIch aber sage euchldquo aktiviert zur Versoumlhnung Das alttestamentliche Gebot der Naumlchstenliebe umfasst innerhalb Israels Feindesliebe (Lk 1917f) und weitet sie aus (Lev 1934) Das bdquoIch aber sage euchldquo setzt sich von einer Auslegung ab die aus Sorge um Gottes Gerechtigkeit die Grenzen der Erloumlsung zu eng zieht Dafuumlr gibt es Beispiele in Qumran Der originaumlre Bezug des Gebotes der Naumlchstenliebe auf das Volk Gottes wird nicht aufgegeben aber ausgeweitet

bull In der Juumlngerschaft ist ndash in Israel und uumlber Israel hinaus ndash der Ort an dem die Feindesliebe so praktiziert werden soll dass sie ausstrahlt (vgl Mt 513-16)

bull Zum Volk Gottes gehoumlren nicht nur die Juden und alle die an Jesus glauben Gott hat vielmehr Jesus (nach Matthaumlus wie nach Lukas) deshalb gesendet damit durch seinen Dienst am Heil der Menschen der reine Feindesliebe ist alle Voumllker zu seinem Volk werden Die Kirche repraumlsentiert und realisiert stellvertretend diese Heilsuniversalitaumlt Ihre Feindesliebe konkretisiert sie ethisch

Feindesliebe durchbricht das Prinzip der Vergeltung ohne das Prinzip der Gerechtig-keit aufzugeben Das ist nur deshalb sittlich erlaubt und geboten weil das Gebot in der Liebe Gottes selbst begruumlndet ist die sich in der Feindesliebe Jesu realisiert die ihrerseits der theologische Nerv seines Lebens und Sterbens zur Erloumlsung der Suumlnder ist

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j Das psychologische Problem das Sigmund Freud scharf markiert hat19

Das ethische Problem das Fjodor Dostojewksi (Die Bruumlder Karamasow) Iwan in den Mund legt lautet

besteht da-rin dass blinde Aggressionen entwickelt wer sich moralisch uumlberfordert Dieses Prob-lem laumlsst sich wohl nur spirituell loumlsen in der Nachfolge Jesu die auf seine Kraft setzt in den Nachfolgern das Gute zu tun

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k Das Problem der Erfuumlllbarkeit der Bergpredigt und speziell des Gebotes der Fein-desliebe bewegt Theologie und Kirche seit aumlltester Zeit Eine erhebliche Verschaumlrfung des Problems geschieht durch eine moderne Emotionalisierung der Feindesliebe Wird sie aber als Ausdruck der Agape verstanden begruumlndet sie ndash in der Nachfolge Jesu ndash eine Praxis des Glaubens aus der Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe Als solche kann sie durchaus eingeuumlbt ausgebildet und gefestigt werden Sie setzt die Suche nach dem besten Weg der Verwirklichung nicht aus sondern ein Sie entspricht aber darin der Gottebenbildlichkeit aller Menschen und der Gotteskindschaft der zu Erloumlsenden dass sie an der Unbedingtheit der Bejahung die Gott ihnen zuteilwerden laumlsst Anteil hat

dass Feindesliebe letztlich Kumpanei mit den Taumltern auf Kosten der Opfer sei Dieses Problem das haumlufig nicht gesehen wird laumlsst sich nur soteriolo-gisch loumlsen weil derjenige der selbst aus reiner Liebe die Schuld der anderen ertra-gen und vergeben hat das Reich Gottes als umfassende Vollendung von Gerechtig-keit Friede und Freude (Roumlm 1417) verwirklicht

19 Das Unbehagen in der Kultur in Gesammelte Werke 14 London 1948 419-506 468-475493-506 (Abschnitte V VIII) bdquoNachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte war die aumluszligerste Intoleranz des Christentums gegen die drauszligen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge gewordenldquo (374) 19 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 20 bdquoSchlieszliglich will ich auch gar nicht dass die Mutter den Peiniger umarmt der ihren Sohn von Hunden zerreiszligen lieszlig Sie darf sich nicht unterstehen ihm zu verzeihen Wenn sie will mag sie verzeihen soweit es sie selber angeht sie mag dem Peiniger ihr maszligloses Mutterleid ver-zeihen aber die Leiden ihres zerfleischten Kindes zu verzeihen hat sie kein Recht sie darf es nicht wagen dem Peiniger zu verzeihen auch wenn das Kind selber ihm verzieheldquo (Muumlnchen 1958 330f

Thomas Soumlding

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7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)

71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20) a Mit der Fuszligwaschung21

b Die Fuszligwaschung ist das Zeichen der Passion Ihr folgen Gespraumlche mit den Juumln-gern die zwar von Jesus gewaschen und gereinigt sind aber groumlszligte Schwierigkeiten haben zu verstehen was sich tut

beginnt der 2 Hauptteil des Johannesevangeliums Das oumlffentliche Wirken ist abgeschlossen Jesus konzentriert sich auf seine Juumlnger bevor er oumlffentlich hingerichtet werden wird Er bereitet sie auf seine Passion und seine Auferstehung vor die den Weg zu Gott bahnen werden

bull Auf die Fuszligwaschung folgt zuerst eine Trias unmittelbarer Konsequenzen o Judas wird als Verraumlter identifiziert und verlaumlsst den Juumlngerkreis (Joh

1321-30) o Die Juumlnger werden zur wechselseitigen Liebe gemahnt (Joh 1331-35) o Petrus wird seine Verleugnung vorhergesagt (Joh 1336ff)

bull Auf die Fuszligwaschung folgen ausfuumlhrliche Abschiedsworte (Joh 14-16) die in ein Abschiedsgebet muumlnden (Joh 17)

c Joh 131-20 ist uumlbersichtlich aufgebaut

Joh 131 Der Hintergrund Joh 132-5 Die Fuszligwaschung beim Mahl 132 Die Situation 133ff Die Handlung Jesu Joh 136-11 Das Gespraumlch mit Petrus 136 Der erste Einwand des Petrus 137 Die erste Antwort Jesu 138a Der zweite Einwand des Petrus 138b Die zweite Antwort Jesu 139 Der dritte Einwand des Petrus 1310 Die dritte Antwort Jesu 1311 Kommentar des Evangelisten Joh 1312-20 Die Deutung vor allen Juumlngern 1312-17 Die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu 1318f Die Ansage eines Verrates 1320 Die Juumlnger als Apostel

21 Vgl Luise Abramowski Die Geschichte von der Fuszligwaschung in Zeitschrift fuumlr Theologie und Kirche 102 (2005) 176-203

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d Die Exegese diskutiert in welchem Verhaumlltnis die beiden Deutungen zu einander stehen Die erste ist soteriologisch die zweite ethisch ausgerichtet

bull Recht oft wird aus der Doppelung auf ein literarisches Wachstum des Textes geschlossen

o Moumlglichkeit 1 Die soteriologische Deutung ist die aumlltere die paraumlnetische die se-kundaumlre22

o Moumlglichkeit 2 Die ethische Deutung ist urspruumlnglich die soteriologisch nachtraumlglich zwischengeschoben

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Beide Ansaumltze sind von weitereichenden Voraussetzung zur relativen Chrono-logie des Corpus Johanneum gepraumlgt

o Wer den Ersten Johannesbrief fuumlr aumllter erachtet wird die ethische Deutung fuumlr urspruumlnglich halten

o Wer das Evangelium fuumlr aumllter erachtet wird eher die soteriologische Deutung als originaumlr einschaumltzen

Die ethische Deutung wird dann fuumlr sekundaumlr zu erachten wenn man zu dem Urteil gelangt die johanneische Theologie sei urspruumlnglich wenig konkret und eher spirituell ausgerichtet waumlhrend erst sekundaumlr Johannes gesamtkirchlich eingenordet worden sei Beide Ansaumltze gehen von einem literarischen Schichtenmodell aus das der Ei-genart johanneischer Literatur in den Evangelienerzaumlhlungen nicht angemes-sen ist Beide werden durch das Modell einer bdquorelectureldquo gemildert das ndash aumlhnlich wie in der Prophetenexegese des Alten Testaments ndash mit einer Fortschreibung der Texte rechnet aber sie zugleich als vergegenwaumlrtigende Aneignung des vor-gegebenen Textes versteht24

bull Es mehren sich wieder die Stimmen die Joh 13 als literarisch einheitlich anse-hen

Allerdings stoumlszligt dieses Modell auf die Schwie-rigkeit dass das Liebesgebot das die ethische Deutung vorbereitet in Joh 1331-35 dominant ist und nicht nur in Joh 15-16 ausgefuumlhrt sondern auch in Joh 1421 angebahnt wird

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Die Doppelung erklaumlrt sich aus der Theologie der Liebe Sie hat eine Innenseite die Liebe Jesu zu sein Seinen in der sich nach Joh 1421 die Liebe das Vaters zum Sohn ereignet und sie hat eine Auszligenseite die sich nach Joh 1331-35 und Joh 15 in der Bruderliebe der Juumlnger erweist von der die Welt angezogen werden wird (Joh 17)

Allerdings braucht es eine Erklaumlrung fuumlr die Deutung Eine moumlgliche Er-klaumlrung waumlre der Adressatenwechsel aber die Petrusszene spielt sich vor den Augen und Ohren aller ab

22 So Rudolf Schnackenburg Joh III passim 23 So Udo Schnelle Joh 237 Er will eine Ursprungsform (132a4512ab162017) die recht nahe bei Lk 22 und der Mahnung der Juumlnger zum Dienen steht zuerst in der johanneischen Schule (der er den Ersten Johannesbrief mit seiner Theologie der Liebe zurechnet) um die Vorbildethik erweitert sehen (1312c13-15) bevor der Evangelist selbst von der Einleitung an (131) konsequent seine soteriologische Deutung ins Fundament der Geschichte eingebaut habe (136-10ab) 24 So Jean Zumstein Joh 25 So Hartwig Thyen Joh

Thomas Soumlding

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711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus a Die Liebe Jesu zu den Seinen (Joh 131) verwirklicht die Liebe Gottes zur Welt (Joh 316) die von der Liebe des Vaters zum Sohn getragen wird (Joh 335 1017) Es ist die nach der Zwischennotiz von Jesu Freundschaft mit Martha Maria und Lazarus (Joh 115) erste Betonung der Agape Jesu von der spaumlter das Liebesgebot Joh 1334 und die Verheiszligung dauernden Beistandes der Juumlnger gedeckt ist (Joh 1421-31)

b In der Liebe Jesu zu den Seinen verbindet sich die Liebe Gottes zur Welt mit der Liebe Jesu zu seinen Freunden (Joh 15) Es ist eine unbedingte Bejahung und Wert-schaumltzung die auf Sympathie beruht und lebendig macht

c Die Liebe erweist Jesus den bdquoSeinenldquo bull Im Ruumlckraum steht Joh 19-13 dass die bdquoSeinenldquo den Logos abgelehnt haben

ndash bis auf diejenigen die an seinen Namen glauben und deshalb das Recht der Gotteskindschaft erhalten

bull Die bdquoSeinenldquo sind die Juumlnger die sich von Jesus in die Nachfolge haben rufen lassen (Joh 135-51) und in der galilaumlischen Krise Jesus nicht verlassen haben (Joh 660-71) Sie haben ihrerseits schwere Glaubensprobleme ndash aber werden sie durch Jesus uumlberwinden

bull In Joh 14 und Joh 17 wird erklaumlrt werden dass die Liebe Jesu zu den Seinen ndash wie die zum Lieblingsjuumlnger ndash nicht exklusiv sondern positiv zu verstehen ist

Dass Jesus den Seinen die Liebe bdquobis zum Endeldquo erweist verweist auf den Tod Jesu Das griechische Wort ist mehrdeutig teloj kann bdquoEndeldquo aber auch bdquoZielldquo bedeuten Beide Bedeutungen schwingen mit

bull Der Tod Jesu ist das definitive Ende seiner geschichtlichen Sendung das zu akzeptieren wird den Juumlngern ungeheuer schwer fallen

bull Der Tod Jesu ist das Ziel seines Wirkens insofern es seine Liebe und Hingabe definitiv werden laumlsst

Der Korrespondenzsatz ist das Todeswort Jesu Joh 1930 bull Es ist ein Gebet wie nach allen Synoptikern (Mk 1534 par Mt 2746 bdquoGott

mein Gott warum hast du mich verlassenldquo ndash Ps 222 Lk 2346 bdquoVater in deine Haumlnde gebe ich meinen Geistldquo ndash Ps 316) aber als letztes Offenba-rungswort an die Welt

bull Die traditionelle Uumlbersetzung lautet bdquoEs ist vollbrachtldquo Man kann aber auch sagen bdquovollendetldquo (Muumlnchner Neues Testament Bible de Jerusaleme bdquoCest acheveacuteldquo) oder bdquozu Endeldquo (King James Bible bdquoIt is finishedldquo)

Eine moumlgliche auf Joh 131 abgestimmte Uumlbersetzung waumlre (wie im Muumlnchener Neu-en Testament) bdquoEs ist vollendetldquo (tetelestai)

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712 Die Fuszligwaschung a Jemandem vor dem Mahl die Fuumlszlige zu waschen ist ein Dienst den traditioneller-weise Sklaven ihren Herren erweisen (vgl 1Sam 2541)26

Joh 1313f zeigt dass die sozialen Dimensionen der Fuszligwaschung klar vor Augen stehen der Gesamttext dass der Ritus sakramental gefuumlllt wird

Das Waschen der Fuumlszlige ist ein Ritus der Vorbereitung der eine koumlrperliche Wohltat mit einer Geste der Houmlflich-keit verbindet die Anerkennung und Ehrerbietung meint (Gen 184 vgl Lk 744) und zudem mit einer rituellen Bedeutung versieht die einen Uumlbergang gestaltet von drauszligen nach drinnen vom Alltag zum Fest vom Profanen zum Heiligen

7121 Die soteriologische Deutung a Im Gespraumlch mit Petrus wird die Bedeutung der Fuszligwaschung soteriologisch gedeu-tet Sie ist eine bdquoReinigungldquo ndash nicht wie in der Taufe sondern wie in der Buszlige Petrus braucht keine Wiederholung der Wiedergeburt die er als glaumlubig gewordener Taumluferjuumlnger erlebt hat aber er bedarf mehr als andere der Vergebung weil er ndash ent-gegen seinem Vorsatz ndash Jesus verleugnet Waumlhrend er sagt fuumlr Jesus sterben zu wol-len muss gerade fuumlr ihn Jesus sterben

b Petrus erkennt nach Joh 136 das Unmoumlgliche der Situation dass der Herr ihm ei-nen Sklavendienst leistet Er wehrt diesen Dienst doppelt ab (Joh 1368a) ndash so wie er nach Joh 1336ff nicht will dass Jesus fuumlr ihn sein Leben einsetzt In diesem Nein kommt eine Liebe zu Jesus zum Ausdruck die bestimmen will Gleichzeitig aber ist das Nein auch Ausdruck des Missverstaumlndnisses dass Petrus der Diakonie Jesu womoumlglich gar nicht bedarf Petrus verschaumlrft seinen Widerspruch der aus Unverstaumlndnis stammt indem er dann ganz gewaschen werden will (Joh 139) ndash womit er aber seine Berufung leugnet

c Jesus deckt das Missverstaumlndnis des Petrus auf Die Fuszligwaschung steht nicht am Anfang sondern an einer Biegung des Weges mit Jesus Die Weg-Gemeinschaft ist darin begruumlndet dass Jesus sich in seinen Dienst stellt Dem muss entsprechen dass Petrus sich den Dienst gefallen laumlsst Er muss Jesus so nahe wie in der Fuszligwaschung an sich heranlassen Er muss den Rollentausch akzeptieren Die Langversion von Vers 10 die durch den Codex Vaticanus gedeckt und als lectio difficilior gesichert ist entspricht dem Kontext

bull Im Bild Auch nach dem Vollbad macht man sich wieder die Fuumlszlige schmutzig Man laumlsst sie sich waschen damit auch sie sauber sind man laumlsst nur sie waschen weil der sonstige Koumlrper gereinigt ist

bull In der Sache Wer durch das Bad der Wiedergeburt die Taufe bdquoganz reinldquo geworden ist muss diese Reinheit aber durch seine Schuld verloren hat muss sich die Fuumlszlige waschen lassen um durch Jesus zu Gott zu gelangen Dem entspricht am ehesten eine Deutung auf die Buszlige wie sie orthodoxen Vaumlter favorisieren

26 Hellenistische Parallelen Neuer Wettstein I2 636-644

Thomas Soumlding

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7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

48

c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
    • Kontakt
      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
        • Markusevangelium
        • Lukasevangelium
        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 4: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

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- bdquoAm groumlszligten ist die Liebeldquo (1Kor 1313) Eros und Agape im Alten und im Neuen Testa-ment in Gregor Maria Hoff (Hg) Liebe Provokationen Salzburger Hochschulwochen 2008 Innsbruck ndash Wien 2008 66-103

- Der Geist der Liebe Zur Theologie der Agape bei Paulus und Johannes in Edith Duumlsing ndash Hans Dieter Klein (Hg) Geist Eros und Agape Untersuchungen zu Liebesdarstellungen in Philosophie Religion und Kunst Wuumlrzburg 2009 147-168

- Die Verkuumlndigung Jesu ndash Ereignis und Erinnerung Freiburg - Basel ndash Wien 22012 (2011) 541-551

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Theiszligen Gerd Das Doppelgebot der Liebe Juumldische Ethik bei Jesusldquo in ders Jesus als histo-rische Gestalt Beitraumlge zur Jesusforschung hg v Annette Merz (FRLANT 202) Goumlttingen 2003 57 -72

Altes Testament und Judentum Becking Bob bdquoLove thy neighbour Exegetical remarks on Leviticus 191834ldquo in Reinhard

Achenbach Martin Arneth (Hg) bdquoGerechtigkeit und Recht zu uumlben (Gen 1819) Studien zur altorientalischen und biblischen Rechtsgeschichte zur Religionsgeschichte Israels und zur Religionssoziologie Festschrift fuumlr Eckart Otto (Beihefte zur Zeitschrift fuumlr altorientali-sche und biblische Rechtsgeschichte 13) Wiesbaden 2009 182-187

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Konradt Matthias Menschen- und Bruderliebe Beobachtungen zum Liebesgebot in den Tes-tamenten der Zwoumllf Patriarchen in ZNW 88 (1997) 296-310

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- Feindeshaszlig und Bruderliebe Beobachtungen zur essenischen Ethik in Revue de Qumran 17 (1995) 601-619

Thomas Soumlding

5

- Naumlchstenliebe bei Jesus Sirach Eine Notiz zur weisheitlichen Ethik in Biblische Zeitschrift 42 (1998) 239-247

Matthaumlusevangelium Haumlfner Gerd bdquoSelig sind die Friedensstifterldquo (Mt 59) Feindesliebe und Vergebung als Aspekte

matthaumlischer Friedensethik In Eberhard Bons (Hg) Bible et paix Meacutelanges offerts agrave Claude Coulot Paris 2010 85 - 96

Harnisch Wolfgang Die Goldene Regel und das Liebesgebot Mt 712 im Kontext der Bergpre-digt in ders Rhetorik und Hermeneutik in der Apokalyptik und im Neuen Testament Stuttgart 2009 204-222

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Markusevangelium Kertelge K Das Doppelgebot der Liebe im Markusevangelium in TThZ 103 (1994) 33-55

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6

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Wischmeyer Oda Das Gebot der Naumlchstenliebe bei Paulus Eine traditionsgeschichtliche Un-tersuchung in dies Von Ben Sira zu Paulus Gesammelte Aufsaumltze zu Texten Theologie und Hermeneutik des Fruumlhjudentums und des Neuen Testaments Tuumlbingen 2004 137-161

Jakobusbrief Theiszligen Gerd Naumlchstenliebe und Egalitaumlt Jak 21-13 als Houmlhepunkt urchristlicher Ethik in

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Thomas Soumlding

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1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch

a Das Liebesgebot ist zweifellos fuumlr die Ethik Jesu wie des Urchristentums zentral Es weist nicht nur den Weg Jesu selbst und seiner Nachfolger sondern wird auch zum Gegenstand theologischen Nachdenkens Sowohl in der synoptischen und johannei-schen Tradition wie auch bei Paulus und im Jakobusbrief wird der zentrale Stellenwert des Liebesgebotes markiert und argumentativ entfaltet Das spricht fuumlr eine bewuss-te programmatische Positionierung Gerade sie wirft aber exegetische Fragen auf

bull Welches Verhaumlltnis besteht zum Alten Testament und zum Judentum Die Antwort ist nicht offenkundig weil einerseits das bdquoGesetzldquo zitiert (Lev 1918) andererseits aber sein genaues Verstaumlndnis und Gewicht immer wie-der kontrovers diskutiert wird

bull Welches Verhaumlltnis besteht zu den Standards profaner Ethik in der Antike Auch diese Frage hat Gewicht weil gerade das Liebesgebot einerseits gegen alles Sektiererische aufgestellt andererseits aber so profiliert wird dass es zum Kennzeichen der Jesusbewegung und der fruumlhen Kirche wird

bull Worauf richtet sich die Naumlchstenliebe Im Neuen Testament wird nur an einer einzigen Stelle ndashund zwar vom kriti-schen Gesetzlehrer nach Lk 1029 ndash gefragt wer der bdquoNaumlchsteldquo ist den es zu lieben gilt Im uumlbrigen reicht das Spektrum von der Feindes- bis zur Bruderlie-be

bull Was ist eine bdquoLiebeldquo die geboten werden kann Das Alte und das Neue Testament stimmen darin uumlberein dass es ein Liebes-gebot gibt Das laumlsst nach dem Verstaumlndnis der Liebe fragen

o Das Leitwort heiszligt Agape Das Wort im Profangriechischen blass ge-winnt durch die Septuaginta Farbe

o Es meint im Kern die Liebe Gottes zu seinem Volk die auf die Gottes- und die Naumlchstenliebe der Israeliten ausstrahlt Die Liebe Gottes ist kreativ Indem Gott Israel erwaumlhlt ruft er es ins Leben Die Liebe Got-tes ist unverbruumlchlich Auch wenn das Volk untreu ist bleibt Gott treu Die Liebe Gottes ist leidenschaftlich So wie er sein Herz an die Menschen in Israel haumlngt will er sie auch fuumlr sich und fuumlr ihr eigenes Heil gewinnen

o Auf diese Liebe Gottes antwortet die Liebe zu Gott die sich im Be-kenntnis zum einen Gott ausspricht (Dtn 64f) und im uumlberzeugten Gehorsam gegen sein Gebot bewahrheitet Der Liebe zu Gott ent-spricht die Naumlchstenliebe (Lev 1917f) weil man Gott nicht lieben kann ohne auch die zu lieben die er liebt

Auch wenn es einleuchten kann dass eine Liebe geboten werden kann bleiben die Frage wer diese Liebe gebieten kann und wie das Gebot sich erfuumlllen laumlsst Diese Fragen treiben schon Jesus und das Urchristentum um

Die exegetischen Fragen verlangen exegetische Antworten die den Texten ihr Recht geben und die noumltigen Unterschiede herausarbeiten aber auch Gemeinsamkeiten erkennen lassen Auf diese Weise kann ein differenzierter Eindruck der Liebes-Ethik im Neuen Testament und der ganzen Bibel entstehen

8

b Die katechetischen und didaktischen Fragen stellen sich auch im Verstaumlndnis bibli-scher Texte die aus der Vergangenheit reden aber darin auf die geschichtlichen Ur-spruumlnge des Glaubens wie der Kirche weisen und den Kanon heiszligt die Richtschnur christlicher Lehre und glaumlubigen Lebens spannen Entscheidend ist die Vergegenwaumlr-tigung

bull Wer ist zur Naumlchstenliebe gerufen Die Konkretion ist wesentlich weil das bdquowie dich selbstldquo zum Liebesgebot ge-houmlrt und damit das bdquoIchldquo des Menschen der das Gebot houmlrt in Rede steht Deshalb geraten die jeweils gegenwaumlrtigen Adressaten zentral in den Blick ihr Ich-Bild ihr Gottes-Bild und ihr Du-Bild Diese anthropologische Konkretisie-rung spiegelt auf die Exegese zuruumlck

bull Wie laumlsst sich die Naumlchstenliebe leben Die exegetischen Klaumlrungen zum Begriff des Naumlchsten (des Freundes des Feindes der Schwester und des Bruders) wie der Agape spitzen die Frage zu auf welchen Feldern und in welchen Formen die Naumlchstenliebe heute und jetzt gefragt ist Das Liebesgebot ist grundsaumltzlich Also ist es auf kreative Konkretisierungen hin angelegt Die katechetische und didaktische Vermitt-lung ist mithin aktive Exegese ndash und laumlsst auch im Ruumlckblick nach Konkretionen fragen Die Forderung der Naumlchstenliebe nimmt das Problem von Handlungskonkur-renzen und Entscheidungsnotwendigkeiten ernst und fordert zu klaren Optio-nen auf ndashdie jeweils heute getroffen werden muumlssen

bull Wer fordert die Naumlchstenliebe Ist Naumlchstenliebe selbstverstaumlndlich und deshalb ein Gebot Gottes Oder ist sie ein Gebot Gottes weil sie menschlich aber nicht selbstverstaumlndlich ist Die Exegese identifiziert (auf der Basis des kanonischen Textes) Moses und Je-sus als Gesetzgeber im Namen Gottes Die Autoritaumltsfrage stellt sich heute dramatisch neu weil die Bibel vermittelte Autoritaumlt ist und der menschliche Faktor bei ihrer Entstehung Uumlbermittlung und Erklaumlrung essentiell Die Exe-gese klaumlrt dies auf und wehrt dadurch jedem Fundamentalismus wird aber auch durch die Vergegenwaumlrtigungen zu kritischer Differenzierung angeleitet

Literatur zur Vertiefung CS Lewis The four loves London 1960 Deutsch Was man Liebe nennt Zuneigung Freund-

schaft Eros Agape Gieszligen 72004

Thomas Soumlding

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2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)

a Das Gebot der Naumlchstenliebe steht im Kern des Heiligkeitsgesetzes (Lev 17-26) Lev 19 Dieses Gesetz das zu den aumlltesten Textcorpora der Tora gehoumlrt ist von der imitatio Dei gepraumlgt (Lev 191) Gottes Heiligkeit an der Israel sich ausrichten soll ist der Glanz seiner Praumlsenz die Aura seiner Potenz das Strahlen seiner Transzendenz Israels Heiligkeit ist seine Zuwendung zu Gott und seinem Gesetz seine Abwendung von den Goumltzen und dem Unrecht Gottes Heiligkeit fuumlhrt nicht zu religioumlsen Berser-kern die im Namen des Einen alles andere vernichten sondern zu Menschen die lieben koumlnnen

b Das Heiligkeitsgesetz1

Das Liebesgebot ragt aus den ethischen Weisungen heraus Es bildet den kroumlnenden Abschluss einer Reihe sozial engagierter Gebote (Lev 1911-18) die allesamt negativ formuliert sind waumlhrend das Liebesgebot positiv formuliert wird In Lev 1934 findet es ein Echo mit der Ausweitung auf die Fremden als Schlusspointe des Heiligkeitsethos

umfasst einen bunten Strauszlig kultischer und sozialer Gebote Ihr innerer Zusammenhang wird dadurch gestiftet dass Heiligkeit sowohl das Gottes-verhaumlltnis als auch das Verhaumlltnis zum Naumlchsten praumlgt

c Durch die Forderung den Naumlchsten zu lieben geschieht die notwendige Konzentra-tion Der bdquoNaumlchsteldquo dem die Liebe gelten soll ist nicht einfach wer einem mehr oder weniger zufaumlllig begegnet2 sondern nach dem genauen Wortlaut der bdquoBruderldquo der bdquoStammesgenosseldquo das bdquoKindldquo des eigenen Volkes (Lev 1917f)3

Die Beispiele zeigen aber auch dass die Naumlchstenliebe von Anfang an faktisch Fein-desliebe ist Denn durchweg geht es um erlittenes Unrecht begangene Fehler ge-schehene Suumlnden Das Liebesgebot bahnt einen Ausweg aus der verfahrenen Situati-on Es nimmt den moralisch in die Pflicht dem Unrecht widerfahren ist Das Opfer soll aktiv werden um einen neuen Anfang zu setzen ndash nicht um die Taumlter zu entlasten sondern um ihnen zu helfen aus ihrer Schuld herauszukommen Dem entspricht ein offensives Verstaumlndnis von Heiligkeit Sie strahlt aus und zieht an

Das entspricht dem Kontext des Heiligkeitsgesetzes das von der Erwaumlhlung und Verpflichtung Israels handelt Es ist die Gemeinschaft des von Gott geliebten Volkes die durch Naumlchsten-liebe lebendig werden soll Wuumlrden die Grenzen verschwinden staumlnde die Naumlchsten-liebe in der Gefahr sich in unverbindliche Fernstenliebe aufzuloumlsen und den Kontakt zu Gott zu verlieren der sich seines Volkes erbarmt Durch die Konzentration auf die Naumlchsten des Gottesvolkes gewinnt die Zugehoumlrigkeit zu Israel Kontur die Heiligkeit wird konkret Die in Lev 1917f beschriebenen Beispiele setzen durchweg Nahbezie-hungen voraus

1 Vgl (klassisch historisch-kritisch) Klaus Gruumlnwaldt Das Heiligkeitsgesetz Levitkus 17-26 Ge-stalt Tradition und Theologie (BZAW 271) Berlin 1999 2 So jedoch Martin Buber Zwei Glaubensweisen (1950) in ders Werke I Muumlnchen - Heidel-berg 1962 651-782 701f bdquoSei liebreich zugewandt den Menschen mit denen du je und je auf den Wegen deines Lebens zu schaffen bekommst 3 Vgl Hans-Peter Mathys Liebe deinen Naumlchsten wie dich selbst

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d Die Konzentration der Naumlchstenliebe begruumlndet keine Doppelmoral sie ist positiv nicht exklusiv verstanden Das zeigt die Ausweitung auf die bdquoFremdenldquo mit derselben Maszligeinheit bdquowie dich selbstldquo Die Begruumlndung bdquodenn ihr seid selbst Fremde in Aumlgyp-ten gewesenldquo (Lev 1933f) erhellt eine uumlberraschende weil verdraumlngte Naumlhe Israel kann und soll das Leben der bdquoFremdenldquo nachfuumlhlen und sich ihnen in gleicher Weise wie den Mitgliedern des eigenen Volkes ndash bdquowie dich selbstldquo ndash zuwenden Die bdquoFremdenldquo sind in der Rechtssprache der Tora Nicht-Juden die dauerhaft im Hei-ligen Land leben Sie sind Buumlrger zweiter Klasse in Israel ndash wie einst Israel in Aumlgypten Desto wichtiger ist das Liebesgebot Die Septuaginta (LXX) uumlbersetzt mit bdquoProselytldquo um die Situation der Diaspora zu beruumlcksichtigen und den zuweilen prekaumlren Status der Konvertiten zum Judentum zu verbessern Im woumlrtlichen Sinn sind die bdquoProsely-tenldquo diejenigen die von auszligen hinzukommen insofern waren fuumlr die griechischen Uumlbersetzer die Israeliten in Aumlgypten bdquoProselytenldquo Wer nur auf der Durchreise ist ist keineswegs rechtlos er genieszligt Gastrecht und Gastfreundschaft4

Die Direktheit und Nachhaltigkeit des Liebesgebotes wird durch die Ausweitung un-terstrichen

deren Heiligkeit aumllter ist als das geschriebene Gesetz

e Das Liebesgebot wird zwar an anderen Stellen des Alten Testament (lange) nicht zitiert gehoumlrt aber in ein Feld aumlhnlicher ethischer Weisungen Es ist beeinflusst und es hat beeinflusst5

f Eine solche Liebe ist nicht storgeacute weil das Volk Gottes die natuumlrlichen Familienban-de uumlberschreitet wiewohl Israel oft genealogisch verstanden wird Sie ist nicht Freundschaft weil die Beziehung die sie kultiviert nicht freiwillig gewaumlhlt und gestal-tet sondern von Gott vorgegeben ist Diese Liebe kann nicht im Eros aufgehen weil sie weniger das Hingerissensein von anderen als die Weggemeinschaft mit ihnen kul-tiviert sie ist Agape weil sie von Gott kommt auch wenn im Kontext nicht expressis verbis von Gottes Liebe die Rede ist Unleugbar aber ist es Liebe zu vergeben und Rachegeluumlsten nicht nachzugeben sondern am Aufbau einer Friedensbeziehung zu arbeiten Nicht das Begehren sondern die Sympathie ist der Motor der Agape Aber sie begehrt verstanden und angenommen zu werden Getragen ist sie von der heili-gen Liebe Gottes ndash und zwar nicht nur weil allein Gott die Kraft geben kann den ers-ten Schritt der Versoumlhnung zu tun sondern weil Gott diejenigen die auf sein Wort houmlren sollen erst zu Houmlrern des Wortes macht und sie in sein Volk hineinstellt das er sich erwaumlhlt hat

Ex 244f ist ein gutes Beispiel fuumlr angewandte Feindes- Dtn 221-4fuumlr aktive Bruderliebe

4 Vgl Helga Rusche Gastfreundschaft im Alten Testament im Spaumltjudentum und in den Evan-gelien in ZMRW 41 (1957) 170-188 5 Vgl Gianni Barbiero ElAsino dell Nemico Rinuncia alla vendetta e amore dell nemico nella legislatione dellAntico Testamento (Es 234-5 Dt 221-4 Lv 1917-18) (AnBib 128) Rom 1991

Thomas Soumlding

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3 Das Liebesgebot im Judentum

a In den alttestamentlichen Spaumltschriften steigt die Bedeutung des Liebesgebotes bull Die Semantik der Septuaginta (mit der Agape als Zentrum) staumlrkt den theolo-

gischen Grundzug durch die explizit gewordene Verbindung mit der Liebe Gottes und der Liebe zu Gott

bull Nach Tob 413 soll die Naumlchstenliebe als Bruderliebe die juumldische Kommunitaumlt in der Diaspora aber auch im Heiligen Land staumlrken deshalb ist das Liebesge-bot mit der Warnung vor einer Mischehe verbunden

bull Nach Jesus Sirach6

o als Liebe zum Sklaven der aufgrund seiner Treue und Bildung als Partner anerkannt werden soll (Sir 721)

wird das Gebot der Naumlchstenliebe in verschiedenen sozia-len Kontexten konkretisiert

o als Konstituierung einer ethischen Maxime die auf die Goldene Regel zulaumluft (Sir 3115)

o als Schaumlrfung des Gewissens fuumlr den caritativen Einsatz fuumlr Arme (Sir 3423-27)

Die Konkretisierungen passen in das Schema weisheitlicher Ethik das im Neu-en Testament auch der Jakobusbrief ausfuumlllt

Die Steigerung der Bedeutung erklaumlrt sich aus zwei Gruumlnden bull einer Personalisierung der Ethik bull und einer Vermittlung juumldischer Ethik die auf Elementarisierung setzt

Die Bedeutungssteigerung erhoumlht die Attraktivitaumlt der juumldischen Ethik in der antiken Welt

6 Vgl Th Soumlding Naumlchstenliebe bei Jesus Sirach

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b Aus der Septuaginta erklaumlrt sich die hohe Aufmerksamkeit fuumlr das Liebesgebot im hellenistischen Judentum Die Testamente der Zwoumllf Patriarchen7 reden haumlufig im ethischen Sinn von Liebe8 nahezu durchweg in der Form direkter oder indirekter Aufforderungen Die TestXII sind eine griechisch uumlberlieferte im 2 Jh von christlicher Hand redigierte aber dem wesentlichen Textbestand nach urspruumlnglich juumldische Schrift deren Wurzeln bis in das 2 Jh v Chr reichen koumlnnen Die Testamente nehmen Gen 49 auf und lassen die 12 Soumlhne Jakobs ihrerseits Abschiedsreden halten9

Lev 1918 wird zwar nicht explizit zitiert aber an vielen Stellen angespielt und durch-weg aktualisiert

Sie arbeiten das Problem der Diaspo-ra auf die als Zerstreuung gesehen und als Strafe Gottes gedeutet wird In dieser Si-tuation kommt es auf den inneren Zusammenhalt der Juden an der nach den Patriarchentestamenten nicht nur rituell sondern auch ethisch begruumlndet werden soll

10

7 Aumlltere Standardausgabe RH Charles The Greek Versions of the Testaments of the Twelve Patriarchs Oxford 1908 Nachdruck Darmstadt 1960 Neuere Edition Mde Jonge - HW Hollander - Hde Jonge - Th Korteweg The Testaments of the Twelve Patriarchs A Critical Edition of the Greek Text (PVTG I2) Leiden 1978 Die aramaumlische Version des TestLevi enthaumllt kein Liebesgebot Deutsche Uumlbersetzung J Becker Die Testamente der zwoumllf Patriarchen in JSHRZ III1 (21980)

Es zeigen sich Rezeptionslinien die im Bedeutungsfeld von Lev 1917f bleiben (vgl TestGad 43-8) die Explikation der Heiligkeit daumlmpfen aber den Bezug auf die Nachbarschaften im Gottesvolk Israel nicht aufgeben sondern unter den Bedingungen der Diaspora konkretisieren Nur in TestIss 76 (bdquohellip jeden Menschen hellipldquo) ist eine universalistische Deutung moumlglich

8 Vgl TestRub 69 Sim 447 Iss 52 76 Seb 85 Dan 53 Gad 42(6)7 613 77 Jos 1723 Benj 33ff 435 81 vgl auch Ass 24 Gad 33 (uumlber den Hasser) 46 Jos 175 Benj 82 (uumlber das Verhaumlltnis des Mannes zur Frau) Gad 15 (uumlber Jakobs Vaterliebe zu Joseph) 9 Vgl Th Soumlding Solidaritaumlt in der Diaspora M Konradt Menschen- und Bruderliebe 10 Ganz deutlich ist Gad 42 Dan 51 bezieht sich direkt auf das Gebot und Gesetz (vgl Iss 51) des Herrn und hat dabei augenscheinlich auch Lev 1918 vor Augen Fuumlr den Einfluss des Lie-besgebots sprechen uumlberdies die Formulierungen von Benj 334 Rub 69b bezieht die Liebe zwar direkt auf den Bruder hat aber im parallelen Teilvers 6a den Naumlchsten aumlhnlich liegt der Fall in Dan 52a3b und Gad 61

Thomas Soumlding

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c Auch Schriften die tiefer in Palaumlstina wurzeln nehmen das Liebesgebot auf Das Buch der Jubilaumlen11

11 Die Originalsprache ist hebraumlisch zu den einschlaumlgigen Qumran-Fragmenten vgl JC VanderKam Textual and Historical Studies in the Book of Jubilees (HSM 14) Missoula 1977 Die davon abhaumlngige griechische Uumlbersetzung ist bruchstuumlckhaft erhalten vgl A-M Denis Fragmenta Pseudepigraphorum quae supersunt Graeca una cum Historicorum et auctorum Iudaeorum Hellenistarum Fragmentis collegit et ordinavit (PVTG 3) Leiden 1970 70-102 Die auf der griechischen Uumlbersetzung fuszligende aumlthiopische Fassung die in den gemeinsam uumlberlie-ferten Partien der Qumran-Version sehr genau entspricht hat ediert RH Charles Mashafa Kufacirclecirc or the Ethiopic Version of the Hebrew Book of Jubilees (Anecdota Oxoniensia) Oxford 1895 Deutsche Uumlbersetzung Klaus Berger Das Buch der Jubilaumlen in JSHRZ II3 (1981)

im 2 Jh vor Chr geschrieben protestiert gegen die Korrup-tion des Makkabaumlerstaates es tritt mit dem Anspruch auf Mose auf dem Sinai offen-bart worden zu sein (Jub 11-29) es will einem Israel das einer schleichenden Hellenisierung verfaumlllt neue Identitaumlt verleihen indem es den Blick auf die normative Anfangszeit die Zeit der Vaumlter und des Mose lenkt und von ihr her eine authentische Halacha entwickelt die es erst ermoumlglicht gerecht zu leben (Jub 2326-31) Zum his-torischen Paradigma wird der Bruderstreit zwischen Jakob und Esau (Jub 3420 - 392a) Das Liebesgebot ndash Lev 1918 wird nicht direkt aber indirekt zitiert ndash hat eine qualitativ groszlige Bedeutung weil es uumlber die Klaumlrung halachischer Fragen hinaus den Geist wie die Praxis des Zusammenhaltes schaumlrft allerdings nicht allein oder als Krouml-nung sondern im konstitutiven Verbund mit anderen ethischen Prinzipien wie Ge-rechtigkeit Die Verzeihung die Joseph den Bruumldern gewaumlhrt macht ihn zum ethi-schen Vorbild dem es nachzueifern gilt Die Pflicht zur Liebe endet aber dort wo es sich nicht mehr nur um persoumlnliche Gegnerschaft sondern um Konflikte mit Frevlern handelt die dem Gebot Gottes grundlegend zuwiderhandeln Eine universalistische Ausweitung der Bruderliebe fasst Jub 202 ins Auge Zwar bezieht sich das Liebesge-bot direkt nur auf die herbeigerufenen Kinder und Enkel Abrahams aber unter ihnen finden sich namentlich genannt auch Ismael mit seinen zwoumllf Kindern und die Kinder der Ketura mit ihren Soumlhnen (Jub 201) Dadurch wird bereits der juumldische Rahmen gesprengt Uumlberdies baut die Formulierung eine Verbindung zwischen Bruderliebe und Menschenliebe auf Im ethischen Nahbereich koumlnnen auch Nicht-Juden Naumlchste werden

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d Die Schriften aus Qumran12 enthalten in zwei Corpora bedeutende Zeugnisse einer Naumlchstenliebe die sich innerjuumldisch aus dem Konflikt mit Frevlern als Gegenstuumlck zum Feindeshass erklaumlrt13

bull Die Gemeinderegel (1QS vgl 1QSa) beschreibt das Zusammenleben einer juuml-dischen Reformbewegung die sich in striktem Gegensatz nicht nur zu den Heiden sondern auch zu den Priestern in Jerusalem als wahres Israel konsti-tuieren abseits vom Tempel Die Forschung diskutiert die Beziehung zu den Esseacutenern uumlber die Philo von Alexandrien (15 v Chr - 40 n Chr ) in seiner Schrift uumlber die Freiheit des Tuumlchtigen (Quod omnis probus liber sit 72-91) der juumldische Historiker Flavius Josephus (3738 - 100 n Chr) in seinen Buuml-chern uumlber den juumldischen Krieg (De bello Judaico 2 119-161) und die Ge-schichte Israels (Antiquitates Judaicae 181118-22) sowie der roumlmische Ge-lehrte Plinius der Aumlltere (23-79 nChr) in seiner Naturgeschichte (Naturalis historia 573) berichten

Fuumlr die Gemeinderegel ist ein religioumlser Dualismus zwischen den bdquoSoumlhnen des Lichtesldquo und den bdquoSoumlhnen der Finsternisldquo wesentlich Er entsteht durch den Frevel derjenigen die das Heilige wahren sollen er wird von Gott sanktio-niert Entscheidend ist in einem aufwendigen Konversionsverfahren den Weg aus der massa damnata in Israel zur Kommunitaumlt der Frommen zu finden um so der Gnade der Rechtfertigung teilhaftig zu werden Die Zugehoumlrigkeit zur Gemeinschaft zeigt sich im Ritus und im Ethos Das Ethos ist durch Naumlchstenliebe strukturiert (1QS 13f9ff 224 5425 82 91621 1026) Sie ist im Kern Zustimmung zu der Erwaumlhlung und Vergebung die dem Mitbruder wie der eigenen Person zuteil geworden ist Deshalb ent-spricht der Naumlchstenliebe der Feindeshass Er ist im Kern Ablehnung und Dis-tanzierung die aber gerade nicht durch Gewalt sondern durch strikte Gewalt-losigkeit strukturiert wird damit das Gesetz des Handelns nicht von den Frev-lern sondern den Gerechten bestimmt wird (1QS 1017f)

bull Die Hymnenrolle (1QH) sammelt Psalmen die den Kampf der Guten gegen die Boumlsen der Gerechten gegen die Ungerechten verherrlichen Die Sprache ist militaumlrisch der Stil metaphorisch Die Spiritualitaumlt passt zur Ekklesiologie und Ethik der Gemeinderegel aber welchen genauen Bezug es gibt ist in der Qumran-Forschung strittig Entscheidend ist Gott fuumlr die eigene Erwaumlhlung zu preisen Das dankbare Gotteslob spiegelt sich in der Abscheu vor dem und den Boumlsen Liebe ist Zu-stimmung zur Liebe Gottes Hass Zustimmung zum Hass Gottes (1QH 142-8)

Die beiden Corpora stammen aus vorchristlicher Zeit Sie dokumentieren die Zerris-senheit des Judentums in Palaumlstina aber auch den Reformeifer derer die ein heiliges Israel erneuen wollen 12 Deutsche Uumlbersetzungen E Lohse Die Texte aus Qumran Hebraumlisch und Deutsch Muumln-chen 21971 K Schubert - J Maier Die Qumran-Essener Texte der Schriftrollen und Lebensbild der Gemeinde (UTB 224) Muumlnchen - Basel 1982 143-312 Zur Tempelrolle vgl die Ausgabe von Y Yadin Megillat ham-Miqdas The Temple Scroll (Hebrew Edition) Bde I-IIIa Jerusalem 1977 deutsche Uumlbersetzung J Maier Die Tempelrolle vom Toten Meer (UTB 829) Muumlnchen - Basel 1977 13 Vgl Th Soumlding Feindeshass und Bruderliebe

Thomas Soumlding

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4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)

a Das Doppelgebot der Naumlchstenliebe uumlberliefert das Neue Testament bei den Synop-tikern in drei Fassungen

bull Markus erzaumlhlt von einem Konsensgespraumlch uumlber das groumlszligte Gebot zwischen Jesus und einem Schriftgelehrten in Jerusalem (Mk 1228-34) die Antwort Je-su eine Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 fuumlhrt zu einer Verstaumlndi-gung

bull Matthaumlus stimmt in der Thematik der Frage der Ortsangabe und der Kombi-nation beider Liebesgebote mit Markus uumlberein (Mt 2234-40) macht aber aus dem Konsens- ein Streitgespraumlch Jesus wird von einem Gesetzeslehrer auf die Probe gestellt und besteht die Herausforderung glaumlnzend indem er das Doppelgebot formuliert

bull Lukas kennt in seiner Version (Lk 1025-37) gleichfalls die Kombination er uumlberliefert wie Matthaumlus einen bdquoGesetzeslehrerldquo ndash nicht wie Markus einen bdquoSchriftgelehrtenldquo ndash als Partner und erzaumlhlt ndash wie Matthaumlus anders als Mar-kus ndash von einem Konfliktgespraumlch Aber bei ihm findet der Dialog auf dem Weg Jesu nach Jerusalem statt (Lk 951 - 1927) die Frage zielt auf das ewige Leben (wie in Mk 1017 par Mt) der Dialog spitzt sich auf die Frage nach dem Naumlchsten zu die Jesus mit dem Samaritergleichnis beantwortet

Die markinische Version ist (nach der Zwei-Quellen-Theorie) die aumllteste Matthaumlus laumlsst sich als Kuumlrzung und Zuspitzung lesen Ob aber Lk 1025-37 sich als Markus-Redaktion erklaumlren laumlsst ist fraglich Womoumlglich hat es ndash durch Q ndash eine Doppeluumlber-lieferung gegeben die eine Kontroverse mit einem Gesetzeslehrer enthalten hat Noch wahrscheinlicher ist dass es von Anfang verschiedene Versionen gegeben hat die von den Evangelisten unterschiedlich rezipiert worden ist In jedem Fall bezeugt die Breite der Uumlberlieferung dass das Liebesgebot fuumlr Jesus typisch gewesen ist

b In allen Versionen des Doppelgebotes gibt es gemeinsame Charakteristika bull die Form des Gespraumlches in der das Doppelgebot entwickelt wird bull den Bezug auf das Gesetz bei Markus (1228) und Matthaumlus (2236) durch die

Jesus gestellte Ausgangsfrage bei Lukas durch die Ruumlckfrage Jesu (1026) bei Matthaumlus durch den Schlusssatz Jesu unterstrichen (2240)

bull die Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 ad vocem Agape bull die Abfolge dass zuerst das Hauptgebot der Gotteslebe (Dtn 64f) dann das

Gebot der Naumlchstenliebe (Lev 1918f) kommt obwohl die kanonische Reihen-folge eine andere ist

Diese Charakteristika sind der Kernbestand der Tradition sie muumlssen zu Eckpfeilern der Interpretation werden

c Die unterschiedlichen Gespraumlchssituationen haben ihre eigene Logik bull Markus will zeigen dass es zu einer fundierten und breiten Verstaumlndigung Je-

su mit den Schriftgelehrten haumltte kommen koumlnnen auf der Basis der Tora bull Matthaumlus will zeigen dass die Hierarchisierung der Gebote strittig war und

geblieben ist bull Lukas will herausarbeiten dass das Doppelgebot Fragen stellt die Jesus be-

antworten kann Die unterschiedlichen Logiken koumlnnen nicht gegeneinander ausgespielt aber jeweils in das Evangelium eingeordnet werden in dem sie sich befinden

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d Alle Versionen bestimmen die Tora als Basis des Dialoges Alle bleiben im Rahmen juumldischer Hermeneutik Schrift legt Schrift aus Alle erweisen sich im religionsge-schichtlichen Vergleich als typisch jesuanisch

bull Einerseits gibt es im Judentum eine lebhafte Debatte aus didaktischen und theologischen Gruumlnden zu einer Hierarchie der Gebote zu gelangen In dieser Debatte ragt das Liebesgebot heraus Es gibt aber immer auch starke Kontro-versen uumlber die Richtigkeit und Guumlltigkeit solcher Elementarisierungen

bull Anderseits steht Jesus nicht gegen die Tora sonder erfuumlllt sie (vgl Mt 517-20) Dese Erfuumlllung hat eine spezifische Qualitaumlt diese Qualitaumlt bezeichnet das Liebesgebot das Jesus selbst praktiziert

Das Doppelgebot bricht nicht aus dem Gesetz aus sondern schlieszligt es auf

e Im fruumlhen Judentum gibt es keine direkte Parallele zum jesuanischen Doppelgebot Aber es gibt eine ganze Reihe von strukturaumlquivalenten Formulierungen sowohl im palaumlstinischen wie auch im hellenistischen Judentum Zum Teil sind sie direkt als Ge-bot einer doppelten Liebe zum Teil mit Varianten vor allem der Gottesfurcht gebil-det Diese Parallelen erhellen den juumldischen Kontext in dem das Doppelgebot steht Auffaumlllig ist in der Jesustradition zweierlei

1 die direkte Schriftzitation 2 der explizite Bezug zur Tora der reflektiert wird

Beides spiegelt die Programmatik der jesuanischen Position

f Die Struktur der Tradition leitet in jeder Variante von der Gottes- zur Naumlchstenliebe und bindet das Liebesgebot zusammen

bull Es gibt keine Gottesliebe ohne Naumlchstenliebe weil Gott den es zu lieben gilt nicht nur die Person liebt die lieben soll sondern auch diejenige die geliebt werden soll Diese Liebe Gottes als Basis ist im Doppelgebot nicht expliziert aber impliziert

o in der Einzigkeit Gottes so wie sie in der Bibel Israels und in der Jesus-tradition als Qualifikation des Schoumlpfers und Erhalters des Versoumlh-ners und Vollender entfaltet wird

o im Wort Agape das eo ipso von der Liebe Gottes gespeist wird Das Doppelgebot ist das beste Gegengift gegen Heuchelei

bull Es gibt keine Naumlchstenliebe ohne Gottesliebe ndash nicht weil es keine Ethik keine Menschlichkeit kein Mitleid und keine Solidaritaumlt ohne Gottesliebe gaumlbe (im Gegenteil) sondern weil die Naumlchstenliebe wie sie alt- und neutestamentlich expliziert wird den Naumlchsten als die von Gott geliebte Person liebt also Ein-stimmung in die Liebe Gottes ist die nur in der Liebe zu Gott explizit beant-wortet werden kann

bull Es gibt einen Primat der Gottes- vor der Naumlchstenliebe ndash nicht weil die Got-tes- wichtiger als die Naumlchstenliebe waumlre sondern weil Gott der Schoumlpfer all derer ist die lieben und geliebt werden sollen und sie alle zur Teilhabe an seiner Liebe fuumlhren will

Die Einheit der Gottes- und Naumlchstenliebe ist keine Identitaumlt sondern eine Spannung die ein hohes Energiefeld aufbaut

g Das Doppelgebot selbst enthaumllt keine Konkretion steht aber in den Evangelien die sich in die Tradition des Alten Testaments stellen und wird dadurch einerseits zum Kompass durch die Tora andererseits zum Katalysator von Aktualisierungen die pa-radigmatisch von Jesus angesprochen werden

Thomas Soumlding

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5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)

a Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter antwortet auf die wichtige Frage bdquoWer ist mein Naumlchsterldquo (Lk 1025-37)

bull Die Frage ist wichtig weil es um die Konkretionen der Liebe geht und Lev 1917f eine klare Antwort gibt Die Naumlchsten sind die Mit-Glieder des Gottes-volkes Hinzu treten die bdquoFremdenldquo (Lev 1934) die dauerhaft in Israel inte-griert sind nach der Septuaginta die Proselyten Die Konzentration auf diese Naumlchsten ist theologisch durch die gemeinsame Berufung des Volkes zur Hei-ligkeit begruumlndet Sie bewaumlhrt sich in Konflikten umfasst also de facto auch Feindesliebe

bull Die Frage wird von Jesus mit einer Geschichte beantwortet die auf provokan-te Weise einen Samariter zu einem Vorbild werden laumlsst Dass Jesus mit ei-nem Gleichnis antwortet setzt auf die argumentative Kraft einer Erzaumlhlung die nicht nur eine Welt vor Augen stellen sondern auch eine Sache klaumlren kann und zwar so dass Anteilnahme entsteht eine Verstrickung in die Ge-schichte durch Dramatik und Identifikation

Die Antwort auf die Frage wird nicht ohne ihre Umkehrung gegeben bdquoWer hellip ist zum Naumlchsten dessen geworden der unter die Raumluber gefallen istldquo (Lk 1036) Damit wird die Ausgangsfrage nicht desavouiert sondern konkretisiert Wer nach dem Naumlchsten fragt fragt auch nach sich selbst Und wer sich selbst von Naumlchsten umgeben weiszlig denen er verpflichtet ist muss selbst zum Naumlchsten derer werden wollen die auf Hilfe angewiesen sind

b Die Geschichte gehoumlrt zum Doppelgebot das bei Lukas (1025ff) wie bei Matthaumlus (2235-40) ein Streitgespraumlch ist waumlhrend es bei Markus ein Konsensgespraumlch ist (Mk 1228-34) Lukas hat es in die Zeit des oumlffentlichen Wirkens Jesu vorgezogen und kompositorisch konkretisiert

bull Mit einem bdquoGesetzeslehrerldquo trifft Jesus auf seinem Weg einen Experte fuumlr die Frage die er stellt

bull Das Doppelgebotsthema wird nicht nur durch das Samaritergleichnis sondern auch durch die Fortsetzung konkretisiert

o Die Beispielgeschichte Lk 1030-35 thematisiert das Tun (Lk 1037) o Die folgende Geschichte von Maria und Martha akzentuiert das Houmlren

(Lk 1038-42) o Die anschlieszligende Gebetslehre konkretisiert jene Gottesliebe die aus

dem Houmlren zum Sprechen fuumlhrt mit dem Vaterunser als Kern Durch die Komposition wird die Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe unter-strichen

Die Szenerie unterstreicht die Brisanz der Frage nach der Geltung des Gesetzes und erhoumlht damit den Stellenwert des Gleichnisses damit aber auch die Praumlgnanz des Samariterbildes Jesu

18

c Der gesamte Text hat eine dialogische Struktur 1 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach dem Sinn des Lebens (Lk 1025) 2 Jesus fragt zuruumlck indem er auf das Gesetz verweist (1026) 3 Der Gesetzeslehrer zitiert das Doppelgebot (Lk 1027) 4 Jesus bestaumltigt und fordert zur Praxis (Lk 1028) 5 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach der Identitaumlt des Naumlchsten (Lk 1029) 6 Jesus fragt zuruumlck indem er das Gleichnis erzaumlhlt (Lk 1030-36) 7 Der Gesetzeslehrer gibt die richtige Antwort (Lk 1037a) 8 Jesus fordert zum Handeln (Lk 1037b)

Jesus agiert im sokratischen Stil Er laumlsst den Fragesteller selbst die Antwort finden ndash nicht irgendwo sondern im Gesetz und in seinem Gewissen Das spiegelt fuumlr Lukas die Uumlberlegenheit Jesu und die Menschlichkeit seiner Ethik

d Das Gleichnis arbeitet mit einem scharfen Kontrast bull Auf der einen Seite stehen der Priester und der Levit Repraumlsentanten des Ju-

dentums Sie muumlssten genau wissen was zu tun ist Sie haben wenn sie wie der Verletzte auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho sind auch keinen Grund sich aus kultischen Uumlberlegungen um sich nicht zu verunreinigen an einem vorbeizugehen von dem sie glauben dass er tot sei wenn sie auf dem Weg zuruumlck sind ist fuumlr die ggf erforderliche rituelle Reinigung genuumlgend Zeit

bull Auf der anderen Seite steht der Samariter dem man es am wenigsten zutrau-en wuumlrde dass er tut was recht ist Dessen Rolle wird aber von Jesus stark betont nicht nur durch den Kontrast sondern auch dadurch dass er weit uumlber die Erste Hilfe hinaus mehr als genug tut um dem Verletzten zu helfen Er selbst leistet den sprichwoumlrtlich gewordenen Samariterdienst und treibt ungewoumlhnlich intensive Vorsorge dass der Mann nachhaltig gesundet ndash nach allen Regeln der (damaligen) aumlrztlichen Kunst

Dieser Kontrast war den Menschen sowohl zur Zeit Jesu als auch zur Zeit des Evange-listen Lukas deutlich Lk 952-56 hat ihn frisch in Erinnerung gerufen

e Jesus laumlsst durch die Kunst seiner narrativen Argumentation dem Gesetzeslehrer keine Chance nicht von seiner Antwort uumlberzeugt zu werden die seinen eigenen mo-ralischen Standpunkt veraumlndert Alle Menschen die ein Herz im Leibe haben werden erkennen dass nicht der Priester nicht der Levit sondern ausgerechnet der feindli-che der bdquohaumlretischeldquo Samariter das einzig Richtige getan hat indem er dem unter die Raumluber gefallenen Menschen geholfen hat Das aber ist schon der erste Schritt in die Richtung die Jesus den Menschen zeigt damit sie Gott und den Naumlchsten neu entde-cken koumlnnen Wer aber nicht nur tatkraumlftig wie der Samariter hilft sondern als Jude weiszlig dass er ihn wegen seiner Naumlchstenliebe nachahmen sollte hat eine Grenze uumlberschritten die durch das Nahekommen der Basileia durchlaumlssig geworden ist Der Gesetzeslehrer versperrt sich dieser Lektion nicht Er ist deshalb ein positives Beispiel

Literatur Andregrave Lacoque Lhermeacuteneutique de Jeacutesus au sujet de la loi dans la Parabole du Bon Samari-

tain in Etudes theacuteologiques et religieuses 78 (2003) 25-46

Ruben Zimmermann Die Etho-Poietik des Samaritergleichnisses (Lk 1025-37) Eine Ethik des Schauens in einer Kultur des Wegschauens in Wort und Dienst 29 (2007) 51-69

Thomas Soumlding

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6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)

a Die fuumlnfte und sechste Antithese bilden bei Matthaumlus den Houmlhepunkt der Reihe die sich am Dekalog orientiert in der Feldrede bei Lukas markiert das Gebot der Feindes-liebe den Mittelpunkt der Ethik Die Feindesliebe bezeichnet in groumlszligter Konsequenz den Standpunkt der Moralitaumlt steht aber auch im Brennpunkt der Kritik

bull Ist Gewaltlosigkeit wuumlrdelos verantwortungslos kraftlos So Nietzsche14

bull Ist Feindesliebe unrealistisch So der gesunde Menschenverstand und das Ur-teil professioneller Politik

15 So auch der juumldische Einwand16 den zuletzt Jacob Neusner vorgetragen hat17

Die antithetische Form bei Matthaumlus zeigt das Potential der Kontroverse Es ist nicht das Ziel der Exegese sie aufzuloumlsen sondern sie auszuloumlsen

b Der Blick in die Synopse zeigt im Vergleich mit Lk 627-36 zweierlei bull Die antithetische Form ist ndash hier wie sonst ndash ein matthaumlisches Spezifikum Sie

dient der Profilierung der Ethik Jesu im Gegenuumlber zur Tora ndash unter dem Vor-zeichen der Erfuumlllung (Mt 517-20)

bull Bei Lukas ist Gewaltverzicht direkter Ausdruck der Feindesliebe Matthaumlus dif-ferenziert und kombiniert um zu akzentuieren

Die Synopse fordert bei der lukanischen Uumlberlieferungsform anzusetzen aber die matthaumlische Variante nicht als sekundaumlr abzutun sondern als Reflex jesuanischer Konkretionen in den Blick zu nehmen

c Das Gebot der Feindesliebe tradiert uumlber die Redenquelle (Q) ist Urgestein und Herzstuumlck der Ethik Jesu18

14 Also sprach Zarathustra III 21 (Werke VI1) bdquoIch sollte nur Feinde haben die zu hassen sind aber nicht Feinde zum Verachten ihr muumlsst stolz auf euren Feind sein (260)ldquo

Die Stellung in der matthaumlischen Bergpredigt und der luka-nischen Feldrede zeigt dass im Urchristentum diese zentrale Bedeutung gesehen und tradiert worden ist Paulus reflektiert sie in Roumlm 129-21 Auch im johanneischen Kon-zept der Bruderliebe ist sie vorausgesetzt

15 Max Weber Politik als Beruf (1919) in ders Gesammelte politische Schriften hg v J Winckelmann Tuumlbingen 31971 505-560 bdquoMit der Bergpredigt ist es eine ernstere Sache als die glauben die diese Gebote heute gern zitieren Wenn es in Konsequenz der akosmistischen Liebesethik heiszligt dem Uumlbel nicht widerstehen mit Gewaltlsquo ndash so gilt fuumlr den Politiker der Satz du sollst dem Uumlbel gewaltsam widerstehen sonst ndash bist du fuumlr seine Uumlberhandnahme verantwortlich (550f)ldquo 16 Der Jude Tryphon plaumldiert nach Justin dial 52 bdquoIch weiszlig auch dass eure Lehren die in dem sogenannten Evangelium stehen so erhaben und groszlig sind dass wie ich meine kein Mensch sie beobachten kannldquo 17 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 Neuausgabe Frei-burg - Basel - Wien 2007 (engl 1993) Neusner praumlzisiert Jesus maszlige sich das Recht Gottes an so zu sprechen wie es die Bergpredigt uumlberliefert 18 Th Soumlding Die Verkuumlndigung Jesu 570-583

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d Nach Lk 6 sind alle Houmlrer der Botschaft Jesu zur Feindesliebe gerufen In erster Linie sind es seine Juumlnger als stellvertretende Adressaten der Seligpreisungen und Weherufe (Lk 620-26) Lukas sieht die Kirche als Ort wo primaumlr die Feindesliebe ver-wirklicht sein will gerade auch gegenuumlber Nicht-Christen (und berichtet in der Apos-telgeschichte dass dies in der Urgemeinde auch geschehen sei) Nach Matthaumlus hat Jesus direkt seine Juumlnger angesprochen (Mt 51f) ndash aber so dass alles Volk (vgl 423ff) es houmlren und daruumlber staunen kann (Mt 728f) Die Pointe ist missionstheologisch Wenn die Juumlnger ausziehen alle Voumllker ihrerseits zu Juumlngern zu machen sollen sie nicht nur taufen sondern auch lehren bdquoalles zu haltenldquo was Jesus ihnen bdquogebotenldquo hat (Mt 2818ff)

d Die Feindschaften die Jesu Gebot anspricht sind so paradigmatisch ausgewaumlhlt und scharf zugespitzt dass prinzipiell jede denkbare Feindschaft im Blick stehen muss Es werden die empoumlrendsten Formen paradigmatisch konkretisiert

bull religioumlse Verfolgung (Lk 628 Mt 544) bull koumlrperliche Gewalt selbst wenn sie demuumltigen soll (Lk 628f Mt 539) bull wirtschaftliche Ausbeutung auch wenn sie sich den Anschein des Rechts gibt

(Mt 540) bull politisch-militaumlrische Unterdruumlckung auch wenn sie schier uumlbermaumlchtig

scheint (Mt 541) Jede denkbare Grenze der Feindesliebe wird uumlberschritten der Familie und Ver-wandtschaft des Freundeskreises der Glaubensgenossen der (mehr oder weniger) Guten der Angehoumlrigen des eigenen Volkes (vgl Lk 1025-37)

e Die Feindesliebe zeigt sich in den gleichfalls paradigmatischen Konkretisierungen bull als Fuumlrbitte fuumlr die Verfolger (Lk 628 par Mt 544) und Segnen der

Blasphemiker (Lk 628) ndash im Gegensatz zum Verfluchen und zur Bitte um ihre Vernichtung durch Gottes Strafgericht

bull als aktiver Gewaltverzicht gegenuumlber erlittener Uumlbermacht (Lk 629 Mt 538-42) ndash im Gegensatz dazu Unrecht mit gleicher Muumlnze heimzuzahlen

bull als selbstlose Unterstuumltzung der Armen auch wenn deren Bitten laumlstig faumlllt (Lk 630) ndash im Gegensatz zum Kalkuumll des do ut des

bull als engagierter Einsatz fuumlr das Gute (Lk 62733) ndash im Gegensatz zu einem Mitmachen wie zur Resignation

Feindesliebe ist nicht passiv sondern aktiv Sie kreiert eine neue Situation In diesen Konkretisierungen erhellt die Feindesliebe als radikalisierte Naumlchstenliebe (Lev 1917f) die im Kontext der Gottessliebe steht (Mk 1228-34 parr) Sie ist nicht das Einverstaumlndnis mit Unrecht Schuld und Schwaumlche schon gar nicht schwaumlchliches Hinnehmen von Unrecht sondern im Gegenteil starkes aber deshalb auch leidensfauml-higes Eintreten dafuumlr Boumlses durch Gutes zu uumlberwinden (Roumlm 1221)

Thomas Soumlding

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h Die Feindesliebe ist theologisch begruumlndet und motiviert bull Der theologische Grund ist das Handeln Gottes selbst der als Schoumlpfer und Er-

loumlser permanent Feindesliebe praktiziert (Lk 635 Mt 545 vgl Roumlm 55ff) o Mit dem Blick ins Buch der Natur zeigt Jesus nach Matthaumlus Gott als

den der auch den Boumlsen und Ungerechten das Leben schenkt weil er will dass sie leben (nicht weil er will oder toleriert dass sie Boumlses und Unrechtes tun)

o Der Vergleich mit dem aumlhnlichen Motiv bei Seneca der (nicht zu Feindesliebe aber) zu groszligmuumltiger Gelassenheit gegenuumlber Feinden mahnt macht den Unterschied deutlich denn nach ihm kann Gott nicht anders als die Unterstuumltzung der Boumlsen in Kauf zu nehmen wenn er den Guten helfen will ndash wofuumlr er sich entscheidet weil das Gute mehr wert ist als das Boumlse

bull Das theologische Motiv ist die Nachahmung Gottes die imitatio Dei (Lk 636 Mt 548) der die Verheiszligung ewigen Lebens gilt des bdquoLohnesldquo der in der Gotteskindschaft besteht

In dieser Theozentrik ist die Feindesliebe Zustimmung zu der Liebe mit der Gott auch die Ungerechten und Suumlnder liebt ndash ohne ihre Suumlnde gutzuheiszligen aber auch ohne ihnen wegen ihrer Schuld seine Zuwendung zu entziehen

i Das Gebot der Feindesliebe ist angewandte Christologie bull Einerseits ist es Jesus der das Gebot ndash nach Matthaumlus im Gegensatz zur herr-

schenden Auslegung des atl Liebesgebotes ndash der Feindesliebe aufstellt bull Andererseits ist es Jesus der das Gebot umfassend verwirklicht ndash vorbildlich

in seinem Leiden heilbringend in seiner Lebenshingabe aus reiner Liebe

f Das bdquoAuge um Auge Zahn um Zahnldquo (Ex 2124) begrenzt die Vergeltung das bdquoIch aber sage euchldquo aktiviert zur Versoumlhnung Das alttestamentliche Gebot der Naumlchstenliebe umfasst innerhalb Israels Feindesliebe (Lk 1917f) und weitet sie aus (Lev 1934) Das bdquoIch aber sage euchldquo setzt sich von einer Auslegung ab die aus Sorge um Gottes Gerechtigkeit die Grenzen der Erloumlsung zu eng zieht Dafuumlr gibt es Beispiele in Qumran Der originaumlre Bezug des Gebotes der Naumlchstenliebe auf das Volk Gottes wird nicht aufgegeben aber ausgeweitet

bull In der Juumlngerschaft ist ndash in Israel und uumlber Israel hinaus ndash der Ort an dem die Feindesliebe so praktiziert werden soll dass sie ausstrahlt (vgl Mt 513-16)

bull Zum Volk Gottes gehoumlren nicht nur die Juden und alle die an Jesus glauben Gott hat vielmehr Jesus (nach Matthaumlus wie nach Lukas) deshalb gesendet damit durch seinen Dienst am Heil der Menschen der reine Feindesliebe ist alle Voumllker zu seinem Volk werden Die Kirche repraumlsentiert und realisiert stellvertretend diese Heilsuniversalitaumlt Ihre Feindesliebe konkretisiert sie ethisch

Feindesliebe durchbricht das Prinzip der Vergeltung ohne das Prinzip der Gerechtig-keit aufzugeben Das ist nur deshalb sittlich erlaubt und geboten weil das Gebot in der Liebe Gottes selbst begruumlndet ist die sich in der Feindesliebe Jesu realisiert die ihrerseits der theologische Nerv seines Lebens und Sterbens zur Erloumlsung der Suumlnder ist

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j Das psychologische Problem das Sigmund Freud scharf markiert hat19

Das ethische Problem das Fjodor Dostojewksi (Die Bruumlder Karamasow) Iwan in den Mund legt lautet

besteht da-rin dass blinde Aggressionen entwickelt wer sich moralisch uumlberfordert Dieses Prob-lem laumlsst sich wohl nur spirituell loumlsen in der Nachfolge Jesu die auf seine Kraft setzt in den Nachfolgern das Gute zu tun

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k Das Problem der Erfuumlllbarkeit der Bergpredigt und speziell des Gebotes der Fein-desliebe bewegt Theologie und Kirche seit aumlltester Zeit Eine erhebliche Verschaumlrfung des Problems geschieht durch eine moderne Emotionalisierung der Feindesliebe Wird sie aber als Ausdruck der Agape verstanden begruumlndet sie ndash in der Nachfolge Jesu ndash eine Praxis des Glaubens aus der Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe Als solche kann sie durchaus eingeuumlbt ausgebildet und gefestigt werden Sie setzt die Suche nach dem besten Weg der Verwirklichung nicht aus sondern ein Sie entspricht aber darin der Gottebenbildlichkeit aller Menschen und der Gotteskindschaft der zu Erloumlsenden dass sie an der Unbedingtheit der Bejahung die Gott ihnen zuteilwerden laumlsst Anteil hat

dass Feindesliebe letztlich Kumpanei mit den Taumltern auf Kosten der Opfer sei Dieses Problem das haumlufig nicht gesehen wird laumlsst sich nur soteriolo-gisch loumlsen weil derjenige der selbst aus reiner Liebe die Schuld der anderen ertra-gen und vergeben hat das Reich Gottes als umfassende Vollendung von Gerechtig-keit Friede und Freude (Roumlm 1417) verwirklicht

19 Das Unbehagen in der Kultur in Gesammelte Werke 14 London 1948 419-506 468-475493-506 (Abschnitte V VIII) bdquoNachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte war die aumluszligerste Intoleranz des Christentums gegen die drauszligen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge gewordenldquo (374) 19 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 20 bdquoSchlieszliglich will ich auch gar nicht dass die Mutter den Peiniger umarmt der ihren Sohn von Hunden zerreiszligen lieszlig Sie darf sich nicht unterstehen ihm zu verzeihen Wenn sie will mag sie verzeihen soweit es sie selber angeht sie mag dem Peiniger ihr maszligloses Mutterleid ver-zeihen aber die Leiden ihres zerfleischten Kindes zu verzeihen hat sie kein Recht sie darf es nicht wagen dem Peiniger zu verzeihen auch wenn das Kind selber ihm verzieheldquo (Muumlnchen 1958 330f

Thomas Soumlding

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7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)

71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20) a Mit der Fuszligwaschung21

b Die Fuszligwaschung ist das Zeichen der Passion Ihr folgen Gespraumlche mit den Juumln-gern die zwar von Jesus gewaschen und gereinigt sind aber groumlszligte Schwierigkeiten haben zu verstehen was sich tut

beginnt der 2 Hauptteil des Johannesevangeliums Das oumlffentliche Wirken ist abgeschlossen Jesus konzentriert sich auf seine Juumlnger bevor er oumlffentlich hingerichtet werden wird Er bereitet sie auf seine Passion und seine Auferstehung vor die den Weg zu Gott bahnen werden

bull Auf die Fuszligwaschung folgt zuerst eine Trias unmittelbarer Konsequenzen o Judas wird als Verraumlter identifiziert und verlaumlsst den Juumlngerkreis (Joh

1321-30) o Die Juumlnger werden zur wechselseitigen Liebe gemahnt (Joh 1331-35) o Petrus wird seine Verleugnung vorhergesagt (Joh 1336ff)

bull Auf die Fuszligwaschung folgen ausfuumlhrliche Abschiedsworte (Joh 14-16) die in ein Abschiedsgebet muumlnden (Joh 17)

c Joh 131-20 ist uumlbersichtlich aufgebaut

Joh 131 Der Hintergrund Joh 132-5 Die Fuszligwaschung beim Mahl 132 Die Situation 133ff Die Handlung Jesu Joh 136-11 Das Gespraumlch mit Petrus 136 Der erste Einwand des Petrus 137 Die erste Antwort Jesu 138a Der zweite Einwand des Petrus 138b Die zweite Antwort Jesu 139 Der dritte Einwand des Petrus 1310 Die dritte Antwort Jesu 1311 Kommentar des Evangelisten Joh 1312-20 Die Deutung vor allen Juumlngern 1312-17 Die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu 1318f Die Ansage eines Verrates 1320 Die Juumlnger als Apostel

21 Vgl Luise Abramowski Die Geschichte von der Fuszligwaschung in Zeitschrift fuumlr Theologie und Kirche 102 (2005) 176-203

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d Die Exegese diskutiert in welchem Verhaumlltnis die beiden Deutungen zu einander stehen Die erste ist soteriologisch die zweite ethisch ausgerichtet

bull Recht oft wird aus der Doppelung auf ein literarisches Wachstum des Textes geschlossen

o Moumlglichkeit 1 Die soteriologische Deutung ist die aumlltere die paraumlnetische die se-kundaumlre22

o Moumlglichkeit 2 Die ethische Deutung ist urspruumlnglich die soteriologisch nachtraumlglich zwischengeschoben

23

Beide Ansaumltze sind von weitereichenden Voraussetzung zur relativen Chrono-logie des Corpus Johanneum gepraumlgt

o Wer den Ersten Johannesbrief fuumlr aumllter erachtet wird die ethische Deutung fuumlr urspruumlnglich halten

o Wer das Evangelium fuumlr aumllter erachtet wird eher die soteriologische Deutung als originaumlr einschaumltzen

Die ethische Deutung wird dann fuumlr sekundaumlr zu erachten wenn man zu dem Urteil gelangt die johanneische Theologie sei urspruumlnglich wenig konkret und eher spirituell ausgerichtet waumlhrend erst sekundaumlr Johannes gesamtkirchlich eingenordet worden sei Beide Ansaumltze gehen von einem literarischen Schichtenmodell aus das der Ei-genart johanneischer Literatur in den Evangelienerzaumlhlungen nicht angemes-sen ist Beide werden durch das Modell einer bdquorelectureldquo gemildert das ndash aumlhnlich wie in der Prophetenexegese des Alten Testaments ndash mit einer Fortschreibung der Texte rechnet aber sie zugleich als vergegenwaumlrtigende Aneignung des vor-gegebenen Textes versteht24

bull Es mehren sich wieder die Stimmen die Joh 13 als literarisch einheitlich anse-hen

Allerdings stoumlszligt dieses Modell auf die Schwie-rigkeit dass das Liebesgebot das die ethische Deutung vorbereitet in Joh 1331-35 dominant ist und nicht nur in Joh 15-16 ausgefuumlhrt sondern auch in Joh 1421 angebahnt wird

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Die Doppelung erklaumlrt sich aus der Theologie der Liebe Sie hat eine Innenseite die Liebe Jesu zu sein Seinen in der sich nach Joh 1421 die Liebe das Vaters zum Sohn ereignet und sie hat eine Auszligenseite die sich nach Joh 1331-35 und Joh 15 in der Bruderliebe der Juumlnger erweist von der die Welt angezogen werden wird (Joh 17)

Allerdings braucht es eine Erklaumlrung fuumlr die Deutung Eine moumlgliche Er-klaumlrung waumlre der Adressatenwechsel aber die Petrusszene spielt sich vor den Augen und Ohren aller ab

22 So Rudolf Schnackenburg Joh III passim 23 So Udo Schnelle Joh 237 Er will eine Ursprungsform (132a4512ab162017) die recht nahe bei Lk 22 und der Mahnung der Juumlnger zum Dienen steht zuerst in der johanneischen Schule (der er den Ersten Johannesbrief mit seiner Theologie der Liebe zurechnet) um die Vorbildethik erweitert sehen (1312c13-15) bevor der Evangelist selbst von der Einleitung an (131) konsequent seine soteriologische Deutung ins Fundament der Geschichte eingebaut habe (136-10ab) 24 So Jean Zumstein Joh 25 So Hartwig Thyen Joh

Thomas Soumlding

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711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus a Die Liebe Jesu zu den Seinen (Joh 131) verwirklicht die Liebe Gottes zur Welt (Joh 316) die von der Liebe des Vaters zum Sohn getragen wird (Joh 335 1017) Es ist die nach der Zwischennotiz von Jesu Freundschaft mit Martha Maria und Lazarus (Joh 115) erste Betonung der Agape Jesu von der spaumlter das Liebesgebot Joh 1334 und die Verheiszligung dauernden Beistandes der Juumlnger gedeckt ist (Joh 1421-31)

b In der Liebe Jesu zu den Seinen verbindet sich die Liebe Gottes zur Welt mit der Liebe Jesu zu seinen Freunden (Joh 15) Es ist eine unbedingte Bejahung und Wert-schaumltzung die auf Sympathie beruht und lebendig macht

c Die Liebe erweist Jesus den bdquoSeinenldquo bull Im Ruumlckraum steht Joh 19-13 dass die bdquoSeinenldquo den Logos abgelehnt haben

ndash bis auf diejenigen die an seinen Namen glauben und deshalb das Recht der Gotteskindschaft erhalten

bull Die bdquoSeinenldquo sind die Juumlnger die sich von Jesus in die Nachfolge haben rufen lassen (Joh 135-51) und in der galilaumlischen Krise Jesus nicht verlassen haben (Joh 660-71) Sie haben ihrerseits schwere Glaubensprobleme ndash aber werden sie durch Jesus uumlberwinden

bull In Joh 14 und Joh 17 wird erklaumlrt werden dass die Liebe Jesu zu den Seinen ndash wie die zum Lieblingsjuumlnger ndash nicht exklusiv sondern positiv zu verstehen ist

Dass Jesus den Seinen die Liebe bdquobis zum Endeldquo erweist verweist auf den Tod Jesu Das griechische Wort ist mehrdeutig teloj kann bdquoEndeldquo aber auch bdquoZielldquo bedeuten Beide Bedeutungen schwingen mit

bull Der Tod Jesu ist das definitive Ende seiner geschichtlichen Sendung das zu akzeptieren wird den Juumlngern ungeheuer schwer fallen

bull Der Tod Jesu ist das Ziel seines Wirkens insofern es seine Liebe und Hingabe definitiv werden laumlsst

Der Korrespondenzsatz ist das Todeswort Jesu Joh 1930 bull Es ist ein Gebet wie nach allen Synoptikern (Mk 1534 par Mt 2746 bdquoGott

mein Gott warum hast du mich verlassenldquo ndash Ps 222 Lk 2346 bdquoVater in deine Haumlnde gebe ich meinen Geistldquo ndash Ps 316) aber als letztes Offenba-rungswort an die Welt

bull Die traditionelle Uumlbersetzung lautet bdquoEs ist vollbrachtldquo Man kann aber auch sagen bdquovollendetldquo (Muumlnchner Neues Testament Bible de Jerusaleme bdquoCest acheveacuteldquo) oder bdquozu Endeldquo (King James Bible bdquoIt is finishedldquo)

Eine moumlgliche auf Joh 131 abgestimmte Uumlbersetzung waumlre (wie im Muumlnchener Neu-en Testament) bdquoEs ist vollendetldquo (tetelestai)

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712 Die Fuszligwaschung a Jemandem vor dem Mahl die Fuumlszlige zu waschen ist ein Dienst den traditioneller-weise Sklaven ihren Herren erweisen (vgl 1Sam 2541)26

Joh 1313f zeigt dass die sozialen Dimensionen der Fuszligwaschung klar vor Augen stehen der Gesamttext dass der Ritus sakramental gefuumlllt wird

Das Waschen der Fuumlszlige ist ein Ritus der Vorbereitung der eine koumlrperliche Wohltat mit einer Geste der Houmlflich-keit verbindet die Anerkennung und Ehrerbietung meint (Gen 184 vgl Lk 744) und zudem mit einer rituellen Bedeutung versieht die einen Uumlbergang gestaltet von drauszligen nach drinnen vom Alltag zum Fest vom Profanen zum Heiligen

7121 Die soteriologische Deutung a Im Gespraumlch mit Petrus wird die Bedeutung der Fuszligwaschung soteriologisch gedeu-tet Sie ist eine bdquoReinigungldquo ndash nicht wie in der Taufe sondern wie in der Buszlige Petrus braucht keine Wiederholung der Wiedergeburt die er als glaumlubig gewordener Taumluferjuumlnger erlebt hat aber er bedarf mehr als andere der Vergebung weil er ndash ent-gegen seinem Vorsatz ndash Jesus verleugnet Waumlhrend er sagt fuumlr Jesus sterben zu wol-len muss gerade fuumlr ihn Jesus sterben

b Petrus erkennt nach Joh 136 das Unmoumlgliche der Situation dass der Herr ihm ei-nen Sklavendienst leistet Er wehrt diesen Dienst doppelt ab (Joh 1368a) ndash so wie er nach Joh 1336ff nicht will dass Jesus fuumlr ihn sein Leben einsetzt In diesem Nein kommt eine Liebe zu Jesus zum Ausdruck die bestimmen will Gleichzeitig aber ist das Nein auch Ausdruck des Missverstaumlndnisses dass Petrus der Diakonie Jesu womoumlglich gar nicht bedarf Petrus verschaumlrft seinen Widerspruch der aus Unverstaumlndnis stammt indem er dann ganz gewaschen werden will (Joh 139) ndash womit er aber seine Berufung leugnet

c Jesus deckt das Missverstaumlndnis des Petrus auf Die Fuszligwaschung steht nicht am Anfang sondern an einer Biegung des Weges mit Jesus Die Weg-Gemeinschaft ist darin begruumlndet dass Jesus sich in seinen Dienst stellt Dem muss entsprechen dass Petrus sich den Dienst gefallen laumlsst Er muss Jesus so nahe wie in der Fuszligwaschung an sich heranlassen Er muss den Rollentausch akzeptieren Die Langversion von Vers 10 die durch den Codex Vaticanus gedeckt und als lectio difficilior gesichert ist entspricht dem Kontext

bull Im Bild Auch nach dem Vollbad macht man sich wieder die Fuumlszlige schmutzig Man laumlsst sie sich waschen damit auch sie sauber sind man laumlsst nur sie waschen weil der sonstige Koumlrper gereinigt ist

bull In der Sache Wer durch das Bad der Wiedergeburt die Taufe bdquoganz reinldquo geworden ist muss diese Reinheit aber durch seine Schuld verloren hat muss sich die Fuumlszlige waschen lassen um durch Jesus zu Gott zu gelangen Dem entspricht am ehesten eine Deutung auf die Buszlige wie sie orthodoxen Vaumlter favorisieren

26 Hellenistische Parallelen Neuer Wettstein I2 636-644

Thomas Soumlding

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7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
    • Kontakt
      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
        • Markusevangelium
        • Lukasevangelium
        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 5: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

Thomas Soumlding

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- Naumlchstenliebe bei Jesus Sirach Eine Notiz zur weisheitlichen Ethik in Biblische Zeitschrift 42 (1998) 239-247

Matthaumlusevangelium Haumlfner Gerd bdquoSelig sind die Friedensstifterldquo (Mt 59) Feindesliebe und Vergebung als Aspekte

matthaumlischer Friedensethik In Eberhard Bons (Hg) Bible et paix Meacutelanges offerts agrave Claude Coulot Paris 2010 85 - 96

Harnisch Wolfgang Die Goldene Regel und das Liebesgebot Mt 712 im Kontext der Bergpre-digt in ders Rhetorik und Hermeneutik in der Apokalyptik und im Neuen Testament Stuttgart 2009 204-222

Hofius Otfried Naumlchstenliebe und Feindeshass Erwaumlgungen zu Mt 543 In Ibid Neutesta-mentliche Studien Tuumlbingen 2000 137-144

Markusevangelium Kertelge K Das Doppelgebot der Liebe im Markusevangelium in TThZ 103 (1994) 33-55

Kiiliunen Jarmo Das Doppelgebot der Liebe in synoptischer Sicht Ein redaktionskritischer Versuch uumlber Mk 1228-34 und die Parallelen (AASFB 250) Helsinki 1989

Prast Franz bdquoEin Appell zur Besinnung auf das Juden wie Christen gemeinsame Erbe im Mun-de Jesu Das Anliegen einer alten vormarkinischen Tradition (Mk 1228-34)ldquo in Horst Goldstein (Hg) Gottesveraumlchter und Menschenfeinde Juden zwischen Jesus und fruumlh-christlicher Kirche Duumlsseldorf 1979 79-88

Lukasevangelium Oegema Gerbern S Das Gebot der Naumlchstenliebe im lukanischen Doppelwerk in Joseph

Verheyden(Hg) The Unity of Luke-Acts Leuven 1999 507-516

Corpus Iohanneum Augenstein Joumlrg Das Liebesgebot im Johannesevangelium und in den Johannesbriefen Stutt-

gart 1993

Beutler Johannes Das Hauptgebot im Johannesevangelium in Ibid Studien zu den johannei-schen Schriften Stuttgart 1998 107-120

Klauck Hans-Josef Brudermord und Bruderliebe Ethische Paradigmen in 1 Joh 311-17 in Helmut Merklein (Hg) Neues Testament und Ethik Fuumlr Rudolf Schnackenburg Frei-burg 1989 151-169

Rese Martin Das Gebot der Bruderliebe in den Johannesbriefen In ThZ 41 (1985) 44-58

Schlier Heinrich Die Bruderliebe nach dem Evangelium und den Briefen des Johannes in ders Das Ende der Zeit Exegetische Aufsaumltze und Vortaumlge III Freiburg 1971 124-135

Schnelle Udo Die johanneischen Abschiedsreden und das Liebesgebot in Gilbert Van Belle ndash Michael Labahn ndash Pieter Maritz (Hg) Repetitions and Variations in the Fourth Gospel Style Text Interpretation Leuven ua 2009 589-608

Soumlding Th Gott ist Liebelaquo 1Joh 4816 als Spitzensatz Biblischer Theologie in Der lebendige Gott Beitraumlge zur Theologie des Neuen Testaments (NTA XXXI) FS W Thuumlsing Hg v dems Muumlnster 1996 S 306ndash357

- Die Einheit der Liebe Joh 17 auf dem Oumlkumenischen Kirchentag 2003 in Berlin in Bibel und Kirche 58 (2003) 119-126

6

- Freundschaft mit Jesus Ein neutestamentliches Motiv in Communio 36 (2007) 220-231

Tacelli Ronald bdquoWir sollen einander liebenldquo (vgl 1 Joh 47) Vom Problem der Naumlchstenlie-beldquo in EuA 783 (2002) 236 - 237

Weder Hans Das neue Gebot Eine Uumlberlegung zum Liebesgebot in Johannes 13 in Andreas Dettwiler ndash Uta Poplutz (Hg) Studien zu Matthaumlus und Johannes FS Jean Zumstein Zuuml-rich 2009 187-205

Corpus Paulinum Boers Hendrikus W Ἀγάπη and Χάρις in Pauls Thought in CBQ 5 (1997 693-713

Giesen Heinz Naumlchstenliebe und Heilsvollendung Zu Roumlm 138-14 in SNTUA 33 (2008) 67-97

Heininger Bernhard Die Inkulturation der Naumlchstenliebe Zur Semantik der bdquoBruderliebeldquo im 1 Thessalonicherbrief in ders Die Inkulturation des Christentums Aufsaumltze und Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt Tuumlbingen 2010 65-88

Kertelge Karl Freiheitsbotschaft und Liebesgebot im Galaterbrief In Ibid Grundthemen paulinischer Theologie Freiburg 1991 197-208

Soumlding Thomas Die Trias Glaube Hoffnung Liebe bei Paulus Eine exegetische Studie Stutt-gart 1992

- Das Liebesgebot bei Paulus Die Mahnung zur Agape im Rahmen der paulinischen Ethik Muumlnster 1995

- Glaube der durch Liebe wirkt Rechtfertigung und Ethik im Galaterbrief in Bernd Koll-mann - Michael Bachmann (Hg) Umstrittener Galaterbrief Studien zur Situierung der Theologie des Paulusschreibens (BThSt 106) Neukirchen-Vluyn 2010 165-206

Wischmeyer Oda Das Gebot der Naumlchstenliebe bei Paulus Eine traditionsgeschichtliche Un-tersuchung in dies Von Ben Sira zu Paulus Gesammelte Aufsaumltze zu Texten Theologie und Hermeneutik des Fruumlhjudentums und des Neuen Testaments Tuumlbingen 2004 137-161

Jakobusbrief Theiszligen Gerd Naumlchstenliebe und Egalitaumlt Jak 21-13 als Houmlhepunkt urchristlicher Ethik in

Petra von Gemuumlnden ndash Matthias Konradt ndash Gerd Theissen Der Jakobusbrief Beitraumlge zur Rehabilitierung der bdquostrohernen Epistelldquo Muumlnster 2003 120-142

Thomas Soumlding

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1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch

a Das Liebesgebot ist zweifellos fuumlr die Ethik Jesu wie des Urchristentums zentral Es weist nicht nur den Weg Jesu selbst und seiner Nachfolger sondern wird auch zum Gegenstand theologischen Nachdenkens Sowohl in der synoptischen und johannei-schen Tradition wie auch bei Paulus und im Jakobusbrief wird der zentrale Stellenwert des Liebesgebotes markiert und argumentativ entfaltet Das spricht fuumlr eine bewuss-te programmatische Positionierung Gerade sie wirft aber exegetische Fragen auf

bull Welches Verhaumlltnis besteht zum Alten Testament und zum Judentum Die Antwort ist nicht offenkundig weil einerseits das bdquoGesetzldquo zitiert (Lev 1918) andererseits aber sein genaues Verstaumlndnis und Gewicht immer wie-der kontrovers diskutiert wird

bull Welches Verhaumlltnis besteht zu den Standards profaner Ethik in der Antike Auch diese Frage hat Gewicht weil gerade das Liebesgebot einerseits gegen alles Sektiererische aufgestellt andererseits aber so profiliert wird dass es zum Kennzeichen der Jesusbewegung und der fruumlhen Kirche wird

bull Worauf richtet sich die Naumlchstenliebe Im Neuen Testament wird nur an einer einzigen Stelle ndashund zwar vom kriti-schen Gesetzlehrer nach Lk 1029 ndash gefragt wer der bdquoNaumlchsteldquo ist den es zu lieben gilt Im uumlbrigen reicht das Spektrum von der Feindes- bis zur Bruderlie-be

bull Was ist eine bdquoLiebeldquo die geboten werden kann Das Alte und das Neue Testament stimmen darin uumlberein dass es ein Liebes-gebot gibt Das laumlsst nach dem Verstaumlndnis der Liebe fragen

o Das Leitwort heiszligt Agape Das Wort im Profangriechischen blass ge-winnt durch die Septuaginta Farbe

o Es meint im Kern die Liebe Gottes zu seinem Volk die auf die Gottes- und die Naumlchstenliebe der Israeliten ausstrahlt Die Liebe Gottes ist kreativ Indem Gott Israel erwaumlhlt ruft er es ins Leben Die Liebe Got-tes ist unverbruumlchlich Auch wenn das Volk untreu ist bleibt Gott treu Die Liebe Gottes ist leidenschaftlich So wie er sein Herz an die Menschen in Israel haumlngt will er sie auch fuumlr sich und fuumlr ihr eigenes Heil gewinnen

o Auf diese Liebe Gottes antwortet die Liebe zu Gott die sich im Be-kenntnis zum einen Gott ausspricht (Dtn 64f) und im uumlberzeugten Gehorsam gegen sein Gebot bewahrheitet Der Liebe zu Gott ent-spricht die Naumlchstenliebe (Lev 1917f) weil man Gott nicht lieben kann ohne auch die zu lieben die er liebt

Auch wenn es einleuchten kann dass eine Liebe geboten werden kann bleiben die Frage wer diese Liebe gebieten kann und wie das Gebot sich erfuumlllen laumlsst Diese Fragen treiben schon Jesus und das Urchristentum um

Die exegetischen Fragen verlangen exegetische Antworten die den Texten ihr Recht geben und die noumltigen Unterschiede herausarbeiten aber auch Gemeinsamkeiten erkennen lassen Auf diese Weise kann ein differenzierter Eindruck der Liebes-Ethik im Neuen Testament und der ganzen Bibel entstehen

8

b Die katechetischen und didaktischen Fragen stellen sich auch im Verstaumlndnis bibli-scher Texte die aus der Vergangenheit reden aber darin auf die geschichtlichen Ur-spruumlnge des Glaubens wie der Kirche weisen und den Kanon heiszligt die Richtschnur christlicher Lehre und glaumlubigen Lebens spannen Entscheidend ist die Vergegenwaumlr-tigung

bull Wer ist zur Naumlchstenliebe gerufen Die Konkretion ist wesentlich weil das bdquowie dich selbstldquo zum Liebesgebot ge-houmlrt und damit das bdquoIchldquo des Menschen der das Gebot houmlrt in Rede steht Deshalb geraten die jeweils gegenwaumlrtigen Adressaten zentral in den Blick ihr Ich-Bild ihr Gottes-Bild und ihr Du-Bild Diese anthropologische Konkretisie-rung spiegelt auf die Exegese zuruumlck

bull Wie laumlsst sich die Naumlchstenliebe leben Die exegetischen Klaumlrungen zum Begriff des Naumlchsten (des Freundes des Feindes der Schwester und des Bruders) wie der Agape spitzen die Frage zu auf welchen Feldern und in welchen Formen die Naumlchstenliebe heute und jetzt gefragt ist Das Liebesgebot ist grundsaumltzlich Also ist es auf kreative Konkretisierungen hin angelegt Die katechetische und didaktische Vermitt-lung ist mithin aktive Exegese ndash und laumlsst auch im Ruumlckblick nach Konkretionen fragen Die Forderung der Naumlchstenliebe nimmt das Problem von Handlungskonkur-renzen und Entscheidungsnotwendigkeiten ernst und fordert zu klaren Optio-nen auf ndashdie jeweils heute getroffen werden muumlssen

bull Wer fordert die Naumlchstenliebe Ist Naumlchstenliebe selbstverstaumlndlich und deshalb ein Gebot Gottes Oder ist sie ein Gebot Gottes weil sie menschlich aber nicht selbstverstaumlndlich ist Die Exegese identifiziert (auf der Basis des kanonischen Textes) Moses und Je-sus als Gesetzgeber im Namen Gottes Die Autoritaumltsfrage stellt sich heute dramatisch neu weil die Bibel vermittelte Autoritaumlt ist und der menschliche Faktor bei ihrer Entstehung Uumlbermittlung und Erklaumlrung essentiell Die Exe-gese klaumlrt dies auf und wehrt dadurch jedem Fundamentalismus wird aber auch durch die Vergegenwaumlrtigungen zu kritischer Differenzierung angeleitet

Literatur zur Vertiefung CS Lewis The four loves London 1960 Deutsch Was man Liebe nennt Zuneigung Freund-

schaft Eros Agape Gieszligen 72004

Thomas Soumlding

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2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)

a Das Gebot der Naumlchstenliebe steht im Kern des Heiligkeitsgesetzes (Lev 17-26) Lev 19 Dieses Gesetz das zu den aumlltesten Textcorpora der Tora gehoumlrt ist von der imitatio Dei gepraumlgt (Lev 191) Gottes Heiligkeit an der Israel sich ausrichten soll ist der Glanz seiner Praumlsenz die Aura seiner Potenz das Strahlen seiner Transzendenz Israels Heiligkeit ist seine Zuwendung zu Gott und seinem Gesetz seine Abwendung von den Goumltzen und dem Unrecht Gottes Heiligkeit fuumlhrt nicht zu religioumlsen Berser-kern die im Namen des Einen alles andere vernichten sondern zu Menschen die lieben koumlnnen

b Das Heiligkeitsgesetz1

Das Liebesgebot ragt aus den ethischen Weisungen heraus Es bildet den kroumlnenden Abschluss einer Reihe sozial engagierter Gebote (Lev 1911-18) die allesamt negativ formuliert sind waumlhrend das Liebesgebot positiv formuliert wird In Lev 1934 findet es ein Echo mit der Ausweitung auf die Fremden als Schlusspointe des Heiligkeitsethos

umfasst einen bunten Strauszlig kultischer und sozialer Gebote Ihr innerer Zusammenhang wird dadurch gestiftet dass Heiligkeit sowohl das Gottes-verhaumlltnis als auch das Verhaumlltnis zum Naumlchsten praumlgt

c Durch die Forderung den Naumlchsten zu lieben geschieht die notwendige Konzentra-tion Der bdquoNaumlchsteldquo dem die Liebe gelten soll ist nicht einfach wer einem mehr oder weniger zufaumlllig begegnet2 sondern nach dem genauen Wortlaut der bdquoBruderldquo der bdquoStammesgenosseldquo das bdquoKindldquo des eigenen Volkes (Lev 1917f)3

Die Beispiele zeigen aber auch dass die Naumlchstenliebe von Anfang an faktisch Fein-desliebe ist Denn durchweg geht es um erlittenes Unrecht begangene Fehler ge-schehene Suumlnden Das Liebesgebot bahnt einen Ausweg aus der verfahrenen Situati-on Es nimmt den moralisch in die Pflicht dem Unrecht widerfahren ist Das Opfer soll aktiv werden um einen neuen Anfang zu setzen ndash nicht um die Taumlter zu entlasten sondern um ihnen zu helfen aus ihrer Schuld herauszukommen Dem entspricht ein offensives Verstaumlndnis von Heiligkeit Sie strahlt aus und zieht an

Das entspricht dem Kontext des Heiligkeitsgesetzes das von der Erwaumlhlung und Verpflichtung Israels handelt Es ist die Gemeinschaft des von Gott geliebten Volkes die durch Naumlchsten-liebe lebendig werden soll Wuumlrden die Grenzen verschwinden staumlnde die Naumlchsten-liebe in der Gefahr sich in unverbindliche Fernstenliebe aufzuloumlsen und den Kontakt zu Gott zu verlieren der sich seines Volkes erbarmt Durch die Konzentration auf die Naumlchsten des Gottesvolkes gewinnt die Zugehoumlrigkeit zu Israel Kontur die Heiligkeit wird konkret Die in Lev 1917f beschriebenen Beispiele setzen durchweg Nahbezie-hungen voraus

1 Vgl (klassisch historisch-kritisch) Klaus Gruumlnwaldt Das Heiligkeitsgesetz Levitkus 17-26 Ge-stalt Tradition und Theologie (BZAW 271) Berlin 1999 2 So jedoch Martin Buber Zwei Glaubensweisen (1950) in ders Werke I Muumlnchen - Heidel-berg 1962 651-782 701f bdquoSei liebreich zugewandt den Menschen mit denen du je und je auf den Wegen deines Lebens zu schaffen bekommst 3 Vgl Hans-Peter Mathys Liebe deinen Naumlchsten wie dich selbst

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d Die Konzentration der Naumlchstenliebe begruumlndet keine Doppelmoral sie ist positiv nicht exklusiv verstanden Das zeigt die Ausweitung auf die bdquoFremdenldquo mit derselben Maszligeinheit bdquowie dich selbstldquo Die Begruumlndung bdquodenn ihr seid selbst Fremde in Aumlgyp-ten gewesenldquo (Lev 1933f) erhellt eine uumlberraschende weil verdraumlngte Naumlhe Israel kann und soll das Leben der bdquoFremdenldquo nachfuumlhlen und sich ihnen in gleicher Weise wie den Mitgliedern des eigenen Volkes ndash bdquowie dich selbstldquo ndash zuwenden Die bdquoFremdenldquo sind in der Rechtssprache der Tora Nicht-Juden die dauerhaft im Hei-ligen Land leben Sie sind Buumlrger zweiter Klasse in Israel ndash wie einst Israel in Aumlgypten Desto wichtiger ist das Liebesgebot Die Septuaginta (LXX) uumlbersetzt mit bdquoProselytldquo um die Situation der Diaspora zu beruumlcksichtigen und den zuweilen prekaumlren Status der Konvertiten zum Judentum zu verbessern Im woumlrtlichen Sinn sind die bdquoProsely-tenldquo diejenigen die von auszligen hinzukommen insofern waren fuumlr die griechischen Uumlbersetzer die Israeliten in Aumlgypten bdquoProselytenldquo Wer nur auf der Durchreise ist ist keineswegs rechtlos er genieszligt Gastrecht und Gastfreundschaft4

Die Direktheit und Nachhaltigkeit des Liebesgebotes wird durch die Ausweitung un-terstrichen

deren Heiligkeit aumllter ist als das geschriebene Gesetz

e Das Liebesgebot wird zwar an anderen Stellen des Alten Testament (lange) nicht zitiert gehoumlrt aber in ein Feld aumlhnlicher ethischer Weisungen Es ist beeinflusst und es hat beeinflusst5

f Eine solche Liebe ist nicht storgeacute weil das Volk Gottes die natuumlrlichen Familienban-de uumlberschreitet wiewohl Israel oft genealogisch verstanden wird Sie ist nicht Freundschaft weil die Beziehung die sie kultiviert nicht freiwillig gewaumlhlt und gestal-tet sondern von Gott vorgegeben ist Diese Liebe kann nicht im Eros aufgehen weil sie weniger das Hingerissensein von anderen als die Weggemeinschaft mit ihnen kul-tiviert sie ist Agape weil sie von Gott kommt auch wenn im Kontext nicht expressis verbis von Gottes Liebe die Rede ist Unleugbar aber ist es Liebe zu vergeben und Rachegeluumlsten nicht nachzugeben sondern am Aufbau einer Friedensbeziehung zu arbeiten Nicht das Begehren sondern die Sympathie ist der Motor der Agape Aber sie begehrt verstanden und angenommen zu werden Getragen ist sie von der heili-gen Liebe Gottes ndash und zwar nicht nur weil allein Gott die Kraft geben kann den ers-ten Schritt der Versoumlhnung zu tun sondern weil Gott diejenigen die auf sein Wort houmlren sollen erst zu Houmlrern des Wortes macht und sie in sein Volk hineinstellt das er sich erwaumlhlt hat

Ex 244f ist ein gutes Beispiel fuumlr angewandte Feindes- Dtn 221-4fuumlr aktive Bruderliebe

4 Vgl Helga Rusche Gastfreundschaft im Alten Testament im Spaumltjudentum und in den Evan-gelien in ZMRW 41 (1957) 170-188 5 Vgl Gianni Barbiero ElAsino dell Nemico Rinuncia alla vendetta e amore dell nemico nella legislatione dellAntico Testamento (Es 234-5 Dt 221-4 Lv 1917-18) (AnBib 128) Rom 1991

Thomas Soumlding

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3 Das Liebesgebot im Judentum

a In den alttestamentlichen Spaumltschriften steigt die Bedeutung des Liebesgebotes bull Die Semantik der Septuaginta (mit der Agape als Zentrum) staumlrkt den theolo-

gischen Grundzug durch die explizit gewordene Verbindung mit der Liebe Gottes und der Liebe zu Gott

bull Nach Tob 413 soll die Naumlchstenliebe als Bruderliebe die juumldische Kommunitaumlt in der Diaspora aber auch im Heiligen Land staumlrken deshalb ist das Liebesge-bot mit der Warnung vor einer Mischehe verbunden

bull Nach Jesus Sirach6

o als Liebe zum Sklaven der aufgrund seiner Treue und Bildung als Partner anerkannt werden soll (Sir 721)

wird das Gebot der Naumlchstenliebe in verschiedenen sozia-len Kontexten konkretisiert

o als Konstituierung einer ethischen Maxime die auf die Goldene Regel zulaumluft (Sir 3115)

o als Schaumlrfung des Gewissens fuumlr den caritativen Einsatz fuumlr Arme (Sir 3423-27)

Die Konkretisierungen passen in das Schema weisheitlicher Ethik das im Neu-en Testament auch der Jakobusbrief ausfuumlllt

Die Steigerung der Bedeutung erklaumlrt sich aus zwei Gruumlnden bull einer Personalisierung der Ethik bull und einer Vermittlung juumldischer Ethik die auf Elementarisierung setzt

Die Bedeutungssteigerung erhoumlht die Attraktivitaumlt der juumldischen Ethik in der antiken Welt

6 Vgl Th Soumlding Naumlchstenliebe bei Jesus Sirach

12

b Aus der Septuaginta erklaumlrt sich die hohe Aufmerksamkeit fuumlr das Liebesgebot im hellenistischen Judentum Die Testamente der Zwoumllf Patriarchen7 reden haumlufig im ethischen Sinn von Liebe8 nahezu durchweg in der Form direkter oder indirekter Aufforderungen Die TestXII sind eine griechisch uumlberlieferte im 2 Jh von christlicher Hand redigierte aber dem wesentlichen Textbestand nach urspruumlnglich juumldische Schrift deren Wurzeln bis in das 2 Jh v Chr reichen koumlnnen Die Testamente nehmen Gen 49 auf und lassen die 12 Soumlhne Jakobs ihrerseits Abschiedsreden halten9

Lev 1918 wird zwar nicht explizit zitiert aber an vielen Stellen angespielt und durch-weg aktualisiert

Sie arbeiten das Problem der Diaspo-ra auf die als Zerstreuung gesehen und als Strafe Gottes gedeutet wird In dieser Si-tuation kommt es auf den inneren Zusammenhalt der Juden an der nach den Patriarchentestamenten nicht nur rituell sondern auch ethisch begruumlndet werden soll

10

7 Aumlltere Standardausgabe RH Charles The Greek Versions of the Testaments of the Twelve Patriarchs Oxford 1908 Nachdruck Darmstadt 1960 Neuere Edition Mde Jonge - HW Hollander - Hde Jonge - Th Korteweg The Testaments of the Twelve Patriarchs A Critical Edition of the Greek Text (PVTG I2) Leiden 1978 Die aramaumlische Version des TestLevi enthaumllt kein Liebesgebot Deutsche Uumlbersetzung J Becker Die Testamente der zwoumllf Patriarchen in JSHRZ III1 (21980)

Es zeigen sich Rezeptionslinien die im Bedeutungsfeld von Lev 1917f bleiben (vgl TestGad 43-8) die Explikation der Heiligkeit daumlmpfen aber den Bezug auf die Nachbarschaften im Gottesvolk Israel nicht aufgeben sondern unter den Bedingungen der Diaspora konkretisieren Nur in TestIss 76 (bdquohellip jeden Menschen hellipldquo) ist eine universalistische Deutung moumlglich

8 Vgl TestRub 69 Sim 447 Iss 52 76 Seb 85 Dan 53 Gad 42(6)7 613 77 Jos 1723 Benj 33ff 435 81 vgl auch Ass 24 Gad 33 (uumlber den Hasser) 46 Jos 175 Benj 82 (uumlber das Verhaumlltnis des Mannes zur Frau) Gad 15 (uumlber Jakobs Vaterliebe zu Joseph) 9 Vgl Th Soumlding Solidaritaumlt in der Diaspora M Konradt Menschen- und Bruderliebe 10 Ganz deutlich ist Gad 42 Dan 51 bezieht sich direkt auf das Gebot und Gesetz (vgl Iss 51) des Herrn und hat dabei augenscheinlich auch Lev 1918 vor Augen Fuumlr den Einfluss des Lie-besgebots sprechen uumlberdies die Formulierungen von Benj 334 Rub 69b bezieht die Liebe zwar direkt auf den Bruder hat aber im parallelen Teilvers 6a den Naumlchsten aumlhnlich liegt der Fall in Dan 52a3b und Gad 61

Thomas Soumlding

13

c Auch Schriften die tiefer in Palaumlstina wurzeln nehmen das Liebesgebot auf Das Buch der Jubilaumlen11

11 Die Originalsprache ist hebraumlisch zu den einschlaumlgigen Qumran-Fragmenten vgl JC VanderKam Textual and Historical Studies in the Book of Jubilees (HSM 14) Missoula 1977 Die davon abhaumlngige griechische Uumlbersetzung ist bruchstuumlckhaft erhalten vgl A-M Denis Fragmenta Pseudepigraphorum quae supersunt Graeca una cum Historicorum et auctorum Iudaeorum Hellenistarum Fragmentis collegit et ordinavit (PVTG 3) Leiden 1970 70-102 Die auf der griechischen Uumlbersetzung fuszligende aumlthiopische Fassung die in den gemeinsam uumlberlie-ferten Partien der Qumran-Version sehr genau entspricht hat ediert RH Charles Mashafa Kufacirclecirc or the Ethiopic Version of the Hebrew Book of Jubilees (Anecdota Oxoniensia) Oxford 1895 Deutsche Uumlbersetzung Klaus Berger Das Buch der Jubilaumlen in JSHRZ II3 (1981)

im 2 Jh vor Chr geschrieben protestiert gegen die Korrup-tion des Makkabaumlerstaates es tritt mit dem Anspruch auf Mose auf dem Sinai offen-bart worden zu sein (Jub 11-29) es will einem Israel das einer schleichenden Hellenisierung verfaumlllt neue Identitaumlt verleihen indem es den Blick auf die normative Anfangszeit die Zeit der Vaumlter und des Mose lenkt und von ihr her eine authentische Halacha entwickelt die es erst ermoumlglicht gerecht zu leben (Jub 2326-31) Zum his-torischen Paradigma wird der Bruderstreit zwischen Jakob und Esau (Jub 3420 - 392a) Das Liebesgebot ndash Lev 1918 wird nicht direkt aber indirekt zitiert ndash hat eine qualitativ groszlige Bedeutung weil es uumlber die Klaumlrung halachischer Fragen hinaus den Geist wie die Praxis des Zusammenhaltes schaumlrft allerdings nicht allein oder als Krouml-nung sondern im konstitutiven Verbund mit anderen ethischen Prinzipien wie Ge-rechtigkeit Die Verzeihung die Joseph den Bruumldern gewaumlhrt macht ihn zum ethi-schen Vorbild dem es nachzueifern gilt Die Pflicht zur Liebe endet aber dort wo es sich nicht mehr nur um persoumlnliche Gegnerschaft sondern um Konflikte mit Frevlern handelt die dem Gebot Gottes grundlegend zuwiderhandeln Eine universalistische Ausweitung der Bruderliebe fasst Jub 202 ins Auge Zwar bezieht sich das Liebesge-bot direkt nur auf die herbeigerufenen Kinder und Enkel Abrahams aber unter ihnen finden sich namentlich genannt auch Ismael mit seinen zwoumllf Kindern und die Kinder der Ketura mit ihren Soumlhnen (Jub 201) Dadurch wird bereits der juumldische Rahmen gesprengt Uumlberdies baut die Formulierung eine Verbindung zwischen Bruderliebe und Menschenliebe auf Im ethischen Nahbereich koumlnnen auch Nicht-Juden Naumlchste werden

14

d Die Schriften aus Qumran12 enthalten in zwei Corpora bedeutende Zeugnisse einer Naumlchstenliebe die sich innerjuumldisch aus dem Konflikt mit Frevlern als Gegenstuumlck zum Feindeshass erklaumlrt13

bull Die Gemeinderegel (1QS vgl 1QSa) beschreibt das Zusammenleben einer juuml-dischen Reformbewegung die sich in striktem Gegensatz nicht nur zu den Heiden sondern auch zu den Priestern in Jerusalem als wahres Israel konsti-tuieren abseits vom Tempel Die Forschung diskutiert die Beziehung zu den Esseacutenern uumlber die Philo von Alexandrien (15 v Chr - 40 n Chr ) in seiner Schrift uumlber die Freiheit des Tuumlchtigen (Quod omnis probus liber sit 72-91) der juumldische Historiker Flavius Josephus (3738 - 100 n Chr) in seinen Buuml-chern uumlber den juumldischen Krieg (De bello Judaico 2 119-161) und die Ge-schichte Israels (Antiquitates Judaicae 181118-22) sowie der roumlmische Ge-lehrte Plinius der Aumlltere (23-79 nChr) in seiner Naturgeschichte (Naturalis historia 573) berichten

Fuumlr die Gemeinderegel ist ein religioumlser Dualismus zwischen den bdquoSoumlhnen des Lichtesldquo und den bdquoSoumlhnen der Finsternisldquo wesentlich Er entsteht durch den Frevel derjenigen die das Heilige wahren sollen er wird von Gott sanktio-niert Entscheidend ist in einem aufwendigen Konversionsverfahren den Weg aus der massa damnata in Israel zur Kommunitaumlt der Frommen zu finden um so der Gnade der Rechtfertigung teilhaftig zu werden Die Zugehoumlrigkeit zur Gemeinschaft zeigt sich im Ritus und im Ethos Das Ethos ist durch Naumlchstenliebe strukturiert (1QS 13f9ff 224 5425 82 91621 1026) Sie ist im Kern Zustimmung zu der Erwaumlhlung und Vergebung die dem Mitbruder wie der eigenen Person zuteil geworden ist Deshalb ent-spricht der Naumlchstenliebe der Feindeshass Er ist im Kern Ablehnung und Dis-tanzierung die aber gerade nicht durch Gewalt sondern durch strikte Gewalt-losigkeit strukturiert wird damit das Gesetz des Handelns nicht von den Frev-lern sondern den Gerechten bestimmt wird (1QS 1017f)

bull Die Hymnenrolle (1QH) sammelt Psalmen die den Kampf der Guten gegen die Boumlsen der Gerechten gegen die Ungerechten verherrlichen Die Sprache ist militaumlrisch der Stil metaphorisch Die Spiritualitaumlt passt zur Ekklesiologie und Ethik der Gemeinderegel aber welchen genauen Bezug es gibt ist in der Qumran-Forschung strittig Entscheidend ist Gott fuumlr die eigene Erwaumlhlung zu preisen Das dankbare Gotteslob spiegelt sich in der Abscheu vor dem und den Boumlsen Liebe ist Zu-stimmung zur Liebe Gottes Hass Zustimmung zum Hass Gottes (1QH 142-8)

Die beiden Corpora stammen aus vorchristlicher Zeit Sie dokumentieren die Zerris-senheit des Judentums in Palaumlstina aber auch den Reformeifer derer die ein heiliges Israel erneuen wollen 12 Deutsche Uumlbersetzungen E Lohse Die Texte aus Qumran Hebraumlisch und Deutsch Muumln-chen 21971 K Schubert - J Maier Die Qumran-Essener Texte der Schriftrollen und Lebensbild der Gemeinde (UTB 224) Muumlnchen - Basel 1982 143-312 Zur Tempelrolle vgl die Ausgabe von Y Yadin Megillat ham-Miqdas The Temple Scroll (Hebrew Edition) Bde I-IIIa Jerusalem 1977 deutsche Uumlbersetzung J Maier Die Tempelrolle vom Toten Meer (UTB 829) Muumlnchen - Basel 1977 13 Vgl Th Soumlding Feindeshass und Bruderliebe

Thomas Soumlding

15

4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)

a Das Doppelgebot der Naumlchstenliebe uumlberliefert das Neue Testament bei den Synop-tikern in drei Fassungen

bull Markus erzaumlhlt von einem Konsensgespraumlch uumlber das groumlszligte Gebot zwischen Jesus und einem Schriftgelehrten in Jerusalem (Mk 1228-34) die Antwort Je-su eine Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 fuumlhrt zu einer Verstaumlndi-gung

bull Matthaumlus stimmt in der Thematik der Frage der Ortsangabe und der Kombi-nation beider Liebesgebote mit Markus uumlberein (Mt 2234-40) macht aber aus dem Konsens- ein Streitgespraumlch Jesus wird von einem Gesetzeslehrer auf die Probe gestellt und besteht die Herausforderung glaumlnzend indem er das Doppelgebot formuliert

bull Lukas kennt in seiner Version (Lk 1025-37) gleichfalls die Kombination er uumlberliefert wie Matthaumlus einen bdquoGesetzeslehrerldquo ndash nicht wie Markus einen bdquoSchriftgelehrtenldquo ndash als Partner und erzaumlhlt ndash wie Matthaumlus anders als Mar-kus ndash von einem Konfliktgespraumlch Aber bei ihm findet der Dialog auf dem Weg Jesu nach Jerusalem statt (Lk 951 - 1927) die Frage zielt auf das ewige Leben (wie in Mk 1017 par Mt) der Dialog spitzt sich auf die Frage nach dem Naumlchsten zu die Jesus mit dem Samaritergleichnis beantwortet

Die markinische Version ist (nach der Zwei-Quellen-Theorie) die aumllteste Matthaumlus laumlsst sich als Kuumlrzung und Zuspitzung lesen Ob aber Lk 1025-37 sich als Markus-Redaktion erklaumlren laumlsst ist fraglich Womoumlglich hat es ndash durch Q ndash eine Doppeluumlber-lieferung gegeben die eine Kontroverse mit einem Gesetzeslehrer enthalten hat Noch wahrscheinlicher ist dass es von Anfang verschiedene Versionen gegeben hat die von den Evangelisten unterschiedlich rezipiert worden ist In jedem Fall bezeugt die Breite der Uumlberlieferung dass das Liebesgebot fuumlr Jesus typisch gewesen ist

b In allen Versionen des Doppelgebotes gibt es gemeinsame Charakteristika bull die Form des Gespraumlches in der das Doppelgebot entwickelt wird bull den Bezug auf das Gesetz bei Markus (1228) und Matthaumlus (2236) durch die

Jesus gestellte Ausgangsfrage bei Lukas durch die Ruumlckfrage Jesu (1026) bei Matthaumlus durch den Schlusssatz Jesu unterstrichen (2240)

bull die Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 ad vocem Agape bull die Abfolge dass zuerst das Hauptgebot der Gotteslebe (Dtn 64f) dann das

Gebot der Naumlchstenliebe (Lev 1918f) kommt obwohl die kanonische Reihen-folge eine andere ist

Diese Charakteristika sind der Kernbestand der Tradition sie muumlssen zu Eckpfeilern der Interpretation werden

c Die unterschiedlichen Gespraumlchssituationen haben ihre eigene Logik bull Markus will zeigen dass es zu einer fundierten und breiten Verstaumlndigung Je-

su mit den Schriftgelehrten haumltte kommen koumlnnen auf der Basis der Tora bull Matthaumlus will zeigen dass die Hierarchisierung der Gebote strittig war und

geblieben ist bull Lukas will herausarbeiten dass das Doppelgebot Fragen stellt die Jesus be-

antworten kann Die unterschiedlichen Logiken koumlnnen nicht gegeneinander ausgespielt aber jeweils in das Evangelium eingeordnet werden in dem sie sich befinden

16

d Alle Versionen bestimmen die Tora als Basis des Dialoges Alle bleiben im Rahmen juumldischer Hermeneutik Schrift legt Schrift aus Alle erweisen sich im religionsge-schichtlichen Vergleich als typisch jesuanisch

bull Einerseits gibt es im Judentum eine lebhafte Debatte aus didaktischen und theologischen Gruumlnden zu einer Hierarchie der Gebote zu gelangen In dieser Debatte ragt das Liebesgebot heraus Es gibt aber immer auch starke Kontro-versen uumlber die Richtigkeit und Guumlltigkeit solcher Elementarisierungen

bull Anderseits steht Jesus nicht gegen die Tora sonder erfuumlllt sie (vgl Mt 517-20) Dese Erfuumlllung hat eine spezifische Qualitaumlt diese Qualitaumlt bezeichnet das Liebesgebot das Jesus selbst praktiziert

Das Doppelgebot bricht nicht aus dem Gesetz aus sondern schlieszligt es auf

e Im fruumlhen Judentum gibt es keine direkte Parallele zum jesuanischen Doppelgebot Aber es gibt eine ganze Reihe von strukturaumlquivalenten Formulierungen sowohl im palaumlstinischen wie auch im hellenistischen Judentum Zum Teil sind sie direkt als Ge-bot einer doppelten Liebe zum Teil mit Varianten vor allem der Gottesfurcht gebil-det Diese Parallelen erhellen den juumldischen Kontext in dem das Doppelgebot steht Auffaumlllig ist in der Jesustradition zweierlei

1 die direkte Schriftzitation 2 der explizite Bezug zur Tora der reflektiert wird

Beides spiegelt die Programmatik der jesuanischen Position

f Die Struktur der Tradition leitet in jeder Variante von der Gottes- zur Naumlchstenliebe und bindet das Liebesgebot zusammen

bull Es gibt keine Gottesliebe ohne Naumlchstenliebe weil Gott den es zu lieben gilt nicht nur die Person liebt die lieben soll sondern auch diejenige die geliebt werden soll Diese Liebe Gottes als Basis ist im Doppelgebot nicht expliziert aber impliziert

o in der Einzigkeit Gottes so wie sie in der Bibel Israels und in der Jesus-tradition als Qualifikation des Schoumlpfers und Erhalters des Versoumlh-ners und Vollender entfaltet wird

o im Wort Agape das eo ipso von der Liebe Gottes gespeist wird Das Doppelgebot ist das beste Gegengift gegen Heuchelei

bull Es gibt keine Naumlchstenliebe ohne Gottesliebe ndash nicht weil es keine Ethik keine Menschlichkeit kein Mitleid und keine Solidaritaumlt ohne Gottesliebe gaumlbe (im Gegenteil) sondern weil die Naumlchstenliebe wie sie alt- und neutestamentlich expliziert wird den Naumlchsten als die von Gott geliebte Person liebt also Ein-stimmung in die Liebe Gottes ist die nur in der Liebe zu Gott explizit beant-wortet werden kann

bull Es gibt einen Primat der Gottes- vor der Naumlchstenliebe ndash nicht weil die Got-tes- wichtiger als die Naumlchstenliebe waumlre sondern weil Gott der Schoumlpfer all derer ist die lieben und geliebt werden sollen und sie alle zur Teilhabe an seiner Liebe fuumlhren will

Die Einheit der Gottes- und Naumlchstenliebe ist keine Identitaumlt sondern eine Spannung die ein hohes Energiefeld aufbaut

g Das Doppelgebot selbst enthaumllt keine Konkretion steht aber in den Evangelien die sich in die Tradition des Alten Testaments stellen und wird dadurch einerseits zum Kompass durch die Tora andererseits zum Katalysator von Aktualisierungen die pa-radigmatisch von Jesus angesprochen werden

Thomas Soumlding

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5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)

a Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter antwortet auf die wichtige Frage bdquoWer ist mein Naumlchsterldquo (Lk 1025-37)

bull Die Frage ist wichtig weil es um die Konkretionen der Liebe geht und Lev 1917f eine klare Antwort gibt Die Naumlchsten sind die Mit-Glieder des Gottes-volkes Hinzu treten die bdquoFremdenldquo (Lev 1934) die dauerhaft in Israel inte-griert sind nach der Septuaginta die Proselyten Die Konzentration auf diese Naumlchsten ist theologisch durch die gemeinsame Berufung des Volkes zur Hei-ligkeit begruumlndet Sie bewaumlhrt sich in Konflikten umfasst also de facto auch Feindesliebe

bull Die Frage wird von Jesus mit einer Geschichte beantwortet die auf provokan-te Weise einen Samariter zu einem Vorbild werden laumlsst Dass Jesus mit ei-nem Gleichnis antwortet setzt auf die argumentative Kraft einer Erzaumlhlung die nicht nur eine Welt vor Augen stellen sondern auch eine Sache klaumlren kann und zwar so dass Anteilnahme entsteht eine Verstrickung in die Ge-schichte durch Dramatik und Identifikation

Die Antwort auf die Frage wird nicht ohne ihre Umkehrung gegeben bdquoWer hellip ist zum Naumlchsten dessen geworden der unter die Raumluber gefallen istldquo (Lk 1036) Damit wird die Ausgangsfrage nicht desavouiert sondern konkretisiert Wer nach dem Naumlchsten fragt fragt auch nach sich selbst Und wer sich selbst von Naumlchsten umgeben weiszlig denen er verpflichtet ist muss selbst zum Naumlchsten derer werden wollen die auf Hilfe angewiesen sind

b Die Geschichte gehoumlrt zum Doppelgebot das bei Lukas (1025ff) wie bei Matthaumlus (2235-40) ein Streitgespraumlch ist waumlhrend es bei Markus ein Konsensgespraumlch ist (Mk 1228-34) Lukas hat es in die Zeit des oumlffentlichen Wirkens Jesu vorgezogen und kompositorisch konkretisiert

bull Mit einem bdquoGesetzeslehrerldquo trifft Jesus auf seinem Weg einen Experte fuumlr die Frage die er stellt

bull Das Doppelgebotsthema wird nicht nur durch das Samaritergleichnis sondern auch durch die Fortsetzung konkretisiert

o Die Beispielgeschichte Lk 1030-35 thematisiert das Tun (Lk 1037) o Die folgende Geschichte von Maria und Martha akzentuiert das Houmlren

(Lk 1038-42) o Die anschlieszligende Gebetslehre konkretisiert jene Gottesliebe die aus

dem Houmlren zum Sprechen fuumlhrt mit dem Vaterunser als Kern Durch die Komposition wird die Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe unter-strichen

Die Szenerie unterstreicht die Brisanz der Frage nach der Geltung des Gesetzes und erhoumlht damit den Stellenwert des Gleichnisses damit aber auch die Praumlgnanz des Samariterbildes Jesu

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c Der gesamte Text hat eine dialogische Struktur 1 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach dem Sinn des Lebens (Lk 1025) 2 Jesus fragt zuruumlck indem er auf das Gesetz verweist (1026) 3 Der Gesetzeslehrer zitiert das Doppelgebot (Lk 1027) 4 Jesus bestaumltigt und fordert zur Praxis (Lk 1028) 5 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach der Identitaumlt des Naumlchsten (Lk 1029) 6 Jesus fragt zuruumlck indem er das Gleichnis erzaumlhlt (Lk 1030-36) 7 Der Gesetzeslehrer gibt die richtige Antwort (Lk 1037a) 8 Jesus fordert zum Handeln (Lk 1037b)

Jesus agiert im sokratischen Stil Er laumlsst den Fragesteller selbst die Antwort finden ndash nicht irgendwo sondern im Gesetz und in seinem Gewissen Das spiegelt fuumlr Lukas die Uumlberlegenheit Jesu und die Menschlichkeit seiner Ethik

d Das Gleichnis arbeitet mit einem scharfen Kontrast bull Auf der einen Seite stehen der Priester und der Levit Repraumlsentanten des Ju-

dentums Sie muumlssten genau wissen was zu tun ist Sie haben wenn sie wie der Verletzte auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho sind auch keinen Grund sich aus kultischen Uumlberlegungen um sich nicht zu verunreinigen an einem vorbeizugehen von dem sie glauben dass er tot sei wenn sie auf dem Weg zuruumlck sind ist fuumlr die ggf erforderliche rituelle Reinigung genuumlgend Zeit

bull Auf der anderen Seite steht der Samariter dem man es am wenigsten zutrau-en wuumlrde dass er tut was recht ist Dessen Rolle wird aber von Jesus stark betont nicht nur durch den Kontrast sondern auch dadurch dass er weit uumlber die Erste Hilfe hinaus mehr als genug tut um dem Verletzten zu helfen Er selbst leistet den sprichwoumlrtlich gewordenen Samariterdienst und treibt ungewoumlhnlich intensive Vorsorge dass der Mann nachhaltig gesundet ndash nach allen Regeln der (damaligen) aumlrztlichen Kunst

Dieser Kontrast war den Menschen sowohl zur Zeit Jesu als auch zur Zeit des Evange-listen Lukas deutlich Lk 952-56 hat ihn frisch in Erinnerung gerufen

e Jesus laumlsst durch die Kunst seiner narrativen Argumentation dem Gesetzeslehrer keine Chance nicht von seiner Antwort uumlberzeugt zu werden die seinen eigenen mo-ralischen Standpunkt veraumlndert Alle Menschen die ein Herz im Leibe haben werden erkennen dass nicht der Priester nicht der Levit sondern ausgerechnet der feindli-che der bdquohaumlretischeldquo Samariter das einzig Richtige getan hat indem er dem unter die Raumluber gefallenen Menschen geholfen hat Das aber ist schon der erste Schritt in die Richtung die Jesus den Menschen zeigt damit sie Gott und den Naumlchsten neu entde-cken koumlnnen Wer aber nicht nur tatkraumlftig wie der Samariter hilft sondern als Jude weiszlig dass er ihn wegen seiner Naumlchstenliebe nachahmen sollte hat eine Grenze uumlberschritten die durch das Nahekommen der Basileia durchlaumlssig geworden ist Der Gesetzeslehrer versperrt sich dieser Lektion nicht Er ist deshalb ein positives Beispiel

Literatur Andregrave Lacoque Lhermeacuteneutique de Jeacutesus au sujet de la loi dans la Parabole du Bon Samari-

tain in Etudes theacuteologiques et religieuses 78 (2003) 25-46

Ruben Zimmermann Die Etho-Poietik des Samaritergleichnisses (Lk 1025-37) Eine Ethik des Schauens in einer Kultur des Wegschauens in Wort und Dienst 29 (2007) 51-69

Thomas Soumlding

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6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)

a Die fuumlnfte und sechste Antithese bilden bei Matthaumlus den Houmlhepunkt der Reihe die sich am Dekalog orientiert in der Feldrede bei Lukas markiert das Gebot der Feindes-liebe den Mittelpunkt der Ethik Die Feindesliebe bezeichnet in groumlszligter Konsequenz den Standpunkt der Moralitaumlt steht aber auch im Brennpunkt der Kritik

bull Ist Gewaltlosigkeit wuumlrdelos verantwortungslos kraftlos So Nietzsche14

bull Ist Feindesliebe unrealistisch So der gesunde Menschenverstand und das Ur-teil professioneller Politik

15 So auch der juumldische Einwand16 den zuletzt Jacob Neusner vorgetragen hat17

Die antithetische Form bei Matthaumlus zeigt das Potential der Kontroverse Es ist nicht das Ziel der Exegese sie aufzuloumlsen sondern sie auszuloumlsen

b Der Blick in die Synopse zeigt im Vergleich mit Lk 627-36 zweierlei bull Die antithetische Form ist ndash hier wie sonst ndash ein matthaumlisches Spezifikum Sie

dient der Profilierung der Ethik Jesu im Gegenuumlber zur Tora ndash unter dem Vor-zeichen der Erfuumlllung (Mt 517-20)

bull Bei Lukas ist Gewaltverzicht direkter Ausdruck der Feindesliebe Matthaumlus dif-ferenziert und kombiniert um zu akzentuieren

Die Synopse fordert bei der lukanischen Uumlberlieferungsform anzusetzen aber die matthaumlische Variante nicht als sekundaumlr abzutun sondern als Reflex jesuanischer Konkretionen in den Blick zu nehmen

c Das Gebot der Feindesliebe tradiert uumlber die Redenquelle (Q) ist Urgestein und Herzstuumlck der Ethik Jesu18

14 Also sprach Zarathustra III 21 (Werke VI1) bdquoIch sollte nur Feinde haben die zu hassen sind aber nicht Feinde zum Verachten ihr muumlsst stolz auf euren Feind sein (260)ldquo

Die Stellung in der matthaumlischen Bergpredigt und der luka-nischen Feldrede zeigt dass im Urchristentum diese zentrale Bedeutung gesehen und tradiert worden ist Paulus reflektiert sie in Roumlm 129-21 Auch im johanneischen Kon-zept der Bruderliebe ist sie vorausgesetzt

15 Max Weber Politik als Beruf (1919) in ders Gesammelte politische Schriften hg v J Winckelmann Tuumlbingen 31971 505-560 bdquoMit der Bergpredigt ist es eine ernstere Sache als die glauben die diese Gebote heute gern zitieren Wenn es in Konsequenz der akosmistischen Liebesethik heiszligt dem Uumlbel nicht widerstehen mit Gewaltlsquo ndash so gilt fuumlr den Politiker der Satz du sollst dem Uumlbel gewaltsam widerstehen sonst ndash bist du fuumlr seine Uumlberhandnahme verantwortlich (550f)ldquo 16 Der Jude Tryphon plaumldiert nach Justin dial 52 bdquoIch weiszlig auch dass eure Lehren die in dem sogenannten Evangelium stehen so erhaben und groszlig sind dass wie ich meine kein Mensch sie beobachten kannldquo 17 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 Neuausgabe Frei-burg - Basel - Wien 2007 (engl 1993) Neusner praumlzisiert Jesus maszlige sich das Recht Gottes an so zu sprechen wie es die Bergpredigt uumlberliefert 18 Th Soumlding Die Verkuumlndigung Jesu 570-583

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d Nach Lk 6 sind alle Houmlrer der Botschaft Jesu zur Feindesliebe gerufen In erster Linie sind es seine Juumlnger als stellvertretende Adressaten der Seligpreisungen und Weherufe (Lk 620-26) Lukas sieht die Kirche als Ort wo primaumlr die Feindesliebe ver-wirklicht sein will gerade auch gegenuumlber Nicht-Christen (und berichtet in der Apos-telgeschichte dass dies in der Urgemeinde auch geschehen sei) Nach Matthaumlus hat Jesus direkt seine Juumlnger angesprochen (Mt 51f) ndash aber so dass alles Volk (vgl 423ff) es houmlren und daruumlber staunen kann (Mt 728f) Die Pointe ist missionstheologisch Wenn die Juumlnger ausziehen alle Voumllker ihrerseits zu Juumlngern zu machen sollen sie nicht nur taufen sondern auch lehren bdquoalles zu haltenldquo was Jesus ihnen bdquogebotenldquo hat (Mt 2818ff)

d Die Feindschaften die Jesu Gebot anspricht sind so paradigmatisch ausgewaumlhlt und scharf zugespitzt dass prinzipiell jede denkbare Feindschaft im Blick stehen muss Es werden die empoumlrendsten Formen paradigmatisch konkretisiert

bull religioumlse Verfolgung (Lk 628 Mt 544) bull koumlrperliche Gewalt selbst wenn sie demuumltigen soll (Lk 628f Mt 539) bull wirtschaftliche Ausbeutung auch wenn sie sich den Anschein des Rechts gibt

(Mt 540) bull politisch-militaumlrische Unterdruumlckung auch wenn sie schier uumlbermaumlchtig

scheint (Mt 541) Jede denkbare Grenze der Feindesliebe wird uumlberschritten der Familie und Ver-wandtschaft des Freundeskreises der Glaubensgenossen der (mehr oder weniger) Guten der Angehoumlrigen des eigenen Volkes (vgl Lk 1025-37)

e Die Feindesliebe zeigt sich in den gleichfalls paradigmatischen Konkretisierungen bull als Fuumlrbitte fuumlr die Verfolger (Lk 628 par Mt 544) und Segnen der

Blasphemiker (Lk 628) ndash im Gegensatz zum Verfluchen und zur Bitte um ihre Vernichtung durch Gottes Strafgericht

bull als aktiver Gewaltverzicht gegenuumlber erlittener Uumlbermacht (Lk 629 Mt 538-42) ndash im Gegensatz dazu Unrecht mit gleicher Muumlnze heimzuzahlen

bull als selbstlose Unterstuumltzung der Armen auch wenn deren Bitten laumlstig faumlllt (Lk 630) ndash im Gegensatz zum Kalkuumll des do ut des

bull als engagierter Einsatz fuumlr das Gute (Lk 62733) ndash im Gegensatz zu einem Mitmachen wie zur Resignation

Feindesliebe ist nicht passiv sondern aktiv Sie kreiert eine neue Situation In diesen Konkretisierungen erhellt die Feindesliebe als radikalisierte Naumlchstenliebe (Lev 1917f) die im Kontext der Gottessliebe steht (Mk 1228-34 parr) Sie ist nicht das Einverstaumlndnis mit Unrecht Schuld und Schwaumlche schon gar nicht schwaumlchliches Hinnehmen von Unrecht sondern im Gegenteil starkes aber deshalb auch leidensfauml-higes Eintreten dafuumlr Boumlses durch Gutes zu uumlberwinden (Roumlm 1221)

Thomas Soumlding

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h Die Feindesliebe ist theologisch begruumlndet und motiviert bull Der theologische Grund ist das Handeln Gottes selbst der als Schoumlpfer und Er-

loumlser permanent Feindesliebe praktiziert (Lk 635 Mt 545 vgl Roumlm 55ff) o Mit dem Blick ins Buch der Natur zeigt Jesus nach Matthaumlus Gott als

den der auch den Boumlsen und Ungerechten das Leben schenkt weil er will dass sie leben (nicht weil er will oder toleriert dass sie Boumlses und Unrechtes tun)

o Der Vergleich mit dem aumlhnlichen Motiv bei Seneca der (nicht zu Feindesliebe aber) zu groszligmuumltiger Gelassenheit gegenuumlber Feinden mahnt macht den Unterschied deutlich denn nach ihm kann Gott nicht anders als die Unterstuumltzung der Boumlsen in Kauf zu nehmen wenn er den Guten helfen will ndash wofuumlr er sich entscheidet weil das Gute mehr wert ist als das Boumlse

bull Das theologische Motiv ist die Nachahmung Gottes die imitatio Dei (Lk 636 Mt 548) der die Verheiszligung ewigen Lebens gilt des bdquoLohnesldquo der in der Gotteskindschaft besteht

In dieser Theozentrik ist die Feindesliebe Zustimmung zu der Liebe mit der Gott auch die Ungerechten und Suumlnder liebt ndash ohne ihre Suumlnde gutzuheiszligen aber auch ohne ihnen wegen ihrer Schuld seine Zuwendung zu entziehen

i Das Gebot der Feindesliebe ist angewandte Christologie bull Einerseits ist es Jesus der das Gebot ndash nach Matthaumlus im Gegensatz zur herr-

schenden Auslegung des atl Liebesgebotes ndash der Feindesliebe aufstellt bull Andererseits ist es Jesus der das Gebot umfassend verwirklicht ndash vorbildlich

in seinem Leiden heilbringend in seiner Lebenshingabe aus reiner Liebe

f Das bdquoAuge um Auge Zahn um Zahnldquo (Ex 2124) begrenzt die Vergeltung das bdquoIch aber sage euchldquo aktiviert zur Versoumlhnung Das alttestamentliche Gebot der Naumlchstenliebe umfasst innerhalb Israels Feindesliebe (Lk 1917f) und weitet sie aus (Lev 1934) Das bdquoIch aber sage euchldquo setzt sich von einer Auslegung ab die aus Sorge um Gottes Gerechtigkeit die Grenzen der Erloumlsung zu eng zieht Dafuumlr gibt es Beispiele in Qumran Der originaumlre Bezug des Gebotes der Naumlchstenliebe auf das Volk Gottes wird nicht aufgegeben aber ausgeweitet

bull In der Juumlngerschaft ist ndash in Israel und uumlber Israel hinaus ndash der Ort an dem die Feindesliebe so praktiziert werden soll dass sie ausstrahlt (vgl Mt 513-16)

bull Zum Volk Gottes gehoumlren nicht nur die Juden und alle die an Jesus glauben Gott hat vielmehr Jesus (nach Matthaumlus wie nach Lukas) deshalb gesendet damit durch seinen Dienst am Heil der Menschen der reine Feindesliebe ist alle Voumllker zu seinem Volk werden Die Kirche repraumlsentiert und realisiert stellvertretend diese Heilsuniversalitaumlt Ihre Feindesliebe konkretisiert sie ethisch

Feindesliebe durchbricht das Prinzip der Vergeltung ohne das Prinzip der Gerechtig-keit aufzugeben Das ist nur deshalb sittlich erlaubt und geboten weil das Gebot in der Liebe Gottes selbst begruumlndet ist die sich in der Feindesliebe Jesu realisiert die ihrerseits der theologische Nerv seines Lebens und Sterbens zur Erloumlsung der Suumlnder ist

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j Das psychologische Problem das Sigmund Freud scharf markiert hat19

Das ethische Problem das Fjodor Dostojewksi (Die Bruumlder Karamasow) Iwan in den Mund legt lautet

besteht da-rin dass blinde Aggressionen entwickelt wer sich moralisch uumlberfordert Dieses Prob-lem laumlsst sich wohl nur spirituell loumlsen in der Nachfolge Jesu die auf seine Kraft setzt in den Nachfolgern das Gute zu tun

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k Das Problem der Erfuumlllbarkeit der Bergpredigt und speziell des Gebotes der Fein-desliebe bewegt Theologie und Kirche seit aumlltester Zeit Eine erhebliche Verschaumlrfung des Problems geschieht durch eine moderne Emotionalisierung der Feindesliebe Wird sie aber als Ausdruck der Agape verstanden begruumlndet sie ndash in der Nachfolge Jesu ndash eine Praxis des Glaubens aus der Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe Als solche kann sie durchaus eingeuumlbt ausgebildet und gefestigt werden Sie setzt die Suche nach dem besten Weg der Verwirklichung nicht aus sondern ein Sie entspricht aber darin der Gottebenbildlichkeit aller Menschen und der Gotteskindschaft der zu Erloumlsenden dass sie an der Unbedingtheit der Bejahung die Gott ihnen zuteilwerden laumlsst Anteil hat

dass Feindesliebe letztlich Kumpanei mit den Taumltern auf Kosten der Opfer sei Dieses Problem das haumlufig nicht gesehen wird laumlsst sich nur soteriolo-gisch loumlsen weil derjenige der selbst aus reiner Liebe die Schuld der anderen ertra-gen und vergeben hat das Reich Gottes als umfassende Vollendung von Gerechtig-keit Friede und Freude (Roumlm 1417) verwirklicht

19 Das Unbehagen in der Kultur in Gesammelte Werke 14 London 1948 419-506 468-475493-506 (Abschnitte V VIII) bdquoNachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte war die aumluszligerste Intoleranz des Christentums gegen die drauszligen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge gewordenldquo (374) 19 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 20 bdquoSchlieszliglich will ich auch gar nicht dass die Mutter den Peiniger umarmt der ihren Sohn von Hunden zerreiszligen lieszlig Sie darf sich nicht unterstehen ihm zu verzeihen Wenn sie will mag sie verzeihen soweit es sie selber angeht sie mag dem Peiniger ihr maszligloses Mutterleid ver-zeihen aber die Leiden ihres zerfleischten Kindes zu verzeihen hat sie kein Recht sie darf es nicht wagen dem Peiniger zu verzeihen auch wenn das Kind selber ihm verzieheldquo (Muumlnchen 1958 330f

Thomas Soumlding

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7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)

71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20) a Mit der Fuszligwaschung21

b Die Fuszligwaschung ist das Zeichen der Passion Ihr folgen Gespraumlche mit den Juumln-gern die zwar von Jesus gewaschen und gereinigt sind aber groumlszligte Schwierigkeiten haben zu verstehen was sich tut

beginnt der 2 Hauptteil des Johannesevangeliums Das oumlffentliche Wirken ist abgeschlossen Jesus konzentriert sich auf seine Juumlnger bevor er oumlffentlich hingerichtet werden wird Er bereitet sie auf seine Passion und seine Auferstehung vor die den Weg zu Gott bahnen werden

bull Auf die Fuszligwaschung folgt zuerst eine Trias unmittelbarer Konsequenzen o Judas wird als Verraumlter identifiziert und verlaumlsst den Juumlngerkreis (Joh

1321-30) o Die Juumlnger werden zur wechselseitigen Liebe gemahnt (Joh 1331-35) o Petrus wird seine Verleugnung vorhergesagt (Joh 1336ff)

bull Auf die Fuszligwaschung folgen ausfuumlhrliche Abschiedsworte (Joh 14-16) die in ein Abschiedsgebet muumlnden (Joh 17)

c Joh 131-20 ist uumlbersichtlich aufgebaut

Joh 131 Der Hintergrund Joh 132-5 Die Fuszligwaschung beim Mahl 132 Die Situation 133ff Die Handlung Jesu Joh 136-11 Das Gespraumlch mit Petrus 136 Der erste Einwand des Petrus 137 Die erste Antwort Jesu 138a Der zweite Einwand des Petrus 138b Die zweite Antwort Jesu 139 Der dritte Einwand des Petrus 1310 Die dritte Antwort Jesu 1311 Kommentar des Evangelisten Joh 1312-20 Die Deutung vor allen Juumlngern 1312-17 Die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu 1318f Die Ansage eines Verrates 1320 Die Juumlnger als Apostel

21 Vgl Luise Abramowski Die Geschichte von der Fuszligwaschung in Zeitschrift fuumlr Theologie und Kirche 102 (2005) 176-203

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d Die Exegese diskutiert in welchem Verhaumlltnis die beiden Deutungen zu einander stehen Die erste ist soteriologisch die zweite ethisch ausgerichtet

bull Recht oft wird aus der Doppelung auf ein literarisches Wachstum des Textes geschlossen

o Moumlglichkeit 1 Die soteriologische Deutung ist die aumlltere die paraumlnetische die se-kundaumlre22

o Moumlglichkeit 2 Die ethische Deutung ist urspruumlnglich die soteriologisch nachtraumlglich zwischengeschoben

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Beide Ansaumltze sind von weitereichenden Voraussetzung zur relativen Chrono-logie des Corpus Johanneum gepraumlgt

o Wer den Ersten Johannesbrief fuumlr aumllter erachtet wird die ethische Deutung fuumlr urspruumlnglich halten

o Wer das Evangelium fuumlr aumllter erachtet wird eher die soteriologische Deutung als originaumlr einschaumltzen

Die ethische Deutung wird dann fuumlr sekundaumlr zu erachten wenn man zu dem Urteil gelangt die johanneische Theologie sei urspruumlnglich wenig konkret und eher spirituell ausgerichtet waumlhrend erst sekundaumlr Johannes gesamtkirchlich eingenordet worden sei Beide Ansaumltze gehen von einem literarischen Schichtenmodell aus das der Ei-genart johanneischer Literatur in den Evangelienerzaumlhlungen nicht angemes-sen ist Beide werden durch das Modell einer bdquorelectureldquo gemildert das ndash aumlhnlich wie in der Prophetenexegese des Alten Testaments ndash mit einer Fortschreibung der Texte rechnet aber sie zugleich als vergegenwaumlrtigende Aneignung des vor-gegebenen Textes versteht24

bull Es mehren sich wieder die Stimmen die Joh 13 als literarisch einheitlich anse-hen

Allerdings stoumlszligt dieses Modell auf die Schwie-rigkeit dass das Liebesgebot das die ethische Deutung vorbereitet in Joh 1331-35 dominant ist und nicht nur in Joh 15-16 ausgefuumlhrt sondern auch in Joh 1421 angebahnt wird

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Die Doppelung erklaumlrt sich aus der Theologie der Liebe Sie hat eine Innenseite die Liebe Jesu zu sein Seinen in der sich nach Joh 1421 die Liebe das Vaters zum Sohn ereignet und sie hat eine Auszligenseite die sich nach Joh 1331-35 und Joh 15 in der Bruderliebe der Juumlnger erweist von der die Welt angezogen werden wird (Joh 17)

Allerdings braucht es eine Erklaumlrung fuumlr die Deutung Eine moumlgliche Er-klaumlrung waumlre der Adressatenwechsel aber die Petrusszene spielt sich vor den Augen und Ohren aller ab

22 So Rudolf Schnackenburg Joh III passim 23 So Udo Schnelle Joh 237 Er will eine Ursprungsform (132a4512ab162017) die recht nahe bei Lk 22 und der Mahnung der Juumlnger zum Dienen steht zuerst in der johanneischen Schule (der er den Ersten Johannesbrief mit seiner Theologie der Liebe zurechnet) um die Vorbildethik erweitert sehen (1312c13-15) bevor der Evangelist selbst von der Einleitung an (131) konsequent seine soteriologische Deutung ins Fundament der Geschichte eingebaut habe (136-10ab) 24 So Jean Zumstein Joh 25 So Hartwig Thyen Joh

Thomas Soumlding

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711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus a Die Liebe Jesu zu den Seinen (Joh 131) verwirklicht die Liebe Gottes zur Welt (Joh 316) die von der Liebe des Vaters zum Sohn getragen wird (Joh 335 1017) Es ist die nach der Zwischennotiz von Jesu Freundschaft mit Martha Maria und Lazarus (Joh 115) erste Betonung der Agape Jesu von der spaumlter das Liebesgebot Joh 1334 und die Verheiszligung dauernden Beistandes der Juumlnger gedeckt ist (Joh 1421-31)

b In der Liebe Jesu zu den Seinen verbindet sich die Liebe Gottes zur Welt mit der Liebe Jesu zu seinen Freunden (Joh 15) Es ist eine unbedingte Bejahung und Wert-schaumltzung die auf Sympathie beruht und lebendig macht

c Die Liebe erweist Jesus den bdquoSeinenldquo bull Im Ruumlckraum steht Joh 19-13 dass die bdquoSeinenldquo den Logos abgelehnt haben

ndash bis auf diejenigen die an seinen Namen glauben und deshalb das Recht der Gotteskindschaft erhalten

bull Die bdquoSeinenldquo sind die Juumlnger die sich von Jesus in die Nachfolge haben rufen lassen (Joh 135-51) und in der galilaumlischen Krise Jesus nicht verlassen haben (Joh 660-71) Sie haben ihrerseits schwere Glaubensprobleme ndash aber werden sie durch Jesus uumlberwinden

bull In Joh 14 und Joh 17 wird erklaumlrt werden dass die Liebe Jesu zu den Seinen ndash wie die zum Lieblingsjuumlnger ndash nicht exklusiv sondern positiv zu verstehen ist

Dass Jesus den Seinen die Liebe bdquobis zum Endeldquo erweist verweist auf den Tod Jesu Das griechische Wort ist mehrdeutig teloj kann bdquoEndeldquo aber auch bdquoZielldquo bedeuten Beide Bedeutungen schwingen mit

bull Der Tod Jesu ist das definitive Ende seiner geschichtlichen Sendung das zu akzeptieren wird den Juumlngern ungeheuer schwer fallen

bull Der Tod Jesu ist das Ziel seines Wirkens insofern es seine Liebe und Hingabe definitiv werden laumlsst

Der Korrespondenzsatz ist das Todeswort Jesu Joh 1930 bull Es ist ein Gebet wie nach allen Synoptikern (Mk 1534 par Mt 2746 bdquoGott

mein Gott warum hast du mich verlassenldquo ndash Ps 222 Lk 2346 bdquoVater in deine Haumlnde gebe ich meinen Geistldquo ndash Ps 316) aber als letztes Offenba-rungswort an die Welt

bull Die traditionelle Uumlbersetzung lautet bdquoEs ist vollbrachtldquo Man kann aber auch sagen bdquovollendetldquo (Muumlnchner Neues Testament Bible de Jerusaleme bdquoCest acheveacuteldquo) oder bdquozu Endeldquo (King James Bible bdquoIt is finishedldquo)

Eine moumlgliche auf Joh 131 abgestimmte Uumlbersetzung waumlre (wie im Muumlnchener Neu-en Testament) bdquoEs ist vollendetldquo (tetelestai)

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712 Die Fuszligwaschung a Jemandem vor dem Mahl die Fuumlszlige zu waschen ist ein Dienst den traditioneller-weise Sklaven ihren Herren erweisen (vgl 1Sam 2541)26

Joh 1313f zeigt dass die sozialen Dimensionen der Fuszligwaschung klar vor Augen stehen der Gesamttext dass der Ritus sakramental gefuumlllt wird

Das Waschen der Fuumlszlige ist ein Ritus der Vorbereitung der eine koumlrperliche Wohltat mit einer Geste der Houmlflich-keit verbindet die Anerkennung und Ehrerbietung meint (Gen 184 vgl Lk 744) und zudem mit einer rituellen Bedeutung versieht die einen Uumlbergang gestaltet von drauszligen nach drinnen vom Alltag zum Fest vom Profanen zum Heiligen

7121 Die soteriologische Deutung a Im Gespraumlch mit Petrus wird die Bedeutung der Fuszligwaschung soteriologisch gedeu-tet Sie ist eine bdquoReinigungldquo ndash nicht wie in der Taufe sondern wie in der Buszlige Petrus braucht keine Wiederholung der Wiedergeburt die er als glaumlubig gewordener Taumluferjuumlnger erlebt hat aber er bedarf mehr als andere der Vergebung weil er ndash ent-gegen seinem Vorsatz ndash Jesus verleugnet Waumlhrend er sagt fuumlr Jesus sterben zu wol-len muss gerade fuumlr ihn Jesus sterben

b Petrus erkennt nach Joh 136 das Unmoumlgliche der Situation dass der Herr ihm ei-nen Sklavendienst leistet Er wehrt diesen Dienst doppelt ab (Joh 1368a) ndash so wie er nach Joh 1336ff nicht will dass Jesus fuumlr ihn sein Leben einsetzt In diesem Nein kommt eine Liebe zu Jesus zum Ausdruck die bestimmen will Gleichzeitig aber ist das Nein auch Ausdruck des Missverstaumlndnisses dass Petrus der Diakonie Jesu womoumlglich gar nicht bedarf Petrus verschaumlrft seinen Widerspruch der aus Unverstaumlndnis stammt indem er dann ganz gewaschen werden will (Joh 139) ndash womit er aber seine Berufung leugnet

c Jesus deckt das Missverstaumlndnis des Petrus auf Die Fuszligwaschung steht nicht am Anfang sondern an einer Biegung des Weges mit Jesus Die Weg-Gemeinschaft ist darin begruumlndet dass Jesus sich in seinen Dienst stellt Dem muss entsprechen dass Petrus sich den Dienst gefallen laumlsst Er muss Jesus so nahe wie in der Fuszligwaschung an sich heranlassen Er muss den Rollentausch akzeptieren Die Langversion von Vers 10 die durch den Codex Vaticanus gedeckt und als lectio difficilior gesichert ist entspricht dem Kontext

bull Im Bild Auch nach dem Vollbad macht man sich wieder die Fuumlszlige schmutzig Man laumlsst sie sich waschen damit auch sie sauber sind man laumlsst nur sie waschen weil der sonstige Koumlrper gereinigt ist

bull In der Sache Wer durch das Bad der Wiedergeburt die Taufe bdquoganz reinldquo geworden ist muss diese Reinheit aber durch seine Schuld verloren hat muss sich die Fuumlszlige waschen lassen um durch Jesus zu Gott zu gelangen Dem entspricht am ehesten eine Deutung auf die Buszlige wie sie orthodoxen Vaumlter favorisieren

26 Hellenistische Parallelen Neuer Wettstein I2 636-644

Thomas Soumlding

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7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
    • Kontakt
      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
        • Markusevangelium
        • Lukasevangelium
        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 6: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

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- Freundschaft mit Jesus Ein neutestamentliches Motiv in Communio 36 (2007) 220-231

Tacelli Ronald bdquoWir sollen einander liebenldquo (vgl 1 Joh 47) Vom Problem der Naumlchstenlie-beldquo in EuA 783 (2002) 236 - 237

Weder Hans Das neue Gebot Eine Uumlberlegung zum Liebesgebot in Johannes 13 in Andreas Dettwiler ndash Uta Poplutz (Hg) Studien zu Matthaumlus und Johannes FS Jean Zumstein Zuuml-rich 2009 187-205

Corpus Paulinum Boers Hendrikus W Ἀγάπη and Χάρις in Pauls Thought in CBQ 5 (1997 693-713

Giesen Heinz Naumlchstenliebe und Heilsvollendung Zu Roumlm 138-14 in SNTUA 33 (2008) 67-97

Heininger Bernhard Die Inkulturation der Naumlchstenliebe Zur Semantik der bdquoBruderliebeldquo im 1 Thessalonicherbrief in ders Die Inkulturation des Christentums Aufsaumltze und Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt Tuumlbingen 2010 65-88

Kertelge Karl Freiheitsbotschaft und Liebesgebot im Galaterbrief In Ibid Grundthemen paulinischer Theologie Freiburg 1991 197-208

Soumlding Thomas Die Trias Glaube Hoffnung Liebe bei Paulus Eine exegetische Studie Stutt-gart 1992

- Das Liebesgebot bei Paulus Die Mahnung zur Agape im Rahmen der paulinischen Ethik Muumlnster 1995

- Glaube der durch Liebe wirkt Rechtfertigung und Ethik im Galaterbrief in Bernd Koll-mann - Michael Bachmann (Hg) Umstrittener Galaterbrief Studien zur Situierung der Theologie des Paulusschreibens (BThSt 106) Neukirchen-Vluyn 2010 165-206

Wischmeyer Oda Das Gebot der Naumlchstenliebe bei Paulus Eine traditionsgeschichtliche Un-tersuchung in dies Von Ben Sira zu Paulus Gesammelte Aufsaumltze zu Texten Theologie und Hermeneutik des Fruumlhjudentums und des Neuen Testaments Tuumlbingen 2004 137-161

Jakobusbrief Theiszligen Gerd Naumlchstenliebe und Egalitaumlt Jak 21-13 als Houmlhepunkt urchristlicher Ethik in

Petra von Gemuumlnden ndash Matthias Konradt ndash Gerd Theissen Der Jakobusbrief Beitraumlge zur Rehabilitierung der bdquostrohernen Epistelldquo Muumlnster 2003 120-142

Thomas Soumlding

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1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch

a Das Liebesgebot ist zweifellos fuumlr die Ethik Jesu wie des Urchristentums zentral Es weist nicht nur den Weg Jesu selbst und seiner Nachfolger sondern wird auch zum Gegenstand theologischen Nachdenkens Sowohl in der synoptischen und johannei-schen Tradition wie auch bei Paulus und im Jakobusbrief wird der zentrale Stellenwert des Liebesgebotes markiert und argumentativ entfaltet Das spricht fuumlr eine bewuss-te programmatische Positionierung Gerade sie wirft aber exegetische Fragen auf

bull Welches Verhaumlltnis besteht zum Alten Testament und zum Judentum Die Antwort ist nicht offenkundig weil einerseits das bdquoGesetzldquo zitiert (Lev 1918) andererseits aber sein genaues Verstaumlndnis und Gewicht immer wie-der kontrovers diskutiert wird

bull Welches Verhaumlltnis besteht zu den Standards profaner Ethik in der Antike Auch diese Frage hat Gewicht weil gerade das Liebesgebot einerseits gegen alles Sektiererische aufgestellt andererseits aber so profiliert wird dass es zum Kennzeichen der Jesusbewegung und der fruumlhen Kirche wird

bull Worauf richtet sich die Naumlchstenliebe Im Neuen Testament wird nur an einer einzigen Stelle ndashund zwar vom kriti-schen Gesetzlehrer nach Lk 1029 ndash gefragt wer der bdquoNaumlchsteldquo ist den es zu lieben gilt Im uumlbrigen reicht das Spektrum von der Feindes- bis zur Bruderlie-be

bull Was ist eine bdquoLiebeldquo die geboten werden kann Das Alte und das Neue Testament stimmen darin uumlberein dass es ein Liebes-gebot gibt Das laumlsst nach dem Verstaumlndnis der Liebe fragen

o Das Leitwort heiszligt Agape Das Wort im Profangriechischen blass ge-winnt durch die Septuaginta Farbe

o Es meint im Kern die Liebe Gottes zu seinem Volk die auf die Gottes- und die Naumlchstenliebe der Israeliten ausstrahlt Die Liebe Gottes ist kreativ Indem Gott Israel erwaumlhlt ruft er es ins Leben Die Liebe Got-tes ist unverbruumlchlich Auch wenn das Volk untreu ist bleibt Gott treu Die Liebe Gottes ist leidenschaftlich So wie er sein Herz an die Menschen in Israel haumlngt will er sie auch fuumlr sich und fuumlr ihr eigenes Heil gewinnen

o Auf diese Liebe Gottes antwortet die Liebe zu Gott die sich im Be-kenntnis zum einen Gott ausspricht (Dtn 64f) und im uumlberzeugten Gehorsam gegen sein Gebot bewahrheitet Der Liebe zu Gott ent-spricht die Naumlchstenliebe (Lev 1917f) weil man Gott nicht lieben kann ohne auch die zu lieben die er liebt

Auch wenn es einleuchten kann dass eine Liebe geboten werden kann bleiben die Frage wer diese Liebe gebieten kann und wie das Gebot sich erfuumlllen laumlsst Diese Fragen treiben schon Jesus und das Urchristentum um

Die exegetischen Fragen verlangen exegetische Antworten die den Texten ihr Recht geben und die noumltigen Unterschiede herausarbeiten aber auch Gemeinsamkeiten erkennen lassen Auf diese Weise kann ein differenzierter Eindruck der Liebes-Ethik im Neuen Testament und der ganzen Bibel entstehen

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b Die katechetischen und didaktischen Fragen stellen sich auch im Verstaumlndnis bibli-scher Texte die aus der Vergangenheit reden aber darin auf die geschichtlichen Ur-spruumlnge des Glaubens wie der Kirche weisen und den Kanon heiszligt die Richtschnur christlicher Lehre und glaumlubigen Lebens spannen Entscheidend ist die Vergegenwaumlr-tigung

bull Wer ist zur Naumlchstenliebe gerufen Die Konkretion ist wesentlich weil das bdquowie dich selbstldquo zum Liebesgebot ge-houmlrt und damit das bdquoIchldquo des Menschen der das Gebot houmlrt in Rede steht Deshalb geraten die jeweils gegenwaumlrtigen Adressaten zentral in den Blick ihr Ich-Bild ihr Gottes-Bild und ihr Du-Bild Diese anthropologische Konkretisie-rung spiegelt auf die Exegese zuruumlck

bull Wie laumlsst sich die Naumlchstenliebe leben Die exegetischen Klaumlrungen zum Begriff des Naumlchsten (des Freundes des Feindes der Schwester und des Bruders) wie der Agape spitzen die Frage zu auf welchen Feldern und in welchen Formen die Naumlchstenliebe heute und jetzt gefragt ist Das Liebesgebot ist grundsaumltzlich Also ist es auf kreative Konkretisierungen hin angelegt Die katechetische und didaktische Vermitt-lung ist mithin aktive Exegese ndash und laumlsst auch im Ruumlckblick nach Konkretionen fragen Die Forderung der Naumlchstenliebe nimmt das Problem von Handlungskonkur-renzen und Entscheidungsnotwendigkeiten ernst und fordert zu klaren Optio-nen auf ndashdie jeweils heute getroffen werden muumlssen

bull Wer fordert die Naumlchstenliebe Ist Naumlchstenliebe selbstverstaumlndlich und deshalb ein Gebot Gottes Oder ist sie ein Gebot Gottes weil sie menschlich aber nicht selbstverstaumlndlich ist Die Exegese identifiziert (auf der Basis des kanonischen Textes) Moses und Je-sus als Gesetzgeber im Namen Gottes Die Autoritaumltsfrage stellt sich heute dramatisch neu weil die Bibel vermittelte Autoritaumlt ist und der menschliche Faktor bei ihrer Entstehung Uumlbermittlung und Erklaumlrung essentiell Die Exe-gese klaumlrt dies auf und wehrt dadurch jedem Fundamentalismus wird aber auch durch die Vergegenwaumlrtigungen zu kritischer Differenzierung angeleitet

Literatur zur Vertiefung CS Lewis The four loves London 1960 Deutsch Was man Liebe nennt Zuneigung Freund-

schaft Eros Agape Gieszligen 72004

Thomas Soumlding

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2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)

a Das Gebot der Naumlchstenliebe steht im Kern des Heiligkeitsgesetzes (Lev 17-26) Lev 19 Dieses Gesetz das zu den aumlltesten Textcorpora der Tora gehoumlrt ist von der imitatio Dei gepraumlgt (Lev 191) Gottes Heiligkeit an der Israel sich ausrichten soll ist der Glanz seiner Praumlsenz die Aura seiner Potenz das Strahlen seiner Transzendenz Israels Heiligkeit ist seine Zuwendung zu Gott und seinem Gesetz seine Abwendung von den Goumltzen und dem Unrecht Gottes Heiligkeit fuumlhrt nicht zu religioumlsen Berser-kern die im Namen des Einen alles andere vernichten sondern zu Menschen die lieben koumlnnen

b Das Heiligkeitsgesetz1

Das Liebesgebot ragt aus den ethischen Weisungen heraus Es bildet den kroumlnenden Abschluss einer Reihe sozial engagierter Gebote (Lev 1911-18) die allesamt negativ formuliert sind waumlhrend das Liebesgebot positiv formuliert wird In Lev 1934 findet es ein Echo mit der Ausweitung auf die Fremden als Schlusspointe des Heiligkeitsethos

umfasst einen bunten Strauszlig kultischer und sozialer Gebote Ihr innerer Zusammenhang wird dadurch gestiftet dass Heiligkeit sowohl das Gottes-verhaumlltnis als auch das Verhaumlltnis zum Naumlchsten praumlgt

c Durch die Forderung den Naumlchsten zu lieben geschieht die notwendige Konzentra-tion Der bdquoNaumlchsteldquo dem die Liebe gelten soll ist nicht einfach wer einem mehr oder weniger zufaumlllig begegnet2 sondern nach dem genauen Wortlaut der bdquoBruderldquo der bdquoStammesgenosseldquo das bdquoKindldquo des eigenen Volkes (Lev 1917f)3

Die Beispiele zeigen aber auch dass die Naumlchstenliebe von Anfang an faktisch Fein-desliebe ist Denn durchweg geht es um erlittenes Unrecht begangene Fehler ge-schehene Suumlnden Das Liebesgebot bahnt einen Ausweg aus der verfahrenen Situati-on Es nimmt den moralisch in die Pflicht dem Unrecht widerfahren ist Das Opfer soll aktiv werden um einen neuen Anfang zu setzen ndash nicht um die Taumlter zu entlasten sondern um ihnen zu helfen aus ihrer Schuld herauszukommen Dem entspricht ein offensives Verstaumlndnis von Heiligkeit Sie strahlt aus und zieht an

Das entspricht dem Kontext des Heiligkeitsgesetzes das von der Erwaumlhlung und Verpflichtung Israels handelt Es ist die Gemeinschaft des von Gott geliebten Volkes die durch Naumlchsten-liebe lebendig werden soll Wuumlrden die Grenzen verschwinden staumlnde die Naumlchsten-liebe in der Gefahr sich in unverbindliche Fernstenliebe aufzuloumlsen und den Kontakt zu Gott zu verlieren der sich seines Volkes erbarmt Durch die Konzentration auf die Naumlchsten des Gottesvolkes gewinnt die Zugehoumlrigkeit zu Israel Kontur die Heiligkeit wird konkret Die in Lev 1917f beschriebenen Beispiele setzen durchweg Nahbezie-hungen voraus

1 Vgl (klassisch historisch-kritisch) Klaus Gruumlnwaldt Das Heiligkeitsgesetz Levitkus 17-26 Ge-stalt Tradition und Theologie (BZAW 271) Berlin 1999 2 So jedoch Martin Buber Zwei Glaubensweisen (1950) in ders Werke I Muumlnchen - Heidel-berg 1962 651-782 701f bdquoSei liebreich zugewandt den Menschen mit denen du je und je auf den Wegen deines Lebens zu schaffen bekommst 3 Vgl Hans-Peter Mathys Liebe deinen Naumlchsten wie dich selbst

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d Die Konzentration der Naumlchstenliebe begruumlndet keine Doppelmoral sie ist positiv nicht exklusiv verstanden Das zeigt die Ausweitung auf die bdquoFremdenldquo mit derselben Maszligeinheit bdquowie dich selbstldquo Die Begruumlndung bdquodenn ihr seid selbst Fremde in Aumlgyp-ten gewesenldquo (Lev 1933f) erhellt eine uumlberraschende weil verdraumlngte Naumlhe Israel kann und soll das Leben der bdquoFremdenldquo nachfuumlhlen und sich ihnen in gleicher Weise wie den Mitgliedern des eigenen Volkes ndash bdquowie dich selbstldquo ndash zuwenden Die bdquoFremdenldquo sind in der Rechtssprache der Tora Nicht-Juden die dauerhaft im Hei-ligen Land leben Sie sind Buumlrger zweiter Klasse in Israel ndash wie einst Israel in Aumlgypten Desto wichtiger ist das Liebesgebot Die Septuaginta (LXX) uumlbersetzt mit bdquoProselytldquo um die Situation der Diaspora zu beruumlcksichtigen und den zuweilen prekaumlren Status der Konvertiten zum Judentum zu verbessern Im woumlrtlichen Sinn sind die bdquoProsely-tenldquo diejenigen die von auszligen hinzukommen insofern waren fuumlr die griechischen Uumlbersetzer die Israeliten in Aumlgypten bdquoProselytenldquo Wer nur auf der Durchreise ist ist keineswegs rechtlos er genieszligt Gastrecht und Gastfreundschaft4

Die Direktheit und Nachhaltigkeit des Liebesgebotes wird durch die Ausweitung un-terstrichen

deren Heiligkeit aumllter ist als das geschriebene Gesetz

e Das Liebesgebot wird zwar an anderen Stellen des Alten Testament (lange) nicht zitiert gehoumlrt aber in ein Feld aumlhnlicher ethischer Weisungen Es ist beeinflusst und es hat beeinflusst5

f Eine solche Liebe ist nicht storgeacute weil das Volk Gottes die natuumlrlichen Familienban-de uumlberschreitet wiewohl Israel oft genealogisch verstanden wird Sie ist nicht Freundschaft weil die Beziehung die sie kultiviert nicht freiwillig gewaumlhlt und gestal-tet sondern von Gott vorgegeben ist Diese Liebe kann nicht im Eros aufgehen weil sie weniger das Hingerissensein von anderen als die Weggemeinschaft mit ihnen kul-tiviert sie ist Agape weil sie von Gott kommt auch wenn im Kontext nicht expressis verbis von Gottes Liebe die Rede ist Unleugbar aber ist es Liebe zu vergeben und Rachegeluumlsten nicht nachzugeben sondern am Aufbau einer Friedensbeziehung zu arbeiten Nicht das Begehren sondern die Sympathie ist der Motor der Agape Aber sie begehrt verstanden und angenommen zu werden Getragen ist sie von der heili-gen Liebe Gottes ndash und zwar nicht nur weil allein Gott die Kraft geben kann den ers-ten Schritt der Versoumlhnung zu tun sondern weil Gott diejenigen die auf sein Wort houmlren sollen erst zu Houmlrern des Wortes macht und sie in sein Volk hineinstellt das er sich erwaumlhlt hat

Ex 244f ist ein gutes Beispiel fuumlr angewandte Feindes- Dtn 221-4fuumlr aktive Bruderliebe

4 Vgl Helga Rusche Gastfreundschaft im Alten Testament im Spaumltjudentum und in den Evan-gelien in ZMRW 41 (1957) 170-188 5 Vgl Gianni Barbiero ElAsino dell Nemico Rinuncia alla vendetta e amore dell nemico nella legislatione dellAntico Testamento (Es 234-5 Dt 221-4 Lv 1917-18) (AnBib 128) Rom 1991

Thomas Soumlding

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3 Das Liebesgebot im Judentum

a In den alttestamentlichen Spaumltschriften steigt die Bedeutung des Liebesgebotes bull Die Semantik der Septuaginta (mit der Agape als Zentrum) staumlrkt den theolo-

gischen Grundzug durch die explizit gewordene Verbindung mit der Liebe Gottes und der Liebe zu Gott

bull Nach Tob 413 soll die Naumlchstenliebe als Bruderliebe die juumldische Kommunitaumlt in der Diaspora aber auch im Heiligen Land staumlrken deshalb ist das Liebesge-bot mit der Warnung vor einer Mischehe verbunden

bull Nach Jesus Sirach6

o als Liebe zum Sklaven der aufgrund seiner Treue und Bildung als Partner anerkannt werden soll (Sir 721)

wird das Gebot der Naumlchstenliebe in verschiedenen sozia-len Kontexten konkretisiert

o als Konstituierung einer ethischen Maxime die auf die Goldene Regel zulaumluft (Sir 3115)

o als Schaumlrfung des Gewissens fuumlr den caritativen Einsatz fuumlr Arme (Sir 3423-27)

Die Konkretisierungen passen in das Schema weisheitlicher Ethik das im Neu-en Testament auch der Jakobusbrief ausfuumlllt

Die Steigerung der Bedeutung erklaumlrt sich aus zwei Gruumlnden bull einer Personalisierung der Ethik bull und einer Vermittlung juumldischer Ethik die auf Elementarisierung setzt

Die Bedeutungssteigerung erhoumlht die Attraktivitaumlt der juumldischen Ethik in der antiken Welt

6 Vgl Th Soumlding Naumlchstenliebe bei Jesus Sirach

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b Aus der Septuaginta erklaumlrt sich die hohe Aufmerksamkeit fuumlr das Liebesgebot im hellenistischen Judentum Die Testamente der Zwoumllf Patriarchen7 reden haumlufig im ethischen Sinn von Liebe8 nahezu durchweg in der Form direkter oder indirekter Aufforderungen Die TestXII sind eine griechisch uumlberlieferte im 2 Jh von christlicher Hand redigierte aber dem wesentlichen Textbestand nach urspruumlnglich juumldische Schrift deren Wurzeln bis in das 2 Jh v Chr reichen koumlnnen Die Testamente nehmen Gen 49 auf und lassen die 12 Soumlhne Jakobs ihrerseits Abschiedsreden halten9

Lev 1918 wird zwar nicht explizit zitiert aber an vielen Stellen angespielt und durch-weg aktualisiert

Sie arbeiten das Problem der Diaspo-ra auf die als Zerstreuung gesehen und als Strafe Gottes gedeutet wird In dieser Si-tuation kommt es auf den inneren Zusammenhalt der Juden an der nach den Patriarchentestamenten nicht nur rituell sondern auch ethisch begruumlndet werden soll

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7 Aumlltere Standardausgabe RH Charles The Greek Versions of the Testaments of the Twelve Patriarchs Oxford 1908 Nachdruck Darmstadt 1960 Neuere Edition Mde Jonge - HW Hollander - Hde Jonge - Th Korteweg The Testaments of the Twelve Patriarchs A Critical Edition of the Greek Text (PVTG I2) Leiden 1978 Die aramaumlische Version des TestLevi enthaumllt kein Liebesgebot Deutsche Uumlbersetzung J Becker Die Testamente der zwoumllf Patriarchen in JSHRZ III1 (21980)

Es zeigen sich Rezeptionslinien die im Bedeutungsfeld von Lev 1917f bleiben (vgl TestGad 43-8) die Explikation der Heiligkeit daumlmpfen aber den Bezug auf die Nachbarschaften im Gottesvolk Israel nicht aufgeben sondern unter den Bedingungen der Diaspora konkretisieren Nur in TestIss 76 (bdquohellip jeden Menschen hellipldquo) ist eine universalistische Deutung moumlglich

8 Vgl TestRub 69 Sim 447 Iss 52 76 Seb 85 Dan 53 Gad 42(6)7 613 77 Jos 1723 Benj 33ff 435 81 vgl auch Ass 24 Gad 33 (uumlber den Hasser) 46 Jos 175 Benj 82 (uumlber das Verhaumlltnis des Mannes zur Frau) Gad 15 (uumlber Jakobs Vaterliebe zu Joseph) 9 Vgl Th Soumlding Solidaritaumlt in der Diaspora M Konradt Menschen- und Bruderliebe 10 Ganz deutlich ist Gad 42 Dan 51 bezieht sich direkt auf das Gebot und Gesetz (vgl Iss 51) des Herrn und hat dabei augenscheinlich auch Lev 1918 vor Augen Fuumlr den Einfluss des Lie-besgebots sprechen uumlberdies die Formulierungen von Benj 334 Rub 69b bezieht die Liebe zwar direkt auf den Bruder hat aber im parallelen Teilvers 6a den Naumlchsten aumlhnlich liegt der Fall in Dan 52a3b und Gad 61

Thomas Soumlding

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c Auch Schriften die tiefer in Palaumlstina wurzeln nehmen das Liebesgebot auf Das Buch der Jubilaumlen11

11 Die Originalsprache ist hebraumlisch zu den einschlaumlgigen Qumran-Fragmenten vgl JC VanderKam Textual and Historical Studies in the Book of Jubilees (HSM 14) Missoula 1977 Die davon abhaumlngige griechische Uumlbersetzung ist bruchstuumlckhaft erhalten vgl A-M Denis Fragmenta Pseudepigraphorum quae supersunt Graeca una cum Historicorum et auctorum Iudaeorum Hellenistarum Fragmentis collegit et ordinavit (PVTG 3) Leiden 1970 70-102 Die auf der griechischen Uumlbersetzung fuszligende aumlthiopische Fassung die in den gemeinsam uumlberlie-ferten Partien der Qumran-Version sehr genau entspricht hat ediert RH Charles Mashafa Kufacirclecirc or the Ethiopic Version of the Hebrew Book of Jubilees (Anecdota Oxoniensia) Oxford 1895 Deutsche Uumlbersetzung Klaus Berger Das Buch der Jubilaumlen in JSHRZ II3 (1981)

im 2 Jh vor Chr geschrieben protestiert gegen die Korrup-tion des Makkabaumlerstaates es tritt mit dem Anspruch auf Mose auf dem Sinai offen-bart worden zu sein (Jub 11-29) es will einem Israel das einer schleichenden Hellenisierung verfaumlllt neue Identitaumlt verleihen indem es den Blick auf die normative Anfangszeit die Zeit der Vaumlter und des Mose lenkt und von ihr her eine authentische Halacha entwickelt die es erst ermoumlglicht gerecht zu leben (Jub 2326-31) Zum his-torischen Paradigma wird der Bruderstreit zwischen Jakob und Esau (Jub 3420 - 392a) Das Liebesgebot ndash Lev 1918 wird nicht direkt aber indirekt zitiert ndash hat eine qualitativ groszlige Bedeutung weil es uumlber die Klaumlrung halachischer Fragen hinaus den Geist wie die Praxis des Zusammenhaltes schaumlrft allerdings nicht allein oder als Krouml-nung sondern im konstitutiven Verbund mit anderen ethischen Prinzipien wie Ge-rechtigkeit Die Verzeihung die Joseph den Bruumldern gewaumlhrt macht ihn zum ethi-schen Vorbild dem es nachzueifern gilt Die Pflicht zur Liebe endet aber dort wo es sich nicht mehr nur um persoumlnliche Gegnerschaft sondern um Konflikte mit Frevlern handelt die dem Gebot Gottes grundlegend zuwiderhandeln Eine universalistische Ausweitung der Bruderliebe fasst Jub 202 ins Auge Zwar bezieht sich das Liebesge-bot direkt nur auf die herbeigerufenen Kinder und Enkel Abrahams aber unter ihnen finden sich namentlich genannt auch Ismael mit seinen zwoumllf Kindern und die Kinder der Ketura mit ihren Soumlhnen (Jub 201) Dadurch wird bereits der juumldische Rahmen gesprengt Uumlberdies baut die Formulierung eine Verbindung zwischen Bruderliebe und Menschenliebe auf Im ethischen Nahbereich koumlnnen auch Nicht-Juden Naumlchste werden

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d Die Schriften aus Qumran12 enthalten in zwei Corpora bedeutende Zeugnisse einer Naumlchstenliebe die sich innerjuumldisch aus dem Konflikt mit Frevlern als Gegenstuumlck zum Feindeshass erklaumlrt13

bull Die Gemeinderegel (1QS vgl 1QSa) beschreibt das Zusammenleben einer juuml-dischen Reformbewegung die sich in striktem Gegensatz nicht nur zu den Heiden sondern auch zu den Priestern in Jerusalem als wahres Israel konsti-tuieren abseits vom Tempel Die Forschung diskutiert die Beziehung zu den Esseacutenern uumlber die Philo von Alexandrien (15 v Chr - 40 n Chr ) in seiner Schrift uumlber die Freiheit des Tuumlchtigen (Quod omnis probus liber sit 72-91) der juumldische Historiker Flavius Josephus (3738 - 100 n Chr) in seinen Buuml-chern uumlber den juumldischen Krieg (De bello Judaico 2 119-161) und die Ge-schichte Israels (Antiquitates Judaicae 181118-22) sowie der roumlmische Ge-lehrte Plinius der Aumlltere (23-79 nChr) in seiner Naturgeschichte (Naturalis historia 573) berichten

Fuumlr die Gemeinderegel ist ein religioumlser Dualismus zwischen den bdquoSoumlhnen des Lichtesldquo und den bdquoSoumlhnen der Finsternisldquo wesentlich Er entsteht durch den Frevel derjenigen die das Heilige wahren sollen er wird von Gott sanktio-niert Entscheidend ist in einem aufwendigen Konversionsverfahren den Weg aus der massa damnata in Israel zur Kommunitaumlt der Frommen zu finden um so der Gnade der Rechtfertigung teilhaftig zu werden Die Zugehoumlrigkeit zur Gemeinschaft zeigt sich im Ritus und im Ethos Das Ethos ist durch Naumlchstenliebe strukturiert (1QS 13f9ff 224 5425 82 91621 1026) Sie ist im Kern Zustimmung zu der Erwaumlhlung und Vergebung die dem Mitbruder wie der eigenen Person zuteil geworden ist Deshalb ent-spricht der Naumlchstenliebe der Feindeshass Er ist im Kern Ablehnung und Dis-tanzierung die aber gerade nicht durch Gewalt sondern durch strikte Gewalt-losigkeit strukturiert wird damit das Gesetz des Handelns nicht von den Frev-lern sondern den Gerechten bestimmt wird (1QS 1017f)

bull Die Hymnenrolle (1QH) sammelt Psalmen die den Kampf der Guten gegen die Boumlsen der Gerechten gegen die Ungerechten verherrlichen Die Sprache ist militaumlrisch der Stil metaphorisch Die Spiritualitaumlt passt zur Ekklesiologie und Ethik der Gemeinderegel aber welchen genauen Bezug es gibt ist in der Qumran-Forschung strittig Entscheidend ist Gott fuumlr die eigene Erwaumlhlung zu preisen Das dankbare Gotteslob spiegelt sich in der Abscheu vor dem und den Boumlsen Liebe ist Zu-stimmung zur Liebe Gottes Hass Zustimmung zum Hass Gottes (1QH 142-8)

Die beiden Corpora stammen aus vorchristlicher Zeit Sie dokumentieren die Zerris-senheit des Judentums in Palaumlstina aber auch den Reformeifer derer die ein heiliges Israel erneuen wollen 12 Deutsche Uumlbersetzungen E Lohse Die Texte aus Qumran Hebraumlisch und Deutsch Muumln-chen 21971 K Schubert - J Maier Die Qumran-Essener Texte der Schriftrollen und Lebensbild der Gemeinde (UTB 224) Muumlnchen - Basel 1982 143-312 Zur Tempelrolle vgl die Ausgabe von Y Yadin Megillat ham-Miqdas The Temple Scroll (Hebrew Edition) Bde I-IIIa Jerusalem 1977 deutsche Uumlbersetzung J Maier Die Tempelrolle vom Toten Meer (UTB 829) Muumlnchen - Basel 1977 13 Vgl Th Soumlding Feindeshass und Bruderliebe

Thomas Soumlding

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4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)

a Das Doppelgebot der Naumlchstenliebe uumlberliefert das Neue Testament bei den Synop-tikern in drei Fassungen

bull Markus erzaumlhlt von einem Konsensgespraumlch uumlber das groumlszligte Gebot zwischen Jesus und einem Schriftgelehrten in Jerusalem (Mk 1228-34) die Antwort Je-su eine Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 fuumlhrt zu einer Verstaumlndi-gung

bull Matthaumlus stimmt in der Thematik der Frage der Ortsangabe und der Kombi-nation beider Liebesgebote mit Markus uumlberein (Mt 2234-40) macht aber aus dem Konsens- ein Streitgespraumlch Jesus wird von einem Gesetzeslehrer auf die Probe gestellt und besteht die Herausforderung glaumlnzend indem er das Doppelgebot formuliert

bull Lukas kennt in seiner Version (Lk 1025-37) gleichfalls die Kombination er uumlberliefert wie Matthaumlus einen bdquoGesetzeslehrerldquo ndash nicht wie Markus einen bdquoSchriftgelehrtenldquo ndash als Partner und erzaumlhlt ndash wie Matthaumlus anders als Mar-kus ndash von einem Konfliktgespraumlch Aber bei ihm findet der Dialog auf dem Weg Jesu nach Jerusalem statt (Lk 951 - 1927) die Frage zielt auf das ewige Leben (wie in Mk 1017 par Mt) der Dialog spitzt sich auf die Frage nach dem Naumlchsten zu die Jesus mit dem Samaritergleichnis beantwortet

Die markinische Version ist (nach der Zwei-Quellen-Theorie) die aumllteste Matthaumlus laumlsst sich als Kuumlrzung und Zuspitzung lesen Ob aber Lk 1025-37 sich als Markus-Redaktion erklaumlren laumlsst ist fraglich Womoumlglich hat es ndash durch Q ndash eine Doppeluumlber-lieferung gegeben die eine Kontroverse mit einem Gesetzeslehrer enthalten hat Noch wahrscheinlicher ist dass es von Anfang verschiedene Versionen gegeben hat die von den Evangelisten unterschiedlich rezipiert worden ist In jedem Fall bezeugt die Breite der Uumlberlieferung dass das Liebesgebot fuumlr Jesus typisch gewesen ist

b In allen Versionen des Doppelgebotes gibt es gemeinsame Charakteristika bull die Form des Gespraumlches in der das Doppelgebot entwickelt wird bull den Bezug auf das Gesetz bei Markus (1228) und Matthaumlus (2236) durch die

Jesus gestellte Ausgangsfrage bei Lukas durch die Ruumlckfrage Jesu (1026) bei Matthaumlus durch den Schlusssatz Jesu unterstrichen (2240)

bull die Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 ad vocem Agape bull die Abfolge dass zuerst das Hauptgebot der Gotteslebe (Dtn 64f) dann das

Gebot der Naumlchstenliebe (Lev 1918f) kommt obwohl die kanonische Reihen-folge eine andere ist

Diese Charakteristika sind der Kernbestand der Tradition sie muumlssen zu Eckpfeilern der Interpretation werden

c Die unterschiedlichen Gespraumlchssituationen haben ihre eigene Logik bull Markus will zeigen dass es zu einer fundierten und breiten Verstaumlndigung Je-

su mit den Schriftgelehrten haumltte kommen koumlnnen auf der Basis der Tora bull Matthaumlus will zeigen dass die Hierarchisierung der Gebote strittig war und

geblieben ist bull Lukas will herausarbeiten dass das Doppelgebot Fragen stellt die Jesus be-

antworten kann Die unterschiedlichen Logiken koumlnnen nicht gegeneinander ausgespielt aber jeweils in das Evangelium eingeordnet werden in dem sie sich befinden

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d Alle Versionen bestimmen die Tora als Basis des Dialoges Alle bleiben im Rahmen juumldischer Hermeneutik Schrift legt Schrift aus Alle erweisen sich im religionsge-schichtlichen Vergleich als typisch jesuanisch

bull Einerseits gibt es im Judentum eine lebhafte Debatte aus didaktischen und theologischen Gruumlnden zu einer Hierarchie der Gebote zu gelangen In dieser Debatte ragt das Liebesgebot heraus Es gibt aber immer auch starke Kontro-versen uumlber die Richtigkeit und Guumlltigkeit solcher Elementarisierungen

bull Anderseits steht Jesus nicht gegen die Tora sonder erfuumlllt sie (vgl Mt 517-20) Dese Erfuumlllung hat eine spezifische Qualitaumlt diese Qualitaumlt bezeichnet das Liebesgebot das Jesus selbst praktiziert

Das Doppelgebot bricht nicht aus dem Gesetz aus sondern schlieszligt es auf

e Im fruumlhen Judentum gibt es keine direkte Parallele zum jesuanischen Doppelgebot Aber es gibt eine ganze Reihe von strukturaumlquivalenten Formulierungen sowohl im palaumlstinischen wie auch im hellenistischen Judentum Zum Teil sind sie direkt als Ge-bot einer doppelten Liebe zum Teil mit Varianten vor allem der Gottesfurcht gebil-det Diese Parallelen erhellen den juumldischen Kontext in dem das Doppelgebot steht Auffaumlllig ist in der Jesustradition zweierlei

1 die direkte Schriftzitation 2 der explizite Bezug zur Tora der reflektiert wird

Beides spiegelt die Programmatik der jesuanischen Position

f Die Struktur der Tradition leitet in jeder Variante von der Gottes- zur Naumlchstenliebe und bindet das Liebesgebot zusammen

bull Es gibt keine Gottesliebe ohne Naumlchstenliebe weil Gott den es zu lieben gilt nicht nur die Person liebt die lieben soll sondern auch diejenige die geliebt werden soll Diese Liebe Gottes als Basis ist im Doppelgebot nicht expliziert aber impliziert

o in der Einzigkeit Gottes so wie sie in der Bibel Israels und in der Jesus-tradition als Qualifikation des Schoumlpfers und Erhalters des Versoumlh-ners und Vollender entfaltet wird

o im Wort Agape das eo ipso von der Liebe Gottes gespeist wird Das Doppelgebot ist das beste Gegengift gegen Heuchelei

bull Es gibt keine Naumlchstenliebe ohne Gottesliebe ndash nicht weil es keine Ethik keine Menschlichkeit kein Mitleid und keine Solidaritaumlt ohne Gottesliebe gaumlbe (im Gegenteil) sondern weil die Naumlchstenliebe wie sie alt- und neutestamentlich expliziert wird den Naumlchsten als die von Gott geliebte Person liebt also Ein-stimmung in die Liebe Gottes ist die nur in der Liebe zu Gott explizit beant-wortet werden kann

bull Es gibt einen Primat der Gottes- vor der Naumlchstenliebe ndash nicht weil die Got-tes- wichtiger als die Naumlchstenliebe waumlre sondern weil Gott der Schoumlpfer all derer ist die lieben und geliebt werden sollen und sie alle zur Teilhabe an seiner Liebe fuumlhren will

Die Einheit der Gottes- und Naumlchstenliebe ist keine Identitaumlt sondern eine Spannung die ein hohes Energiefeld aufbaut

g Das Doppelgebot selbst enthaumllt keine Konkretion steht aber in den Evangelien die sich in die Tradition des Alten Testaments stellen und wird dadurch einerseits zum Kompass durch die Tora andererseits zum Katalysator von Aktualisierungen die pa-radigmatisch von Jesus angesprochen werden

Thomas Soumlding

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5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)

a Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter antwortet auf die wichtige Frage bdquoWer ist mein Naumlchsterldquo (Lk 1025-37)

bull Die Frage ist wichtig weil es um die Konkretionen der Liebe geht und Lev 1917f eine klare Antwort gibt Die Naumlchsten sind die Mit-Glieder des Gottes-volkes Hinzu treten die bdquoFremdenldquo (Lev 1934) die dauerhaft in Israel inte-griert sind nach der Septuaginta die Proselyten Die Konzentration auf diese Naumlchsten ist theologisch durch die gemeinsame Berufung des Volkes zur Hei-ligkeit begruumlndet Sie bewaumlhrt sich in Konflikten umfasst also de facto auch Feindesliebe

bull Die Frage wird von Jesus mit einer Geschichte beantwortet die auf provokan-te Weise einen Samariter zu einem Vorbild werden laumlsst Dass Jesus mit ei-nem Gleichnis antwortet setzt auf die argumentative Kraft einer Erzaumlhlung die nicht nur eine Welt vor Augen stellen sondern auch eine Sache klaumlren kann und zwar so dass Anteilnahme entsteht eine Verstrickung in die Ge-schichte durch Dramatik und Identifikation

Die Antwort auf die Frage wird nicht ohne ihre Umkehrung gegeben bdquoWer hellip ist zum Naumlchsten dessen geworden der unter die Raumluber gefallen istldquo (Lk 1036) Damit wird die Ausgangsfrage nicht desavouiert sondern konkretisiert Wer nach dem Naumlchsten fragt fragt auch nach sich selbst Und wer sich selbst von Naumlchsten umgeben weiszlig denen er verpflichtet ist muss selbst zum Naumlchsten derer werden wollen die auf Hilfe angewiesen sind

b Die Geschichte gehoumlrt zum Doppelgebot das bei Lukas (1025ff) wie bei Matthaumlus (2235-40) ein Streitgespraumlch ist waumlhrend es bei Markus ein Konsensgespraumlch ist (Mk 1228-34) Lukas hat es in die Zeit des oumlffentlichen Wirkens Jesu vorgezogen und kompositorisch konkretisiert

bull Mit einem bdquoGesetzeslehrerldquo trifft Jesus auf seinem Weg einen Experte fuumlr die Frage die er stellt

bull Das Doppelgebotsthema wird nicht nur durch das Samaritergleichnis sondern auch durch die Fortsetzung konkretisiert

o Die Beispielgeschichte Lk 1030-35 thematisiert das Tun (Lk 1037) o Die folgende Geschichte von Maria und Martha akzentuiert das Houmlren

(Lk 1038-42) o Die anschlieszligende Gebetslehre konkretisiert jene Gottesliebe die aus

dem Houmlren zum Sprechen fuumlhrt mit dem Vaterunser als Kern Durch die Komposition wird die Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe unter-strichen

Die Szenerie unterstreicht die Brisanz der Frage nach der Geltung des Gesetzes und erhoumlht damit den Stellenwert des Gleichnisses damit aber auch die Praumlgnanz des Samariterbildes Jesu

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c Der gesamte Text hat eine dialogische Struktur 1 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach dem Sinn des Lebens (Lk 1025) 2 Jesus fragt zuruumlck indem er auf das Gesetz verweist (1026) 3 Der Gesetzeslehrer zitiert das Doppelgebot (Lk 1027) 4 Jesus bestaumltigt und fordert zur Praxis (Lk 1028) 5 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach der Identitaumlt des Naumlchsten (Lk 1029) 6 Jesus fragt zuruumlck indem er das Gleichnis erzaumlhlt (Lk 1030-36) 7 Der Gesetzeslehrer gibt die richtige Antwort (Lk 1037a) 8 Jesus fordert zum Handeln (Lk 1037b)

Jesus agiert im sokratischen Stil Er laumlsst den Fragesteller selbst die Antwort finden ndash nicht irgendwo sondern im Gesetz und in seinem Gewissen Das spiegelt fuumlr Lukas die Uumlberlegenheit Jesu und die Menschlichkeit seiner Ethik

d Das Gleichnis arbeitet mit einem scharfen Kontrast bull Auf der einen Seite stehen der Priester und der Levit Repraumlsentanten des Ju-

dentums Sie muumlssten genau wissen was zu tun ist Sie haben wenn sie wie der Verletzte auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho sind auch keinen Grund sich aus kultischen Uumlberlegungen um sich nicht zu verunreinigen an einem vorbeizugehen von dem sie glauben dass er tot sei wenn sie auf dem Weg zuruumlck sind ist fuumlr die ggf erforderliche rituelle Reinigung genuumlgend Zeit

bull Auf der anderen Seite steht der Samariter dem man es am wenigsten zutrau-en wuumlrde dass er tut was recht ist Dessen Rolle wird aber von Jesus stark betont nicht nur durch den Kontrast sondern auch dadurch dass er weit uumlber die Erste Hilfe hinaus mehr als genug tut um dem Verletzten zu helfen Er selbst leistet den sprichwoumlrtlich gewordenen Samariterdienst und treibt ungewoumlhnlich intensive Vorsorge dass der Mann nachhaltig gesundet ndash nach allen Regeln der (damaligen) aumlrztlichen Kunst

Dieser Kontrast war den Menschen sowohl zur Zeit Jesu als auch zur Zeit des Evange-listen Lukas deutlich Lk 952-56 hat ihn frisch in Erinnerung gerufen

e Jesus laumlsst durch die Kunst seiner narrativen Argumentation dem Gesetzeslehrer keine Chance nicht von seiner Antwort uumlberzeugt zu werden die seinen eigenen mo-ralischen Standpunkt veraumlndert Alle Menschen die ein Herz im Leibe haben werden erkennen dass nicht der Priester nicht der Levit sondern ausgerechnet der feindli-che der bdquohaumlretischeldquo Samariter das einzig Richtige getan hat indem er dem unter die Raumluber gefallenen Menschen geholfen hat Das aber ist schon der erste Schritt in die Richtung die Jesus den Menschen zeigt damit sie Gott und den Naumlchsten neu entde-cken koumlnnen Wer aber nicht nur tatkraumlftig wie der Samariter hilft sondern als Jude weiszlig dass er ihn wegen seiner Naumlchstenliebe nachahmen sollte hat eine Grenze uumlberschritten die durch das Nahekommen der Basileia durchlaumlssig geworden ist Der Gesetzeslehrer versperrt sich dieser Lektion nicht Er ist deshalb ein positives Beispiel

Literatur Andregrave Lacoque Lhermeacuteneutique de Jeacutesus au sujet de la loi dans la Parabole du Bon Samari-

tain in Etudes theacuteologiques et religieuses 78 (2003) 25-46

Ruben Zimmermann Die Etho-Poietik des Samaritergleichnisses (Lk 1025-37) Eine Ethik des Schauens in einer Kultur des Wegschauens in Wort und Dienst 29 (2007) 51-69

Thomas Soumlding

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6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)

a Die fuumlnfte und sechste Antithese bilden bei Matthaumlus den Houmlhepunkt der Reihe die sich am Dekalog orientiert in der Feldrede bei Lukas markiert das Gebot der Feindes-liebe den Mittelpunkt der Ethik Die Feindesliebe bezeichnet in groumlszligter Konsequenz den Standpunkt der Moralitaumlt steht aber auch im Brennpunkt der Kritik

bull Ist Gewaltlosigkeit wuumlrdelos verantwortungslos kraftlos So Nietzsche14

bull Ist Feindesliebe unrealistisch So der gesunde Menschenverstand und das Ur-teil professioneller Politik

15 So auch der juumldische Einwand16 den zuletzt Jacob Neusner vorgetragen hat17

Die antithetische Form bei Matthaumlus zeigt das Potential der Kontroverse Es ist nicht das Ziel der Exegese sie aufzuloumlsen sondern sie auszuloumlsen

b Der Blick in die Synopse zeigt im Vergleich mit Lk 627-36 zweierlei bull Die antithetische Form ist ndash hier wie sonst ndash ein matthaumlisches Spezifikum Sie

dient der Profilierung der Ethik Jesu im Gegenuumlber zur Tora ndash unter dem Vor-zeichen der Erfuumlllung (Mt 517-20)

bull Bei Lukas ist Gewaltverzicht direkter Ausdruck der Feindesliebe Matthaumlus dif-ferenziert und kombiniert um zu akzentuieren

Die Synopse fordert bei der lukanischen Uumlberlieferungsform anzusetzen aber die matthaumlische Variante nicht als sekundaumlr abzutun sondern als Reflex jesuanischer Konkretionen in den Blick zu nehmen

c Das Gebot der Feindesliebe tradiert uumlber die Redenquelle (Q) ist Urgestein und Herzstuumlck der Ethik Jesu18

14 Also sprach Zarathustra III 21 (Werke VI1) bdquoIch sollte nur Feinde haben die zu hassen sind aber nicht Feinde zum Verachten ihr muumlsst stolz auf euren Feind sein (260)ldquo

Die Stellung in der matthaumlischen Bergpredigt und der luka-nischen Feldrede zeigt dass im Urchristentum diese zentrale Bedeutung gesehen und tradiert worden ist Paulus reflektiert sie in Roumlm 129-21 Auch im johanneischen Kon-zept der Bruderliebe ist sie vorausgesetzt

15 Max Weber Politik als Beruf (1919) in ders Gesammelte politische Schriften hg v J Winckelmann Tuumlbingen 31971 505-560 bdquoMit der Bergpredigt ist es eine ernstere Sache als die glauben die diese Gebote heute gern zitieren Wenn es in Konsequenz der akosmistischen Liebesethik heiszligt dem Uumlbel nicht widerstehen mit Gewaltlsquo ndash so gilt fuumlr den Politiker der Satz du sollst dem Uumlbel gewaltsam widerstehen sonst ndash bist du fuumlr seine Uumlberhandnahme verantwortlich (550f)ldquo 16 Der Jude Tryphon plaumldiert nach Justin dial 52 bdquoIch weiszlig auch dass eure Lehren die in dem sogenannten Evangelium stehen so erhaben und groszlig sind dass wie ich meine kein Mensch sie beobachten kannldquo 17 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 Neuausgabe Frei-burg - Basel - Wien 2007 (engl 1993) Neusner praumlzisiert Jesus maszlige sich das Recht Gottes an so zu sprechen wie es die Bergpredigt uumlberliefert 18 Th Soumlding Die Verkuumlndigung Jesu 570-583

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d Nach Lk 6 sind alle Houmlrer der Botschaft Jesu zur Feindesliebe gerufen In erster Linie sind es seine Juumlnger als stellvertretende Adressaten der Seligpreisungen und Weherufe (Lk 620-26) Lukas sieht die Kirche als Ort wo primaumlr die Feindesliebe ver-wirklicht sein will gerade auch gegenuumlber Nicht-Christen (und berichtet in der Apos-telgeschichte dass dies in der Urgemeinde auch geschehen sei) Nach Matthaumlus hat Jesus direkt seine Juumlnger angesprochen (Mt 51f) ndash aber so dass alles Volk (vgl 423ff) es houmlren und daruumlber staunen kann (Mt 728f) Die Pointe ist missionstheologisch Wenn die Juumlnger ausziehen alle Voumllker ihrerseits zu Juumlngern zu machen sollen sie nicht nur taufen sondern auch lehren bdquoalles zu haltenldquo was Jesus ihnen bdquogebotenldquo hat (Mt 2818ff)

d Die Feindschaften die Jesu Gebot anspricht sind so paradigmatisch ausgewaumlhlt und scharf zugespitzt dass prinzipiell jede denkbare Feindschaft im Blick stehen muss Es werden die empoumlrendsten Formen paradigmatisch konkretisiert

bull religioumlse Verfolgung (Lk 628 Mt 544) bull koumlrperliche Gewalt selbst wenn sie demuumltigen soll (Lk 628f Mt 539) bull wirtschaftliche Ausbeutung auch wenn sie sich den Anschein des Rechts gibt

(Mt 540) bull politisch-militaumlrische Unterdruumlckung auch wenn sie schier uumlbermaumlchtig

scheint (Mt 541) Jede denkbare Grenze der Feindesliebe wird uumlberschritten der Familie und Ver-wandtschaft des Freundeskreises der Glaubensgenossen der (mehr oder weniger) Guten der Angehoumlrigen des eigenen Volkes (vgl Lk 1025-37)

e Die Feindesliebe zeigt sich in den gleichfalls paradigmatischen Konkretisierungen bull als Fuumlrbitte fuumlr die Verfolger (Lk 628 par Mt 544) und Segnen der

Blasphemiker (Lk 628) ndash im Gegensatz zum Verfluchen und zur Bitte um ihre Vernichtung durch Gottes Strafgericht

bull als aktiver Gewaltverzicht gegenuumlber erlittener Uumlbermacht (Lk 629 Mt 538-42) ndash im Gegensatz dazu Unrecht mit gleicher Muumlnze heimzuzahlen

bull als selbstlose Unterstuumltzung der Armen auch wenn deren Bitten laumlstig faumlllt (Lk 630) ndash im Gegensatz zum Kalkuumll des do ut des

bull als engagierter Einsatz fuumlr das Gute (Lk 62733) ndash im Gegensatz zu einem Mitmachen wie zur Resignation

Feindesliebe ist nicht passiv sondern aktiv Sie kreiert eine neue Situation In diesen Konkretisierungen erhellt die Feindesliebe als radikalisierte Naumlchstenliebe (Lev 1917f) die im Kontext der Gottessliebe steht (Mk 1228-34 parr) Sie ist nicht das Einverstaumlndnis mit Unrecht Schuld und Schwaumlche schon gar nicht schwaumlchliches Hinnehmen von Unrecht sondern im Gegenteil starkes aber deshalb auch leidensfauml-higes Eintreten dafuumlr Boumlses durch Gutes zu uumlberwinden (Roumlm 1221)

Thomas Soumlding

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h Die Feindesliebe ist theologisch begruumlndet und motiviert bull Der theologische Grund ist das Handeln Gottes selbst der als Schoumlpfer und Er-

loumlser permanent Feindesliebe praktiziert (Lk 635 Mt 545 vgl Roumlm 55ff) o Mit dem Blick ins Buch der Natur zeigt Jesus nach Matthaumlus Gott als

den der auch den Boumlsen und Ungerechten das Leben schenkt weil er will dass sie leben (nicht weil er will oder toleriert dass sie Boumlses und Unrechtes tun)

o Der Vergleich mit dem aumlhnlichen Motiv bei Seneca der (nicht zu Feindesliebe aber) zu groszligmuumltiger Gelassenheit gegenuumlber Feinden mahnt macht den Unterschied deutlich denn nach ihm kann Gott nicht anders als die Unterstuumltzung der Boumlsen in Kauf zu nehmen wenn er den Guten helfen will ndash wofuumlr er sich entscheidet weil das Gute mehr wert ist als das Boumlse

bull Das theologische Motiv ist die Nachahmung Gottes die imitatio Dei (Lk 636 Mt 548) der die Verheiszligung ewigen Lebens gilt des bdquoLohnesldquo der in der Gotteskindschaft besteht

In dieser Theozentrik ist die Feindesliebe Zustimmung zu der Liebe mit der Gott auch die Ungerechten und Suumlnder liebt ndash ohne ihre Suumlnde gutzuheiszligen aber auch ohne ihnen wegen ihrer Schuld seine Zuwendung zu entziehen

i Das Gebot der Feindesliebe ist angewandte Christologie bull Einerseits ist es Jesus der das Gebot ndash nach Matthaumlus im Gegensatz zur herr-

schenden Auslegung des atl Liebesgebotes ndash der Feindesliebe aufstellt bull Andererseits ist es Jesus der das Gebot umfassend verwirklicht ndash vorbildlich

in seinem Leiden heilbringend in seiner Lebenshingabe aus reiner Liebe

f Das bdquoAuge um Auge Zahn um Zahnldquo (Ex 2124) begrenzt die Vergeltung das bdquoIch aber sage euchldquo aktiviert zur Versoumlhnung Das alttestamentliche Gebot der Naumlchstenliebe umfasst innerhalb Israels Feindesliebe (Lk 1917f) und weitet sie aus (Lev 1934) Das bdquoIch aber sage euchldquo setzt sich von einer Auslegung ab die aus Sorge um Gottes Gerechtigkeit die Grenzen der Erloumlsung zu eng zieht Dafuumlr gibt es Beispiele in Qumran Der originaumlre Bezug des Gebotes der Naumlchstenliebe auf das Volk Gottes wird nicht aufgegeben aber ausgeweitet

bull In der Juumlngerschaft ist ndash in Israel und uumlber Israel hinaus ndash der Ort an dem die Feindesliebe so praktiziert werden soll dass sie ausstrahlt (vgl Mt 513-16)

bull Zum Volk Gottes gehoumlren nicht nur die Juden und alle die an Jesus glauben Gott hat vielmehr Jesus (nach Matthaumlus wie nach Lukas) deshalb gesendet damit durch seinen Dienst am Heil der Menschen der reine Feindesliebe ist alle Voumllker zu seinem Volk werden Die Kirche repraumlsentiert und realisiert stellvertretend diese Heilsuniversalitaumlt Ihre Feindesliebe konkretisiert sie ethisch

Feindesliebe durchbricht das Prinzip der Vergeltung ohne das Prinzip der Gerechtig-keit aufzugeben Das ist nur deshalb sittlich erlaubt und geboten weil das Gebot in der Liebe Gottes selbst begruumlndet ist die sich in der Feindesliebe Jesu realisiert die ihrerseits der theologische Nerv seines Lebens und Sterbens zur Erloumlsung der Suumlnder ist

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j Das psychologische Problem das Sigmund Freud scharf markiert hat19

Das ethische Problem das Fjodor Dostojewksi (Die Bruumlder Karamasow) Iwan in den Mund legt lautet

besteht da-rin dass blinde Aggressionen entwickelt wer sich moralisch uumlberfordert Dieses Prob-lem laumlsst sich wohl nur spirituell loumlsen in der Nachfolge Jesu die auf seine Kraft setzt in den Nachfolgern das Gute zu tun

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k Das Problem der Erfuumlllbarkeit der Bergpredigt und speziell des Gebotes der Fein-desliebe bewegt Theologie und Kirche seit aumlltester Zeit Eine erhebliche Verschaumlrfung des Problems geschieht durch eine moderne Emotionalisierung der Feindesliebe Wird sie aber als Ausdruck der Agape verstanden begruumlndet sie ndash in der Nachfolge Jesu ndash eine Praxis des Glaubens aus der Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe Als solche kann sie durchaus eingeuumlbt ausgebildet und gefestigt werden Sie setzt die Suche nach dem besten Weg der Verwirklichung nicht aus sondern ein Sie entspricht aber darin der Gottebenbildlichkeit aller Menschen und der Gotteskindschaft der zu Erloumlsenden dass sie an der Unbedingtheit der Bejahung die Gott ihnen zuteilwerden laumlsst Anteil hat

dass Feindesliebe letztlich Kumpanei mit den Taumltern auf Kosten der Opfer sei Dieses Problem das haumlufig nicht gesehen wird laumlsst sich nur soteriolo-gisch loumlsen weil derjenige der selbst aus reiner Liebe die Schuld der anderen ertra-gen und vergeben hat das Reich Gottes als umfassende Vollendung von Gerechtig-keit Friede und Freude (Roumlm 1417) verwirklicht

19 Das Unbehagen in der Kultur in Gesammelte Werke 14 London 1948 419-506 468-475493-506 (Abschnitte V VIII) bdquoNachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte war die aumluszligerste Intoleranz des Christentums gegen die drauszligen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge gewordenldquo (374) 19 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 20 bdquoSchlieszliglich will ich auch gar nicht dass die Mutter den Peiniger umarmt der ihren Sohn von Hunden zerreiszligen lieszlig Sie darf sich nicht unterstehen ihm zu verzeihen Wenn sie will mag sie verzeihen soweit es sie selber angeht sie mag dem Peiniger ihr maszligloses Mutterleid ver-zeihen aber die Leiden ihres zerfleischten Kindes zu verzeihen hat sie kein Recht sie darf es nicht wagen dem Peiniger zu verzeihen auch wenn das Kind selber ihm verzieheldquo (Muumlnchen 1958 330f

Thomas Soumlding

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7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)

71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20) a Mit der Fuszligwaschung21

b Die Fuszligwaschung ist das Zeichen der Passion Ihr folgen Gespraumlche mit den Juumln-gern die zwar von Jesus gewaschen und gereinigt sind aber groumlszligte Schwierigkeiten haben zu verstehen was sich tut

beginnt der 2 Hauptteil des Johannesevangeliums Das oumlffentliche Wirken ist abgeschlossen Jesus konzentriert sich auf seine Juumlnger bevor er oumlffentlich hingerichtet werden wird Er bereitet sie auf seine Passion und seine Auferstehung vor die den Weg zu Gott bahnen werden

bull Auf die Fuszligwaschung folgt zuerst eine Trias unmittelbarer Konsequenzen o Judas wird als Verraumlter identifiziert und verlaumlsst den Juumlngerkreis (Joh

1321-30) o Die Juumlnger werden zur wechselseitigen Liebe gemahnt (Joh 1331-35) o Petrus wird seine Verleugnung vorhergesagt (Joh 1336ff)

bull Auf die Fuszligwaschung folgen ausfuumlhrliche Abschiedsworte (Joh 14-16) die in ein Abschiedsgebet muumlnden (Joh 17)

c Joh 131-20 ist uumlbersichtlich aufgebaut

Joh 131 Der Hintergrund Joh 132-5 Die Fuszligwaschung beim Mahl 132 Die Situation 133ff Die Handlung Jesu Joh 136-11 Das Gespraumlch mit Petrus 136 Der erste Einwand des Petrus 137 Die erste Antwort Jesu 138a Der zweite Einwand des Petrus 138b Die zweite Antwort Jesu 139 Der dritte Einwand des Petrus 1310 Die dritte Antwort Jesu 1311 Kommentar des Evangelisten Joh 1312-20 Die Deutung vor allen Juumlngern 1312-17 Die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu 1318f Die Ansage eines Verrates 1320 Die Juumlnger als Apostel

21 Vgl Luise Abramowski Die Geschichte von der Fuszligwaschung in Zeitschrift fuumlr Theologie und Kirche 102 (2005) 176-203

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d Die Exegese diskutiert in welchem Verhaumlltnis die beiden Deutungen zu einander stehen Die erste ist soteriologisch die zweite ethisch ausgerichtet

bull Recht oft wird aus der Doppelung auf ein literarisches Wachstum des Textes geschlossen

o Moumlglichkeit 1 Die soteriologische Deutung ist die aumlltere die paraumlnetische die se-kundaumlre22

o Moumlglichkeit 2 Die ethische Deutung ist urspruumlnglich die soteriologisch nachtraumlglich zwischengeschoben

23

Beide Ansaumltze sind von weitereichenden Voraussetzung zur relativen Chrono-logie des Corpus Johanneum gepraumlgt

o Wer den Ersten Johannesbrief fuumlr aumllter erachtet wird die ethische Deutung fuumlr urspruumlnglich halten

o Wer das Evangelium fuumlr aumllter erachtet wird eher die soteriologische Deutung als originaumlr einschaumltzen

Die ethische Deutung wird dann fuumlr sekundaumlr zu erachten wenn man zu dem Urteil gelangt die johanneische Theologie sei urspruumlnglich wenig konkret und eher spirituell ausgerichtet waumlhrend erst sekundaumlr Johannes gesamtkirchlich eingenordet worden sei Beide Ansaumltze gehen von einem literarischen Schichtenmodell aus das der Ei-genart johanneischer Literatur in den Evangelienerzaumlhlungen nicht angemes-sen ist Beide werden durch das Modell einer bdquorelectureldquo gemildert das ndash aumlhnlich wie in der Prophetenexegese des Alten Testaments ndash mit einer Fortschreibung der Texte rechnet aber sie zugleich als vergegenwaumlrtigende Aneignung des vor-gegebenen Textes versteht24

bull Es mehren sich wieder die Stimmen die Joh 13 als literarisch einheitlich anse-hen

Allerdings stoumlszligt dieses Modell auf die Schwie-rigkeit dass das Liebesgebot das die ethische Deutung vorbereitet in Joh 1331-35 dominant ist und nicht nur in Joh 15-16 ausgefuumlhrt sondern auch in Joh 1421 angebahnt wird

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Die Doppelung erklaumlrt sich aus der Theologie der Liebe Sie hat eine Innenseite die Liebe Jesu zu sein Seinen in der sich nach Joh 1421 die Liebe das Vaters zum Sohn ereignet und sie hat eine Auszligenseite die sich nach Joh 1331-35 und Joh 15 in der Bruderliebe der Juumlnger erweist von der die Welt angezogen werden wird (Joh 17)

Allerdings braucht es eine Erklaumlrung fuumlr die Deutung Eine moumlgliche Er-klaumlrung waumlre der Adressatenwechsel aber die Petrusszene spielt sich vor den Augen und Ohren aller ab

22 So Rudolf Schnackenburg Joh III passim 23 So Udo Schnelle Joh 237 Er will eine Ursprungsform (132a4512ab162017) die recht nahe bei Lk 22 und der Mahnung der Juumlnger zum Dienen steht zuerst in der johanneischen Schule (der er den Ersten Johannesbrief mit seiner Theologie der Liebe zurechnet) um die Vorbildethik erweitert sehen (1312c13-15) bevor der Evangelist selbst von der Einleitung an (131) konsequent seine soteriologische Deutung ins Fundament der Geschichte eingebaut habe (136-10ab) 24 So Jean Zumstein Joh 25 So Hartwig Thyen Joh

Thomas Soumlding

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711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus a Die Liebe Jesu zu den Seinen (Joh 131) verwirklicht die Liebe Gottes zur Welt (Joh 316) die von der Liebe des Vaters zum Sohn getragen wird (Joh 335 1017) Es ist die nach der Zwischennotiz von Jesu Freundschaft mit Martha Maria und Lazarus (Joh 115) erste Betonung der Agape Jesu von der spaumlter das Liebesgebot Joh 1334 und die Verheiszligung dauernden Beistandes der Juumlnger gedeckt ist (Joh 1421-31)

b In der Liebe Jesu zu den Seinen verbindet sich die Liebe Gottes zur Welt mit der Liebe Jesu zu seinen Freunden (Joh 15) Es ist eine unbedingte Bejahung und Wert-schaumltzung die auf Sympathie beruht und lebendig macht

c Die Liebe erweist Jesus den bdquoSeinenldquo bull Im Ruumlckraum steht Joh 19-13 dass die bdquoSeinenldquo den Logos abgelehnt haben

ndash bis auf diejenigen die an seinen Namen glauben und deshalb das Recht der Gotteskindschaft erhalten

bull Die bdquoSeinenldquo sind die Juumlnger die sich von Jesus in die Nachfolge haben rufen lassen (Joh 135-51) und in der galilaumlischen Krise Jesus nicht verlassen haben (Joh 660-71) Sie haben ihrerseits schwere Glaubensprobleme ndash aber werden sie durch Jesus uumlberwinden

bull In Joh 14 und Joh 17 wird erklaumlrt werden dass die Liebe Jesu zu den Seinen ndash wie die zum Lieblingsjuumlnger ndash nicht exklusiv sondern positiv zu verstehen ist

Dass Jesus den Seinen die Liebe bdquobis zum Endeldquo erweist verweist auf den Tod Jesu Das griechische Wort ist mehrdeutig teloj kann bdquoEndeldquo aber auch bdquoZielldquo bedeuten Beide Bedeutungen schwingen mit

bull Der Tod Jesu ist das definitive Ende seiner geschichtlichen Sendung das zu akzeptieren wird den Juumlngern ungeheuer schwer fallen

bull Der Tod Jesu ist das Ziel seines Wirkens insofern es seine Liebe und Hingabe definitiv werden laumlsst

Der Korrespondenzsatz ist das Todeswort Jesu Joh 1930 bull Es ist ein Gebet wie nach allen Synoptikern (Mk 1534 par Mt 2746 bdquoGott

mein Gott warum hast du mich verlassenldquo ndash Ps 222 Lk 2346 bdquoVater in deine Haumlnde gebe ich meinen Geistldquo ndash Ps 316) aber als letztes Offenba-rungswort an die Welt

bull Die traditionelle Uumlbersetzung lautet bdquoEs ist vollbrachtldquo Man kann aber auch sagen bdquovollendetldquo (Muumlnchner Neues Testament Bible de Jerusaleme bdquoCest acheveacuteldquo) oder bdquozu Endeldquo (King James Bible bdquoIt is finishedldquo)

Eine moumlgliche auf Joh 131 abgestimmte Uumlbersetzung waumlre (wie im Muumlnchener Neu-en Testament) bdquoEs ist vollendetldquo (tetelestai)

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712 Die Fuszligwaschung a Jemandem vor dem Mahl die Fuumlszlige zu waschen ist ein Dienst den traditioneller-weise Sklaven ihren Herren erweisen (vgl 1Sam 2541)26

Joh 1313f zeigt dass die sozialen Dimensionen der Fuszligwaschung klar vor Augen stehen der Gesamttext dass der Ritus sakramental gefuumlllt wird

Das Waschen der Fuumlszlige ist ein Ritus der Vorbereitung der eine koumlrperliche Wohltat mit einer Geste der Houmlflich-keit verbindet die Anerkennung und Ehrerbietung meint (Gen 184 vgl Lk 744) und zudem mit einer rituellen Bedeutung versieht die einen Uumlbergang gestaltet von drauszligen nach drinnen vom Alltag zum Fest vom Profanen zum Heiligen

7121 Die soteriologische Deutung a Im Gespraumlch mit Petrus wird die Bedeutung der Fuszligwaschung soteriologisch gedeu-tet Sie ist eine bdquoReinigungldquo ndash nicht wie in der Taufe sondern wie in der Buszlige Petrus braucht keine Wiederholung der Wiedergeburt die er als glaumlubig gewordener Taumluferjuumlnger erlebt hat aber er bedarf mehr als andere der Vergebung weil er ndash ent-gegen seinem Vorsatz ndash Jesus verleugnet Waumlhrend er sagt fuumlr Jesus sterben zu wol-len muss gerade fuumlr ihn Jesus sterben

b Petrus erkennt nach Joh 136 das Unmoumlgliche der Situation dass der Herr ihm ei-nen Sklavendienst leistet Er wehrt diesen Dienst doppelt ab (Joh 1368a) ndash so wie er nach Joh 1336ff nicht will dass Jesus fuumlr ihn sein Leben einsetzt In diesem Nein kommt eine Liebe zu Jesus zum Ausdruck die bestimmen will Gleichzeitig aber ist das Nein auch Ausdruck des Missverstaumlndnisses dass Petrus der Diakonie Jesu womoumlglich gar nicht bedarf Petrus verschaumlrft seinen Widerspruch der aus Unverstaumlndnis stammt indem er dann ganz gewaschen werden will (Joh 139) ndash womit er aber seine Berufung leugnet

c Jesus deckt das Missverstaumlndnis des Petrus auf Die Fuszligwaschung steht nicht am Anfang sondern an einer Biegung des Weges mit Jesus Die Weg-Gemeinschaft ist darin begruumlndet dass Jesus sich in seinen Dienst stellt Dem muss entsprechen dass Petrus sich den Dienst gefallen laumlsst Er muss Jesus so nahe wie in der Fuszligwaschung an sich heranlassen Er muss den Rollentausch akzeptieren Die Langversion von Vers 10 die durch den Codex Vaticanus gedeckt und als lectio difficilior gesichert ist entspricht dem Kontext

bull Im Bild Auch nach dem Vollbad macht man sich wieder die Fuumlszlige schmutzig Man laumlsst sie sich waschen damit auch sie sauber sind man laumlsst nur sie waschen weil der sonstige Koumlrper gereinigt ist

bull In der Sache Wer durch das Bad der Wiedergeburt die Taufe bdquoganz reinldquo geworden ist muss diese Reinheit aber durch seine Schuld verloren hat muss sich die Fuumlszlige waschen lassen um durch Jesus zu Gott zu gelangen Dem entspricht am ehesten eine Deutung auf die Buszlige wie sie orthodoxen Vaumlter favorisieren

26 Hellenistische Parallelen Neuer Wettstein I2 636-644

Thomas Soumlding

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7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
    • Kontakt
      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
        • Markusevangelium
        • Lukasevangelium
        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 7: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

Thomas Soumlding

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1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch

a Das Liebesgebot ist zweifellos fuumlr die Ethik Jesu wie des Urchristentums zentral Es weist nicht nur den Weg Jesu selbst und seiner Nachfolger sondern wird auch zum Gegenstand theologischen Nachdenkens Sowohl in der synoptischen und johannei-schen Tradition wie auch bei Paulus und im Jakobusbrief wird der zentrale Stellenwert des Liebesgebotes markiert und argumentativ entfaltet Das spricht fuumlr eine bewuss-te programmatische Positionierung Gerade sie wirft aber exegetische Fragen auf

bull Welches Verhaumlltnis besteht zum Alten Testament und zum Judentum Die Antwort ist nicht offenkundig weil einerseits das bdquoGesetzldquo zitiert (Lev 1918) andererseits aber sein genaues Verstaumlndnis und Gewicht immer wie-der kontrovers diskutiert wird

bull Welches Verhaumlltnis besteht zu den Standards profaner Ethik in der Antike Auch diese Frage hat Gewicht weil gerade das Liebesgebot einerseits gegen alles Sektiererische aufgestellt andererseits aber so profiliert wird dass es zum Kennzeichen der Jesusbewegung und der fruumlhen Kirche wird

bull Worauf richtet sich die Naumlchstenliebe Im Neuen Testament wird nur an einer einzigen Stelle ndashund zwar vom kriti-schen Gesetzlehrer nach Lk 1029 ndash gefragt wer der bdquoNaumlchsteldquo ist den es zu lieben gilt Im uumlbrigen reicht das Spektrum von der Feindes- bis zur Bruderlie-be

bull Was ist eine bdquoLiebeldquo die geboten werden kann Das Alte und das Neue Testament stimmen darin uumlberein dass es ein Liebes-gebot gibt Das laumlsst nach dem Verstaumlndnis der Liebe fragen

o Das Leitwort heiszligt Agape Das Wort im Profangriechischen blass ge-winnt durch die Septuaginta Farbe

o Es meint im Kern die Liebe Gottes zu seinem Volk die auf die Gottes- und die Naumlchstenliebe der Israeliten ausstrahlt Die Liebe Gottes ist kreativ Indem Gott Israel erwaumlhlt ruft er es ins Leben Die Liebe Got-tes ist unverbruumlchlich Auch wenn das Volk untreu ist bleibt Gott treu Die Liebe Gottes ist leidenschaftlich So wie er sein Herz an die Menschen in Israel haumlngt will er sie auch fuumlr sich und fuumlr ihr eigenes Heil gewinnen

o Auf diese Liebe Gottes antwortet die Liebe zu Gott die sich im Be-kenntnis zum einen Gott ausspricht (Dtn 64f) und im uumlberzeugten Gehorsam gegen sein Gebot bewahrheitet Der Liebe zu Gott ent-spricht die Naumlchstenliebe (Lev 1917f) weil man Gott nicht lieben kann ohne auch die zu lieben die er liebt

Auch wenn es einleuchten kann dass eine Liebe geboten werden kann bleiben die Frage wer diese Liebe gebieten kann und wie das Gebot sich erfuumlllen laumlsst Diese Fragen treiben schon Jesus und das Urchristentum um

Die exegetischen Fragen verlangen exegetische Antworten die den Texten ihr Recht geben und die noumltigen Unterschiede herausarbeiten aber auch Gemeinsamkeiten erkennen lassen Auf diese Weise kann ein differenzierter Eindruck der Liebes-Ethik im Neuen Testament und der ganzen Bibel entstehen

8

b Die katechetischen und didaktischen Fragen stellen sich auch im Verstaumlndnis bibli-scher Texte die aus der Vergangenheit reden aber darin auf die geschichtlichen Ur-spruumlnge des Glaubens wie der Kirche weisen und den Kanon heiszligt die Richtschnur christlicher Lehre und glaumlubigen Lebens spannen Entscheidend ist die Vergegenwaumlr-tigung

bull Wer ist zur Naumlchstenliebe gerufen Die Konkretion ist wesentlich weil das bdquowie dich selbstldquo zum Liebesgebot ge-houmlrt und damit das bdquoIchldquo des Menschen der das Gebot houmlrt in Rede steht Deshalb geraten die jeweils gegenwaumlrtigen Adressaten zentral in den Blick ihr Ich-Bild ihr Gottes-Bild und ihr Du-Bild Diese anthropologische Konkretisie-rung spiegelt auf die Exegese zuruumlck

bull Wie laumlsst sich die Naumlchstenliebe leben Die exegetischen Klaumlrungen zum Begriff des Naumlchsten (des Freundes des Feindes der Schwester und des Bruders) wie der Agape spitzen die Frage zu auf welchen Feldern und in welchen Formen die Naumlchstenliebe heute und jetzt gefragt ist Das Liebesgebot ist grundsaumltzlich Also ist es auf kreative Konkretisierungen hin angelegt Die katechetische und didaktische Vermitt-lung ist mithin aktive Exegese ndash und laumlsst auch im Ruumlckblick nach Konkretionen fragen Die Forderung der Naumlchstenliebe nimmt das Problem von Handlungskonkur-renzen und Entscheidungsnotwendigkeiten ernst und fordert zu klaren Optio-nen auf ndashdie jeweils heute getroffen werden muumlssen

bull Wer fordert die Naumlchstenliebe Ist Naumlchstenliebe selbstverstaumlndlich und deshalb ein Gebot Gottes Oder ist sie ein Gebot Gottes weil sie menschlich aber nicht selbstverstaumlndlich ist Die Exegese identifiziert (auf der Basis des kanonischen Textes) Moses und Je-sus als Gesetzgeber im Namen Gottes Die Autoritaumltsfrage stellt sich heute dramatisch neu weil die Bibel vermittelte Autoritaumlt ist und der menschliche Faktor bei ihrer Entstehung Uumlbermittlung und Erklaumlrung essentiell Die Exe-gese klaumlrt dies auf und wehrt dadurch jedem Fundamentalismus wird aber auch durch die Vergegenwaumlrtigungen zu kritischer Differenzierung angeleitet

Literatur zur Vertiefung CS Lewis The four loves London 1960 Deutsch Was man Liebe nennt Zuneigung Freund-

schaft Eros Agape Gieszligen 72004

Thomas Soumlding

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2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)

a Das Gebot der Naumlchstenliebe steht im Kern des Heiligkeitsgesetzes (Lev 17-26) Lev 19 Dieses Gesetz das zu den aumlltesten Textcorpora der Tora gehoumlrt ist von der imitatio Dei gepraumlgt (Lev 191) Gottes Heiligkeit an der Israel sich ausrichten soll ist der Glanz seiner Praumlsenz die Aura seiner Potenz das Strahlen seiner Transzendenz Israels Heiligkeit ist seine Zuwendung zu Gott und seinem Gesetz seine Abwendung von den Goumltzen und dem Unrecht Gottes Heiligkeit fuumlhrt nicht zu religioumlsen Berser-kern die im Namen des Einen alles andere vernichten sondern zu Menschen die lieben koumlnnen

b Das Heiligkeitsgesetz1

Das Liebesgebot ragt aus den ethischen Weisungen heraus Es bildet den kroumlnenden Abschluss einer Reihe sozial engagierter Gebote (Lev 1911-18) die allesamt negativ formuliert sind waumlhrend das Liebesgebot positiv formuliert wird In Lev 1934 findet es ein Echo mit der Ausweitung auf die Fremden als Schlusspointe des Heiligkeitsethos

umfasst einen bunten Strauszlig kultischer und sozialer Gebote Ihr innerer Zusammenhang wird dadurch gestiftet dass Heiligkeit sowohl das Gottes-verhaumlltnis als auch das Verhaumlltnis zum Naumlchsten praumlgt

c Durch die Forderung den Naumlchsten zu lieben geschieht die notwendige Konzentra-tion Der bdquoNaumlchsteldquo dem die Liebe gelten soll ist nicht einfach wer einem mehr oder weniger zufaumlllig begegnet2 sondern nach dem genauen Wortlaut der bdquoBruderldquo der bdquoStammesgenosseldquo das bdquoKindldquo des eigenen Volkes (Lev 1917f)3

Die Beispiele zeigen aber auch dass die Naumlchstenliebe von Anfang an faktisch Fein-desliebe ist Denn durchweg geht es um erlittenes Unrecht begangene Fehler ge-schehene Suumlnden Das Liebesgebot bahnt einen Ausweg aus der verfahrenen Situati-on Es nimmt den moralisch in die Pflicht dem Unrecht widerfahren ist Das Opfer soll aktiv werden um einen neuen Anfang zu setzen ndash nicht um die Taumlter zu entlasten sondern um ihnen zu helfen aus ihrer Schuld herauszukommen Dem entspricht ein offensives Verstaumlndnis von Heiligkeit Sie strahlt aus und zieht an

Das entspricht dem Kontext des Heiligkeitsgesetzes das von der Erwaumlhlung und Verpflichtung Israels handelt Es ist die Gemeinschaft des von Gott geliebten Volkes die durch Naumlchsten-liebe lebendig werden soll Wuumlrden die Grenzen verschwinden staumlnde die Naumlchsten-liebe in der Gefahr sich in unverbindliche Fernstenliebe aufzuloumlsen und den Kontakt zu Gott zu verlieren der sich seines Volkes erbarmt Durch die Konzentration auf die Naumlchsten des Gottesvolkes gewinnt die Zugehoumlrigkeit zu Israel Kontur die Heiligkeit wird konkret Die in Lev 1917f beschriebenen Beispiele setzen durchweg Nahbezie-hungen voraus

1 Vgl (klassisch historisch-kritisch) Klaus Gruumlnwaldt Das Heiligkeitsgesetz Levitkus 17-26 Ge-stalt Tradition und Theologie (BZAW 271) Berlin 1999 2 So jedoch Martin Buber Zwei Glaubensweisen (1950) in ders Werke I Muumlnchen - Heidel-berg 1962 651-782 701f bdquoSei liebreich zugewandt den Menschen mit denen du je und je auf den Wegen deines Lebens zu schaffen bekommst 3 Vgl Hans-Peter Mathys Liebe deinen Naumlchsten wie dich selbst

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d Die Konzentration der Naumlchstenliebe begruumlndet keine Doppelmoral sie ist positiv nicht exklusiv verstanden Das zeigt die Ausweitung auf die bdquoFremdenldquo mit derselben Maszligeinheit bdquowie dich selbstldquo Die Begruumlndung bdquodenn ihr seid selbst Fremde in Aumlgyp-ten gewesenldquo (Lev 1933f) erhellt eine uumlberraschende weil verdraumlngte Naumlhe Israel kann und soll das Leben der bdquoFremdenldquo nachfuumlhlen und sich ihnen in gleicher Weise wie den Mitgliedern des eigenen Volkes ndash bdquowie dich selbstldquo ndash zuwenden Die bdquoFremdenldquo sind in der Rechtssprache der Tora Nicht-Juden die dauerhaft im Hei-ligen Land leben Sie sind Buumlrger zweiter Klasse in Israel ndash wie einst Israel in Aumlgypten Desto wichtiger ist das Liebesgebot Die Septuaginta (LXX) uumlbersetzt mit bdquoProselytldquo um die Situation der Diaspora zu beruumlcksichtigen und den zuweilen prekaumlren Status der Konvertiten zum Judentum zu verbessern Im woumlrtlichen Sinn sind die bdquoProsely-tenldquo diejenigen die von auszligen hinzukommen insofern waren fuumlr die griechischen Uumlbersetzer die Israeliten in Aumlgypten bdquoProselytenldquo Wer nur auf der Durchreise ist ist keineswegs rechtlos er genieszligt Gastrecht und Gastfreundschaft4

Die Direktheit und Nachhaltigkeit des Liebesgebotes wird durch die Ausweitung un-terstrichen

deren Heiligkeit aumllter ist als das geschriebene Gesetz

e Das Liebesgebot wird zwar an anderen Stellen des Alten Testament (lange) nicht zitiert gehoumlrt aber in ein Feld aumlhnlicher ethischer Weisungen Es ist beeinflusst und es hat beeinflusst5

f Eine solche Liebe ist nicht storgeacute weil das Volk Gottes die natuumlrlichen Familienban-de uumlberschreitet wiewohl Israel oft genealogisch verstanden wird Sie ist nicht Freundschaft weil die Beziehung die sie kultiviert nicht freiwillig gewaumlhlt und gestal-tet sondern von Gott vorgegeben ist Diese Liebe kann nicht im Eros aufgehen weil sie weniger das Hingerissensein von anderen als die Weggemeinschaft mit ihnen kul-tiviert sie ist Agape weil sie von Gott kommt auch wenn im Kontext nicht expressis verbis von Gottes Liebe die Rede ist Unleugbar aber ist es Liebe zu vergeben und Rachegeluumlsten nicht nachzugeben sondern am Aufbau einer Friedensbeziehung zu arbeiten Nicht das Begehren sondern die Sympathie ist der Motor der Agape Aber sie begehrt verstanden und angenommen zu werden Getragen ist sie von der heili-gen Liebe Gottes ndash und zwar nicht nur weil allein Gott die Kraft geben kann den ers-ten Schritt der Versoumlhnung zu tun sondern weil Gott diejenigen die auf sein Wort houmlren sollen erst zu Houmlrern des Wortes macht und sie in sein Volk hineinstellt das er sich erwaumlhlt hat

Ex 244f ist ein gutes Beispiel fuumlr angewandte Feindes- Dtn 221-4fuumlr aktive Bruderliebe

4 Vgl Helga Rusche Gastfreundschaft im Alten Testament im Spaumltjudentum und in den Evan-gelien in ZMRW 41 (1957) 170-188 5 Vgl Gianni Barbiero ElAsino dell Nemico Rinuncia alla vendetta e amore dell nemico nella legislatione dellAntico Testamento (Es 234-5 Dt 221-4 Lv 1917-18) (AnBib 128) Rom 1991

Thomas Soumlding

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3 Das Liebesgebot im Judentum

a In den alttestamentlichen Spaumltschriften steigt die Bedeutung des Liebesgebotes bull Die Semantik der Septuaginta (mit der Agape als Zentrum) staumlrkt den theolo-

gischen Grundzug durch die explizit gewordene Verbindung mit der Liebe Gottes und der Liebe zu Gott

bull Nach Tob 413 soll die Naumlchstenliebe als Bruderliebe die juumldische Kommunitaumlt in der Diaspora aber auch im Heiligen Land staumlrken deshalb ist das Liebesge-bot mit der Warnung vor einer Mischehe verbunden

bull Nach Jesus Sirach6

o als Liebe zum Sklaven der aufgrund seiner Treue und Bildung als Partner anerkannt werden soll (Sir 721)

wird das Gebot der Naumlchstenliebe in verschiedenen sozia-len Kontexten konkretisiert

o als Konstituierung einer ethischen Maxime die auf die Goldene Regel zulaumluft (Sir 3115)

o als Schaumlrfung des Gewissens fuumlr den caritativen Einsatz fuumlr Arme (Sir 3423-27)

Die Konkretisierungen passen in das Schema weisheitlicher Ethik das im Neu-en Testament auch der Jakobusbrief ausfuumlllt

Die Steigerung der Bedeutung erklaumlrt sich aus zwei Gruumlnden bull einer Personalisierung der Ethik bull und einer Vermittlung juumldischer Ethik die auf Elementarisierung setzt

Die Bedeutungssteigerung erhoumlht die Attraktivitaumlt der juumldischen Ethik in der antiken Welt

6 Vgl Th Soumlding Naumlchstenliebe bei Jesus Sirach

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b Aus der Septuaginta erklaumlrt sich die hohe Aufmerksamkeit fuumlr das Liebesgebot im hellenistischen Judentum Die Testamente der Zwoumllf Patriarchen7 reden haumlufig im ethischen Sinn von Liebe8 nahezu durchweg in der Form direkter oder indirekter Aufforderungen Die TestXII sind eine griechisch uumlberlieferte im 2 Jh von christlicher Hand redigierte aber dem wesentlichen Textbestand nach urspruumlnglich juumldische Schrift deren Wurzeln bis in das 2 Jh v Chr reichen koumlnnen Die Testamente nehmen Gen 49 auf und lassen die 12 Soumlhne Jakobs ihrerseits Abschiedsreden halten9

Lev 1918 wird zwar nicht explizit zitiert aber an vielen Stellen angespielt und durch-weg aktualisiert

Sie arbeiten das Problem der Diaspo-ra auf die als Zerstreuung gesehen und als Strafe Gottes gedeutet wird In dieser Si-tuation kommt es auf den inneren Zusammenhalt der Juden an der nach den Patriarchentestamenten nicht nur rituell sondern auch ethisch begruumlndet werden soll

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7 Aumlltere Standardausgabe RH Charles The Greek Versions of the Testaments of the Twelve Patriarchs Oxford 1908 Nachdruck Darmstadt 1960 Neuere Edition Mde Jonge - HW Hollander - Hde Jonge - Th Korteweg The Testaments of the Twelve Patriarchs A Critical Edition of the Greek Text (PVTG I2) Leiden 1978 Die aramaumlische Version des TestLevi enthaumllt kein Liebesgebot Deutsche Uumlbersetzung J Becker Die Testamente der zwoumllf Patriarchen in JSHRZ III1 (21980)

Es zeigen sich Rezeptionslinien die im Bedeutungsfeld von Lev 1917f bleiben (vgl TestGad 43-8) die Explikation der Heiligkeit daumlmpfen aber den Bezug auf die Nachbarschaften im Gottesvolk Israel nicht aufgeben sondern unter den Bedingungen der Diaspora konkretisieren Nur in TestIss 76 (bdquohellip jeden Menschen hellipldquo) ist eine universalistische Deutung moumlglich

8 Vgl TestRub 69 Sim 447 Iss 52 76 Seb 85 Dan 53 Gad 42(6)7 613 77 Jos 1723 Benj 33ff 435 81 vgl auch Ass 24 Gad 33 (uumlber den Hasser) 46 Jos 175 Benj 82 (uumlber das Verhaumlltnis des Mannes zur Frau) Gad 15 (uumlber Jakobs Vaterliebe zu Joseph) 9 Vgl Th Soumlding Solidaritaumlt in der Diaspora M Konradt Menschen- und Bruderliebe 10 Ganz deutlich ist Gad 42 Dan 51 bezieht sich direkt auf das Gebot und Gesetz (vgl Iss 51) des Herrn und hat dabei augenscheinlich auch Lev 1918 vor Augen Fuumlr den Einfluss des Lie-besgebots sprechen uumlberdies die Formulierungen von Benj 334 Rub 69b bezieht die Liebe zwar direkt auf den Bruder hat aber im parallelen Teilvers 6a den Naumlchsten aumlhnlich liegt der Fall in Dan 52a3b und Gad 61

Thomas Soumlding

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c Auch Schriften die tiefer in Palaumlstina wurzeln nehmen das Liebesgebot auf Das Buch der Jubilaumlen11

11 Die Originalsprache ist hebraumlisch zu den einschlaumlgigen Qumran-Fragmenten vgl JC VanderKam Textual and Historical Studies in the Book of Jubilees (HSM 14) Missoula 1977 Die davon abhaumlngige griechische Uumlbersetzung ist bruchstuumlckhaft erhalten vgl A-M Denis Fragmenta Pseudepigraphorum quae supersunt Graeca una cum Historicorum et auctorum Iudaeorum Hellenistarum Fragmentis collegit et ordinavit (PVTG 3) Leiden 1970 70-102 Die auf der griechischen Uumlbersetzung fuszligende aumlthiopische Fassung die in den gemeinsam uumlberlie-ferten Partien der Qumran-Version sehr genau entspricht hat ediert RH Charles Mashafa Kufacirclecirc or the Ethiopic Version of the Hebrew Book of Jubilees (Anecdota Oxoniensia) Oxford 1895 Deutsche Uumlbersetzung Klaus Berger Das Buch der Jubilaumlen in JSHRZ II3 (1981)

im 2 Jh vor Chr geschrieben protestiert gegen die Korrup-tion des Makkabaumlerstaates es tritt mit dem Anspruch auf Mose auf dem Sinai offen-bart worden zu sein (Jub 11-29) es will einem Israel das einer schleichenden Hellenisierung verfaumlllt neue Identitaumlt verleihen indem es den Blick auf die normative Anfangszeit die Zeit der Vaumlter und des Mose lenkt und von ihr her eine authentische Halacha entwickelt die es erst ermoumlglicht gerecht zu leben (Jub 2326-31) Zum his-torischen Paradigma wird der Bruderstreit zwischen Jakob und Esau (Jub 3420 - 392a) Das Liebesgebot ndash Lev 1918 wird nicht direkt aber indirekt zitiert ndash hat eine qualitativ groszlige Bedeutung weil es uumlber die Klaumlrung halachischer Fragen hinaus den Geist wie die Praxis des Zusammenhaltes schaumlrft allerdings nicht allein oder als Krouml-nung sondern im konstitutiven Verbund mit anderen ethischen Prinzipien wie Ge-rechtigkeit Die Verzeihung die Joseph den Bruumldern gewaumlhrt macht ihn zum ethi-schen Vorbild dem es nachzueifern gilt Die Pflicht zur Liebe endet aber dort wo es sich nicht mehr nur um persoumlnliche Gegnerschaft sondern um Konflikte mit Frevlern handelt die dem Gebot Gottes grundlegend zuwiderhandeln Eine universalistische Ausweitung der Bruderliebe fasst Jub 202 ins Auge Zwar bezieht sich das Liebesge-bot direkt nur auf die herbeigerufenen Kinder und Enkel Abrahams aber unter ihnen finden sich namentlich genannt auch Ismael mit seinen zwoumllf Kindern und die Kinder der Ketura mit ihren Soumlhnen (Jub 201) Dadurch wird bereits der juumldische Rahmen gesprengt Uumlberdies baut die Formulierung eine Verbindung zwischen Bruderliebe und Menschenliebe auf Im ethischen Nahbereich koumlnnen auch Nicht-Juden Naumlchste werden

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d Die Schriften aus Qumran12 enthalten in zwei Corpora bedeutende Zeugnisse einer Naumlchstenliebe die sich innerjuumldisch aus dem Konflikt mit Frevlern als Gegenstuumlck zum Feindeshass erklaumlrt13

bull Die Gemeinderegel (1QS vgl 1QSa) beschreibt das Zusammenleben einer juuml-dischen Reformbewegung die sich in striktem Gegensatz nicht nur zu den Heiden sondern auch zu den Priestern in Jerusalem als wahres Israel konsti-tuieren abseits vom Tempel Die Forschung diskutiert die Beziehung zu den Esseacutenern uumlber die Philo von Alexandrien (15 v Chr - 40 n Chr ) in seiner Schrift uumlber die Freiheit des Tuumlchtigen (Quod omnis probus liber sit 72-91) der juumldische Historiker Flavius Josephus (3738 - 100 n Chr) in seinen Buuml-chern uumlber den juumldischen Krieg (De bello Judaico 2 119-161) und die Ge-schichte Israels (Antiquitates Judaicae 181118-22) sowie der roumlmische Ge-lehrte Plinius der Aumlltere (23-79 nChr) in seiner Naturgeschichte (Naturalis historia 573) berichten

Fuumlr die Gemeinderegel ist ein religioumlser Dualismus zwischen den bdquoSoumlhnen des Lichtesldquo und den bdquoSoumlhnen der Finsternisldquo wesentlich Er entsteht durch den Frevel derjenigen die das Heilige wahren sollen er wird von Gott sanktio-niert Entscheidend ist in einem aufwendigen Konversionsverfahren den Weg aus der massa damnata in Israel zur Kommunitaumlt der Frommen zu finden um so der Gnade der Rechtfertigung teilhaftig zu werden Die Zugehoumlrigkeit zur Gemeinschaft zeigt sich im Ritus und im Ethos Das Ethos ist durch Naumlchstenliebe strukturiert (1QS 13f9ff 224 5425 82 91621 1026) Sie ist im Kern Zustimmung zu der Erwaumlhlung und Vergebung die dem Mitbruder wie der eigenen Person zuteil geworden ist Deshalb ent-spricht der Naumlchstenliebe der Feindeshass Er ist im Kern Ablehnung und Dis-tanzierung die aber gerade nicht durch Gewalt sondern durch strikte Gewalt-losigkeit strukturiert wird damit das Gesetz des Handelns nicht von den Frev-lern sondern den Gerechten bestimmt wird (1QS 1017f)

bull Die Hymnenrolle (1QH) sammelt Psalmen die den Kampf der Guten gegen die Boumlsen der Gerechten gegen die Ungerechten verherrlichen Die Sprache ist militaumlrisch der Stil metaphorisch Die Spiritualitaumlt passt zur Ekklesiologie und Ethik der Gemeinderegel aber welchen genauen Bezug es gibt ist in der Qumran-Forschung strittig Entscheidend ist Gott fuumlr die eigene Erwaumlhlung zu preisen Das dankbare Gotteslob spiegelt sich in der Abscheu vor dem und den Boumlsen Liebe ist Zu-stimmung zur Liebe Gottes Hass Zustimmung zum Hass Gottes (1QH 142-8)

Die beiden Corpora stammen aus vorchristlicher Zeit Sie dokumentieren die Zerris-senheit des Judentums in Palaumlstina aber auch den Reformeifer derer die ein heiliges Israel erneuen wollen 12 Deutsche Uumlbersetzungen E Lohse Die Texte aus Qumran Hebraumlisch und Deutsch Muumln-chen 21971 K Schubert - J Maier Die Qumran-Essener Texte der Schriftrollen und Lebensbild der Gemeinde (UTB 224) Muumlnchen - Basel 1982 143-312 Zur Tempelrolle vgl die Ausgabe von Y Yadin Megillat ham-Miqdas The Temple Scroll (Hebrew Edition) Bde I-IIIa Jerusalem 1977 deutsche Uumlbersetzung J Maier Die Tempelrolle vom Toten Meer (UTB 829) Muumlnchen - Basel 1977 13 Vgl Th Soumlding Feindeshass und Bruderliebe

Thomas Soumlding

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4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)

a Das Doppelgebot der Naumlchstenliebe uumlberliefert das Neue Testament bei den Synop-tikern in drei Fassungen

bull Markus erzaumlhlt von einem Konsensgespraumlch uumlber das groumlszligte Gebot zwischen Jesus und einem Schriftgelehrten in Jerusalem (Mk 1228-34) die Antwort Je-su eine Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 fuumlhrt zu einer Verstaumlndi-gung

bull Matthaumlus stimmt in der Thematik der Frage der Ortsangabe und der Kombi-nation beider Liebesgebote mit Markus uumlberein (Mt 2234-40) macht aber aus dem Konsens- ein Streitgespraumlch Jesus wird von einem Gesetzeslehrer auf die Probe gestellt und besteht die Herausforderung glaumlnzend indem er das Doppelgebot formuliert

bull Lukas kennt in seiner Version (Lk 1025-37) gleichfalls die Kombination er uumlberliefert wie Matthaumlus einen bdquoGesetzeslehrerldquo ndash nicht wie Markus einen bdquoSchriftgelehrtenldquo ndash als Partner und erzaumlhlt ndash wie Matthaumlus anders als Mar-kus ndash von einem Konfliktgespraumlch Aber bei ihm findet der Dialog auf dem Weg Jesu nach Jerusalem statt (Lk 951 - 1927) die Frage zielt auf das ewige Leben (wie in Mk 1017 par Mt) der Dialog spitzt sich auf die Frage nach dem Naumlchsten zu die Jesus mit dem Samaritergleichnis beantwortet

Die markinische Version ist (nach der Zwei-Quellen-Theorie) die aumllteste Matthaumlus laumlsst sich als Kuumlrzung und Zuspitzung lesen Ob aber Lk 1025-37 sich als Markus-Redaktion erklaumlren laumlsst ist fraglich Womoumlglich hat es ndash durch Q ndash eine Doppeluumlber-lieferung gegeben die eine Kontroverse mit einem Gesetzeslehrer enthalten hat Noch wahrscheinlicher ist dass es von Anfang verschiedene Versionen gegeben hat die von den Evangelisten unterschiedlich rezipiert worden ist In jedem Fall bezeugt die Breite der Uumlberlieferung dass das Liebesgebot fuumlr Jesus typisch gewesen ist

b In allen Versionen des Doppelgebotes gibt es gemeinsame Charakteristika bull die Form des Gespraumlches in der das Doppelgebot entwickelt wird bull den Bezug auf das Gesetz bei Markus (1228) und Matthaumlus (2236) durch die

Jesus gestellte Ausgangsfrage bei Lukas durch die Ruumlckfrage Jesu (1026) bei Matthaumlus durch den Schlusssatz Jesu unterstrichen (2240)

bull die Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 ad vocem Agape bull die Abfolge dass zuerst das Hauptgebot der Gotteslebe (Dtn 64f) dann das

Gebot der Naumlchstenliebe (Lev 1918f) kommt obwohl die kanonische Reihen-folge eine andere ist

Diese Charakteristika sind der Kernbestand der Tradition sie muumlssen zu Eckpfeilern der Interpretation werden

c Die unterschiedlichen Gespraumlchssituationen haben ihre eigene Logik bull Markus will zeigen dass es zu einer fundierten und breiten Verstaumlndigung Je-

su mit den Schriftgelehrten haumltte kommen koumlnnen auf der Basis der Tora bull Matthaumlus will zeigen dass die Hierarchisierung der Gebote strittig war und

geblieben ist bull Lukas will herausarbeiten dass das Doppelgebot Fragen stellt die Jesus be-

antworten kann Die unterschiedlichen Logiken koumlnnen nicht gegeneinander ausgespielt aber jeweils in das Evangelium eingeordnet werden in dem sie sich befinden

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d Alle Versionen bestimmen die Tora als Basis des Dialoges Alle bleiben im Rahmen juumldischer Hermeneutik Schrift legt Schrift aus Alle erweisen sich im religionsge-schichtlichen Vergleich als typisch jesuanisch

bull Einerseits gibt es im Judentum eine lebhafte Debatte aus didaktischen und theologischen Gruumlnden zu einer Hierarchie der Gebote zu gelangen In dieser Debatte ragt das Liebesgebot heraus Es gibt aber immer auch starke Kontro-versen uumlber die Richtigkeit und Guumlltigkeit solcher Elementarisierungen

bull Anderseits steht Jesus nicht gegen die Tora sonder erfuumlllt sie (vgl Mt 517-20) Dese Erfuumlllung hat eine spezifische Qualitaumlt diese Qualitaumlt bezeichnet das Liebesgebot das Jesus selbst praktiziert

Das Doppelgebot bricht nicht aus dem Gesetz aus sondern schlieszligt es auf

e Im fruumlhen Judentum gibt es keine direkte Parallele zum jesuanischen Doppelgebot Aber es gibt eine ganze Reihe von strukturaumlquivalenten Formulierungen sowohl im palaumlstinischen wie auch im hellenistischen Judentum Zum Teil sind sie direkt als Ge-bot einer doppelten Liebe zum Teil mit Varianten vor allem der Gottesfurcht gebil-det Diese Parallelen erhellen den juumldischen Kontext in dem das Doppelgebot steht Auffaumlllig ist in der Jesustradition zweierlei

1 die direkte Schriftzitation 2 der explizite Bezug zur Tora der reflektiert wird

Beides spiegelt die Programmatik der jesuanischen Position

f Die Struktur der Tradition leitet in jeder Variante von der Gottes- zur Naumlchstenliebe und bindet das Liebesgebot zusammen

bull Es gibt keine Gottesliebe ohne Naumlchstenliebe weil Gott den es zu lieben gilt nicht nur die Person liebt die lieben soll sondern auch diejenige die geliebt werden soll Diese Liebe Gottes als Basis ist im Doppelgebot nicht expliziert aber impliziert

o in der Einzigkeit Gottes so wie sie in der Bibel Israels und in der Jesus-tradition als Qualifikation des Schoumlpfers und Erhalters des Versoumlh-ners und Vollender entfaltet wird

o im Wort Agape das eo ipso von der Liebe Gottes gespeist wird Das Doppelgebot ist das beste Gegengift gegen Heuchelei

bull Es gibt keine Naumlchstenliebe ohne Gottesliebe ndash nicht weil es keine Ethik keine Menschlichkeit kein Mitleid und keine Solidaritaumlt ohne Gottesliebe gaumlbe (im Gegenteil) sondern weil die Naumlchstenliebe wie sie alt- und neutestamentlich expliziert wird den Naumlchsten als die von Gott geliebte Person liebt also Ein-stimmung in die Liebe Gottes ist die nur in der Liebe zu Gott explizit beant-wortet werden kann

bull Es gibt einen Primat der Gottes- vor der Naumlchstenliebe ndash nicht weil die Got-tes- wichtiger als die Naumlchstenliebe waumlre sondern weil Gott der Schoumlpfer all derer ist die lieben und geliebt werden sollen und sie alle zur Teilhabe an seiner Liebe fuumlhren will

Die Einheit der Gottes- und Naumlchstenliebe ist keine Identitaumlt sondern eine Spannung die ein hohes Energiefeld aufbaut

g Das Doppelgebot selbst enthaumllt keine Konkretion steht aber in den Evangelien die sich in die Tradition des Alten Testaments stellen und wird dadurch einerseits zum Kompass durch die Tora andererseits zum Katalysator von Aktualisierungen die pa-radigmatisch von Jesus angesprochen werden

Thomas Soumlding

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5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)

a Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter antwortet auf die wichtige Frage bdquoWer ist mein Naumlchsterldquo (Lk 1025-37)

bull Die Frage ist wichtig weil es um die Konkretionen der Liebe geht und Lev 1917f eine klare Antwort gibt Die Naumlchsten sind die Mit-Glieder des Gottes-volkes Hinzu treten die bdquoFremdenldquo (Lev 1934) die dauerhaft in Israel inte-griert sind nach der Septuaginta die Proselyten Die Konzentration auf diese Naumlchsten ist theologisch durch die gemeinsame Berufung des Volkes zur Hei-ligkeit begruumlndet Sie bewaumlhrt sich in Konflikten umfasst also de facto auch Feindesliebe

bull Die Frage wird von Jesus mit einer Geschichte beantwortet die auf provokan-te Weise einen Samariter zu einem Vorbild werden laumlsst Dass Jesus mit ei-nem Gleichnis antwortet setzt auf die argumentative Kraft einer Erzaumlhlung die nicht nur eine Welt vor Augen stellen sondern auch eine Sache klaumlren kann und zwar so dass Anteilnahme entsteht eine Verstrickung in die Ge-schichte durch Dramatik und Identifikation

Die Antwort auf die Frage wird nicht ohne ihre Umkehrung gegeben bdquoWer hellip ist zum Naumlchsten dessen geworden der unter die Raumluber gefallen istldquo (Lk 1036) Damit wird die Ausgangsfrage nicht desavouiert sondern konkretisiert Wer nach dem Naumlchsten fragt fragt auch nach sich selbst Und wer sich selbst von Naumlchsten umgeben weiszlig denen er verpflichtet ist muss selbst zum Naumlchsten derer werden wollen die auf Hilfe angewiesen sind

b Die Geschichte gehoumlrt zum Doppelgebot das bei Lukas (1025ff) wie bei Matthaumlus (2235-40) ein Streitgespraumlch ist waumlhrend es bei Markus ein Konsensgespraumlch ist (Mk 1228-34) Lukas hat es in die Zeit des oumlffentlichen Wirkens Jesu vorgezogen und kompositorisch konkretisiert

bull Mit einem bdquoGesetzeslehrerldquo trifft Jesus auf seinem Weg einen Experte fuumlr die Frage die er stellt

bull Das Doppelgebotsthema wird nicht nur durch das Samaritergleichnis sondern auch durch die Fortsetzung konkretisiert

o Die Beispielgeschichte Lk 1030-35 thematisiert das Tun (Lk 1037) o Die folgende Geschichte von Maria und Martha akzentuiert das Houmlren

(Lk 1038-42) o Die anschlieszligende Gebetslehre konkretisiert jene Gottesliebe die aus

dem Houmlren zum Sprechen fuumlhrt mit dem Vaterunser als Kern Durch die Komposition wird die Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe unter-strichen

Die Szenerie unterstreicht die Brisanz der Frage nach der Geltung des Gesetzes und erhoumlht damit den Stellenwert des Gleichnisses damit aber auch die Praumlgnanz des Samariterbildes Jesu

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c Der gesamte Text hat eine dialogische Struktur 1 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach dem Sinn des Lebens (Lk 1025) 2 Jesus fragt zuruumlck indem er auf das Gesetz verweist (1026) 3 Der Gesetzeslehrer zitiert das Doppelgebot (Lk 1027) 4 Jesus bestaumltigt und fordert zur Praxis (Lk 1028) 5 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach der Identitaumlt des Naumlchsten (Lk 1029) 6 Jesus fragt zuruumlck indem er das Gleichnis erzaumlhlt (Lk 1030-36) 7 Der Gesetzeslehrer gibt die richtige Antwort (Lk 1037a) 8 Jesus fordert zum Handeln (Lk 1037b)

Jesus agiert im sokratischen Stil Er laumlsst den Fragesteller selbst die Antwort finden ndash nicht irgendwo sondern im Gesetz und in seinem Gewissen Das spiegelt fuumlr Lukas die Uumlberlegenheit Jesu und die Menschlichkeit seiner Ethik

d Das Gleichnis arbeitet mit einem scharfen Kontrast bull Auf der einen Seite stehen der Priester und der Levit Repraumlsentanten des Ju-

dentums Sie muumlssten genau wissen was zu tun ist Sie haben wenn sie wie der Verletzte auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho sind auch keinen Grund sich aus kultischen Uumlberlegungen um sich nicht zu verunreinigen an einem vorbeizugehen von dem sie glauben dass er tot sei wenn sie auf dem Weg zuruumlck sind ist fuumlr die ggf erforderliche rituelle Reinigung genuumlgend Zeit

bull Auf der anderen Seite steht der Samariter dem man es am wenigsten zutrau-en wuumlrde dass er tut was recht ist Dessen Rolle wird aber von Jesus stark betont nicht nur durch den Kontrast sondern auch dadurch dass er weit uumlber die Erste Hilfe hinaus mehr als genug tut um dem Verletzten zu helfen Er selbst leistet den sprichwoumlrtlich gewordenen Samariterdienst und treibt ungewoumlhnlich intensive Vorsorge dass der Mann nachhaltig gesundet ndash nach allen Regeln der (damaligen) aumlrztlichen Kunst

Dieser Kontrast war den Menschen sowohl zur Zeit Jesu als auch zur Zeit des Evange-listen Lukas deutlich Lk 952-56 hat ihn frisch in Erinnerung gerufen

e Jesus laumlsst durch die Kunst seiner narrativen Argumentation dem Gesetzeslehrer keine Chance nicht von seiner Antwort uumlberzeugt zu werden die seinen eigenen mo-ralischen Standpunkt veraumlndert Alle Menschen die ein Herz im Leibe haben werden erkennen dass nicht der Priester nicht der Levit sondern ausgerechnet der feindli-che der bdquohaumlretischeldquo Samariter das einzig Richtige getan hat indem er dem unter die Raumluber gefallenen Menschen geholfen hat Das aber ist schon der erste Schritt in die Richtung die Jesus den Menschen zeigt damit sie Gott und den Naumlchsten neu entde-cken koumlnnen Wer aber nicht nur tatkraumlftig wie der Samariter hilft sondern als Jude weiszlig dass er ihn wegen seiner Naumlchstenliebe nachahmen sollte hat eine Grenze uumlberschritten die durch das Nahekommen der Basileia durchlaumlssig geworden ist Der Gesetzeslehrer versperrt sich dieser Lektion nicht Er ist deshalb ein positives Beispiel

Literatur Andregrave Lacoque Lhermeacuteneutique de Jeacutesus au sujet de la loi dans la Parabole du Bon Samari-

tain in Etudes theacuteologiques et religieuses 78 (2003) 25-46

Ruben Zimmermann Die Etho-Poietik des Samaritergleichnisses (Lk 1025-37) Eine Ethik des Schauens in einer Kultur des Wegschauens in Wort und Dienst 29 (2007) 51-69

Thomas Soumlding

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6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)

a Die fuumlnfte und sechste Antithese bilden bei Matthaumlus den Houmlhepunkt der Reihe die sich am Dekalog orientiert in der Feldrede bei Lukas markiert das Gebot der Feindes-liebe den Mittelpunkt der Ethik Die Feindesliebe bezeichnet in groumlszligter Konsequenz den Standpunkt der Moralitaumlt steht aber auch im Brennpunkt der Kritik

bull Ist Gewaltlosigkeit wuumlrdelos verantwortungslos kraftlos So Nietzsche14

bull Ist Feindesliebe unrealistisch So der gesunde Menschenverstand und das Ur-teil professioneller Politik

15 So auch der juumldische Einwand16 den zuletzt Jacob Neusner vorgetragen hat17

Die antithetische Form bei Matthaumlus zeigt das Potential der Kontroverse Es ist nicht das Ziel der Exegese sie aufzuloumlsen sondern sie auszuloumlsen

b Der Blick in die Synopse zeigt im Vergleich mit Lk 627-36 zweierlei bull Die antithetische Form ist ndash hier wie sonst ndash ein matthaumlisches Spezifikum Sie

dient der Profilierung der Ethik Jesu im Gegenuumlber zur Tora ndash unter dem Vor-zeichen der Erfuumlllung (Mt 517-20)

bull Bei Lukas ist Gewaltverzicht direkter Ausdruck der Feindesliebe Matthaumlus dif-ferenziert und kombiniert um zu akzentuieren

Die Synopse fordert bei der lukanischen Uumlberlieferungsform anzusetzen aber die matthaumlische Variante nicht als sekundaumlr abzutun sondern als Reflex jesuanischer Konkretionen in den Blick zu nehmen

c Das Gebot der Feindesliebe tradiert uumlber die Redenquelle (Q) ist Urgestein und Herzstuumlck der Ethik Jesu18

14 Also sprach Zarathustra III 21 (Werke VI1) bdquoIch sollte nur Feinde haben die zu hassen sind aber nicht Feinde zum Verachten ihr muumlsst stolz auf euren Feind sein (260)ldquo

Die Stellung in der matthaumlischen Bergpredigt und der luka-nischen Feldrede zeigt dass im Urchristentum diese zentrale Bedeutung gesehen und tradiert worden ist Paulus reflektiert sie in Roumlm 129-21 Auch im johanneischen Kon-zept der Bruderliebe ist sie vorausgesetzt

15 Max Weber Politik als Beruf (1919) in ders Gesammelte politische Schriften hg v J Winckelmann Tuumlbingen 31971 505-560 bdquoMit der Bergpredigt ist es eine ernstere Sache als die glauben die diese Gebote heute gern zitieren Wenn es in Konsequenz der akosmistischen Liebesethik heiszligt dem Uumlbel nicht widerstehen mit Gewaltlsquo ndash so gilt fuumlr den Politiker der Satz du sollst dem Uumlbel gewaltsam widerstehen sonst ndash bist du fuumlr seine Uumlberhandnahme verantwortlich (550f)ldquo 16 Der Jude Tryphon plaumldiert nach Justin dial 52 bdquoIch weiszlig auch dass eure Lehren die in dem sogenannten Evangelium stehen so erhaben und groszlig sind dass wie ich meine kein Mensch sie beobachten kannldquo 17 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 Neuausgabe Frei-burg - Basel - Wien 2007 (engl 1993) Neusner praumlzisiert Jesus maszlige sich das Recht Gottes an so zu sprechen wie es die Bergpredigt uumlberliefert 18 Th Soumlding Die Verkuumlndigung Jesu 570-583

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d Nach Lk 6 sind alle Houmlrer der Botschaft Jesu zur Feindesliebe gerufen In erster Linie sind es seine Juumlnger als stellvertretende Adressaten der Seligpreisungen und Weherufe (Lk 620-26) Lukas sieht die Kirche als Ort wo primaumlr die Feindesliebe ver-wirklicht sein will gerade auch gegenuumlber Nicht-Christen (und berichtet in der Apos-telgeschichte dass dies in der Urgemeinde auch geschehen sei) Nach Matthaumlus hat Jesus direkt seine Juumlnger angesprochen (Mt 51f) ndash aber so dass alles Volk (vgl 423ff) es houmlren und daruumlber staunen kann (Mt 728f) Die Pointe ist missionstheologisch Wenn die Juumlnger ausziehen alle Voumllker ihrerseits zu Juumlngern zu machen sollen sie nicht nur taufen sondern auch lehren bdquoalles zu haltenldquo was Jesus ihnen bdquogebotenldquo hat (Mt 2818ff)

d Die Feindschaften die Jesu Gebot anspricht sind so paradigmatisch ausgewaumlhlt und scharf zugespitzt dass prinzipiell jede denkbare Feindschaft im Blick stehen muss Es werden die empoumlrendsten Formen paradigmatisch konkretisiert

bull religioumlse Verfolgung (Lk 628 Mt 544) bull koumlrperliche Gewalt selbst wenn sie demuumltigen soll (Lk 628f Mt 539) bull wirtschaftliche Ausbeutung auch wenn sie sich den Anschein des Rechts gibt

(Mt 540) bull politisch-militaumlrische Unterdruumlckung auch wenn sie schier uumlbermaumlchtig

scheint (Mt 541) Jede denkbare Grenze der Feindesliebe wird uumlberschritten der Familie und Ver-wandtschaft des Freundeskreises der Glaubensgenossen der (mehr oder weniger) Guten der Angehoumlrigen des eigenen Volkes (vgl Lk 1025-37)

e Die Feindesliebe zeigt sich in den gleichfalls paradigmatischen Konkretisierungen bull als Fuumlrbitte fuumlr die Verfolger (Lk 628 par Mt 544) und Segnen der

Blasphemiker (Lk 628) ndash im Gegensatz zum Verfluchen und zur Bitte um ihre Vernichtung durch Gottes Strafgericht

bull als aktiver Gewaltverzicht gegenuumlber erlittener Uumlbermacht (Lk 629 Mt 538-42) ndash im Gegensatz dazu Unrecht mit gleicher Muumlnze heimzuzahlen

bull als selbstlose Unterstuumltzung der Armen auch wenn deren Bitten laumlstig faumlllt (Lk 630) ndash im Gegensatz zum Kalkuumll des do ut des

bull als engagierter Einsatz fuumlr das Gute (Lk 62733) ndash im Gegensatz zu einem Mitmachen wie zur Resignation

Feindesliebe ist nicht passiv sondern aktiv Sie kreiert eine neue Situation In diesen Konkretisierungen erhellt die Feindesliebe als radikalisierte Naumlchstenliebe (Lev 1917f) die im Kontext der Gottessliebe steht (Mk 1228-34 parr) Sie ist nicht das Einverstaumlndnis mit Unrecht Schuld und Schwaumlche schon gar nicht schwaumlchliches Hinnehmen von Unrecht sondern im Gegenteil starkes aber deshalb auch leidensfauml-higes Eintreten dafuumlr Boumlses durch Gutes zu uumlberwinden (Roumlm 1221)

Thomas Soumlding

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h Die Feindesliebe ist theologisch begruumlndet und motiviert bull Der theologische Grund ist das Handeln Gottes selbst der als Schoumlpfer und Er-

loumlser permanent Feindesliebe praktiziert (Lk 635 Mt 545 vgl Roumlm 55ff) o Mit dem Blick ins Buch der Natur zeigt Jesus nach Matthaumlus Gott als

den der auch den Boumlsen und Ungerechten das Leben schenkt weil er will dass sie leben (nicht weil er will oder toleriert dass sie Boumlses und Unrechtes tun)

o Der Vergleich mit dem aumlhnlichen Motiv bei Seneca der (nicht zu Feindesliebe aber) zu groszligmuumltiger Gelassenheit gegenuumlber Feinden mahnt macht den Unterschied deutlich denn nach ihm kann Gott nicht anders als die Unterstuumltzung der Boumlsen in Kauf zu nehmen wenn er den Guten helfen will ndash wofuumlr er sich entscheidet weil das Gute mehr wert ist als das Boumlse

bull Das theologische Motiv ist die Nachahmung Gottes die imitatio Dei (Lk 636 Mt 548) der die Verheiszligung ewigen Lebens gilt des bdquoLohnesldquo der in der Gotteskindschaft besteht

In dieser Theozentrik ist die Feindesliebe Zustimmung zu der Liebe mit der Gott auch die Ungerechten und Suumlnder liebt ndash ohne ihre Suumlnde gutzuheiszligen aber auch ohne ihnen wegen ihrer Schuld seine Zuwendung zu entziehen

i Das Gebot der Feindesliebe ist angewandte Christologie bull Einerseits ist es Jesus der das Gebot ndash nach Matthaumlus im Gegensatz zur herr-

schenden Auslegung des atl Liebesgebotes ndash der Feindesliebe aufstellt bull Andererseits ist es Jesus der das Gebot umfassend verwirklicht ndash vorbildlich

in seinem Leiden heilbringend in seiner Lebenshingabe aus reiner Liebe

f Das bdquoAuge um Auge Zahn um Zahnldquo (Ex 2124) begrenzt die Vergeltung das bdquoIch aber sage euchldquo aktiviert zur Versoumlhnung Das alttestamentliche Gebot der Naumlchstenliebe umfasst innerhalb Israels Feindesliebe (Lk 1917f) und weitet sie aus (Lev 1934) Das bdquoIch aber sage euchldquo setzt sich von einer Auslegung ab die aus Sorge um Gottes Gerechtigkeit die Grenzen der Erloumlsung zu eng zieht Dafuumlr gibt es Beispiele in Qumran Der originaumlre Bezug des Gebotes der Naumlchstenliebe auf das Volk Gottes wird nicht aufgegeben aber ausgeweitet

bull In der Juumlngerschaft ist ndash in Israel und uumlber Israel hinaus ndash der Ort an dem die Feindesliebe so praktiziert werden soll dass sie ausstrahlt (vgl Mt 513-16)

bull Zum Volk Gottes gehoumlren nicht nur die Juden und alle die an Jesus glauben Gott hat vielmehr Jesus (nach Matthaumlus wie nach Lukas) deshalb gesendet damit durch seinen Dienst am Heil der Menschen der reine Feindesliebe ist alle Voumllker zu seinem Volk werden Die Kirche repraumlsentiert und realisiert stellvertretend diese Heilsuniversalitaumlt Ihre Feindesliebe konkretisiert sie ethisch

Feindesliebe durchbricht das Prinzip der Vergeltung ohne das Prinzip der Gerechtig-keit aufzugeben Das ist nur deshalb sittlich erlaubt und geboten weil das Gebot in der Liebe Gottes selbst begruumlndet ist die sich in der Feindesliebe Jesu realisiert die ihrerseits der theologische Nerv seines Lebens und Sterbens zur Erloumlsung der Suumlnder ist

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j Das psychologische Problem das Sigmund Freud scharf markiert hat19

Das ethische Problem das Fjodor Dostojewksi (Die Bruumlder Karamasow) Iwan in den Mund legt lautet

besteht da-rin dass blinde Aggressionen entwickelt wer sich moralisch uumlberfordert Dieses Prob-lem laumlsst sich wohl nur spirituell loumlsen in der Nachfolge Jesu die auf seine Kraft setzt in den Nachfolgern das Gute zu tun

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k Das Problem der Erfuumlllbarkeit der Bergpredigt und speziell des Gebotes der Fein-desliebe bewegt Theologie und Kirche seit aumlltester Zeit Eine erhebliche Verschaumlrfung des Problems geschieht durch eine moderne Emotionalisierung der Feindesliebe Wird sie aber als Ausdruck der Agape verstanden begruumlndet sie ndash in der Nachfolge Jesu ndash eine Praxis des Glaubens aus der Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe Als solche kann sie durchaus eingeuumlbt ausgebildet und gefestigt werden Sie setzt die Suche nach dem besten Weg der Verwirklichung nicht aus sondern ein Sie entspricht aber darin der Gottebenbildlichkeit aller Menschen und der Gotteskindschaft der zu Erloumlsenden dass sie an der Unbedingtheit der Bejahung die Gott ihnen zuteilwerden laumlsst Anteil hat

dass Feindesliebe letztlich Kumpanei mit den Taumltern auf Kosten der Opfer sei Dieses Problem das haumlufig nicht gesehen wird laumlsst sich nur soteriolo-gisch loumlsen weil derjenige der selbst aus reiner Liebe die Schuld der anderen ertra-gen und vergeben hat das Reich Gottes als umfassende Vollendung von Gerechtig-keit Friede und Freude (Roumlm 1417) verwirklicht

19 Das Unbehagen in der Kultur in Gesammelte Werke 14 London 1948 419-506 468-475493-506 (Abschnitte V VIII) bdquoNachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte war die aumluszligerste Intoleranz des Christentums gegen die drauszligen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge gewordenldquo (374) 19 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 20 bdquoSchlieszliglich will ich auch gar nicht dass die Mutter den Peiniger umarmt der ihren Sohn von Hunden zerreiszligen lieszlig Sie darf sich nicht unterstehen ihm zu verzeihen Wenn sie will mag sie verzeihen soweit es sie selber angeht sie mag dem Peiniger ihr maszligloses Mutterleid ver-zeihen aber die Leiden ihres zerfleischten Kindes zu verzeihen hat sie kein Recht sie darf es nicht wagen dem Peiniger zu verzeihen auch wenn das Kind selber ihm verzieheldquo (Muumlnchen 1958 330f

Thomas Soumlding

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7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)

71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20) a Mit der Fuszligwaschung21

b Die Fuszligwaschung ist das Zeichen der Passion Ihr folgen Gespraumlche mit den Juumln-gern die zwar von Jesus gewaschen und gereinigt sind aber groumlszligte Schwierigkeiten haben zu verstehen was sich tut

beginnt der 2 Hauptteil des Johannesevangeliums Das oumlffentliche Wirken ist abgeschlossen Jesus konzentriert sich auf seine Juumlnger bevor er oumlffentlich hingerichtet werden wird Er bereitet sie auf seine Passion und seine Auferstehung vor die den Weg zu Gott bahnen werden

bull Auf die Fuszligwaschung folgt zuerst eine Trias unmittelbarer Konsequenzen o Judas wird als Verraumlter identifiziert und verlaumlsst den Juumlngerkreis (Joh

1321-30) o Die Juumlnger werden zur wechselseitigen Liebe gemahnt (Joh 1331-35) o Petrus wird seine Verleugnung vorhergesagt (Joh 1336ff)

bull Auf die Fuszligwaschung folgen ausfuumlhrliche Abschiedsworte (Joh 14-16) die in ein Abschiedsgebet muumlnden (Joh 17)

c Joh 131-20 ist uumlbersichtlich aufgebaut

Joh 131 Der Hintergrund Joh 132-5 Die Fuszligwaschung beim Mahl 132 Die Situation 133ff Die Handlung Jesu Joh 136-11 Das Gespraumlch mit Petrus 136 Der erste Einwand des Petrus 137 Die erste Antwort Jesu 138a Der zweite Einwand des Petrus 138b Die zweite Antwort Jesu 139 Der dritte Einwand des Petrus 1310 Die dritte Antwort Jesu 1311 Kommentar des Evangelisten Joh 1312-20 Die Deutung vor allen Juumlngern 1312-17 Die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu 1318f Die Ansage eines Verrates 1320 Die Juumlnger als Apostel

21 Vgl Luise Abramowski Die Geschichte von der Fuszligwaschung in Zeitschrift fuumlr Theologie und Kirche 102 (2005) 176-203

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d Die Exegese diskutiert in welchem Verhaumlltnis die beiden Deutungen zu einander stehen Die erste ist soteriologisch die zweite ethisch ausgerichtet

bull Recht oft wird aus der Doppelung auf ein literarisches Wachstum des Textes geschlossen

o Moumlglichkeit 1 Die soteriologische Deutung ist die aumlltere die paraumlnetische die se-kundaumlre22

o Moumlglichkeit 2 Die ethische Deutung ist urspruumlnglich die soteriologisch nachtraumlglich zwischengeschoben

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Beide Ansaumltze sind von weitereichenden Voraussetzung zur relativen Chrono-logie des Corpus Johanneum gepraumlgt

o Wer den Ersten Johannesbrief fuumlr aumllter erachtet wird die ethische Deutung fuumlr urspruumlnglich halten

o Wer das Evangelium fuumlr aumllter erachtet wird eher die soteriologische Deutung als originaumlr einschaumltzen

Die ethische Deutung wird dann fuumlr sekundaumlr zu erachten wenn man zu dem Urteil gelangt die johanneische Theologie sei urspruumlnglich wenig konkret und eher spirituell ausgerichtet waumlhrend erst sekundaumlr Johannes gesamtkirchlich eingenordet worden sei Beide Ansaumltze gehen von einem literarischen Schichtenmodell aus das der Ei-genart johanneischer Literatur in den Evangelienerzaumlhlungen nicht angemes-sen ist Beide werden durch das Modell einer bdquorelectureldquo gemildert das ndash aumlhnlich wie in der Prophetenexegese des Alten Testaments ndash mit einer Fortschreibung der Texte rechnet aber sie zugleich als vergegenwaumlrtigende Aneignung des vor-gegebenen Textes versteht24

bull Es mehren sich wieder die Stimmen die Joh 13 als literarisch einheitlich anse-hen

Allerdings stoumlszligt dieses Modell auf die Schwie-rigkeit dass das Liebesgebot das die ethische Deutung vorbereitet in Joh 1331-35 dominant ist und nicht nur in Joh 15-16 ausgefuumlhrt sondern auch in Joh 1421 angebahnt wird

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Die Doppelung erklaumlrt sich aus der Theologie der Liebe Sie hat eine Innenseite die Liebe Jesu zu sein Seinen in der sich nach Joh 1421 die Liebe das Vaters zum Sohn ereignet und sie hat eine Auszligenseite die sich nach Joh 1331-35 und Joh 15 in der Bruderliebe der Juumlnger erweist von der die Welt angezogen werden wird (Joh 17)

Allerdings braucht es eine Erklaumlrung fuumlr die Deutung Eine moumlgliche Er-klaumlrung waumlre der Adressatenwechsel aber die Petrusszene spielt sich vor den Augen und Ohren aller ab

22 So Rudolf Schnackenburg Joh III passim 23 So Udo Schnelle Joh 237 Er will eine Ursprungsform (132a4512ab162017) die recht nahe bei Lk 22 und der Mahnung der Juumlnger zum Dienen steht zuerst in der johanneischen Schule (der er den Ersten Johannesbrief mit seiner Theologie der Liebe zurechnet) um die Vorbildethik erweitert sehen (1312c13-15) bevor der Evangelist selbst von der Einleitung an (131) konsequent seine soteriologische Deutung ins Fundament der Geschichte eingebaut habe (136-10ab) 24 So Jean Zumstein Joh 25 So Hartwig Thyen Joh

Thomas Soumlding

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711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus a Die Liebe Jesu zu den Seinen (Joh 131) verwirklicht die Liebe Gottes zur Welt (Joh 316) die von der Liebe des Vaters zum Sohn getragen wird (Joh 335 1017) Es ist die nach der Zwischennotiz von Jesu Freundschaft mit Martha Maria und Lazarus (Joh 115) erste Betonung der Agape Jesu von der spaumlter das Liebesgebot Joh 1334 und die Verheiszligung dauernden Beistandes der Juumlnger gedeckt ist (Joh 1421-31)

b In der Liebe Jesu zu den Seinen verbindet sich die Liebe Gottes zur Welt mit der Liebe Jesu zu seinen Freunden (Joh 15) Es ist eine unbedingte Bejahung und Wert-schaumltzung die auf Sympathie beruht und lebendig macht

c Die Liebe erweist Jesus den bdquoSeinenldquo bull Im Ruumlckraum steht Joh 19-13 dass die bdquoSeinenldquo den Logos abgelehnt haben

ndash bis auf diejenigen die an seinen Namen glauben und deshalb das Recht der Gotteskindschaft erhalten

bull Die bdquoSeinenldquo sind die Juumlnger die sich von Jesus in die Nachfolge haben rufen lassen (Joh 135-51) und in der galilaumlischen Krise Jesus nicht verlassen haben (Joh 660-71) Sie haben ihrerseits schwere Glaubensprobleme ndash aber werden sie durch Jesus uumlberwinden

bull In Joh 14 und Joh 17 wird erklaumlrt werden dass die Liebe Jesu zu den Seinen ndash wie die zum Lieblingsjuumlnger ndash nicht exklusiv sondern positiv zu verstehen ist

Dass Jesus den Seinen die Liebe bdquobis zum Endeldquo erweist verweist auf den Tod Jesu Das griechische Wort ist mehrdeutig teloj kann bdquoEndeldquo aber auch bdquoZielldquo bedeuten Beide Bedeutungen schwingen mit

bull Der Tod Jesu ist das definitive Ende seiner geschichtlichen Sendung das zu akzeptieren wird den Juumlngern ungeheuer schwer fallen

bull Der Tod Jesu ist das Ziel seines Wirkens insofern es seine Liebe und Hingabe definitiv werden laumlsst

Der Korrespondenzsatz ist das Todeswort Jesu Joh 1930 bull Es ist ein Gebet wie nach allen Synoptikern (Mk 1534 par Mt 2746 bdquoGott

mein Gott warum hast du mich verlassenldquo ndash Ps 222 Lk 2346 bdquoVater in deine Haumlnde gebe ich meinen Geistldquo ndash Ps 316) aber als letztes Offenba-rungswort an die Welt

bull Die traditionelle Uumlbersetzung lautet bdquoEs ist vollbrachtldquo Man kann aber auch sagen bdquovollendetldquo (Muumlnchner Neues Testament Bible de Jerusaleme bdquoCest acheveacuteldquo) oder bdquozu Endeldquo (King James Bible bdquoIt is finishedldquo)

Eine moumlgliche auf Joh 131 abgestimmte Uumlbersetzung waumlre (wie im Muumlnchener Neu-en Testament) bdquoEs ist vollendetldquo (tetelestai)

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712 Die Fuszligwaschung a Jemandem vor dem Mahl die Fuumlszlige zu waschen ist ein Dienst den traditioneller-weise Sklaven ihren Herren erweisen (vgl 1Sam 2541)26

Joh 1313f zeigt dass die sozialen Dimensionen der Fuszligwaschung klar vor Augen stehen der Gesamttext dass der Ritus sakramental gefuumlllt wird

Das Waschen der Fuumlszlige ist ein Ritus der Vorbereitung der eine koumlrperliche Wohltat mit einer Geste der Houmlflich-keit verbindet die Anerkennung und Ehrerbietung meint (Gen 184 vgl Lk 744) und zudem mit einer rituellen Bedeutung versieht die einen Uumlbergang gestaltet von drauszligen nach drinnen vom Alltag zum Fest vom Profanen zum Heiligen

7121 Die soteriologische Deutung a Im Gespraumlch mit Petrus wird die Bedeutung der Fuszligwaschung soteriologisch gedeu-tet Sie ist eine bdquoReinigungldquo ndash nicht wie in der Taufe sondern wie in der Buszlige Petrus braucht keine Wiederholung der Wiedergeburt die er als glaumlubig gewordener Taumluferjuumlnger erlebt hat aber er bedarf mehr als andere der Vergebung weil er ndash ent-gegen seinem Vorsatz ndash Jesus verleugnet Waumlhrend er sagt fuumlr Jesus sterben zu wol-len muss gerade fuumlr ihn Jesus sterben

b Petrus erkennt nach Joh 136 das Unmoumlgliche der Situation dass der Herr ihm ei-nen Sklavendienst leistet Er wehrt diesen Dienst doppelt ab (Joh 1368a) ndash so wie er nach Joh 1336ff nicht will dass Jesus fuumlr ihn sein Leben einsetzt In diesem Nein kommt eine Liebe zu Jesus zum Ausdruck die bestimmen will Gleichzeitig aber ist das Nein auch Ausdruck des Missverstaumlndnisses dass Petrus der Diakonie Jesu womoumlglich gar nicht bedarf Petrus verschaumlrft seinen Widerspruch der aus Unverstaumlndnis stammt indem er dann ganz gewaschen werden will (Joh 139) ndash womit er aber seine Berufung leugnet

c Jesus deckt das Missverstaumlndnis des Petrus auf Die Fuszligwaschung steht nicht am Anfang sondern an einer Biegung des Weges mit Jesus Die Weg-Gemeinschaft ist darin begruumlndet dass Jesus sich in seinen Dienst stellt Dem muss entsprechen dass Petrus sich den Dienst gefallen laumlsst Er muss Jesus so nahe wie in der Fuszligwaschung an sich heranlassen Er muss den Rollentausch akzeptieren Die Langversion von Vers 10 die durch den Codex Vaticanus gedeckt und als lectio difficilior gesichert ist entspricht dem Kontext

bull Im Bild Auch nach dem Vollbad macht man sich wieder die Fuumlszlige schmutzig Man laumlsst sie sich waschen damit auch sie sauber sind man laumlsst nur sie waschen weil der sonstige Koumlrper gereinigt ist

bull In der Sache Wer durch das Bad der Wiedergeburt die Taufe bdquoganz reinldquo geworden ist muss diese Reinheit aber durch seine Schuld verloren hat muss sich die Fuumlszlige waschen lassen um durch Jesus zu Gott zu gelangen Dem entspricht am ehesten eine Deutung auf die Buszlige wie sie orthodoxen Vaumlter favorisieren

26 Hellenistische Parallelen Neuer Wettstein I2 636-644

Thomas Soumlding

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7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
    • Kontakt
      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
        • Markusevangelium
        • Lukasevangelium
        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 8: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

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b Die katechetischen und didaktischen Fragen stellen sich auch im Verstaumlndnis bibli-scher Texte die aus der Vergangenheit reden aber darin auf die geschichtlichen Ur-spruumlnge des Glaubens wie der Kirche weisen und den Kanon heiszligt die Richtschnur christlicher Lehre und glaumlubigen Lebens spannen Entscheidend ist die Vergegenwaumlr-tigung

bull Wer ist zur Naumlchstenliebe gerufen Die Konkretion ist wesentlich weil das bdquowie dich selbstldquo zum Liebesgebot ge-houmlrt und damit das bdquoIchldquo des Menschen der das Gebot houmlrt in Rede steht Deshalb geraten die jeweils gegenwaumlrtigen Adressaten zentral in den Blick ihr Ich-Bild ihr Gottes-Bild und ihr Du-Bild Diese anthropologische Konkretisie-rung spiegelt auf die Exegese zuruumlck

bull Wie laumlsst sich die Naumlchstenliebe leben Die exegetischen Klaumlrungen zum Begriff des Naumlchsten (des Freundes des Feindes der Schwester und des Bruders) wie der Agape spitzen die Frage zu auf welchen Feldern und in welchen Formen die Naumlchstenliebe heute und jetzt gefragt ist Das Liebesgebot ist grundsaumltzlich Also ist es auf kreative Konkretisierungen hin angelegt Die katechetische und didaktische Vermitt-lung ist mithin aktive Exegese ndash und laumlsst auch im Ruumlckblick nach Konkretionen fragen Die Forderung der Naumlchstenliebe nimmt das Problem von Handlungskonkur-renzen und Entscheidungsnotwendigkeiten ernst und fordert zu klaren Optio-nen auf ndashdie jeweils heute getroffen werden muumlssen

bull Wer fordert die Naumlchstenliebe Ist Naumlchstenliebe selbstverstaumlndlich und deshalb ein Gebot Gottes Oder ist sie ein Gebot Gottes weil sie menschlich aber nicht selbstverstaumlndlich ist Die Exegese identifiziert (auf der Basis des kanonischen Textes) Moses und Je-sus als Gesetzgeber im Namen Gottes Die Autoritaumltsfrage stellt sich heute dramatisch neu weil die Bibel vermittelte Autoritaumlt ist und der menschliche Faktor bei ihrer Entstehung Uumlbermittlung und Erklaumlrung essentiell Die Exe-gese klaumlrt dies auf und wehrt dadurch jedem Fundamentalismus wird aber auch durch die Vergegenwaumlrtigungen zu kritischer Differenzierung angeleitet

Literatur zur Vertiefung CS Lewis The four loves London 1960 Deutsch Was man Liebe nennt Zuneigung Freund-

schaft Eros Agape Gieszligen 72004

Thomas Soumlding

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2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)

a Das Gebot der Naumlchstenliebe steht im Kern des Heiligkeitsgesetzes (Lev 17-26) Lev 19 Dieses Gesetz das zu den aumlltesten Textcorpora der Tora gehoumlrt ist von der imitatio Dei gepraumlgt (Lev 191) Gottes Heiligkeit an der Israel sich ausrichten soll ist der Glanz seiner Praumlsenz die Aura seiner Potenz das Strahlen seiner Transzendenz Israels Heiligkeit ist seine Zuwendung zu Gott und seinem Gesetz seine Abwendung von den Goumltzen und dem Unrecht Gottes Heiligkeit fuumlhrt nicht zu religioumlsen Berser-kern die im Namen des Einen alles andere vernichten sondern zu Menschen die lieben koumlnnen

b Das Heiligkeitsgesetz1

Das Liebesgebot ragt aus den ethischen Weisungen heraus Es bildet den kroumlnenden Abschluss einer Reihe sozial engagierter Gebote (Lev 1911-18) die allesamt negativ formuliert sind waumlhrend das Liebesgebot positiv formuliert wird In Lev 1934 findet es ein Echo mit der Ausweitung auf die Fremden als Schlusspointe des Heiligkeitsethos

umfasst einen bunten Strauszlig kultischer und sozialer Gebote Ihr innerer Zusammenhang wird dadurch gestiftet dass Heiligkeit sowohl das Gottes-verhaumlltnis als auch das Verhaumlltnis zum Naumlchsten praumlgt

c Durch die Forderung den Naumlchsten zu lieben geschieht die notwendige Konzentra-tion Der bdquoNaumlchsteldquo dem die Liebe gelten soll ist nicht einfach wer einem mehr oder weniger zufaumlllig begegnet2 sondern nach dem genauen Wortlaut der bdquoBruderldquo der bdquoStammesgenosseldquo das bdquoKindldquo des eigenen Volkes (Lev 1917f)3

Die Beispiele zeigen aber auch dass die Naumlchstenliebe von Anfang an faktisch Fein-desliebe ist Denn durchweg geht es um erlittenes Unrecht begangene Fehler ge-schehene Suumlnden Das Liebesgebot bahnt einen Ausweg aus der verfahrenen Situati-on Es nimmt den moralisch in die Pflicht dem Unrecht widerfahren ist Das Opfer soll aktiv werden um einen neuen Anfang zu setzen ndash nicht um die Taumlter zu entlasten sondern um ihnen zu helfen aus ihrer Schuld herauszukommen Dem entspricht ein offensives Verstaumlndnis von Heiligkeit Sie strahlt aus und zieht an

Das entspricht dem Kontext des Heiligkeitsgesetzes das von der Erwaumlhlung und Verpflichtung Israels handelt Es ist die Gemeinschaft des von Gott geliebten Volkes die durch Naumlchsten-liebe lebendig werden soll Wuumlrden die Grenzen verschwinden staumlnde die Naumlchsten-liebe in der Gefahr sich in unverbindliche Fernstenliebe aufzuloumlsen und den Kontakt zu Gott zu verlieren der sich seines Volkes erbarmt Durch die Konzentration auf die Naumlchsten des Gottesvolkes gewinnt die Zugehoumlrigkeit zu Israel Kontur die Heiligkeit wird konkret Die in Lev 1917f beschriebenen Beispiele setzen durchweg Nahbezie-hungen voraus

1 Vgl (klassisch historisch-kritisch) Klaus Gruumlnwaldt Das Heiligkeitsgesetz Levitkus 17-26 Ge-stalt Tradition und Theologie (BZAW 271) Berlin 1999 2 So jedoch Martin Buber Zwei Glaubensweisen (1950) in ders Werke I Muumlnchen - Heidel-berg 1962 651-782 701f bdquoSei liebreich zugewandt den Menschen mit denen du je und je auf den Wegen deines Lebens zu schaffen bekommst 3 Vgl Hans-Peter Mathys Liebe deinen Naumlchsten wie dich selbst

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d Die Konzentration der Naumlchstenliebe begruumlndet keine Doppelmoral sie ist positiv nicht exklusiv verstanden Das zeigt die Ausweitung auf die bdquoFremdenldquo mit derselben Maszligeinheit bdquowie dich selbstldquo Die Begruumlndung bdquodenn ihr seid selbst Fremde in Aumlgyp-ten gewesenldquo (Lev 1933f) erhellt eine uumlberraschende weil verdraumlngte Naumlhe Israel kann und soll das Leben der bdquoFremdenldquo nachfuumlhlen und sich ihnen in gleicher Weise wie den Mitgliedern des eigenen Volkes ndash bdquowie dich selbstldquo ndash zuwenden Die bdquoFremdenldquo sind in der Rechtssprache der Tora Nicht-Juden die dauerhaft im Hei-ligen Land leben Sie sind Buumlrger zweiter Klasse in Israel ndash wie einst Israel in Aumlgypten Desto wichtiger ist das Liebesgebot Die Septuaginta (LXX) uumlbersetzt mit bdquoProselytldquo um die Situation der Diaspora zu beruumlcksichtigen und den zuweilen prekaumlren Status der Konvertiten zum Judentum zu verbessern Im woumlrtlichen Sinn sind die bdquoProsely-tenldquo diejenigen die von auszligen hinzukommen insofern waren fuumlr die griechischen Uumlbersetzer die Israeliten in Aumlgypten bdquoProselytenldquo Wer nur auf der Durchreise ist ist keineswegs rechtlos er genieszligt Gastrecht und Gastfreundschaft4

Die Direktheit und Nachhaltigkeit des Liebesgebotes wird durch die Ausweitung un-terstrichen

deren Heiligkeit aumllter ist als das geschriebene Gesetz

e Das Liebesgebot wird zwar an anderen Stellen des Alten Testament (lange) nicht zitiert gehoumlrt aber in ein Feld aumlhnlicher ethischer Weisungen Es ist beeinflusst und es hat beeinflusst5

f Eine solche Liebe ist nicht storgeacute weil das Volk Gottes die natuumlrlichen Familienban-de uumlberschreitet wiewohl Israel oft genealogisch verstanden wird Sie ist nicht Freundschaft weil die Beziehung die sie kultiviert nicht freiwillig gewaumlhlt und gestal-tet sondern von Gott vorgegeben ist Diese Liebe kann nicht im Eros aufgehen weil sie weniger das Hingerissensein von anderen als die Weggemeinschaft mit ihnen kul-tiviert sie ist Agape weil sie von Gott kommt auch wenn im Kontext nicht expressis verbis von Gottes Liebe die Rede ist Unleugbar aber ist es Liebe zu vergeben und Rachegeluumlsten nicht nachzugeben sondern am Aufbau einer Friedensbeziehung zu arbeiten Nicht das Begehren sondern die Sympathie ist der Motor der Agape Aber sie begehrt verstanden und angenommen zu werden Getragen ist sie von der heili-gen Liebe Gottes ndash und zwar nicht nur weil allein Gott die Kraft geben kann den ers-ten Schritt der Versoumlhnung zu tun sondern weil Gott diejenigen die auf sein Wort houmlren sollen erst zu Houmlrern des Wortes macht und sie in sein Volk hineinstellt das er sich erwaumlhlt hat

Ex 244f ist ein gutes Beispiel fuumlr angewandte Feindes- Dtn 221-4fuumlr aktive Bruderliebe

4 Vgl Helga Rusche Gastfreundschaft im Alten Testament im Spaumltjudentum und in den Evan-gelien in ZMRW 41 (1957) 170-188 5 Vgl Gianni Barbiero ElAsino dell Nemico Rinuncia alla vendetta e amore dell nemico nella legislatione dellAntico Testamento (Es 234-5 Dt 221-4 Lv 1917-18) (AnBib 128) Rom 1991

Thomas Soumlding

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3 Das Liebesgebot im Judentum

a In den alttestamentlichen Spaumltschriften steigt die Bedeutung des Liebesgebotes bull Die Semantik der Septuaginta (mit der Agape als Zentrum) staumlrkt den theolo-

gischen Grundzug durch die explizit gewordene Verbindung mit der Liebe Gottes und der Liebe zu Gott

bull Nach Tob 413 soll die Naumlchstenliebe als Bruderliebe die juumldische Kommunitaumlt in der Diaspora aber auch im Heiligen Land staumlrken deshalb ist das Liebesge-bot mit der Warnung vor einer Mischehe verbunden

bull Nach Jesus Sirach6

o als Liebe zum Sklaven der aufgrund seiner Treue und Bildung als Partner anerkannt werden soll (Sir 721)

wird das Gebot der Naumlchstenliebe in verschiedenen sozia-len Kontexten konkretisiert

o als Konstituierung einer ethischen Maxime die auf die Goldene Regel zulaumluft (Sir 3115)

o als Schaumlrfung des Gewissens fuumlr den caritativen Einsatz fuumlr Arme (Sir 3423-27)

Die Konkretisierungen passen in das Schema weisheitlicher Ethik das im Neu-en Testament auch der Jakobusbrief ausfuumlllt

Die Steigerung der Bedeutung erklaumlrt sich aus zwei Gruumlnden bull einer Personalisierung der Ethik bull und einer Vermittlung juumldischer Ethik die auf Elementarisierung setzt

Die Bedeutungssteigerung erhoumlht die Attraktivitaumlt der juumldischen Ethik in der antiken Welt

6 Vgl Th Soumlding Naumlchstenliebe bei Jesus Sirach

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b Aus der Septuaginta erklaumlrt sich die hohe Aufmerksamkeit fuumlr das Liebesgebot im hellenistischen Judentum Die Testamente der Zwoumllf Patriarchen7 reden haumlufig im ethischen Sinn von Liebe8 nahezu durchweg in der Form direkter oder indirekter Aufforderungen Die TestXII sind eine griechisch uumlberlieferte im 2 Jh von christlicher Hand redigierte aber dem wesentlichen Textbestand nach urspruumlnglich juumldische Schrift deren Wurzeln bis in das 2 Jh v Chr reichen koumlnnen Die Testamente nehmen Gen 49 auf und lassen die 12 Soumlhne Jakobs ihrerseits Abschiedsreden halten9

Lev 1918 wird zwar nicht explizit zitiert aber an vielen Stellen angespielt und durch-weg aktualisiert

Sie arbeiten das Problem der Diaspo-ra auf die als Zerstreuung gesehen und als Strafe Gottes gedeutet wird In dieser Si-tuation kommt es auf den inneren Zusammenhalt der Juden an der nach den Patriarchentestamenten nicht nur rituell sondern auch ethisch begruumlndet werden soll

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7 Aumlltere Standardausgabe RH Charles The Greek Versions of the Testaments of the Twelve Patriarchs Oxford 1908 Nachdruck Darmstadt 1960 Neuere Edition Mde Jonge - HW Hollander - Hde Jonge - Th Korteweg The Testaments of the Twelve Patriarchs A Critical Edition of the Greek Text (PVTG I2) Leiden 1978 Die aramaumlische Version des TestLevi enthaumllt kein Liebesgebot Deutsche Uumlbersetzung J Becker Die Testamente der zwoumllf Patriarchen in JSHRZ III1 (21980)

Es zeigen sich Rezeptionslinien die im Bedeutungsfeld von Lev 1917f bleiben (vgl TestGad 43-8) die Explikation der Heiligkeit daumlmpfen aber den Bezug auf die Nachbarschaften im Gottesvolk Israel nicht aufgeben sondern unter den Bedingungen der Diaspora konkretisieren Nur in TestIss 76 (bdquohellip jeden Menschen hellipldquo) ist eine universalistische Deutung moumlglich

8 Vgl TestRub 69 Sim 447 Iss 52 76 Seb 85 Dan 53 Gad 42(6)7 613 77 Jos 1723 Benj 33ff 435 81 vgl auch Ass 24 Gad 33 (uumlber den Hasser) 46 Jos 175 Benj 82 (uumlber das Verhaumlltnis des Mannes zur Frau) Gad 15 (uumlber Jakobs Vaterliebe zu Joseph) 9 Vgl Th Soumlding Solidaritaumlt in der Diaspora M Konradt Menschen- und Bruderliebe 10 Ganz deutlich ist Gad 42 Dan 51 bezieht sich direkt auf das Gebot und Gesetz (vgl Iss 51) des Herrn und hat dabei augenscheinlich auch Lev 1918 vor Augen Fuumlr den Einfluss des Lie-besgebots sprechen uumlberdies die Formulierungen von Benj 334 Rub 69b bezieht die Liebe zwar direkt auf den Bruder hat aber im parallelen Teilvers 6a den Naumlchsten aumlhnlich liegt der Fall in Dan 52a3b und Gad 61

Thomas Soumlding

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c Auch Schriften die tiefer in Palaumlstina wurzeln nehmen das Liebesgebot auf Das Buch der Jubilaumlen11

11 Die Originalsprache ist hebraumlisch zu den einschlaumlgigen Qumran-Fragmenten vgl JC VanderKam Textual and Historical Studies in the Book of Jubilees (HSM 14) Missoula 1977 Die davon abhaumlngige griechische Uumlbersetzung ist bruchstuumlckhaft erhalten vgl A-M Denis Fragmenta Pseudepigraphorum quae supersunt Graeca una cum Historicorum et auctorum Iudaeorum Hellenistarum Fragmentis collegit et ordinavit (PVTG 3) Leiden 1970 70-102 Die auf der griechischen Uumlbersetzung fuszligende aumlthiopische Fassung die in den gemeinsam uumlberlie-ferten Partien der Qumran-Version sehr genau entspricht hat ediert RH Charles Mashafa Kufacirclecirc or the Ethiopic Version of the Hebrew Book of Jubilees (Anecdota Oxoniensia) Oxford 1895 Deutsche Uumlbersetzung Klaus Berger Das Buch der Jubilaumlen in JSHRZ II3 (1981)

im 2 Jh vor Chr geschrieben protestiert gegen die Korrup-tion des Makkabaumlerstaates es tritt mit dem Anspruch auf Mose auf dem Sinai offen-bart worden zu sein (Jub 11-29) es will einem Israel das einer schleichenden Hellenisierung verfaumlllt neue Identitaumlt verleihen indem es den Blick auf die normative Anfangszeit die Zeit der Vaumlter und des Mose lenkt und von ihr her eine authentische Halacha entwickelt die es erst ermoumlglicht gerecht zu leben (Jub 2326-31) Zum his-torischen Paradigma wird der Bruderstreit zwischen Jakob und Esau (Jub 3420 - 392a) Das Liebesgebot ndash Lev 1918 wird nicht direkt aber indirekt zitiert ndash hat eine qualitativ groszlige Bedeutung weil es uumlber die Klaumlrung halachischer Fragen hinaus den Geist wie die Praxis des Zusammenhaltes schaumlrft allerdings nicht allein oder als Krouml-nung sondern im konstitutiven Verbund mit anderen ethischen Prinzipien wie Ge-rechtigkeit Die Verzeihung die Joseph den Bruumldern gewaumlhrt macht ihn zum ethi-schen Vorbild dem es nachzueifern gilt Die Pflicht zur Liebe endet aber dort wo es sich nicht mehr nur um persoumlnliche Gegnerschaft sondern um Konflikte mit Frevlern handelt die dem Gebot Gottes grundlegend zuwiderhandeln Eine universalistische Ausweitung der Bruderliebe fasst Jub 202 ins Auge Zwar bezieht sich das Liebesge-bot direkt nur auf die herbeigerufenen Kinder und Enkel Abrahams aber unter ihnen finden sich namentlich genannt auch Ismael mit seinen zwoumllf Kindern und die Kinder der Ketura mit ihren Soumlhnen (Jub 201) Dadurch wird bereits der juumldische Rahmen gesprengt Uumlberdies baut die Formulierung eine Verbindung zwischen Bruderliebe und Menschenliebe auf Im ethischen Nahbereich koumlnnen auch Nicht-Juden Naumlchste werden

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d Die Schriften aus Qumran12 enthalten in zwei Corpora bedeutende Zeugnisse einer Naumlchstenliebe die sich innerjuumldisch aus dem Konflikt mit Frevlern als Gegenstuumlck zum Feindeshass erklaumlrt13

bull Die Gemeinderegel (1QS vgl 1QSa) beschreibt das Zusammenleben einer juuml-dischen Reformbewegung die sich in striktem Gegensatz nicht nur zu den Heiden sondern auch zu den Priestern in Jerusalem als wahres Israel konsti-tuieren abseits vom Tempel Die Forschung diskutiert die Beziehung zu den Esseacutenern uumlber die Philo von Alexandrien (15 v Chr - 40 n Chr ) in seiner Schrift uumlber die Freiheit des Tuumlchtigen (Quod omnis probus liber sit 72-91) der juumldische Historiker Flavius Josephus (3738 - 100 n Chr) in seinen Buuml-chern uumlber den juumldischen Krieg (De bello Judaico 2 119-161) und die Ge-schichte Israels (Antiquitates Judaicae 181118-22) sowie der roumlmische Ge-lehrte Plinius der Aumlltere (23-79 nChr) in seiner Naturgeschichte (Naturalis historia 573) berichten

Fuumlr die Gemeinderegel ist ein religioumlser Dualismus zwischen den bdquoSoumlhnen des Lichtesldquo und den bdquoSoumlhnen der Finsternisldquo wesentlich Er entsteht durch den Frevel derjenigen die das Heilige wahren sollen er wird von Gott sanktio-niert Entscheidend ist in einem aufwendigen Konversionsverfahren den Weg aus der massa damnata in Israel zur Kommunitaumlt der Frommen zu finden um so der Gnade der Rechtfertigung teilhaftig zu werden Die Zugehoumlrigkeit zur Gemeinschaft zeigt sich im Ritus und im Ethos Das Ethos ist durch Naumlchstenliebe strukturiert (1QS 13f9ff 224 5425 82 91621 1026) Sie ist im Kern Zustimmung zu der Erwaumlhlung und Vergebung die dem Mitbruder wie der eigenen Person zuteil geworden ist Deshalb ent-spricht der Naumlchstenliebe der Feindeshass Er ist im Kern Ablehnung und Dis-tanzierung die aber gerade nicht durch Gewalt sondern durch strikte Gewalt-losigkeit strukturiert wird damit das Gesetz des Handelns nicht von den Frev-lern sondern den Gerechten bestimmt wird (1QS 1017f)

bull Die Hymnenrolle (1QH) sammelt Psalmen die den Kampf der Guten gegen die Boumlsen der Gerechten gegen die Ungerechten verherrlichen Die Sprache ist militaumlrisch der Stil metaphorisch Die Spiritualitaumlt passt zur Ekklesiologie und Ethik der Gemeinderegel aber welchen genauen Bezug es gibt ist in der Qumran-Forschung strittig Entscheidend ist Gott fuumlr die eigene Erwaumlhlung zu preisen Das dankbare Gotteslob spiegelt sich in der Abscheu vor dem und den Boumlsen Liebe ist Zu-stimmung zur Liebe Gottes Hass Zustimmung zum Hass Gottes (1QH 142-8)

Die beiden Corpora stammen aus vorchristlicher Zeit Sie dokumentieren die Zerris-senheit des Judentums in Palaumlstina aber auch den Reformeifer derer die ein heiliges Israel erneuen wollen 12 Deutsche Uumlbersetzungen E Lohse Die Texte aus Qumran Hebraumlisch und Deutsch Muumln-chen 21971 K Schubert - J Maier Die Qumran-Essener Texte der Schriftrollen und Lebensbild der Gemeinde (UTB 224) Muumlnchen - Basel 1982 143-312 Zur Tempelrolle vgl die Ausgabe von Y Yadin Megillat ham-Miqdas The Temple Scroll (Hebrew Edition) Bde I-IIIa Jerusalem 1977 deutsche Uumlbersetzung J Maier Die Tempelrolle vom Toten Meer (UTB 829) Muumlnchen - Basel 1977 13 Vgl Th Soumlding Feindeshass und Bruderliebe

Thomas Soumlding

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4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)

a Das Doppelgebot der Naumlchstenliebe uumlberliefert das Neue Testament bei den Synop-tikern in drei Fassungen

bull Markus erzaumlhlt von einem Konsensgespraumlch uumlber das groumlszligte Gebot zwischen Jesus und einem Schriftgelehrten in Jerusalem (Mk 1228-34) die Antwort Je-su eine Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 fuumlhrt zu einer Verstaumlndi-gung

bull Matthaumlus stimmt in der Thematik der Frage der Ortsangabe und der Kombi-nation beider Liebesgebote mit Markus uumlberein (Mt 2234-40) macht aber aus dem Konsens- ein Streitgespraumlch Jesus wird von einem Gesetzeslehrer auf die Probe gestellt und besteht die Herausforderung glaumlnzend indem er das Doppelgebot formuliert

bull Lukas kennt in seiner Version (Lk 1025-37) gleichfalls die Kombination er uumlberliefert wie Matthaumlus einen bdquoGesetzeslehrerldquo ndash nicht wie Markus einen bdquoSchriftgelehrtenldquo ndash als Partner und erzaumlhlt ndash wie Matthaumlus anders als Mar-kus ndash von einem Konfliktgespraumlch Aber bei ihm findet der Dialog auf dem Weg Jesu nach Jerusalem statt (Lk 951 - 1927) die Frage zielt auf das ewige Leben (wie in Mk 1017 par Mt) der Dialog spitzt sich auf die Frage nach dem Naumlchsten zu die Jesus mit dem Samaritergleichnis beantwortet

Die markinische Version ist (nach der Zwei-Quellen-Theorie) die aumllteste Matthaumlus laumlsst sich als Kuumlrzung und Zuspitzung lesen Ob aber Lk 1025-37 sich als Markus-Redaktion erklaumlren laumlsst ist fraglich Womoumlglich hat es ndash durch Q ndash eine Doppeluumlber-lieferung gegeben die eine Kontroverse mit einem Gesetzeslehrer enthalten hat Noch wahrscheinlicher ist dass es von Anfang verschiedene Versionen gegeben hat die von den Evangelisten unterschiedlich rezipiert worden ist In jedem Fall bezeugt die Breite der Uumlberlieferung dass das Liebesgebot fuumlr Jesus typisch gewesen ist

b In allen Versionen des Doppelgebotes gibt es gemeinsame Charakteristika bull die Form des Gespraumlches in der das Doppelgebot entwickelt wird bull den Bezug auf das Gesetz bei Markus (1228) und Matthaumlus (2236) durch die

Jesus gestellte Ausgangsfrage bei Lukas durch die Ruumlckfrage Jesu (1026) bei Matthaumlus durch den Schlusssatz Jesu unterstrichen (2240)

bull die Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 ad vocem Agape bull die Abfolge dass zuerst das Hauptgebot der Gotteslebe (Dtn 64f) dann das

Gebot der Naumlchstenliebe (Lev 1918f) kommt obwohl die kanonische Reihen-folge eine andere ist

Diese Charakteristika sind der Kernbestand der Tradition sie muumlssen zu Eckpfeilern der Interpretation werden

c Die unterschiedlichen Gespraumlchssituationen haben ihre eigene Logik bull Markus will zeigen dass es zu einer fundierten und breiten Verstaumlndigung Je-

su mit den Schriftgelehrten haumltte kommen koumlnnen auf der Basis der Tora bull Matthaumlus will zeigen dass die Hierarchisierung der Gebote strittig war und

geblieben ist bull Lukas will herausarbeiten dass das Doppelgebot Fragen stellt die Jesus be-

antworten kann Die unterschiedlichen Logiken koumlnnen nicht gegeneinander ausgespielt aber jeweils in das Evangelium eingeordnet werden in dem sie sich befinden

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d Alle Versionen bestimmen die Tora als Basis des Dialoges Alle bleiben im Rahmen juumldischer Hermeneutik Schrift legt Schrift aus Alle erweisen sich im religionsge-schichtlichen Vergleich als typisch jesuanisch

bull Einerseits gibt es im Judentum eine lebhafte Debatte aus didaktischen und theologischen Gruumlnden zu einer Hierarchie der Gebote zu gelangen In dieser Debatte ragt das Liebesgebot heraus Es gibt aber immer auch starke Kontro-versen uumlber die Richtigkeit und Guumlltigkeit solcher Elementarisierungen

bull Anderseits steht Jesus nicht gegen die Tora sonder erfuumlllt sie (vgl Mt 517-20) Dese Erfuumlllung hat eine spezifische Qualitaumlt diese Qualitaumlt bezeichnet das Liebesgebot das Jesus selbst praktiziert

Das Doppelgebot bricht nicht aus dem Gesetz aus sondern schlieszligt es auf

e Im fruumlhen Judentum gibt es keine direkte Parallele zum jesuanischen Doppelgebot Aber es gibt eine ganze Reihe von strukturaumlquivalenten Formulierungen sowohl im palaumlstinischen wie auch im hellenistischen Judentum Zum Teil sind sie direkt als Ge-bot einer doppelten Liebe zum Teil mit Varianten vor allem der Gottesfurcht gebil-det Diese Parallelen erhellen den juumldischen Kontext in dem das Doppelgebot steht Auffaumlllig ist in der Jesustradition zweierlei

1 die direkte Schriftzitation 2 der explizite Bezug zur Tora der reflektiert wird

Beides spiegelt die Programmatik der jesuanischen Position

f Die Struktur der Tradition leitet in jeder Variante von der Gottes- zur Naumlchstenliebe und bindet das Liebesgebot zusammen

bull Es gibt keine Gottesliebe ohne Naumlchstenliebe weil Gott den es zu lieben gilt nicht nur die Person liebt die lieben soll sondern auch diejenige die geliebt werden soll Diese Liebe Gottes als Basis ist im Doppelgebot nicht expliziert aber impliziert

o in der Einzigkeit Gottes so wie sie in der Bibel Israels und in der Jesus-tradition als Qualifikation des Schoumlpfers und Erhalters des Versoumlh-ners und Vollender entfaltet wird

o im Wort Agape das eo ipso von der Liebe Gottes gespeist wird Das Doppelgebot ist das beste Gegengift gegen Heuchelei

bull Es gibt keine Naumlchstenliebe ohne Gottesliebe ndash nicht weil es keine Ethik keine Menschlichkeit kein Mitleid und keine Solidaritaumlt ohne Gottesliebe gaumlbe (im Gegenteil) sondern weil die Naumlchstenliebe wie sie alt- und neutestamentlich expliziert wird den Naumlchsten als die von Gott geliebte Person liebt also Ein-stimmung in die Liebe Gottes ist die nur in der Liebe zu Gott explizit beant-wortet werden kann

bull Es gibt einen Primat der Gottes- vor der Naumlchstenliebe ndash nicht weil die Got-tes- wichtiger als die Naumlchstenliebe waumlre sondern weil Gott der Schoumlpfer all derer ist die lieben und geliebt werden sollen und sie alle zur Teilhabe an seiner Liebe fuumlhren will

Die Einheit der Gottes- und Naumlchstenliebe ist keine Identitaumlt sondern eine Spannung die ein hohes Energiefeld aufbaut

g Das Doppelgebot selbst enthaumllt keine Konkretion steht aber in den Evangelien die sich in die Tradition des Alten Testaments stellen und wird dadurch einerseits zum Kompass durch die Tora andererseits zum Katalysator von Aktualisierungen die pa-radigmatisch von Jesus angesprochen werden

Thomas Soumlding

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5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)

a Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter antwortet auf die wichtige Frage bdquoWer ist mein Naumlchsterldquo (Lk 1025-37)

bull Die Frage ist wichtig weil es um die Konkretionen der Liebe geht und Lev 1917f eine klare Antwort gibt Die Naumlchsten sind die Mit-Glieder des Gottes-volkes Hinzu treten die bdquoFremdenldquo (Lev 1934) die dauerhaft in Israel inte-griert sind nach der Septuaginta die Proselyten Die Konzentration auf diese Naumlchsten ist theologisch durch die gemeinsame Berufung des Volkes zur Hei-ligkeit begruumlndet Sie bewaumlhrt sich in Konflikten umfasst also de facto auch Feindesliebe

bull Die Frage wird von Jesus mit einer Geschichte beantwortet die auf provokan-te Weise einen Samariter zu einem Vorbild werden laumlsst Dass Jesus mit ei-nem Gleichnis antwortet setzt auf die argumentative Kraft einer Erzaumlhlung die nicht nur eine Welt vor Augen stellen sondern auch eine Sache klaumlren kann und zwar so dass Anteilnahme entsteht eine Verstrickung in die Ge-schichte durch Dramatik und Identifikation

Die Antwort auf die Frage wird nicht ohne ihre Umkehrung gegeben bdquoWer hellip ist zum Naumlchsten dessen geworden der unter die Raumluber gefallen istldquo (Lk 1036) Damit wird die Ausgangsfrage nicht desavouiert sondern konkretisiert Wer nach dem Naumlchsten fragt fragt auch nach sich selbst Und wer sich selbst von Naumlchsten umgeben weiszlig denen er verpflichtet ist muss selbst zum Naumlchsten derer werden wollen die auf Hilfe angewiesen sind

b Die Geschichte gehoumlrt zum Doppelgebot das bei Lukas (1025ff) wie bei Matthaumlus (2235-40) ein Streitgespraumlch ist waumlhrend es bei Markus ein Konsensgespraumlch ist (Mk 1228-34) Lukas hat es in die Zeit des oumlffentlichen Wirkens Jesu vorgezogen und kompositorisch konkretisiert

bull Mit einem bdquoGesetzeslehrerldquo trifft Jesus auf seinem Weg einen Experte fuumlr die Frage die er stellt

bull Das Doppelgebotsthema wird nicht nur durch das Samaritergleichnis sondern auch durch die Fortsetzung konkretisiert

o Die Beispielgeschichte Lk 1030-35 thematisiert das Tun (Lk 1037) o Die folgende Geschichte von Maria und Martha akzentuiert das Houmlren

(Lk 1038-42) o Die anschlieszligende Gebetslehre konkretisiert jene Gottesliebe die aus

dem Houmlren zum Sprechen fuumlhrt mit dem Vaterunser als Kern Durch die Komposition wird die Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe unter-strichen

Die Szenerie unterstreicht die Brisanz der Frage nach der Geltung des Gesetzes und erhoumlht damit den Stellenwert des Gleichnisses damit aber auch die Praumlgnanz des Samariterbildes Jesu

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c Der gesamte Text hat eine dialogische Struktur 1 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach dem Sinn des Lebens (Lk 1025) 2 Jesus fragt zuruumlck indem er auf das Gesetz verweist (1026) 3 Der Gesetzeslehrer zitiert das Doppelgebot (Lk 1027) 4 Jesus bestaumltigt und fordert zur Praxis (Lk 1028) 5 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach der Identitaumlt des Naumlchsten (Lk 1029) 6 Jesus fragt zuruumlck indem er das Gleichnis erzaumlhlt (Lk 1030-36) 7 Der Gesetzeslehrer gibt die richtige Antwort (Lk 1037a) 8 Jesus fordert zum Handeln (Lk 1037b)

Jesus agiert im sokratischen Stil Er laumlsst den Fragesteller selbst die Antwort finden ndash nicht irgendwo sondern im Gesetz und in seinem Gewissen Das spiegelt fuumlr Lukas die Uumlberlegenheit Jesu und die Menschlichkeit seiner Ethik

d Das Gleichnis arbeitet mit einem scharfen Kontrast bull Auf der einen Seite stehen der Priester und der Levit Repraumlsentanten des Ju-

dentums Sie muumlssten genau wissen was zu tun ist Sie haben wenn sie wie der Verletzte auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho sind auch keinen Grund sich aus kultischen Uumlberlegungen um sich nicht zu verunreinigen an einem vorbeizugehen von dem sie glauben dass er tot sei wenn sie auf dem Weg zuruumlck sind ist fuumlr die ggf erforderliche rituelle Reinigung genuumlgend Zeit

bull Auf der anderen Seite steht der Samariter dem man es am wenigsten zutrau-en wuumlrde dass er tut was recht ist Dessen Rolle wird aber von Jesus stark betont nicht nur durch den Kontrast sondern auch dadurch dass er weit uumlber die Erste Hilfe hinaus mehr als genug tut um dem Verletzten zu helfen Er selbst leistet den sprichwoumlrtlich gewordenen Samariterdienst und treibt ungewoumlhnlich intensive Vorsorge dass der Mann nachhaltig gesundet ndash nach allen Regeln der (damaligen) aumlrztlichen Kunst

Dieser Kontrast war den Menschen sowohl zur Zeit Jesu als auch zur Zeit des Evange-listen Lukas deutlich Lk 952-56 hat ihn frisch in Erinnerung gerufen

e Jesus laumlsst durch die Kunst seiner narrativen Argumentation dem Gesetzeslehrer keine Chance nicht von seiner Antwort uumlberzeugt zu werden die seinen eigenen mo-ralischen Standpunkt veraumlndert Alle Menschen die ein Herz im Leibe haben werden erkennen dass nicht der Priester nicht der Levit sondern ausgerechnet der feindli-che der bdquohaumlretischeldquo Samariter das einzig Richtige getan hat indem er dem unter die Raumluber gefallenen Menschen geholfen hat Das aber ist schon der erste Schritt in die Richtung die Jesus den Menschen zeigt damit sie Gott und den Naumlchsten neu entde-cken koumlnnen Wer aber nicht nur tatkraumlftig wie der Samariter hilft sondern als Jude weiszlig dass er ihn wegen seiner Naumlchstenliebe nachahmen sollte hat eine Grenze uumlberschritten die durch das Nahekommen der Basileia durchlaumlssig geworden ist Der Gesetzeslehrer versperrt sich dieser Lektion nicht Er ist deshalb ein positives Beispiel

Literatur Andregrave Lacoque Lhermeacuteneutique de Jeacutesus au sujet de la loi dans la Parabole du Bon Samari-

tain in Etudes theacuteologiques et religieuses 78 (2003) 25-46

Ruben Zimmermann Die Etho-Poietik des Samaritergleichnisses (Lk 1025-37) Eine Ethik des Schauens in einer Kultur des Wegschauens in Wort und Dienst 29 (2007) 51-69

Thomas Soumlding

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6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)

a Die fuumlnfte und sechste Antithese bilden bei Matthaumlus den Houmlhepunkt der Reihe die sich am Dekalog orientiert in der Feldrede bei Lukas markiert das Gebot der Feindes-liebe den Mittelpunkt der Ethik Die Feindesliebe bezeichnet in groumlszligter Konsequenz den Standpunkt der Moralitaumlt steht aber auch im Brennpunkt der Kritik

bull Ist Gewaltlosigkeit wuumlrdelos verantwortungslos kraftlos So Nietzsche14

bull Ist Feindesliebe unrealistisch So der gesunde Menschenverstand und das Ur-teil professioneller Politik

15 So auch der juumldische Einwand16 den zuletzt Jacob Neusner vorgetragen hat17

Die antithetische Form bei Matthaumlus zeigt das Potential der Kontroverse Es ist nicht das Ziel der Exegese sie aufzuloumlsen sondern sie auszuloumlsen

b Der Blick in die Synopse zeigt im Vergleich mit Lk 627-36 zweierlei bull Die antithetische Form ist ndash hier wie sonst ndash ein matthaumlisches Spezifikum Sie

dient der Profilierung der Ethik Jesu im Gegenuumlber zur Tora ndash unter dem Vor-zeichen der Erfuumlllung (Mt 517-20)

bull Bei Lukas ist Gewaltverzicht direkter Ausdruck der Feindesliebe Matthaumlus dif-ferenziert und kombiniert um zu akzentuieren

Die Synopse fordert bei der lukanischen Uumlberlieferungsform anzusetzen aber die matthaumlische Variante nicht als sekundaumlr abzutun sondern als Reflex jesuanischer Konkretionen in den Blick zu nehmen

c Das Gebot der Feindesliebe tradiert uumlber die Redenquelle (Q) ist Urgestein und Herzstuumlck der Ethik Jesu18

14 Also sprach Zarathustra III 21 (Werke VI1) bdquoIch sollte nur Feinde haben die zu hassen sind aber nicht Feinde zum Verachten ihr muumlsst stolz auf euren Feind sein (260)ldquo

Die Stellung in der matthaumlischen Bergpredigt und der luka-nischen Feldrede zeigt dass im Urchristentum diese zentrale Bedeutung gesehen und tradiert worden ist Paulus reflektiert sie in Roumlm 129-21 Auch im johanneischen Kon-zept der Bruderliebe ist sie vorausgesetzt

15 Max Weber Politik als Beruf (1919) in ders Gesammelte politische Schriften hg v J Winckelmann Tuumlbingen 31971 505-560 bdquoMit der Bergpredigt ist es eine ernstere Sache als die glauben die diese Gebote heute gern zitieren Wenn es in Konsequenz der akosmistischen Liebesethik heiszligt dem Uumlbel nicht widerstehen mit Gewaltlsquo ndash so gilt fuumlr den Politiker der Satz du sollst dem Uumlbel gewaltsam widerstehen sonst ndash bist du fuumlr seine Uumlberhandnahme verantwortlich (550f)ldquo 16 Der Jude Tryphon plaumldiert nach Justin dial 52 bdquoIch weiszlig auch dass eure Lehren die in dem sogenannten Evangelium stehen so erhaben und groszlig sind dass wie ich meine kein Mensch sie beobachten kannldquo 17 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 Neuausgabe Frei-burg - Basel - Wien 2007 (engl 1993) Neusner praumlzisiert Jesus maszlige sich das Recht Gottes an so zu sprechen wie es die Bergpredigt uumlberliefert 18 Th Soumlding Die Verkuumlndigung Jesu 570-583

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d Nach Lk 6 sind alle Houmlrer der Botschaft Jesu zur Feindesliebe gerufen In erster Linie sind es seine Juumlnger als stellvertretende Adressaten der Seligpreisungen und Weherufe (Lk 620-26) Lukas sieht die Kirche als Ort wo primaumlr die Feindesliebe ver-wirklicht sein will gerade auch gegenuumlber Nicht-Christen (und berichtet in der Apos-telgeschichte dass dies in der Urgemeinde auch geschehen sei) Nach Matthaumlus hat Jesus direkt seine Juumlnger angesprochen (Mt 51f) ndash aber so dass alles Volk (vgl 423ff) es houmlren und daruumlber staunen kann (Mt 728f) Die Pointe ist missionstheologisch Wenn die Juumlnger ausziehen alle Voumllker ihrerseits zu Juumlngern zu machen sollen sie nicht nur taufen sondern auch lehren bdquoalles zu haltenldquo was Jesus ihnen bdquogebotenldquo hat (Mt 2818ff)

d Die Feindschaften die Jesu Gebot anspricht sind so paradigmatisch ausgewaumlhlt und scharf zugespitzt dass prinzipiell jede denkbare Feindschaft im Blick stehen muss Es werden die empoumlrendsten Formen paradigmatisch konkretisiert

bull religioumlse Verfolgung (Lk 628 Mt 544) bull koumlrperliche Gewalt selbst wenn sie demuumltigen soll (Lk 628f Mt 539) bull wirtschaftliche Ausbeutung auch wenn sie sich den Anschein des Rechts gibt

(Mt 540) bull politisch-militaumlrische Unterdruumlckung auch wenn sie schier uumlbermaumlchtig

scheint (Mt 541) Jede denkbare Grenze der Feindesliebe wird uumlberschritten der Familie und Ver-wandtschaft des Freundeskreises der Glaubensgenossen der (mehr oder weniger) Guten der Angehoumlrigen des eigenen Volkes (vgl Lk 1025-37)

e Die Feindesliebe zeigt sich in den gleichfalls paradigmatischen Konkretisierungen bull als Fuumlrbitte fuumlr die Verfolger (Lk 628 par Mt 544) und Segnen der

Blasphemiker (Lk 628) ndash im Gegensatz zum Verfluchen und zur Bitte um ihre Vernichtung durch Gottes Strafgericht

bull als aktiver Gewaltverzicht gegenuumlber erlittener Uumlbermacht (Lk 629 Mt 538-42) ndash im Gegensatz dazu Unrecht mit gleicher Muumlnze heimzuzahlen

bull als selbstlose Unterstuumltzung der Armen auch wenn deren Bitten laumlstig faumlllt (Lk 630) ndash im Gegensatz zum Kalkuumll des do ut des

bull als engagierter Einsatz fuumlr das Gute (Lk 62733) ndash im Gegensatz zu einem Mitmachen wie zur Resignation

Feindesliebe ist nicht passiv sondern aktiv Sie kreiert eine neue Situation In diesen Konkretisierungen erhellt die Feindesliebe als radikalisierte Naumlchstenliebe (Lev 1917f) die im Kontext der Gottessliebe steht (Mk 1228-34 parr) Sie ist nicht das Einverstaumlndnis mit Unrecht Schuld und Schwaumlche schon gar nicht schwaumlchliches Hinnehmen von Unrecht sondern im Gegenteil starkes aber deshalb auch leidensfauml-higes Eintreten dafuumlr Boumlses durch Gutes zu uumlberwinden (Roumlm 1221)

Thomas Soumlding

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h Die Feindesliebe ist theologisch begruumlndet und motiviert bull Der theologische Grund ist das Handeln Gottes selbst der als Schoumlpfer und Er-

loumlser permanent Feindesliebe praktiziert (Lk 635 Mt 545 vgl Roumlm 55ff) o Mit dem Blick ins Buch der Natur zeigt Jesus nach Matthaumlus Gott als

den der auch den Boumlsen und Ungerechten das Leben schenkt weil er will dass sie leben (nicht weil er will oder toleriert dass sie Boumlses und Unrechtes tun)

o Der Vergleich mit dem aumlhnlichen Motiv bei Seneca der (nicht zu Feindesliebe aber) zu groszligmuumltiger Gelassenheit gegenuumlber Feinden mahnt macht den Unterschied deutlich denn nach ihm kann Gott nicht anders als die Unterstuumltzung der Boumlsen in Kauf zu nehmen wenn er den Guten helfen will ndash wofuumlr er sich entscheidet weil das Gute mehr wert ist als das Boumlse

bull Das theologische Motiv ist die Nachahmung Gottes die imitatio Dei (Lk 636 Mt 548) der die Verheiszligung ewigen Lebens gilt des bdquoLohnesldquo der in der Gotteskindschaft besteht

In dieser Theozentrik ist die Feindesliebe Zustimmung zu der Liebe mit der Gott auch die Ungerechten und Suumlnder liebt ndash ohne ihre Suumlnde gutzuheiszligen aber auch ohne ihnen wegen ihrer Schuld seine Zuwendung zu entziehen

i Das Gebot der Feindesliebe ist angewandte Christologie bull Einerseits ist es Jesus der das Gebot ndash nach Matthaumlus im Gegensatz zur herr-

schenden Auslegung des atl Liebesgebotes ndash der Feindesliebe aufstellt bull Andererseits ist es Jesus der das Gebot umfassend verwirklicht ndash vorbildlich

in seinem Leiden heilbringend in seiner Lebenshingabe aus reiner Liebe

f Das bdquoAuge um Auge Zahn um Zahnldquo (Ex 2124) begrenzt die Vergeltung das bdquoIch aber sage euchldquo aktiviert zur Versoumlhnung Das alttestamentliche Gebot der Naumlchstenliebe umfasst innerhalb Israels Feindesliebe (Lk 1917f) und weitet sie aus (Lev 1934) Das bdquoIch aber sage euchldquo setzt sich von einer Auslegung ab die aus Sorge um Gottes Gerechtigkeit die Grenzen der Erloumlsung zu eng zieht Dafuumlr gibt es Beispiele in Qumran Der originaumlre Bezug des Gebotes der Naumlchstenliebe auf das Volk Gottes wird nicht aufgegeben aber ausgeweitet

bull In der Juumlngerschaft ist ndash in Israel und uumlber Israel hinaus ndash der Ort an dem die Feindesliebe so praktiziert werden soll dass sie ausstrahlt (vgl Mt 513-16)

bull Zum Volk Gottes gehoumlren nicht nur die Juden und alle die an Jesus glauben Gott hat vielmehr Jesus (nach Matthaumlus wie nach Lukas) deshalb gesendet damit durch seinen Dienst am Heil der Menschen der reine Feindesliebe ist alle Voumllker zu seinem Volk werden Die Kirche repraumlsentiert und realisiert stellvertretend diese Heilsuniversalitaumlt Ihre Feindesliebe konkretisiert sie ethisch

Feindesliebe durchbricht das Prinzip der Vergeltung ohne das Prinzip der Gerechtig-keit aufzugeben Das ist nur deshalb sittlich erlaubt und geboten weil das Gebot in der Liebe Gottes selbst begruumlndet ist die sich in der Feindesliebe Jesu realisiert die ihrerseits der theologische Nerv seines Lebens und Sterbens zur Erloumlsung der Suumlnder ist

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j Das psychologische Problem das Sigmund Freud scharf markiert hat19

Das ethische Problem das Fjodor Dostojewksi (Die Bruumlder Karamasow) Iwan in den Mund legt lautet

besteht da-rin dass blinde Aggressionen entwickelt wer sich moralisch uumlberfordert Dieses Prob-lem laumlsst sich wohl nur spirituell loumlsen in der Nachfolge Jesu die auf seine Kraft setzt in den Nachfolgern das Gute zu tun

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k Das Problem der Erfuumlllbarkeit der Bergpredigt und speziell des Gebotes der Fein-desliebe bewegt Theologie und Kirche seit aumlltester Zeit Eine erhebliche Verschaumlrfung des Problems geschieht durch eine moderne Emotionalisierung der Feindesliebe Wird sie aber als Ausdruck der Agape verstanden begruumlndet sie ndash in der Nachfolge Jesu ndash eine Praxis des Glaubens aus der Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe Als solche kann sie durchaus eingeuumlbt ausgebildet und gefestigt werden Sie setzt die Suche nach dem besten Weg der Verwirklichung nicht aus sondern ein Sie entspricht aber darin der Gottebenbildlichkeit aller Menschen und der Gotteskindschaft der zu Erloumlsenden dass sie an der Unbedingtheit der Bejahung die Gott ihnen zuteilwerden laumlsst Anteil hat

dass Feindesliebe letztlich Kumpanei mit den Taumltern auf Kosten der Opfer sei Dieses Problem das haumlufig nicht gesehen wird laumlsst sich nur soteriolo-gisch loumlsen weil derjenige der selbst aus reiner Liebe die Schuld der anderen ertra-gen und vergeben hat das Reich Gottes als umfassende Vollendung von Gerechtig-keit Friede und Freude (Roumlm 1417) verwirklicht

19 Das Unbehagen in der Kultur in Gesammelte Werke 14 London 1948 419-506 468-475493-506 (Abschnitte V VIII) bdquoNachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte war die aumluszligerste Intoleranz des Christentums gegen die drauszligen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge gewordenldquo (374) 19 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 20 bdquoSchlieszliglich will ich auch gar nicht dass die Mutter den Peiniger umarmt der ihren Sohn von Hunden zerreiszligen lieszlig Sie darf sich nicht unterstehen ihm zu verzeihen Wenn sie will mag sie verzeihen soweit es sie selber angeht sie mag dem Peiniger ihr maszligloses Mutterleid ver-zeihen aber die Leiden ihres zerfleischten Kindes zu verzeihen hat sie kein Recht sie darf es nicht wagen dem Peiniger zu verzeihen auch wenn das Kind selber ihm verzieheldquo (Muumlnchen 1958 330f

Thomas Soumlding

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7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)

71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20) a Mit der Fuszligwaschung21

b Die Fuszligwaschung ist das Zeichen der Passion Ihr folgen Gespraumlche mit den Juumln-gern die zwar von Jesus gewaschen und gereinigt sind aber groumlszligte Schwierigkeiten haben zu verstehen was sich tut

beginnt der 2 Hauptteil des Johannesevangeliums Das oumlffentliche Wirken ist abgeschlossen Jesus konzentriert sich auf seine Juumlnger bevor er oumlffentlich hingerichtet werden wird Er bereitet sie auf seine Passion und seine Auferstehung vor die den Weg zu Gott bahnen werden

bull Auf die Fuszligwaschung folgt zuerst eine Trias unmittelbarer Konsequenzen o Judas wird als Verraumlter identifiziert und verlaumlsst den Juumlngerkreis (Joh

1321-30) o Die Juumlnger werden zur wechselseitigen Liebe gemahnt (Joh 1331-35) o Petrus wird seine Verleugnung vorhergesagt (Joh 1336ff)

bull Auf die Fuszligwaschung folgen ausfuumlhrliche Abschiedsworte (Joh 14-16) die in ein Abschiedsgebet muumlnden (Joh 17)

c Joh 131-20 ist uumlbersichtlich aufgebaut

Joh 131 Der Hintergrund Joh 132-5 Die Fuszligwaschung beim Mahl 132 Die Situation 133ff Die Handlung Jesu Joh 136-11 Das Gespraumlch mit Petrus 136 Der erste Einwand des Petrus 137 Die erste Antwort Jesu 138a Der zweite Einwand des Petrus 138b Die zweite Antwort Jesu 139 Der dritte Einwand des Petrus 1310 Die dritte Antwort Jesu 1311 Kommentar des Evangelisten Joh 1312-20 Die Deutung vor allen Juumlngern 1312-17 Die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu 1318f Die Ansage eines Verrates 1320 Die Juumlnger als Apostel

21 Vgl Luise Abramowski Die Geschichte von der Fuszligwaschung in Zeitschrift fuumlr Theologie und Kirche 102 (2005) 176-203

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d Die Exegese diskutiert in welchem Verhaumlltnis die beiden Deutungen zu einander stehen Die erste ist soteriologisch die zweite ethisch ausgerichtet

bull Recht oft wird aus der Doppelung auf ein literarisches Wachstum des Textes geschlossen

o Moumlglichkeit 1 Die soteriologische Deutung ist die aumlltere die paraumlnetische die se-kundaumlre22

o Moumlglichkeit 2 Die ethische Deutung ist urspruumlnglich die soteriologisch nachtraumlglich zwischengeschoben

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Beide Ansaumltze sind von weitereichenden Voraussetzung zur relativen Chrono-logie des Corpus Johanneum gepraumlgt

o Wer den Ersten Johannesbrief fuumlr aumllter erachtet wird die ethische Deutung fuumlr urspruumlnglich halten

o Wer das Evangelium fuumlr aumllter erachtet wird eher die soteriologische Deutung als originaumlr einschaumltzen

Die ethische Deutung wird dann fuumlr sekundaumlr zu erachten wenn man zu dem Urteil gelangt die johanneische Theologie sei urspruumlnglich wenig konkret und eher spirituell ausgerichtet waumlhrend erst sekundaumlr Johannes gesamtkirchlich eingenordet worden sei Beide Ansaumltze gehen von einem literarischen Schichtenmodell aus das der Ei-genart johanneischer Literatur in den Evangelienerzaumlhlungen nicht angemes-sen ist Beide werden durch das Modell einer bdquorelectureldquo gemildert das ndash aumlhnlich wie in der Prophetenexegese des Alten Testaments ndash mit einer Fortschreibung der Texte rechnet aber sie zugleich als vergegenwaumlrtigende Aneignung des vor-gegebenen Textes versteht24

bull Es mehren sich wieder die Stimmen die Joh 13 als literarisch einheitlich anse-hen

Allerdings stoumlszligt dieses Modell auf die Schwie-rigkeit dass das Liebesgebot das die ethische Deutung vorbereitet in Joh 1331-35 dominant ist und nicht nur in Joh 15-16 ausgefuumlhrt sondern auch in Joh 1421 angebahnt wird

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Die Doppelung erklaumlrt sich aus der Theologie der Liebe Sie hat eine Innenseite die Liebe Jesu zu sein Seinen in der sich nach Joh 1421 die Liebe das Vaters zum Sohn ereignet und sie hat eine Auszligenseite die sich nach Joh 1331-35 und Joh 15 in der Bruderliebe der Juumlnger erweist von der die Welt angezogen werden wird (Joh 17)

Allerdings braucht es eine Erklaumlrung fuumlr die Deutung Eine moumlgliche Er-klaumlrung waumlre der Adressatenwechsel aber die Petrusszene spielt sich vor den Augen und Ohren aller ab

22 So Rudolf Schnackenburg Joh III passim 23 So Udo Schnelle Joh 237 Er will eine Ursprungsform (132a4512ab162017) die recht nahe bei Lk 22 und der Mahnung der Juumlnger zum Dienen steht zuerst in der johanneischen Schule (der er den Ersten Johannesbrief mit seiner Theologie der Liebe zurechnet) um die Vorbildethik erweitert sehen (1312c13-15) bevor der Evangelist selbst von der Einleitung an (131) konsequent seine soteriologische Deutung ins Fundament der Geschichte eingebaut habe (136-10ab) 24 So Jean Zumstein Joh 25 So Hartwig Thyen Joh

Thomas Soumlding

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711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus a Die Liebe Jesu zu den Seinen (Joh 131) verwirklicht die Liebe Gottes zur Welt (Joh 316) die von der Liebe des Vaters zum Sohn getragen wird (Joh 335 1017) Es ist die nach der Zwischennotiz von Jesu Freundschaft mit Martha Maria und Lazarus (Joh 115) erste Betonung der Agape Jesu von der spaumlter das Liebesgebot Joh 1334 und die Verheiszligung dauernden Beistandes der Juumlnger gedeckt ist (Joh 1421-31)

b In der Liebe Jesu zu den Seinen verbindet sich die Liebe Gottes zur Welt mit der Liebe Jesu zu seinen Freunden (Joh 15) Es ist eine unbedingte Bejahung und Wert-schaumltzung die auf Sympathie beruht und lebendig macht

c Die Liebe erweist Jesus den bdquoSeinenldquo bull Im Ruumlckraum steht Joh 19-13 dass die bdquoSeinenldquo den Logos abgelehnt haben

ndash bis auf diejenigen die an seinen Namen glauben und deshalb das Recht der Gotteskindschaft erhalten

bull Die bdquoSeinenldquo sind die Juumlnger die sich von Jesus in die Nachfolge haben rufen lassen (Joh 135-51) und in der galilaumlischen Krise Jesus nicht verlassen haben (Joh 660-71) Sie haben ihrerseits schwere Glaubensprobleme ndash aber werden sie durch Jesus uumlberwinden

bull In Joh 14 und Joh 17 wird erklaumlrt werden dass die Liebe Jesu zu den Seinen ndash wie die zum Lieblingsjuumlnger ndash nicht exklusiv sondern positiv zu verstehen ist

Dass Jesus den Seinen die Liebe bdquobis zum Endeldquo erweist verweist auf den Tod Jesu Das griechische Wort ist mehrdeutig teloj kann bdquoEndeldquo aber auch bdquoZielldquo bedeuten Beide Bedeutungen schwingen mit

bull Der Tod Jesu ist das definitive Ende seiner geschichtlichen Sendung das zu akzeptieren wird den Juumlngern ungeheuer schwer fallen

bull Der Tod Jesu ist das Ziel seines Wirkens insofern es seine Liebe und Hingabe definitiv werden laumlsst

Der Korrespondenzsatz ist das Todeswort Jesu Joh 1930 bull Es ist ein Gebet wie nach allen Synoptikern (Mk 1534 par Mt 2746 bdquoGott

mein Gott warum hast du mich verlassenldquo ndash Ps 222 Lk 2346 bdquoVater in deine Haumlnde gebe ich meinen Geistldquo ndash Ps 316) aber als letztes Offenba-rungswort an die Welt

bull Die traditionelle Uumlbersetzung lautet bdquoEs ist vollbrachtldquo Man kann aber auch sagen bdquovollendetldquo (Muumlnchner Neues Testament Bible de Jerusaleme bdquoCest acheveacuteldquo) oder bdquozu Endeldquo (King James Bible bdquoIt is finishedldquo)

Eine moumlgliche auf Joh 131 abgestimmte Uumlbersetzung waumlre (wie im Muumlnchener Neu-en Testament) bdquoEs ist vollendetldquo (tetelestai)

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712 Die Fuszligwaschung a Jemandem vor dem Mahl die Fuumlszlige zu waschen ist ein Dienst den traditioneller-weise Sklaven ihren Herren erweisen (vgl 1Sam 2541)26

Joh 1313f zeigt dass die sozialen Dimensionen der Fuszligwaschung klar vor Augen stehen der Gesamttext dass der Ritus sakramental gefuumlllt wird

Das Waschen der Fuumlszlige ist ein Ritus der Vorbereitung der eine koumlrperliche Wohltat mit einer Geste der Houmlflich-keit verbindet die Anerkennung und Ehrerbietung meint (Gen 184 vgl Lk 744) und zudem mit einer rituellen Bedeutung versieht die einen Uumlbergang gestaltet von drauszligen nach drinnen vom Alltag zum Fest vom Profanen zum Heiligen

7121 Die soteriologische Deutung a Im Gespraumlch mit Petrus wird die Bedeutung der Fuszligwaschung soteriologisch gedeu-tet Sie ist eine bdquoReinigungldquo ndash nicht wie in der Taufe sondern wie in der Buszlige Petrus braucht keine Wiederholung der Wiedergeburt die er als glaumlubig gewordener Taumluferjuumlnger erlebt hat aber er bedarf mehr als andere der Vergebung weil er ndash ent-gegen seinem Vorsatz ndash Jesus verleugnet Waumlhrend er sagt fuumlr Jesus sterben zu wol-len muss gerade fuumlr ihn Jesus sterben

b Petrus erkennt nach Joh 136 das Unmoumlgliche der Situation dass der Herr ihm ei-nen Sklavendienst leistet Er wehrt diesen Dienst doppelt ab (Joh 1368a) ndash so wie er nach Joh 1336ff nicht will dass Jesus fuumlr ihn sein Leben einsetzt In diesem Nein kommt eine Liebe zu Jesus zum Ausdruck die bestimmen will Gleichzeitig aber ist das Nein auch Ausdruck des Missverstaumlndnisses dass Petrus der Diakonie Jesu womoumlglich gar nicht bedarf Petrus verschaumlrft seinen Widerspruch der aus Unverstaumlndnis stammt indem er dann ganz gewaschen werden will (Joh 139) ndash womit er aber seine Berufung leugnet

c Jesus deckt das Missverstaumlndnis des Petrus auf Die Fuszligwaschung steht nicht am Anfang sondern an einer Biegung des Weges mit Jesus Die Weg-Gemeinschaft ist darin begruumlndet dass Jesus sich in seinen Dienst stellt Dem muss entsprechen dass Petrus sich den Dienst gefallen laumlsst Er muss Jesus so nahe wie in der Fuszligwaschung an sich heranlassen Er muss den Rollentausch akzeptieren Die Langversion von Vers 10 die durch den Codex Vaticanus gedeckt und als lectio difficilior gesichert ist entspricht dem Kontext

bull Im Bild Auch nach dem Vollbad macht man sich wieder die Fuumlszlige schmutzig Man laumlsst sie sich waschen damit auch sie sauber sind man laumlsst nur sie waschen weil der sonstige Koumlrper gereinigt ist

bull In der Sache Wer durch das Bad der Wiedergeburt die Taufe bdquoganz reinldquo geworden ist muss diese Reinheit aber durch seine Schuld verloren hat muss sich die Fuumlszlige waschen lassen um durch Jesus zu Gott zu gelangen Dem entspricht am ehesten eine Deutung auf die Buszlige wie sie orthodoxen Vaumlter favorisieren

26 Hellenistische Parallelen Neuer Wettstein I2 636-644

Thomas Soumlding

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7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
    • Kontakt
      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
        • Markusevangelium
        • Lukasevangelium
        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 9: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

Thomas Soumlding

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2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)

a Das Gebot der Naumlchstenliebe steht im Kern des Heiligkeitsgesetzes (Lev 17-26) Lev 19 Dieses Gesetz das zu den aumlltesten Textcorpora der Tora gehoumlrt ist von der imitatio Dei gepraumlgt (Lev 191) Gottes Heiligkeit an der Israel sich ausrichten soll ist der Glanz seiner Praumlsenz die Aura seiner Potenz das Strahlen seiner Transzendenz Israels Heiligkeit ist seine Zuwendung zu Gott und seinem Gesetz seine Abwendung von den Goumltzen und dem Unrecht Gottes Heiligkeit fuumlhrt nicht zu religioumlsen Berser-kern die im Namen des Einen alles andere vernichten sondern zu Menschen die lieben koumlnnen

b Das Heiligkeitsgesetz1

Das Liebesgebot ragt aus den ethischen Weisungen heraus Es bildet den kroumlnenden Abschluss einer Reihe sozial engagierter Gebote (Lev 1911-18) die allesamt negativ formuliert sind waumlhrend das Liebesgebot positiv formuliert wird In Lev 1934 findet es ein Echo mit der Ausweitung auf die Fremden als Schlusspointe des Heiligkeitsethos

umfasst einen bunten Strauszlig kultischer und sozialer Gebote Ihr innerer Zusammenhang wird dadurch gestiftet dass Heiligkeit sowohl das Gottes-verhaumlltnis als auch das Verhaumlltnis zum Naumlchsten praumlgt

c Durch die Forderung den Naumlchsten zu lieben geschieht die notwendige Konzentra-tion Der bdquoNaumlchsteldquo dem die Liebe gelten soll ist nicht einfach wer einem mehr oder weniger zufaumlllig begegnet2 sondern nach dem genauen Wortlaut der bdquoBruderldquo der bdquoStammesgenosseldquo das bdquoKindldquo des eigenen Volkes (Lev 1917f)3

Die Beispiele zeigen aber auch dass die Naumlchstenliebe von Anfang an faktisch Fein-desliebe ist Denn durchweg geht es um erlittenes Unrecht begangene Fehler ge-schehene Suumlnden Das Liebesgebot bahnt einen Ausweg aus der verfahrenen Situati-on Es nimmt den moralisch in die Pflicht dem Unrecht widerfahren ist Das Opfer soll aktiv werden um einen neuen Anfang zu setzen ndash nicht um die Taumlter zu entlasten sondern um ihnen zu helfen aus ihrer Schuld herauszukommen Dem entspricht ein offensives Verstaumlndnis von Heiligkeit Sie strahlt aus und zieht an

Das entspricht dem Kontext des Heiligkeitsgesetzes das von der Erwaumlhlung und Verpflichtung Israels handelt Es ist die Gemeinschaft des von Gott geliebten Volkes die durch Naumlchsten-liebe lebendig werden soll Wuumlrden die Grenzen verschwinden staumlnde die Naumlchsten-liebe in der Gefahr sich in unverbindliche Fernstenliebe aufzuloumlsen und den Kontakt zu Gott zu verlieren der sich seines Volkes erbarmt Durch die Konzentration auf die Naumlchsten des Gottesvolkes gewinnt die Zugehoumlrigkeit zu Israel Kontur die Heiligkeit wird konkret Die in Lev 1917f beschriebenen Beispiele setzen durchweg Nahbezie-hungen voraus

1 Vgl (klassisch historisch-kritisch) Klaus Gruumlnwaldt Das Heiligkeitsgesetz Levitkus 17-26 Ge-stalt Tradition und Theologie (BZAW 271) Berlin 1999 2 So jedoch Martin Buber Zwei Glaubensweisen (1950) in ders Werke I Muumlnchen - Heidel-berg 1962 651-782 701f bdquoSei liebreich zugewandt den Menschen mit denen du je und je auf den Wegen deines Lebens zu schaffen bekommst 3 Vgl Hans-Peter Mathys Liebe deinen Naumlchsten wie dich selbst

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d Die Konzentration der Naumlchstenliebe begruumlndet keine Doppelmoral sie ist positiv nicht exklusiv verstanden Das zeigt die Ausweitung auf die bdquoFremdenldquo mit derselben Maszligeinheit bdquowie dich selbstldquo Die Begruumlndung bdquodenn ihr seid selbst Fremde in Aumlgyp-ten gewesenldquo (Lev 1933f) erhellt eine uumlberraschende weil verdraumlngte Naumlhe Israel kann und soll das Leben der bdquoFremdenldquo nachfuumlhlen und sich ihnen in gleicher Weise wie den Mitgliedern des eigenen Volkes ndash bdquowie dich selbstldquo ndash zuwenden Die bdquoFremdenldquo sind in der Rechtssprache der Tora Nicht-Juden die dauerhaft im Hei-ligen Land leben Sie sind Buumlrger zweiter Klasse in Israel ndash wie einst Israel in Aumlgypten Desto wichtiger ist das Liebesgebot Die Septuaginta (LXX) uumlbersetzt mit bdquoProselytldquo um die Situation der Diaspora zu beruumlcksichtigen und den zuweilen prekaumlren Status der Konvertiten zum Judentum zu verbessern Im woumlrtlichen Sinn sind die bdquoProsely-tenldquo diejenigen die von auszligen hinzukommen insofern waren fuumlr die griechischen Uumlbersetzer die Israeliten in Aumlgypten bdquoProselytenldquo Wer nur auf der Durchreise ist ist keineswegs rechtlos er genieszligt Gastrecht und Gastfreundschaft4

Die Direktheit und Nachhaltigkeit des Liebesgebotes wird durch die Ausweitung un-terstrichen

deren Heiligkeit aumllter ist als das geschriebene Gesetz

e Das Liebesgebot wird zwar an anderen Stellen des Alten Testament (lange) nicht zitiert gehoumlrt aber in ein Feld aumlhnlicher ethischer Weisungen Es ist beeinflusst und es hat beeinflusst5

f Eine solche Liebe ist nicht storgeacute weil das Volk Gottes die natuumlrlichen Familienban-de uumlberschreitet wiewohl Israel oft genealogisch verstanden wird Sie ist nicht Freundschaft weil die Beziehung die sie kultiviert nicht freiwillig gewaumlhlt und gestal-tet sondern von Gott vorgegeben ist Diese Liebe kann nicht im Eros aufgehen weil sie weniger das Hingerissensein von anderen als die Weggemeinschaft mit ihnen kul-tiviert sie ist Agape weil sie von Gott kommt auch wenn im Kontext nicht expressis verbis von Gottes Liebe die Rede ist Unleugbar aber ist es Liebe zu vergeben und Rachegeluumlsten nicht nachzugeben sondern am Aufbau einer Friedensbeziehung zu arbeiten Nicht das Begehren sondern die Sympathie ist der Motor der Agape Aber sie begehrt verstanden und angenommen zu werden Getragen ist sie von der heili-gen Liebe Gottes ndash und zwar nicht nur weil allein Gott die Kraft geben kann den ers-ten Schritt der Versoumlhnung zu tun sondern weil Gott diejenigen die auf sein Wort houmlren sollen erst zu Houmlrern des Wortes macht und sie in sein Volk hineinstellt das er sich erwaumlhlt hat

Ex 244f ist ein gutes Beispiel fuumlr angewandte Feindes- Dtn 221-4fuumlr aktive Bruderliebe

4 Vgl Helga Rusche Gastfreundschaft im Alten Testament im Spaumltjudentum und in den Evan-gelien in ZMRW 41 (1957) 170-188 5 Vgl Gianni Barbiero ElAsino dell Nemico Rinuncia alla vendetta e amore dell nemico nella legislatione dellAntico Testamento (Es 234-5 Dt 221-4 Lv 1917-18) (AnBib 128) Rom 1991

Thomas Soumlding

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3 Das Liebesgebot im Judentum

a In den alttestamentlichen Spaumltschriften steigt die Bedeutung des Liebesgebotes bull Die Semantik der Septuaginta (mit der Agape als Zentrum) staumlrkt den theolo-

gischen Grundzug durch die explizit gewordene Verbindung mit der Liebe Gottes und der Liebe zu Gott

bull Nach Tob 413 soll die Naumlchstenliebe als Bruderliebe die juumldische Kommunitaumlt in der Diaspora aber auch im Heiligen Land staumlrken deshalb ist das Liebesge-bot mit der Warnung vor einer Mischehe verbunden

bull Nach Jesus Sirach6

o als Liebe zum Sklaven der aufgrund seiner Treue und Bildung als Partner anerkannt werden soll (Sir 721)

wird das Gebot der Naumlchstenliebe in verschiedenen sozia-len Kontexten konkretisiert

o als Konstituierung einer ethischen Maxime die auf die Goldene Regel zulaumluft (Sir 3115)

o als Schaumlrfung des Gewissens fuumlr den caritativen Einsatz fuumlr Arme (Sir 3423-27)

Die Konkretisierungen passen in das Schema weisheitlicher Ethik das im Neu-en Testament auch der Jakobusbrief ausfuumlllt

Die Steigerung der Bedeutung erklaumlrt sich aus zwei Gruumlnden bull einer Personalisierung der Ethik bull und einer Vermittlung juumldischer Ethik die auf Elementarisierung setzt

Die Bedeutungssteigerung erhoumlht die Attraktivitaumlt der juumldischen Ethik in der antiken Welt

6 Vgl Th Soumlding Naumlchstenliebe bei Jesus Sirach

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b Aus der Septuaginta erklaumlrt sich die hohe Aufmerksamkeit fuumlr das Liebesgebot im hellenistischen Judentum Die Testamente der Zwoumllf Patriarchen7 reden haumlufig im ethischen Sinn von Liebe8 nahezu durchweg in der Form direkter oder indirekter Aufforderungen Die TestXII sind eine griechisch uumlberlieferte im 2 Jh von christlicher Hand redigierte aber dem wesentlichen Textbestand nach urspruumlnglich juumldische Schrift deren Wurzeln bis in das 2 Jh v Chr reichen koumlnnen Die Testamente nehmen Gen 49 auf und lassen die 12 Soumlhne Jakobs ihrerseits Abschiedsreden halten9

Lev 1918 wird zwar nicht explizit zitiert aber an vielen Stellen angespielt und durch-weg aktualisiert

Sie arbeiten das Problem der Diaspo-ra auf die als Zerstreuung gesehen und als Strafe Gottes gedeutet wird In dieser Si-tuation kommt es auf den inneren Zusammenhalt der Juden an der nach den Patriarchentestamenten nicht nur rituell sondern auch ethisch begruumlndet werden soll

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7 Aumlltere Standardausgabe RH Charles The Greek Versions of the Testaments of the Twelve Patriarchs Oxford 1908 Nachdruck Darmstadt 1960 Neuere Edition Mde Jonge - HW Hollander - Hde Jonge - Th Korteweg The Testaments of the Twelve Patriarchs A Critical Edition of the Greek Text (PVTG I2) Leiden 1978 Die aramaumlische Version des TestLevi enthaumllt kein Liebesgebot Deutsche Uumlbersetzung J Becker Die Testamente der zwoumllf Patriarchen in JSHRZ III1 (21980)

Es zeigen sich Rezeptionslinien die im Bedeutungsfeld von Lev 1917f bleiben (vgl TestGad 43-8) die Explikation der Heiligkeit daumlmpfen aber den Bezug auf die Nachbarschaften im Gottesvolk Israel nicht aufgeben sondern unter den Bedingungen der Diaspora konkretisieren Nur in TestIss 76 (bdquohellip jeden Menschen hellipldquo) ist eine universalistische Deutung moumlglich

8 Vgl TestRub 69 Sim 447 Iss 52 76 Seb 85 Dan 53 Gad 42(6)7 613 77 Jos 1723 Benj 33ff 435 81 vgl auch Ass 24 Gad 33 (uumlber den Hasser) 46 Jos 175 Benj 82 (uumlber das Verhaumlltnis des Mannes zur Frau) Gad 15 (uumlber Jakobs Vaterliebe zu Joseph) 9 Vgl Th Soumlding Solidaritaumlt in der Diaspora M Konradt Menschen- und Bruderliebe 10 Ganz deutlich ist Gad 42 Dan 51 bezieht sich direkt auf das Gebot und Gesetz (vgl Iss 51) des Herrn und hat dabei augenscheinlich auch Lev 1918 vor Augen Fuumlr den Einfluss des Lie-besgebots sprechen uumlberdies die Formulierungen von Benj 334 Rub 69b bezieht die Liebe zwar direkt auf den Bruder hat aber im parallelen Teilvers 6a den Naumlchsten aumlhnlich liegt der Fall in Dan 52a3b und Gad 61

Thomas Soumlding

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c Auch Schriften die tiefer in Palaumlstina wurzeln nehmen das Liebesgebot auf Das Buch der Jubilaumlen11

11 Die Originalsprache ist hebraumlisch zu den einschlaumlgigen Qumran-Fragmenten vgl JC VanderKam Textual and Historical Studies in the Book of Jubilees (HSM 14) Missoula 1977 Die davon abhaumlngige griechische Uumlbersetzung ist bruchstuumlckhaft erhalten vgl A-M Denis Fragmenta Pseudepigraphorum quae supersunt Graeca una cum Historicorum et auctorum Iudaeorum Hellenistarum Fragmentis collegit et ordinavit (PVTG 3) Leiden 1970 70-102 Die auf der griechischen Uumlbersetzung fuszligende aumlthiopische Fassung die in den gemeinsam uumlberlie-ferten Partien der Qumran-Version sehr genau entspricht hat ediert RH Charles Mashafa Kufacirclecirc or the Ethiopic Version of the Hebrew Book of Jubilees (Anecdota Oxoniensia) Oxford 1895 Deutsche Uumlbersetzung Klaus Berger Das Buch der Jubilaumlen in JSHRZ II3 (1981)

im 2 Jh vor Chr geschrieben protestiert gegen die Korrup-tion des Makkabaumlerstaates es tritt mit dem Anspruch auf Mose auf dem Sinai offen-bart worden zu sein (Jub 11-29) es will einem Israel das einer schleichenden Hellenisierung verfaumlllt neue Identitaumlt verleihen indem es den Blick auf die normative Anfangszeit die Zeit der Vaumlter und des Mose lenkt und von ihr her eine authentische Halacha entwickelt die es erst ermoumlglicht gerecht zu leben (Jub 2326-31) Zum his-torischen Paradigma wird der Bruderstreit zwischen Jakob und Esau (Jub 3420 - 392a) Das Liebesgebot ndash Lev 1918 wird nicht direkt aber indirekt zitiert ndash hat eine qualitativ groszlige Bedeutung weil es uumlber die Klaumlrung halachischer Fragen hinaus den Geist wie die Praxis des Zusammenhaltes schaumlrft allerdings nicht allein oder als Krouml-nung sondern im konstitutiven Verbund mit anderen ethischen Prinzipien wie Ge-rechtigkeit Die Verzeihung die Joseph den Bruumldern gewaumlhrt macht ihn zum ethi-schen Vorbild dem es nachzueifern gilt Die Pflicht zur Liebe endet aber dort wo es sich nicht mehr nur um persoumlnliche Gegnerschaft sondern um Konflikte mit Frevlern handelt die dem Gebot Gottes grundlegend zuwiderhandeln Eine universalistische Ausweitung der Bruderliebe fasst Jub 202 ins Auge Zwar bezieht sich das Liebesge-bot direkt nur auf die herbeigerufenen Kinder und Enkel Abrahams aber unter ihnen finden sich namentlich genannt auch Ismael mit seinen zwoumllf Kindern und die Kinder der Ketura mit ihren Soumlhnen (Jub 201) Dadurch wird bereits der juumldische Rahmen gesprengt Uumlberdies baut die Formulierung eine Verbindung zwischen Bruderliebe und Menschenliebe auf Im ethischen Nahbereich koumlnnen auch Nicht-Juden Naumlchste werden

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d Die Schriften aus Qumran12 enthalten in zwei Corpora bedeutende Zeugnisse einer Naumlchstenliebe die sich innerjuumldisch aus dem Konflikt mit Frevlern als Gegenstuumlck zum Feindeshass erklaumlrt13

bull Die Gemeinderegel (1QS vgl 1QSa) beschreibt das Zusammenleben einer juuml-dischen Reformbewegung die sich in striktem Gegensatz nicht nur zu den Heiden sondern auch zu den Priestern in Jerusalem als wahres Israel konsti-tuieren abseits vom Tempel Die Forschung diskutiert die Beziehung zu den Esseacutenern uumlber die Philo von Alexandrien (15 v Chr - 40 n Chr ) in seiner Schrift uumlber die Freiheit des Tuumlchtigen (Quod omnis probus liber sit 72-91) der juumldische Historiker Flavius Josephus (3738 - 100 n Chr) in seinen Buuml-chern uumlber den juumldischen Krieg (De bello Judaico 2 119-161) und die Ge-schichte Israels (Antiquitates Judaicae 181118-22) sowie der roumlmische Ge-lehrte Plinius der Aumlltere (23-79 nChr) in seiner Naturgeschichte (Naturalis historia 573) berichten

Fuumlr die Gemeinderegel ist ein religioumlser Dualismus zwischen den bdquoSoumlhnen des Lichtesldquo und den bdquoSoumlhnen der Finsternisldquo wesentlich Er entsteht durch den Frevel derjenigen die das Heilige wahren sollen er wird von Gott sanktio-niert Entscheidend ist in einem aufwendigen Konversionsverfahren den Weg aus der massa damnata in Israel zur Kommunitaumlt der Frommen zu finden um so der Gnade der Rechtfertigung teilhaftig zu werden Die Zugehoumlrigkeit zur Gemeinschaft zeigt sich im Ritus und im Ethos Das Ethos ist durch Naumlchstenliebe strukturiert (1QS 13f9ff 224 5425 82 91621 1026) Sie ist im Kern Zustimmung zu der Erwaumlhlung und Vergebung die dem Mitbruder wie der eigenen Person zuteil geworden ist Deshalb ent-spricht der Naumlchstenliebe der Feindeshass Er ist im Kern Ablehnung und Dis-tanzierung die aber gerade nicht durch Gewalt sondern durch strikte Gewalt-losigkeit strukturiert wird damit das Gesetz des Handelns nicht von den Frev-lern sondern den Gerechten bestimmt wird (1QS 1017f)

bull Die Hymnenrolle (1QH) sammelt Psalmen die den Kampf der Guten gegen die Boumlsen der Gerechten gegen die Ungerechten verherrlichen Die Sprache ist militaumlrisch der Stil metaphorisch Die Spiritualitaumlt passt zur Ekklesiologie und Ethik der Gemeinderegel aber welchen genauen Bezug es gibt ist in der Qumran-Forschung strittig Entscheidend ist Gott fuumlr die eigene Erwaumlhlung zu preisen Das dankbare Gotteslob spiegelt sich in der Abscheu vor dem und den Boumlsen Liebe ist Zu-stimmung zur Liebe Gottes Hass Zustimmung zum Hass Gottes (1QH 142-8)

Die beiden Corpora stammen aus vorchristlicher Zeit Sie dokumentieren die Zerris-senheit des Judentums in Palaumlstina aber auch den Reformeifer derer die ein heiliges Israel erneuen wollen 12 Deutsche Uumlbersetzungen E Lohse Die Texte aus Qumran Hebraumlisch und Deutsch Muumln-chen 21971 K Schubert - J Maier Die Qumran-Essener Texte der Schriftrollen und Lebensbild der Gemeinde (UTB 224) Muumlnchen - Basel 1982 143-312 Zur Tempelrolle vgl die Ausgabe von Y Yadin Megillat ham-Miqdas The Temple Scroll (Hebrew Edition) Bde I-IIIa Jerusalem 1977 deutsche Uumlbersetzung J Maier Die Tempelrolle vom Toten Meer (UTB 829) Muumlnchen - Basel 1977 13 Vgl Th Soumlding Feindeshass und Bruderliebe

Thomas Soumlding

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4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)

a Das Doppelgebot der Naumlchstenliebe uumlberliefert das Neue Testament bei den Synop-tikern in drei Fassungen

bull Markus erzaumlhlt von einem Konsensgespraumlch uumlber das groumlszligte Gebot zwischen Jesus und einem Schriftgelehrten in Jerusalem (Mk 1228-34) die Antwort Je-su eine Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 fuumlhrt zu einer Verstaumlndi-gung

bull Matthaumlus stimmt in der Thematik der Frage der Ortsangabe und der Kombi-nation beider Liebesgebote mit Markus uumlberein (Mt 2234-40) macht aber aus dem Konsens- ein Streitgespraumlch Jesus wird von einem Gesetzeslehrer auf die Probe gestellt und besteht die Herausforderung glaumlnzend indem er das Doppelgebot formuliert

bull Lukas kennt in seiner Version (Lk 1025-37) gleichfalls die Kombination er uumlberliefert wie Matthaumlus einen bdquoGesetzeslehrerldquo ndash nicht wie Markus einen bdquoSchriftgelehrtenldquo ndash als Partner und erzaumlhlt ndash wie Matthaumlus anders als Mar-kus ndash von einem Konfliktgespraumlch Aber bei ihm findet der Dialog auf dem Weg Jesu nach Jerusalem statt (Lk 951 - 1927) die Frage zielt auf das ewige Leben (wie in Mk 1017 par Mt) der Dialog spitzt sich auf die Frage nach dem Naumlchsten zu die Jesus mit dem Samaritergleichnis beantwortet

Die markinische Version ist (nach der Zwei-Quellen-Theorie) die aumllteste Matthaumlus laumlsst sich als Kuumlrzung und Zuspitzung lesen Ob aber Lk 1025-37 sich als Markus-Redaktion erklaumlren laumlsst ist fraglich Womoumlglich hat es ndash durch Q ndash eine Doppeluumlber-lieferung gegeben die eine Kontroverse mit einem Gesetzeslehrer enthalten hat Noch wahrscheinlicher ist dass es von Anfang verschiedene Versionen gegeben hat die von den Evangelisten unterschiedlich rezipiert worden ist In jedem Fall bezeugt die Breite der Uumlberlieferung dass das Liebesgebot fuumlr Jesus typisch gewesen ist

b In allen Versionen des Doppelgebotes gibt es gemeinsame Charakteristika bull die Form des Gespraumlches in der das Doppelgebot entwickelt wird bull den Bezug auf das Gesetz bei Markus (1228) und Matthaumlus (2236) durch die

Jesus gestellte Ausgangsfrage bei Lukas durch die Ruumlckfrage Jesu (1026) bei Matthaumlus durch den Schlusssatz Jesu unterstrichen (2240)

bull die Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 ad vocem Agape bull die Abfolge dass zuerst das Hauptgebot der Gotteslebe (Dtn 64f) dann das

Gebot der Naumlchstenliebe (Lev 1918f) kommt obwohl die kanonische Reihen-folge eine andere ist

Diese Charakteristika sind der Kernbestand der Tradition sie muumlssen zu Eckpfeilern der Interpretation werden

c Die unterschiedlichen Gespraumlchssituationen haben ihre eigene Logik bull Markus will zeigen dass es zu einer fundierten und breiten Verstaumlndigung Je-

su mit den Schriftgelehrten haumltte kommen koumlnnen auf der Basis der Tora bull Matthaumlus will zeigen dass die Hierarchisierung der Gebote strittig war und

geblieben ist bull Lukas will herausarbeiten dass das Doppelgebot Fragen stellt die Jesus be-

antworten kann Die unterschiedlichen Logiken koumlnnen nicht gegeneinander ausgespielt aber jeweils in das Evangelium eingeordnet werden in dem sie sich befinden

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d Alle Versionen bestimmen die Tora als Basis des Dialoges Alle bleiben im Rahmen juumldischer Hermeneutik Schrift legt Schrift aus Alle erweisen sich im religionsge-schichtlichen Vergleich als typisch jesuanisch

bull Einerseits gibt es im Judentum eine lebhafte Debatte aus didaktischen und theologischen Gruumlnden zu einer Hierarchie der Gebote zu gelangen In dieser Debatte ragt das Liebesgebot heraus Es gibt aber immer auch starke Kontro-versen uumlber die Richtigkeit und Guumlltigkeit solcher Elementarisierungen

bull Anderseits steht Jesus nicht gegen die Tora sonder erfuumlllt sie (vgl Mt 517-20) Dese Erfuumlllung hat eine spezifische Qualitaumlt diese Qualitaumlt bezeichnet das Liebesgebot das Jesus selbst praktiziert

Das Doppelgebot bricht nicht aus dem Gesetz aus sondern schlieszligt es auf

e Im fruumlhen Judentum gibt es keine direkte Parallele zum jesuanischen Doppelgebot Aber es gibt eine ganze Reihe von strukturaumlquivalenten Formulierungen sowohl im palaumlstinischen wie auch im hellenistischen Judentum Zum Teil sind sie direkt als Ge-bot einer doppelten Liebe zum Teil mit Varianten vor allem der Gottesfurcht gebil-det Diese Parallelen erhellen den juumldischen Kontext in dem das Doppelgebot steht Auffaumlllig ist in der Jesustradition zweierlei

1 die direkte Schriftzitation 2 der explizite Bezug zur Tora der reflektiert wird

Beides spiegelt die Programmatik der jesuanischen Position

f Die Struktur der Tradition leitet in jeder Variante von der Gottes- zur Naumlchstenliebe und bindet das Liebesgebot zusammen

bull Es gibt keine Gottesliebe ohne Naumlchstenliebe weil Gott den es zu lieben gilt nicht nur die Person liebt die lieben soll sondern auch diejenige die geliebt werden soll Diese Liebe Gottes als Basis ist im Doppelgebot nicht expliziert aber impliziert

o in der Einzigkeit Gottes so wie sie in der Bibel Israels und in der Jesus-tradition als Qualifikation des Schoumlpfers und Erhalters des Versoumlh-ners und Vollender entfaltet wird

o im Wort Agape das eo ipso von der Liebe Gottes gespeist wird Das Doppelgebot ist das beste Gegengift gegen Heuchelei

bull Es gibt keine Naumlchstenliebe ohne Gottesliebe ndash nicht weil es keine Ethik keine Menschlichkeit kein Mitleid und keine Solidaritaumlt ohne Gottesliebe gaumlbe (im Gegenteil) sondern weil die Naumlchstenliebe wie sie alt- und neutestamentlich expliziert wird den Naumlchsten als die von Gott geliebte Person liebt also Ein-stimmung in die Liebe Gottes ist die nur in der Liebe zu Gott explizit beant-wortet werden kann

bull Es gibt einen Primat der Gottes- vor der Naumlchstenliebe ndash nicht weil die Got-tes- wichtiger als die Naumlchstenliebe waumlre sondern weil Gott der Schoumlpfer all derer ist die lieben und geliebt werden sollen und sie alle zur Teilhabe an seiner Liebe fuumlhren will

Die Einheit der Gottes- und Naumlchstenliebe ist keine Identitaumlt sondern eine Spannung die ein hohes Energiefeld aufbaut

g Das Doppelgebot selbst enthaumllt keine Konkretion steht aber in den Evangelien die sich in die Tradition des Alten Testaments stellen und wird dadurch einerseits zum Kompass durch die Tora andererseits zum Katalysator von Aktualisierungen die pa-radigmatisch von Jesus angesprochen werden

Thomas Soumlding

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5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)

a Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter antwortet auf die wichtige Frage bdquoWer ist mein Naumlchsterldquo (Lk 1025-37)

bull Die Frage ist wichtig weil es um die Konkretionen der Liebe geht und Lev 1917f eine klare Antwort gibt Die Naumlchsten sind die Mit-Glieder des Gottes-volkes Hinzu treten die bdquoFremdenldquo (Lev 1934) die dauerhaft in Israel inte-griert sind nach der Septuaginta die Proselyten Die Konzentration auf diese Naumlchsten ist theologisch durch die gemeinsame Berufung des Volkes zur Hei-ligkeit begruumlndet Sie bewaumlhrt sich in Konflikten umfasst also de facto auch Feindesliebe

bull Die Frage wird von Jesus mit einer Geschichte beantwortet die auf provokan-te Weise einen Samariter zu einem Vorbild werden laumlsst Dass Jesus mit ei-nem Gleichnis antwortet setzt auf die argumentative Kraft einer Erzaumlhlung die nicht nur eine Welt vor Augen stellen sondern auch eine Sache klaumlren kann und zwar so dass Anteilnahme entsteht eine Verstrickung in die Ge-schichte durch Dramatik und Identifikation

Die Antwort auf die Frage wird nicht ohne ihre Umkehrung gegeben bdquoWer hellip ist zum Naumlchsten dessen geworden der unter die Raumluber gefallen istldquo (Lk 1036) Damit wird die Ausgangsfrage nicht desavouiert sondern konkretisiert Wer nach dem Naumlchsten fragt fragt auch nach sich selbst Und wer sich selbst von Naumlchsten umgeben weiszlig denen er verpflichtet ist muss selbst zum Naumlchsten derer werden wollen die auf Hilfe angewiesen sind

b Die Geschichte gehoumlrt zum Doppelgebot das bei Lukas (1025ff) wie bei Matthaumlus (2235-40) ein Streitgespraumlch ist waumlhrend es bei Markus ein Konsensgespraumlch ist (Mk 1228-34) Lukas hat es in die Zeit des oumlffentlichen Wirkens Jesu vorgezogen und kompositorisch konkretisiert

bull Mit einem bdquoGesetzeslehrerldquo trifft Jesus auf seinem Weg einen Experte fuumlr die Frage die er stellt

bull Das Doppelgebotsthema wird nicht nur durch das Samaritergleichnis sondern auch durch die Fortsetzung konkretisiert

o Die Beispielgeschichte Lk 1030-35 thematisiert das Tun (Lk 1037) o Die folgende Geschichte von Maria und Martha akzentuiert das Houmlren

(Lk 1038-42) o Die anschlieszligende Gebetslehre konkretisiert jene Gottesliebe die aus

dem Houmlren zum Sprechen fuumlhrt mit dem Vaterunser als Kern Durch die Komposition wird die Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe unter-strichen

Die Szenerie unterstreicht die Brisanz der Frage nach der Geltung des Gesetzes und erhoumlht damit den Stellenwert des Gleichnisses damit aber auch die Praumlgnanz des Samariterbildes Jesu

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c Der gesamte Text hat eine dialogische Struktur 1 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach dem Sinn des Lebens (Lk 1025) 2 Jesus fragt zuruumlck indem er auf das Gesetz verweist (1026) 3 Der Gesetzeslehrer zitiert das Doppelgebot (Lk 1027) 4 Jesus bestaumltigt und fordert zur Praxis (Lk 1028) 5 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach der Identitaumlt des Naumlchsten (Lk 1029) 6 Jesus fragt zuruumlck indem er das Gleichnis erzaumlhlt (Lk 1030-36) 7 Der Gesetzeslehrer gibt die richtige Antwort (Lk 1037a) 8 Jesus fordert zum Handeln (Lk 1037b)

Jesus agiert im sokratischen Stil Er laumlsst den Fragesteller selbst die Antwort finden ndash nicht irgendwo sondern im Gesetz und in seinem Gewissen Das spiegelt fuumlr Lukas die Uumlberlegenheit Jesu und die Menschlichkeit seiner Ethik

d Das Gleichnis arbeitet mit einem scharfen Kontrast bull Auf der einen Seite stehen der Priester und der Levit Repraumlsentanten des Ju-

dentums Sie muumlssten genau wissen was zu tun ist Sie haben wenn sie wie der Verletzte auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho sind auch keinen Grund sich aus kultischen Uumlberlegungen um sich nicht zu verunreinigen an einem vorbeizugehen von dem sie glauben dass er tot sei wenn sie auf dem Weg zuruumlck sind ist fuumlr die ggf erforderliche rituelle Reinigung genuumlgend Zeit

bull Auf der anderen Seite steht der Samariter dem man es am wenigsten zutrau-en wuumlrde dass er tut was recht ist Dessen Rolle wird aber von Jesus stark betont nicht nur durch den Kontrast sondern auch dadurch dass er weit uumlber die Erste Hilfe hinaus mehr als genug tut um dem Verletzten zu helfen Er selbst leistet den sprichwoumlrtlich gewordenen Samariterdienst und treibt ungewoumlhnlich intensive Vorsorge dass der Mann nachhaltig gesundet ndash nach allen Regeln der (damaligen) aumlrztlichen Kunst

Dieser Kontrast war den Menschen sowohl zur Zeit Jesu als auch zur Zeit des Evange-listen Lukas deutlich Lk 952-56 hat ihn frisch in Erinnerung gerufen

e Jesus laumlsst durch die Kunst seiner narrativen Argumentation dem Gesetzeslehrer keine Chance nicht von seiner Antwort uumlberzeugt zu werden die seinen eigenen mo-ralischen Standpunkt veraumlndert Alle Menschen die ein Herz im Leibe haben werden erkennen dass nicht der Priester nicht der Levit sondern ausgerechnet der feindli-che der bdquohaumlretischeldquo Samariter das einzig Richtige getan hat indem er dem unter die Raumluber gefallenen Menschen geholfen hat Das aber ist schon der erste Schritt in die Richtung die Jesus den Menschen zeigt damit sie Gott und den Naumlchsten neu entde-cken koumlnnen Wer aber nicht nur tatkraumlftig wie der Samariter hilft sondern als Jude weiszlig dass er ihn wegen seiner Naumlchstenliebe nachahmen sollte hat eine Grenze uumlberschritten die durch das Nahekommen der Basileia durchlaumlssig geworden ist Der Gesetzeslehrer versperrt sich dieser Lektion nicht Er ist deshalb ein positives Beispiel

Literatur Andregrave Lacoque Lhermeacuteneutique de Jeacutesus au sujet de la loi dans la Parabole du Bon Samari-

tain in Etudes theacuteologiques et religieuses 78 (2003) 25-46

Ruben Zimmermann Die Etho-Poietik des Samaritergleichnisses (Lk 1025-37) Eine Ethik des Schauens in einer Kultur des Wegschauens in Wort und Dienst 29 (2007) 51-69

Thomas Soumlding

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6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)

a Die fuumlnfte und sechste Antithese bilden bei Matthaumlus den Houmlhepunkt der Reihe die sich am Dekalog orientiert in der Feldrede bei Lukas markiert das Gebot der Feindes-liebe den Mittelpunkt der Ethik Die Feindesliebe bezeichnet in groumlszligter Konsequenz den Standpunkt der Moralitaumlt steht aber auch im Brennpunkt der Kritik

bull Ist Gewaltlosigkeit wuumlrdelos verantwortungslos kraftlos So Nietzsche14

bull Ist Feindesliebe unrealistisch So der gesunde Menschenverstand und das Ur-teil professioneller Politik

15 So auch der juumldische Einwand16 den zuletzt Jacob Neusner vorgetragen hat17

Die antithetische Form bei Matthaumlus zeigt das Potential der Kontroverse Es ist nicht das Ziel der Exegese sie aufzuloumlsen sondern sie auszuloumlsen

b Der Blick in die Synopse zeigt im Vergleich mit Lk 627-36 zweierlei bull Die antithetische Form ist ndash hier wie sonst ndash ein matthaumlisches Spezifikum Sie

dient der Profilierung der Ethik Jesu im Gegenuumlber zur Tora ndash unter dem Vor-zeichen der Erfuumlllung (Mt 517-20)

bull Bei Lukas ist Gewaltverzicht direkter Ausdruck der Feindesliebe Matthaumlus dif-ferenziert und kombiniert um zu akzentuieren

Die Synopse fordert bei der lukanischen Uumlberlieferungsform anzusetzen aber die matthaumlische Variante nicht als sekundaumlr abzutun sondern als Reflex jesuanischer Konkretionen in den Blick zu nehmen

c Das Gebot der Feindesliebe tradiert uumlber die Redenquelle (Q) ist Urgestein und Herzstuumlck der Ethik Jesu18

14 Also sprach Zarathustra III 21 (Werke VI1) bdquoIch sollte nur Feinde haben die zu hassen sind aber nicht Feinde zum Verachten ihr muumlsst stolz auf euren Feind sein (260)ldquo

Die Stellung in der matthaumlischen Bergpredigt und der luka-nischen Feldrede zeigt dass im Urchristentum diese zentrale Bedeutung gesehen und tradiert worden ist Paulus reflektiert sie in Roumlm 129-21 Auch im johanneischen Kon-zept der Bruderliebe ist sie vorausgesetzt

15 Max Weber Politik als Beruf (1919) in ders Gesammelte politische Schriften hg v J Winckelmann Tuumlbingen 31971 505-560 bdquoMit der Bergpredigt ist es eine ernstere Sache als die glauben die diese Gebote heute gern zitieren Wenn es in Konsequenz der akosmistischen Liebesethik heiszligt dem Uumlbel nicht widerstehen mit Gewaltlsquo ndash so gilt fuumlr den Politiker der Satz du sollst dem Uumlbel gewaltsam widerstehen sonst ndash bist du fuumlr seine Uumlberhandnahme verantwortlich (550f)ldquo 16 Der Jude Tryphon plaumldiert nach Justin dial 52 bdquoIch weiszlig auch dass eure Lehren die in dem sogenannten Evangelium stehen so erhaben und groszlig sind dass wie ich meine kein Mensch sie beobachten kannldquo 17 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 Neuausgabe Frei-burg - Basel - Wien 2007 (engl 1993) Neusner praumlzisiert Jesus maszlige sich das Recht Gottes an so zu sprechen wie es die Bergpredigt uumlberliefert 18 Th Soumlding Die Verkuumlndigung Jesu 570-583

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d Nach Lk 6 sind alle Houmlrer der Botschaft Jesu zur Feindesliebe gerufen In erster Linie sind es seine Juumlnger als stellvertretende Adressaten der Seligpreisungen und Weherufe (Lk 620-26) Lukas sieht die Kirche als Ort wo primaumlr die Feindesliebe ver-wirklicht sein will gerade auch gegenuumlber Nicht-Christen (und berichtet in der Apos-telgeschichte dass dies in der Urgemeinde auch geschehen sei) Nach Matthaumlus hat Jesus direkt seine Juumlnger angesprochen (Mt 51f) ndash aber so dass alles Volk (vgl 423ff) es houmlren und daruumlber staunen kann (Mt 728f) Die Pointe ist missionstheologisch Wenn die Juumlnger ausziehen alle Voumllker ihrerseits zu Juumlngern zu machen sollen sie nicht nur taufen sondern auch lehren bdquoalles zu haltenldquo was Jesus ihnen bdquogebotenldquo hat (Mt 2818ff)

d Die Feindschaften die Jesu Gebot anspricht sind so paradigmatisch ausgewaumlhlt und scharf zugespitzt dass prinzipiell jede denkbare Feindschaft im Blick stehen muss Es werden die empoumlrendsten Formen paradigmatisch konkretisiert

bull religioumlse Verfolgung (Lk 628 Mt 544) bull koumlrperliche Gewalt selbst wenn sie demuumltigen soll (Lk 628f Mt 539) bull wirtschaftliche Ausbeutung auch wenn sie sich den Anschein des Rechts gibt

(Mt 540) bull politisch-militaumlrische Unterdruumlckung auch wenn sie schier uumlbermaumlchtig

scheint (Mt 541) Jede denkbare Grenze der Feindesliebe wird uumlberschritten der Familie und Ver-wandtschaft des Freundeskreises der Glaubensgenossen der (mehr oder weniger) Guten der Angehoumlrigen des eigenen Volkes (vgl Lk 1025-37)

e Die Feindesliebe zeigt sich in den gleichfalls paradigmatischen Konkretisierungen bull als Fuumlrbitte fuumlr die Verfolger (Lk 628 par Mt 544) und Segnen der

Blasphemiker (Lk 628) ndash im Gegensatz zum Verfluchen und zur Bitte um ihre Vernichtung durch Gottes Strafgericht

bull als aktiver Gewaltverzicht gegenuumlber erlittener Uumlbermacht (Lk 629 Mt 538-42) ndash im Gegensatz dazu Unrecht mit gleicher Muumlnze heimzuzahlen

bull als selbstlose Unterstuumltzung der Armen auch wenn deren Bitten laumlstig faumlllt (Lk 630) ndash im Gegensatz zum Kalkuumll des do ut des

bull als engagierter Einsatz fuumlr das Gute (Lk 62733) ndash im Gegensatz zu einem Mitmachen wie zur Resignation

Feindesliebe ist nicht passiv sondern aktiv Sie kreiert eine neue Situation In diesen Konkretisierungen erhellt die Feindesliebe als radikalisierte Naumlchstenliebe (Lev 1917f) die im Kontext der Gottessliebe steht (Mk 1228-34 parr) Sie ist nicht das Einverstaumlndnis mit Unrecht Schuld und Schwaumlche schon gar nicht schwaumlchliches Hinnehmen von Unrecht sondern im Gegenteil starkes aber deshalb auch leidensfauml-higes Eintreten dafuumlr Boumlses durch Gutes zu uumlberwinden (Roumlm 1221)

Thomas Soumlding

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h Die Feindesliebe ist theologisch begruumlndet und motiviert bull Der theologische Grund ist das Handeln Gottes selbst der als Schoumlpfer und Er-

loumlser permanent Feindesliebe praktiziert (Lk 635 Mt 545 vgl Roumlm 55ff) o Mit dem Blick ins Buch der Natur zeigt Jesus nach Matthaumlus Gott als

den der auch den Boumlsen und Ungerechten das Leben schenkt weil er will dass sie leben (nicht weil er will oder toleriert dass sie Boumlses und Unrechtes tun)

o Der Vergleich mit dem aumlhnlichen Motiv bei Seneca der (nicht zu Feindesliebe aber) zu groszligmuumltiger Gelassenheit gegenuumlber Feinden mahnt macht den Unterschied deutlich denn nach ihm kann Gott nicht anders als die Unterstuumltzung der Boumlsen in Kauf zu nehmen wenn er den Guten helfen will ndash wofuumlr er sich entscheidet weil das Gute mehr wert ist als das Boumlse

bull Das theologische Motiv ist die Nachahmung Gottes die imitatio Dei (Lk 636 Mt 548) der die Verheiszligung ewigen Lebens gilt des bdquoLohnesldquo der in der Gotteskindschaft besteht

In dieser Theozentrik ist die Feindesliebe Zustimmung zu der Liebe mit der Gott auch die Ungerechten und Suumlnder liebt ndash ohne ihre Suumlnde gutzuheiszligen aber auch ohne ihnen wegen ihrer Schuld seine Zuwendung zu entziehen

i Das Gebot der Feindesliebe ist angewandte Christologie bull Einerseits ist es Jesus der das Gebot ndash nach Matthaumlus im Gegensatz zur herr-

schenden Auslegung des atl Liebesgebotes ndash der Feindesliebe aufstellt bull Andererseits ist es Jesus der das Gebot umfassend verwirklicht ndash vorbildlich

in seinem Leiden heilbringend in seiner Lebenshingabe aus reiner Liebe

f Das bdquoAuge um Auge Zahn um Zahnldquo (Ex 2124) begrenzt die Vergeltung das bdquoIch aber sage euchldquo aktiviert zur Versoumlhnung Das alttestamentliche Gebot der Naumlchstenliebe umfasst innerhalb Israels Feindesliebe (Lk 1917f) und weitet sie aus (Lev 1934) Das bdquoIch aber sage euchldquo setzt sich von einer Auslegung ab die aus Sorge um Gottes Gerechtigkeit die Grenzen der Erloumlsung zu eng zieht Dafuumlr gibt es Beispiele in Qumran Der originaumlre Bezug des Gebotes der Naumlchstenliebe auf das Volk Gottes wird nicht aufgegeben aber ausgeweitet

bull In der Juumlngerschaft ist ndash in Israel und uumlber Israel hinaus ndash der Ort an dem die Feindesliebe so praktiziert werden soll dass sie ausstrahlt (vgl Mt 513-16)

bull Zum Volk Gottes gehoumlren nicht nur die Juden und alle die an Jesus glauben Gott hat vielmehr Jesus (nach Matthaumlus wie nach Lukas) deshalb gesendet damit durch seinen Dienst am Heil der Menschen der reine Feindesliebe ist alle Voumllker zu seinem Volk werden Die Kirche repraumlsentiert und realisiert stellvertretend diese Heilsuniversalitaumlt Ihre Feindesliebe konkretisiert sie ethisch

Feindesliebe durchbricht das Prinzip der Vergeltung ohne das Prinzip der Gerechtig-keit aufzugeben Das ist nur deshalb sittlich erlaubt und geboten weil das Gebot in der Liebe Gottes selbst begruumlndet ist die sich in der Feindesliebe Jesu realisiert die ihrerseits der theologische Nerv seines Lebens und Sterbens zur Erloumlsung der Suumlnder ist

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j Das psychologische Problem das Sigmund Freud scharf markiert hat19

Das ethische Problem das Fjodor Dostojewksi (Die Bruumlder Karamasow) Iwan in den Mund legt lautet

besteht da-rin dass blinde Aggressionen entwickelt wer sich moralisch uumlberfordert Dieses Prob-lem laumlsst sich wohl nur spirituell loumlsen in der Nachfolge Jesu die auf seine Kraft setzt in den Nachfolgern das Gute zu tun

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k Das Problem der Erfuumlllbarkeit der Bergpredigt und speziell des Gebotes der Fein-desliebe bewegt Theologie und Kirche seit aumlltester Zeit Eine erhebliche Verschaumlrfung des Problems geschieht durch eine moderne Emotionalisierung der Feindesliebe Wird sie aber als Ausdruck der Agape verstanden begruumlndet sie ndash in der Nachfolge Jesu ndash eine Praxis des Glaubens aus der Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe Als solche kann sie durchaus eingeuumlbt ausgebildet und gefestigt werden Sie setzt die Suche nach dem besten Weg der Verwirklichung nicht aus sondern ein Sie entspricht aber darin der Gottebenbildlichkeit aller Menschen und der Gotteskindschaft der zu Erloumlsenden dass sie an der Unbedingtheit der Bejahung die Gott ihnen zuteilwerden laumlsst Anteil hat

dass Feindesliebe letztlich Kumpanei mit den Taumltern auf Kosten der Opfer sei Dieses Problem das haumlufig nicht gesehen wird laumlsst sich nur soteriolo-gisch loumlsen weil derjenige der selbst aus reiner Liebe die Schuld der anderen ertra-gen und vergeben hat das Reich Gottes als umfassende Vollendung von Gerechtig-keit Friede und Freude (Roumlm 1417) verwirklicht

19 Das Unbehagen in der Kultur in Gesammelte Werke 14 London 1948 419-506 468-475493-506 (Abschnitte V VIII) bdquoNachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte war die aumluszligerste Intoleranz des Christentums gegen die drauszligen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge gewordenldquo (374) 19 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 20 bdquoSchlieszliglich will ich auch gar nicht dass die Mutter den Peiniger umarmt der ihren Sohn von Hunden zerreiszligen lieszlig Sie darf sich nicht unterstehen ihm zu verzeihen Wenn sie will mag sie verzeihen soweit es sie selber angeht sie mag dem Peiniger ihr maszligloses Mutterleid ver-zeihen aber die Leiden ihres zerfleischten Kindes zu verzeihen hat sie kein Recht sie darf es nicht wagen dem Peiniger zu verzeihen auch wenn das Kind selber ihm verzieheldquo (Muumlnchen 1958 330f

Thomas Soumlding

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7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)

71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20) a Mit der Fuszligwaschung21

b Die Fuszligwaschung ist das Zeichen der Passion Ihr folgen Gespraumlche mit den Juumln-gern die zwar von Jesus gewaschen und gereinigt sind aber groumlszligte Schwierigkeiten haben zu verstehen was sich tut

beginnt der 2 Hauptteil des Johannesevangeliums Das oumlffentliche Wirken ist abgeschlossen Jesus konzentriert sich auf seine Juumlnger bevor er oumlffentlich hingerichtet werden wird Er bereitet sie auf seine Passion und seine Auferstehung vor die den Weg zu Gott bahnen werden

bull Auf die Fuszligwaschung folgt zuerst eine Trias unmittelbarer Konsequenzen o Judas wird als Verraumlter identifiziert und verlaumlsst den Juumlngerkreis (Joh

1321-30) o Die Juumlnger werden zur wechselseitigen Liebe gemahnt (Joh 1331-35) o Petrus wird seine Verleugnung vorhergesagt (Joh 1336ff)

bull Auf die Fuszligwaschung folgen ausfuumlhrliche Abschiedsworte (Joh 14-16) die in ein Abschiedsgebet muumlnden (Joh 17)

c Joh 131-20 ist uumlbersichtlich aufgebaut

Joh 131 Der Hintergrund Joh 132-5 Die Fuszligwaschung beim Mahl 132 Die Situation 133ff Die Handlung Jesu Joh 136-11 Das Gespraumlch mit Petrus 136 Der erste Einwand des Petrus 137 Die erste Antwort Jesu 138a Der zweite Einwand des Petrus 138b Die zweite Antwort Jesu 139 Der dritte Einwand des Petrus 1310 Die dritte Antwort Jesu 1311 Kommentar des Evangelisten Joh 1312-20 Die Deutung vor allen Juumlngern 1312-17 Die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu 1318f Die Ansage eines Verrates 1320 Die Juumlnger als Apostel

21 Vgl Luise Abramowski Die Geschichte von der Fuszligwaschung in Zeitschrift fuumlr Theologie und Kirche 102 (2005) 176-203

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d Die Exegese diskutiert in welchem Verhaumlltnis die beiden Deutungen zu einander stehen Die erste ist soteriologisch die zweite ethisch ausgerichtet

bull Recht oft wird aus der Doppelung auf ein literarisches Wachstum des Textes geschlossen

o Moumlglichkeit 1 Die soteriologische Deutung ist die aumlltere die paraumlnetische die se-kundaumlre22

o Moumlglichkeit 2 Die ethische Deutung ist urspruumlnglich die soteriologisch nachtraumlglich zwischengeschoben

23

Beide Ansaumltze sind von weitereichenden Voraussetzung zur relativen Chrono-logie des Corpus Johanneum gepraumlgt

o Wer den Ersten Johannesbrief fuumlr aumllter erachtet wird die ethische Deutung fuumlr urspruumlnglich halten

o Wer das Evangelium fuumlr aumllter erachtet wird eher die soteriologische Deutung als originaumlr einschaumltzen

Die ethische Deutung wird dann fuumlr sekundaumlr zu erachten wenn man zu dem Urteil gelangt die johanneische Theologie sei urspruumlnglich wenig konkret und eher spirituell ausgerichtet waumlhrend erst sekundaumlr Johannes gesamtkirchlich eingenordet worden sei Beide Ansaumltze gehen von einem literarischen Schichtenmodell aus das der Ei-genart johanneischer Literatur in den Evangelienerzaumlhlungen nicht angemes-sen ist Beide werden durch das Modell einer bdquorelectureldquo gemildert das ndash aumlhnlich wie in der Prophetenexegese des Alten Testaments ndash mit einer Fortschreibung der Texte rechnet aber sie zugleich als vergegenwaumlrtigende Aneignung des vor-gegebenen Textes versteht24

bull Es mehren sich wieder die Stimmen die Joh 13 als literarisch einheitlich anse-hen

Allerdings stoumlszligt dieses Modell auf die Schwie-rigkeit dass das Liebesgebot das die ethische Deutung vorbereitet in Joh 1331-35 dominant ist und nicht nur in Joh 15-16 ausgefuumlhrt sondern auch in Joh 1421 angebahnt wird

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Die Doppelung erklaumlrt sich aus der Theologie der Liebe Sie hat eine Innenseite die Liebe Jesu zu sein Seinen in der sich nach Joh 1421 die Liebe das Vaters zum Sohn ereignet und sie hat eine Auszligenseite die sich nach Joh 1331-35 und Joh 15 in der Bruderliebe der Juumlnger erweist von der die Welt angezogen werden wird (Joh 17)

Allerdings braucht es eine Erklaumlrung fuumlr die Deutung Eine moumlgliche Er-klaumlrung waumlre der Adressatenwechsel aber die Petrusszene spielt sich vor den Augen und Ohren aller ab

22 So Rudolf Schnackenburg Joh III passim 23 So Udo Schnelle Joh 237 Er will eine Ursprungsform (132a4512ab162017) die recht nahe bei Lk 22 und der Mahnung der Juumlnger zum Dienen steht zuerst in der johanneischen Schule (der er den Ersten Johannesbrief mit seiner Theologie der Liebe zurechnet) um die Vorbildethik erweitert sehen (1312c13-15) bevor der Evangelist selbst von der Einleitung an (131) konsequent seine soteriologische Deutung ins Fundament der Geschichte eingebaut habe (136-10ab) 24 So Jean Zumstein Joh 25 So Hartwig Thyen Joh

Thomas Soumlding

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711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus a Die Liebe Jesu zu den Seinen (Joh 131) verwirklicht die Liebe Gottes zur Welt (Joh 316) die von der Liebe des Vaters zum Sohn getragen wird (Joh 335 1017) Es ist die nach der Zwischennotiz von Jesu Freundschaft mit Martha Maria und Lazarus (Joh 115) erste Betonung der Agape Jesu von der spaumlter das Liebesgebot Joh 1334 und die Verheiszligung dauernden Beistandes der Juumlnger gedeckt ist (Joh 1421-31)

b In der Liebe Jesu zu den Seinen verbindet sich die Liebe Gottes zur Welt mit der Liebe Jesu zu seinen Freunden (Joh 15) Es ist eine unbedingte Bejahung und Wert-schaumltzung die auf Sympathie beruht und lebendig macht

c Die Liebe erweist Jesus den bdquoSeinenldquo bull Im Ruumlckraum steht Joh 19-13 dass die bdquoSeinenldquo den Logos abgelehnt haben

ndash bis auf diejenigen die an seinen Namen glauben und deshalb das Recht der Gotteskindschaft erhalten

bull Die bdquoSeinenldquo sind die Juumlnger die sich von Jesus in die Nachfolge haben rufen lassen (Joh 135-51) und in der galilaumlischen Krise Jesus nicht verlassen haben (Joh 660-71) Sie haben ihrerseits schwere Glaubensprobleme ndash aber werden sie durch Jesus uumlberwinden

bull In Joh 14 und Joh 17 wird erklaumlrt werden dass die Liebe Jesu zu den Seinen ndash wie die zum Lieblingsjuumlnger ndash nicht exklusiv sondern positiv zu verstehen ist

Dass Jesus den Seinen die Liebe bdquobis zum Endeldquo erweist verweist auf den Tod Jesu Das griechische Wort ist mehrdeutig teloj kann bdquoEndeldquo aber auch bdquoZielldquo bedeuten Beide Bedeutungen schwingen mit

bull Der Tod Jesu ist das definitive Ende seiner geschichtlichen Sendung das zu akzeptieren wird den Juumlngern ungeheuer schwer fallen

bull Der Tod Jesu ist das Ziel seines Wirkens insofern es seine Liebe und Hingabe definitiv werden laumlsst

Der Korrespondenzsatz ist das Todeswort Jesu Joh 1930 bull Es ist ein Gebet wie nach allen Synoptikern (Mk 1534 par Mt 2746 bdquoGott

mein Gott warum hast du mich verlassenldquo ndash Ps 222 Lk 2346 bdquoVater in deine Haumlnde gebe ich meinen Geistldquo ndash Ps 316) aber als letztes Offenba-rungswort an die Welt

bull Die traditionelle Uumlbersetzung lautet bdquoEs ist vollbrachtldquo Man kann aber auch sagen bdquovollendetldquo (Muumlnchner Neues Testament Bible de Jerusaleme bdquoCest acheveacuteldquo) oder bdquozu Endeldquo (King James Bible bdquoIt is finishedldquo)

Eine moumlgliche auf Joh 131 abgestimmte Uumlbersetzung waumlre (wie im Muumlnchener Neu-en Testament) bdquoEs ist vollendetldquo (tetelestai)

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712 Die Fuszligwaschung a Jemandem vor dem Mahl die Fuumlszlige zu waschen ist ein Dienst den traditioneller-weise Sklaven ihren Herren erweisen (vgl 1Sam 2541)26

Joh 1313f zeigt dass die sozialen Dimensionen der Fuszligwaschung klar vor Augen stehen der Gesamttext dass der Ritus sakramental gefuumlllt wird

Das Waschen der Fuumlszlige ist ein Ritus der Vorbereitung der eine koumlrperliche Wohltat mit einer Geste der Houmlflich-keit verbindet die Anerkennung und Ehrerbietung meint (Gen 184 vgl Lk 744) und zudem mit einer rituellen Bedeutung versieht die einen Uumlbergang gestaltet von drauszligen nach drinnen vom Alltag zum Fest vom Profanen zum Heiligen

7121 Die soteriologische Deutung a Im Gespraumlch mit Petrus wird die Bedeutung der Fuszligwaschung soteriologisch gedeu-tet Sie ist eine bdquoReinigungldquo ndash nicht wie in der Taufe sondern wie in der Buszlige Petrus braucht keine Wiederholung der Wiedergeburt die er als glaumlubig gewordener Taumluferjuumlnger erlebt hat aber er bedarf mehr als andere der Vergebung weil er ndash ent-gegen seinem Vorsatz ndash Jesus verleugnet Waumlhrend er sagt fuumlr Jesus sterben zu wol-len muss gerade fuumlr ihn Jesus sterben

b Petrus erkennt nach Joh 136 das Unmoumlgliche der Situation dass der Herr ihm ei-nen Sklavendienst leistet Er wehrt diesen Dienst doppelt ab (Joh 1368a) ndash so wie er nach Joh 1336ff nicht will dass Jesus fuumlr ihn sein Leben einsetzt In diesem Nein kommt eine Liebe zu Jesus zum Ausdruck die bestimmen will Gleichzeitig aber ist das Nein auch Ausdruck des Missverstaumlndnisses dass Petrus der Diakonie Jesu womoumlglich gar nicht bedarf Petrus verschaumlrft seinen Widerspruch der aus Unverstaumlndnis stammt indem er dann ganz gewaschen werden will (Joh 139) ndash womit er aber seine Berufung leugnet

c Jesus deckt das Missverstaumlndnis des Petrus auf Die Fuszligwaschung steht nicht am Anfang sondern an einer Biegung des Weges mit Jesus Die Weg-Gemeinschaft ist darin begruumlndet dass Jesus sich in seinen Dienst stellt Dem muss entsprechen dass Petrus sich den Dienst gefallen laumlsst Er muss Jesus so nahe wie in der Fuszligwaschung an sich heranlassen Er muss den Rollentausch akzeptieren Die Langversion von Vers 10 die durch den Codex Vaticanus gedeckt und als lectio difficilior gesichert ist entspricht dem Kontext

bull Im Bild Auch nach dem Vollbad macht man sich wieder die Fuumlszlige schmutzig Man laumlsst sie sich waschen damit auch sie sauber sind man laumlsst nur sie waschen weil der sonstige Koumlrper gereinigt ist

bull In der Sache Wer durch das Bad der Wiedergeburt die Taufe bdquoganz reinldquo geworden ist muss diese Reinheit aber durch seine Schuld verloren hat muss sich die Fuumlszlige waschen lassen um durch Jesus zu Gott zu gelangen Dem entspricht am ehesten eine Deutung auf die Buszlige wie sie orthodoxen Vaumlter favorisieren

26 Hellenistische Parallelen Neuer Wettstein I2 636-644

Thomas Soumlding

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7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
    • Kontakt
      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
        • Markusevangelium
        • Lukasevangelium
        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 10: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

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d Die Konzentration der Naumlchstenliebe begruumlndet keine Doppelmoral sie ist positiv nicht exklusiv verstanden Das zeigt die Ausweitung auf die bdquoFremdenldquo mit derselben Maszligeinheit bdquowie dich selbstldquo Die Begruumlndung bdquodenn ihr seid selbst Fremde in Aumlgyp-ten gewesenldquo (Lev 1933f) erhellt eine uumlberraschende weil verdraumlngte Naumlhe Israel kann und soll das Leben der bdquoFremdenldquo nachfuumlhlen und sich ihnen in gleicher Weise wie den Mitgliedern des eigenen Volkes ndash bdquowie dich selbstldquo ndash zuwenden Die bdquoFremdenldquo sind in der Rechtssprache der Tora Nicht-Juden die dauerhaft im Hei-ligen Land leben Sie sind Buumlrger zweiter Klasse in Israel ndash wie einst Israel in Aumlgypten Desto wichtiger ist das Liebesgebot Die Septuaginta (LXX) uumlbersetzt mit bdquoProselytldquo um die Situation der Diaspora zu beruumlcksichtigen und den zuweilen prekaumlren Status der Konvertiten zum Judentum zu verbessern Im woumlrtlichen Sinn sind die bdquoProsely-tenldquo diejenigen die von auszligen hinzukommen insofern waren fuumlr die griechischen Uumlbersetzer die Israeliten in Aumlgypten bdquoProselytenldquo Wer nur auf der Durchreise ist ist keineswegs rechtlos er genieszligt Gastrecht und Gastfreundschaft4

Die Direktheit und Nachhaltigkeit des Liebesgebotes wird durch die Ausweitung un-terstrichen

deren Heiligkeit aumllter ist als das geschriebene Gesetz

e Das Liebesgebot wird zwar an anderen Stellen des Alten Testament (lange) nicht zitiert gehoumlrt aber in ein Feld aumlhnlicher ethischer Weisungen Es ist beeinflusst und es hat beeinflusst5

f Eine solche Liebe ist nicht storgeacute weil das Volk Gottes die natuumlrlichen Familienban-de uumlberschreitet wiewohl Israel oft genealogisch verstanden wird Sie ist nicht Freundschaft weil die Beziehung die sie kultiviert nicht freiwillig gewaumlhlt und gestal-tet sondern von Gott vorgegeben ist Diese Liebe kann nicht im Eros aufgehen weil sie weniger das Hingerissensein von anderen als die Weggemeinschaft mit ihnen kul-tiviert sie ist Agape weil sie von Gott kommt auch wenn im Kontext nicht expressis verbis von Gottes Liebe die Rede ist Unleugbar aber ist es Liebe zu vergeben und Rachegeluumlsten nicht nachzugeben sondern am Aufbau einer Friedensbeziehung zu arbeiten Nicht das Begehren sondern die Sympathie ist der Motor der Agape Aber sie begehrt verstanden und angenommen zu werden Getragen ist sie von der heili-gen Liebe Gottes ndash und zwar nicht nur weil allein Gott die Kraft geben kann den ers-ten Schritt der Versoumlhnung zu tun sondern weil Gott diejenigen die auf sein Wort houmlren sollen erst zu Houmlrern des Wortes macht und sie in sein Volk hineinstellt das er sich erwaumlhlt hat

Ex 244f ist ein gutes Beispiel fuumlr angewandte Feindes- Dtn 221-4fuumlr aktive Bruderliebe

4 Vgl Helga Rusche Gastfreundschaft im Alten Testament im Spaumltjudentum und in den Evan-gelien in ZMRW 41 (1957) 170-188 5 Vgl Gianni Barbiero ElAsino dell Nemico Rinuncia alla vendetta e amore dell nemico nella legislatione dellAntico Testamento (Es 234-5 Dt 221-4 Lv 1917-18) (AnBib 128) Rom 1991

Thomas Soumlding

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3 Das Liebesgebot im Judentum

a In den alttestamentlichen Spaumltschriften steigt die Bedeutung des Liebesgebotes bull Die Semantik der Septuaginta (mit der Agape als Zentrum) staumlrkt den theolo-

gischen Grundzug durch die explizit gewordene Verbindung mit der Liebe Gottes und der Liebe zu Gott

bull Nach Tob 413 soll die Naumlchstenliebe als Bruderliebe die juumldische Kommunitaumlt in der Diaspora aber auch im Heiligen Land staumlrken deshalb ist das Liebesge-bot mit der Warnung vor einer Mischehe verbunden

bull Nach Jesus Sirach6

o als Liebe zum Sklaven der aufgrund seiner Treue und Bildung als Partner anerkannt werden soll (Sir 721)

wird das Gebot der Naumlchstenliebe in verschiedenen sozia-len Kontexten konkretisiert

o als Konstituierung einer ethischen Maxime die auf die Goldene Regel zulaumluft (Sir 3115)

o als Schaumlrfung des Gewissens fuumlr den caritativen Einsatz fuumlr Arme (Sir 3423-27)

Die Konkretisierungen passen in das Schema weisheitlicher Ethik das im Neu-en Testament auch der Jakobusbrief ausfuumlllt

Die Steigerung der Bedeutung erklaumlrt sich aus zwei Gruumlnden bull einer Personalisierung der Ethik bull und einer Vermittlung juumldischer Ethik die auf Elementarisierung setzt

Die Bedeutungssteigerung erhoumlht die Attraktivitaumlt der juumldischen Ethik in der antiken Welt

6 Vgl Th Soumlding Naumlchstenliebe bei Jesus Sirach

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b Aus der Septuaginta erklaumlrt sich die hohe Aufmerksamkeit fuumlr das Liebesgebot im hellenistischen Judentum Die Testamente der Zwoumllf Patriarchen7 reden haumlufig im ethischen Sinn von Liebe8 nahezu durchweg in der Form direkter oder indirekter Aufforderungen Die TestXII sind eine griechisch uumlberlieferte im 2 Jh von christlicher Hand redigierte aber dem wesentlichen Textbestand nach urspruumlnglich juumldische Schrift deren Wurzeln bis in das 2 Jh v Chr reichen koumlnnen Die Testamente nehmen Gen 49 auf und lassen die 12 Soumlhne Jakobs ihrerseits Abschiedsreden halten9

Lev 1918 wird zwar nicht explizit zitiert aber an vielen Stellen angespielt und durch-weg aktualisiert

Sie arbeiten das Problem der Diaspo-ra auf die als Zerstreuung gesehen und als Strafe Gottes gedeutet wird In dieser Si-tuation kommt es auf den inneren Zusammenhalt der Juden an der nach den Patriarchentestamenten nicht nur rituell sondern auch ethisch begruumlndet werden soll

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7 Aumlltere Standardausgabe RH Charles The Greek Versions of the Testaments of the Twelve Patriarchs Oxford 1908 Nachdruck Darmstadt 1960 Neuere Edition Mde Jonge - HW Hollander - Hde Jonge - Th Korteweg The Testaments of the Twelve Patriarchs A Critical Edition of the Greek Text (PVTG I2) Leiden 1978 Die aramaumlische Version des TestLevi enthaumllt kein Liebesgebot Deutsche Uumlbersetzung J Becker Die Testamente der zwoumllf Patriarchen in JSHRZ III1 (21980)

Es zeigen sich Rezeptionslinien die im Bedeutungsfeld von Lev 1917f bleiben (vgl TestGad 43-8) die Explikation der Heiligkeit daumlmpfen aber den Bezug auf die Nachbarschaften im Gottesvolk Israel nicht aufgeben sondern unter den Bedingungen der Diaspora konkretisieren Nur in TestIss 76 (bdquohellip jeden Menschen hellipldquo) ist eine universalistische Deutung moumlglich

8 Vgl TestRub 69 Sim 447 Iss 52 76 Seb 85 Dan 53 Gad 42(6)7 613 77 Jos 1723 Benj 33ff 435 81 vgl auch Ass 24 Gad 33 (uumlber den Hasser) 46 Jos 175 Benj 82 (uumlber das Verhaumlltnis des Mannes zur Frau) Gad 15 (uumlber Jakobs Vaterliebe zu Joseph) 9 Vgl Th Soumlding Solidaritaumlt in der Diaspora M Konradt Menschen- und Bruderliebe 10 Ganz deutlich ist Gad 42 Dan 51 bezieht sich direkt auf das Gebot und Gesetz (vgl Iss 51) des Herrn und hat dabei augenscheinlich auch Lev 1918 vor Augen Fuumlr den Einfluss des Lie-besgebots sprechen uumlberdies die Formulierungen von Benj 334 Rub 69b bezieht die Liebe zwar direkt auf den Bruder hat aber im parallelen Teilvers 6a den Naumlchsten aumlhnlich liegt der Fall in Dan 52a3b und Gad 61

Thomas Soumlding

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c Auch Schriften die tiefer in Palaumlstina wurzeln nehmen das Liebesgebot auf Das Buch der Jubilaumlen11

11 Die Originalsprache ist hebraumlisch zu den einschlaumlgigen Qumran-Fragmenten vgl JC VanderKam Textual and Historical Studies in the Book of Jubilees (HSM 14) Missoula 1977 Die davon abhaumlngige griechische Uumlbersetzung ist bruchstuumlckhaft erhalten vgl A-M Denis Fragmenta Pseudepigraphorum quae supersunt Graeca una cum Historicorum et auctorum Iudaeorum Hellenistarum Fragmentis collegit et ordinavit (PVTG 3) Leiden 1970 70-102 Die auf der griechischen Uumlbersetzung fuszligende aumlthiopische Fassung die in den gemeinsam uumlberlie-ferten Partien der Qumran-Version sehr genau entspricht hat ediert RH Charles Mashafa Kufacirclecirc or the Ethiopic Version of the Hebrew Book of Jubilees (Anecdota Oxoniensia) Oxford 1895 Deutsche Uumlbersetzung Klaus Berger Das Buch der Jubilaumlen in JSHRZ II3 (1981)

im 2 Jh vor Chr geschrieben protestiert gegen die Korrup-tion des Makkabaumlerstaates es tritt mit dem Anspruch auf Mose auf dem Sinai offen-bart worden zu sein (Jub 11-29) es will einem Israel das einer schleichenden Hellenisierung verfaumlllt neue Identitaumlt verleihen indem es den Blick auf die normative Anfangszeit die Zeit der Vaumlter und des Mose lenkt und von ihr her eine authentische Halacha entwickelt die es erst ermoumlglicht gerecht zu leben (Jub 2326-31) Zum his-torischen Paradigma wird der Bruderstreit zwischen Jakob und Esau (Jub 3420 - 392a) Das Liebesgebot ndash Lev 1918 wird nicht direkt aber indirekt zitiert ndash hat eine qualitativ groszlige Bedeutung weil es uumlber die Klaumlrung halachischer Fragen hinaus den Geist wie die Praxis des Zusammenhaltes schaumlrft allerdings nicht allein oder als Krouml-nung sondern im konstitutiven Verbund mit anderen ethischen Prinzipien wie Ge-rechtigkeit Die Verzeihung die Joseph den Bruumldern gewaumlhrt macht ihn zum ethi-schen Vorbild dem es nachzueifern gilt Die Pflicht zur Liebe endet aber dort wo es sich nicht mehr nur um persoumlnliche Gegnerschaft sondern um Konflikte mit Frevlern handelt die dem Gebot Gottes grundlegend zuwiderhandeln Eine universalistische Ausweitung der Bruderliebe fasst Jub 202 ins Auge Zwar bezieht sich das Liebesge-bot direkt nur auf die herbeigerufenen Kinder und Enkel Abrahams aber unter ihnen finden sich namentlich genannt auch Ismael mit seinen zwoumllf Kindern und die Kinder der Ketura mit ihren Soumlhnen (Jub 201) Dadurch wird bereits der juumldische Rahmen gesprengt Uumlberdies baut die Formulierung eine Verbindung zwischen Bruderliebe und Menschenliebe auf Im ethischen Nahbereich koumlnnen auch Nicht-Juden Naumlchste werden

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d Die Schriften aus Qumran12 enthalten in zwei Corpora bedeutende Zeugnisse einer Naumlchstenliebe die sich innerjuumldisch aus dem Konflikt mit Frevlern als Gegenstuumlck zum Feindeshass erklaumlrt13

bull Die Gemeinderegel (1QS vgl 1QSa) beschreibt das Zusammenleben einer juuml-dischen Reformbewegung die sich in striktem Gegensatz nicht nur zu den Heiden sondern auch zu den Priestern in Jerusalem als wahres Israel konsti-tuieren abseits vom Tempel Die Forschung diskutiert die Beziehung zu den Esseacutenern uumlber die Philo von Alexandrien (15 v Chr - 40 n Chr ) in seiner Schrift uumlber die Freiheit des Tuumlchtigen (Quod omnis probus liber sit 72-91) der juumldische Historiker Flavius Josephus (3738 - 100 n Chr) in seinen Buuml-chern uumlber den juumldischen Krieg (De bello Judaico 2 119-161) und die Ge-schichte Israels (Antiquitates Judaicae 181118-22) sowie der roumlmische Ge-lehrte Plinius der Aumlltere (23-79 nChr) in seiner Naturgeschichte (Naturalis historia 573) berichten

Fuumlr die Gemeinderegel ist ein religioumlser Dualismus zwischen den bdquoSoumlhnen des Lichtesldquo und den bdquoSoumlhnen der Finsternisldquo wesentlich Er entsteht durch den Frevel derjenigen die das Heilige wahren sollen er wird von Gott sanktio-niert Entscheidend ist in einem aufwendigen Konversionsverfahren den Weg aus der massa damnata in Israel zur Kommunitaumlt der Frommen zu finden um so der Gnade der Rechtfertigung teilhaftig zu werden Die Zugehoumlrigkeit zur Gemeinschaft zeigt sich im Ritus und im Ethos Das Ethos ist durch Naumlchstenliebe strukturiert (1QS 13f9ff 224 5425 82 91621 1026) Sie ist im Kern Zustimmung zu der Erwaumlhlung und Vergebung die dem Mitbruder wie der eigenen Person zuteil geworden ist Deshalb ent-spricht der Naumlchstenliebe der Feindeshass Er ist im Kern Ablehnung und Dis-tanzierung die aber gerade nicht durch Gewalt sondern durch strikte Gewalt-losigkeit strukturiert wird damit das Gesetz des Handelns nicht von den Frev-lern sondern den Gerechten bestimmt wird (1QS 1017f)

bull Die Hymnenrolle (1QH) sammelt Psalmen die den Kampf der Guten gegen die Boumlsen der Gerechten gegen die Ungerechten verherrlichen Die Sprache ist militaumlrisch der Stil metaphorisch Die Spiritualitaumlt passt zur Ekklesiologie und Ethik der Gemeinderegel aber welchen genauen Bezug es gibt ist in der Qumran-Forschung strittig Entscheidend ist Gott fuumlr die eigene Erwaumlhlung zu preisen Das dankbare Gotteslob spiegelt sich in der Abscheu vor dem und den Boumlsen Liebe ist Zu-stimmung zur Liebe Gottes Hass Zustimmung zum Hass Gottes (1QH 142-8)

Die beiden Corpora stammen aus vorchristlicher Zeit Sie dokumentieren die Zerris-senheit des Judentums in Palaumlstina aber auch den Reformeifer derer die ein heiliges Israel erneuen wollen 12 Deutsche Uumlbersetzungen E Lohse Die Texte aus Qumran Hebraumlisch und Deutsch Muumln-chen 21971 K Schubert - J Maier Die Qumran-Essener Texte der Schriftrollen und Lebensbild der Gemeinde (UTB 224) Muumlnchen - Basel 1982 143-312 Zur Tempelrolle vgl die Ausgabe von Y Yadin Megillat ham-Miqdas The Temple Scroll (Hebrew Edition) Bde I-IIIa Jerusalem 1977 deutsche Uumlbersetzung J Maier Die Tempelrolle vom Toten Meer (UTB 829) Muumlnchen - Basel 1977 13 Vgl Th Soumlding Feindeshass und Bruderliebe

Thomas Soumlding

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4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)

a Das Doppelgebot der Naumlchstenliebe uumlberliefert das Neue Testament bei den Synop-tikern in drei Fassungen

bull Markus erzaumlhlt von einem Konsensgespraumlch uumlber das groumlszligte Gebot zwischen Jesus und einem Schriftgelehrten in Jerusalem (Mk 1228-34) die Antwort Je-su eine Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 fuumlhrt zu einer Verstaumlndi-gung

bull Matthaumlus stimmt in der Thematik der Frage der Ortsangabe und der Kombi-nation beider Liebesgebote mit Markus uumlberein (Mt 2234-40) macht aber aus dem Konsens- ein Streitgespraumlch Jesus wird von einem Gesetzeslehrer auf die Probe gestellt und besteht die Herausforderung glaumlnzend indem er das Doppelgebot formuliert

bull Lukas kennt in seiner Version (Lk 1025-37) gleichfalls die Kombination er uumlberliefert wie Matthaumlus einen bdquoGesetzeslehrerldquo ndash nicht wie Markus einen bdquoSchriftgelehrtenldquo ndash als Partner und erzaumlhlt ndash wie Matthaumlus anders als Mar-kus ndash von einem Konfliktgespraumlch Aber bei ihm findet der Dialog auf dem Weg Jesu nach Jerusalem statt (Lk 951 - 1927) die Frage zielt auf das ewige Leben (wie in Mk 1017 par Mt) der Dialog spitzt sich auf die Frage nach dem Naumlchsten zu die Jesus mit dem Samaritergleichnis beantwortet

Die markinische Version ist (nach der Zwei-Quellen-Theorie) die aumllteste Matthaumlus laumlsst sich als Kuumlrzung und Zuspitzung lesen Ob aber Lk 1025-37 sich als Markus-Redaktion erklaumlren laumlsst ist fraglich Womoumlglich hat es ndash durch Q ndash eine Doppeluumlber-lieferung gegeben die eine Kontroverse mit einem Gesetzeslehrer enthalten hat Noch wahrscheinlicher ist dass es von Anfang verschiedene Versionen gegeben hat die von den Evangelisten unterschiedlich rezipiert worden ist In jedem Fall bezeugt die Breite der Uumlberlieferung dass das Liebesgebot fuumlr Jesus typisch gewesen ist

b In allen Versionen des Doppelgebotes gibt es gemeinsame Charakteristika bull die Form des Gespraumlches in der das Doppelgebot entwickelt wird bull den Bezug auf das Gesetz bei Markus (1228) und Matthaumlus (2236) durch die

Jesus gestellte Ausgangsfrage bei Lukas durch die Ruumlckfrage Jesu (1026) bei Matthaumlus durch den Schlusssatz Jesu unterstrichen (2240)

bull die Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 ad vocem Agape bull die Abfolge dass zuerst das Hauptgebot der Gotteslebe (Dtn 64f) dann das

Gebot der Naumlchstenliebe (Lev 1918f) kommt obwohl die kanonische Reihen-folge eine andere ist

Diese Charakteristika sind der Kernbestand der Tradition sie muumlssen zu Eckpfeilern der Interpretation werden

c Die unterschiedlichen Gespraumlchssituationen haben ihre eigene Logik bull Markus will zeigen dass es zu einer fundierten und breiten Verstaumlndigung Je-

su mit den Schriftgelehrten haumltte kommen koumlnnen auf der Basis der Tora bull Matthaumlus will zeigen dass die Hierarchisierung der Gebote strittig war und

geblieben ist bull Lukas will herausarbeiten dass das Doppelgebot Fragen stellt die Jesus be-

antworten kann Die unterschiedlichen Logiken koumlnnen nicht gegeneinander ausgespielt aber jeweils in das Evangelium eingeordnet werden in dem sie sich befinden

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d Alle Versionen bestimmen die Tora als Basis des Dialoges Alle bleiben im Rahmen juumldischer Hermeneutik Schrift legt Schrift aus Alle erweisen sich im religionsge-schichtlichen Vergleich als typisch jesuanisch

bull Einerseits gibt es im Judentum eine lebhafte Debatte aus didaktischen und theologischen Gruumlnden zu einer Hierarchie der Gebote zu gelangen In dieser Debatte ragt das Liebesgebot heraus Es gibt aber immer auch starke Kontro-versen uumlber die Richtigkeit und Guumlltigkeit solcher Elementarisierungen

bull Anderseits steht Jesus nicht gegen die Tora sonder erfuumlllt sie (vgl Mt 517-20) Dese Erfuumlllung hat eine spezifische Qualitaumlt diese Qualitaumlt bezeichnet das Liebesgebot das Jesus selbst praktiziert

Das Doppelgebot bricht nicht aus dem Gesetz aus sondern schlieszligt es auf

e Im fruumlhen Judentum gibt es keine direkte Parallele zum jesuanischen Doppelgebot Aber es gibt eine ganze Reihe von strukturaumlquivalenten Formulierungen sowohl im palaumlstinischen wie auch im hellenistischen Judentum Zum Teil sind sie direkt als Ge-bot einer doppelten Liebe zum Teil mit Varianten vor allem der Gottesfurcht gebil-det Diese Parallelen erhellen den juumldischen Kontext in dem das Doppelgebot steht Auffaumlllig ist in der Jesustradition zweierlei

1 die direkte Schriftzitation 2 der explizite Bezug zur Tora der reflektiert wird

Beides spiegelt die Programmatik der jesuanischen Position

f Die Struktur der Tradition leitet in jeder Variante von der Gottes- zur Naumlchstenliebe und bindet das Liebesgebot zusammen

bull Es gibt keine Gottesliebe ohne Naumlchstenliebe weil Gott den es zu lieben gilt nicht nur die Person liebt die lieben soll sondern auch diejenige die geliebt werden soll Diese Liebe Gottes als Basis ist im Doppelgebot nicht expliziert aber impliziert

o in der Einzigkeit Gottes so wie sie in der Bibel Israels und in der Jesus-tradition als Qualifikation des Schoumlpfers und Erhalters des Versoumlh-ners und Vollender entfaltet wird

o im Wort Agape das eo ipso von der Liebe Gottes gespeist wird Das Doppelgebot ist das beste Gegengift gegen Heuchelei

bull Es gibt keine Naumlchstenliebe ohne Gottesliebe ndash nicht weil es keine Ethik keine Menschlichkeit kein Mitleid und keine Solidaritaumlt ohne Gottesliebe gaumlbe (im Gegenteil) sondern weil die Naumlchstenliebe wie sie alt- und neutestamentlich expliziert wird den Naumlchsten als die von Gott geliebte Person liebt also Ein-stimmung in die Liebe Gottes ist die nur in der Liebe zu Gott explizit beant-wortet werden kann

bull Es gibt einen Primat der Gottes- vor der Naumlchstenliebe ndash nicht weil die Got-tes- wichtiger als die Naumlchstenliebe waumlre sondern weil Gott der Schoumlpfer all derer ist die lieben und geliebt werden sollen und sie alle zur Teilhabe an seiner Liebe fuumlhren will

Die Einheit der Gottes- und Naumlchstenliebe ist keine Identitaumlt sondern eine Spannung die ein hohes Energiefeld aufbaut

g Das Doppelgebot selbst enthaumllt keine Konkretion steht aber in den Evangelien die sich in die Tradition des Alten Testaments stellen und wird dadurch einerseits zum Kompass durch die Tora andererseits zum Katalysator von Aktualisierungen die pa-radigmatisch von Jesus angesprochen werden

Thomas Soumlding

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5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)

a Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter antwortet auf die wichtige Frage bdquoWer ist mein Naumlchsterldquo (Lk 1025-37)

bull Die Frage ist wichtig weil es um die Konkretionen der Liebe geht und Lev 1917f eine klare Antwort gibt Die Naumlchsten sind die Mit-Glieder des Gottes-volkes Hinzu treten die bdquoFremdenldquo (Lev 1934) die dauerhaft in Israel inte-griert sind nach der Septuaginta die Proselyten Die Konzentration auf diese Naumlchsten ist theologisch durch die gemeinsame Berufung des Volkes zur Hei-ligkeit begruumlndet Sie bewaumlhrt sich in Konflikten umfasst also de facto auch Feindesliebe

bull Die Frage wird von Jesus mit einer Geschichte beantwortet die auf provokan-te Weise einen Samariter zu einem Vorbild werden laumlsst Dass Jesus mit ei-nem Gleichnis antwortet setzt auf die argumentative Kraft einer Erzaumlhlung die nicht nur eine Welt vor Augen stellen sondern auch eine Sache klaumlren kann und zwar so dass Anteilnahme entsteht eine Verstrickung in die Ge-schichte durch Dramatik und Identifikation

Die Antwort auf die Frage wird nicht ohne ihre Umkehrung gegeben bdquoWer hellip ist zum Naumlchsten dessen geworden der unter die Raumluber gefallen istldquo (Lk 1036) Damit wird die Ausgangsfrage nicht desavouiert sondern konkretisiert Wer nach dem Naumlchsten fragt fragt auch nach sich selbst Und wer sich selbst von Naumlchsten umgeben weiszlig denen er verpflichtet ist muss selbst zum Naumlchsten derer werden wollen die auf Hilfe angewiesen sind

b Die Geschichte gehoumlrt zum Doppelgebot das bei Lukas (1025ff) wie bei Matthaumlus (2235-40) ein Streitgespraumlch ist waumlhrend es bei Markus ein Konsensgespraumlch ist (Mk 1228-34) Lukas hat es in die Zeit des oumlffentlichen Wirkens Jesu vorgezogen und kompositorisch konkretisiert

bull Mit einem bdquoGesetzeslehrerldquo trifft Jesus auf seinem Weg einen Experte fuumlr die Frage die er stellt

bull Das Doppelgebotsthema wird nicht nur durch das Samaritergleichnis sondern auch durch die Fortsetzung konkretisiert

o Die Beispielgeschichte Lk 1030-35 thematisiert das Tun (Lk 1037) o Die folgende Geschichte von Maria und Martha akzentuiert das Houmlren

(Lk 1038-42) o Die anschlieszligende Gebetslehre konkretisiert jene Gottesliebe die aus

dem Houmlren zum Sprechen fuumlhrt mit dem Vaterunser als Kern Durch die Komposition wird die Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe unter-strichen

Die Szenerie unterstreicht die Brisanz der Frage nach der Geltung des Gesetzes und erhoumlht damit den Stellenwert des Gleichnisses damit aber auch die Praumlgnanz des Samariterbildes Jesu

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c Der gesamte Text hat eine dialogische Struktur 1 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach dem Sinn des Lebens (Lk 1025) 2 Jesus fragt zuruumlck indem er auf das Gesetz verweist (1026) 3 Der Gesetzeslehrer zitiert das Doppelgebot (Lk 1027) 4 Jesus bestaumltigt und fordert zur Praxis (Lk 1028) 5 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach der Identitaumlt des Naumlchsten (Lk 1029) 6 Jesus fragt zuruumlck indem er das Gleichnis erzaumlhlt (Lk 1030-36) 7 Der Gesetzeslehrer gibt die richtige Antwort (Lk 1037a) 8 Jesus fordert zum Handeln (Lk 1037b)

Jesus agiert im sokratischen Stil Er laumlsst den Fragesteller selbst die Antwort finden ndash nicht irgendwo sondern im Gesetz und in seinem Gewissen Das spiegelt fuumlr Lukas die Uumlberlegenheit Jesu und die Menschlichkeit seiner Ethik

d Das Gleichnis arbeitet mit einem scharfen Kontrast bull Auf der einen Seite stehen der Priester und der Levit Repraumlsentanten des Ju-

dentums Sie muumlssten genau wissen was zu tun ist Sie haben wenn sie wie der Verletzte auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho sind auch keinen Grund sich aus kultischen Uumlberlegungen um sich nicht zu verunreinigen an einem vorbeizugehen von dem sie glauben dass er tot sei wenn sie auf dem Weg zuruumlck sind ist fuumlr die ggf erforderliche rituelle Reinigung genuumlgend Zeit

bull Auf der anderen Seite steht der Samariter dem man es am wenigsten zutrau-en wuumlrde dass er tut was recht ist Dessen Rolle wird aber von Jesus stark betont nicht nur durch den Kontrast sondern auch dadurch dass er weit uumlber die Erste Hilfe hinaus mehr als genug tut um dem Verletzten zu helfen Er selbst leistet den sprichwoumlrtlich gewordenen Samariterdienst und treibt ungewoumlhnlich intensive Vorsorge dass der Mann nachhaltig gesundet ndash nach allen Regeln der (damaligen) aumlrztlichen Kunst

Dieser Kontrast war den Menschen sowohl zur Zeit Jesu als auch zur Zeit des Evange-listen Lukas deutlich Lk 952-56 hat ihn frisch in Erinnerung gerufen

e Jesus laumlsst durch die Kunst seiner narrativen Argumentation dem Gesetzeslehrer keine Chance nicht von seiner Antwort uumlberzeugt zu werden die seinen eigenen mo-ralischen Standpunkt veraumlndert Alle Menschen die ein Herz im Leibe haben werden erkennen dass nicht der Priester nicht der Levit sondern ausgerechnet der feindli-che der bdquohaumlretischeldquo Samariter das einzig Richtige getan hat indem er dem unter die Raumluber gefallenen Menschen geholfen hat Das aber ist schon der erste Schritt in die Richtung die Jesus den Menschen zeigt damit sie Gott und den Naumlchsten neu entde-cken koumlnnen Wer aber nicht nur tatkraumlftig wie der Samariter hilft sondern als Jude weiszlig dass er ihn wegen seiner Naumlchstenliebe nachahmen sollte hat eine Grenze uumlberschritten die durch das Nahekommen der Basileia durchlaumlssig geworden ist Der Gesetzeslehrer versperrt sich dieser Lektion nicht Er ist deshalb ein positives Beispiel

Literatur Andregrave Lacoque Lhermeacuteneutique de Jeacutesus au sujet de la loi dans la Parabole du Bon Samari-

tain in Etudes theacuteologiques et religieuses 78 (2003) 25-46

Ruben Zimmermann Die Etho-Poietik des Samaritergleichnisses (Lk 1025-37) Eine Ethik des Schauens in einer Kultur des Wegschauens in Wort und Dienst 29 (2007) 51-69

Thomas Soumlding

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6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)

a Die fuumlnfte und sechste Antithese bilden bei Matthaumlus den Houmlhepunkt der Reihe die sich am Dekalog orientiert in der Feldrede bei Lukas markiert das Gebot der Feindes-liebe den Mittelpunkt der Ethik Die Feindesliebe bezeichnet in groumlszligter Konsequenz den Standpunkt der Moralitaumlt steht aber auch im Brennpunkt der Kritik

bull Ist Gewaltlosigkeit wuumlrdelos verantwortungslos kraftlos So Nietzsche14

bull Ist Feindesliebe unrealistisch So der gesunde Menschenverstand und das Ur-teil professioneller Politik

15 So auch der juumldische Einwand16 den zuletzt Jacob Neusner vorgetragen hat17

Die antithetische Form bei Matthaumlus zeigt das Potential der Kontroverse Es ist nicht das Ziel der Exegese sie aufzuloumlsen sondern sie auszuloumlsen

b Der Blick in die Synopse zeigt im Vergleich mit Lk 627-36 zweierlei bull Die antithetische Form ist ndash hier wie sonst ndash ein matthaumlisches Spezifikum Sie

dient der Profilierung der Ethik Jesu im Gegenuumlber zur Tora ndash unter dem Vor-zeichen der Erfuumlllung (Mt 517-20)

bull Bei Lukas ist Gewaltverzicht direkter Ausdruck der Feindesliebe Matthaumlus dif-ferenziert und kombiniert um zu akzentuieren

Die Synopse fordert bei der lukanischen Uumlberlieferungsform anzusetzen aber die matthaumlische Variante nicht als sekundaumlr abzutun sondern als Reflex jesuanischer Konkretionen in den Blick zu nehmen

c Das Gebot der Feindesliebe tradiert uumlber die Redenquelle (Q) ist Urgestein und Herzstuumlck der Ethik Jesu18

14 Also sprach Zarathustra III 21 (Werke VI1) bdquoIch sollte nur Feinde haben die zu hassen sind aber nicht Feinde zum Verachten ihr muumlsst stolz auf euren Feind sein (260)ldquo

Die Stellung in der matthaumlischen Bergpredigt und der luka-nischen Feldrede zeigt dass im Urchristentum diese zentrale Bedeutung gesehen und tradiert worden ist Paulus reflektiert sie in Roumlm 129-21 Auch im johanneischen Kon-zept der Bruderliebe ist sie vorausgesetzt

15 Max Weber Politik als Beruf (1919) in ders Gesammelte politische Schriften hg v J Winckelmann Tuumlbingen 31971 505-560 bdquoMit der Bergpredigt ist es eine ernstere Sache als die glauben die diese Gebote heute gern zitieren Wenn es in Konsequenz der akosmistischen Liebesethik heiszligt dem Uumlbel nicht widerstehen mit Gewaltlsquo ndash so gilt fuumlr den Politiker der Satz du sollst dem Uumlbel gewaltsam widerstehen sonst ndash bist du fuumlr seine Uumlberhandnahme verantwortlich (550f)ldquo 16 Der Jude Tryphon plaumldiert nach Justin dial 52 bdquoIch weiszlig auch dass eure Lehren die in dem sogenannten Evangelium stehen so erhaben und groszlig sind dass wie ich meine kein Mensch sie beobachten kannldquo 17 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 Neuausgabe Frei-burg - Basel - Wien 2007 (engl 1993) Neusner praumlzisiert Jesus maszlige sich das Recht Gottes an so zu sprechen wie es die Bergpredigt uumlberliefert 18 Th Soumlding Die Verkuumlndigung Jesu 570-583

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d Nach Lk 6 sind alle Houmlrer der Botschaft Jesu zur Feindesliebe gerufen In erster Linie sind es seine Juumlnger als stellvertretende Adressaten der Seligpreisungen und Weherufe (Lk 620-26) Lukas sieht die Kirche als Ort wo primaumlr die Feindesliebe ver-wirklicht sein will gerade auch gegenuumlber Nicht-Christen (und berichtet in der Apos-telgeschichte dass dies in der Urgemeinde auch geschehen sei) Nach Matthaumlus hat Jesus direkt seine Juumlnger angesprochen (Mt 51f) ndash aber so dass alles Volk (vgl 423ff) es houmlren und daruumlber staunen kann (Mt 728f) Die Pointe ist missionstheologisch Wenn die Juumlnger ausziehen alle Voumllker ihrerseits zu Juumlngern zu machen sollen sie nicht nur taufen sondern auch lehren bdquoalles zu haltenldquo was Jesus ihnen bdquogebotenldquo hat (Mt 2818ff)

d Die Feindschaften die Jesu Gebot anspricht sind so paradigmatisch ausgewaumlhlt und scharf zugespitzt dass prinzipiell jede denkbare Feindschaft im Blick stehen muss Es werden die empoumlrendsten Formen paradigmatisch konkretisiert

bull religioumlse Verfolgung (Lk 628 Mt 544) bull koumlrperliche Gewalt selbst wenn sie demuumltigen soll (Lk 628f Mt 539) bull wirtschaftliche Ausbeutung auch wenn sie sich den Anschein des Rechts gibt

(Mt 540) bull politisch-militaumlrische Unterdruumlckung auch wenn sie schier uumlbermaumlchtig

scheint (Mt 541) Jede denkbare Grenze der Feindesliebe wird uumlberschritten der Familie und Ver-wandtschaft des Freundeskreises der Glaubensgenossen der (mehr oder weniger) Guten der Angehoumlrigen des eigenen Volkes (vgl Lk 1025-37)

e Die Feindesliebe zeigt sich in den gleichfalls paradigmatischen Konkretisierungen bull als Fuumlrbitte fuumlr die Verfolger (Lk 628 par Mt 544) und Segnen der

Blasphemiker (Lk 628) ndash im Gegensatz zum Verfluchen und zur Bitte um ihre Vernichtung durch Gottes Strafgericht

bull als aktiver Gewaltverzicht gegenuumlber erlittener Uumlbermacht (Lk 629 Mt 538-42) ndash im Gegensatz dazu Unrecht mit gleicher Muumlnze heimzuzahlen

bull als selbstlose Unterstuumltzung der Armen auch wenn deren Bitten laumlstig faumlllt (Lk 630) ndash im Gegensatz zum Kalkuumll des do ut des

bull als engagierter Einsatz fuumlr das Gute (Lk 62733) ndash im Gegensatz zu einem Mitmachen wie zur Resignation

Feindesliebe ist nicht passiv sondern aktiv Sie kreiert eine neue Situation In diesen Konkretisierungen erhellt die Feindesliebe als radikalisierte Naumlchstenliebe (Lev 1917f) die im Kontext der Gottessliebe steht (Mk 1228-34 parr) Sie ist nicht das Einverstaumlndnis mit Unrecht Schuld und Schwaumlche schon gar nicht schwaumlchliches Hinnehmen von Unrecht sondern im Gegenteil starkes aber deshalb auch leidensfauml-higes Eintreten dafuumlr Boumlses durch Gutes zu uumlberwinden (Roumlm 1221)

Thomas Soumlding

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h Die Feindesliebe ist theologisch begruumlndet und motiviert bull Der theologische Grund ist das Handeln Gottes selbst der als Schoumlpfer und Er-

loumlser permanent Feindesliebe praktiziert (Lk 635 Mt 545 vgl Roumlm 55ff) o Mit dem Blick ins Buch der Natur zeigt Jesus nach Matthaumlus Gott als

den der auch den Boumlsen und Ungerechten das Leben schenkt weil er will dass sie leben (nicht weil er will oder toleriert dass sie Boumlses und Unrechtes tun)

o Der Vergleich mit dem aumlhnlichen Motiv bei Seneca der (nicht zu Feindesliebe aber) zu groszligmuumltiger Gelassenheit gegenuumlber Feinden mahnt macht den Unterschied deutlich denn nach ihm kann Gott nicht anders als die Unterstuumltzung der Boumlsen in Kauf zu nehmen wenn er den Guten helfen will ndash wofuumlr er sich entscheidet weil das Gute mehr wert ist als das Boumlse

bull Das theologische Motiv ist die Nachahmung Gottes die imitatio Dei (Lk 636 Mt 548) der die Verheiszligung ewigen Lebens gilt des bdquoLohnesldquo der in der Gotteskindschaft besteht

In dieser Theozentrik ist die Feindesliebe Zustimmung zu der Liebe mit der Gott auch die Ungerechten und Suumlnder liebt ndash ohne ihre Suumlnde gutzuheiszligen aber auch ohne ihnen wegen ihrer Schuld seine Zuwendung zu entziehen

i Das Gebot der Feindesliebe ist angewandte Christologie bull Einerseits ist es Jesus der das Gebot ndash nach Matthaumlus im Gegensatz zur herr-

schenden Auslegung des atl Liebesgebotes ndash der Feindesliebe aufstellt bull Andererseits ist es Jesus der das Gebot umfassend verwirklicht ndash vorbildlich

in seinem Leiden heilbringend in seiner Lebenshingabe aus reiner Liebe

f Das bdquoAuge um Auge Zahn um Zahnldquo (Ex 2124) begrenzt die Vergeltung das bdquoIch aber sage euchldquo aktiviert zur Versoumlhnung Das alttestamentliche Gebot der Naumlchstenliebe umfasst innerhalb Israels Feindesliebe (Lk 1917f) und weitet sie aus (Lev 1934) Das bdquoIch aber sage euchldquo setzt sich von einer Auslegung ab die aus Sorge um Gottes Gerechtigkeit die Grenzen der Erloumlsung zu eng zieht Dafuumlr gibt es Beispiele in Qumran Der originaumlre Bezug des Gebotes der Naumlchstenliebe auf das Volk Gottes wird nicht aufgegeben aber ausgeweitet

bull In der Juumlngerschaft ist ndash in Israel und uumlber Israel hinaus ndash der Ort an dem die Feindesliebe so praktiziert werden soll dass sie ausstrahlt (vgl Mt 513-16)

bull Zum Volk Gottes gehoumlren nicht nur die Juden und alle die an Jesus glauben Gott hat vielmehr Jesus (nach Matthaumlus wie nach Lukas) deshalb gesendet damit durch seinen Dienst am Heil der Menschen der reine Feindesliebe ist alle Voumllker zu seinem Volk werden Die Kirche repraumlsentiert und realisiert stellvertretend diese Heilsuniversalitaumlt Ihre Feindesliebe konkretisiert sie ethisch

Feindesliebe durchbricht das Prinzip der Vergeltung ohne das Prinzip der Gerechtig-keit aufzugeben Das ist nur deshalb sittlich erlaubt und geboten weil das Gebot in der Liebe Gottes selbst begruumlndet ist die sich in der Feindesliebe Jesu realisiert die ihrerseits der theologische Nerv seines Lebens und Sterbens zur Erloumlsung der Suumlnder ist

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j Das psychologische Problem das Sigmund Freud scharf markiert hat19

Das ethische Problem das Fjodor Dostojewksi (Die Bruumlder Karamasow) Iwan in den Mund legt lautet

besteht da-rin dass blinde Aggressionen entwickelt wer sich moralisch uumlberfordert Dieses Prob-lem laumlsst sich wohl nur spirituell loumlsen in der Nachfolge Jesu die auf seine Kraft setzt in den Nachfolgern das Gute zu tun

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k Das Problem der Erfuumlllbarkeit der Bergpredigt und speziell des Gebotes der Fein-desliebe bewegt Theologie und Kirche seit aumlltester Zeit Eine erhebliche Verschaumlrfung des Problems geschieht durch eine moderne Emotionalisierung der Feindesliebe Wird sie aber als Ausdruck der Agape verstanden begruumlndet sie ndash in der Nachfolge Jesu ndash eine Praxis des Glaubens aus der Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe Als solche kann sie durchaus eingeuumlbt ausgebildet und gefestigt werden Sie setzt die Suche nach dem besten Weg der Verwirklichung nicht aus sondern ein Sie entspricht aber darin der Gottebenbildlichkeit aller Menschen und der Gotteskindschaft der zu Erloumlsenden dass sie an der Unbedingtheit der Bejahung die Gott ihnen zuteilwerden laumlsst Anteil hat

dass Feindesliebe letztlich Kumpanei mit den Taumltern auf Kosten der Opfer sei Dieses Problem das haumlufig nicht gesehen wird laumlsst sich nur soteriolo-gisch loumlsen weil derjenige der selbst aus reiner Liebe die Schuld der anderen ertra-gen und vergeben hat das Reich Gottes als umfassende Vollendung von Gerechtig-keit Friede und Freude (Roumlm 1417) verwirklicht

19 Das Unbehagen in der Kultur in Gesammelte Werke 14 London 1948 419-506 468-475493-506 (Abschnitte V VIII) bdquoNachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte war die aumluszligerste Intoleranz des Christentums gegen die drauszligen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge gewordenldquo (374) 19 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 20 bdquoSchlieszliglich will ich auch gar nicht dass die Mutter den Peiniger umarmt der ihren Sohn von Hunden zerreiszligen lieszlig Sie darf sich nicht unterstehen ihm zu verzeihen Wenn sie will mag sie verzeihen soweit es sie selber angeht sie mag dem Peiniger ihr maszligloses Mutterleid ver-zeihen aber die Leiden ihres zerfleischten Kindes zu verzeihen hat sie kein Recht sie darf es nicht wagen dem Peiniger zu verzeihen auch wenn das Kind selber ihm verzieheldquo (Muumlnchen 1958 330f

Thomas Soumlding

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7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)

71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20) a Mit der Fuszligwaschung21

b Die Fuszligwaschung ist das Zeichen der Passion Ihr folgen Gespraumlche mit den Juumln-gern die zwar von Jesus gewaschen und gereinigt sind aber groumlszligte Schwierigkeiten haben zu verstehen was sich tut

beginnt der 2 Hauptteil des Johannesevangeliums Das oumlffentliche Wirken ist abgeschlossen Jesus konzentriert sich auf seine Juumlnger bevor er oumlffentlich hingerichtet werden wird Er bereitet sie auf seine Passion und seine Auferstehung vor die den Weg zu Gott bahnen werden

bull Auf die Fuszligwaschung folgt zuerst eine Trias unmittelbarer Konsequenzen o Judas wird als Verraumlter identifiziert und verlaumlsst den Juumlngerkreis (Joh

1321-30) o Die Juumlnger werden zur wechselseitigen Liebe gemahnt (Joh 1331-35) o Petrus wird seine Verleugnung vorhergesagt (Joh 1336ff)

bull Auf die Fuszligwaschung folgen ausfuumlhrliche Abschiedsworte (Joh 14-16) die in ein Abschiedsgebet muumlnden (Joh 17)

c Joh 131-20 ist uumlbersichtlich aufgebaut

Joh 131 Der Hintergrund Joh 132-5 Die Fuszligwaschung beim Mahl 132 Die Situation 133ff Die Handlung Jesu Joh 136-11 Das Gespraumlch mit Petrus 136 Der erste Einwand des Petrus 137 Die erste Antwort Jesu 138a Der zweite Einwand des Petrus 138b Die zweite Antwort Jesu 139 Der dritte Einwand des Petrus 1310 Die dritte Antwort Jesu 1311 Kommentar des Evangelisten Joh 1312-20 Die Deutung vor allen Juumlngern 1312-17 Die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu 1318f Die Ansage eines Verrates 1320 Die Juumlnger als Apostel

21 Vgl Luise Abramowski Die Geschichte von der Fuszligwaschung in Zeitschrift fuumlr Theologie und Kirche 102 (2005) 176-203

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d Die Exegese diskutiert in welchem Verhaumlltnis die beiden Deutungen zu einander stehen Die erste ist soteriologisch die zweite ethisch ausgerichtet

bull Recht oft wird aus der Doppelung auf ein literarisches Wachstum des Textes geschlossen

o Moumlglichkeit 1 Die soteriologische Deutung ist die aumlltere die paraumlnetische die se-kundaumlre22

o Moumlglichkeit 2 Die ethische Deutung ist urspruumlnglich die soteriologisch nachtraumlglich zwischengeschoben

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Beide Ansaumltze sind von weitereichenden Voraussetzung zur relativen Chrono-logie des Corpus Johanneum gepraumlgt

o Wer den Ersten Johannesbrief fuumlr aumllter erachtet wird die ethische Deutung fuumlr urspruumlnglich halten

o Wer das Evangelium fuumlr aumllter erachtet wird eher die soteriologische Deutung als originaumlr einschaumltzen

Die ethische Deutung wird dann fuumlr sekundaumlr zu erachten wenn man zu dem Urteil gelangt die johanneische Theologie sei urspruumlnglich wenig konkret und eher spirituell ausgerichtet waumlhrend erst sekundaumlr Johannes gesamtkirchlich eingenordet worden sei Beide Ansaumltze gehen von einem literarischen Schichtenmodell aus das der Ei-genart johanneischer Literatur in den Evangelienerzaumlhlungen nicht angemes-sen ist Beide werden durch das Modell einer bdquorelectureldquo gemildert das ndash aumlhnlich wie in der Prophetenexegese des Alten Testaments ndash mit einer Fortschreibung der Texte rechnet aber sie zugleich als vergegenwaumlrtigende Aneignung des vor-gegebenen Textes versteht24

bull Es mehren sich wieder die Stimmen die Joh 13 als literarisch einheitlich anse-hen

Allerdings stoumlszligt dieses Modell auf die Schwie-rigkeit dass das Liebesgebot das die ethische Deutung vorbereitet in Joh 1331-35 dominant ist und nicht nur in Joh 15-16 ausgefuumlhrt sondern auch in Joh 1421 angebahnt wird

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Die Doppelung erklaumlrt sich aus der Theologie der Liebe Sie hat eine Innenseite die Liebe Jesu zu sein Seinen in der sich nach Joh 1421 die Liebe das Vaters zum Sohn ereignet und sie hat eine Auszligenseite die sich nach Joh 1331-35 und Joh 15 in der Bruderliebe der Juumlnger erweist von der die Welt angezogen werden wird (Joh 17)

Allerdings braucht es eine Erklaumlrung fuumlr die Deutung Eine moumlgliche Er-klaumlrung waumlre der Adressatenwechsel aber die Petrusszene spielt sich vor den Augen und Ohren aller ab

22 So Rudolf Schnackenburg Joh III passim 23 So Udo Schnelle Joh 237 Er will eine Ursprungsform (132a4512ab162017) die recht nahe bei Lk 22 und der Mahnung der Juumlnger zum Dienen steht zuerst in der johanneischen Schule (der er den Ersten Johannesbrief mit seiner Theologie der Liebe zurechnet) um die Vorbildethik erweitert sehen (1312c13-15) bevor der Evangelist selbst von der Einleitung an (131) konsequent seine soteriologische Deutung ins Fundament der Geschichte eingebaut habe (136-10ab) 24 So Jean Zumstein Joh 25 So Hartwig Thyen Joh

Thomas Soumlding

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711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus a Die Liebe Jesu zu den Seinen (Joh 131) verwirklicht die Liebe Gottes zur Welt (Joh 316) die von der Liebe des Vaters zum Sohn getragen wird (Joh 335 1017) Es ist die nach der Zwischennotiz von Jesu Freundschaft mit Martha Maria und Lazarus (Joh 115) erste Betonung der Agape Jesu von der spaumlter das Liebesgebot Joh 1334 und die Verheiszligung dauernden Beistandes der Juumlnger gedeckt ist (Joh 1421-31)

b In der Liebe Jesu zu den Seinen verbindet sich die Liebe Gottes zur Welt mit der Liebe Jesu zu seinen Freunden (Joh 15) Es ist eine unbedingte Bejahung und Wert-schaumltzung die auf Sympathie beruht und lebendig macht

c Die Liebe erweist Jesus den bdquoSeinenldquo bull Im Ruumlckraum steht Joh 19-13 dass die bdquoSeinenldquo den Logos abgelehnt haben

ndash bis auf diejenigen die an seinen Namen glauben und deshalb das Recht der Gotteskindschaft erhalten

bull Die bdquoSeinenldquo sind die Juumlnger die sich von Jesus in die Nachfolge haben rufen lassen (Joh 135-51) und in der galilaumlischen Krise Jesus nicht verlassen haben (Joh 660-71) Sie haben ihrerseits schwere Glaubensprobleme ndash aber werden sie durch Jesus uumlberwinden

bull In Joh 14 und Joh 17 wird erklaumlrt werden dass die Liebe Jesu zu den Seinen ndash wie die zum Lieblingsjuumlnger ndash nicht exklusiv sondern positiv zu verstehen ist

Dass Jesus den Seinen die Liebe bdquobis zum Endeldquo erweist verweist auf den Tod Jesu Das griechische Wort ist mehrdeutig teloj kann bdquoEndeldquo aber auch bdquoZielldquo bedeuten Beide Bedeutungen schwingen mit

bull Der Tod Jesu ist das definitive Ende seiner geschichtlichen Sendung das zu akzeptieren wird den Juumlngern ungeheuer schwer fallen

bull Der Tod Jesu ist das Ziel seines Wirkens insofern es seine Liebe und Hingabe definitiv werden laumlsst

Der Korrespondenzsatz ist das Todeswort Jesu Joh 1930 bull Es ist ein Gebet wie nach allen Synoptikern (Mk 1534 par Mt 2746 bdquoGott

mein Gott warum hast du mich verlassenldquo ndash Ps 222 Lk 2346 bdquoVater in deine Haumlnde gebe ich meinen Geistldquo ndash Ps 316) aber als letztes Offenba-rungswort an die Welt

bull Die traditionelle Uumlbersetzung lautet bdquoEs ist vollbrachtldquo Man kann aber auch sagen bdquovollendetldquo (Muumlnchner Neues Testament Bible de Jerusaleme bdquoCest acheveacuteldquo) oder bdquozu Endeldquo (King James Bible bdquoIt is finishedldquo)

Eine moumlgliche auf Joh 131 abgestimmte Uumlbersetzung waumlre (wie im Muumlnchener Neu-en Testament) bdquoEs ist vollendetldquo (tetelestai)

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712 Die Fuszligwaschung a Jemandem vor dem Mahl die Fuumlszlige zu waschen ist ein Dienst den traditioneller-weise Sklaven ihren Herren erweisen (vgl 1Sam 2541)26

Joh 1313f zeigt dass die sozialen Dimensionen der Fuszligwaschung klar vor Augen stehen der Gesamttext dass der Ritus sakramental gefuumlllt wird

Das Waschen der Fuumlszlige ist ein Ritus der Vorbereitung der eine koumlrperliche Wohltat mit einer Geste der Houmlflich-keit verbindet die Anerkennung und Ehrerbietung meint (Gen 184 vgl Lk 744) und zudem mit einer rituellen Bedeutung versieht die einen Uumlbergang gestaltet von drauszligen nach drinnen vom Alltag zum Fest vom Profanen zum Heiligen

7121 Die soteriologische Deutung a Im Gespraumlch mit Petrus wird die Bedeutung der Fuszligwaschung soteriologisch gedeu-tet Sie ist eine bdquoReinigungldquo ndash nicht wie in der Taufe sondern wie in der Buszlige Petrus braucht keine Wiederholung der Wiedergeburt die er als glaumlubig gewordener Taumluferjuumlnger erlebt hat aber er bedarf mehr als andere der Vergebung weil er ndash ent-gegen seinem Vorsatz ndash Jesus verleugnet Waumlhrend er sagt fuumlr Jesus sterben zu wol-len muss gerade fuumlr ihn Jesus sterben

b Petrus erkennt nach Joh 136 das Unmoumlgliche der Situation dass der Herr ihm ei-nen Sklavendienst leistet Er wehrt diesen Dienst doppelt ab (Joh 1368a) ndash so wie er nach Joh 1336ff nicht will dass Jesus fuumlr ihn sein Leben einsetzt In diesem Nein kommt eine Liebe zu Jesus zum Ausdruck die bestimmen will Gleichzeitig aber ist das Nein auch Ausdruck des Missverstaumlndnisses dass Petrus der Diakonie Jesu womoumlglich gar nicht bedarf Petrus verschaumlrft seinen Widerspruch der aus Unverstaumlndnis stammt indem er dann ganz gewaschen werden will (Joh 139) ndash womit er aber seine Berufung leugnet

c Jesus deckt das Missverstaumlndnis des Petrus auf Die Fuszligwaschung steht nicht am Anfang sondern an einer Biegung des Weges mit Jesus Die Weg-Gemeinschaft ist darin begruumlndet dass Jesus sich in seinen Dienst stellt Dem muss entsprechen dass Petrus sich den Dienst gefallen laumlsst Er muss Jesus so nahe wie in der Fuszligwaschung an sich heranlassen Er muss den Rollentausch akzeptieren Die Langversion von Vers 10 die durch den Codex Vaticanus gedeckt und als lectio difficilior gesichert ist entspricht dem Kontext

bull Im Bild Auch nach dem Vollbad macht man sich wieder die Fuumlszlige schmutzig Man laumlsst sie sich waschen damit auch sie sauber sind man laumlsst nur sie waschen weil der sonstige Koumlrper gereinigt ist

bull In der Sache Wer durch das Bad der Wiedergeburt die Taufe bdquoganz reinldquo geworden ist muss diese Reinheit aber durch seine Schuld verloren hat muss sich die Fuumlszlige waschen lassen um durch Jesus zu Gott zu gelangen Dem entspricht am ehesten eine Deutung auf die Buszlige wie sie orthodoxen Vaumlter favorisieren

26 Hellenistische Parallelen Neuer Wettstein I2 636-644

Thomas Soumlding

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7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
    • Kontakt
      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
        • Markusevangelium
        • Lukasevangelium
        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 11: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

Thomas Soumlding

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3 Das Liebesgebot im Judentum

a In den alttestamentlichen Spaumltschriften steigt die Bedeutung des Liebesgebotes bull Die Semantik der Septuaginta (mit der Agape als Zentrum) staumlrkt den theolo-

gischen Grundzug durch die explizit gewordene Verbindung mit der Liebe Gottes und der Liebe zu Gott

bull Nach Tob 413 soll die Naumlchstenliebe als Bruderliebe die juumldische Kommunitaumlt in der Diaspora aber auch im Heiligen Land staumlrken deshalb ist das Liebesge-bot mit der Warnung vor einer Mischehe verbunden

bull Nach Jesus Sirach6

o als Liebe zum Sklaven der aufgrund seiner Treue und Bildung als Partner anerkannt werden soll (Sir 721)

wird das Gebot der Naumlchstenliebe in verschiedenen sozia-len Kontexten konkretisiert

o als Konstituierung einer ethischen Maxime die auf die Goldene Regel zulaumluft (Sir 3115)

o als Schaumlrfung des Gewissens fuumlr den caritativen Einsatz fuumlr Arme (Sir 3423-27)

Die Konkretisierungen passen in das Schema weisheitlicher Ethik das im Neu-en Testament auch der Jakobusbrief ausfuumlllt

Die Steigerung der Bedeutung erklaumlrt sich aus zwei Gruumlnden bull einer Personalisierung der Ethik bull und einer Vermittlung juumldischer Ethik die auf Elementarisierung setzt

Die Bedeutungssteigerung erhoumlht die Attraktivitaumlt der juumldischen Ethik in der antiken Welt

6 Vgl Th Soumlding Naumlchstenliebe bei Jesus Sirach

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b Aus der Septuaginta erklaumlrt sich die hohe Aufmerksamkeit fuumlr das Liebesgebot im hellenistischen Judentum Die Testamente der Zwoumllf Patriarchen7 reden haumlufig im ethischen Sinn von Liebe8 nahezu durchweg in der Form direkter oder indirekter Aufforderungen Die TestXII sind eine griechisch uumlberlieferte im 2 Jh von christlicher Hand redigierte aber dem wesentlichen Textbestand nach urspruumlnglich juumldische Schrift deren Wurzeln bis in das 2 Jh v Chr reichen koumlnnen Die Testamente nehmen Gen 49 auf und lassen die 12 Soumlhne Jakobs ihrerseits Abschiedsreden halten9

Lev 1918 wird zwar nicht explizit zitiert aber an vielen Stellen angespielt und durch-weg aktualisiert

Sie arbeiten das Problem der Diaspo-ra auf die als Zerstreuung gesehen und als Strafe Gottes gedeutet wird In dieser Si-tuation kommt es auf den inneren Zusammenhalt der Juden an der nach den Patriarchentestamenten nicht nur rituell sondern auch ethisch begruumlndet werden soll

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7 Aumlltere Standardausgabe RH Charles The Greek Versions of the Testaments of the Twelve Patriarchs Oxford 1908 Nachdruck Darmstadt 1960 Neuere Edition Mde Jonge - HW Hollander - Hde Jonge - Th Korteweg The Testaments of the Twelve Patriarchs A Critical Edition of the Greek Text (PVTG I2) Leiden 1978 Die aramaumlische Version des TestLevi enthaumllt kein Liebesgebot Deutsche Uumlbersetzung J Becker Die Testamente der zwoumllf Patriarchen in JSHRZ III1 (21980)

Es zeigen sich Rezeptionslinien die im Bedeutungsfeld von Lev 1917f bleiben (vgl TestGad 43-8) die Explikation der Heiligkeit daumlmpfen aber den Bezug auf die Nachbarschaften im Gottesvolk Israel nicht aufgeben sondern unter den Bedingungen der Diaspora konkretisieren Nur in TestIss 76 (bdquohellip jeden Menschen hellipldquo) ist eine universalistische Deutung moumlglich

8 Vgl TestRub 69 Sim 447 Iss 52 76 Seb 85 Dan 53 Gad 42(6)7 613 77 Jos 1723 Benj 33ff 435 81 vgl auch Ass 24 Gad 33 (uumlber den Hasser) 46 Jos 175 Benj 82 (uumlber das Verhaumlltnis des Mannes zur Frau) Gad 15 (uumlber Jakobs Vaterliebe zu Joseph) 9 Vgl Th Soumlding Solidaritaumlt in der Diaspora M Konradt Menschen- und Bruderliebe 10 Ganz deutlich ist Gad 42 Dan 51 bezieht sich direkt auf das Gebot und Gesetz (vgl Iss 51) des Herrn und hat dabei augenscheinlich auch Lev 1918 vor Augen Fuumlr den Einfluss des Lie-besgebots sprechen uumlberdies die Formulierungen von Benj 334 Rub 69b bezieht die Liebe zwar direkt auf den Bruder hat aber im parallelen Teilvers 6a den Naumlchsten aumlhnlich liegt der Fall in Dan 52a3b und Gad 61

Thomas Soumlding

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c Auch Schriften die tiefer in Palaumlstina wurzeln nehmen das Liebesgebot auf Das Buch der Jubilaumlen11

11 Die Originalsprache ist hebraumlisch zu den einschlaumlgigen Qumran-Fragmenten vgl JC VanderKam Textual and Historical Studies in the Book of Jubilees (HSM 14) Missoula 1977 Die davon abhaumlngige griechische Uumlbersetzung ist bruchstuumlckhaft erhalten vgl A-M Denis Fragmenta Pseudepigraphorum quae supersunt Graeca una cum Historicorum et auctorum Iudaeorum Hellenistarum Fragmentis collegit et ordinavit (PVTG 3) Leiden 1970 70-102 Die auf der griechischen Uumlbersetzung fuszligende aumlthiopische Fassung die in den gemeinsam uumlberlie-ferten Partien der Qumran-Version sehr genau entspricht hat ediert RH Charles Mashafa Kufacirclecirc or the Ethiopic Version of the Hebrew Book of Jubilees (Anecdota Oxoniensia) Oxford 1895 Deutsche Uumlbersetzung Klaus Berger Das Buch der Jubilaumlen in JSHRZ II3 (1981)

im 2 Jh vor Chr geschrieben protestiert gegen die Korrup-tion des Makkabaumlerstaates es tritt mit dem Anspruch auf Mose auf dem Sinai offen-bart worden zu sein (Jub 11-29) es will einem Israel das einer schleichenden Hellenisierung verfaumlllt neue Identitaumlt verleihen indem es den Blick auf die normative Anfangszeit die Zeit der Vaumlter und des Mose lenkt und von ihr her eine authentische Halacha entwickelt die es erst ermoumlglicht gerecht zu leben (Jub 2326-31) Zum his-torischen Paradigma wird der Bruderstreit zwischen Jakob und Esau (Jub 3420 - 392a) Das Liebesgebot ndash Lev 1918 wird nicht direkt aber indirekt zitiert ndash hat eine qualitativ groszlige Bedeutung weil es uumlber die Klaumlrung halachischer Fragen hinaus den Geist wie die Praxis des Zusammenhaltes schaumlrft allerdings nicht allein oder als Krouml-nung sondern im konstitutiven Verbund mit anderen ethischen Prinzipien wie Ge-rechtigkeit Die Verzeihung die Joseph den Bruumldern gewaumlhrt macht ihn zum ethi-schen Vorbild dem es nachzueifern gilt Die Pflicht zur Liebe endet aber dort wo es sich nicht mehr nur um persoumlnliche Gegnerschaft sondern um Konflikte mit Frevlern handelt die dem Gebot Gottes grundlegend zuwiderhandeln Eine universalistische Ausweitung der Bruderliebe fasst Jub 202 ins Auge Zwar bezieht sich das Liebesge-bot direkt nur auf die herbeigerufenen Kinder und Enkel Abrahams aber unter ihnen finden sich namentlich genannt auch Ismael mit seinen zwoumllf Kindern und die Kinder der Ketura mit ihren Soumlhnen (Jub 201) Dadurch wird bereits der juumldische Rahmen gesprengt Uumlberdies baut die Formulierung eine Verbindung zwischen Bruderliebe und Menschenliebe auf Im ethischen Nahbereich koumlnnen auch Nicht-Juden Naumlchste werden

14

d Die Schriften aus Qumran12 enthalten in zwei Corpora bedeutende Zeugnisse einer Naumlchstenliebe die sich innerjuumldisch aus dem Konflikt mit Frevlern als Gegenstuumlck zum Feindeshass erklaumlrt13

bull Die Gemeinderegel (1QS vgl 1QSa) beschreibt das Zusammenleben einer juuml-dischen Reformbewegung die sich in striktem Gegensatz nicht nur zu den Heiden sondern auch zu den Priestern in Jerusalem als wahres Israel konsti-tuieren abseits vom Tempel Die Forschung diskutiert die Beziehung zu den Esseacutenern uumlber die Philo von Alexandrien (15 v Chr - 40 n Chr ) in seiner Schrift uumlber die Freiheit des Tuumlchtigen (Quod omnis probus liber sit 72-91) der juumldische Historiker Flavius Josephus (3738 - 100 n Chr) in seinen Buuml-chern uumlber den juumldischen Krieg (De bello Judaico 2 119-161) und die Ge-schichte Israels (Antiquitates Judaicae 181118-22) sowie der roumlmische Ge-lehrte Plinius der Aumlltere (23-79 nChr) in seiner Naturgeschichte (Naturalis historia 573) berichten

Fuumlr die Gemeinderegel ist ein religioumlser Dualismus zwischen den bdquoSoumlhnen des Lichtesldquo und den bdquoSoumlhnen der Finsternisldquo wesentlich Er entsteht durch den Frevel derjenigen die das Heilige wahren sollen er wird von Gott sanktio-niert Entscheidend ist in einem aufwendigen Konversionsverfahren den Weg aus der massa damnata in Israel zur Kommunitaumlt der Frommen zu finden um so der Gnade der Rechtfertigung teilhaftig zu werden Die Zugehoumlrigkeit zur Gemeinschaft zeigt sich im Ritus und im Ethos Das Ethos ist durch Naumlchstenliebe strukturiert (1QS 13f9ff 224 5425 82 91621 1026) Sie ist im Kern Zustimmung zu der Erwaumlhlung und Vergebung die dem Mitbruder wie der eigenen Person zuteil geworden ist Deshalb ent-spricht der Naumlchstenliebe der Feindeshass Er ist im Kern Ablehnung und Dis-tanzierung die aber gerade nicht durch Gewalt sondern durch strikte Gewalt-losigkeit strukturiert wird damit das Gesetz des Handelns nicht von den Frev-lern sondern den Gerechten bestimmt wird (1QS 1017f)

bull Die Hymnenrolle (1QH) sammelt Psalmen die den Kampf der Guten gegen die Boumlsen der Gerechten gegen die Ungerechten verherrlichen Die Sprache ist militaumlrisch der Stil metaphorisch Die Spiritualitaumlt passt zur Ekklesiologie und Ethik der Gemeinderegel aber welchen genauen Bezug es gibt ist in der Qumran-Forschung strittig Entscheidend ist Gott fuumlr die eigene Erwaumlhlung zu preisen Das dankbare Gotteslob spiegelt sich in der Abscheu vor dem und den Boumlsen Liebe ist Zu-stimmung zur Liebe Gottes Hass Zustimmung zum Hass Gottes (1QH 142-8)

Die beiden Corpora stammen aus vorchristlicher Zeit Sie dokumentieren die Zerris-senheit des Judentums in Palaumlstina aber auch den Reformeifer derer die ein heiliges Israel erneuen wollen 12 Deutsche Uumlbersetzungen E Lohse Die Texte aus Qumran Hebraumlisch und Deutsch Muumln-chen 21971 K Schubert - J Maier Die Qumran-Essener Texte der Schriftrollen und Lebensbild der Gemeinde (UTB 224) Muumlnchen - Basel 1982 143-312 Zur Tempelrolle vgl die Ausgabe von Y Yadin Megillat ham-Miqdas The Temple Scroll (Hebrew Edition) Bde I-IIIa Jerusalem 1977 deutsche Uumlbersetzung J Maier Die Tempelrolle vom Toten Meer (UTB 829) Muumlnchen - Basel 1977 13 Vgl Th Soumlding Feindeshass und Bruderliebe

Thomas Soumlding

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4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)

a Das Doppelgebot der Naumlchstenliebe uumlberliefert das Neue Testament bei den Synop-tikern in drei Fassungen

bull Markus erzaumlhlt von einem Konsensgespraumlch uumlber das groumlszligte Gebot zwischen Jesus und einem Schriftgelehrten in Jerusalem (Mk 1228-34) die Antwort Je-su eine Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 fuumlhrt zu einer Verstaumlndi-gung

bull Matthaumlus stimmt in der Thematik der Frage der Ortsangabe und der Kombi-nation beider Liebesgebote mit Markus uumlberein (Mt 2234-40) macht aber aus dem Konsens- ein Streitgespraumlch Jesus wird von einem Gesetzeslehrer auf die Probe gestellt und besteht die Herausforderung glaumlnzend indem er das Doppelgebot formuliert

bull Lukas kennt in seiner Version (Lk 1025-37) gleichfalls die Kombination er uumlberliefert wie Matthaumlus einen bdquoGesetzeslehrerldquo ndash nicht wie Markus einen bdquoSchriftgelehrtenldquo ndash als Partner und erzaumlhlt ndash wie Matthaumlus anders als Mar-kus ndash von einem Konfliktgespraumlch Aber bei ihm findet der Dialog auf dem Weg Jesu nach Jerusalem statt (Lk 951 - 1927) die Frage zielt auf das ewige Leben (wie in Mk 1017 par Mt) der Dialog spitzt sich auf die Frage nach dem Naumlchsten zu die Jesus mit dem Samaritergleichnis beantwortet

Die markinische Version ist (nach der Zwei-Quellen-Theorie) die aumllteste Matthaumlus laumlsst sich als Kuumlrzung und Zuspitzung lesen Ob aber Lk 1025-37 sich als Markus-Redaktion erklaumlren laumlsst ist fraglich Womoumlglich hat es ndash durch Q ndash eine Doppeluumlber-lieferung gegeben die eine Kontroverse mit einem Gesetzeslehrer enthalten hat Noch wahrscheinlicher ist dass es von Anfang verschiedene Versionen gegeben hat die von den Evangelisten unterschiedlich rezipiert worden ist In jedem Fall bezeugt die Breite der Uumlberlieferung dass das Liebesgebot fuumlr Jesus typisch gewesen ist

b In allen Versionen des Doppelgebotes gibt es gemeinsame Charakteristika bull die Form des Gespraumlches in der das Doppelgebot entwickelt wird bull den Bezug auf das Gesetz bei Markus (1228) und Matthaumlus (2236) durch die

Jesus gestellte Ausgangsfrage bei Lukas durch die Ruumlckfrage Jesu (1026) bei Matthaumlus durch den Schlusssatz Jesu unterstrichen (2240)

bull die Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 ad vocem Agape bull die Abfolge dass zuerst das Hauptgebot der Gotteslebe (Dtn 64f) dann das

Gebot der Naumlchstenliebe (Lev 1918f) kommt obwohl die kanonische Reihen-folge eine andere ist

Diese Charakteristika sind der Kernbestand der Tradition sie muumlssen zu Eckpfeilern der Interpretation werden

c Die unterschiedlichen Gespraumlchssituationen haben ihre eigene Logik bull Markus will zeigen dass es zu einer fundierten und breiten Verstaumlndigung Je-

su mit den Schriftgelehrten haumltte kommen koumlnnen auf der Basis der Tora bull Matthaumlus will zeigen dass die Hierarchisierung der Gebote strittig war und

geblieben ist bull Lukas will herausarbeiten dass das Doppelgebot Fragen stellt die Jesus be-

antworten kann Die unterschiedlichen Logiken koumlnnen nicht gegeneinander ausgespielt aber jeweils in das Evangelium eingeordnet werden in dem sie sich befinden

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d Alle Versionen bestimmen die Tora als Basis des Dialoges Alle bleiben im Rahmen juumldischer Hermeneutik Schrift legt Schrift aus Alle erweisen sich im religionsge-schichtlichen Vergleich als typisch jesuanisch

bull Einerseits gibt es im Judentum eine lebhafte Debatte aus didaktischen und theologischen Gruumlnden zu einer Hierarchie der Gebote zu gelangen In dieser Debatte ragt das Liebesgebot heraus Es gibt aber immer auch starke Kontro-versen uumlber die Richtigkeit und Guumlltigkeit solcher Elementarisierungen

bull Anderseits steht Jesus nicht gegen die Tora sonder erfuumlllt sie (vgl Mt 517-20) Dese Erfuumlllung hat eine spezifische Qualitaumlt diese Qualitaumlt bezeichnet das Liebesgebot das Jesus selbst praktiziert

Das Doppelgebot bricht nicht aus dem Gesetz aus sondern schlieszligt es auf

e Im fruumlhen Judentum gibt es keine direkte Parallele zum jesuanischen Doppelgebot Aber es gibt eine ganze Reihe von strukturaumlquivalenten Formulierungen sowohl im palaumlstinischen wie auch im hellenistischen Judentum Zum Teil sind sie direkt als Ge-bot einer doppelten Liebe zum Teil mit Varianten vor allem der Gottesfurcht gebil-det Diese Parallelen erhellen den juumldischen Kontext in dem das Doppelgebot steht Auffaumlllig ist in der Jesustradition zweierlei

1 die direkte Schriftzitation 2 der explizite Bezug zur Tora der reflektiert wird

Beides spiegelt die Programmatik der jesuanischen Position

f Die Struktur der Tradition leitet in jeder Variante von der Gottes- zur Naumlchstenliebe und bindet das Liebesgebot zusammen

bull Es gibt keine Gottesliebe ohne Naumlchstenliebe weil Gott den es zu lieben gilt nicht nur die Person liebt die lieben soll sondern auch diejenige die geliebt werden soll Diese Liebe Gottes als Basis ist im Doppelgebot nicht expliziert aber impliziert

o in der Einzigkeit Gottes so wie sie in der Bibel Israels und in der Jesus-tradition als Qualifikation des Schoumlpfers und Erhalters des Versoumlh-ners und Vollender entfaltet wird

o im Wort Agape das eo ipso von der Liebe Gottes gespeist wird Das Doppelgebot ist das beste Gegengift gegen Heuchelei

bull Es gibt keine Naumlchstenliebe ohne Gottesliebe ndash nicht weil es keine Ethik keine Menschlichkeit kein Mitleid und keine Solidaritaumlt ohne Gottesliebe gaumlbe (im Gegenteil) sondern weil die Naumlchstenliebe wie sie alt- und neutestamentlich expliziert wird den Naumlchsten als die von Gott geliebte Person liebt also Ein-stimmung in die Liebe Gottes ist die nur in der Liebe zu Gott explizit beant-wortet werden kann

bull Es gibt einen Primat der Gottes- vor der Naumlchstenliebe ndash nicht weil die Got-tes- wichtiger als die Naumlchstenliebe waumlre sondern weil Gott der Schoumlpfer all derer ist die lieben und geliebt werden sollen und sie alle zur Teilhabe an seiner Liebe fuumlhren will

Die Einheit der Gottes- und Naumlchstenliebe ist keine Identitaumlt sondern eine Spannung die ein hohes Energiefeld aufbaut

g Das Doppelgebot selbst enthaumllt keine Konkretion steht aber in den Evangelien die sich in die Tradition des Alten Testaments stellen und wird dadurch einerseits zum Kompass durch die Tora andererseits zum Katalysator von Aktualisierungen die pa-radigmatisch von Jesus angesprochen werden

Thomas Soumlding

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5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)

a Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter antwortet auf die wichtige Frage bdquoWer ist mein Naumlchsterldquo (Lk 1025-37)

bull Die Frage ist wichtig weil es um die Konkretionen der Liebe geht und Lev 1917f eine klare Antwort gibt Die Naumlchsten sind die Mit-Glieder des Gottes-volkes Hinzu treten die bdquoFremdenldquo (Lev 1934) die dauerhaft in Israel inte-griert sind nach der Septuaginta die Proselyten Die Konzentration auf diese Naumlchsten ist theologisch durch die gemeinsame Berufung des Volkes zur Hei-ligkeit begruumlndet Sie bewaumlhrt sich in Konflikten umfasst also de facto auch Feindesliebe

bull Die Frage wird von Jesus mit einer Geschichte beantwortet die auf provokan-te Weise einen Samariter zu einem Vorbild werden laumlsst Dass Jesus mit ei-nem Gleichnis antwortet setzt auf die argumentative Kraft einer Erzaumlhlung die nicht nur eine Welt vor Augen stellen sondern auch eine Sache klaumlren kann und zwar so dass Anteilnahme entsteht eine Verstrickung in die Ge-schichte durch Dramatik und Identifikation

Die Antwort auf die Frage wird nicht ohne ihre Umkehrung gegeben bdquoWer hellip ist zum Naumlchsten dessen geworden der unter die Raumluber gefallen istldquo (Lk 1036) Damit wird die Ausgangsfrage nicht desavouiert sondern konkretisiert Wer nach dem Naumlchsten fragt fragt auch nach sich selbst Und wer sich selbst von Naumlchsten umgeben weiszlig denen er verpflichtet ist muss selbst zum Naumlchsten derer werden wollen die auf Hilfe angewiesen sind

b Die Geschichte gehoumlrt zum Doppelgebot das bei Lukas (1025ff) wie bei Matthaumlus (2235-40) ein Streitgespraumlch ist waumlhrend es bei Markus ein Konsensgespraumlch ist (Mk 1228-34) Lukas hat es in die Zeit des oumlffentlichen Wirkens Jesu vorgezogen und kompositorisch konkretisiert

bull Mit einem bdquoGesetzeslehrerldquo trifft Jesus auf seinem Weg einen Experte fuumlr die Frage die er stellt

bull Das Doppelgebotsthema wird nicht nur durch das Samaritergleichnis sondern auch durch die Fortsetzung konkretisiert

o Die Beispielgeschichte Lk 1030-35 thematisiert das Tun (Lk 1037) o Die folgende Geschichte von Maria und Martha akzentuiert das Houmlren

(Lk 1038-42) o Die anschlieszligende Gebetslehre konkretisiert jene Gottesliebe die aus

dem Houmlren zum Sprechen fuumlhrt mit dem Vaterunser als Kern Durch die Komposition wird die Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe unter-strichen

Die Szenerie unterstreicht die Brisanz der Frage nach der Geltung des Gesetzes und erhoumlht damit den Stellenwert des Gleichnisses damit aber auch die Praumlgnanz des Samariterbildes Jesu

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c Der gesamte Text hat eine dialogische Struktur 1 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach dem Sinn des Lebens (Lk 1025) 2 Jesus fragt zuruumlck indem er auf das Gesetz verweist (1026) 3 Der Gesetzeslehrer zitiert das Doppelgebot (Lk 1027) 4 Jesus bestaumltigt und fordert zur Praxis (Lk 1028) 5 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach der Identitaumlt des Naumlchsten (Lk 1029) 6 Jesus fragt zuruumlck indem er das Gleichnis erzaumlhlt (Lk 1030-36) 7 Der Gesetzeslehrer gibt die richtige Antwort (Lk 1037a) 8 Jesus fordert zum Handeln (Lk 1037b)

Jesus agiert im sokratischen Stil Er laumlsst den Fragesteller selbst die Antwort finden ndash nicht irgendwo sondern im Gesetz und in seinem Gewissen Das spiegelt fuumlr Lukas die Uumlberlegenheit Jesu und die Menschlichkeit seiner Ethik

d Das Gleichnis arbeitet mit einem scharfen Kontrast bull Auf der einen Seite stehen der Priester und der Levit Repraumlsentanten des Ju-

dentums Sie muumlssten genau wissen was zu tun ist Sie haben wenn sie wie der Verletzte auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho sind auch keinen Grund sich aus kultischen Uumlberlegungen um sich nicht zu verunreinigen an einem vorbeizugehen von dem sie glauben dass er tot sei wenn sie auf dem Weg zuruumlck sind ist fuumlr die ggf erforderliche rituelle Reinigung genuumlgend Zeit

bull Auf der anderen Seite steht der Samariter dem man es am wenigsten zutrau-en wuumlrde dass er tut was recht ist Dessen Rolle wird aber von Jesus stark betont nicht nur durch den Kontrast sondern auch dadurch dass er weit uumlber die Erste Hilfe hinaus mehr als genug tut um dem Verletzten zu helfen Er selbst leistet den sprichwoumlrtlich gewordenen Samariterdienst und treibt ungewoumlhnlich intensive Vorsorge dass der Mann nachhaltig gesundet ndash nach allen Regeln der (damaligen) aumlrztlichen Kunst

Dieser Kontrast war den Menschen sowohl zur Zeit Jesu als auch zur Zeit des Evange-listen Lukas deutlich Lk 952-56 hat ihn frisch in Erinnerung gerufen

e Jesus laumlsst durch die Kunst seiner narrativen Argumentation dem Gesetzeslehrer keine Chance nicht von seiner Antwort uumlberzeugt zu werden die seinen eigenen mo-ralischen Standpunkt veraumlndert Alle Menschen die ein Herz im Leibe haben werden erkennen dass nicht der Priester nicht der Levit sondern ausgerechnet der feindli-che der bdquohaumlretischeldquo Samariter das einzig Richtige getan hat indem er dem unter die Raumluber gefallenen Menschen geholfen hat Das aber ist schon der erste Schritt in die Richtung die Jesus den Menschen zeigt damit sie Gott und den Naumlchsten neu entde-cken koumlnnen Wer aber nicht nur tatkraumlftig wie der Samariter hilft sondern als Jude weiszlig dass er ihn wegen seiner Naumlchstenliebe nachahmen sollte hat eine Grenze uumlberschritten die durch das Nahekommen der Basileia durchlaumlssig geworden ist Der Gesetzeslehrer versperrt sich dieser Lektion nicht Er ist deshalb ein positives Beispiel

Literatur Andregrave Lacoque Lhermeacuteneutique de Jeacutesus au sujet de la loi dans la Parabole du Bon Samari-

tain in Etudes theacuteologiques et religieuses 78 (2003) 25-46

Ruben Zimmermann Die Etho-Poietik des Samaritergleichnisses (Lk 1025-37) Eine Ethik des Schauens in einer Kultur des Wegschauens in Wort und Dienst 29 (2007) 51-69

Thomas Soumlding

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6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)

a Die fuumlnfte und sechste Antithese bilden bei Matthaumlus den Houmlhepunkt der Reihe die sich am Dekalog orientiert in der Feldrede bei Lukas markiert das Gebot der Feindes-liebe den Mittelpunkt der Ethik Die Feindesliebe bezeichnet in groumlszligter Konsequenz den Standpunkt der Moralitaumlt steht aber auch im Brennpunkt der Kritik

bull Ist Gewaltlosigkeit wuumlrdelos verantwortungslos kraftlos So Nietzsche14

bull Ist Feindesliebe unrealistisch So der gesunde Menschenverstand und das Ur-teil professioneller Politik

15 So auch der juumldische Einwand16 den zuletzt Jacob Neusner vorgetragen hat17

Die antithetische Form bei Matthaumlus zeigt das Potential der Kontroverse Es ist nicht das Ziel der Exegese sie aufzuloumlsen sondern sie auszuloumlsen

b Der Blick in die Synopse zeigt im Vergleich mit Lk 627-36 zweierlei bull Die antithetische Form ist ndash hier wie sonst ndash ein matthaumlisches Spezifikum Sie

dient der Profilierung der Ethik Jesu im Gegenuumlber zur Tora ndash unter dem Vor-zeichen der Erfuumlllung (Mt 517-20)

bull Bei Lukas ist Gewaltverzicht direkter Ausdruck der Feindesliebe Matthaumlus dif-ferenziert und kombiniert um zu akzentuieren

Die Synopse fordert bei der lukanischen Uumlberlieferungsform anzusetzen aber die matthaumlische Variante nicht als sekundaumlr abzutun sondern als Reflex jesuanischer Konkretionen in den Blick zu nehmen

c Das Gebot der Feindesliebe tradiert uumlber die Redenquelle (Q) ist Urgestein und Herzstuumlck der Ethik Jesu18

14 Also sprach Zarathustra III 21 (Werke VI1) bdquoIch sollte nur Feinde haben die zu hassen sind aber nicht Feinde zum Verachten ihr muumlsst stolz auf euren Feind sein (260)ldquo

Die Stellung in der matthaumlischen Bergpredigt und der luka-nischen Feldrede zeigt dass im Urchristentum diese zentrale Bedeutung gesehen und tradiert worden ist Paulus reflektiert sie in Roumlm 129-21 Auch im johanneischen Kon-zept der Bruderliebe ist sie vorausgesetzt

15 Max Weber Politik als Beruf (1919) in ders Gesammelte politische Schriften hg v J Winckelmann Tuumlbingen 31971 505-560 bdquoMit der Bergpredigt ist es eine ernstere Sache als die glauben die diese Gebote heute gern zitieren Wenn es in Konsequenz der akosmistischen Liebesethik heiszligt dem Uumlbel nicht widerstehen mit Gewaltlsquo ndash so gilt fuumlr den Politiker der Satz du sollst dem Uumlbel gewaltsam widerstehen sonst ndash bist du fuumlr seine Uumlberhandnahme verantwortlich (550f)ldquo 16 Der Jude Tryphon plaumldiert nach Justin dial 52 bdquoIch weiszlig auch dass eure Lehren die in dem sogenannten Evangelium stehen so erhaben und groszlig sind dass wie ich meine kein Mensch sie beobachten kannldquo 17 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 Neuausgabe Frei-burg - Basel - Wien 2007 (engl 1993) Neusner praumlzisiert Jesus maszlige sich das Recht Gottes an so zu sprechen wie es die Bergpredigt uumlberliefert 18 Th Soumlding Die Verkuumlndigung Jesu 570-583

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d Nach Lk 6 sind alle Houmlrer der Botschaft Jesu zur Feindesliebe gerufen In erster Linie sind es seine Juumlnger als stellvertretende Adressaten der Seligpreisungen und Weherufe (Lk 620-26) Lukas sieht die Kirche als Ort wo primaumlr die Feindesliebe ver-wirklicht sein will gerade auch gegenuumlber Nicht-Christen (und berichtet in der Apos-telgeschichte dass dies in der Urgemeinde auch geschehen sei) Nach Matthaumlus hat Jesus direkt seine Juumlnger angesprochen (Mt 51f) ndash aber so dass alles Volk (vgl 423ff) es houmlren und daruumlber staunen kann (Mt 728f) Die Pointe ist missionstheologisch Wenn die Juumlnger ausziehen alle Voumllker ihrerseits zu Juumlngern zu machen sollen sie nicht nur taufen sondern auch lehren bdquoalles zu haltenldquo was Jesus ihnen bdquogebotenldquo hat (Mt 2818ff)

d Die Feindschaften die Jesu Gebot anspricht sind so paradigmatisch ausgewaumlhlt und scharf zugespitzt dass prinzipiell jede denkbare Feindschaft im Blick stehen muss Es werden die empoumlrendsten Formen paradigmatisch konkretisiert

bull religioumlse Verfolgung (Lk 628 Mt 544) bull koumlrperliche Gewalt selbst wenn sie demuumltigen soll (Lk 628f Mt 539) bull wirtschaftliche Ausbeutung auch wenn sie sich den Anschein des Rechts gibt

(Mt 540) bull politisch-militaumlrische Unterdruumlckung auch wenn sie schier uumlbermaumlchtig

scheint (Mt 541) Jede denkbare Grenze der Feindesliebe wird uumlberschritten der Familie und Ver-wandtschaft des Freundeskreises der Glaubensgenossen der (mehr oder weniger) Guten der Angehoumlrigen des eigenen Volkes (vgl Lk 1025-37)

e Die Feindesliebe zeigt sich in den gleichfalls paradigmatischen Konkretisierungen bull als Fuumlrbitte fuumlr die Verfolger (Lk 628 par Mt 544) und Segnen der

Blasphemiker (Lk 628) ndash im Gegensatz zum Verfluchen und zur Bitte um ihre Vernichtung durch Gottes Strafgericht

bull als aktiver Gewaltverzicht gegenuumlber erlittener Uumlbermacht (Lk 629 Mt 538-42) ndash im Gegensatz dazu Unrecht mit gleicher Muumlnze heimzuzahlen

bull als selbstlose Unterstuumltzung der Armen auch wenn deren Bitten laumlstig faumlllt (Lk 630) ndash im Gegensatz zum Kalkuumll des do ut des

bull als engagierter Einsatz fuumlr das Gute (Lk 62733) ndash im Gegensatz zu einem Mitmachen wie zur Resignation

Feindesliebe ist nicht passiv sondern aktiv Sie kreiert eine neue Situation In diesen Konkretisierungen erhellt die Feindesliebe als radikalisierte Naumlchstenliebe (Lev 1917f) die im Kontext der Gottessliebe steht (Mk 1228-34 parr) Sie ist nicht das Einverstaumlndnis mit Unrecht Schuld und Schwaumlche schon gar nicht schwaumlchliches Hinnehmen von Unrecht sondern im Gegenteil starkes aber deshalb auch leidensfauml-higes Eintreten dafuumlr Boumlses durch Gutes zu uumlberwinden (Roumlm 1221)

Thomas Soumlding

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h Die Feindesliebe ist theologisch begruumlndet und motiviert bull Der theologische Grund ist das Handeln Gottes selbst der als Schoumlpfer und Er-

loumlser permanent Feindesliebe praktiziert (Lk 635 Mt 545 vgl Roumlm 55ff) o Mit dem Blick ins Buch der Natur zeigt Jesus nach Matthaumlus Gott als

den der auch den Boumlsen und Ungerechten das Leben schenkt weil er will dass sie leben (nicht weil er will oder toleriert dass sie Boumlses und Unrechtes tun)

o Der Vergleich mit dem aumlhnlichen Motiv bei Seneca der (nicht zu Feindesliebe aber) zu groszligmuumltiger Gelassenheit gegenuumlber Feinden mahnt macht den Unterschied deutlich denn nach ihm kann Gott nicht anders als die Unterstuumltzung der Boumlsen in Kauf zu nehmen wenn er den Guten helfen will ndash wofuumlr er sich entscheidet weil das Gute mehr wert ist als das Boumlse

bull Das theologische Motiv ist die Nachahmung Gottes die imitatio Dei (Lk 636 Mt 548) der die Verheiszligung ewigen Lebens gilt des bdquoLohnesldquo der in der Gotteskindschaft besteht

In dieser Theozentrik ist die Feindesliebe Zustimmung zu der Liebe mit der Gott auch die Ungerechten und Suumlnder liebt ndash ohne ihre Suumlnde gutzuheiszligen aber auch ohne ihnen wegen ihrer Schuld seine Zuwendung zu entziehen

i Das Gebot der Feindesliebe ist angewandte Christologie bull Einerseits ist es Jesus der das Gebot ndash nach Matthaumlus im Gegensatz zur herr-

schenden Auslegung des atl Liebesgebotes ndash der Feindesliebe aufstellt bull Andererseits ist es Jesus der das Gebot umfassend verwirklicht ndash vorbildlich

in seinem Leiden heilbringend in seiner Lebenshingabe aus reiner Liebe

f Das bdquoAuge um Auge Zahn um Zahnldquo (Ex 2124) begrenzt die Vergeltung das bdquoIch aber sage euchldquo aktiviert zur Versoumlhnung Das alttestamentliche Gebot der Naumlchstenliebe umfasst innerhalb Israels Feindesliebe (Lk 1917f) und weitet sie aus (Lev 1934) Das bdquoIch aber sage euchldquo setzt sich von einer Auslegung ab die aus Sorge um Gottes Gerechtigkeit die Grenzen der Erloumlsung zu eng zieht Dafuumlr gibt es Beispiele in Qumran Der originaumlre Bezug des Gebotes der Naumlchstenliebe auf das Volk Gottes wird nicht aufgegeben aber ausgeweitet

bull In der Juumlngerschaft ist ndash in Israel und uumlber Israel hinaus ndash der Ort an dem die Feindesliebe so praktiziert werden soll dass sie ausstrahlt (vgl Mt 513-16)

bull Zum Volk Gottes gehoumlren nicht nur die Juden und alle die an Jesus glauben Gott hat vielmehr Jesus (nach Matthaumlus wie nach Lukas) deshalb gesendet damit durch seinen Dienst am Heil der Menschen der reine Feindesliebe ist alle Voumllker zu seinem Volk werden Die Kirche repraumlsentiert und realisiert stellvertretend diese Heilsuniversalitaumlt Ihre Feindesliebe konkretisiert sie ethisch

Feindesliebe durchbricht das Prinzip der Vergeltung ohne das Prinzip der Gerechtig-keit aufzugeben Das ist nur deshalb sittlich erlaubt und geboten weil das Gebot in der Liebe Gottes selbst begruumlndet ist die sich in der Feindesliebe Jesu realisiert die ihrerseits der theologische Nerv seines Lebens und Sterbens zur Erloumlsung der Suumlnder ist

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j Das psychologische Problem das Sigmund Freud scharf markiert hat19

Das ethische Problem das Fjodor Dostojewksi (Die Bruumlder Karamasow) Iwan in den Mund legt lautet

besteht da-rin dass blinde Aggressionen entwickelt wer sich moralisch uumlberfordert Dieses Prob-lem laumlsst sich wohl nur spirituell loumlsen in der Nachfolge Jesu die auf seine Kraft setzt in den Nachfolgern das Gute zu tun

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k Das Problem der Erfuumlllbarkeit der Bergpredigt und speziell des Gebotes der Fein-desliebe bewegt Theologie und Kirche seit aumlltester Zeit Eine erhebliche Verschaumlrfung des Problems geschieht durch eine moderne Emotionalisierung der Feindesliebe Wird sie aber als Ausdruck der Agape verstanden begruumlndet sie ndash in der Nachfolge Jesu ndash eine Praxis des Glaubens aus der Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe Als solche kann sie durchaus eingeuumlbt ausgebildet und gefestigt werden Sie setzt die Suche nach dem besten Weg der Verwirklichung nicht aus sondern ein Sie entspricht aber darin der Gottebenbildlichkeit aller Menschen und der Gotteskindschaft der zu Erloumlsenden dass sie an der Unbedingtheit der Bejahung die Gott ihnen zuteilwerden laumlsst Anteil hat

dass Feindesliebe letztlich Kumpanei mit den Taumltern auf Kosten der Opfer sei Dieses Problem das haumlufig nicht gesehen wird laumlsst sich nur soteriolo-gisch loumlsen weil derjenige der selbst aus reiner Liebe die Schuld der anderen ertra-gen und vergeben hat das Reich Gottes als umfassende Vollendung von Gerechtig-keit Friede und Freude (Roumlm 1417) verwirklicht

19 Das Unbehagen in der Kultur in Gesammelte Werke 14 London 1948 419-506 468-475493-506 (Abschnitte V VIII) bdquoNachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte war die aumluszligerste Intoleranz des Christentums gegen die drauszligen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge gewordenldquo (374) 19 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 20 bdquoSchlieszliglich will ich auch gar nicht dass die Mutter den Peiniger umarmt der ihren Sohn von Hunden zerreiszligen lieszlig Sie darf sich nicht unterstehen ihm zu verzeihen Wenn sie will mag sie verzeihen soweit es sie selber angeht sie mag dem Peiniger ihr maszligloses Mutterleid ver-zeihen aber die Leiden ihres zerfleischten Kindes zu verzeihen hat sie kein Recht sie darf es nicht wagen dem Peiniger zu verzeihen auch wenn das Kind selber ihm verzieheldquo (Muumlnchen 1958 330f

Thomas Soumlding

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7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)

71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20) a Mit der Fuszligwaschung21

b Die Fuszligwaschung ist das Zeichen der Passion Ihr folgen Gespraumlche mit den Juumln-gern die zwar von Jesus gewaschen und gereinigt sind aber groumlszligte Schwierigkeiten haben zu verstehen was sich tut

beginnt der 2 Hauptteil des Johannesevangeliums Das oumlffentliche Wirken ist abgeschlossen Jesus konzentriert sich auf seine Juumlnger bevor er oumlffentlich hingerichtet werden wird Er bereitet sie auf seine Passion und seine Auferstehung vor die den Weg zu Gott bahnen werden

bull Auf die Fuszligwaschung folgt zuerst eine Trias unmittelbarer Konsequenzen o Judas wird als Verraumlter identifiziert und verlaumlsst den Juumlngerkreis (Joh

1321-30) o Die Juumlnger werden zur wechselseitigen Liebe gemahnt (Joh 1331-35) o Petrus wird seine Verleugnung vorhergesagt (Joh 1336ff)

bull Auf die Fuszligwaschung folgen ausfuumlhrliche Abschiedsworte (Joh 14-16) die in ein Abschiedsgebet muumlnden (Joh 17)

c Joh 131-20 ist uumlbersichtlich aufgebaut

Joh 131 Der Hintergrund Joh 132-5 Die Fuszligwaschung beim Mahl 132 Die Situation 133ff Die Handlung Jesu Joh 136-11 Das Gespraumlch mit Petrus 136 Der erste Einwand des Petrus 137 Die erste Antwort Jesu 138a Der zweite Einwand des Petrus 138b Die zweite Antwort Jesu 139 Der dritte Einwand des Petrus 1310 Die dritte Antwort Jesu 1311 Kommentar des Evangelisten Joh 1312-20 Die Deutung vor allen Juumlngern 1312-17 Die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu 1318f Die Ansage eines Verrates 1320 Die Juumlnger als Apostel

21 Vgl Luise Abramowski Die Geschichte von der Fuszligwaschung in Zeitschrift fuumlr Theologie und Kirche 102 (2005) 176-203

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d Die Exegese diskutiert in welchem Verhaumlltnis die beiden Deutungen zu einander stehen Die erste ist soteriologisch die zweite ethisch ausgerichtet

bull Recht oft wird aus der Doppelung auf ein literarisches Wachstum des Textes geschlossen

o Moumlglichkeit 1 Die soteriologische Deutung ist die aumlltere die paraumlnetische die se-kundaumlre22

o Moumlglichkeit 2 Die ethische Deutung ist urspruumlnglich die soteriologisch nachtraumlglich zwischengeschoben

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Beide Ansaumltze sind von weitereichenden Voraussetzung zur relativen Chrono-logie des Corpus Johanneum gepraumlgt

o Wer den Ersten Johannesbrief fuumlr aumllter erachtet wird die ethische Deutung fuumlr urspruumlnglich halten

o Wer das Evangelium fuumlr aumllter erachtet wird eher die soteriologische Deutung als originaumlr einschaumltzen

Die ethische Deutung wird dann fuumlr sekundaumlr zu erachten wenn man zu dem Urteil gelangt die johanneische Theologie sei urspruumlnglich wenig konkret und eher spirituell ausgerichtet waumlhrend erst sekundaumlr Johannes gesamtkirchlich eingenordet worden sei Beide Ansaumltze gehen von einem literarischen Schichtenmodell aus das der Ei-genart johanneischer Literatur in den Evangelienerzaumlhlungen nicht angemes-sen ist Beide werden durch das Modell einer bdquorelectureldquo gemildert das ndash aumlhnlich wie in der Prophetenexegese des Alten Testaments ndash mit einer Fortschreibung der Texte rechnet aber sie zugleich als vergegenwaumlrtigende Aneignung des vor-gegebenen Textes versteht24

bull Es mehren sich wieder die Stimmen die Joh 13 als literarisch einheitlich anse-hen

Allerdings stoumlszligt dieses Modell auf die Schwie-rigkeit dass das Liebesgebot das die ethische Deutung vorbereitet in Joh 1331-35 dominant ist und nicht nur in Joh 15-16 ausgefuumlhrt sondern auch in Joh 1421 angebahnt wird

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Die Doppelung erklaumlrt sich aus der Theologie der Liebe Sie hat eine Innenseite die Liebe Jesu zu sein Seinen in der sich nach Joh 1421 die Liebe das Vaters zum Sohn ereignet und sie hat eine Auszligenseite die sich nach Joh 1331-35 und Joh 15 in der Bruderliebe der Juumlnger erweist von der die Welt angezogen werden wird (Joh 17)

Allerdings braucht es eine Erklaumlrung fuumlr die Deutung Eine moumlgliche Er-klaumlrung waumlre der Adressatenwechsel aber die Petrusszene spielt sich vor den Augen und Ohren aller ab

22 So Rudolf Schnackenburg Joh III passim 23 So Udo Schnelle Joh 237 Er will eine Ursprungsform (132a4512ab162017) die recht nahe bei Lk 22 und der Mahnung der Juumlnger zum Dienen steht zuerst in der johanneischen Schule (der er den Ersten Johannesbrief mit seiner Theologie der Liebe zurechnet) um die Vorbildethik erweitert sehen (1312c13-15) bevor der Evangelist selbst von der Einleitung an (131) konsequent seine soteriologische Deutung ins Fundament der Geschichte eingebaut habe (136-10ab) 24 So Jean Zumstein Joh 25 So Hartwig Thyen Joh

Thomas Soumlding

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711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus a Die Liebe Jesu zu den Seinen (Joh 131) verwirklicht die Liebe Gottes zur Welt (Joh 316) die von der Liebe des Vaters zum Sohn getragen wird (Joh 335 1017) Es ist die nach der Zwischennotiz von Jesu Freundschaft mit Martha Maria und Lazarus (Joh 115) erste Betonung der Agape Jesu von der spaumlter das Liebesgebot Joh 1334 und die Verheiszligung dauernden Beistandes der Juumlnger gedeckt ist (Joh 1421-31)

b In der Liebe Jesu zu den Seinen verbindet sich die Liebe Gottes zur Welt mit der Liebe Jesu zu seinen Freunden (Joh 15) Es ist eine unbedingte Bejahung und Wert-schaumltzung die auf Sympathie beruht und lebendig macht

c Die Liebe erweist Jesus den bdquoSeinenldquo bull Im Ruumlckraum steht Joh 19-13 dass die bdquoSeinenldquo den Logos abgelehnt haben

ndash bis auf diejenigen die an seinen Namen glauben und deshalb das Recht der Gotteskindschaft erhalten

bull Die bdquoSeinenldquo sind die Juumlnger die sich von Jesus in die Nachfolge haben rufen lassen (Joh 135-51) und in der galilaumlischen Krise Jesus nicht verlassen haben (Joh 660-71) Sie haben ihrerseits schwere Glaubensprobleme ndash aber werden sie durch Jesus uumlberwinden

bull In Joh 14 und Joh 17 wird erklaumlrt werden dass die Liebe Jesu zu den Seinen ndash wie die zum Lieblingsjuumlnger ndash nicht exklusiv sondern positiv zu verstehen ist

Dass Jesus den Seinen die Liebe bdquobis zum Endeldquo erweist verweist auf den Tod Jesu Das griechische Wort ist mehrdeutig teloj kann bdquoEndeldquo aber auch bdquoZielldquo bedeuten Beide Bedeutungen schwingen mit

bull Der Tod Jesu ist das definitive Ende seiner geschichtlichen Sendung das zu akzeptieren wird den Juumlngern ungeheuer schwer fallen

bull Der Tod Jesu ist das Ziel seines Wirkens insofern es seine Liebe und Hingabe definitiv werden laumlsst

Der Korrespondenzsatz ist das Todeswort Jesu Joh 1930 bull Es ist ein Gebet wie nach allen Synoptikern (Mk 1534 par Mt 2746 bdquoGott

mein Gott warum hast du mich verlassenldquo ndash Ps 222 Lk 2346 bdquoVater in deine Haumlnde gebe ich meinen Geistldquo ndash Ps 316) aber als letztes Offenba-rungswort an die Welt

bull Die traditionelle Uumlbersetzung lautet bdquoEs ist vollbrachtldquo Man kann aber auch sagen bdquovollendetldquo (Muumlnchner Neues Testament Bible de Jerusaleme bdquoCest acheveacuteldquo) oder bdquozu Endeldquo (King James Bible bdquoIt is finishedldquo)

Eine moumlgliche auf Joh 131 abgestimmte Uumlbersetzung waumlre (wie im Muumlnchener Neu-en Testament) bdquoEs ist vollendetldquo (tetelestai)

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712 Die Fuszligwaschung a Jemandem vor dem Mahl die Fuumlszlige zu waschen ist ein Dienst den traditioneller-weise Sklaven ihren Herren erweisen (vgl 1Sam 2541)26

Joh 1313f zeigt dass die sozialen Dimensionen der Fuszligwaschung klar vor Augen stehen der Gesamttext dass der Ritus sakramental gefuumlllt wird

Das Waschen der Fuumlszlige ist ein Ritus der Vorbereitung der eine koumlrperliche Wohltat mit einer Geste der Houmlflich-keit verbindet die Anerkennung und Ehrerbietung meint (Gen 184 vgl Lk 744) und zudem mit einer rituellen Bedeutung versieht die einen Uumlbergang gestaltet von drauszligen nach drinnen vom Alltag zum Fest vom Profanen zum Heiligen

7121 Die soteriologische Deutung a Im Gespraumlch mit Petrus wird die Bedeutung der Fuszligwaschung soteriologisch gedeu-tet Sie ist eine bdquoReinigungldquo ndash nicht wie in der Taufe sondern wie in der Buszlige Petrus braucht keine Wiederholung der Wiedergeburt die er als glaumlubig gewordener Taumluferjuumlnger erlebt hat aber er bedarf mehr als andere der Vergebung weil er ndash ent-gegen seinem Vorsatz ndash Jesus verleugnet Waumlhrend er sagt fuumlr Jesus sterben zu wol-len muss gerade fuumlr ihn Jesus sterben

b Petrus erkennt nach Joh 136 das Unmoumlgliche der Situation dass der Herr ihm ei-nen Sklavendienst leistet Er wehrt diesen Dienst doppelt ab (Joh 1368a) ndash so wie er nach Joh 1336ff nicht will dass Jesus fuumlr ihn sein Leben einsetzt In diesem Nein kommt eine Liebe zu Jesus zum Ausdruck die bestimmen will Gleichzeitig aber ist das Nein auch Ausdruck des Missverstaumlndnisses dass Petrus der Diakonie Jesu womoumlglich gar nicht bedarf Petrus verschaumlrft seinen Widerspruch der aus Unverstaumlndnis stammt indem er dann ganz gewaschen werden will (Joh 139) ndash womit er aber seine Berufung leugnet

c Jesus deckt das Missverstaumlndnis des Petrus auf Die Fuszligwaschung steht nicht am Anfang sondern an einer Biegung des Weges mit Jesus Die Weg-Gemeinschaft ist darin begruumlndet dass Jesus sich in seinen Dienst stellt Dem muss entsprechen dass Petrus sich den Dienst gefallen laumlsst Er muss Jesus so nahe wie in der Fuszligwaschung an sich heranlassen Er muss den Rollentausch akzeptieren Die Langversion von Vers 10 die durch den Codex Vaticanus gedeckt und als lectio difficilior gesichert ist entspricht dem Kontext

bull Im Bild Auch nach dem Vollbad macht man sich wieder die Fuumlszlige schmutzig Man laumlsst sie sich waschen damit auch sie sauber sind man laumlsst nur sie waschen weil der sonstige Koumlrper gereinigt ist

bull In der Sache Wer durch das Bad der Wiedergeburt die Taufe bdquoganz reinldquo geworden ist muss diese Reinheit aber durch seine Schuld verloren hat muss sich die Fuumlszlige waschen lassen um durch Jesus zu Gott zu gelangen Dem entspricht am ehesten eine Deutung auf die Buszlige wie sie orthodoxen Vaumlter favorisieren

26 Hellenistische Parallelen Neuer Wettstein I2 636-644

Thomas Soumlding

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7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
    • Kontakt
      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
        • Markusevangelium
        • Lukasevangelium
        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 12: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

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b Aus der Septuaginta erklaumlrt sich die hohe Aufmerksamkeit fuumlr das Liebesgebot im hellenistischen Judentum Die Testamente der Zwoumllf Patriarchen7 reden haumlufig im ethischen Sinn von Liebe8 nahezu durchweg in der Form direkter oder indirekter Aufforderungen Die TestXII sind eine griechisch uumlberlieferte im 2 Jh von christlicher Hand redigierte aber dem wesentlichen Textbestand nach urspruumlnglich juumldische Schrift deren Wurzeln bis in das 2 Jh v Chr reichen koumlnnen Die Testamente nehmen Gen 49 auf und lassen die 12 Soumlhne Jakobs ihrerseits Abschiedsreden halten9

Lev 1918 wird zwar nicht explizit zitiert aber an vielen Stellen angespielt und durch-weg aktualisiert

Sie arbeiten das Problem der Diaspo-ra auf die als Zerstreuung gesehen und als Strafe Gottes gedeutet wird In dieser Si-tuation kommt es auf den inneren Zusammenhalt der Juden an der nach den Patriarchentestamenten nicht nur rituell sondern auch ethisch begruumlndet werden soll

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7 Aumlltere Standardausgabe RH Charles The Greek Versions of the Testaments of the Twelve Patriarchs Oxford 1908 Nachdruck Darmstadt 1960 Neuere Edition Mde Jonge - HW Hollander - Hde Jonge - Th Korteweg The Testaments of the Twelve Patriarchs A Critical Edition of the Greek Text (PVTG I2) Leiden 1978 Die aramaumlische Version des TestLevi enthaumllt kein Liebesgebot Deutsche Uumlbersetzung J Becker Die Testamente der zwoumllf Patriarchen in JSHRZ III1 (21980)

Es zeigen sich Rezeptionslinien die im Bedeutungsfeld von Lev 1917f bleiben (vgl TestGad 43-8) die Explikation der Heiligkeit daumlmpfen aber den Bezug auf die Nachbarschaften im Gottesvolk Israel nicht aufgeben sondern unter den Bedingungen der Diaspora konkretisieren Nur in TestIss 76 (bdquohellip jeden Menschen hellipldquo) ist eine universalistische Deutung moumlglich

8 Vgl TestRub 69 Sim 447 Iss 52 76 Seb 85 Dan 53 Gad 42(6)7 613 77 Jos 1723 Benj 33ff 435 81 vgl auch Ass 24 Gad 33 (uumlber den Hasser) 46 Jos 175 Benj 82 (uumlber das Verhaumlltnis des Mannes zur Frau) Gad 15 (uumlber Jakobs Vaterliebe zu Joseph) 9 Vgl Th Soumlding Solidaritaumlt in der Diaspora M Konradt Menschen- und Bruderliebe 10 Ganz deutlich ist Gad 42 Dan 51 bezieht sich direkt auf das Gebot und Gesetz (vgl Iss 51) des Herrn und hat dabei augenscheinlich auch Lev 1918 vor Augen Fuumlr den Einfluss des Lie-besgebots sprechen uumlberdies die Formulierungen von Benj 334 Rub 69b bezieht die Liebe zwar direkt auf den Bruder hat aber im parallelen Teilvers 6a den Naumlchsten aumlhnlich liegt der Fall in Dan 52a3b und Gad 61

Thomas Soumlding

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c Auch Schriften die tiefer in Palaumlstina wurzeln nehmen das Liebesgebot auf Das Buch der Jubilaumlen11

11 Die Originalsprache ist hebraumlisch zu den einschlaumlgigen Qumran-Fragmenten vgl JC VanderKam Textual and Historical Studies in the Book of Jubilees (HSM 14) Missoula 1977 Die davon abhaumlngige griechische Uumlbersetzung ist bruchstuumlckhaft erhalten vgl A-M Denis Fragmenta Pseudepigraphorum quae supersunt Graeca una cum Historicorum et auctorum Iudaeorum Hellenistarum Fragmentis collegit et ordinavit (PVTG 3) Leiden 1970 70-102 Die auf der griechischen Uumlbersetzung fuszligende aumlthiopische Fassung die in den gemeinsam uumlberlie-ferten Partien der Qumran-Version sehr genau entspricht hat ediert RH Charles Mashafa Kufacirclecirc or the Ethiopic Version of the Hebrew Book of Jubilees (Anecdota Oxoniensia) Oxford 1895 Deutsche Uumlbersetzung Klaus Berger Das Buch der Jubilaumlen in JSHRZ II3 (1981)

im 2 Jh vor Chr geschrieben protestiert gegen die Korrup-tion des Makkabaumlerstaates es tritt mit dem Anspruch auf Mose auf dem Sinai offen-bart worden zu sein (Jub 11-29) es will einem Israel das einer schleichenden Hellenisierung verfaumlllt neue Identitaumlt verleihen indem es den Blick auf die normative Anfangszeit die Zeit der Vaumlter und des Mose lenkt und von ihr her eine authentische Halacha entwickelt die es erst ermoumlglicht gerecht zu leben (Jub 2326-31) Zum his-torischen Paradigma wird der Bruderstreit zwischen Jakob und Esau (Jub 3420 - 392a) Das Liebesgebot ndash Lev 1918 wird nicht direkt aber indirekt zitiert ndash hat eine qualitativ groszlige Bedeutung weil es uumlber die Klaumlrung halachischer Fragen hinaus den Geist wie die Praxis des Zusammenhaltes schaumlrft allerdings nicht allein oder als Krouml-nung sondern im konstitutiven Verbund mit anderen ethischen Prinzipien wie Ge-rechtigkeit Die Verzeihung die Joseph den Bruumldern gewaumlhrt macht ihn zum ethi-schen Vorbild dem es nachzueifern gilt Die Pflicht zur Liebe endet aber dort wo es sich nicht mehr nur um persoumlnliche Gegnerschaft sondern um Konflikte mit Frevlern handelt die dem Gebot Gottes grundlegend zuwiderhandeln Eine universalistische Ausweitung der Bruderliebe fasst Jub 202 ins Auge Zwar bezieht sich das Liebesge-bot direkt nur auf die herbeigerufenen Kinder und Enkel Abrahams aber unter ihnen finden sich namentlich genannt auch Ismael mit seinen zwoumllf Kindern und die Kinder der Ketura mit ihren Soumlhnen (Jub 201) Dadurch wird bereits der juumldische Rahmen gesprengt Uumlberdies baut die Formulierung eine Verbindung zwischen Bruderliebe und Menschenliebe auf Im ethischen Nahbereich koumlnnen auch Nicht-Juden Naumlchste werden

14

d Die Schriften aus Qumran12 enthalten in zwei Corpora bedeutende Zeugnisse einer Naumlchstenliebe die sich innerjuumldisch aus dem Konflikt mit Frevlern als Gegenstuumlck zum Feindeshass erklaumlrt13

bull Die Gemeinderegel (1QS vgl 1QSa) beschreibt das Zusammenleben einer juuml-dischen Reformbewegung die sich in striktem Gegensatz nicht nur zu den Heiden sondern auch zu den Priestern in Jerusalem als wahres Israel konsti-tuieren abseits vom Tempel Die Forschung diskutiert die Beziehung zu den Esseacutenern uumlber die Philo von Alexandrien (15 v Chr - 40 n Chr ) in seiner Schrift uumlber die Freiheit des Tuumlchtigen (Quod omnis probus liber sit 72-91) der juumldische Historiker Flavius Josephus (3738 - 100 n Chr) in seinen Buuml-chern uumlber den juumldischen Krieg (De bello Judaico 2 119-161) und die Ge-schichte Israels (Antiquitates Judaicae 181118-22) sowie der roumlmische Ge-lehrte Plinius der Aumlltere (23-79 nChr) in seiner Naturgeschichte (Naturalis historia 573) berichten

Fuumlr die Gemeinderegel ist ein religioumlser Dualismus zwischen den bdquoSoumlhnen des Lichtesldquo und den bdquoSoumlhnen der Finsternisldquo wesentlich Er entsteht durch den Frevel derjenigen die das Heilige wahren sollen er wird von Gott sanktio-niert Entscheidend ist in einem aufwendigen Konversionsverfahren den Weg aus der massa damnata in Israel zur Kommunitaumlt der Frommen zu finden um so der Gnade der Rechtfertigung teilhaftig zu werden Die Zugehoumlrigkeit zur Gemeinschaft zeigt sich im Ritus und im Ethos Das Ethos ist durch Naumlchstenliebe strukturiert (1QS 13f9ff 224 5425 82 91621 1026) Sie ist im Kern Zustimmung zu der Erwaumlhlung und Vergebung die dem Mitbruder wie der eigenen Person zuteil geworden ist Deshalb ent-spricht der Naumlchstenliebe der Feindeshass Er ist im Kern Ablehnung und Dis-tanzierung die aber gerade nicht durch Gewalt sondern durch strikte Gewalt-losigkeit strukturiert wird damit das Gesetz des Handelns nicht von den Frev-lern sondern den Gerechten bestimmt wird (1QS 1017f)

bull Die Hymnenrolle (1QH) sammelt Psalmen die den Kampf der Guten gegen die Boumlsen der Gerechten gegen die Ungerechten verherrlichen Die Sprache ist militaumlrisch der Stil metaphorisch Die Spiritualitaumlt passt zur Ekklesiologie und Ethik der Gemeinderegel aber welchen genauen Bezug es gibt ist in der Qumran-Forschung strittig Entscheidend ist Gott fuumlr die eigene Erwaumlhlung zu preisen Das dankbare Gotteslob spiegelt sich in der Abscheu vor dem und den Boumlsen Liebe ist Zu-stimmung zur Liebe Gottes Hass Zustimmung zum Hass Gottes (1QH 142-8)

Die beiden Corpora stammen aus vorchristlicher Zeit Sie dokumentieren die Zerris-senheit des Judentums in Palaumlstina aber auch den Reformeifer derer die ein heiliges Israel erneuen wollen 12 Deutsche Uumlbersetzungen E Lohse Die Texte aus Qumran Hebraumlisch und Deutsch Muumln-chen 21971 K Schubert - J Maier Die Qumran-Essener Texte der Schriftrollen und Lebensbild der Gemeinde (UTB 224) Muumlnchen - Basel 1982 143-312 Zur Tempelrolle vgl die Ausgabe von Y Yadin Megillat ham-Miqdas The Temple Scroll (Hebrew Edition) Bde I-IIIa Jerusalem 1977 deutsche Uumlbersetzung J Maier Die Tempelrolle vom Toten Meer (UTB 829) Muumlnchen - Basel 1977 13 Vgl Th Soumlding Feindeshass und Bruderliebe

Thomas Soumlding

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4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)

a Das Doppelgebot der Naumlchstenliebe uumlberliefert das Neue Testament bei den Synop-tikern in drei Fassungen

bull Markus erzaumlhlt von einem Konsensgespraumlch uumlber das groumlszligte Gebot zwischen Jesus und einem Schriftgelehrten in Jerusalem (Mk 1228-34) die Antwort Je-su eine Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 fuumlhrt zu einer Verstaumlndi-gung

bull Matthaumlus stimmt in der Thematik der Frage der Ortsangabe und der Kombi-nation beider Liebesgebote mit Markus uumlberein (Mt 2234-40) macht aber aus dem Konsens- ein Streitgespraumlch Jesus wird von einem Gesetzeslehrer auf die Probe gestellt und besteht die Herausforderung glaumlnzend indem er das Doppelgebot formuliert

bull Lukas kennt in seiner Version (Lk 1025-37) gleichfalls die Kombination er uumlberliefert wie Matthaumlus einen bdquoGesetzeslehrerldquo ndash nicht wie Markus einen bdquoSchriftgelehrtenldquo ndash als Partner und erzaumlhlt ndash wie Matthaumlus anders als Mar-kus ndash von einem Konfliktgespraumlch Aber bei ihm findet der Dialog auf dem Weg Jesu nach Jerusalem statt (Lk 951 - 1927) die Frage zielt auf das ewige Leben (wie in Mk 1017 par Mt) der Dialog spitzt sich auf die Frage nach dem Naumlchsten zu die Jesus mit dem Samaritergleichnis beantwortet

Die markinische Version ist (nach der Zwei-Quellen-Theorie) die aumllteste Matthaumlus laumlsst sich als Kuumlrzung und Zuspitzung lesen Ob aber Lk 1025-37 sich als Markus-Redaktion erklaumlren laumlsst ist fraglich Womoumlglich hat es ndash durch Q ndash eine Doppeluumlber-lieferung gegeben die eine Kontroverse mit einem Gesetzeslehrer enthalten hat Noch wahrscheinlicher ist dass es von Anfang verschiedene Versionen gegeben hat die von den Evangelisten unterschiedlich rezipiert worden ist In jedem Fall bezeugt die Breite der Uumlberlieferung dass das Liebesgebot fuumlr Jesus typisch gewesen ist

b In allen Versionen des Doppelgebotes gibt es gemeinsame Charakteristika bull die Form des Gespraumlches in der das Doppelgebot entwickelt wird bull den Bezug auf das Gesetz bei Markus (1228) und Matthaumlus (2236) durch die

Jesus gestellte Ausgangsfrage bei Lukas durch die Ruumlckfrage Jesu (1026) bei Matthaumlus durch den Schlusssatz Jesu unterstrichen (2240)

bull die Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 ad vocem Agape bull die Abfolge dass zuerst das Hauptgebot der Gotteslebe (Dtn 64f) dann das

Gebot der Naumlchstenliebe (Lev 1918f) kommt obwohl die kanonische Reihen-folge eine andere ist

Diese Charakteristika sind der Kernbestand der Tradition sie muumlssen zu Eckpfeilern der Interpretation werden

c Die unterschiedlichen Gespraumlchssituationen haben ihre eigene Logik bull Markus will zeigen dass es zu einer fundierten und breiten Verstaumlndigung Je-

su mit den Schriftgelehrten haumltte kommen koumlnnen auf der Basis der Tora bull Matthaumlus will zeigen dass die Hierarchisierung der Gebote strittig war und

geblieben ist bull Lukas will herausarbeiten dass das Doppelgebot Fragen stellt die Jesus be-

antworten kann Die unterschiedlichen Logiken koumlnnen nicht gegeneinander ausgespielt aber jeweils in das Evangelium eingeordnet werden in dem sie sich befinden

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d Alle Versionen bestimmen die Tora als Basis des Dialoges Alle bleiben im Rahmen juumldischer Hermeneutik Schrift legt Schrift aus Alle erweisen sich im religionsge-schichtlichen Vergleich als typisch jesuanisch

bull Einerseits gibt es im Judentum eine lebhafte Debatte aus didaktischen und theologischen Gruumlnden zu einer Hierarchie der Gebote zu gelangen In dieser Debatte ragt das Liebesgebot heraus Es gibt aber immer auch starke Kontro-versen uumlber die Richtigkeit und Guumlltigkeit solcher Elementarisierungen

bull Anderseits steht Jesus nicht gegen die Tora sonder erfuumlllt sie (vgl Mt 517-20) Dese Erfuumlllung hat eine spezifische Qualitaumlt diese Qualitaumlt bezeichnet das Liebesgebot das Jesus selbst praktiziert

Das Doppelgebot bricht nicht aus dem Gesetz aus sondern schlieszligt es auf

e Im fruumlhen Judentum gibt es keine direkte Parallele zum jesuanischen Doppelgebot Aber es gibt eine ganze Reihe von strukturaumlquivalenten Formulierungen sowohl im palaumlstinischen wie auch im hellenistischen Judentum Zum Teil sind sie direkt als Ge-bot einer doppelten Liebe zum Teil mit Varianten vor allem der Gottesfurcht gebil-det Diese Parallelen erhellen den juumldischen Kontext in dem das Doppelgebot steht Auffaumlllig ist in der Jesustradition zweierlei

1 die direkte Schriftzitation 2 der explizite Bezug zur Tora der reflektiert wird

Beides spiegelt die Programmatik der jesuanischen Position

f Die Struktur der Tradition leitet in jeder Variante von der Gottes- zur Naumlchstenliebe und bindet das Liebesgebot zusammen

bull Es gibt keine Gottesliebe ohne Naumlchstenliebe weil Gott den es zu lieben gilt nicht nur die Person liebt die lieben soll sondern auch diejenige die geliebt werden soll Diese Liebe Gottes als Basis ist im Doppelgebot nicht expliziert aber impliziert

o in der Einzigkeit Gottes so wie sie in der Bibel Israels und in der Jesus-tradition als Qualifikation des Schoumlpfers und Erhalters des Versoumlh-ners und Vollender entfaltet wird

o im Wort Agape das eo ipso von der Liebe Gottes gespeist wird Das Doppelgebot ist das beste Gegengift gegen Heuchelei

bull Es gibt keine Naumlchstenliebe ohne Gottesliebe ndash nicht weil es keine Ethik keine Menschlichkeit kein Mitleid und keine Solidaritaumlt ohne Gottesliebe gaumlbe (im Gegenteil) sondern weil die Naumlchstenliebe wie sie alt- und neutestamentlich expliziert wird den Naumlchsten als die von Gott geliebte Person liebt also Ein-stimmung in die Liebe Gottes ist die nur in der Liebe zu Gott explizit beant-wortet werden kann

bull Es gibt einen Primat der Gottes- vor der Naumlchstenliebe ndash nicht weil die Got-tes- wichtiger als die Naumlchstenliebe waumlre sondern weil Gott der Schoumlpfer all derer ist die lieben und geliebt werden sollen und sie alle zur Teilhabe an seiner Liebe fuumlhren will

Die Einheit der Gottes- und Naumlchstenliebe ist keine Identitaumlt sondern eine Spannung die ein hohes Energiefeld aufbaut

g Das Doppelgebot selbst enthaumllt keine Konkretion steht aber in den Evangelien die sich in die Tradition des Alten Testaments stellen und wird dadurch einerseits zum Kompass durch die Tora andererseits zum Katalysator von Aktualisierungen die pa-radigmatisch von Jesus angesprochen werden

Thomas Soumlding

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5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)

a Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter antwortet auf die wichtige Frage bdquoWer ist mein Naumlchsterldquo (Lk 1025-37)

bull Die Frage ist wichtig weil es um die Konkretionen der Liebe geht und Lev 1917f eine klare Antwort gibt Die Naumlchsten sind die Mit-Glieder des Gottes-volkes Hinzu treten die bdquoFremdenldquo (Lev 1934) die dauerhaft in Israel inte-griert sind nach der Septuaginta die Proselyten Die Konzentration auf diese Naumlchsten ist theologisch durch die gemeinsame Berufung des Volkes zur Hei-ligkeit begruumlndet Sie bewaumlhrt sich in Konflikten umfasst also de facto auch Feindesliebe

bull Die Frage wird von Jesus mit einer Geschichte beantwortet die auf provokan-te Weise einen Samariter zu einem Vorbild werden laumlsst Dass Jesus mit ei-nem Gleichnis antwortet setzt auf die argumentative Kraft einer Erzaumlhlung die nicht nur eine Welt vor Augen stellen sondern auch eine Sache klaumlren kann und zwar so dass Anteilnahme entsteht eine Verstrickung in die Ge-schichte durch Dramatik und Identifikation

Die Antwort auf die Frage wird nicht ohne ihre Umkehrung gegeben bdquoWer hellip ist zum Naumlchsten dessen geworden der unter die Raumluber gefallen istldquo (Lk 1036) Damit wird die Ausgangsfrage nicht desavouiert sondern konkretisiert Wer nach dem Naumlchsten fragt fragt auch nach sich selbst Und wer sich selbst von Naumlchsten umgeben weiszlig denen er verpflichtet ist muss selbst zum Naumlchsten derer werden wollen die auf Hilfe angewiesen sind

b Die Geschichte gehoumlrt zum Doppelgebot das bei Lukas (1025ff) wie bei Matthaumlus (2235-40) ein Streitgespraumlch ist waumlhrend es bei Markus ein Konsensgespraumlch ist (Mk 1228-34) Lukas hat es in die Zeit des oumlffentlichen Wirkens Jesu vorgezogen und kompositorisch konkretisiert

bull Mit einem bdquoGesetzeslehrerldquo trifft Jesus auf seinem Weg einen Experte fuumlr die Frage die er stellt

bull Das Doppelgebotsthema wird nicht nur durch das Samaritergleichnis sondern auch durch die Fortsetzung konkretisiert

o Die Beispielgeschichte Lk 1030-35 thematisiert das Tun (Lk 1037) o Die folgende Geschichte von Maria und Martha akzentuiert das Houmlren

(Lk 1038-42) o Die anschlieszligende Gebetslehre konkretisiert jene Gottesliebe die aus

dem Houmlren zum Sprechen fuumlhrt mit dem Vaterunser als Kern Durch die Komposition wird die Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe unter-strichen

Die Szenerie unterstreicht die Brisanz der Frage nach der Geltung des Gesetzes und erhoumlht damit den Stellenwert des Gleichnisses damit aber auch die Praumlgnanz des Samariterbildes Jesu

18

c Der gesamte Text hat eine dialogische Struktur 1 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach dem Sinn des Lebens (Lk 1025) 2 Jesus fragt zuruumlck indem er auf das Gesetz verweist (1026) 3 Der Gesetzeslehrer zitiert das Doppelgebot (Lk 1027) 4 Jesus bestaumltigt und fordert zur Praxis (Lk 1028) 5 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach der Identitaumlt des Naumlchsten (Lk 1029) 6 Jesus fragt zuruumlck indem er das Gleichnis erzaumlhlt (Lk 1030-36) 7 Der Gesetzeslehrer gibt die richtige Antwort (Lk 1037a) 8 Jesus fordert zum Handeln (Lk 1037b)

Jesus agiert im sokratischen Stil Er laumlsst den Fragesteller selbst die Antwort finden ndash nicht irgendwo sondern im Gesetz und in seinem Gewissen Das spiegelt fuumlr Lukas die Uumlberlegenheit Jesu und die Menschlichkeit seiner Ethik

d Das Gleichnis arbeitet mit einem scharfen Kontrast bull Auf der einen Seite stehen der Priester und der Levit Repraumlsentanten des Ju-

dentums Sie muumlssten genau wissen was zu tun ist Sie haben wenn sie wie der Verletzte auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho sind auch keinen Grund sich aus kultischen Uumlberlegungen um sich nicht zu verunreinigen an einem vorbeizugehen von dem sie glauben dass er tot sei wenn sie auf dem Weg zuruumlck sind ist fuumlr die ggf erforderliche rituelle Reinigung genuumlgend Zeit

bull Auf der anderen Seite steht der Samariter dem man es am wenigsten zutrau-en wuumlrde dass er tut was recht ist Dessen Rolle wird aber von Jesus stark betont nicht nur durch den Kontrast sondern auch dadurch dass er weit uumlber die Erste Hilfe hinaus mehr als genug tut um dem Verletzten zu helfen Er selbst leistet den sprichwoumlrtlich gewordenen Samariterdienst und treibt ungewoumlhnlich intensive Vorsorge dass der Mann nachhaltig gesundet ndash nach allen Regeln der (damaligen) aumlrztlichen Kunst

Dieser Kontrast war den Menschen sowohl zur Zeit Jesu als auch zur Zeit des Evange-listen Lukas deutlich Lk 952-56 hat ihn frisch in Erinnerung gerufen

e Jesus laumlsst durch die Kunst seiner narrativen Argumentation dem Gesetzeslehrer keine Chance nicht von seiner Antwort uumlberzeugt zu werden die seinen eigenen mo-ralischen Standpunkt veraumlndert Alle Menschen die ein Herz im Leibe haben werden erkennen dass nicht der Priester nicht der Levit sondern ausgerechnet der feindli-che der bdquohaumlretischeldquo Samariter das einzig Richtige getan hat indem er dem unter die Raumluber gefallenen Menschen geholfen hat Das aber ist schon der erste Schritt in die Richtung die Jesus den Menschen zeigt damit sie Gott und den Naumlchsten neu entde-cken koumlnnen Wer aber nicht nur tatkraumlftig wie der Samariter hilft sondern als Jude weiszlig dass er ihn wegen seiner Naumlchstenliebe nachahmen sollte hat eine Grenze uumlberschritten die durch das Nahekommen der Basileia durchlaumlssig geworden ist Der Gesetzeslehrer versperrt sich dieser Lektion nicht Er ist deshalb ein positives Beispiel

Literatur Andregrave Lacoque Lhermeacuteneutique de Jeacutesus au sujet de la loi dans la Parabole du Bon Samari-

tain in Etudes theacuteologiques et religieuses 78 (2003) 25-46

Ruben Zimmermann Die Etho-Poietik des Samaritergleichnisses (Lk 1025-37) Eine Ethik des Schauens in einer Kultur des Wegschauens in Wort und Dienst 29 (2007) 51-69

Thomas Soumlding

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6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)

a Die fuumlnfte und sechste Antithese bilden bei Matthaumlus den Houmlhepunkt der Reihe die sich am Dekalog orientiert in der Feldrede bei Lukas markiert das Gebot der Feindes-liebe den Mittelpunkt der Ethik Die Feindesliebe bezeichnet in groumlszligter Konsequenz den Standpunkt der Moralitaumlt steht aber auch im Brennpunkt der Kritik

bull Ist Gewaltlosigkeit wuumlrdelos verantwortungslos kraftlos So Nietzsche14

bull Ist Feindesliebe unrealistisch So der gesunde Menschenverstand und das Ur-teil professioneller Politik

15 So auch der juumldische Einwand16 den zuletzt Jacob Neusner vorgetragen hat17

Die antithetische Form bei Matthaumlus zeigt das Potential der Kontroverse Es ist nicht das Ziel der Exegese sie aufzuloumlsen sondern sie auszuloumlsen

b Der Blick in die Synopse zeigt im Vergleich mit Lk 627-36 zweierlei bull Die antithetische Form ist ndash hier wie sonst ndash ein matthaumlisches Spezifikum Sie

dient der Profilierung der Ethik Jesu im Gegenuumlber zur Tora ndash unter dem Vor-zeichen der Erfuumlllung (Mt 517-20)

bull Bei Lukas ist Gewaltverzicht direkter Ausdruck der Feindesliebe Matthaumlus dif-ferenziert und kombiniert um zu akzentuieren

Die Synopse fordert bei der lukanischen Uumlberlieferungsform anzusetzen aber die matthaumlische Variante nicht als sekundaumlr abzutun sondern als Reflex jesuanischer Konkretionen in den Blick zu nehmen

c Das Gebot der Feindesliebe tradiert uumlber die Redenquelle (Q) ist Urgestein und Herzstuumlck der Ethik Jesu18

14 Also sprach Zarathustra III 21 (Werke VI1) bdquoIch sollte nur Feinde haben die zu hassen sind aber nicht Feinde zum Verachten ihr muumlsst stolz auf euren Feind sein (260)ldquo

Die Stellung in der matthaumlischen Bergpredigt und der luka-nischen Feldrede zeigt dass im Urchristentum diese zentrale Bedeutung gesehen und tradiert worden ist Paulus reflektiert sie in Roumlm 129-21 Auch im johanneischen Kon-zept der Bruderliebe ist sie vorausgesetzt

15 Max Weber Politik als Beruf (1919) in ders Gesammelte politische Schriften hg v J Winckelmann Tuumlbingen 31971 505-560 bdquoMit der Bergpredigt ist es eine ernstere Sache als die glauben die diese Gebote heute gern zitieren Wenn es in Konsequenz der akosmistischen Liebesethik heiszligt dem Uumlbel nicht widerstehen mit Gewaltlsquo ndash so gilt fuumlr den Politiker der Satz du sollst dem Uumlbel gewaltsam widerstehen sonst ndash bist du fuumlr seine Uumlberhandnahme verantwortlich (550f)ldquo 16 Der Jude Tryphon plaumldiert nach Justin dial 52 bdquoIch weiszlig auch dass eure Lehren die in dem sogenannten Evangelium stehen so erhaben und groszlig sind dass wie ich meine kein Mensch sie beobachten kannldquo 17 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 Neuausgabe Frei-burg - Basel - Wien 2007 (engl 1993) Neusner praumlzisiert Jesus maszlige sich das Recht Gottes an so zu sprechen wie es die Bergpredigt uumlberliefert 18 Th Soumlding Die Verkuumlndigung Jesu 570-583

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d Nach Lk 6 sind alle Houmlrer der Botschaft Jesu zur Feindesliebe gerufen In erster Linie sind es seine Juumlnger als stellvertretende Adressaten der Seligpreisungen und Weherufe (Lk 620-26) Lukas sieht die Kirche als Ort wo primaumlr die Feindesliebe ver-wirklicht sein will gerade auch gegenuumlber Nicht-Christen (und berichtet in der Apos-telgeschichte dass dies in der Urgemeinde auch geschehen sei) Nach Matthaumlus hat Jesus direkt seine Juumlnger angesprochen (Mt 51f) ndash aber so dass alles Volk (vgl 423ff) es houmlren und daruumlber staunen kann (Mt 728f) Die Pointe ist missionstheologisch Wenn die Juumlnger ausziehen alle Voumllker ihrerseits zu Juumlngern zu machen sollen sie nicht nur taufen sondern auch lehren bdquoalles zu haltenldquo was Jesus ihnen bdquogebotenldquo hat (Mt 2818ff)

d Die Feindschaften die Jesu Gebot anspricht sind so paradigmatisch ausgewaumlhlt und scharf zugespitzt dass prinzipiell jede denkbare Feindschaft im Blick stehen muss Es werden die empoumlrendsten Formen paradigmatisch konkretisiert

bull religioumlse Verfolgung (Lk 628 Mt 544) bull koumlrperliche Gewalt selbst wenn sie demuumltigen soll (Lk 628f Mt 539) bull wirtschaftliche Ausbeutung auch wenn sie sich den Anschein des Rechts gibt

(Mt 540) bull politisch-militaumlrische Unterdruumlckung auch wenn sie schier uumlbermaumlchtig

scheint (Mt 541) Jede denkbare Grenze der Feindesliebe wird uumlberschritten der Familie und Ver-wandtschaft des Freundeskreises der Glaubensgenossen der (mehr oder weniger) Guten der Angehoumlrigen des eigenen Volkes (vgl Lk 1025-37)

e Die Feindesliebe zeigt sich in den gleichfalls paradigmatischen Konkretisierungen bull als Fuumlrbitte fuumlr die Verfolger (Lk 628 par Mt 544) und Segnen der

Blasphemiker (Lk 628) ndash im Gegensatz zum Verfluchen und zur Bitte um ihre Vernichtung durch Gottes Strafgericht

bull als aktiver Gewaltverzicht gegenuumlber erlittener Uumlbermacht (Lk 629 Mt 538-42) ndash im Gegensatz dazu Unrecht mit gleicher Muumlnze heimzuzahlen

bull als selbstlose Unterstuumltzung der Armen auch wenn deren Bitten laumlstig faumlllt (Lk 630) ndash im Gegensatz zum Kalkuumll des do ut des

bull als engagierter Einsatz fuumlr das Gute (Lk 62733) ndash im Gegensatz zu einem Mitmachen wie zur Resignation

Feindesliebe ist nicht passiv sondern aktiv Sie kreiert eine neue Situation In diesen Konkretisierungen erhellt die Feindesliebe als radikalisierte Naumlchstenliebe (Lev 1917f) die im Kontext der Gottessliebe steht (Mk 1228-34 parr) Sie ist nicht das Einverstaumlndnis mit Unrecht Schuld und Schwaumlche schon gar nicht schwaumlchliches Hinnehmen von Unrecht sondern im Gegenteil starkes aber deshalb auch leidensfauml-higes Eintreten dafuumlr Boumlses durch Gutes zu uumlberwinden (Roumlm 1221)

Thomas Soumlding

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h Die Feindesliebe ist theologisch begruumlndet und motiviert bull Der theologische Grund ist das Handeln Gottes selbst der als Schoumlpfer und Er-

loumlser permanent Feindesliebe praktiziert (Lk 635 Mt 545 vgl Roumlm 55ff) o Mit dem Blick ins Buch der Natur zeigt Jesus nach Matthaumlus Gott als

den der auch den Boumlsen und Ungerechten das Leben schenkt weil er will dass sie leben (nicht weil er will oder toleriert dass sie Boumlses und Unrechtes tun)

o Der Vergleich mit dem aumlhnlichen Motiv bei Seneca der (nicht zu Feindesliebe aber) zu groszligmuumltiger Gelassenheit gegenuumlber Feinden mahnt macht den Unterschied deutlich denn nach ihm kann Gott nicht anders als die Unterstuumltzung der Boumlsen in Kauf zu nehmen wenn er den Guten helfen will ndash wofuumlr er sich entscheidet weil das Gute mehr wert ist als das Boumlse

bull Das theologische Motiv ist die Nachahmung Gottes die imitatio Dei (Lk 636 Mt 548) der die Verheiszligung ewigen Lebens gilt des bdquoLohnesldquo der in der Gotteskindschaft besteht

In dieser Theozentrik ist die Feindesliebe Zustimmung zu der Liebe mit der Gott auch die Ungerechten und Suumlnder liebt ndash ohne ihre Suumlnde gutzuheiszligen aber auch ohne ihnen wegen ihrer Schuld seine Zuwendung zu entziehen

i Das Gebot der Feindesliebe ist angewandte Christologie bull Einerseits ist es Jesus der das Gebot ndash nach Matthaumlus im Gegensatz zur herr-

schenden Auslegung des atl Liebesgebotes ndash der Feindesliebe aufstellt bull Andererseits ist es Jesus der das Gebot umfassend verwirklicht ndash vorbildlich

in seinem Leiden heilbringend in seiner Lebenshingabe aus reiner Liebe

f Das bdquoAuge um Auge Zahn um Zahnldquo (Ex 2124) begrenzt die Vergeltung das bdquoIch aber sage euchldquo aktiviert zur Versoumlhnung Das alttestamentliche Gebot der Naumlchstenliebe umfasst innerhalb Israels Feindesliebe (Lk 1917f) und weitet sie aus (Lev 1934) Das bdquoIch aber sage euchldquo setzt sich von einer Auslegung ab die aus Sorge um Gottes Gerechtigkeit die Grenzen der Erloumlsung zu eng zieht Dafuumlr gibt es Beispiele in Qumran Der originaumlre Bezug des Gebotes der Naumlchstenliebe auf das Volk Gottes wird nicht aufgegeben aber ausgeweitet

bull In der Juumlngerschaft ist ndash in Israel und uumlber Israel hinaus ndash der Ort an dem die Feindesliebe so praktiziert werden soll dass sie ausstrahlt (vgl Mt 513-16)

bull Zum Volk Gottes gehoumlren nicht nur die Juden und alle die an Jesus glauben Gott hat vielmehr Jesus (nach Matthaumlus wie nach Lukas) deshalb gesendet damit durch seinen Dienst am Heil der Menschen der reine Feindesliebe ist alle Voumllker zu seinem Volk werden Die Kirche repraumlsentiert und realisiert stellvertretend diese Heilsuniversalitaumlt Ihre Feindesliebe konkretisiert sie ethisch

Feindesliebe durchbricht das Prinzip der Vergeltung ohne das Prinzip der Gerechtig-keit aufzugeben Das ist nur deshalb sittlich erlaubt und geboten weil das Gebot in der Liebe Gottes selbst begruumlndet ist die sich in der Feindesliebe Jesu realisiert die ihrerseits der theologische Nerv seines Lebens und Sterbens zur Erloumlsung der Suumlnder ist

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j Das psychologische Problem das Sigmund Freud scharf markiert hat19

Das ethische Problem das Fjodor Dostojewksi (Die Bruumlder Karamasow) Iwan in den Mund legt lautet

besteht da-rin dass blinde Aggressionen entwickelt wer sich moralisch uumlberfordert Dieses Prob-lem laumlsst sich wohl nur spirituell loumlsen in der Nachfolge Jesu die auf seine Kraft setzt in den Nachfolgern das Gute zu tun

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k Das Problem der Erfuumlllbarkeit der Bergpredigt und speziell des Gebotes der Fein-desliebe bewegt Theologie und Kirche seit aumlltester Zeit Eine erhebliche Verschaumlrfung des Problems geschieht durch eine moderne Emotionalisierung der Feindesliebe Wird sie aber als Ausdruck der Agape verstanden begruumlndet sie ndash in der Nachfolge Jesu ndash eine Praxis des Glaubens aus der Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe Als solche kann sie durchaus eingeuumlbt ausgebildet und gefestigt werden Sie setzt die Suche nach dem besten Weg der Verwirklichung nicht aus sondern ein Sie entspricht aber darin der Gottebenbildlichkeit aller Menschen und der Gotteskindschaft der zu Erloumlsenden dass sie an der Unbedingtheit der Bejahung die Gott ihnen zuteilwerden laumlsst Anteil hat

dass Feindesliebe letztlich Kumpanei mit den Taumltern auf Kosten der Opfer sei Dieses Problem das haumlufig nicht gesehen wird laumlsst sich nur soteriolo-gisch loumlsen weil derjenige der selbst aus reiner Liebe die Schuld der anderen ertra-gen und vergeben hat das Reich Gottes als umfassende Vollendung von Gerechtig-keit Friede und Freude (Roumlm 1417) verwirklicht

19 Das Unbehagen in der Kultur in Gesammelte Werke 14 London 1948 419-506 468-475493-506 (Abschnitte V VIII) bdquoNachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte war die aumluszligerste Intoleranz des Christentums gegen die drauszligen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge gewordenldquo (374) 19 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 20 bdquoSchlieszliglich will ich auch gar nicht dass die Mutter den Peiniger umarmt der ihren Sohn von Hunden zerreiszligen lieszlig Sie darf sich nicht unterstehen ihm zu verzeihen Wenn sie will mag sie verzeihen soweit es sie selber angeht sie mag dem Peiniger ihr maszligloses Mutterleid ver-zeihen aber die Leiden ihres zerfleischten Kindes zu verzeihen hat sie kein Recht sie darf es nicht wagen dem Peiniger zu verzeihen auch wenn das Kind selber ihm verzieheldquo (Muumlnchen 1958 330f

Thomas Soumlding

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7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)

71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20) a Mit der Fuszligwaschung21

b Die Fuszligwaschung ist das Zeichen der Passion Ihr folgen Gespraumlche mit den Juumln-gern die zwar von Jesus gewaschen und gereinigt sind aber groumlszligte Schwierigkeiten haben zu verstehen was sich tut

beginnt der 2 Hauptteil des Johannesevangeliums Das oumlffentliche Wirken ist abgeschlossen Jesus konzentriert sich auf seine Juumlnger bevor er oumlffentlich hingerichtet werden wird Er bereitet sie auf seine Passion und seine Auferstehung vor die den Weg zu Gott bahnen werden

bull Auf die Fuszligwaschung folgt zuerst eine Trias unmittelbarer Konsequenzen o Judas wird als Verraumlter identifiziert und verlaumlsst den Juumlngerkreis (Joh

1321-30) o Die Juumlnger werden zur wechselseitigen Liebe gemahnt (Joh 1331-35) o Petrus wird seine Verleugnung vorhergesagt (Joh 1336ff)

bull Auf die Fuszligwaschung folgen ausfuumlhrliche Abschiedsworte (Joh 14-16) die in ein Abschiedsgebet muumlnden (Joh 17)

c Joh 131-20 ist uumlbersichtlich aufgebaut

Joh 131 Der Hintergrund Joh 132-5 Die Fuszligwaschung beim Mahl 132 Die Situation 133ff Die Handlung Jesu Joh 136-11 Das Gespraumlch mit Petrus 136 Der erste Einwand des Petrus 137 Die erste Antwort Jesu 138a Der zweite Einwand des Petrus 138b Die zweite Antwort Jesu 139 Der dritte Einwand des Petrus 1310 Die dritte Antwort Jesu 1311 Kommentar des Evangelisten Joh 1312-20 Die Deutung vor allen Juumlngern 1312-17 Die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu 1318f Die Ansage eines Verrates 1320 Die Juumlnger als Apostel

21 Vgl Luise Abramowski Die Geschichte von der Fuszligwaschung in Zeitschrift fuumlr Theologie und Kirche 102 (2005) 176-203

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d Die Exegese diskutiert in welchem Verhaumlltnis die beiden Deutungen zu einander stehen Die erste ist soteriologisch die zweite ethisch ausgerichtet

bull Recht oft wird aus der Doppelung auf ein literarisches Wachstum des Textes geschlossen

o Moumlglichkeit 1 Die soteriologische Deutung ist die aumlltere die paraumlnetische die se-kundaumlre22

o Moumlglichkeit 2 Die ethische Deutung ist urspruumlnglich die soteriologisch nachtraumlglich zwischengeschoben

23

Beide Ansaumltze sind von weitereichenden Voraussetzung zur relativen Chrono-logie des Corpus Johanneum gepraumlgt

o Wer den Ersten Johannesbrief fuumlr aumllter erachtet wird die ethische Deutung fuumlr urspruumlnglich halten

o Wer das Evangelium fuumlr aumllter erachtet wird eher die soteriologische Deutung als originaumlr einschaumltzen

Die ethische Deutung wird dann fuumlr sekundaumlr zu erachten wenn man zu dem Urteil gelangt die johanneische Theologie sei urspruumlnglich wenig konkret und eher spirituell ausgerichtet waumlhrend erst sekundaumlr Johannes gesamtkirchlich eingenordet worden sei Beide Ansaumltze gehen von einem literarischen Schichtenmodell aus das der Ei-genart johanneischer Literatur in den Evangelienerzaumlhlungen nicht angemes-sen ist Beide werden durch das Modell einer bdquorelectureldquo gemildert das ndash aumlhnlich wie in der Prophetenexegese des Alten Testaments ndash mit einer Fortschreibung der Texte rechnet aber sie zugleich als vergegenwaumlrtigende Aneignung des vor-gegebenen Textes versteht24

bull Es mehren sich wieder die Stimmen die Joh 13 als literarisch einheitlich anse-hen

Allerdings stoumlszligt dieses Modell auf die Schwie-rigkeit dass das Liebesgebot das die ethische Deutung vorbereitet in Joh 1331-35 dominant ist und nicht nur in Joh 15-16 ausgefuumlhrt sondern auch in Joh 1421 angebahnt wird

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Die Doppelung erklaumlrt sich aus der Theologie der Liebe Sie hat eine Innenseite die Liebe Jesu zu sein Seinen in der sich nach Joh 1421 die Liebe das Vaters zum Sohn ereignet und sie hat eine Auszligenseite die sich nach Joh 1331-35 und Joh 15 in der Bruderliebe der Juumlnger erweist von der die Welt angezogen werden wird (Joh 17)

Allerdings braucht es eine Erklaumlrung fuumlr die Deutung Eine moumlgliche Er-klaumlrung waumlre der Adressatenwechsel aber die Petrusszene spielt sich vor den Augen und Ohren aller ab

22 So Rudolf Schnackenburg Joh III passim 23 So Udo Schnelle Joh 237 Er will eine Ursprungsform (132a4512ab162017) die recht nahe bei Lk 22 und der Mahnung der Juumlnger zum Dienen steht zuerst in der johanneischen Schule (der er den Ersten Johannesbrief mit seiner Theologie der Liebe zurechnet) um die Vorbildethik erweitert sehen (1312c13-15) bevor der Evangelist selbst von der Einleitung an (131) konsequent seine soteriologische Deutung ins Fundament der Geschichte eingebaut habe (136-10ab) 24 So Jean Zumstein Joh 25 So Hartwig Thyen Joh

Thomas Soumlding

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711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus a Die Liebe Jesu zu den Seinen (Joh 131) verwirklicht die Liebe Gottes zur Welt (Joh 316) die von der Liebe des Vaters zum Sohn getragen wird (Joh 335 1017) Es ist die nach der Zwischennotiz von Jesu Freundschaft mit Martha Maria und Lazarus (Joh 115) erste Betonung der Agape Jesu von der spaumlter das Liebesgebot Joh 1334 und die Verheiszligung dauernden Beistandes der Juumlnger gedeckt ist (Joh 1421-31)

b In der Liebe Jesu zu den Seinen verbindet sich die Liebe Gottes zur Welt mit der Liebe Jesu zu seinen Freunden (Joh 15) Es ist eine unbedingte Bejahung und Wert-schaumltzung die auf Sympathie beruht und lebendig macht

c Die Liebe erweist Jesus den bdquoSeinenldquo bull Im Ruumlckraum steht Joh 19-13 dass die bdquoSeinenldquo den Logos abgelehnt haben

ndash bis auf diejenigen die an seinen Namen glauben und deshalb das Recht der Gotteskindschaft erhalten

bull Die bdquoSeinenldquo sind die Juumlnger die sich von Jesus in die Nachfolge haben rufen lassen (Joh 135-51) und in der galilaumlischen Krise Jesus nicht verlassen haben (Joh 660-71) Sie haben ihrerseits schwere Glaubensprobleme ndash aber werden sie durch Jesus uumlberwinden

bull In Joh 14 und Joh 17 wird erklaumlrt werden dass die Liebe Jesu zu den Seinen ndash wie die zum Lieblingsjuumlnger ndash nicht exklusiv sondern positiv zu verstehen ist

Dass Jesus den Seinen die Liebe bdquobis zum Endeldquo erweist verweist auf den Tod Jesu Das griechische Wort ist mehrdeutig teloj kann bdquoEndeldquo aber auch bdquoZielldquo bedeuten Beide Bedeutungen schwingen mit

bull Der Tod Jesu ist das definitive Ende seiner geschichtlichen Sendung das zu akzeptieren wird den Juumlngern ungeheuer schwer fallen

bull Der Tod Jesu ist das Ziel seines Wirkens insofern es seine Liebe und Hingabe definitiv werden laumlsst

Der Korrespondenzsatz ist das Todeswort Jesu Joh 1930 bull Es ist ein Gebet wie nach allen Synoptikern (Mk 1534 par Mt 2746 bdquoGott

mein Gott warum hast du mich verlassenldquo ndash Ps 222 Lk 2346 bdquoVater in deine Haumlnde gebe ich meinen Geistldquo ndash Ps 316) aber als letztes Offenba-rungswort an die Welt

bull Die traditionelle Uumlbersetzung lautet bdquoEs ist vollbrachtldquo Man kann aber auch sagen bdquovollendetldquo (Muumlnchner Neues Testament Bible de Jerusaleme bdquoCest acheveacuteldquo) oder bdquozu Endeldquo (King James Bible bdquoIt is finishedldquo)

Eine moumlgliche auf Joh 131 abgestimmte Uumlbersetzung waumlre (wie im Muumlnchener Neu-en Testament) bdquoEs ist vollendetldquo (tetelestai)

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712 Die Fuszligwaschung a Jemandem vor dem Mahl die Fuumlszlige zu waschen ist ein Dienst den traditioneller-weise Sklaven ihren Herren erweisen (vgl 1Sam 2541)26

Joh 1313f zeigt dass die sozialen Dimensionen der Fuszligwaschung klar vor Augen stehen der Gesamttext dass der Ritus sakramental gefuumlllt wird

Das Waschen der Fuumlszlige ist ein Ritus der Vorbereitung der eine koumlrperliche Wohltat mit einer Geste der Houmlflich-keit verbindet die Anerkennung und Ehrerbietung meint (Gen 184 vgl Lk 744) und zudem mit einer rituellen Bedeutung versieht die einen Uumlbergang gestaltet von drauszligen nach drinnen vom Alltag zum Fest vom Profanen zum Heiligen

7121 Die soteriologische Deutung a Im Gespraumlch mit Petrus wird die Bedeutung der Fuszligwaschung soteriologisch gedeu-tet Sie ist eine bdquoReinigungldquo ndash nicht wie in der Taufe sondern wie in der Buszlige Petrus braucht keine Wiederholung der Wiedergeburt die er als glaumlubig gewordener Taumluferjuumlnger erlebt hat aber er bedarf mehr als andere der Vergebung weil er ndash ent-gegen seinem Vorsatz ndash Jesus verleugnet Waumlhrend er sagt fuumlr Jesus sterben zu wol-len muss gerade fuumlr ihn Jesus sterben

b Petrus erkennt nach Joh 136 das Unmoumlgliche der Situation dass der Herr ihm ei-nen Sklavendienst leistet Er wehrt diesen Dienst doppelt ab (Joh 1368a) ndash so wie er nach Joh 1336ff nicht will dass Jesus fuumlr ihn sein Leben einsetzt In diesem Nein kommt eine Liebe zu Jesus zum Ausdruck die bestimmen will Gleichzeitig aber ist das Nein auch Ausdruck des Missverstaumlndnisses dass Petrus der Diakonie Jesu womoumlglich gar nicht bedarf Petrus verschaumlrft seinen Widerspruch der aus Unverstaumlndnis stammt indem er dann ganz gewaschen werden will (Joh 139) ndash womit er aber seine Berufung leugnet

c Jesus deckt das Missverstaumlndnis des Petrus auf Die Fuszligwaschung steht nicht am Anfang sondern an einer Biegung des Weges mit Jesus Die Weg-Gemeinschaft ist darin begruumlndet dass Jesus sich in seinen Dienst stellt Dem muss entsprechen dass Petrus sich den Dienst gefallen laumlsst Er muss Jesus so nahe wie in der Fuszligwaschung an sich heranlassen Er muss den Rollentausch akzeptieren Die Langversion von Vers 10 die durch den Codex Vaticanus gedeckt und als lectio difficilior gesichert ist entspricht dem Kontext

bull Im Bild Auch nach dem Vollbad macht man sich wieder die Fuumlszlige schmutzig Man laumlsst sie sich waschen damit auch sie sauber sind man laumlsst nur sie waschen weil der sonstige Koumlrper gereinigt ist

bull In der Sache Wer durch das Bad der Wiedergeburt die Taufe bdquoganz reinldquo geworden ist muss diese Reinheit aber durch seine Schuld verloren hat muss sich die Fuumlszlige waschen lassen um durch Jesus zu Gott zu gelangen Dem entspricht am ehesten eine Deutung auf die Buszlige wie sie orthodoxen Vaumlter favorisieren

26 Hellenistische Parallelen Neuer Wettstein I2 636-644

Thomas Soumlding

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7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

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  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
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          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 13: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

Thomas Soumlding

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c Auch Schriften die tiefer in Palaumlstina wurzeln nehmen das Liebesgebot auf Das Buch der Jubilaumlen11

11 Die Originalsprache ist hebraumlisch zu den einschlaumlgigen Qumran-Fragmenten vgl JC VanderKam Textual and Historical Studies in the Book of Jubilees (HSM 14) Missoula 1977 Die davon abhaumlngige griechische Uumlbersetzung ist bruchstuumlckhaft erhalten vgl A-M Denis Fragmenta Pseudepigraphorum quae supersunt Graeca una cum Historicorum et auctorum Iudaeorum Hellenistarum Fragmentis collegit et ordinavit (PVTG 3) Leiden 1970 70-102 Die auf der griechischen Uumlbersetzung fuszligende aumlthiopische Fassung die in den gemeinsam uumlberlie-ferten Partien der Qumran-Version sehr genau entspricht hat ediert RH Charles Mashafa Kufacirclecirc or the Ethiopic Version of the Hebrew Book of Jubilees (Anecdota Oxoniensia) Oxford 1895 Deutsche Uumlbersetzung Klaus Berger Das Buch der Jubilaumlen in JSHRZ II3 (1981)

im 2 Jh vor Chr geschrieben protestiert gegen die Korrup-tion des Makkabaumlerstaates es tritt mit dem Anspruch auf Mose auf dem Sinai offen-bart worden zu sein (Jub 11-29) es will einem Israel das einer schleichenden Hellenisierung verfaumlllt neue Identitaumlt verleihen indem es den Blick auf die normative Anfangszeit die Zeit der Vaumlter und des Mose lenkt und von ihr her eine authentische Halacha entwickelt die es erst ermoumlglicht gerecht zu leben (Jub 2326-31) Zum his-torischen Paradigma wird der Bruderstreit zwischen Jakob und Esau (Jub 3420 - 392a) Das Liebesgebot ndash Lev 1918 wird nicht direkt aber indirekt zitiert ndash hat eine qualitativ groszlige Bedeutung weil es uumlber die Klaumlrung halachischer Fragen hinaus den Geist wie die Praxis des Zusammenhaltes schaumlrft allerdings nicht allein oder als Krouml-nung sondern im konstitutiven Verbund mit anderen ethischen Prinzipien wie Ge-rechtigkeit Die Verzeihung die Joseph den Bruumldern gewaumlhrt macht ihn zum ethi-schen Vorbild dem es nachzueifern gilt Die Pflicht zur Liebe endet aber dort wo es sich nicht mehr nur um persoumlnliche Gegnerschaft sondern um Konflikte mit Frevlern handelt die dem Gebot Gottes grundlegend zuwiderhandeln Eine universalistische Ausweitung der Bruderliebe fasst Jub 202 ins Auge Zwar bezieht sich das Liebesge-bot direkt nur auf die herbeigerufenen Kinder und Enkel Abrahams aber unter ihnen finden sich namentlich genannt auch Ismael mit seinen zwoumllf Kindern und die Kinder der Ketura mit ihren Soumlhnen (Jub 201) Dadurch wird bereits der juumldische Rahmen gesprengt Uumlberdies baut die Formulierung eine Verbindung zwischen Bruderliebe und Menschenliebe auf Im ethischen Nahbereich koumlnnen auch Nicht-Juden Naumlchste werden

14

d Die Schriften aus Qumran12 enthalten in zwei Corpora bedeutende Zeugnisse einer Naumlchstenliebe die sich innerjuumldisch aus dem Konflikt mit Frevlern als Gegenstuumlck zum Feindeshass erklaumlrt13

bull Die Gemeinderegel (1QS vgl 1QSa) beschreibt das Zusammenleben einer juuml-dischen Reformbewegung die sich in striktem Gegensatz nicht nur zu den Heiden sondern auch zu den Priestern in Jerusalem als wahres Israel konsti-tuieren abseits vom Tempel Die Forschung diskutiert die Beziehung zu den Esseacutenern uumlber die Philo von Alexandrien (15 v Chr - 40 n Chr ) in seiner Schrift uumlber die Freiheit des Tuumlchtigen (Quod omnis probus liber sit 72-91) der juumldische Historiker Flavius Josephus (3738 - 100 n Chr) in seinen Buuml-chern uumlber den juumldischen Krieg (De bello Judaico 2 119-161) und die Ge-schichte Israels (Antiquitates Judaicae 181118-22) sowie der roumlmische Ge-lehrte Plinius der Aumlltere (23-79 nChr) in seiner Naturgeschichte (Naturalis historia 573) berichten

Fuumlr die Gemeinderegel ist ein religioumlser Dualismus zwischen den bdquoSoumlhnen des Lichtesldquo und den bdquoSoumlhnen der Finsternisldquo wesentlich Er entsteht durch den Frevel derjenigen die das Heilige wahren sollen er wird von Gott sanktio-niert Entscheidend ist in einem aufwendigen Konversionsverfahren den Weg aus der massa damnata in Israel zur Kommunitaumlt der Frommen zu finden um so der Gnade der Rechtfertigung teilhaftig zu werden Die Zugehoumlrigkeit zur Gemeinschaft zeigt sich im Ritus und im Ethos Das Ethos ist durch Naumlchstenliebe strukturiert (1QS 13f9ff 224 5425 82 91621 1026) Sie ist im Kern Zustimmung zu der Erwaumlhlung und Vergebung die dem Mitbruder wie der eigenen Person zuteil geworden ist Deshalb ent-spricht der Naumlchstenliebe der Feindeshass Er ist im Kern Ablehnung und Dis-tanzierung die aber gerade nicht durch Gewalt sondern durch strikte Gewalt-losigkeit strukturiert wird damit das Gesetz des Handelns nicht von den Frev-lern sondern den Gerechten bestimmt wird (1QS 1017f)

bull Die Hymnenrolle (1QH) sammelt Psalmen die den Kampf der Guten gegen die Boumlsen der Gerechten gegen die Ungerechten verherrlichen Die Sprache ist militaumlrisch der Stil metaphorisch Die Spiritualitaumlt passt zur Ekklesiologie und Ethik der Gemeinderegel aber welchen genauen Bezug es gibt ist in der Qumran-Forschung strittig Entscheidend ist Gott fuumlr die eigene Erwaumlhlung zu preisen Das dankbare Gotteslob spiegelt sich in der Abscheu vor dem und den Boumlsen Liebe ist Zu-stimmung zur Liebe Gottes Hass Zustimmung zum Hass Gottes (1QH 142-8)

Die beiden Corpora stammen aus vorchristlicher Zeit Sie dokumentieren die Zerris-senheit des Judentums in Palaumlstina aber auch den Reformeifer derer die ein heiliges Israel erneuen wollen 12 Deutsche Uumlbersetzungen E Lohse Die Texte aus Qumran Hebraumlisch und Deutsch Muumln-chen 21971 K Schubert - J Maier Die Qumran-Essener Texte der Schriftrollen und Lebensbild der Gemeinde (UTB 224) Muumlnchen - Basel 1982 143-312 Zur Tempelrolle vgl die Ausgabe von Y Yadin Megillat ham-Miqdas The Temple Scroll (Hebrew Edition) Bde I-IIIa Jerusalem 1977 deutsche Uumlbersetzung J Maier Die Tempelrolle vom Toten Meer (UTB 829) Muumlnchen - Basel 1977 13 Vgl Th Soumlding Feindeshass und Bruderliebe

Thomas Soumlding

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4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)

a Das Doppelgebot der Naumlchstenliebe uumlberliefert das Neue Testament bei den Synop-tikern in drei Fassungen

bull Markus erzaumlhlt von einem Konsensgespraumlch uumlber das groumlszligte Gebot zwischen Jesus und einem Schriftgelehrten in Jerusalem (Mk 1228-34) die Antwort Je-su eine Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 fuumlhrt zu einer Verstaumlndi-gung

bull Matthaumlus stimmt in der Thematik der Frage der Ortsangabe und der Kombi-nation beider Liebesgebote mit Markus uumlberein (Mt 2234-40) macht aber aus dem Konsens- ein Streitgespraumlch Jesus wird von einem Gesetzeslehrer auf die Probe gestellt und besteht die Herausforderung glaumlnzend indem er das Doppelgebot formuliert

bull Lukas kennt in seiner Version (Lk 1025-37) gleichfalls die Kombination er uumlberliefert wie Matthaumlus einen bdquoGesetzeslehrerldquo ndash nicht wie Markus einen bdquoSchriftgelehrtenldquo ndash als Partner und erzaumlhlt ndash wie Matthaumlus anders als Mar-kus ndash von einem Konfliktgespraumlch Aber bei ihm findet der Dialog auf dem Weg Jesu nach Jerusalem statt (Lk 951 - 1927) die Frage zielt auf das ewige Leben (wie in Mk 1017 par Mt) der Dialog spitzt sich auf die Frage nach dem Naumlchsten zu die Jesus mit dem Samaritergleichnis beantwortet

Die markinische Version ist (nach der Zwei-Quellen-Theorie) die aumllteste Matthaumlus laumlsst sich als Kuumlrzung und Zuspitzung lesen Ob aber Lk 1025-37 sich als Markus-Redaktion erklaumlren laumlsst ist fraglich Womoumlglich hat es ndash durch Q ndash eine Doppeluumlber-lieferung gegeben die eine Kontroverse mit einem Gesetzeslehrer enthalten hat Noch wahrscheinlicher ist dass es von Anfang verschiedene Versionen gegeben hat die von den Evangelisten unterschiedlich rezipiert worden ist In jedem Fall bezeugt die Breite der Uumlberlieferung dass das Liebesgebot fuumlr Jesus typisch gewesen ist

b In allen Versionen des Doppelgebotes gibt es gemeinsame Charakteristika bull die Form des Gespraumlches in der das Doppelgebot entwickelt wird bull den Bezug auf das Gesetz bei Markus (1228) und Matthaumlus (2236) durch die

Jesus gestellte Ausgangsfrage bei Lukas durch die Ruumlckfrage Jesu (1026) bei Matthaumlus durch den Schlusssatz Jesu unterstrichen (2240)

bull die Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 ad vocem Agape bull die Abfolge dass zuerst das Hauptgebot der Gotteslebe (Dtn 64f) dann das

Gebot der Naumlchstenliebe (Lev 1918f) kommt obwohl die kanonische Reihen-folge eine andere ist

Diese Charakteristika sind der Kernbestand der Tradition sie muumlssen zu Eckpfeilern der Interpretation werden

c Die unterschiedlichen Gespraumlchssituationen haben ihre eigene Logik bull Markus will zeigen dass es zu einer fundierten und breiten Verstaumlndigung Je-

su mit den Schriftgelehrten haumltte kommen koumlnnen auf der Basis der Tora bull Matthaumlus will zeigen dass die Hierarchisierung der Gebote strittig war und

geblieben ist bull Lukas will herausarbeiten dass das Doppelgebot Fragen stellt die Jesus be-

antworten kann Die unterschiedlichen Logiken koumlnnen nicht gegeneinander ausgespielt aber jeweils in das Evangelium eingeordnet werden in dem sie sich befinden

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d Alle Versionen bestimmen die Tora als Basis des Dialoges Alle bleiben im Rahmen juumldischer Hermeneutik Schrift legt Schrift aus Alle erweisen sich im religionsge-schichtlichen Vergleich als typisch jesuanisch

bull Einerseits gibt es im Judentum eine lebhafte Debatte aus didaktischen und theologischen Gruumlnden zu einer Hierarchie der Gebote zu gelangen In dieser Debatte ragt das Liebesgebot heraus Es gibt aber immer auch starke Kontro-versen uumlber die Richtigkeit und Guumlltigkeit solcher Elementarisierungen

bull Anderseits steht Jesus nicht gegen die Tora sonder erfuumlllt sie (vgl Mt 517-20) Dese Erfuumlllung hat eine spezifische Qualitaumlt diese Qualitaumlt bezeichnet das Liebesgebot das Jesus selbst praktiziert

Das Doppelgebot bricht nicht aus dem Gesetz aus sondern schlieszligt es auf

e Im fruumlhen Judentum gibt es keine direkte Parallele zum jesuanischen Doppelgebot Aber es gibt eine ganze Reihe von strukturaumlquivalenten Formulierungen sowohl im palaumlstinischen wie auch im hellenistischen Judentum Zum Teil sind sie direkt als Ge-bot einer doppelten Liebe zum Teil mit Varianten vor allem der Gottesfurcht gebil-det Diese Parallelen erhellen den juumldischen Kontext in dem das Doppelgebot steht Auffaumlllig ist in der Jesustradition zweierlei

1 die direkte Schriftzitation 2 der explizite Bezug zur Tora der reflektiert wird

Beides spiegelt die Programmatik der jesuanischen Position

f Die Struktur der Tradition leitet in jeder Variante von der Gottes- zur Naumlchstenliebe und bindet das Liebesgebot zusammen

bull Es gibt keine Gottesliebe ohne Naumlchstenliebe weil Gott den es zu lieben gilt nicht nur die Person liebt die lieben soll sondern auch diejenige die geliebt werden soll Diese Liebe Gottes als Basis ist im Doppelgebot nicht expliziert aber impliziert

o in der Einzigkeit Gottes so wie sie in der Bibel Israels und in der Jesus-tradition als Qualifikation des Schoumlpfers und Erhalters des Versoumlh-ners und Vollender entfaltet wird

o im Wort Agape das eo ipso von der Liebe Gottes gespeist wird Das Doppelgebot ist das beste Gegengift gegen Heuchelei

bull Es gibt keine Naumlchstenliebe ohne Gottesliebe ndash nicht weil es keine Ethik keine Menschlichkeit kein Mitleid und keine Solidaritaumlt ohne Gottesliebe gaumlbe (im Gegenteil) sondern weil die Naumlchstenliebe wie sie alt- und neutestamentlich expliziert wird den Naumlchsten als die von Gott geliebte Person liebt also Ein-stimmung in die Liebe Gottes ist die nur in der Liebe zu Gott explizit beant-wortet werden kann

bull Es gibt einen Primat der Gottes- vor der Naumlchstenliebe ndash nicht weil die Got-tes- wichtiger als die Naumlchstenliebe waumlre sondern weil Gott der Schoumlpfer all derer ist die lieben und geliebt werden sollen und sie alle zur Teilhabe an seiner Liebe fuumlhren will

Die Einheit der Gottes- und Naumlchstenliebe ist keine Identitaumlt sondern eine Spannung die ein hohes Energiefeld aufbaut

g Das Doppelgebot selbst enthaumllt keine Konkretion steht aber in den Evangelien die sich in die Tradition des Alten Testaments stellen und wird dadurch einerseits zum Kompass durch die Tora andererseits zum Katalysator von Aktualisierungen die pa-radigmatisch von Jesus angesprochen werden

Thomas Soumlding

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5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)

a Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter antwortet auf die wichtige Frage bdquoWer ist mein Naumlchsterldquo (Lk 1025-37)

bull Die Frage ist wichtig weil es um die Konkretionen der Liebe geht und Lev 1917f eine klare Antwort gibt Die Naumlchsten sind die Mit-Glieder des Gottes-volkes Hinzu treten die bdquoFremdenldquo (Lev 1934) die dauerhaft in Israel inte-griert sind nach der Septuaginta die Proselyten Die Konzentration auf diese Naumlchsten ist theologisch durch die gemeinsame Berufung des Volkes zur Hei-ligkeit begruumlndet Sie bewaumlhrt sich in Konflikten umfasst also de facto auch Feindesliebe

bull Die Frage wird von Jesus mit einer Geschichte beantwortet die auf provokan-te Weise einen Samariter zu einem Vorbild werden laumlsst Dass Jesus mit ei-nem Gleichnis antwortet setzt auf die argumentative Kraft einer Erzaumlhlung die nicht nur eine Welt vor Augen stellen sondern auch eine Sache klaumlren kann und zwar so dass Anteilnahme entsteht eine Verstrickung in die Ge-schichte durch Dramatik und Identifikation

Die Antwort auf die Frage wird nicht ohne ihre Umkehrung gegeben bdquoWer hellip ist zum Naumlchsten dessen geworden der unter die Raumluber gefallen istldquo (Lk 1036) Damit wird die Ausgangsfrage nicht desavouiert sondern konkretisiert Wer nach dem Naumlchsten fragt fragt auch nach sich selbst Und wer sich selbst von Naumlchsten umgeben weiszlig denen er verpflichtet ist muss selbst zum Naumlchsten derer werden wollen die auf Hilfe angewiesen sind

b Die Geschichte gehoumlrt zum Doppelgebot das bei Lukas (1025ff) wie bei Matthaumlus (2235-40) ein Streitgespraumlch ist waumlhrend es bei Markus ein Konsensgespraumlch ist (Mk 1228-34) Lukas hat es in die Zeit des oumlffentlichen Wirkens Jesu vorgezogen und kompositorisch konkretisiert

bull Mit einem bdquoGesetzeslehrerldquo trifft Jesus auf seinem Weg einen Experte fuumlr die Frage die er stellt

bull Das Doppelgebotsthema wird nicht nur durch das Samaritergleichnis sondern auch durch die Fortsetzung konkretisiert

o Die Beispielgeschichte Lk 1030-35 thematisiert das Tun (Lk 1037) o Die folgende Geschichte von Maria und Martha akzentuiert das Houmlren

(Lk 1038-42) o Die anschlieszligende Gebetslehre konkretisiert jene Gottesliebe die aus

dem Houmlren zum Sprechen fuumlhrt mit dem Vaterunser als Kern Durch die Komposition wird die Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe unter-strichen

Die Szenerie unterstreicht die Brisanz der Frage nach der Geltung des Gesetzes und erhoumlht damit den Stellenwert des Gleichnisses damit aber auch die Praumlgnanz des Samariterbildes Jesu

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c Der gesamte Text hat eine dialogische Struktur 1 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach dem Sinn des Lebens (Lk 1025) 2 Jesus fragt zuruumlck indem er auf das Gesetz verweist (1026) 3 Der Gesetzeslehrer zitiert das Doppelgebot (Lk 1027) 4 Jesus bestaumltigt und fordert zur Praxis (Lk 1028) 5 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach der Identitaumlt des Naumlchsten (Lk 1029) 6 Jesus fragt zuruumlck indem er das Gleichnis erzaumlhlt (Lk 1030-36) 7 Der Gesetzeslehrer gibt die richtige Antwort (Lk 1037a) 8 Jesus fordert zum Handeln (Lk 1037b)

Jesus agiert im sokratischen Stil Er laumlsst den Fragesteller selbst die Antwort finden ndash nicht irgendwo sondern im Gesetz und in seinem Gewissen Das spiegelt fuumlr Lukas die Uumlberlegenheit Jesu und die Menschlichkeit seiner Ethik

d Das Gleichnis arbeitet mit einem scharfen Kontrast bull Auf der einen Seite stehen der Priester und der Levit Repraumlsentanten des Ju-

dentums Sie muumlssten genau wissen was zu tun ist Sie haben wenn sie wie der Verletzte auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho sind auch keinen Grund sich aus kultischen Uumlberlegungen um sich nicht zu verunreinigen an einem vorbeizugehen von dem sie glauben dass er tot sei wenn sie auf dem Weg zuruumlck sind ist fuumlr die ggf erforderliche rituelle Reinigung genuumlgend Zeit

bull Auf der anderen Seite steht der Samariter dem man es am wenigsten zutrau-en wuumlrde dass er tut was recht ist Dessen Rolle wird aber von Jesus stark betont nicht nur durch den Kontrast sondern auch dadurch dass er weit uumlber die Erste Hilfe hinaus mehr als genug tut um dem Verletzten zu helfen Er selbst leistet den sprichwoumlrtlich gewordenen Samariterdienst und treibt ungewoumlhnlich intensive Vorsorge dass der Mann nachhaltig gesundet ndash nach allen Regeln der (damaligen) aumlrztlichen Kunst

Dieser Kontrast war den Menschen sowohl zur Zeit Jesu als auch zur Zeit des Evange-listen Lukas deutlich Lk 952-56 hat ihn frisch in Erinnerung gerufen

e Jesus laumlsst durch die Kunst seiner narrativen Argumentation dem Gesetzeslehrer keine Chance nicht von seiner Antwort uumlberzeugt zu werden die seinen eigenen mo-ralischen Standpunkt veraumlndert Alle Menschen die ein Herz im Leibe haben werden erkennen dass nicht der Priester nicht der Levit sondern ausgerechnet der feindli-che der bdquohaumlretischeldquo Samariter das einzig Richtige getan hat indem er dem unter die Raumluber gefallenen Menschen geholfen hat Das aber ist schon der erste Schritt in die Richtung die Jesus den Menschen zeigt damit sie Gott und den Naumlchsten neu entde-cken koumlnnen Wer aber nicht nur tatkraumlftig wie der Samariter hilft sondern als Jude weiszlig dass er ihn wegen seiner Naumlchstenliebe nachahmen sollte hat eine Grenze uumlberschritten die durch das Nahekommen der Basileia durchlaumlssig geworden ist Der Gesetzeslehrer versperrt sich dieser Lektion nicht Er ist deshalb ein positives Beispiel

Literatur Andregrave Lacoque Lhermeacuteneutique de Jeacutesus au sujet de la loi dans la Parabole du Bon Samari-

tain in Etudes theacuteologiques et religieuses 78 (2003) 25-46

Ruben Zimmermann Die Etho-Poietik des Samaritergleichnisses (Lk 1025-37) Eine Ethik des Schauens in einer Kultur des Wegschauens in Wort und Dienst 29 (2007) 51-69

Thomas Soumlding

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6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)

a Die fuumlnfte und sechste Antithese bilden bei Matthaumlus den Houmlhepunkt der Reihe die sich am Dekalog orientiert in der Feldrede bei Lukas markiert das Gebot der Feindes-liebe den Mittelpunkt der Ethik Die Feindesliebe bezeichnet in groumlszligter Konsequenz den Standpunkt der Moralitaumlt steht aber auch im Brennpunkt der Kritik

bull Ist Gewaltlosigkeit wuumlrdelos verantwortungslos kraftlos So Nietzsche14

bull Ist Feindesliebe unrealistisch So der gesunde Menschenverstand und das Ur-teil professioneller Politik

15 So auch der juumldische Einwand16 den zuletzt Jacob Neusner vorgetragen hat17

Die antithetische Form bei Matthaumlus zeigt das Potential der Kontroverse Es ist nicht das Ziel der Exegese sie aufzuloumlsen sondern sie auszuloumlsen

b Der Blick in die Synopse zeigt im Vergleich mit Lk 627-36 zweierlei bull Die antithetische Form ist ndash hier wie sonst ndash ein matthaumlisches Spezifikum Sie

dient der Profilierung der Ethik Jesu im Gegenuumlber zur Tora ndash unter dem Vor-zeichen der Erfuumlllung (Mt 517-20)

bull Bei Lukas ist Gewaltverzicht direkter Ausdruck der Feindesliebe Matthaumlus dif-ferenziert und kombiniert um zu akzentuieren

Die Synopse fordert bei der lukanischen Uumlberlieferungsform anzusetzen aber die matthaumlische Variante nicht als sekundaumlr abzutun sondern als Reflex jesuanischer Konkretionen in den Blick zu nehmen

c Das Gebot der Feindesliebe tradiert uumlber die Redenquelle (Q) ist Urgestein und Herzstuumlck der Ethik Jesu18

14 Also sprach Zarathustra III 21 (Werke VI1) bdquoIch sollte nur Feinde haben die zu hassen sind aber nicht Feinde zum Verachten ihr muumlsst stolz auf euren Feind sein (260)ldquo

Die Stellung in der matthaumlischen Bergpredigt und der luka-nischen Feldrede zeigt dass im Urchristentum diese zentrale Bedeutung gesehen und tradiert worden ist Paulus reflektiert sie in Roumlm 129-21 Auch im johanneischen Kon-zept der Bruderliebe ist sie vorausgesetzt

15 Max Weber Politik als Beruf (1919) in ders Gesammelte politische Schriften hg v J Winckelmann Tuumlbingen 31971 505-560 bdquoMit der Bergpredigt ist es eine ernstere Sache als die glauben die diese Gebote heute gern zitieren Wenn es in Konsequenz der akosmistischen Liebesethik heiszligt dem Uumlbel nicht widerstehen mit Gewaltlsquo ndash so gilt fuumlr den Politiker der Satz du sollst dem Uumlbel gewaltsam widerstehen sonst ndash bist du fuumlr seine Uumlberhandnahme verantwortlich (550f)ldquo 16 Der Jude Tryphon plaumldiert nach Justin dial 52 bdquoIch weiszlig auch dass eure Lehren die in dem sogenannten Evangelium stehen so erhaben und groszlig sind dass wie ich meine kein Mensch sie beobachten kannldquo 17 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 Neuausgabe Frei-burg - Basel - Wien 2007 (engl 1993) Neusner praumlzisiert Jesus maszlige sich das Recht Gottes an so zu sprechen wie es die Bergpredigt uumlberliefert 18 Th Soumlding Die Verkuumlndigung Jesu 570-583

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d Nach Lk 6 sind alle Houmlrer der Botschaft Jesu zur Feindesliebe gerufen In erster Linie sind es seine Juumlnger als stellvertretende Adressaten der Seligpreisungen und Weherufe (Lk 620-26) Lukas sieht die Kirche als Ort wo primaumlr die Feindesliebe ver-wirklicht sein will gerade auch gegenuumlber Nicht-Christen (und berichtet in der Apos-telgeschichte dass dies in der Urgemeinde auch geschehen sei) Nach Matthaumlus hat Jesus direkt seine Juumlnger angesprochen (Mt 51f) ndash aber so dass alles Volk (vgl 423ff) es houmlren und daruumlber staunen kann (Mt 728f) Die Pointe ist missionstheologisch Wenn die Juumlnger ausziehen alle Voumllker ihrerseits zu Juumlngern zu machen sollen sie nicht nur taufen sondern auch lehren bdquoalles zu haltenldquo was Jesus ihnen bdquogebotenldquo hat (Mt 2818ff)

d Die Feindschaften die Jesu Gebot anspricht sind so paradigmatisch ausgewaumlhlt und scharf zugespitzt dass prinzipiell jede denkbare Feindschaft im Blick stehen muss Es werden die empoumlrendsten Formen paradigmatisch konkretisiert

bull religioumlse Verfolgung (Lk 628 Mt 544) bull koumlrperliche Gewalt selbst wenn sie demuumltigen soll (Lk 628f Mt 539) bull wirtschaftliche Ausbeutung auch wenn sie sich den Anschein des Rechts gibt

(Mt 540) bull politisch-militaumlrische Unterdruumlckung auch wenn sie schier uumlbermaumlchtig

scheint (Mt 541) Jede denkbare Grenze der Feindesliebe wird uumlberschritten der Familie und Ver-wandtschaft des Freundeskreises der Glaubensgenossen der (mehr oder weniger) Guten der Angehoumlrigen des eigenen Volkes (vgl Lk 1025-37)

e Die Feindesliebe zeigt sich in den gleichfalls paradigmatischen Konkretisierungen bull als Fuumlrbitte fuumlr die Verfolger (Lk 628 par Mt 544) und Segnen der

Blasphemiker (Lk 628) ndash im Gegensatz zum Verfluchen und zur Bitte um ihre Vernichtung durch Gottes Strafgericht

bull als aktiver Gewaltverzicht gegenuumlber erlittener Uumlbermacht (Lk 629 Mt 538-42) ndash im Gegensatz dazu Unrecht mit gleicher Muumlnze heimzuzahlen

bull als selbstlose Unterstuumltzung der Armen auch wenn deren Bitten laumlstig faumlllt (Lk 630) ndash im Gegensatz zum Kalkuumll des do ut des

bull als engagierter Einsatz fuumlr das Gute (Lk 62733) ndash im Gegensatz zu einem Mitmachen wie zur Resignation

Feindesliebe ist nicht passiv sondern aktiv Sie kreiert eine neue Situation In diesen Konkretisierungen erhellt die Feindesliebe als radikalisierte Naumlchstenliebe (Lev 1917f) die im Kontext der Gottessliebe steht (Mk 1228-34 parr) Sie ist nicht das Einverstaumlndnis mit Unrecht Schuld und Schwaumlche schon gar nicht schwaumlchliches Hinnehmen von Unrecht sondern im Gegenteil starkes aber deshalb auch leidensfauml-higes Eintreten dafuumlr Boumlses durch Gutes zu uumlberwinden (Roumlm 1221)

Thomas Soumlding

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h Die Feindesliebe ist theologisch begruumlndet und motiviert bull Der theologische Grund ist das Handeln Gottes selbst der als Schoumlpfer und Er-

loumlser permanent Feindesliebe praktiziert (Lk 635 Mt 545 vgl Roumlm 55ff) o Mit dem Blick ins Buch der Natur zeigt Jesus nach Matthaumlus Gott als

den der auch den Boumlsen und Ungerechten das Leben schenkt weil er will dass sie leben (nicht weil er will oder toleriert dass sie Boumlses und Unrechtes tun)

o Der Vergleich mit dem aumlhnlichen Motiv bei Seneca der (nicht zu Feindesliebe aber) zu groszligmuumltiger Gelassenheit gegenuumlber Feinden mahnt macht den Unterschied deutlich denn nach ihm kann Gott nicht anders als die Unterstuumltzung der Boumlsen in Kauf zu nehmen wenn er den Guten helfen will ndash wofuumlr er sich entscheidet weil das Gute mehr wert ist als das Boumlse

bull Das theologische Motiv ist die Nachahmung Gottes die imitatio Dei (Lk 636 Mt 548) der die Verheiszligung ewigen Lebens gilt des bdquoLohnesldquo der in der Gotteskindschaft besteht

In dieser Theozentrik ist die Feindesliebe Zustimmung zu der Liebe mit der Gott auch die Ungerechten und Suumlnder liebt ndash ohne ihre Suumlnde gutzuheiszligen aber auch ohne ihnen wegen ihrer Schuld seine Zuwendung zu entziehen

i Das Gebot der Feindesliebe ist angewandte Christologie bull Einerseits ist es Jesus der das Gebot ndash nach Matthaumlus im Gegensatz zur herr-

schenden Auslegung des atl Liebesgebotes ndash der Feindesliebe aufstellt bull Andererseits ist es Jesus der das Gebot umfassend verwirklicht ndash vorbildlich

in seinem Leiden heilbringend in seiner Lebenshingabe aus reiner Liebe

f Das bdquoAuge um Auge Zahn um Zahnldquo (Ex 2124) begrenzt die Vergeltung das bdquoIch aber sage euchldquo aktiviert zur Versoumlhnung Das alttestamentliche Gebot der Naumlchstenliebe umfasst innerhalb Israels Feindesliebe (Lk 1917f) und weitet sie aus (Lev 1934) Das bdquoIch aber sage euchldquo setzt sich von einer Auslegung ab die aus Sorge um Gottes Gerechtigkeit die Grenzen der Erloumlsung zu eng zieht Dafuumlr gibt es Beispiele in Qumran Der originaumlre Bezug des Gebotes der Naumlchstenliebe auf das Volk Gottes wird nicht aufgegeben aber ausgeweitet

bull In der Juumlngerschaft ist ndash in Israel und uumlber Israel hinaus ndash der Ort an dem die Feindesliebe so praktiziert werden soll dass sie ausstrahlt (vgl Mt 513-16)

bull Zum Volk Gottes gehoumlren nicht nur die Juden und alle die an Jesus glauben Gott hat vielmehr Jesus (nach Matthaumlus wie nach Lukas) deshalb gesendet damit durch seinen Dienst am Heil der Menschen der reine Feindesliebe ist alle Voumllker zu seinem Volk werden Die Kirche repraumlsentiert und realisiert stellvertretend diese Heilsuniversalitaumlt Ihre Feindesliebe konkretisiert sie ethisch

Feindesliebe durchbricht das Prinzip der Vergeltung ohne das Prinzip der Gerechtig-keit aufzugeben Das ist nur deshalb sittlich erlaubt und geboten weil das Gebot in der Liebe Gottes selbst begruumlndet ist die sich in der Feindesliebe Jesu realisiert die ihrerseits der theologische Nerv seines Lebens und Sterbens zur Erloumlsung der Suumlnder ist

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j Das psychologische Problem das Sigmund Freud scharf markiert hat19

Das ethische Problem das Fjodor Dostojewksi (Die Bruumlder Karamasow) Iwan in den Mund legt lautet

besteht da-rin dass blinde Aggressionen entwickelt wer sich moralisch uumlberfordert Dieses Prob-lem laumlsst sich wohl nur spirituell loumlsen in der Nachfolge Jesu die auf seine Kraft setzt in den Nachfolgern das Gute zu tun

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k Das Problem der Erfuumlllbarkeit der Bergpredigt und speziell des Gebotes der Fein-desliebe bewegt Theologie und Kirche seit aumlltester Zeit Eine erhebliche Verschaumlrfung des Problems geschieht durch eine moderne Emotionalisierung der Feindesliebe Wird sie aber als Ausdruck der Agape verstanden begruumlndet sie ndash in der Nachfolge Jesu ndash eine Praxis des Glaubens aus der Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe Als solche kann sie durchaus eingeuumlbt ausgebildet und gefestigt werden Sie setzt die Suche nach dem besten Weg der Verwirklichung nicht aus sondern ein Sie entspricht aber darin der Gottebenbildlichkeit aller Menschen und der Gotteskindschaft der zu Erloumlsenden dass sie an der Unbedingtheit der Bejahung die Gott ihnen zuteilwerden laumlsst Anteil hat

dass Feindesliebe letztlich Kumpanei mit den Taumltern auf Kosten der Opfer sei Dieses Problem das haumlufig nicht gesehen wird laumlsst sich nur soteriolo-gisch loumlsen weil derjenige der selbst aus reiner Liebe die Schuld der anderen ertra-gen und vergeben hat das Reich Gottes als umfassende Vollendung von Gerechtig-keit Friede und Freude (Roumlm 1417) verwirklicht

19 Das Unbehagen in der Kultur in Gesammelte Werke 14 London 1948 419-506 468-475493-506 (Abschnitte V VIII) bdquoNachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte war die aumluszligerste Intoleranz des Christentums gegen die drauszligen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge gewordenldquo (374) 19 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 20 bdquoSchlieszliglich will ich auch gar nicht dass die Mutter den Peiniger umarmt der ihren Sohn von Hunden zerreiszligen lieszlig Sie darf sich nicht unterstehen ihm zu verzeihen Wenn sie will mag sie verzeihen soweit es sie selber angeht sie mag dem Peiniger ihr maszligloses Mutterleid ver-zeihen aber die Leiden ihres zerfleischten Kindes zu verzeihen hat sie kein Recht sie darf es nicht wagen dem Peiniger zu verzeihen auch wenn das Kind selber ihm verzieheldquo (Muumlnchen 1958 330f

Thomas Soumlding

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7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)

71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20) a Mit der Fuszligwaschung21

b Die Fuszligwaschung ist das Zeichen der Passion Ihr folgen Gespraumlche mit den Juumln-gern die zwar von Jesus gewaschen und gereinigt sind aber groumlszligte Schwierigkeiten haben zu verstehen was sich tut

beginnt der 2 Hauptteil des Johannesevangeliums Das oumlffentliche Wirken ist abgeschlossen Jesus konzentriert sich auf seine Juumlnger bevor er oumlffentlich hingerichtet werden wird Er bereitet sie auf seine Passion und seine Auferstehung vor die den Weg zu Gott bahnen werden

bull Auf die Fuszligwaschung folgt zuerst eine Trias unmittelbarer Konsequenzen o Judas wird als Verraumlter identifiziert und verlaumlsst den Juumlngerkreis (Joh

1321-30) o Die Juumlnger werden zur wechselseitigen Liebe gemahnt (Joh 1331-35) o Petrus wird seine Verleugnung vorhergesagt (Joh 1336ff)

bull Auf die Fuszligwaschung folgen ausfuumlhrliche Abschiedsworte (Joh 14-16) die in ein Abschiedsgebet muumlnden (Joh 17)

c Joh 131-20 ist uumlbersichtlich aufgebaut

Joh 131 Der Hintergrund Joh 132-5 Die Fuszligwaschung beim Mahl 132 Die Situation 133ff Die Handlung Jesu Joh 136-11 Das Gespraumlch mit Petrus 136 Der erste Einwand des Petrus 137 Die erste Antwort Jesu 138a Der zweite Einwand des Petrus 138b Die zweite Antwort Jesu 139 Der dritte Einwand des Petrus 1310 Die dritte Antwort Jesu 1311 Kommentar des Evangelisten Joh 1312-20 Die Deutung vor allen Juumlngern 1312-17 Die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu 1318f Die Ansage eines Verrates 1320 Die Juumlnger als Apostel

21 Vgl Luise Abramowski Die Geschichte von der Fuszligwaschung in Zeitschrift fuumlr Theologie und Kirche 102 (2005) 176-203

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d Die Exegese diskutiert in welchem Verhaumlltnis die beiden Deutungen zu einander stehen Die erste ist soteriologisch die zweite ethisch ausgerichtet

bull Recht oft wird aus der Doppelung auf ein literarisches Wachstum des Textes geschlossen

o Moumlglichkeit 1 Die soteriologische Deutung ist die aumlltere die paraumlnetische die se-kundaumlre22

o Moumlglichkeit 2 Die ethische Deutung ist urspruumlnglich die soteriologisch nachtraumlglich zwischengeschoben

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Beide Ansaumltze sind von weitereichenden Voraussetzung zur relativen Chrono-logie des Corpus Johanneum gepraumlgt

o Wer den Ersten Johannesbrief fuumlr aumllter erachtet wird die ethische Deutung fuumlr urspruumlnglich halten

o Wer das Evangelium fuumlr aumllter erachtet wird eher die soteriologische Deutung als originaumlr einschaumltzen

Die ethische Deutung wird dann fuumlr sekundaumlr zu erachten wenn man zu dem Urteil gelangt die johanneische Theologie sei urspruumlnglich wenig konkret und eher spirituell ausgerichtet waumlhrend erst sekundaumlr Johannes gesamtkirchlich eingenordet worden sei Beide Ansaumltze gehen von einem literarischen Schichtenmodell aus das der Ei-genart johanneischer Literatur in den Evangelienerzaumlhlungen nicht angemes-sen ist Beide werden durch das Modell einer bdquorelectureldquo gemildert das ndash aumlhnlich wie in der Prophetenexegese des Alten Testaments ndash mit einer Fortschreibung der Texte rechnet aber sie zugleich als vergegenwaumlrtigende Aneignung des vor-gegebenen Textes versteht24

bull Es mehren sich wieder die Stimmen die Joh 13 als literarisch einheitlich anse-hen

Allerdings stoumlszligt dieses Modell auf die Schwie-rigkeit dass das Liebesgebot das die ethische Deutung vorbereitet in Joh 1331-35 dominant ist und nicht nur in Joh 15-16 ausgefuumlhrt sondern auch in Joh 1421 angebahnt wird

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Die Doppelung erklaumlrt sich aus der Theologie der Liebe Sie hat eine Innenseite die Liebe Jesu zu sein Seinen in der sich nach Joh 1421 die Liebe das Vaters zum Sohn ereignet und sie hat eine Auszligenseite die sich nach Joh 1331-35 und Joh 15 in der Bruderliebe der Juumlnger erweist von der die Welt angezogen werden wird (Joh 17)

Allerdings braucht es eine Erklaumlrung fuumlr die Deutung Eine moumlgliche Er-klaumlrung waumlre der Adressatenwechsel aber die Petrusszene spielt sich vor den Augen und Ohren aller ab

22 So Rudolf Schnackenburg Joh III passim 23 So Udo Schnelle Joh 237 Er will eine Ursprungsform (132a4512ab162017) die recht nahe bei Lk 22 und der Mahnung der Juumlnger zum Dienen steht zuerst in der johanneischen Schule (der er den Ersten Johannesbrief mit seiner Theologie der Liebe zurechnet) um die Vorbildethik erweitert sehen (1312c13-15) bevor der Evangelist selbst von der Einleitung an (131) konsequent seine soteriologische Deutung ins Fundament der Geschichte eingebaut habe (136-10ab) 24 So Jean Zumstein Joh 25 So Hartwig Thyen Joh

Thomas Soumlding

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711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus a Die Liebe Jesu zu den Seinen (Joh 131) verwirklicht die Liebe Gottes zur Welt (Joh 316) die von der Liebe des Vaters zum Sohn getragen wird (Joh 335 1017) Es ist die nach der Zwischennotiz von Jesu Freundschaft mit Martha Maria und Lazarus (Joh 115) erste Betonung der Agape Jesu von der spaumlter das Liebesgebot Joh 1334 und die Verheiszligung dauernden Beistandes der Juumlnger gedeckt ist (Joh 1421-31)

b In der Liebe Jesu zu den Seinen verbindet sich die Liebe Gottes zur Welt mit der Liebe Jesu zu seinen Freunden (Joh 15) Es ist eine unbedingte Bejahung und Wert-schaumltzung die auf Sympathie beruht und lebendig macht

c Die Liebe erweist Jesus den bdquoSeinenldquo bull Im Ruumlckraum steht Joh 19-13 dass die bdquoSeinenldquo den Logos abgelehnt haben

ndash bis auf diejenigen die an seinen Namen glauben und deshalb das Recht der Gotteskindschaft erhalten

bull Die bdquoSeinenldquo sind die Juumlnger die sich von Jesus in die Nachfolge haben rufen lassen (Joh 135-51) und in der galilaumlischen Krise Jesus nicht verlassen haben (Joh 660-71) Sie haben ihrerseits schwere Glaubensprobleme ndash aber werden sie durch Jesus uumlberwinden

bull In Joh 14 und Joh 17 wird erklaumlrt werden dass die Liebe Jesu zu den Seinen ndash wie die zum Lieblingsjuumlnger ndash nicht exklusiv sondern positiv zu verstehen ist

Dass Jesus den Seinen die Liebe bdquobis zum Endeldquo erweist verweist auf den Tod Jesu Das griechische Wort ist mehrdeutig teloj kann bdquoEndeldquo aber auch bdquoZielldquo bedeuten Beide Bedeutungen schwingen mit

bull Der Tod Jesu ist das definitive Ende seiner geschichtlichen Sendung das zu akzeptieren wird den Juumlngern ungeheuer schwer fallen

bull Der Tod Jesu ist das Ziel seines Wirkens insofern es seine Liebe und Hingabe definitiv werden laumlsst

Der Korrespondenzsatz ist das Todeswort Jesu Joh 1930 bull Es ist ein Gebet wie nach allen Synoptikern (Mk 1534 par Mt 2746 bdquoGott

mein Gott warum hast du mich verlassenldquo ndash Ps 222 Lk 2346 bdquoVater in deine Haumlnde gebe ich meinen Geistldquo ndash Ps 316) aber als letztes Offenba-rungswort an die Welt

bull Die traditionelle Uumlbersetzung lautet bdquoEs ist vollbrachtldquo Man kann aber auch sagen bdquovollendetldquo (Muumlnchner Neues Testament Bible de Jerusaleme bdquoCest acheveacuteldquo) oder bdquozu Endeldquo (King James Bible bdquoIt is finishedldquo)

Eine moumlgliche auf Joh 131 abgestimmte Uumlbersetzung waumlre (wie im Muumlnchener Neu-en Testament) bdquoEs ist vollendetldquo (tetelestai)

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712 Die Fuszligwaschung a Jemandem vor dem Mahl die Fuumlszlige zu waschen ist ein Dienst den traditioneller-weise Sklaven ihren Herren erweisen (vgl 1Sam 2541)26

Joh 1313f zeigt dass die sozialen Dimensionen der Fuszligwaschung klar vor Augen stehen der Gesamttext dass der Ritus sakramental gefuumlllt wird

Das Waschen der Fuumlszlige ist ein Ritus der Vorbereitung der eine koumlrperliche Wohltat mit einer Geste der Houmlflich-keit verbindet die Anerkennung und Ehrerbietung meint (Gen 184 vgl Lk 744) und zudem mit einer rituellen Bedeutung versieht die einen Uumlbergang gestaltet von drauszligen nach drinnen vom Alltag zum Fest vom Profanen zum Heiligen

7121 Die soteriologische Deutung a Im Gespraumlch mit Petrus wird die Bedeutung der Fuszligwaschung soteriologisch gedeu-tet Sie ist eine bdquoReinigungldquo ndash nicht wie in der Taufe sondern wie in der Buszlige Petrus braucht keine Wiederholung der Wiedergeburt die er als glaumlubig gewordener Taumluferjuumlnger erlebt hat aber er bedarf mehr als andere der Vergebung weil er ndash ent-gegen seinem Vorsatz ndash Jesus verleugnet Waumlhrend er sagt fuumlr Jesus sterben zu wol-len muss gerade fuumlr ihn Jesus sterben

b Petrus erkennt nach Joh 136 das Unmoumlgliche der Situation dass der Herr ihm ei-nen Sklavendienst leistet Er wehrt diesen Dienst doppelt ab (Joh 1368a) ndash so wie er nach Joh 1336ff nicht will dass Jesus fuumlr ihn sein Leben einsetzt In diesem Nein kommt eine Liebe zu Jesus zum Ausdruck die bestimmen will Gleichzeitig aber ist das Nein auch Ausdruck des Missverstaumlndnisses dass Petrus der Diakonie Jesu womoumlglich gar nicht bedarf Petrus verschaumlrft seinen Widerspruch der aus Unverstaumlndnis stammt indem er dann ganz gewaschen werden will (Joh 139) ndash womit er aber seine Berufung leugnet

c Jesus deckt das Missverstaumlndnis des Petrus auf Die Fuszligwaschung steht nicht am Anfang sondern an einer Biegung des Weges mit Jesus Die Weg-Gemeinschaft ist darin begruumlndet dass Jesus sich in seinen Dienst stellt Dem muss entsprechen dass Petrus sich den Dienst gefallen laumlsst Er muss Jesus so nahe wie in der Fuszligwaschung an sich heranlassen Er muss den Rollentausch akzeptieren Die Langversion von Vers 10 die durch den Codex Vaticanus gedeckt und als lectio difficilior gesichert ist entspricht dem Kontext

bull Im Bild Auch nach dem Vollbad macht man sich wieder die Fuumlszlige schmutzig Man laumlsst sie sich waschen damit auch sie sauber sind man laumlsst nur sie waschen weil der sonstige Koumlrper gereinigt ist

bull In der Sache Wer durch das Bad der Wiedergeburt die Taufe bdquoganz reinldquo geworden ist muss diese Reinheit aber durch seine Schuld verloren hat muss sich die Fuumlszlige waschen lassen um durch Jesus zu Gott zu gelangen Dem entspricht am ehesten eine Deutung auf die Buszlige wie sie orthodoxen Vaumlter favorisieren

26 Hellenistische Parallelen Neuer Wettstein I2 636-644

Thomas Soumlding

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7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

48

c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
    • Kontakt
      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
        • Markusevangelium
        • Lukasevangelium
        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 14: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

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d Die Schriften aus Qumran12 enthalten in zwei Corpora bedeutende Zeugnisse einer Naumlchstenliebe die sich innerjuumldisch aus dem Konflikt mit Frevlern als Gegenstuumlck zum Feindeshass erklaumlrt13

bull Die Gemeinderegel (1QS vgl 1QSa) beschreibt das Zusammenleben einer juuml-dischen Reformbewegung die sich in striktem Gegensatz nicht nur zu den Heiden sondern auch zu den Priestern in Jerusalem als wahres Israel konsti-tuieren abseits vom Tempel Die Forschung diskutiert die Beziehung zu den Esseacutenern uumlber die Philo von Alexandrien (15 v Chr - 40 n Chr ) in seiner Schrift uumlber die Freiheit des Tuumlchtigen (Quod omnis probus liber sit 72-91) der juumldische Historiker Flavius Josephus (3738 - 100 n Chr) in seinen Buuml-chern uumlber den juumldischen Krieg (De bello Judaico 2 119-161) und die Ge-schichte Israels (Antiquitates Judaicae 181118-22) sowie der roumlmische Ge-lehrte Plinius der Aumlltere (23-79 nChr) in seiner Naturgeschichte (Naturalis historia 573) berichten

Fuumlr die Gemeinderegel ist ein religioumlser Dualismus zwischen den bdquoSoumlhnen des Lichtesldquo und den bdquoSoumlhnen der Finsternisldquo wesentlich Er entsteht durch den Frevel derjenigen die das Heilige wahren sollen er wird von Gott sanktio-niert Entscheidend ist in einem aufwendigen Konversionsverfahren den Weg aus der massa damnata in Israel zur Kommunitaumlt der Frommen zu finden um so der Gnade der Rechtfertigung teilhaftig zu werden Die Zugehoumlrigkeit zur Gemeinschaft zeigt sich im Ritus und im Ethos Das Ethos ist durch Naumlchstenliebe strukturiert (1QS 13f9ff 224 5425 82 91621 1026) Sie ist im Kern Zustimmung zu der Erwaumlhlung und Vergebung die dem Mitbruder wie der eigenen Person zuteil geworden ist Deshalb ent-spricht der Naumlchstenliebe der Feindeshass Er ist im Kern Ablehnung und Dis-tanzierung die aber gerade nicht durch Gewalt sondern durch strikte Gewalt-losigkeit strukturiert wird damit das Gesetz des Handelns nicht von den Frev-lern sondern den Gerechten bestimmt wird (1QS 1017f)

bull Die Hymnenrolle (1QH) sammelt Psalmen die den Kampf der Guten gegen die Boumlsen der Gerechten gegen die Ungerechten verherrlichen Die Sprache ist militaumlrisch der Stil metaphorisch Die Spiritualitaumlt passt zur Ekklesiologie und Ethik der Gemeinderegel aber welchen genauen Bezug es gibt ist in der Qumran-Forschung strittig Entscheidend ist Gott fuumlr die eigene Erwaumlhlung zu preisen Das dankbare Gotteslob spiegelt sich in der Abscheu vor dem und den Boumlsen Liebe ist Zu-stimmung zur Liebe Gottes Hass Zustimmung zum Hass Gottes (1QH 142-8)

Die beiden Corpora stammen aus vorchristlicher Zeit Sie dokumentieren die Zerris-senheit des Judentums in Palaumlstina aber auch den Reformeifer derer die ein heiliges Israel erneuen wollen 12 Deutsche Uumlbersetzungen E Lohse Die Texte aus Qumran Hebraumlisch und Deutsch Muumln-chen 21971 K Schubert - J Maier Die Qumran-Essener Texte der Schriftrollen und Lebensbild der Gemeinde (UTB 224) Muumlnchen - Basel 1982 143-312 Zur Tempelrolle vgl die Ausgabe von Y Yadin Megillat ham-Miqdas The Temple Scroll (Hebrew Edition) Bde I-IIIa Jerusalem 1977 deutsche Uumlbersetzung J Maier Die Tempelrolle vom Toten Meer (UTB 829) Muumlnchen - Basel 1977 13 Vgl Th Soumlding Feindeshass und Bruderliebe

Thomas Soumlding

15

4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)

a Das Doppelgebot der Naumlchstenliebe uumlberliefert das Neue Testament bei den Synop-tikern in drei Fassungen

bull Markus erzaumlhlt von einem Konsensgespraumlch uumlber das groumlszligte Gebot zwischen Jesus und einem Schriftgelehrten in Jerusalem (Mk 1228-34) die Antwort Je-su eine Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 fuumlhrt zu einer Verstaumlndi-gung

bull Matthaumlus stimmt in der Thematik der Frage der Ortsangabe und der Kombi-nation beider Liebesgebote mit Markus uumlberein (Mt 2234-40) macht aber aus dem Konsens- ein Streitgespraumlch Jesus wird von einem Gesetzeslehrer auf die Probe gestellt und besteht die Herausforderung glaumlnzend indem er das Doppelgebot formuliert

bull Lukas kennt in seiner Version (Lk 1025-37) gleichfalls die Kombination er uumlberliefert wie Matthaumlus einen bdquoGesetzeslehrerldquo ndash nicht wie Markus einen bdquoSchriftgelehrtenldquo ndash als Partner und erzaumlhlt ndash wie Matthaumlus anders als Mar-kus ndash von einem Konfliktgespraumlch Aber bei ihm findet der Dialog auf dem Weg Jesu nach Jerusalem statt (Lk 951 - 1927) die Frage zielt auf das ewige Leben (wie in Mk 1017 par Mt) der Dialog spitzt sich auf die Frage nach dem Naumlchsten zu die Jesus mit dem Samaritergleichnis beantwortet

Die markinische Version ist (nach der Zwei-Quellen-Theorie) die aumllteste Matthaumlus laumlsst sich als Kuumlrzung und Zuspitzung lesen Ob aber Lk 1025-37 sich als Markus-Redaktion erklaumlren laumlsst ist fraglich Womoumlglich hat es ndash durch Q ndash eine Doppeluumlber-lieferung gegeben die eine Kontroverse mit einem Gesetzeslehrer enthalten hat Noch wahrscheinlicher ist dass es von Anfang verschiedene Versionen gegeben hat die von den Evangelisten unterschiedlich rezipiert worden ist In jedem Fall bezeugt die Breite der Uumlberlieferung dass das Liebesgebot fuumlr Jesus typisch gewesen ist

b In allen Versionen des Doppelgebotes gibt es gemeinsame Charakteristika bull die Form des Gespraumlches in der das Doppelgebot entwickelt wird bull den Bezug auf das Gesetz bei Markus (1228) und Matthaumlus (2236) durch die

Jesus gestellte Ausgangsfrage bei Lukas durch die Ruumlckfrage Jesu (1026) bei Matthaumlus durch den Schlusssatz Jesu unterstrichen (2240)

bull die Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 ad vocem Agape bull die Abfolge dass zuerst das Hauptgebot der Gotteslebe (Dtn 64f) dann das

Gebot der Naumlchstenliebe (Lev 1918f) kommt obwohl die kanonische Reihen-folge eine andere ist

Diese Charakteristika sind der Kernbestand der Tradition sie muumlssen zu Eckpfeilern der Interpretation werden

c Die unterschiedlichen Gespraumlchssituationen haben ihre eigene Logik bull Markus will zeigen dass es zu einer fundierten und breiten Verstaumlndigung Je-

su mit den Schriftgelehrten haumltte kommen koumlnnen auf der Basis der Tora bull Matthaumlus will zeigen dass die Hierarchisierung der Gebote strittig war und

geblieben ist bull Lukas will herausarbeiten dass das Doppelgebot Fragen stellt die Jesus be-

antworten kann Die unterschiedlichen Logiken koumlnnen nicht gegeneinander ausgespielt aber jeweils in das Evangelium eingeordnet werden in dem sie sich befinden

16

d Alle Versionen bestimmen die Tora als Basis des Dialoges Alle bleiben im Rahmen juumldischer Hermeneutik Schrift legt Schrift aus Alle erweisen sich im religionsge-schichtlichen Vergleich als typisch jesuanisch

bull Einerseits gibt es im Judentum eine lebhafte Debatte aus didaktischen und theologischen Gruumlnden zu einer Hierarchie der Gebote zu gelangen In dieser Debatte ragt das Liebesgebot heraus Es gibt aber immer auch starke Kontro-versen uumlber die Richtigkeit und Guumlltigkeit solcher Elementarisierungen

bull Anderseits steht Jesus nicht gegen die Tora sonder erfuumlllt sie (vgl Mt 517-20) Dese Erfuumlllung hat eine spezifische Qualitaumlt diese Qualitaumlt bezeichnet das Liebesgebot das Jesus selbst praktiziert

Das Doppelgebot bricht nicht aus dem Gesetz aus sondern schlieszligt es auf

e Im fruumlhen Judentum gibt es keine direkte Parallele zum jesuanischen Doppelgebot Aber es gibt eine ganze Reihe von strukturaumlquivalenten Formulierungen sowohl im palaumlstinischen wie auch im hellenistischen Judentum Zum Teil sind sie direkt als Ge-bot einer doppelten Liebe zum Teil mit Varianten vor allem der Gottesfurcht gebil-det Diese Parallelen erhellen den juumldischen Kontext in dem das Doppelgebot steht Auffaumlllig ist in der Jesustradition zweierlei

1 die direkte Schriftzitation 2 der explizite Bezug zur Tora der reflektiert wird

Beides spiegelt die Programmatik der jesuanischen Position

f Die Struktur der Tradition leitet in jeder Variante von der Gottes- zur Naumlchstenliebe und bindet das Liebesgebot zusammen

bull Es gibt keine Gottesliebe ohne Naumlchstenliebe weil Gott den es zu lieben gilt nicht nur die Person liebt die lieben soll sondern auch diejenige die geliebt werden soll Diese Liebe Gottes als Basis ist im Doppelgebot nicht expliziert aber impliziert

o in der Einzigkeit Gottes so wie sie in der Bibel Israels und in der Jesus-tradition als Qualifikation des Schoumlpfers und Erhalters des Versoumlh-ners und Vollender entfaltet wird

o im Wort Agape das eo ipso von der Liebe Gottes gespeist wird Das Doppelgebot ist das beste Gegengift gegen Heuchelei

bull Es gibt keine Naumlchstenliebe ohne Gottesliebe ndash nicht weil es keine Ethik keine Menschlichkeit kein Mitleid und keine Solidaritaumlt ohne Gottesliebe gaumlbe (im Gegenteil) sondern weil die Naumlchstenliebe wie sie alt- und neutestamentlich expliziert wird den Naumlchsten als die von Gott geliebte Person liebt also Ein-stimmung in die Liebe Gottes ist die nur in der Liebe zu Gott explizit beant-wortet werden kann

bull Es gibt einen Primat der Gottes- vor der Naumlchstenliebe ndash nicht weil die Got-tes- wichtiger als die Naumlchstenliebe waumlre sondern weil Gott der Schoumlpfer all derer ist die lieben und geliebt werden sollen und sie alle zur Teilhabe an seiner Liebe fuumlhren will

Die Einheit der Gottes- und Naumlchstenliebe ist keine Identitaumlt sondern eine Spannung die ein hohes Energiefeld aufbaut

g Das Doppelgebot selbst enthaumllt keine Konkretion steht aber in den Evangelien die sich in die Tradition des Alten Testaments stellen und wird dadurch einerseits zum Kompass durch die Tora andererseits zum Katalysator von Aktualisierungen die pa-radigmatisch von Jesus angesprochen werden

Thomas Soumlding

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5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)

a Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter antwortet auf die wichtige Frage bdquoWer ist mein Naumlchsterldquo (Lk 1025-37)

bull Die Frage ist wichtig weil es um die Konkretionen der Liebe geht und Lev 1917f eine klare Antwort gibt Die Naumlchsten sind die Mit-Glieder des Gottes-volkes Hinzu treten die bdquoFremdenldquo (Lev 1934) die dauerhaft in Israel inte-griert sind nach der Septuaginta die Proselyten Die Konzentration auf diese Naumlchsten ist theologisch durch die gemeinsame Berufung des Volkes zur Hei-ligkeit begruumlndet Sie bewaumlhrt sich in Konflikten umfasst also de facto auch Feindesliebe

bull Die Frage wird von Jesus mit einer Geschichte beantwortet die auf provokan-te Weise einen Samariter zu einem Vorbild werden laumlsst Dass Jesus mit ei-nem Gleichnis antwortet setzt auf die argumentative Kraft einer Erzaumlhlung die nicht nur eine Welt vor Augen stellen sondern auch eine Sache klaumlren kann und zwar so dass Anteilnahme entsteht eine Verstrickung in die Ge-schichte durch Dramatik und Identifikation

Die Antwort auf die Frage wird nicht ohne ihre Umkehrung gegeben bdquoWer hellip ist zum Naumlchsten dessen geworden der unter die Raumluber gefallen istldquo (Lk 1036) Damit wird die Ausgangsfrage nicht desavouiert sondern konkretisiert Wer nach dem Naumlchsten fragt fragt auch nach sich selbst Und wer sich selbst von Naumlchsten umgeben weiszlig denen er verpflichtet ist muss selbst zum Naumlchsten derer werden wollen die auf Hilfe angewiesen sind

b Die Geschichte gehoumlrt zum Doppelgebot das bei Lukas (1025ff) wie bei Matthaumlus (2235-40) ein Streitgespraumlch ist waumlhrend es bei Markus ein Konsensgespraumlch ist (Mk 1228-34) Lukas hat es in die Zeit des oumlffentlichen Wirkens Jesu vorgezogen und kompositorisch konkretisiert

bull Mit einem bdquoGesetzeslehrerldquo trifft Jesus auf seinem Weg einen Experte fuumlr die Frage die er stellt

bull Das Doppelgebotsthema wird nicht nur durch das Samaritergleichnis sondern auch durch die Fortsetzung konkretisiert

o Die Beispielgeschichte Lk 1030-35 thematisiert das Tun (Lk 1037) o Die folgende Geschichte von Maria und Martha akzentuiert das Houmlren

(Lk 1038-42) o Die anschlieszligende Gebetslehre konkretisiert jene Gottesliebe die aus

dem Houmlren zum Sprechen fuumlhrt mit dem Vaterunser als Kern Durch die Komposition wird die Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe unter-strichen

Die Szenerie unterstreicht die Brisanz der Frage nach der Geltung des Gesetzes und erhoumlht damit den Stellenwert des Gleichnisses damit aber auch die Praumlgnanz des Samariterbildes Jesu

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c Der gesamte Text hat eine dialogische Struktur 1 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach dem Sinn des Lebens (Lk 1025) 2 Jesus fragt zuruumlck indem er auf das Gesetz verweist (1026) 3 Der Gesetzeslehrer zitiert das Doppelgebot (Lk 1027) 4 Jesus bestaumltigt und fordert zur Praxis (Lk 1028) 5 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach der Identitaumlt des Naumlchsten (Lk 1029) 6 Jesus fragt zuruumlck indem er das Gleichnis erzaumlhlt (Lk 1030-36) 7 Der Gesetzeslehrer gibt die richtige Antwort (Lk 1037a) 8 Jesus fordert zum Handeln (Lk 1037b)

Jesus agiert im sokratischen Stil Er laumlsst den Fragesteller selbst die Antwort finden ndash nicht irgendwo sondern im Gesetz und in seinem Gewissen Das spiegelt fuumlr Lukas die Uumlberlegenheit Jesu und die Menschlichkeit seiner Ethik

d Das Gleichnis arbeitet mit einem scharfen Kontrast bull Auf der einen Seite stehen der Priester und der Levit Repraumlsentanten des Ju-

dentums Sie muumlssten genau wissen was zu tun ist Sie haben wenn sie wie der Verletzte auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho sind auch keinen Grund sich aus kultischen Uumlberlegungen um sich nicht zu verunreinigen an einem vorbeizugehen von dem sie glauben dass er tot sei wenn sie auf dem Weg zuruumlck sind ist fuumlr die ggf erforderliche rituelle Reinigung genuumlgend Zeit

bull Auf der anderen Seite steht der Samariter dem man es am wenigsten zutrau-en wuumlrde dass er tut was recht ist Dessen Rolle wird aber von Jesus stark betont nicht nur durch den Kontrast sondern auch dadurch dass er weit uumlber die Erste Hilfe hinaus mehr als genug tut um dem Verletzten zu helfen Er selbst leistet den sprichwoumlrtlich gewordenen Samariterdienst und treibt ungewoumlhnlich intensive Vorsorge dass der Mann nachhaltig gesundet ndash nach allen Regeln der (damaligen) aumlrztlichen Kunst

Dieser Kontrast war den Menschen sowohl zur Zeit Jesu als auch zur Zeit des Evange-listen Lukas deutlich Lk 952-56 hat ihn frisch in Erinnerung gerufen

e Jesus laumlsst durch die Kunst seiner narrativen Argumentation dem Gesetzeslehrer keine Chance nicht von seiner Antwort uumlberzeugt zu werden die seinen eigenen mo-ralischen Standpunkt veraumlndert Alle Menschen die ein Herz im Leibe haben werden erkennen dass nicht der Priester nicht der Levit sondern ausgerechnet der feindli-che der bdquohaumlretischeldquo Samariter das einzig Richtige getan hat indem er dem unter die Raumluber gefallenen Menschen geholfen hat Das aber ist schon der erste Schritt in die Richtung die Jesus den Menschen zeigt damit sie Gott und den Naumlchsten neu entde-cken koumlnnen Wer aber nicht nur tatkraumlftig wie der Samariter hilft sondern als Jude weiszlig dass er ihn wegen seiner Naumlchstenliebe nachahmen sollte hat eine Grenze uumlberschritten die durch das Nahekommen der Basileia durchlaumlssig geworden ist Der Gesetzeslehrer versperrt sich dieser Lektion nicht Er ist deshalb ein positives Beispiel

Literatur Andregrave Lacoque Lhermeacuteneutique de Jeacutesus au sujet de la loi dans la Parabole du Bon Samari-

tain in Etudes theacuteologiques et religieuses 78 (2003) 25-46

Ruben Zimmermann Die Etho-Poietik des Samaritergleichnisses (Lk 1025-37) Eine Ethik des Schauens in einer Kultur des Wegschauens in Wort und Dienst 29 (2007) 51-69

Thomas Soumlding

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6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)

a Die fuumlnfte und sechste Antithese bilden bei Matthaumlus den Houmlhepunkt der Reihe die sich am Dekalog orientiert in der Feldrede bei Lukas markiert das Gebot der Feindes-liebe den Mittelpunkt der Ethik Die Feindesliebe bezeichnet in groumlszligter Konsequenz den Standpunkt der Moralitaumlt steht aber auch im Brennpunkt der Kritik

bull Ist Gewaltlosigkeit wuumlrdelos verantwortungslos kraftlos So Nietzsche14

bull Ist Feindesliebe unrealistisch So der gesunde Menschenverstand und das Ur-teil professioneller Politik

15 So auch der juumldische Einwand16 den zuletzt Jacob Neusner vorgetragen hat17

Die antithetische Form bei Matthaumlus zeigt das Potential der Kontroverse Es ist nicht das Ziel der Exegese sie aufzuloumlsen sondern sie auszuloumlsen

b Der Blick in die Synopse zeigt im Vergleich mit Lk 627-36 zweierlei bull Die antithetische Form ist ndash hier wie sonst ndash ein matthaumlisches Spezifikum Sie

dient der Profilierung der Ethik Jesu im Gegenuumlber zur Tora ndash unter dem Vor-zeichen der Erfuumlllung (Mt 517-20)

bull Bei Lukas ist Gewaltverzicht direkter Ausdruck der Feindesliebe Matthaumlus dif-ferenziert und kombiniert um zu akzentuieren

Die Synopse fordert bei der lukanischen Uumlberlieferungsform anzusetzen aber die matthaumlische Variante nicht als sekundaumlr abzutun sondern als Reflex jesuanischer Konkretionen in den Blick zu nehmen

c Das Gebot der Feindesliebe tradiert uumlber die Redenquelle (Q) ist Urgestein und Herzstuumlck der Ethik Jesu18

14 Also sprach Zarathustra III 21 (Werke VI1) bdquoIch sollte nur Feinde haben die zu hassen sind aber nicht Feinde zum Verachten ihr muumlsst stolz auf euren Feind sein (260)ldquo

Die Stellung in der matthaumlischen Bergpredigt und der luka-nischen Feldrede zeigt dass im Urchristentum diese zentrale Bedeutung gesehen und tradiert worden ist Paulus reflektiert sie in Roumlm 129-21 Auch im johanneischen Kon-zept der Bruderliebe ist sie vorausgesetzt

15 Max Weber Politik als Beruf (1919) in ders Gesammelte politische Schriften hg v J Winckelmann Tuumlbingen 31971 505-560 bdquoMit der Bergpredigt ist es eine ernstere Sache als die glauben die diese Gebote heute gern zitieren Wenn es in Konsequenz der akosmistischen Liebesethik heiszligt dem Uumlbel nicht widerstehen mit Gewaltlsquo ndash so gilt fuumlr den Politiker der Satz du sollst dem Uumlbel gewaltsam widerstehen sonst ndash bist du fuumlr seine Uumlberhandnahme verantwortlich (550f)ldquo 16 Der Jude Tryphon plaumldiert nach Justin dial 52 bdquoIch weiszlig auch dass eure Lehren die in dem sogenannten Evangelium stehen so erhaben und groszlig sind dass wie ich meine kein Mensch sie beobachten kannldquo 17 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 Neuausgabe Frei-burg - Basel - Wien 2007 (engl 1993) Neusner praumlzisiert Jesus maszlige sich das Recht Gottes an so zu sprechen wie es die Bergpredigt uumlberliefert 18 Th Soumlding Die Verkuumlndigung Jesu 570-583

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d Nach Lk 6 sind alle Houmlrer der Botschaft Jesu zur Feindesliebe gerufen In erster Linie sind es seine Juumlnger als stellvertretende Adressaten der Seligpreisungen und Weherufe (Lk 620-26) Lukas sieht die Kirche als Ort wo primaumlr die Feindesliebe ver-wirklicht sein will gerade auch gegenuumlber Nicht-Christen (und berichtet in der Apos-telgeschichte dass dies in der Urgemeinde auch geschehen sei) Nach Matthaumlus hat Jesus direkt seine Juumlnger angesprochen (Mt 51f) ndash aber so dass alles Volk (vgl 423ff) es houmlren und daruumlber staunen kann (Mt 728f) Die Pointe ist missionstheologisch Wenn die Juumlnger ausziehen alle Voumllker ihrerseits zu Juumlngern zu machen sollen sie nicht nur taufen sondern auch lehren bdquoalles zu haltenldquo was Jesus ihnen bdquogebotenldquo hat (Mt 2818ff)

d Die Feindschaften die Jesu Gebot anspricht sind so paradigmatisch ausgewaumlhlt und scharf zugespitzt dass prinzipiell jede denkbare Feindschaft im Blick stehen muss Es werden die empoumlrendsten Formen paradigmatisch konkretisiert

bull religioumlse Verfolgung (Lk 628 Mt 544) bull koumlrperliche Gewalt selbst wenn sie demuumltigen soll (Lk 628f Mt 539) bull wirtschaftliche Ausbeutung auch wenn sie sich den Anschein des Rechts gibt

(Mt 540) bull politisch-militaumlrische Unterdruumlckung auch wenn sie schier uumlbermaumlchtig

scheint (Mt 541) Jede denkbare Grenze der Feindesliebe wird uumlberschritten der Familie und Ver-wandtschaft des Freundeskreises der Glaubensgenossen der (mehr oder weniger) Guten der Angehoumlrigen des eigenen Volkes (vgl Lk 1025-37)

e Die Feindesliebe zeigt sich in den gleichfalls paradigmatischen Konkretisierungen bull als Fuumlrbitte fuumlr die Verfolger (Lk 628 par Mt 544) und Segnen der

Blasphemiker (Lk 628) ndash im Gegensatz zum Verfluchen und zur Bitte um ihre Vernichtung durch Gottes Strafgericht

bull als aktiver Gewaltverzicht gegenuumlber erlittener Uumlbermacht (Lk 629 Mt 538-42) ndash im Gegensatz dazu Unrecht mit gleicher Muumlnze heimzuzahlen

bull als selbstlose Unterstuumltzung der Armen auch wenn deren Bitten laumlstig faumlllt (Lk 630) ndash im Gegensatz zum Kalkuumll des do ut des

bull als engagierter Einsatz fuumlr das Gute (Lk 62733) ndash im Gegensatz zu einem Mitmachen wie zur Resignation

Feindesliebe ist nicht passiv sondern aktiv Sie kreiert eine neue Situation In diesen Konkretisierungen erhellt die Feindesliebe als radikalisierte Naumlchstenliebe (Lev 1917f) die im Kontext der Gottessliebe steht (Mk 1228-34 parr) Sie ist nicht das Einverstaumlndnis mit Unrecht Schuld und Schwaumlche schon gar nicht schwaumlchliches Hinnehmen von Unrecht sondern im Gegenteil starkes aber deshalb auch leidensfauml-higes Eintreten dafuumlr Boumlses durch Gutes zu uumlberwinden (Roumlm 1221)

Thomas Soumlding

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h Die Feindesliebe ist theologisch begruumlndet und motiviert bull Der theologische Grund ist das Handeln Gottes selbst der als Schoumlpfer und Er-

loumlser permanent Feindesliebe praktiziert (Lk 635 Mt 545 vgl Roumlm 55ff) o Mit dem Blick ins Buch der Natur zeigt Jesus nach Matthaumlus Gott als

den der auch den Boumlsen und Ungerechten das Leben schenkt weil er will dass sie leben (nicht weil er will oder toleriert dass sie Boumlses und Unrechtes tun)

o Der Vergleich mit dem aumlhnlichen Motiv bei Seneca der (nicht zu Feindesliebe aber) zu groszligmuumltiger Gelassenheit gegenuumlber Feinden mahnt macht den Unterschied deutlich denn nach ihm kann Gott nicht anders als die Unterstuumltzung der Boumlsen in Kauf zu nehmen wenn er den Guten helfen will ndash wofuumlr er sich entscheidet weil das Gute mehr wert ist als das Boumlse

bull Das theologische Motiv ist die Nachahmung Gottes die imitatio Dei (Lk 636 Mt 548) der die Verheiszligung ewigen Lebens gilt des bdquoLohnesldquo der in der Gotteskindschaft besteht

In dieser Theozentrik ist die Feindesliebe Zustimmung zu der Liebe mit der Gott auch die Ungerechten und Suumlnder liebt ndash ohne ihre Suumlnde gutzuheiszligen aber auch ohne ihnen wegen ihrer Schuld seine Zuwendung zu entziehen

i Das Gebot der Feindesliebe ist angewandte Christologie bull Einerseits ist es Jesus der das Gebot ndash nach Matthaumlus im Gegensatz zur herr-

schenden Auslegung des atl Liebesgebotes ndash der Feindesliebe aufstellt bull Andererseits ist es Jesus der das Gebot umfassend verwirklicht ndash vorbildlich

in seinem Leiden heilbringend in seiner Lebenshingabe aus reiner Liebe

f Das bdquoAuge um Auge Zahn um Zahnldquo (Ex 2124) begrenzt die Vergeltung das bdquoIch aber sage euchldquo aktiviert zur Versoumlhnung Das alttestamentliche Gebot der Naumlchstenliebe umfasst innerhalb Israels Feindesliebe (Lk 1917f) und weitet sie aus (Lev 1934) Das bdquoIch aber sage euchldquo setzt sich von einer Auslegung ab die aus Sorge um Gottes Gerechtigkeit die Grenzen der Erloumlsung zu eng zieht Dafuumlr gibt es Beispiele in Qumran Der originaumlre Bezug des Gebotes der Naumlchstenliebe auf das Volk Gottes wird nicht aufgegeben aber ausgeweitet

bull In der Juumlngerschaft ist ndash in Israel und uumlber Israel hinaus ndash der Ort an dem die Feindesliebe so praktiziert werden soll dass sie ausstrahlt (vgl Mt 513-16)

bull Zum Volk Gottes gehoumlren nicht nur die Juden und alle die an Jesus glauben Gott hat vielmehr Jesus (nach Matthaumlus wie nach Lukas) deshalb gesendet damit durch seinen Dienst am Heil der Menschen der reine Feindesliebe ist alle Voumllker zu seinem Volk werden Die Kirche repraumlsentiert und realisiert stellvertretend diese Heilsuniversalitaumlt Ihre Feindesliebe konkretisiert sie ethisch

Feindesliebe durchbricht das Prinzip der Vergeltung ohne das Prinzip der Gerechtig-keit aufzugeben Das ist nur deshalb sittlich erlaubt und geboten weil das Gebot in der Liebe Gottes selbst begruumlndet ist die sich in der Feindesliebe Jesu realisiert die ihrerseits der theologische Nerv seines Lebens und Sterbens zur Erloumlsung der Suumlnder ist

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j Das psychologische Problem das Sigmund Freud scharf markiert hat19

Das ethische Problem das Fjodor Dostojewksi (Die Bruumlder Karamasow) Iwan in den Mund legt lautet

besteht da-rin dass blinde Aggressionen entwickelt wer sich moralisch uumlberfordert Dieses Prob-lem laumlsst sich wohl nur spirituell loumlsen in der Nachfolge Jesu die auf seine Kraft setzt in den Nachfolgern das Gute zu tun

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k Das Problem der Erfuumlllbarkeit der Bergpredigt und speziell des Gebotes der Fein-desliebe bewegt Theologie und Kirche seit aumlltester Zeit Eine erhebliche Verschaumlrfung des Problems geschieht durch eine moderne Emotionalisierung der Feindesliebe Wird sie aber als Ausdruck der Agape verstanden begruumlndet sie ndash in der Nachfolge Jesu ndash eine Praxis des Glaubens aus der Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe Als solche kann sie durchaus eingeuumlbt ausgebildet und gefestigt werden Sie setzt die Suche nach dem besten Weg der Verwirklichung nicht aus sondern ein Sie entspricht aber darin der Gottebenbildlichkeit aller Menschen und der Gotteskindschaft der zu Erloumlsenden dass sie an der Unbedingtheit der Bejahung die Gott ihnen zuteilwerden laumlsst Anteil hat

dass Feindesliebe letztlich Kumpanei mit den Taumltern auf Kosten der Opfer sei Dieses Problem das haumlufig nicht gesehen wird laumlsst sich nur soteriolo-gisch loumlsen weil derjenige der selbst aus reiner Liebe die Schuld der anderen ertra-gen und vergeben hat das Reich Gottes als umfassende Vollendung von Gerechtig-keit Friede und Freude (Roumlm 1417) verwirklicht

19 Das Unbehagen in der Kultur in Gesammelte Werke 14 London 1948 419-506 468-475493-506 (Abschnitte V VIII) bdquoNachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte war die aumluszligerste Intoleranz des Christentums gegen die drauszligen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge gewordenldquo (374) 19 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 20 bdquoSchlieszliglich will ich auch gar nicht dass die Mutter den Peiniger umarmt der ihren Sohn von Hunden zerreiszligen lieszlig Sie darf sich nicht unterstehen ihm zu verzeihen Wenn sie will mag sie verzeihen soweit es sie selber angeht sie mag dem Peiniger ihr maszligloses Mutterleid ver-zeihen aber die Leiden ihres zerfleischten Kindes zu verzeihen hat sie kein Recht sie darf es nicht wagen dem Peiniger zu verzeihen auch wenn das Kind selber ihm verzieheldquo (Muumlnchen 1958 330f

Thomas Soumlding

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7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)

71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20) a Mit der Fuszligwaschung21

b Die Fuszligwaschung ist das Zeichen der Passion Ihr folgen Gespraumlche mit den Juumln-gern die zwar von Jesus gewaschen und gereinigt sind aber groumlszligte Schwierigkeiten haben zu verstehen was sich tut

beginnt der 2 Hauptteil des Johannesevangeliums Das oumlffentliche Wirken ist abgeschlossen Jesus konzentriert sich auf seine Juumlnger bevor er oumlffentlich hingerichtet werden wird Er bereitet sie auf seine Passion und seine Auferstehung vor die den Weg zu Gott bahnen werden

bull Auf die Fuszligwaschung folgt zuerst eine Trias unmittelbarer Konsequenzen o Judas wird als Verraumlter identifiziert und verlaumlsst den Juumlngerkreis (Joh

1321-30) o Die Juumlnger werden zur wechselseitigen Liebe gemahnt (Joh 1331-35) o Petrus wird seine Verleugnung vorhergesagt (Joh 1336ff)

bull Auf die Fuszligwaschung folgen ausfuumlhrliche Abschiedsworte (Joh 14-16) die in ein Abschiedsgebet muumlnden (Joh 17)

c Joh 131-20 ist uumlbersichtlich aufgebaut

Joh 131 Der Hintergrund Joh 132-5 Die Fuszligwaschung beim Mahl 132 Die Situation 133ff Die Handlung Jesu Joh 136-11 Das Gespraumlch mit Petrus 136 Der erste Einwand des Petrus 137 Die erste Antwort Jesu 138a Der zweite Einwand des Petrus 138b Die zweite Antwort Jesu 139 Der dritte Einwand des Petrus 1310 Die dritte Antwort Jesu 1311 Kommentar des Evangelisten Joh 1312-20 Die Deutung vor allen Juumlngern 1312-17 Die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu 1318f Die Ansage eines Verrates 1320 Die Juumlnger als Apostel

21 Vgl Luise Abramowski Die Geschichte von der Fuszligwaschung in Zeitschrift fuumlr Theologie und Kirche 102 (2005) 176-203

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d Die Exegese diskutiert in welchem Verhaumlltnis die beiden Deutungen zu einander stehen Die erste ist soteriologisch die zweite ethisch ausgerichtet

bull Recht oft wird aus der Doppelung auf ein literarisches Wachstum des Textes geschlossen

o Moumlglichkeit 1 Die soteriologische Deutung ist die aumlltere die paraumlnetische die se-kundaumlre22

o Moumlglichkeit 2 Die ethische Deutung ist urspruumlnglich die soteriologisch nachtraumlglich zwischengeschoben

23

Beide Ansaumltze sind von weitereichenden Voraussetzung zur relativen Chrono-logie des Corpus Johanneum gepraumlgt

o Wer den Ersten Johannesbrief fuumlr aumllter erachtet wird die ethische Deutung fuumlr urspruumlnglich halten

o Wer das Evangelium fuumlr aumllter erachtet wird eher die soteriologische Deutung als originaumlr einschaumltzen

Die ethische Deutung wird dann fuumlr sekundaumlr zu erachten wenn man zu dem Urteil gelangt die johanneische Theologie sei urspruumlnglich wenig konkret und eher spirituell ausgerichtet waumlhrend erst sekundaumlr Johannes gesamtkirchlich eingenordet worden sei Beide Ansaumltze gehen von einem literarischen Schichtenmodell aus das der Ei-genart johanneischer Literatur in den Evangelienerzaumlhlungen nicht angemes-sen ist Beide werden durch das Modell einer bdquorelectureldquo gemildert das ndash aumlhnlich wie in der Prophetenexegese des Alten Testaments ndash mit einer Fortschreibung der Texte rechnet aber sie zugleich als vergegenwaumlrtigende Aneignung des vor-gegebenen Textes versteht24

bull Es mehren sich wieder die Stimmen die Joh 13 als literarisch einheitlich anse-hen

Allerdings stoumlszligt dieses Modell auf die Schwie-rigkeit dass das Liebesgebot das die ethische Deutung vorbereitet in Joh 1331-35 dominant ist und nicht nur in Joh 15-16 ausgefuumlhrt sondern auch in Joh 1421 angebahnt wird

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Die Doppelung erklaumlrt sich aus der Theologie der Liebe Sie hat eine Innenseite die Liebe Jesu zu sein Seinen in der sich nach Joh 1421 die Liebe das Vaters zum Sohn ereignet und sie hat eine Auszligenseite die sich nach Joh 1331-35 und Joh 15 in der Bruderliebe der Juumlnger erweist von der die Welt angezogen werden wird (Joh 17)

Allerdings braucht es eine Erklaumlrung fuumlr die Deutung Eine moumlgliche Er-klaumlrung waumlre der Adressatenwechsel aber die Petrusszene spielt sich vor den Augen und Ohren aller ab

22 So Rudolf Schnackenburg Joh III passim 23 So Udo Schnelle Joh 237 Er will eine Ursprungsform (132a4512ab162017) die recht nahe bei Lk 22 und der Mahnung der Juumlnger zum Dienen steht zuerst in der johanneischen Schule (der er den Ersten Johannesbrief mit seiner Theologie der Liebe zurechnet) um die Vorbildethik erweitert sehen (1312c13-15) bevor der Evangelist selbst von der Einleitung an (131) konsequent seine soteriologische Deutung ins Fundament der Geschichte eingebaut habe (136-10ab) 24 So Jean Zumstein Joh 25 So Hartwig Thyen Joh

Thomas Soumlding

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711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus a Die Liebe Jesu zu den Seinen (Joh 131) verwirklicht die Liebe Gottes zur Welt (Joh 316) die von der Liebe des Vaters zum Sohn getragen wird (Joh 335 1017) Es ist die nach der Zwischennotiz von Jesu Freundschaft mit Martha Maria und Lazarus (Joh 115) erste Betonung der Agape Jesu von der spaumlter das Liebesgebot Joh 1334 und die Verheiszligung dauernden Beistandes der Juumlnger gedeckt ist (Joh 1421-31)

b In der Liebe Jesu zu den Seinen verbindet sich die Liebe Gottes zur Welt mit der Liebe Jesu zu seinen Freunden (Joh 15) Es ist eine unbedingte Bejahung und Wert-schaumltzung die auf Sympathie beruht und lebendig macht

c Die Liebe erweist Jesus den bdquoSeinenldquo bull Im Ruumlckraum steht Joh 19-13 dass die bdquoSeinenldquo den Logos abgelehnt haben

ndash bis auf diejenigen die an seinen Namen glauben und deshalb das Recht der Gotteskindschaft erhalten

bull Die bdquoSeinenldquo sind die Juumlnger die sich von Jesus in die Nachfolge haben rufen lassen (Joh 135-51) und in der galilaumlischen Krise Jesus nicht verlassen haben (Joh 660-71) Sie haben ihrerseits schwere Glaubensprobleme ndash aber werden sie durch Jesus uumlberwinden

bull In Joh 14 und Joh 17 wird erklaumlrt werden dass die Liebe Jesu zu den Seinen ndash wie die zum Lieblingsjuumlnger ndash nicht exklusiv sondern positiv zu verstehen ist

Dass Jesus den Seinen die Liebe bdquobis zum Endeldquo erweist verweist auf den Tod Jesu Das griechische Wort ist mehrdeutig teloj kann bdquoEndeldquo aber auch bdquoZielldquo bedeuten Beide Bedeutungen schwingen mit

bull Der Tod Jesu ist das definitive Ende seiner geschichtlichen Sendung das zu akzeptieren wird den Juumlngern ungeheuer schwer fallen

bull Der Tod Jesu ist das Ziel seines Wirkens insofern es seine Liebe und Hingabe definitiv werden laumlsst

Der Korrespondenzsatz ist das Todeswort Jesu Joh 1930 bull Es ist ein Gebet wie nach allen Synoptikern (Mk 1534 par Mt 2746 bdquoGott

mein Gott warum hast du mich verlassenldquo ndash Ps 222 Lk 2346 bdquoVater in deine Haumlnde gebe ich meinen Geistldquo ndash Ps 316) aber als letztes Offenba-rungswort an die Welt

bull Die traditionelle Uumlbersetzung lautet bdquoEs ist vollbrachtldquo Man kann aber auch sagen bdquovollendetldquo (Muumlnchner Neues Testament Bible de Jerusaleme bdquoCest acheveacuteldquo) oder bdquozu Endeldquo (King James Bible bdquoIt is finishedldquo)

Eine moumlgliche auf Joh 131 abgestimmte Uumlbersetzung waumlre (wie im Muumlnchener Neu-en Testament) bdquoEs ist vollendetldquo (tetelestai)

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712 Die Fuszligwaschung a Jemandem vor dem Mahl die Fuumlszlige zu waschen ist ein Dienst den traditioneller-weise Sklaven ihren Herren erweisen (vgl 1Sam 2541)26

Joh 1313f zeigt dass die sozialen Dimensionen der Fuszligwaschung klar vor Augen stehen der Gesamttext dass der Ritus sakramental gefuumlllt wird

Das Waschen der Fuumlszlige ist ein Ritus der Vorbereitung der eine koumlrperliche Wohltat mit einer Geste der Houmlflich-keit verbindet die Anerkennung und Ehrerbietung meint (Gen 184 vgl Lk 744) und zudem mit einer rituellen Bedeutung versieht die einen Uumlbergang gestaltet von drauszligen nach drinnen vom Alltag zum Fest vom Profanen zum Heiligen

7121 Die soteriologische Deutung a Im Gespraumlch mit Petrus wird die Bedeutung der Fuszligwaschung soteriologisch gedeu-tet Sie ist eine bdquoReinigungldquo ndash nicht wie in der Taufe sondern wie in der Buszlige Petrus braucht keine Wiederholung der Wiedergeburt die er als glaumlubig gewordener Taumluferjuumlnger erlebt hat aber er bedarf mehr als andere der Vergebung weil er ndash ent-gegen seinem Vorsatz ndash Jesus verleugnet Waumlhrend er sagt fuumlr Jesus sterben zu wol-len muss gerade fuumlr ihn Jesus sterben

b Petrus erkennt nach Joh 136 das Unmoumlgliche der Situation dass der Herr ihm ei-nen Sklavendienst leistet Er wehrt diesen Dienst doppelt ab (Joh 1368a) ndash so wie er nach Joh 1336ff nicht will dass Jesus fuumlr ihn sein Leben einsetzt In diesem Nein kommt eine Liebe zu Jesus zum Ausdruck die bestimmen will Gleichzeitig aber ist das Nein auch Ausdruck des Missverstaumlndnisses dass Petrus der Diakonie Jesu womoumlglich gar nicht bedarf Petrus verschaumlrft seinen Widerspruch der aus Unverstaumlndnis stammt indem er dann ganz gewaschen werden will (Joh 139) ndash womit er aber seine Berufung leugnet

c Jesus deckt das Missverstaumlndnis des Petrus auf Die Fuszligwaschung steht nicht am Anfang sondern an einer Biegung des Weges mit Jesus Die Weg-Gemeinschaft ist darin begruumlndet dass Jesus sich in seinen Dienst stellt Dem muss entsprechen dass Petrus sich den Dienst gefallen laumlsst Er muss Jesus so nahe wie in der Fuszligwaschung an sich heranlassen Er muss den Rollentausch akzeptieren Die Langversion von Vers 10 die durch den Codex Vaticanus gedeckt und als lectio difficilior gesichert ist entspricht dem Kontext

bull Im Bild Auch nach dem Vollbad macht man sich wieder die Fuumlszlige schmutzig Man laumlsst sie sich waschen damit auch sie sauber sind man laumlsst nur sie waschen weil der sonstige Koumlrper gereinigt ist

bull In der Sache Wer durch das Bad der Wiedergeburt die Taufe bdquoganz reinldquo geworden ist muss diese Reinheit aber durch seine Schuld verloren hat muss sich die Fuumlszlige waschen lassen um durch Jesus zu Gott zu gelangen Dem entspricht am ehesten eine Deutung auf die Buszlige wie sie orthodoxen Vaumlter favorisieren

26 Hellenistische Parallelen Neuer Wettstein I2 636-644

Thomas Soumlding

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7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
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      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
        • Markusevangelium
        • Lukasevangelium
        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 15: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

Thomas Soumlding

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4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)

a Das Doppelgebot der Naumlchstenliebe uumlberliefert das Neue Testament bei den Synop-tikern in drei Fassungen

bull Markus erzaumlhlt von einem Konsensgespraumlch uumlber das groumlszligte Gebot zwischen Jesus und einem Schriftgelehrten in Jerusalem (Mk 1228-34) die Antwort Je-su eine Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 fuumlhrt zu einer Verstaumlndi-gung

bull Matthaumlus stimmt in der Thematik der Frage der Ortsangabe und der Kombi-nation beider Liebesgebote mit Markus uumlberein (Mt 2234-40) macht aber aus dem Konsens- ein Streitgespraumlch Jesus wird von einem Gesetzeslehrer auf die Probe gestellt und besteht die Herausforderung glaumlnzend indem er das Doppelgebot formuliert

bull Lukas kennt in seiner Version (Lk 1025-37) gleichfalls die Kombination er uumlberliefert wie Matthaumlus einen bdquoGesetzeslehrerldquo ndash nicht wie Markus einen bdquoSchriftgelehrtenldquo ndash als Partner und erzaumlhlt ndash wie Matthaumlus anders als Mar-kus ndash von einem Konfliktgespraumlch Aber bei ihm findet der Dialog auf dem Weg Jesu nach Jerusalem statt (Lk 951 - 1927) die Frage zielt auf das ewige Leben (wie in Mk 1017 par Mt) der Dialog spitzt sich auf die Frage nach dem Naumlchsten zu die Jesus mit dem Samaritergleichnis beantwortet

Die markinische Version ist (nach der Zwei-Quellen-Theorie) die aumllteste Matthaumlus laumlsst sich als Kuumlrzung und Zuspitzung lesen Ob aber Lk 1025-37 sich als Markus-Redaktion erklaumlren laumlsst ist fraglich Womoumlglich hat es ndash durch Q ndash eine Doppeluumlber-lieferung gegeben die eine Kontroverse mit einem Gesetzeslehrer enthalten hat Noch wahrscheinlicher ist dass es von Anfang verschiedene Versionen gegeben hat die von den Evangelisten unterschiedlich rezipiert worden ist In jedem Fall bezeugt die Breite der Uumlberlieferung dass das Liebesgebot fuumlr Jesus typisch gewesen ist

b In allen Versionen des Doppelgebotes gibt es gemeinsame Charakteristika bull die Form des Gespraumlches in der das Doppelgebot entwickelt wird bull den Bezug auf das Gesetz bei Markus (1228) und Matthaumlus (2236) durch die

Jesus gestellte Ausgangsfrage bei Lukas durch die Ruumlckfrage Jesu (1026) bei Matthaumlus durch den Schlusssatz Jesu unterstrichen (2240)

bull die Kombination von Dtn 64f und Lev 1918 ad vocem Agape bull die Abfolge dass zuerst das Hauptgebot der Gotteslebe (Dtn 64f) dann das

Gebot der Naumlchstenliebe (Lev 1918f) kommt obwohl die kanonische Reihen-folge eine andere ist

Diese Charakteristika sind der Kernbestand der Tradition sie muumlssen zu Eckpfeilern der Interpretation werden

c Die unterschiedlichen Gespraumlchssituationen haben ihre eigene Logik bull Markus will zeigen dass es zu einer fundierten und breiten Verstaumlndigung Je-

su mit den Schriftgelehrten haumltte kommen koumlnnen auf der Basis der Tora bull Matthaumlus will zeigen dass die Hierarchisierung der Gebote strittig war und

geblieben ist bull Lukas will herausarbeiten dass das Doppelgebot Fragen stellt die Jesus be-

antworten kann Die unterschiedlichen Logiken koumlnnen nicht gegeneinander ausgespielt aber jeweils in das Evangelium eingeordnet werden in dem sie sich befinden

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d Alle Versionen bestimmen die Tora als Basis des Dialoges Alle bleiben im Rahmen juumldischer Hermeneutik Schrift legt Schrift aus Alle erweisen sich im religionsge-schichtlichen Vergleich als typisch jesuanisch

bull Einerseits gibt es im Judentum eine lebhafte Debatte aus didaktischen und theologischen Gruumlnden zu einer Hierarchie der Gebote zu gelangen In dieser Debatte ragt das Liebesgebot heraus Es gibt aber immer auch starke Kontro-versen uumlber die Richtigkeit und Guumlltigkeit solcher Elementarisierungen

bull Anderseits steht Jesus nicht gegen die Tora sonder erfuumlllt sie (vgl Mt 517-20) Dese Erfuumlllung hat eine spezifische Qualitaumlt diese Qualitaumlt bezeichnet das Liebesgebot das Jesus selbst praktiziert

Das Doppelgebot bricht nicht aus dem Gesetz aus sondern schlieszligt es auf

e Im fruumlhen Judentum gibt es keine direkte Parallele zum jesuanischen Doppelgebot Aber es gibt eine ganze Reihe von strukturaumlquivalenten Formulierungen sowohl im palaumlstinischen wie auch im hellenistischen Judentum Zum Teil sind sie direkt als Ge-bot einer doppelten Liebe zum Teil mit Varianten vor allem der Gottesfurcht gebil-det Diese Parallelen erhellen den juumldischen Kontext in dem das Doppelgebot steht Auffaumlllig ist in der Jesustradition zweierlei

1 die direkte Schriftzitation 2 der explizite Bezug zur Tora der reflektiert wird

Beides spiegelt die Programmatik der jesuanischen Position

f Die Struktur der Tradition leitet in jeder Variante von der Gottes- zur Naumlchstenliebe und bindet das Liebesgebot zusammen

bull Es gibt keine Gottesliebe ohne Naumlchstenliebe weil Gott den es zu lieben gilt nicht nur die Person liebt die lieben soll sondern auch diejenige die geliebt werden soll Diese Liebe Gottes als Basis ist im Doppelgebot nicht expliziert aber impliziert

o in der Einzigkeit Gottes so wie sie in der Bibel Israels und in der Jesus-tradition als Qualifikation des Schoumlpfers und Erhalters des Versoumlh-ners und Vollender entfaltet wird

o im Wort Agape das eo ipso von der Liebe Gottes gespeist wird Das Doppelgebot ist das beste Gegengift gegen Heuchelei

bull Es gibt keine Naumlchstenliebe ohne Gottesliebe ndash nicht weil es keine Ethik keine Menschlichkeit kein Mitleid und keine Solidaritaumlt ohne Gottesliebe gaumlbe (im Gegenteil) sondern weil die Naumlchstenliebe wie sie alt- und neutestamentlich expliziert wird den Naumlchsten als die von Gott geliebte Person liebt also Ein-stimmung in die Liebe Gottes ist die nur in der Liebe zu Gott explizit beant-wortet werden kann

bull Es gibt einen Primat der Gottes- vor der Naumlchstenliebe ndash nicht weil die Got-tes- wichtiger als die Naumlchstenliebe waumlre sondern weil Gott der Schoumlpfer all derer ist die lieben und geliebt werden sollen und sie alle zur Teilhabe an seiner Liebe fuumlhren will

Die Einheit der Gottes- und Naumlchstenliebe ist keine Identitaumlt sondern eine Spannung die ein hohes Energiefeld aufbaut

g Das Doppelgebot selbst enthaumllt keine Konkretion steht aber in den Evangelien die sich in die Tradition des Alten Testaments stellen und wird dadurch einerseits zum Kompass durch die Tora andererseits zum Katalysator von Aktualisierungen die pa-radigmatisch von Jesus angesprochen werden

Thomas Soumlding

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5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)

a Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter antwortet auf die wichtige Frage bdquoWer ist mein Naumlchsterldquo (Lk 1025-37)

bull Die Frage ist wichtig weil es um die Konkretionen der Liebe geht und Lev 1917f eine klare Antwort gibt Die Naumlchsten sind die Mit-Glieder des Gottes-volkes Hinzu treten die bdquoFremdenldquo (Lev 1934) die dauerhaft in Israel inte-griert sind nach der Septuaginta die Proselyten Die Konzentration auf diese Naumlchsten ist theologisch durch die gemeinsame Berufung des Volkes zur Hei-ligkeit begruumlndet Sie bewaumlhrt sich in Konflikten umfasst also de facto auch Feindesliebe

bull Die Frage wird von Jesus mit einer Geschichte beantwortet die auf provokan-te Weise einen Samariter zu einem Vorbild werden laumlsst Dass Jesus mit ei-nem Gleichnis antwortet setzt auf die argumentative Kraft einer Erzaumlhlung die nicht nur eine Welt vor Augen stellen sondern auch eine Sache klaumlren kann und zwar so dass Anteilnahme entsteht eine Verstrickung in die Ge-schichte durch Dramatik und Identifikation

Die Antwort auf die Frage wird nicht ohne ihre Umkehrung gegeben bdquoWer hellip ist zum Naumlchsten dessen geworden der unter die Raumluber gefallen istldquo (Lk 1036) Damit wird die Ausgangsfrage nicht desavouiert sondern konkretisiert Wer nach dem Naumlchsten fragt fragt auch nach sich selbst Und wer sich selbst von Naumlchsten umgeben weiszlig denen er verpflichtet ist muss selbst zum Naumlchsten derer werden wollen die auf Hilfe angewiesen sind

b Die Geschichte gehoumlrt zum Doppelgebot das bei Lukas (1025ff) wie bei Matthaumlus (2235-40) ein Streitgespraumlch ist waumlhrend es bei Markus ein Konsensgespraumlch ist (Mk 1228-34) Lukas hat es in die Zeit des oumlffentlichen Wirkens Jesu vorgezogen und kompositorisch konkretisiert

bull Mit einem bdquoGesetzeslehrerldquo trifft Jesus auf seinem Weg einen Experte fuumlr die Frage die er stellt

bull Das Doppelgebotsthema wird nicht nur durch das Samaritergleichnis sondern auch durch die Fortsetzung konkretisiert

o Die Beispielgeschichte Lk 1030-35 thematisiert das Tun (Lk 1037) o Die folgende Geschichte von Maria und Martha akzentuiert das Houmlren

(Lk 1038-42) o Die anschlieszligende Gebetslehre konkretisiert jene Gottesliebe die aus

dem Houmlren zum Sprechen fuumlhrt mit dem Vaterunser als Kern Durch die Komposition wird die Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe unter-strichen

Die Szenerie unterstreicht die Brisanz der Frage nach der Geltung des Gesetzes und erhoumlht damit den Stellenwert des Gleichnisses damit aber auch die Praumlgnanz des Samariterbildes Jesu

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c Der gesamte Text hat eine dialogische Struktur 1 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach dem Sinn des Lebens (Lk 1025) 2 Jesus fragt zuruumlck indem er auf das Gesetz verweist (1026) 3 Der Gesetzeslehrer zitiert das Doppelgebot (Lk 1027) 4 Jesus bestaumltigt und fordert zur Praxis (Lk 1028) 5 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach der Identitaumlt des Naumlchsten (Lk 1029) 6 Jesus fragt zuruumlck indem er das Gleichnis erzaumlhlt (Lk 1030-36) 7 Der Gesetzeslehrer gibt die richtige Antwort (Lk 1037a) 8 Jesus fordert zum Handeln (Lk 1037b)

Jesus agiert im sokratischen Stil Er laumlsst den Fragesteller selbst die Antwort finden ndash nicht irgendwo sondern im Gesetz und in seinem Gewissen Das spiegelt fuumlr Lukas die Uumlberlegenheit Jesu und die Menschlichkeit seiner Ethik

d Das Gleichnis arbeitet mit einem scharfen Kontrast bull Auf der einen Seite stehen der Priester und der Levit Repraumlsentanten des Ju-

dentums Sie muumlssten genau wissen was zu tun ist Sie haben wenn sie wie der Verletzte auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho sind auch keinen Grund sich aus kultischen Uumlberlegungen um sich nicht zu verunreinigen an einem vorbeizugehen von dem sie glauben dass er tot sei wenn sie auf dem Weg zuruumlck sind ist fuumlr die ggf erforderliche rituelle Reinigung genuumlgend Zeit

bull Auf der anderen Seite steht der Samariter dem man es am wenigsten zutrau-en wuumlrde dass er tut was recht ist Dessen Rolle wird aber von Jesus stark betont nicht nur durch den Kontrast sondern auch dadurch dass er weit uumlber die Erste Hilfe hinaus mehr als genug tut um dem Verletzten zu helfen Er selbst leistet den sprichwoumlrtlich gewordenen Samariterdienst und treibt ungewoumlhnlich intensive Vorsorge dass der Mann nachhaltig gesundet ndash nach allen Regeln der (damaligen) aumlrztlichen Kunst

Dieser Kontrast war den Menschen sowohl zur Zeit Jesu als auch zur Zeit des Evange-listen Lukas deutlich Lk 952-56 hat ihn frisch in Erinnerung gerufen

e Jesus laumlsst durch die Kunst seiner narrativen Argumentation dem Gesetzeslehrer keine Chance nicht von seiner Antwort uumlberzeugt zu werden die seinen eigenen mo-ralischen Standpunkt veraumlndert Alle Menschen die ein Herz im Leibe haben werden erkennen dass nicht der Priester nicht der Levit sondern ausgerechnet der feindli-che der bdquohaumlretischeldquo Samariter das einzig Richtige getan hat indem er dem unter die Raumluber gefallenen Menschen geholfen hat Das aber ist schon der erste Schritt in die Richtung die Jesus den Menschen zeigt damit sie Gott und den Naumlchsten neu entde-cken koumlnnen Wer aber nicht nur tatkraumlftig wie der Samariter hilft sondern als Jude weiszlig dass er ihn wegen seiner Naumlchstenliebe nachahmen sollte hat eine Grenze uumlberschritten die durch das Nahekommen der Basileia durchlaumlssig geworden ist Der Gesetzeslehrer versperrt sich dieser Lektion nicht Er ist deshalb ein positives Beispiel

Literatur Andregrave Lacoque Lhermeacuteneutique de Jeacutesus au sujet de la loi dans la Parabole du Bon Samari-

tain in Etudes theacuteologiques et religieuses 78 (2003) 25-46

Ruben Zimmermann Die Etho-Poietik des Samaritergleichnisses (Lk 1025-37) Eine Ethik des Schauens in einer Kultur des Wegschauens in Wort und Dienst 29 (2007) 51-69

Thomas Soumlding

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6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)

a Die fuumlnfte und sechste Antithese bilden bei Matthaumlus den Houmlhepunkt der Reihe die sich am Dekalog orientiert in der Feldrede bei Lukas markiert das Gebot der Feindes-liebe den Mittelpunkt der Ethik Die Feindesliebe bezeichnet in groumlszligter Konsequenz den Standpunkt der Moralitaumlt steht aber auch im Brennpunkt der Kritik

bull Ist Gewaltlosigkeit wuumlrdelos verantwortungslos kraftlos So Nietzsche14

bull Ist Feindesliebe unrealistisch So der gesunde Menschenverstand und das Ur-teil professioneller Politik

15 So auch der juumldische Einwand16 den zuletzt Jacob Neusner vorgetragen hat17

Die antithetische Form bei Matthaumlus zeigt das Potential der Kontroverse Es ist nicht das Ziel der Exegese sie aufzuloumlsen sondern sie auszuloumlsen

b Der Blick in die Synopse zeigt im Vergleich mit Lk 627-36 zweierlei bull Die antithetische Form ist ndash hier wie sonst ndash ein matthaumlisches Spezifikum Sie

dient der Profilierung der Ethik Jesu im Gegenuumlber zur Tora ndash unter dem Vor-zeichen der Erfuumlllung (Mt 517-20)

bull Bei Lukas ist Gewaltverzicht direkter Ausdruck der Feindesliebe Matthaumlus dif-ferenziert und kombiniert um zu akzentuieren

Die Synopse fordert bei der lukanischen Uumlberlieferungsform anzusetzen aber die matthaumlische Variante nicht als sekundaumlr abzutun sondern als Reflex jesuanischer Konkretionen in den Blick zu nehmen

c Das Gebot der Feindesliebe tradiert uumlber die Redenquelle (Q) ist Urgestein und Herzstuumlck der Ethik Jesu18

14 Also sprach Zarathustra III 21 (Werke VI1) bdquoIch sollte nur Feinde haben die zu hassen sind aber nicht Feinde zum Verachten ihr muumlsst stolz auf euren Feind sein (260)ldquo

Die Stellung in der matthaumlischen Bergpredigt und der luka-nischen Feldrede zeigt dass im Urchristentum diese zentrale Bedeutung gesehen und tradiert worden ist Paulus reflektiert sie in Roumlm 129-21 Auch im johanneischen Kon-zept der Bruderliebe ist sie vorausgesetzt

15 Max Weber Politik als Beruf (1919) in ders Gesammelte politische Schriften hg v J Winckelmann Tuumlbingen 31971 505-560 bdquoMit der Bergpredigt ist es eine ernstere Sache als die glauben die diese Gebote heute gern zitieren Wenn es in Konsequenz der akosmistischen Liebesethik heiszligt dem Uumlbel nicht widerstehen mit Gewaltlsquo ndash so gilt fuumlr den Politiker der Satz du sollst dem Uumlbel gewaltsam widerstehen sonst ndash bist du fuumlr seine Uumlberhandnahme verantwortlich (550f)ldquo 16 Der Jude Tryphon plaumldiert nach Justin dial 52 bdquoIch weiszlig auch dass eure Lehren die in dem sogenannten Evangelium stehen so erhaben und groszlig sind dass wie ich meine kein Mensch sie beobachten kannldquo 17 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 Neuausgabe Frei-burg - Basel - Wien 2007 (engl 1993) Neusner praumlzisiert Jesus maszlige sich das Recht Gottes an so zu sprechen wie es die Bergpredigt uumlberliefert 18 Th Soumlding Die Verkuumlndigung Jesu 570-583

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d Nach Lk 6 sind alle Houmlrer der Botschaft Jesu zur Feindesliebe gerufen In erster Linie sind es seine Juumlnger als stellvertretende Adressaten der Seligpreisungen und Weherufe (Lk 620-26) Lukas sieht die Kirche als Ort wo primaumlr die Feindesliebe ver-wirklicht sein will gerade auch gegenuumlber Nicht-Christen (und berichtet in der Apos-telgeschichte dass dies in der Urgemeinde auch geschehen sei) Nach Matthaumlus hat Jesus direkt seine Juumlnger angesprochen (Mt 51f) ndash aber so dass alles Volk (vgl 423ff) es houmlren und daruumlber staunen kann (Mt 728f) Die Pointe ist missionstheologisch Wenn die Juumlnger ausziehen alle Voumllker ihrerseits zu Juumlngern zu machen sollen sie nicht nur taufen sondern auch lehren bdquoalles zu haltenldquo was Jesus ihnen bdquogebotenldquo hat (Mt 2818ff)

d Die Feindschaften die Jesu Gebot anspricht sind so paradigmatisch ausgewaumlhlt und scharf zugespitzt dass prinzipiell jede denkbare Feindschaft im Blick stehen muss Es werden die empoumlrendsten Formen paradigmatisch konkretisiert

bull religioumlse Verfolgung (Lk 628 Mt 544) bull koumlrperliche Gewalt selbst wenn sie demuumltigen soll (Lk 628f Mt 539) bull wirtschaftliche Ausbeutung auch wenn sie sich den Anschein des Rechts gibt

(Mt 540) bull politisch-militaumlrische Unterdruumlckung auch wenn sie schier uumlbermaumlchtig

scheint (Mt 541) Jede denkbare Grenze der Feindesliebe wird uumlberschritten der Familie und Ver-wandtschaft des Freundeskreises der Glaubensgenossen der (mehr oder weniger) Guten der Angehoumlrigen des eigenen Volkes (vgl Lk 1025-37)

e Die Feindesliebe zeigt sich in den gleichfalls paradigmatischen Konkretisierungen bull als Fuumlrbitte fuumlr die Verfolger (Lk 628 par Mt 544) und Segnen der

Blasphemiker (Lk 628) ndash im Gegensatz zum Verfluchen und zur Bitte um ihre Vernichtung durch Gottes Strafgericht

bull als aktiver Gewaltverzicht gegenuumlber erlittener Uumlbermacht (Lk 629 Mt 538-42) ndash im Gegensatz dazu Unrecht mit gleicher Muumlnze heimzuzahlen

bull als selbstlose Unterstuumltzung der Armen auch wenn deren Bitten laumlstig faumlllt (Lk 630) ndash im Gegensatz zum Kalkuumll des do ut des

bull als engagierter Einsatz fuumlr das Gute (Lk 62733) ndash im Gegensatz zu einem Mitmachen wie zur Resignation

Feindesliebe ist nicht passiv sondern aktiv Sie kreiert eine neue Situation In diesen Konkretisierungen erhellt die Feindesliebe als radikalisierte Naumlchstenliebe (Lev 1917f) die im Kontext der Gottessliebe steht (Mk 1228-34 parr) Sie ist nicht das Einverstaumlndnis mit Unrecht Schuld und Schwaumlche schon gar nicht schwaumlchliches Hinnehmen von Unrecht sondern im Gegenteil starkes aber deshalb auch leidensfauml-higes Eintreten dafuumlr Boumlses durch Gutes zu uumlberwinden (Roumlm 1221)

Thomas Soumlding

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h Die Feindesliebe ist theologisch begruumlndet und motiviert bull Der theologische Grund ist das Handeln Gottes selbst der als Schoumlpfer und Er-

loumlser permanent Feindesliebe praktiziert (Lk 635 Mt 545 vgl Roumlm 55ff) o Mit dem Blick ins Buch der Natur zeigt Jesus nach Matthaumlus Gott als

den der auch den Boumlsen und Ungerechten das Leben schenkt weil er will dass sie leben (nicht weil er will oder toleriert dass sie Boumlses und Unrechtes tun)

o Der Vergleich mit dem aumlhnlichen Motiv bei Seneca der (nicht zu Feindesliebe aber) zu groszligmuumltiger Gelassenheit gegenuumlber Feinden mahnt macht den Unterschied deutlich denn nach ihm kann Gott nicht anders als die Unterstuumltzung der Boumlsen in Kauf zu nehmen wenn er den Guten helfen will ndash wofuumlr er sich entscheidet weil das Gute mehr wert ist als das Boumlse

bull Das theologische Motiv ist die Nachahmung Gottes die imitatio Dei (Lk 636 Mt 548) der die Verheiszligung ewigen Lebens gilt des bdquoLohnesldquo der in der Gotteskindschaft besteht

In dieser Theozentrik ist die Feindesliebe Zustimmung zu der Liebe mit der Gott auch die Ungerechten und Suumlnder liebt ndash ohne ihre Suumlnde gutzuheiszligen aber auch ohne ihnen wegen ihrer Schuld seine Zuwendung zu entziehen

i Das Gebot der Feindesliebe ist angewandte Christologie bull Einerseits ist es Jesus der das Gebot ndash nach Matthaumlus im Gegensatz zur herr-

schenden Auslegung des atl Liebesgebotes ndash der Feindesliebe aufstellt bull Andererseits ist es Jesus der das Gebot umfassend verwirklicht ndash vorbildlich

in seinem Leiden heilbringend in seiner Lebenshingabe aus reiner Liebe

f Das bdquoAuge um Auge Zahn um Zahnldquo (Ex 2124) begrenzt die Vergeltung das bdquoIch aber sage euchldquo aktiviert zur Versoumlhnung Das alttestamentliche Gebot der Naumlchstenliebe umfasst innerhalb Israels Feindesliebe (Lk 1917f) und weitet sie aus (Lev 1934) Das bdquoIch aber sage euchldquo setzt sich von einer Auslegung ab die aus Sorge um Gottes Gerechtigkeit die Grenzen der Erloumlsung zu eng zieht Dafuumlr gibt es Beispiele in Qumran Der originaumlre Bezug des Gebotes der Naumlchstenliebe auf das Volk Gottes wird nicht aufgegeben aber ausgeweitet

bull In der Juumlngerschaft ist ndash in Israel und uumlber Israel hinaus ndash der Ort an dem die Feindesliebe so praktiziert werden soll dass sie ausstrahlt (vgl Mt 513-16)

bull Zum Volk Gottes gehoumlren nicht nur die Juden und alle die an Jesus glauben Gott hat vielmehr Jesus (nach Matthaumlus wie nach Lukas) deshalb gesendet damit durch seinen Dienst am Heil der Menschen der reine Feindesliebe ist alle Voumllker zu seinem Volk werden Die Kirche repraumlsentiert und realisiert stellvertretend diese Heilsuniversalitaumlt Ihre Feindesliebe konkretisiert sie ethisch

Feindesliebe durchbricht das Prinzip der Vergeltung ohne das Prinzip der Gerechtig-keit aufzugeben Das ist nur deshalb sittlich erlaubt und geboten weil das Gebot in der Liebe Gottes selbst begruumlndet ist die sich in der Feindesliebe Jesu realisiert die ihrerseits der theologische Nerv seines Lebens und Sterbens zur Erloumlsung der Suumlnder ist

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j Das psychologische Problem das Sigmund Freud scharf markiert hat19

Das ethische Problem das Fjodor Dostojewksi (Die Bruumlder Karamasow) Iwan in den Mund legt lautet

besteht da-rin dass blinde Aggressionen entwickelt wer sich moralisch uumlberfordert Dieses Prob-lem laumlsst sich wohl nur spirituell loumlsen in der Nachfolge Jesu die auf seine Kraft setzt in den Nachfolgern das Gute zu tun

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k Das Problem der Erfuumlllbarkeit der Bergpredigt und speziell des Gebotes der Fein-desliebe bewegt Theologie und Kirche seit aumlltester Zeit Eine erhebliche Verschaumlrfung des Problems geschieht durch eine moderne Emotionalisierung der Feindesliebe Wird sie aber als Ausdruck der Agape verstanden begruumlndet sie ndash in der Nachfolge Jesu ndash eine Praxis des Glaubens aus der Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe Als solche kann sie durchaus eingeuumlbt ausgebildet und gefestigt werden Sie setzt die Suche nach dem besten Weg der Verwirklichung nicht aus sondern ein Sie entspricht aber darin der Gottebenbildlichkeit aller Menschen und der Gotteskindschaft der zu Erloumlsenden dass sie an der Unbedingtheit der Bejahung die Gott ihnen zuteilwerden laumlsst Anteil hat

dass Feindesliebe letztlich Kumpanei mit den Taumltern auf Kosten der Opfer sei Dieses Problem das haumlufig nicht gesehen wird laumlsst sich nur soteriolo-gisch loumlsen weil derjenige der selbst aus reiner Liebe die Schuld der anderen ertra-gen und vergeben hat das Reich Gottes als umfassende Vollendung von Gerechtig-keit Friede und Freude (Roumlm 1417) verwirklicht

19 Das Unbehagen in der Kultur in Gesammelte Werke 14 London 1948 419-506 468-475493-506 (Abschnitte V VIII) bdquoNachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte war die aumluszligerste Intoleranz des Christentums gegen die drauszligen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge gewordenldquo (374) 19 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 20 bdquoSchlieszliglich will ich auch gar nicht dass die Mutter den Peiniger umarmt der ihren Sohn von Hunden zerreiszligen lieszlig Sie darf sich nicht unterstehen ihm zu verzeihen Wenn sie will mag sie verzeihen soweit es sie selber angeht sie mag dem Peiniger ihr maszligloses Mutterleid ver-zeihen aber die Leiden ihres zerfleischten Kindes zu verzeihen hat sie kein Recht sie darf es nicht wagen dem Peiniger zu verzeihen auch wenn das Kind selber ihm verzieheldquo (Muumlnchen 1958 330f

Thomas Soumlding

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7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)

71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20) a Mit der Fuszligwaschung21

b Die Fuszligwaschung ist das Zeichen der Passion Ihr folgen Gespraumlche mit den Juumln-gern die zwar von Jesus gewaschen und gereinigt sind aber groumlszligte Schwierigkeiten haben zu verstehen was sich tut

beginnt der 2 Hauptteil des Johannesevangeliums Das oumlffentliche Wirken ist abgeschlossen Jesus konzentriert sich auf seine Juumlnger bevor er oumlffentlich hingerichtet werden wird Er bereitet sie auf seine Passion und seine Auferstehung vor die den Weg zu Gott bahnen werden

bull Auf die Fuszligwaschung folgt zuerst eine Trias unmittelbarer Konsequenzen o Judas wird als Verraumlter identifiziert und verlaumlsst den Juumlngerkreis (Joh

1321-30) o Die Juumlnger werden zur wechselseitigen Liebe gemahnt (Joh 1331-35) o Petrus wird seine Verleugnung vorhergesagt (Joh 1336ff)

bull Auf die Fuszligwaschung folgen ausfuumlhrliche Abschiedsworte (Joh 14-16) die in ein Abschiedsgebet muumlnden (Joh 17)

c Joh 131-20 ist uumlbersichtlich aufgebaut

Joh 131 Der Hintergrund Joh 132-5 Die Fuszligwaschung beim Mahl 132 Die Situation 133ff Die Handlung Jesu Joh 136-11 Das Gespraumlch mit Petrus 136 Der erste Einwand des Petrus 137 Die erste Antwort Jesu 138a Der zweite Einwand des Petrus 138b Die zweite Antwort Jesu 139 Der dritte Einwand des Petrus 1310 Die dritte Antwort Jesu 1311 Kommentar des Evangelisten Joh 1312-20 Die Deutung vor allen Juumlngern 1312-17 Die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu 1318f Die Ansage eines Verrates 1320 Die Juumlnger als Apostel

21 Vgl Luise Abramowski Die Geschichte von der Fuszligwaschung in Zeitschrift fuumlr Theologie und Kirche 102 (2005) 176-203

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d Die Exegese diskutiert in welchem Verhaumlltnis die beiden Deutungen zu einander stehen Die erste ist soteriologisch die zweite ethisch ausgerichtet

bull Recht oft wird aus der Doppelung auf ein literarisches Wachstum des Textes geschlossen

o Moumlglichkeit 1 Die soteriologische Deutung ist die aumlltere die paraumlnetische die se-kundaumlre22

o Moumlglichkeit 2 Die ethische Deutung ist urspruumlnglich die soteriologisch nachtraumlglich zwischengeschoben

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Beide Ansaumltze sind von weitereichenden Voraussetzung zur relativen Chrono-logie des Corpus Johanneum gepraumlgt

o Wer den Ersten Johannesbrief fuumlr aumllter erachtet wird die ethische Deutung fuumlr urspruumlnglich halten

o Wer das Evangelium fuumlr aumllter erachtet wird eher die soteriologische Deutung als originaumlr einschaumltzen

Die ethische Deutung wird dann fuumlr sekundaumlr zu erachten wenn man zu dem Urteil gelangt die johanneische Theologie sei urspruumlnglich wenig konkret und eher spirituell ausgerichtet waumlhrend erst sekundaumlr Johannes gesamtkirchlich eingenordet worden sei Beide Ansaumltze gehen von einem literarischen Schichtenmodell aus das der Ei-genart johanneischer Literatur in den Evangelienerzaumlhlungen nicht angemes-sen ist Beide werden durch das Modell einer bdquorelectureldquo gemildert das ndash aumlhnlich wie in der Prophetenexegese des Alten Testaments ndash mit einer Fortschreibung der Texte rechnet aber sie zugleich als vergegenwaumlrtigende Aneignung des vor-gegebenen Textes versteht24

bull Es mehren sich wieder die Stimmen die Joh 13 als literarisch einheitlich anse-hen

Allerdings stoumlszligt dieses Modell auf die Schwie-rigkeit dass das Liebesgebot das die ethische Deutung vorbereitet in Joh 1331-35 dominant ist und nicht nur in Joh 15-16 ausgefuumlhrt sondern auch in Joh 1421 angebahnt wird

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Die Doppelung erklaumlrt sich aus der Theologie der Liebe Sie hat eine Innenseite die Liebe Jesu zu sein Seinen in der sich nach Joh 1421 die Liebe das Vaters zum Sohn ereignet und sie hat eine Auszligenseite die sich nach Joh 1331-35 und Joh 15 in der Bruderliebe der Juumlnger erweist von der die Welt angezogen werden wird (Joh 17)

Allerdings braucht es eine Erklaumlrung fuumlr die Deutung Eine moumlgliche Er-klaumlrung waumlre der Adressatenwechsel aber die Petrusszene spielt sich vor den Augen und Ohren aller ab

22 So Rudolf Schnackenburg Joh III passim 23 So Udo Schnelle Joh 237 Er will eine Ursprungsform (132a4512ab162017) die recht nahe bei Lk 22 und der Mahnung der Juumlnger zum Dienen steht zuerst in der johanneischen Schule (der er den Ersten Johannesbrief mit seiner Theologie der Liebe zurechnet) um die Vorbildethik erweitert sehen (1312c13-15) bevor der Evangelist selbst von der Einleitung an (131) konsequent seine soteriologische Deutung ins Fundament der Geschichte eingebaut habe (136-10ab) 24 So Jean Zumstein Joh 25 So Hartwig Thyen Joh

Thomas Soumlding

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711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus a Die Liebe Jesu zu den Seinen (Joh 131) verwirklicht die Liebe Gottes zur Welt (Joh 316) die von der Liebe des Vaters zum Sohn getragen wird (Joh 335 1017) Es ist die nach der Zwischennotiz von Jesu Freundschaft mit Martha Maria und Lazarus (Joh 115) erste Betonung der Agape Jesu von der spaumlter das Liebesgebot Joh 1334 und die Verheiszligung dauernden Beistandes der Juumlnger gedeckt ist (Joh 1421-31)

b In der Liebe Jesu zu den Seinen verbindet sich die Liebe Gottes zur Welt mit der Liebe Jesu zu seinen Freunden (Joh 15) Es ist eine unbedingte Bejahung und Wert-schaumltzung die auf Sympathie beruht und lebendig macht

c Die Liebe erweist Jesus den bdquoSeinenldquo bull Im Ruumlckraum steht Joh 19-13 dass die bdquoSeinenldquo den Logos abgelehnt haben

ndash bis auf diejenigen die an seinen Namen glauben und deshalb das Recht der Gotteskindschaft erhalten

bull Die bdquoSeinenldquo sind die Juumlnger die sich von Jesus in die Nachfolge haben rufen lassen (Joh 135-51) und in der galilaumlischen Krise Jesus nicht verlassen haben (Joh 660-71) Sie haben ihrerseits schwere Glaubensprobleme ndash aber werden sie durch Jesus uumlberwinden

bull In Joh 14 und Joh 17 wird erklaumlrt werden dass die Liebe Jesu zu den Seinen ndash wie die zum Lieblingsjuumlnger ndash nicht exklusiv sondern positiv zu verstehen ist

Dass Jesus den Seinen die Liebe bdquobis zum Endeldquo erweist verweist auf den Tod Jesu Das griechische Wort ist mehrdeutig teloj kann bdquoEndeldquo aber auch bdquoZielldquo bedeuten Beide Bedeutungen schwingen mit

bull Der Tod Jesu ist das definitive Ende seiner geschichtlichen Sendung das zu akzeptieren wird den Juumlngern ungeheuer schwer fallen

bull Der Tod Jesu ist das Ziel seines Wirkens insofern es seine Liebe und Hingabe definitiv werden laumlsst

Der Korrespondenzsatz ist das Todeswort Jesu Joh 1930 bull Es ist ein Gebet wie nach allen Synoptikern (Mk 1534 par Mt 2746 bdquoGott

mein Gott warum hast du mich verlassenldquo ndash Ps 222 Lk 2346 bdquoVater in deine Haumlnde gebe ich meinen Geistldquo ndash Ps 316) aber als letztes Offenba-rungswort an die Welt

bull Die traditionelle Uumlbersetzung lautet bdquoEs ist vollbrachtldquo Man kann aber auch sagen bdquovollendetldquo (Muumlnchner Neues Testament Bible de Jerusaleme bdquoCest acheveacuteldquo) oder bdquozu Endeldquo (King James Bible bdquoIt is finishedldquo)

Eine moumlgliche auf Joh 131 abgestimmte Uumlbersetzung waumlre (wie im Muumlnchener Neu-en Testament) bdquoEs ist vollendetldquo (tetelestai)

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712 Die Fuszligwaschung a Jemandem vor dem Mahl die Fuumlszlige zu waschen ist ein Dienst den traditioneller-weise Sklaven ihren Herren erweisen (vgl 1Sam 2541)26

Joh 1313f zeigt dass die sozialen Dimensionen der Fuszligwaschung klar vor Augen stehen der Gesamttext dass der Ritus sakramental gefuumlllt wird

Das Waschen der Fuumlszlige ist ein Ritus der Vorbereitung der eine koumlrperliche Wohltat mit einer Geste der Houmlflich-keit verbindet die Anerkennung und Ehrerbietung meint (Gen 184 vgl Lk 744) und zudem mit einer rituellen Bedeutung versieht die einen Uumlbergang gestaltet von drauszligen nach drinnen vom Alltag zum Fest vom Profanen zum Heiligen

7121 Die soteriologische Deutung a Im Gespraumlch mit Petrus wird die Bedeutung der Fuszligwaschung soteriologisch gedeu-tet Sie ist eine bdquoReinigungldquo ndash nicht wie in der Taufe sondern wie in der Buszlige Petrus braucht keine Wiederholung der Wiedergeburt die er als glaumlubig gewordener Taumluferjuumlnger erlebt hat aber er bedarf mehr als andere der Vergebung weil er ndash ent-gegen seinem Vorsatz ndash Jesus verleugnet Waumlhrend er sagt fuumlr Jesus sterben zu wol-len muss gerade fuumlr ihn Jesus sterben

b Petrus erkennt nach Joh 136 das Unmoumlgliche der Situation dass der Herr ihm ei-nen Sklavendienst leistet Er wehrt diesen Dienst doppelt ab (Joh 1368a) ndash so wie er nach Joh 1336ff nicht will dass Jesus fuumlr ihn sein Leben einsetzt In diesem Nein kommt eine Liebe zu Jesus zum Ausdruck die bestimmen will Gleichzeitig aber ist das Nein auch Ausdruck des Missverstaumlndnisses dass Petrus der Diakonie Jesu womoumlglich gar nicht bedarf Petrus verschaumlrft seinen Widerspruch der aus Unverstaumlndnis stammt indem er dann ganz gewaschen werden will (Joh 139) ndash womit er aber seine Berufung leugnet

c Jesus deckt das Missverstaumlndnis des Petrus auf Die Fuszligwaschung steht nicht am Anfang sondern an einer Biegung des Weges mit Jesus Die Weg-Gemeinschaft ist darin begruumlndet dass Jesus sich in seinen Dienst stellt Dem muss entsprechen dass Petrus sich den Dienst gefallen laumlsst Er muss Jesus so nahe wie in der Fuszligwaschung an sich heranlassen Er muss den Rollentausch akzeptieren Die Langversion von Vers 10 die durch den Codex Vaticanus gedeckt und als lectio difficilior gesichert ist entspricht dem Kontext

bull Im Bild Auch nach dem Vollbad macht man sich wieder die Fuumlszlige schmutzig Man laumlsst sie sich waschen damit auch sie sauber sind man laumlsst nur sie waschen weil der sonstige Koumlrper gereinigt ist

bull In der Sache Wer durch das Bad der Wiedergeburt die Taufe bdquoganz reinldquo geworden ist muss diese Reinheit aber durch seine Schuld verloren hat muss sich die Fuumlszlige waschen lassen um durch Jesus zu Gott zu gelangen Dem entspricht am ehesten eine Deutung auf die Buszlige wie sie orthodoxen Vaumlter favorisieren

26 Hellenistische Parallelen Neuer Wettstein I2 636-644

Thomas Soumlding

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7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

48

c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
    • Kontakt
      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
        • Markusevangelium
        • Lukasevangelium
        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 16: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

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d Alle Versionen bestimmen die Tora als Basis des Dialoges Alle bleiben im Rahmen juumldischer Hermeneutik Schrift legt Schrift aus Alle erweisen sich im religionsge-schichtlichen Vergleich als typisch jesuanisch

bull Einerseits gibt es im Judentum eine lebhafte Debatte aus didaktischen und theologischen Gruumlnden zu einer Hierarchie der Gebote zu gelangen In dieser Debatte ragt das Liebesgebot heraus Es gibt aber immer auch starke Kontro-versen uumlber die Richtigkeit und Guumlltigkeit solcher Elementarisierungen

bull Anderseits steht Jesus nicht gegen die Tora sonder erfuumlllt sie (vgl Mt 517-20) Dese Erfuumlllung hat eine spezifische Qualitaumlt diese Qualitaumlt bezeichnet das Liebesgebot das Jesus selbst praktiziert

Das Doppelgebot bricht nicht aus dem Gesetz aus sondern schlieszligt es auf

e Im fruumlhen Judentum gibt es keine direkte Parallele zum jesuanischen Doppelgebot Aber es gibt eine ganze Reihe von strukturaumlquivalenten Formulierungen sowohl im palaumlstinischen wie auch im hellenistischen Judentum Zum Teil sind sie direkt als Ge-bot einer doppelten Liebe zum Teil mit Varianten vor allem der Gottesfurcht gebil-det Diese Parallelen erhellen den juumldischen Kontext in dem das Doppelgebot steht Auffaumlllig ist in der Jesustradition zweierlei

1 die direkte Schriftzitation 2 der explizite Bezug zur Tora der reflektiert wird

Beides spiegelt die Programmatik der jesuanischen Position

f Die Struktur der Tradition leitet in jeder Variante von der Gottes- zur Naumlchstenliebe und bindet das Liebesgebot zusammen

bull Es gibt keine Gottesliebe ohne Naumlchstenliebe weil Gott den es zu lieben gilt nicht nur die Person liebt die lieben soll sondern auch diejenige die geliebt werden soll Diese Liebe Gottes als Basis ist im Doppelgebot nicht expliziert aber impliziert

o in der Einzigkeit Gottes so wie sie in der Bibel Israels und in der Jesus-tradition als Qualifikation des Schoumlpfers und Erhalters des Versoumlh-ners und Vollender entfaltet wird

o im Wort Agape das eo ipso von der Liebe Gottes gespeist wird Das Doppelgebot ist das beste Gegengift gegen Heuchelei

bull Es gibt keine Naumlchstenliebe ohne Gottesliebe ndash nicht weil es keine Ethik keine Menschlichkeit kein Mitleid und keine Solidaritaumlt ohne Gottesliebe gaumlbe (im Gegenteil) sondern weil die Naumlchstenliebe wie sie alt- und neutestamentlich expliziert wird den Naumlchsten als die von Gott geliebte Person liebt also Ein-stimmung in die Liebe Gottes ist die nur in der Liebe zu Gott explizit beant-wortet werden kann

bull Es gibt einen Primat der Gottes- vor der Naumlchstenliebe ndash nicht weil die Got-tes- wichtiger als die Naumlchstenliebe waumlre sondern weil Gott der Schoumlpfer all derer ist die lieben und geliebt werden sollen und sie alle zur Teilhabe an seiner Liebe fuumlhren will

Die Einheit der Gottes- und Naumlchstenliebe ist keine Identitaumlt sondern eine Spannung die ein hohes Energiefeld aufbaut

g Das Doppelgebot selbst enthaumllt keine Konkretion steht aber in den Evangelien die sich in die Tradition des Alten Testaments stellen und wird dadurch einerseits zum Kompass durch die Tora andererseits zum Katalysator von Aktualisierungen die pa-radigmatisch von Jesus angesprochen werden

Thomas Soumlding

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5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)

a Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter antwortet auf die wichtige Frage bdquoWer ist mein Naumlchsterldquo (Lk 1025-37)

bull Die Frage ist wichtig weil es um die Konkretionen der Liebe geht und Lev 1917f eine klare Antwort gibt Die Naumlchsten sind die Mit-Glieder des Gottes-volkes Hinzu treten die bdquoFremdenldquo (Lev 1934) die dauerhaft in Israel inte-griert sind nach der Septuaginta die Proselyten Die Konzentration auf diese Naumlchsten ist theologisch durch die gemeinsame Berufung des Volkes zur Hei-ligkeit begruumlndet Sie bewaumlhrt sich in Konflikten umfasst also de facto auch Feindesliebe

bull Die Frage wird von Jesus mit einer Geschichte beantwortet die auf provokan-te Weise einen Samariter zu einem Vorbild werden laumlsst Dass Jesus mit ei-nem Gleichnis antwortet setzt auf die argumentative Kraft einer Erzaumlhlung die nicht nur eine Welt vor Augen stellen sondern auch eine Sache klaumlren kann und zwar so dass Anteilnahme entsteht eine Verstrickung in die Ge-schichte durch Dramatik und Identifikation

Die Antwort auf die Frage wird nicht ohne ihre Umkehrung gegeben bdquoWer hellip ist zum Naumlchsten dessen geworden der unter die Raumluber gefallen istldquo (Lk 1036) Damit wird die Ausgangsfrage nicht desavouiert sondern konkretisiert Wer nach dem Naumlchsten fragt fragt auch nach sich selbst Und wer sich selbst von Naumlchsten umgeben weiszlig denen er verpflichtet ist muss selbst zum Naumlchsten derer werden wollen die auf Hilfe angewiesen sind

b Die Geschichte gehoumlrt zum Doppelgebot das bei Lukas (1025ff) wie bei Matthaumlus (2235-40) ein Streitgespraumlch ist waumlhrend es bei Markus ein Konsensgespraumlch ist (Mk 1228-34) Lukas hat es in die Zeit des oumlffentlichen Wirkens Jesu vorgezogen und kompositorisch konkretisiert

bull Mit einem bdquoGesetzeslehrerldquo trifft Jesus auf seinem Weg einen Experte fuumlr die Frage die er stellt

bull Das Doppelgebotsthema wird nicht nur durch das Samaritergleichnis sondern auch durch die Fortsetzung konkretisiert

o Die Beispielgeschichte Lk 1030-35 thematisiert das Tun (Lk 1037) o Die folgende Geschichte von Maria und Martha akzentuiert das Houmlren

(Lk 1038-42) o Die anschlieszligende Gebetslehre konkretisiert jene Gottesliebe die aus

dem Houmlren zum Sprechen fuumlhrt mit dem Vaterunser als Kern Durch die Komposition wird die Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe unter-strichen

Die Szenerie unterstreicht die Brisanz der Frage nach der Geltung des Gesetzes und erhoumlht damit den Stellenwert des Gleichnisses damit aber auch die Praumlgnanz des Samariterbildes Jesu

18

c Der gesamte Text hat eine dialogische Struktur 1 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach dem Sinn des Lebens (Lk 1025) 2 Jesus fragt zuruumlck indem er auf das Gesetz verweist (1026) 3 Der Gesetzeslehrer zitiert das Doppelgebot (Lk 1027) 4 Jesus bestaumltigt und fordert zur Praxis (Lk 1028) 5 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach der Identitaumlt des Naumlchsten (Lk 1029) 6 Jesus fragt zuruumlck indem er das Gleichnis erzaumlhlt (Lk 1030-36) 7 Der Gesetzeslehrer gibt die richtige Antwort (Lk 1037a) 8 Jesus fordert zum Handeln (Lk 1037b)

Jesus agiert im sokratischen Stil Er laumlsst den Fragesteller selbst die Antwort finden ndash nicht irgendwo sondern im Gesetz und in seinem Gewissen Das spiegelt fuumlr Lukas die Uumlberlegenheit Jesu und die Menschlichkeit seiner Ethik

d Das Gleichnis arbeitet mit einem scharfen Kontrast bull Auf der einen Seite stehen der Priester und der Levit Repraumlsentanten des Ju-

dentums Sie muumlssten genau wissen was zu tun ist Sie haben wenn sie wie der Verletzte auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho sind auch keinen Grund sich aus kultischen Uumlberlegungen um sich nicht zu verunreinigen an einem vorbeizugehen von dem sie glauben dass er tot sei wenn sie auf dem Weg zuruumlck sind ist fuumlr die ggf erforderliche rituelle Reinigung genuumlgend Zeit

bull Auf der anderen Seite steht der Samariter dem man es am wenigsten zutrau-en wuumlrde dass er tut was recht ist Dessen Rolle wird aber von Jesus stark betont nicht nur durch den Kontrast sondern auch dadurch dass er weit uumlber die Erste Hilfe hinaus mehr als genug tut um dem Verletzten zu helfen Er selbst leistet den sprichwoumlrtlich gewordenen Samariterdienst und treibt ungewoumlhnlich intensive Vorsorge dass der Mann nachhaltig gesundet ndash nach allen Regeln der (damaligen) aumlrztlichen Kunst

Dieser Kontrast war den Menschen sowohl zur Zeit Jesu als auch zur Zeit des Evange-listen Lukas deutlich Lk 952-56 hat ihn frisch in Erinnerung gerufen

e Jesus laumlsst durch die Kunst seiner narrativen Argumentation dem Gesetzeslehrer keine Chance nicht von seiner Antwort uumlberzeugt zu werden die seinen eigenen mo-ralischen Standpunkt veraumlndert Alle Menschen die ein Herz im Leibe haben werden erkennen dass nicht der Priester nicht der Levit sondern ausgerechnet der feindli-che der bdquohaumlretischeldquo Samariter das einzig Richtige getan hat indem er dem unter die Raumluber gefallenen Menschen geholfen hat Das aber ist schon der erste Schritt in die Richtung die Jesus den Menschen zeigt damit sie Gott und den Naumlchsten neu entde-cken koumlnnen Wer aber nicht nur tatkraumlftig wie der Samariter hilft sondern als Jude weiszlig dass er ihn wegen seiner Naumlchstenliebe nachahmen sollte hat eine Grenze uumlberschritten die durch das Nahekommen der Basileia durchlaumlssig geworden ist Der Gesetzeslehrer versperrt sich dieser Lektion nicht Er ist deshalb ein positives Beispiel

Literatur Andregrave Lacoque Lhermeacuteneutique de Jeacutesus au sujet de la loi dans la Parabole du Bon Samari-

tain in Etudes theacuteologiques et religieuses 78 (2003) 25-46

Ruben Zimmermann Die Etho-Poietik des Samaritergleichnisses (Lk 1025-37) Eine Ethik des Schauens in einer Kultur des Wegschauens in Wort und Dienst 29 (2007) 51-69

Thomas Soumlding

19

6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)

a Die fuumlnfte und sechste Antithese bilden bei Matthaumlus den Houmlhepunkt der Reihe die sich am Dekalog orientiert in der Feldrede bei Lukas markiert das Gebot der Feindes-liebe den Mittelpunkt der Ethik Die Feindesliebe bezeichnet in groumlszligter Konsequenz den Standpunkt der Moralitaumlt steht aber auch im Brennpunkt der Kritik

bull Ist Gewaltlosigkeit wuumlrdelos verantwortungslos kraftlos So Nietzsche14

bull Ist Feindesliebe unrealistisch So der gesunde Menschenverstand und das Ur-teil professioneller Politik

15 So auch der juumldische Einwand16 den zuletzt Jacob Neusner vorgetragen hat17

Die antithetische Form bei Matthaumlus zeigt das Potential der Kontroverse Es ist nicht das Ziel der Exegese sie aufzuloumlsen sondern sie auszuloumlsen

b Der Blick in die Synopse zeigt im Vergleich mit Lk 627-36 zweierlei bull Die antithetische Form ist ndash hier wie sonst ndash ein matthaumlisches Spezifikum Sie

dient der Profilierung der Ethik Jesu im Gegenuumlber zur Tora ndash unter dem Vor-zeichen der Erfuumlllung (Mt 517-20)

bull Bei Lukas ist Gewaltverzicht direkter Ausdruck der Feindesliebe Matthaumlus dif-ferenziert und kombiniert um zu akzentuieren

Die Synopse fordert bei der lukanischen Uumlberlieferungsform anzusetzen aber die matthaumlische Variante nicht als sekundaumlr abzutun sondern als Reflex jesuanischer Konkretionen in den Blick zu nehmen

c Das Gebot der Feindesliebe tradiert uumlber die Redenquelle (Q) ist Urgestein und Herzstuumlck der Ethik Jesu18

14 Also sprach Zarathustra III 21 (Werke VI1) bdquoIch sollte nur Feinde haben die zu hassen sind aber nicht Feinde zum Verachten ihr muumlsst stolz auf euren Feind sein (260)ldquo

Die Stellung in der matthaumlischen Bergpredigt und der luka-nischen Feldrede zeigt dass im Urchristentum diese zentrale Bedeutung gesehen und tradiert worden ist Paulus reflektiert sie in Roumlm 129-21 Auch im johanneischen Kon-zept der Bruderliebe ist sie vorausgesetzt

15 Max Weber Politik als Beruf (1919) in ders Gesammelte politische Schriften hg v J Winckelmann Tuumlbingen 31971 505-560 bdquoMit der Bergpredigt ist es eine ernstere Sache als die glauben die diese Gebote heute gern zitieren Wenn es in Konsequenz der akosmistischen Liebesethik heiszligt dem Uumlbel nicht widerstehen mit Gewaltlsquo ndash so gilt fuumlr den Politiker der Satz du sollst dem Uumlbel gewaltsam widerstehen sonst ndash bist du fuumlr seine Uumlberhandnahme verantwortlich (550f)ldquo 16 Der Jude Tryphon plaumldiert nach Justin dial 52 bdquoIch weiszlig auch dass eure Lehren die in dem sogenannten Evangelium stehen so erhaben und groszlig sind dass wie ich meine kein Mensch sie beobachten kannldquo 17 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 Neuausgabe Frei-burg - Basel - Wien 2007 (engl 1993) Neusner praumlzisiert Jesus maszlige sich das Recht Gottes an so zu sprechen wie es die Bergpredigt uumlberliefert 18 Th Soumlding Die Verkuumlndigung Jesu 570-583

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d Nach Lk 6 sind alle Houmlrer der Botschaft Jesu zur Feindesliebe gerufen In erster Linie sind es seine Juumlnger als stellvertretende Adressaten der Seligpreisungen und Weherufe (Lk 620-26) Lukas sieht die Kirche als Ort wo primaumlr die Feindesliebe ver-wirklicht sein will gerade auch gegenuumlber Nicht-Christen (und berichtet in der Apos-telgeschichte dass dies in der Urgemeinde auch geschehen sei) Nach Matthaumlus hat Jesus direkt seine Juumlnger angesprochen (Mt 51f) ndash aber so dass alles Volk (vgl 423ff) es houmlren und daruumlber staunen kann (Mt 728f) Die Pointe ist missionstheologisch Wenn die Juumlnger ausziehen alle Voumllker ihrerseits zu Juumlngern zu machen sollen sie nicht nur taufen sondern auch lehren bdquoalles zu haltenldquo was Jesus ihnen bdquogebotenldquo hat (Mt 2818ff)

d Die Feindschaften die Jesu Gebot anspricht sind so paradigmatisch ausgewaumlhlt und scharf zugespitzt dass prinzipiell jede denkbare Feindschaft im Blick stehen muss Es werden die empoumlrendsten Formen paradigmatisch konkretisiert

bull religioumlse Verfolgung (Lk 628 Mt 544) bull koumlrperliche Gewalt selbst wenn sie demuumltigen soll (Lk 628f Mt 539) bull wirtschaftliche Ausbeutung auch wenn sie sich den Anschein des Rechts gibt

(Mt 540) bull politisch-militaumlrische Unterdruumlckung auch wenn sie schier uumlbermaumlchtig

scheint (Mt 541) Jede denkbare Grenze der Feindesliebe wird uumlberschritten der Familie und Ver-wandtschaft des Freundeskreises der Glaubensgenossen der (mehr oder weniger) Guten der Angehoumlrigen des eigenen Volkes (vgl Lk 1025-37)

e Die Feindesliebe zeigt sich in den gleichfalls paradigmatischen Konkretisierungen bull als Fuumlrbitte fuumlr die Verfolger (Lk 628 par Mt 544) und Segnen der

Blasphemiker (Lk 628) ndash im Gegensatz zum Verfluchen und zur Bitte um ihre Vernichtung durch Gottes Strafgericht

bull als aktiver Gewaltverzicht gegenuumlber erlittener Uumlbermacht (Lk 629 Mt 538-42) ndash im Gegensatz dazu Unrecht mit gleicher Muumlnze heimzuzahlen

bull als selbstlose Unterstuumltzung der Armen auch wenn deren Bitten laumlstig faumlllt (Lk 630) ndash im Gegensatz zum Kalkuumll des do ut des

bull als engagierter Einsatz fuumlr das Gute (Lk 62733) ndash im Gegensatz zu einem Mitmachen wie zur Resignation

Feindesliebe ist nicht passiv sondern aktiv Sie kreiert eine neue Situation In diesen Konkretisierungen erhellt die Feindesliebe als radikalisierte Naumlchstenliebe (Lev 1917f) die im Kontext der Gottessliebe steht (Mk 1228-34 parr) Sie ist nicht das Einverstaumlndnis mit Unrecht Schuld und Schwaumlche schon gar nicht schwaumlchliches Hinnehmen von Unrecht sondern im Gegenteil starkes aber deshalb auch leidensfauml-higes Eintreten dafuumlr Boumlses durch Gutes zu uumlberwinden (Roumlm 1221)

Thomas Soumlding

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h Die Feindesliebe ist theologisch begruumlndet und motiviert bull Der theologische Grund ist das Handeln Gottes selbst der als Schoumlpfer und Er-

loumlser permanent Feindesliebe praktiziert (Lk 635 Mt 545 vgl Roumlm 55ff) o Mit dem Blick ins Buch der Natur zeigt Jesus nach Matthaumlus Gott als

den der auch den Boumlsen und Ungerechten das Leben schenkt weil er will dass sie leben (nicht weil er will oder toleriert dass sie Boumlses und Unrechtes tun)

o Der Vergleich mit dem aumlhnlichen Motiv bei Seneca der (nicht zu Feindesliebe aber) zu groszligmuumltiger Gelassenheit gegenuumlber Feinden mahnt macht den Unterschied deutlich denn nach ihm kann Gott nicht anders als die Unterstuumltzung der Boumlsen in Kauf zu nehmen wenn er den Guten helfen will ndash wofuumlr er sich entscheidet weil das Gute mehr wert ist als das Boumlse

bull Das theologische Motiv ist die Nachahmung Gottes die imitatio Dei (Lk 636 Mt 548) der die Verheiszligung ewigen Lebens gilt des bdquoLohnesldquo der in der Gotteskindschaft besteht

In dieser Theozentrik ist die Feindesliebe Zustimmung zu der Liebe mit der Gott auch die Ungerechten und Suumlnder liebt ndash ohne ihre Suumlnde gutzuheiszligen aber auch ohne ihnen wegen ihrer Schuld seine Zuwendung zu entziehen

i Das Gebot der Feindesliebe ist angewandte Christologie bull Einerseits ist es Jesus der das Gebot ndash nach Matthaumlus im Gegensatz zur herr-

schenden Auslegung des atl Liebesgebotes ndash der Feindesliebe aufstellt bull Andererseits ist es Jesus der das Gebot umfassend verwirklicht ndash vorbildlich

in seinem Leiden heilbringend in seiner Lebenshingabe aus reiner Liebe

f Das bdquoAuge um Auge Zahn um Zahnldquo (Ex 2124) begrenzt die Vergeltung das bdquoIch aber sage euchldquo aktiviert zur Versoumlhnung Das alttestamentliche Gebot der Naumlchstenliebe umfasst innerhalb Israels Feindesliebe (Lk 1917f) und weitet sie aus (Lev 1934) Das bdquoIch aber sage euchldquo setzt sich von einer Auslegung ab die aus Sorge um Gottes Gerechtigkeit die Grenzen der Erloumlsung zu eng zieht Dafuumlr gibt es Beispiele in Qumran Der originaumlre Bezug des Gebotes der Naumlchstenliebe auf das Volk Gottes wird nicht aufgegeben aber ausgeweitet

bull In der Juumlngerschaft ist ndash in Israel und uumlber Israel hinaus ndash der Ort an dem die Feindesliebe so praktiziert werden soll dass sie ausstrahlt (vgl Mt 513-16)

bull Zum Volk Gottes gehoumlren nicht nur die Juden und alle die an Jesus glauben Gott hat vielmehr Jesus (nach Matthaumlus wie nach Lukas) deshalb gesendet damit durch seinen Dienst am Heil der Menschen der reine Feindesliebe ist alle Voumllker zu seinem Volk werden Die Kirche repraumlsentiert und realisiert stellvertretend diese Heilsuniversalitaumlt Ihre Feindesliebe konkretisiert sie ethisch

Feindesliebe durchbricht das Prinzip der Vergeltung ohne das Prinzip der Gerechtig-keit aufzugeben Das ist nur deshalb sittlich erlaubt und geboten weil das Gebot in der Liebe Gottes selbst begruumlndet ist die sich in der Feindesliebe Jesu realisiert die ihrerseits der theologische Nerv seines Lebens und Sterbens zur Erloumlsung der Suumlnder ist

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j Das psychologische Problem das Sigmund Freud scharf markiert hat19

Das ethische Problem das Fjodor Dostojewksi (Die Bruumlder Karamasow) Iwan in den Mund legt lautet

besteht da-rin dass blinde Aggressionen entwickelt wer sich moralisch uumlberfordert Dieses Prob-lem laumlsst sich wohl nur spirituell loumlsen in der Nachfolge Jesu die auf seine Kraft setzt in den Nachfolgern das Gute zu tun

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k Das Problem der Erfuumlllbarkeit der Bergpredigt und speziell des Gebotes der Fein-desliebe bewegt Theologie und Kirche seit aumlltester Zeit Eine erhebliche Verschaumlrfung des Problems geschieht durch eine moderne Emotionalisierung der Feindesliebe Wird sie aber als Ausdruck der Agape verstanden begruumlndet sie ndash in der Nachfolge Jesu ndash eine Praxis des Glaubens aus der Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe Als solche kann sie durchaus eingeuumlbt ausgebildet und gefestigt werden Sie setzt die Suche nach dem besten Weg der Verwirklichung nicht aus sondern ein Sie entspricht aber darin der Gottebenbildlichkeit aller Menschen und der Gotteskindschaft der zu Erloumlsenden dass sie an der Unbedingtheit der Bejahung die Gott ihnen zuteilwerden laumlsst Anteil hat

dass Feindesliebe letztlich Kumpanei mit den Taumltern auf Kosten der Opfer sei Dieses Problem das haumlufig nicht gesehen wird laumlsst sich nur soteriolo-gisch loumlsen weil derjenige der selbst aus reiner Liebe die Schuld der anderen ertra-gen und vergeben hat das Reich Gottes als umfassende Vollendung von Gerechtig-keit Friede und Freude (Roumlm 1417) verwirklicht

19 Das Unbehagen in der Kultur in Gesammelte Werke 14 London 1948 419-506 468-475493-506 (Abschnitte V VIII) bdquoNachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte war die aumluszligerste Intoleranz des Christentums gegen die drauszligen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge gewordenldquo (374) 19 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 20 bdquoSchlieszliglich will ich auch gar nicht dass die Mutter den Peiniger umarmt der ihren Sohn von Hunden zerreiszligen lieszlig Sie darf sich nicht unterstehen ihm zu verzeihen Wenn sie will mag sie verzeihen soweit es sie selber angeht sie mag dem Peiniger ihr maszligloses Mutterleid ver-zeihen aber die Leiden ihres zerfleischten Kindes zu verzeihen hat sie kein Recht sie darf es nicht wagen dem Peiniger zu verzeihen auch wenn das Kind selber ihm verzieheldquo (Muumlnchen 1958 330f

Thomas Soumlding

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7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)

71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20) a Mit der Fuszligwaschung21

b Die Fuszligwaschung ist das Zeichen der Passion Ihr folgen Gespraumlche mit den Juumln-gern die zwar von Jesus gewaschen und gereinigt sind aber groumlszligte Schwierigkeiten haben zu verstehen was sich tut

beginnt der 2 Hauptteil des Johannesevangeliums Das oumlffentliche Wirken ist abgeschlossen Jesus konzentriert sich auf seine Juumlnger bevor er oumlffentlich hingerichtet werden wird Er bereitet sie auf seine Passion und seine Auferstehung vor die den Weg zu Gott bahnen werden

bull Auf die Fuszligwaschung folgt zuerst eine Trias unmittelbarer Konsequenzen o Judas wird als Verraumlter identifiziert und verlaumlsst den Juumlngerkreis (Joh

1321-30) o Die Juumlnger werden zur wechselseitigen Liebe gemahnt (Joh 1331-35) o Petrus wird seine Verleugnung vorhergesagt (Joh 1336ff)

bull Auf die Fuszligwaschung folgen ausfuumlhrliche Abschiedsworte (Joh 14-16) die in ein Abschiedsgebet muumlnden (Joh 17)

c Joh 131-20 ist uumlbersichtlich aufgebaut

Joh 131 Der Hintergrund Joh 132-5 Die Fuszligwaschung beim Mahl 132 Die Situation 133ff Die Handlung Jesu Joh 136-11 Das Gespraumlch mit Petrus 136 Der erste Einwand des Petrus 137 Die erste Antwort Jesu 138a Der zweite Einwand des Petrus 138b Die zweite Antwort Jesu 139 Der dritte Einwand des Petrus 1310 Die dritte Antwort Jesu 1311 Kommentar des Evangelisten Joh 1312-20 Die Deutung vor allen Juumlngern 1312-17 Die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu 1318f Die Ansage eines Verrates 1320 Die Juumlnger als Apostel

21 Vgl Luise Abramowski Die Geschichte von der Fuszligwaschung in Zeitschrift fuumlr Theologie und Kirche 102 (2005) 176-203

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d Die Exegese diskutiert in welchem Verhaumlltnis die beiden Deutungen zu einander stehen Die erste ist soteriologisch die zweite ethisch ausgerichtet

bull Recht oft wird aus der Doppelung auf ein literarisches Wachstum des Textes geschlossen

o Moumlglichkeit 1 Die soteriologische Deutung ist die aumlltere die paraumlnetische die se-kundaumlre22

o Moumlglichkeit 2 Die ethische Deutung ist urspruumlnglich die soteriologisch nachtraumlglich zwischengeschoben

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Beide Ansaumltze sind von weitereichenden Voraussetzung zur relativen Chrono-logie des Corpus Johanneum gepraumlgt

o Wer den Ersten Johannesbrief fuumlr aumllter erachtet wird die ethische Deutung fuumlr urspruumlnglich halten

o Wer das Evangelium fuumlr aumllter erachtet wird eher die soteriologische Deutung als originaumlr einschaumltzen

Die ethische Deutung wird dann fuumlr sekundaumlr zu erachten wenn man zu dem Urteil gelangt die johanneische Theologie sei urspruumlnglich wenig konkret und eher spirituell ausgerichtet waumlhrend erst sekundaumlr Johannes gesamtkirchlich eingenordet worden sei Beide Ansaumltze gehen von einem literarischen Schichtenmodell aus das der Ei-genart johanneischer Literatur in den Evangelienerzaumlhlungen nicht angemes-sen ist Beide werden durch das Modell einer bdquorelectureldquo gemildert das ndash aumlhnlich wie in der Prophetenexegese des Alten Testaments ndash mit einer Fortschreibung der Texte rechnet aber sie zugleich als vergegenwaumlrtigende Aneignung des vor-gegebenen Textes versteht24

bull Es mehren sich wieder die Stimmen die Joh 13 als literarisch einheitlich anse-hen

Allerdings stoumlszligt dieses Modell auf die Schwie-rigkeit dass das Liebesgebot das die ethische Deutung vorbereitet in Joh 1331-35 dominant ist und nicht nur in Joh 15-16 ausgefuumlhrt sondern auch in Joh 1421 angebahnt wird

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Die Doppelung erklaumlrt sich aus der Theologie der Liebe Sie hat eine Innenseite die Liebe Jesu zu sein Seinen in der sich nach Joh 1421 die Liebe das Vaters zum Sohn ereignet und sie hat eine Auszligenseite die sich nach Joh 1331-35 und Joh 15 in der Bruderliebe der Juumlnger erweist von der die Welt angezogen werden wird (Joh 17)

Allerdings braucht es eine Erklaumlrung fuumlr die Deutung Eine moumlgliche Er-klaumlrung waumlre der Adressatenwechsel aber die Petrusszene spielt sich vor den Augen und Ohren aller ab

22 So Rudolf Schnackenburg Joh III passim 23 So Udo Schnelle Joh 237 Er will eine Ursprungsform (132a4512ab162017) die recht nahe bei Lk 22 und der Mahnung der Juumlnger zum Dienen steht zuerst in der johanneischen Schule (der er den Ersten Johannesbrief mit seiner Theologie der Liebe zurechnet) um die Vorbildethik erweitert sehen (1312c13-15) bevor der Evangelist selbst von der Einleitung an (131) konsequent seine soteriologische Deutung ins Fundament der Geschichte eingebaut habe (136-10ab) 24 So Jean Zumstein Joh 25 So Hartwig Thyen Joh

Thomas Soumlding

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711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus a Die Liebe Jesu zu den Seinen (Joh 131) verwirklicht die Liebe Gottes zur Welt (Joh 316) die von der Liebe des Vaters zum Sohn getragen wird (Joh 335 1017) Es ist die nach der Zwischennotiz von Jesu Freundschaft mit Martha Maria und Lazarus (Joh 115) erste Betonung der Agape Jesu von der spaumlter das Liebesgebot Joh 1334 und die Verheiszligung dauernden Beistandes der Juumlnger gedeckt ist (Joh 1421-31)

b In der Liebe Jesu zu den Seinen verbindet sich die Liebe Gottes zur Welt mit der Liebe Jesu zu seinen Freunden (Joh 15) Es ist eine unbedingte Bejahung und Wert-schaumltzung die auf Sympathie beruht und lebendig macht

c Die Liebe erweist Jesus den bdquoSeinenldquo bull Im Ruumlckraum steht Joh 19-13 dass die bdquoSeinenldquo den Logos abgelehnt haben

ndash bis auf diejenigen die an seinen Namen glauben und deshalb das Recht der Gotteskindschaft erhalten

bull Die bdquoSeinenldquo sind die Juumlnger die sich von Jesus in die Nachfolge haben rufen lassen (Joh 135-51) und in der galilaumlischen Krise Jesus nicht verlassen haben (Joh 660-71) Sie haben ihrerseits schwere Glaubensprobleme ndash aber werden sie durch Jesus uumlberwinden

bull In Joh 14 und Joh 17 wird erklaumlrt werden dass die Liebe Jesu zu den Seinen ndash wie die zum Lieblingsjuumlnger ndash nicht exklusiv sondern positiv zu verstehen ist

Dass Jesus den Seinen die Liebe bdquobis zum Endeldquo erweist verweist auf den Tod Jesu Das griechische Wort ist mehrdeutig teloj kann bdquoEndeldquo aber auch bdquoZielldquo bedeuten Beide Bedeutungen schwingen mit

bull Der Tod Jesu ist das definitive Ende seiner geschichtlichen Sendung das zu akzeptieren wird den Juumlngern ungeheuer schwer fallen

bull Der Tod Jesu ist das Ziel seines Wirkens insofern es seine Liebe und Hingabe definitiv werden laumlsst

Der Korrespondenzsatz ist das Todeswort Jesu Joh 1930 bull Es ist ein Gebet wie nach allen Synoptikern (Mk 1534 par Mt 2746 bdquoGott

mein Gott warum hast du mich verlassenldquo ndash Ps 222 Lk 2346 bdquoVater in deine Haumlnde gebe ich meinen Geistldquo ndash Ps 316) aber als letztes Offenba-rungswort an die Welt

bull Die traditionelle Uumlbersetzung lautet bdquoEs ist vollbrachtldquo Man kann aber auch sagen bdquovollendetldquo (Muumlnchner Neues Testament Bible de Jerusaleme bdquoCest acheveacuteldquo) oder bdquozu Endeldquo (King James Bible bdquoIt is finishedldquo)

Eine moumlgliche auf Joh 131 abgestimmte Uumlbersetzung waumlre (wie im Muumlnchener Neu-en Testament) bdquoEs ist vollendetldquo (tetelestai)

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712 Die Fuszligwaschung a Jemandem vor dem Mahl die Fuumlszlige zu waschen ist ein Dienst den traditioneller-weise Sklaven ihren Herren erweisen (vgl 1Sam 2541)26

Joh 1313f zeigt dass die sozialen Dimensionen der Fuszligwaschung klar vor Augen stehen der Gesamttext dass der Ritus sakramental gefuumlllt wird

Das Waschen der Fuumlszlige ist ein Ritus der Vorbereitung der eine koumlrperliche Wohltat mit einer Geste der Houmlflich-keit verbindet die Anerkennung und Ehrerbietung meint (Gen 184 vgl Lk 744) und zudem mit einer rituellen Bedeutung versieht die einen Uumlbergang gestaltet von drauszligen nach drinnen vom Alltag zum Fest vom Profanen zum Heiligen

7121 Die soteriologische Deutung a Im Gespraumlch mit Petrus wird die Bedeutung der Fuszligwaschung soteriologisch gedeu-tet Sie ist eine bdquoReinigungldquo ndash nicht wie in der Taufe sondern wie in der Buszlige Petrus braucht keine Wiederholung der Wiedergeburt die er als glaumlubig gewordener Taumluferjuumlnger erlebt hat aber er bedarf mehr als andere der Vergebung weil er ndash ent-gegen seinem Vorsatz ndash Jesus verleugnet Waumlhrend er sagt fuumlr Jesus sterben zu wol-len muss gerade fuumlr ihn Jesus sterben

b Petrus erkennt nach Joh 136 das Unmoumlgliche der Situation dass der Herr ihm ei-nen Sklavendienst leistet Er wehrt diesen Dienst doppelt ab (Joh 1368a) ndash so wie er nach Joh 1336ff nicht will dass Jesus fuumlr ihn sein Leben einsetzt In diesem Nein kommt eine Liebe zu Jesus zum Ausdruck die bestimmen will Gleichzeitig aber ist das Nein auch Ausdruck des Missverstaumlndnisses dass Petrus der Diakonie Jesu womoumlglich gar nicht bedarf Petrus verschaumlrft seinen Widerspruch der aus Unverstaumlndnis stammt indem er dann ganz gewaschen werden will (Joh 139) ndash womit er aber seine Berufung leugnet

c Jesus deckt das Missverstaumlndnis des Petrus auf Die Fuszligwaschung steht nicht am Anfang sondern an einer Biegung des Weges mit Jesus Die Weg-Gemeinschaft ist darin begruumlndet dass Jesus sich in seinen Dienst stellt Dem muss entsprechen dass Petrus sich den Dienst gefallen laumlsst Er muss Jesus so nahe wie in der Fuszligwaschung an sich heranlassen Er muss den Rollentausch akzeptieren Die Langversion von Vers 10 die durch den Codex Vaticanus gedeckt und als lectio difficilior gesichert ist entspricht dem Kontext

bull Im Bild Auch nach dem Vollbad macht man sich wieder die Fuumlszlige schmutzig Man laumlsst sie sich waschen damit auch sie sauber sind man laumlsst nur sie waschen weil der sonstige Koumlrper gereinigt ist

bull In der Sache Wer durch das Bad der Wiedergeburt die Taufe bdquoganz reinldquo geworden ist muss diese Reinheit aber durch seine Schuld verloren hat muss sich die Fuumlszlige waschen lassen um durch Jesus zu Gott zu gelangen Dem entspricht am ehesten eine Deutung auf die Buszlige wie sie orthodoxen Vaumlter favorisieren

26 Hellenistische Parallelen Neuer Wettstein I2 636-644

Thomas Soumlding

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7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
    • Kontakt
      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
        • Markusevangelium
        • Lukasevangelium
        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 17: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

Thomas Soumlding

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5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)

a Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter antwortet auf die wichtige Frage bdquoWer ist mein Naumlchsterldquo (Lk 1025-37)

bull Die Frage ist wichtig weil es um die Konkretionen der Liebe geht und Lev 1917f eine klare Antwort gibt Die Naumlchsten sind die Mit-Glieder des Gottes-volkes Hinzu treten die bdquoFremdenldquo (Lev 1934) die dauerhaft in Israel inte-griert sind nach der Septuaginta die Proselyten Die Konzentration auf diese Naumlchsten ist theologisch durch die gemeinsame Berufung des Volkes zur Hei-ligkeit begruumlndet Sie bewaumlhrt sich in Konflikten umfasst also de facto auch Feindesliebe

bull Die Frage wird von Jesus mit einer Geschichte beantwortet die auf provokan-te Weise einen Samariter zu einem Vorbild werden laumlsst Dass Jesus mit ei-nem Gleichnis antwortet setzt auf die argumentative Kraft einer Erzaumlhlung die nicht nur eine Welt vor Augen stellen sondern auch eine Sache klaumlren kann und zwar so dass Anteilnahme entsteht eine Verstrickung in die Ge-schichte durch Dramatik und Identifikation

Die Antwort auf die Frage wird nicht ohne ihre Umkehrung gegeben bdquoWer hellip ist zum Naumlchsten dessen geworden der unter die Raumluber gefallen istldquo (Lk 1036) Damit wird die Ausgangsfrage nicht desavouiert sondern konkretisiert Wer nach dem Naumlchsten fragt fragt auch nach sich selbst Und wer sich selbst von Naumlchsten umgeben weiszlig denen er verpflichtet ist muss selbst zum Naumlchsten derer werden wollen die auf Hilfe angewiesen sind

b Die Geschichte gehoumlrt zum Doppelgebot das bei Lukas (1025ff) wie bei Matthaumlus (2235-40) ein Streitgespraumlch ist waumlhrend es bei Markus ein Konsensgespraumlch ist (Mk 1228-34) Lukas hat es in die Zeit des oumlffentlichen Wirkens Jesu vorgezogen und kompositorisch konkretisiert

bull Mit einem bdquoGesetzeslehrerldquo trifft Jesus auf seinem Weg einen Experte fuumlr die Frage die er stellt

bull Das Doppelgebotsthema wird nicht nur durch das Samaritergleichnis sondern auch durch die Fortsetzung konkretisiert

o Die Beispielgeschichte Lk 1030-35 thematisiert das Tun (Lk 1037) o Die folgende Geschichte von Maria und Martha akzentuiert das Houmlren

(Lk 1038-42) o Die anschlieszligende Gebetslehre konkretisiert jene Gottesliebe die aus

dem Houmlren zum Sprechen fuumlhrt mit dem Vaterunser als Kern Durch die Komposition wird die Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe unter-strichen

Die Szenerie unterstreicht die Brisanz der Frage nach der Geltung des Gesetzes und erhoumlht damit den Stellenwert des Gleichnisses damit aber auch die Praumlgnanz des Samariterbildes Jesu

18

c Der gesamte Text hat eine dialogische Struktur 1 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach dem Sinn des Lebens (Lk 1025) 2 Jesus fragt zuruumlck indem er auf das Gesetz verweist (1026) 3 Der Gesetzeslehrer zitiert das Doppelgebot (Lk 1027) 4 Jesus bestaumltigt und fordert zur Praxis (Lk 1028) 5 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach der Identitaumlt des Naumlchsten (Lk 1029) 6 Jesus fragt zuruumlck indem er das Gleichnis erzaumlhlt (Lk 1030-36) 7 Der Gesetzeslehrer gibt die richtige Antwort (Lk 1037a) 8 Jesus fordert zum Handeln (Lk 1037b)

Jesus agiert im sokratischen Stil Er laumlsst den Fragesteller selbst die Antwort finden ndash nicht irgendwo sondern im Gesetz und in seinem Gewissen Das spiegelt fuumlr Lukas die Uumlberlegenheit Jesu und die Menschlichkeit seiner Ethik

d Das Gleichnis arbeitet mit einem scharfen Kontrast bull Auf der einen Seite stehen der Priester und der Levit Repraumlsentanten des Ju-

dentums Sie muumlssten genau wissen was zu tun ist Sie haben wenn sie wie der Verletzte auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho sind auch keinen Grund sich aus kultischen Uumlberlegungen um sich nicht zu verunreinigen an einem vorbeizugehen von dem sie glauben dass er tot sei wenn sie auf dem Weg zuruumlck sind ist fuumlr die ggf erforderliche rituelle Reinigung genuumlgend Zeit

bull Auf der anderen Seite steht der Samariter dem man es am wenigsten zutrau-en wuumlrde dass er tut was recht ist Dessen Rolle wird aber von Jesus stark betont nicht nur durch den Kontrast sondern auch dadurch dass er weit uumlber die Erste Hilfe hinaus mehr als genug tut um dem Verletzten zu helfen Er selbst leistet den sprichwoumlrtlich gewordenen Samariterdienst und treibt ungewoumlhnlich intensive Vorsorge dass der Mann nachhaltig gesundet ndash nach allen Regeln der (damaligen) aumlrztlichen Kunst

Dieser Kontrast war den Menschen sowohl zur Zeit Jesu als auch zur Zeit des Evange-listen Lukas deutlich Lk 952-56 hat ihn frisch in Erinnerung gerufen

e Jesus laumlsst durch die Kunst seiner narrativen Argumentation dem Gesetzeslehrer keine Chance nicht von seiner Antwort uumlberzeugt zu werden die seinen eigenen mo-ralischen Standpunkt veraumlndert Alle Menschen die ein Herz im Leibe haben werden erkennen dass nicht der Priester nicht der Levit sondern ausgerechnet der feindli-che der bdquohaumlretischeldquo Samariter das einzig Richtige getan hat indem er dem unter die Raumluber gefallenen Menschen geholfen hat Das aber ist schon der erste Schritt in die Richtung die Jesus den Menschen zeigt damit sie Gott und den Naumlchsten neu entde-cken koumlnnen Wer aber nicht nur tatkraumlftig wie der Samariter hilft sondern als Jude weiszlig dass er ihn wegen seiner Naumlchstenliebe nachahmen sollte hat eine Grenze uumlberschritten die durch das Nahekommen der Basileia durchlaumlssig geworden ist Der Gesetzeslehrer versperrt sich dieser Lektion nicht Er ist deshalb ein positives Beispiel

Literatur Andregrave Lacoque Lhermeacuteneutique de Jeacutesus au sujet de la loi dans la Parabole du Bon Samari-

tain in Etudes theacuteologiques et religieuses 78 (2003) 25-46

Ruben Zimmermann Die Etho-Poietik des Samaritergleichnisses (Lk 1025-37) Eine Ethik des Schauens in einer Kultur des Wegschauens in Wort und Dienst 29 (2007) 51-69

Thomas Soumlding

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6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)

a Die fuumlnfte und sechste Antithese bilden bei Matthaumlus den Houmlhepunkt der Reihe die sich am Dekalog orientiert in der Feldrede bei Lukas markiert das Gebot der Feindes-liebe den Mittelpunkt der Ethik Die Feindesliebe bezeichnet in groumlszligter Konsequenz den Standpunkt der Moralitaumlt steht aber auch im Brennpunkt der Kritik

bull Ist Gewaltlosigkeit wuumlrdelos verantwortungslos kraftlos So Nietzsche14

bull Ist Feindesliebe unrealistisch So der gesunde Menschenverstand und das Ur-teil professioneller Politik

15 So auch der juumldische Einwand16 den zuletzt Jacob Neusner vorgetragen hat17

Die antithetische Form bei Matthaumlus zeigt das Potential der Kontroverse Es ist nicht das Ziel der Exegese sie aufzuloumlsen sondern sie auszuloumlsen

b Der Blick in die Synopse zeigt im Vergleich mit Lk 627-36 zweierlei bull Die antithetische Form ist ndash hier wie sonst ndash ein matthaumlisches Spezifikum Sie

dient der Profilierung der Ethik Jesu im Gegenuumlber zur Tora ndash unter dem Vor-zeichen der Erfuumlllung (Mt 517-20)

bull Bei Lukas ist Gewaltverzicht direkter Ausdruck der Feindesliebe Matthaumlus dif-ferenziert und kombiniert um zu akzentuieren

Die Synopse fordert bei der lukanischen Uumlberlieferungsform anzusetzen aber die matthaumlische Variante nicht als sekundaumlr abzutun sondern als Reflex jesuanischer Konkretionen in den Blick zu nehmen

c Das Gebot der Feindesliebe tradiert uumlber die Redenquelle (Q) ist Urgestein und Herzstuumlck der Ethik Jesu18

14 Also sprach Zarathustra III 21 (Werke VI1) bdquoIch sollte nur Feinde haben die zu hassen sind aber nicht Feinde zum Verachten ihr muumlsst stolz auf euren Feind sein (260)ldquo

Die Stellung in der matthaumlischen Bergpredigt und der luka-nischen Feldrede zeigt dass im Urchristentum diese zentrale Bedeutung gesehen und tradiert worden ist Paulus reflektiert sie in Roumlm 129-21 Auch im johanneischen Kon-zept der Bruderliebe ist sie vorausgesetzt

15 Max Weber Politik als Beruf (1919) in ders Gesammelte politische Schriften hg v J Winckelmann Tuumlbingen 31971 505-560 bdquoMit der Bergpredigt ist es eine ernstere Sache als die glauben die diese Gebote heute gern zitieren Wenn es in Konsequenz der akosmistischen Liebesethik heiszligt dem Uumlbel nicht widerstehen mit Gewaltlsquo ndash so gilt fuumlr den Politiker der Satz du sollst dem Uumlbel gewaltsam widerstehen sonst ndash bist du fuumlr seine Uumlberhandnahme verantwortlich (550f)ldquo 16 Der Jude Tryphon plaumldiert nach Justin dial 52 bdquoIch weiszlig auch dass eure Lehren die in dem sogenannten Evangelium stehen so erhaben und groszlig sind dass wie ich meine kein Mensch sie beobachten kannldquo 17 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 Neuausgabe Frei-burg - Basel - Wien 2007 (engl 1993) Neusner praumlzisiert Jesus maszlige sich das Recht Gottes an so zu sprechen wie es die Bergpredigt uumlberliefert 18 Th Soumlding Die Verkuumlndigung Jesu 570-583

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d Nach Lk 6 sind alle Houmlrer der Botschaft Jesu zur Feindesliebe gerufen In erster Linie sind es seine Juumlnger als stellvertretende Adressaten der Seligpreisungen und Weherufe (Lk 620-26) Lukas sieht die Kirche als Ort wo primaumlr die Feindesliebe ver-wirklicht sein will gerade auch gegenuumlber Nicht-Christen (und berichtet in der Apos-telgeschichte dass dies in der Urgemeinde auch geschehen sei) Nach Matthaumlus hat Jesus direkt seine Juumlnger angesprochen (Mt 51f) ndash aber so dass alles Volk (vgl 423ff) es houmlren und daruumlber staunen kann (Mt 728f) Die Pointe ist missionstheologisch Wenn die Juumlnger ausziehen alle Voumllker ihrerseits zu Juumlngern zu machen sollen sie nicht nur taufen sondern auch lehren bdquoalles zu haltenldquo was Jesus ihnen bdquogebotenldquo hat (Mt 2818ff)

d Die Feindschaften die Jesu Gebot anspricht sind so paradigmatisch ausgewaumlhlt und scharf zugespitzt dass prinzipiell jede denkbare Feindschaft im Blick stehen muss Es werden die empoumlrendsten Formen paradigmatisch konkretisiert

bull religioumlse Verfolgung (Lk 628 Mt 544) bull koumlrperliche Gewalt selbst wenn sie demuumltigen soll (Lk 628f Mt 539) bull wirtschaftliche Ausbeutung auch wenn sie sich den Anschein des Rechts gibt

(Mt 540) bull politisch-militaumlrische Unterdruumlckung auch wenn sie schier uumlbermaumlchtig

scheint (Mt 541) Jede denkbare Grenze der Feindesliebe wird uumlberschritten der Familie und Ver-wandtschaft des Freundeskreises der Glaubensgenossen der (mehr oder weniger) Guten der Angehoumlrigen des eigenen Volkes (vgl Lk 1025-37)

e Die Feindesliebe zeigt sich in den gleichfalls paradigmatischen Konkretisierungen bull als Fuumlrbitte fuumlr die Verfolger (Lk 628 par Mt 544) und Segnen der

Blasphemiker (Lk 628) ndash im Gegensatz zum Verfluchen und zur Bitte um ihre Vernichtung durch Gottes Strafgericht

bull als aktiver Gewaltverzicht gegenuumlber erlittener Uumlbermacht (Lk 629 Mt 538-42) ndash im Gegensatz dazu Unrecht mit gleicher Muumlnze heimzuzahlen

bull als selbstlose Unterstuumltzung der Armen auch wenn deren Bitten laumlstig faumlllt (Lk 630) ndash im Gegensatz zum Kalkuumll des do ut des

bull als engagierter Einsatz fuumlr das Gute (Lk 62733) ndash im Gegensatz zu einem Mitmachen wie zur Resignation

Feindesliebe ist nicht passiv sondern aktiv Sie kreiert eine neue Situation In diesen Konkretisierungen erhellt die Feindesliebe als radikalisierte Naumlchstenliebe (Lev 1917f) die im Kontext der Gottessliebe steht (Mk 1228-34 parr) Sie ist nicht das Einverstaumlndnis mit Unrecht Schuld und Schwaumlche schon gar nicht schwaumlchliches Hinnehmen von Unrecht sondern im Gegenteil starkes aber deshalb auch leidensfauml-higes Eintreten dafuumlr Boumlses durch Gutes zu uumlberwinden (Roumlm 1221)

Thomas Soumlding

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h Die Feindesliebe ist theologisch begruumlndet und motiviert bull Der theologische Grund ist das Handeln Gottes selbst der als Schoumlpfer und Er-

loumlser permanent Feindesliebe praktiziert (Lk 635 Mt 545 vgl Roumlm 55ff) o Mit dem Blick ins Buch der Natur zeigt Jesus nach Matthaumlus Gott als

den der auch den Boumlsen und Ungerechten das Leben schenkt weil er will dass sie leben (nicht weil er will oder toleriert dass sie Boumlses und Unrechtes tun)

o Der Vergleich mit dem aumlhnlichen Motiv bei Seneca der (nicht zu Feindesliebe aber) zu groszligmuumltiger Gelassenheit gegenuumlber Feinden mahnt macht den Unterschied deutlich denn nach ihm kann Gott nicht anders als die Unterstuumltzung der Boumlsen in Kauf zu nehmen wenn er den Guten helfen will ndash wofuumlr er sich entscheidet weil das Gute mehr wert ist als das Boumlse

bull Das theologische Motiv ist die Nachahmung Gottes die imitatio Dei (Lk 636 Mt 548) der die Verheiszligung ewigen Lebens gilt des bdquoLohnesldquo der in der Gotteskindschaft besteht

In dieser Theozentrik ist die Feindesliebe Zustimmung zu der Liebe mit der Gott auch die Ungerechten und Suumlnder liebt ndash ohne ihre Suumlnde gutzuheiszligen aber auch ohne ihnen wegen ihrer Schuld seine Zuwendung zu entziehen

i Das Gebot der Feindesliebe ist angewandte Christologie bull Einerseits ist es Jesus der das Gebot ndash nach Matthaumlus im Gegensatz zur herr-

schenden Auslegung des atl Liebesgebotes ndash der Feindesliebe aufstellt bull Andererseits ist es Jesus der das Gebot umfassend verwirklicht ndash vorbildlich

in seinem Leiden heilbringend in seiner Lebenshingabe aus reiner Liebe

f Das bdquoAuge um Auge Zahn um Zahnldquo (Ex 2124) begrenzt die Vergeltung das bdquoIch aber sage euchldquo aktiviert zur Versoumlhnung Das alttestamentliche Gebot der Naumlchstenliebe umfasst innerhalb Israels Feindesliebe (Lk 1917f) und weitet sie aus (Lev 1934) Das bdquoIch aber sage euchldquo setzt sich von einer Auslegung ab die aus Sorge um Gottes Gerechtigkeit die Grenzen der Erloumlsung zu eng zieht Dafuumlr gibt es Beispiele in Qumran Der originaumlre Bezug des Gebotes der Naumlchstenliebe auf das Volk Gottes wird nicht aufgegeben aber ausgeweitet

bull In der Juumlngerschaft ist ndash in Israel und uumlber Israel hinaus ndash der Ort an dem die Feindesliebe so praktiziert werden soll dass sie ausstrahlt (vgl Mt 513-16)

bull Zum Volk Gottes gehoumlren nicht nur die Juden und alle die an Jesus glauben Gott hat vielmehr Jesus (nach Matthaumlus wie nach Lukas) deshalb gesendet damit durch seinen Dienst am Heil der Menschen der reine Feindesliebe ist alle Voumllker zu seinem Volk werden Die Kirche repraumlsentiert und realisiert stellvertretend diese Heilsuniversalitaumlt Ihre Feindesliebe konkretisiert sie ethisch

Feindesliebe durchbricht das Prinzip der Vergeltung ohne das Prinzip der Gerechtig-keit aufzugeben Das ist nur deshalb sittlich erlaubt und geboten weil das Gebot in der Liebe Gottes selbst begruumlndet ist die sich in der Feindesliebe Jesu realisiert die ihrerseits der theologische Nerv seines Lebens und Sterbens zur Erloumlsung der Suumlnder ist

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j Das psychologische Problem das Sigmund Freud scharf markiert hat19

Das ethische Problem das Fjodor Dostojewksi (Die Bruumlder Karamasow) Iwan in den Mund legt lautet

besteht da-rin dass blinde Aggressionen entwickelt wer sich moralisch uumlberfordert Dieses Prob-lem laumlsst sich wohl nur spirituell loumlsen in der Nachfolge Jesu die auf seine Kraft setzt in den Nachfolgern das Gute zu tun

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k Das Problem der Erfuumlllbarkeit der Bergpredigt und speziell des Gebotes der Fein-desliebe bewegt Theologie und Kirche seit aumlltester Zeit Eine erhebliche Verschaumlrfung des Problems geschieht durch eine moderne Emotionalisierung der Feindesliebe Wird sie aber als Ausdruck der Agape verstanden begruumlndet sie ndash in der Nachfolge Jesu ndash eine Praxis des Glaubens aus der Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe Als solche kann sie durchaus eingeuumlbt ausgebildet und gefestigt werden Sie setzt die Suche nach dem besten Weg der Verwirklichung nicht aus sondern ein Sie entspricht aber darin der Gottebenbildlichkeit aller Menschen und der Gotteskindschaft der zu Erloumlsenden dass sie an der Unbedingtheit der Bejahung die Gott ihnen zuteilwerden laumlsst Anteil hat

dass Feindesliebe letztlich Kumpanei mit den Taumltern auf Kosten der Opfer sei Dieses Problem das haumlufig nicht gesehen wird laumlsst sich nur soteriolo-gisch loumlsen weil derjenige der selbst aus reiner Liebe die Schuld der anderen ertra-gen und vergeben hat das Reich Gottes als umfassende Vollendung von Gerechtig-keit Friede und Freude (Roumlm 1417) verwirklicht

19 Das Unbehagen in der Kultur in Gesammelte Werke 14 London 1948 419-506 468-475493-506 (Abschnitte V VIII) bdquoNachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte war die aumluszligerste Intoleranz des Christentums gegen die drauszligen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge gewordenldquo (374) 19 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 20 bdquoSchlieszliglich will ich auch gar nicht dass die Mutter den Peiniger umarmt der ihren Sohn von Hunden zerreiszligen lieszlig Sie darf sich nicht unterstehen ihm zu verzeihen Wenn sie will mag sie verzeihen soweit es sie selber angeht sie mag dem Peiniger ihr maszligloses Mutterleid ver-zeihen aber die Leiden ihres zerfleischten Kindes zu verzeihen hat sie kein Recht sie darf es nicht wagen dem Peiniger zu verzeihen auch wenn das Kind selber ihm verzieheldquo (Muumlnchen 1958 330f

Thomas Soumlding

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7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)

71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20) a Mit der Fuszligwaschung21

b Die Fuszligwaschung ist das Zeichen der Passion Ihr folgen Gespraumlche mit den Juumln-gern die zwar von Jesus gewaschen und gereinigt sind aber groumlszligte Schwierigkeiten haben zu verstehen was sich tut

beginnt der 2 Hauptteil des Johannesevangeliums Das oumlffentliche Wirken ist abgeschlossen Jesus konzentriert sich auf seine Juumlnger bevor er oumlffentlich hingerichtet werden wird Er bereitet sie auf seine Passion und seine Auferstehung vor die den Weg zu Gott bahnen werden

bull Auf die Fuszligwaschung folgt zuerst eine Trias unmittelbarer Konsequenzen o Judas wird als Verraumlter identifiziert und verlaumlsst den Juumlngerkreis (Joh

1321-30) o Die Juumlnger werden zur wechselseitigen Liebe gemahnt (Joh 1331-35) o Petrus wird seine Verleugnung vorhergesagt (Joh 1336ff)

bull Auf die Fuszligwaschung folgen ausfuumlhrliche Abschiedsworte (Joh 14-16) die in ein Abschiedsgebet muumlnden (Joh 17)

c Joh 131-20 ist uumlbersichtlich aufgebaut

Joh 131 Der Hintergrund Joh 132-5 Die Fuszligwaschung beim Mahl 132 Die Situation 133ff Die Handlung Jesu Joh 136-11 Das Gespraumlch mit Petrus 136 Der erste Einwand des Petrus 137 Die erste Antwort Jesu 138a Der zweite Einwand des Petrus 138b Die zweite Antwort Jesu 139 Der dritte Einwand des Petrus 1310 Die dritte Antwort Jesu 1311 Kommentar des Evangelisten Joh 1312-20 Die Deutung vor allen Juumlngern 1312-17 Die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu 1318f Die Ansage eines Verrates 1320 Die Juumlnger als Apostel

21 Vgl Luise Abramowski Die Geschichte von der Fuszligwaschung in Zeitschrift fuumlr Theologie und Kirche 102 (2005) 176-203

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d Die Exegese diskutiert in welchem Verhaumlltnis die beiden Deutungen zu einander stehen Die erste ist soteriologisch die zweite ethisch ausgerichtet

bull Recht oft wird aus der Doppelung auf ein literarisches Wachstum des Textes geschlossen

o Moumlglichkeit 1 Die soteriologische Deutung ist die aumlltere die paraumlnetische die se-kundaumlre22

o Moumlglichkeit 2 Die ethische Deutung ist urspruumlnglich die soteriologisch nachtraumlglich zwischengeschoben

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Beide Ansaumltze sind von weitereichenden Voraussetzung zur relativen Chrono-logie des Corpus Johanneum gepraumlgt

o Wer den Ersten Johannesbrief fuumlr aumllter erachtet wird die ethische Deutung fuumlr urspruumlnglich halten

o Wer das Evangelium fuumlr aumllter erachtet wird eher die soteriologische Deutung als originaumlr einschaumltzen

Die ethische Deutung wird dann fuumlr sekundaumlr zu erachten wenn man zu dem Urteil gelangt die johanneische Theologie sei urspruumlnglich wenig konkret und eher spirituell ausgerichtet waumlhrend erst sekundaumlr Johannes gesamtkirchlich eingenordet worden sei Beide Ansaumltze gehen von einem literarischen Schichtenmodell aus das der Ei-genart johanneischer Literatur in den Evangelienerzaumlhlungen nicht angemes-sen ist Beide werden durch das Modell einer bdquorelectureldquo gemildert das ndash aumlhnlich wie in der Prophetenexegese des Alten Testaments ndash mit einer Fortschreibung der Texte rechnet aber sie zugleich als vergegenwaumlrtigende Aneignung des vor-gegebenen Textes versteht24

bull Es mehren sich wieder die Stimmen die Joh 13 als literarisch einheitlich anse-hen

Allerdings stoumlszligt dieses Modell auf die Schwie-rigkeit dass das Liebesgebot das die ethische Deutung vorbereitet in Joh 1331-35 dominant ist und nicht nur in Joh 15-16 ausgefuumlhrt sondern auch in Joh 1421 angebahnt wird

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Die Doppelung erklaumlrt sich aus der Theologie der Liebe Sie hat eine Innenseite die Liebe Jesu zu sein Seinen in der sich nach Joh 1421 die Liebe das Vaters zum Sohn ereignet und sie hat eine Auszligenseite die sich nach Joh 1331-35 und Joh 15 in der Bruderliebe der Juumlnger erweist von der die Welt angezogen werden wird (Joh 17)

Allerdings braucht es eine Erklaumlrung fuumlr die Deutung Eine moumlgliche Er-klaumlrung waumlre der Adressatenwechsel aber die Petrusszene spielt sich vor den Augen und Ohren aller ab

22 So Rudolf Schnackenburg Joh III passim 23 So Udo Schnelle Joh 237 Er will eine Ursprungsform (132a4512ab162017) die recht nahe bei Lk 22 und der Mahnung der Juumlnger zum Dienen steht zuerst in der johanneischen Schule (der er den Ersten Johannesbrief mit seiner Theologie der Liebe zurechnet) um die Vorbildethik erweitert sehen (1312c13-15) bevor der Evangelist selbst von der Einleitung an (131) konsequent seine soteriologische Deutung ins Fundament der Geschichte eingebaut habe (136-10ab) 24 So Jean Zumstein Joh 25 So Hartwig Thyen Joh

Thomas Soumlding

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711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus a Die Liebe Jesu zu den Seinen (Joh 131) verwirklicht die Liebe Gottes zur Welt (Joh 316) die von der Liebe des Vaters zum Sohn getragen wird (Joh 335 1017) Es ist die nach der Zwischennotiz von Jesu Freundschaft mit Martha Maria und Lazarus (Joh 115) erste Betonung der Agape Jesu von der spaumlter das Liebesgebot Joh 1334 und die Verheiszligung dauernden Beistandes der Juumlnger gedeckt ist (Joh 1421-31)

b In der Liebe Jesu zu den Seinen verbindet sich die Liebe Gottes zur Welt mit der Liebe Jesu zu seinen Freunden (Joh 15) Es ist eine unbedingte Bejahung und Wert-schaumltzung die auf Sympathie beruht und lebendig macht

c Die Liebe erweist Jesus den bdquoSeinenldquo bull Im Ruumlckraum steht Joh 19-13 dass die bdquoSeinenldquo den Logos abgelehnt haben

ndash bis auf diejenigen die an seinen Namen glauben und deshalb das Recht der Gotteskindschaft erhalten

bull Die bdquoSeinenldquo sind die Juumlnger die sich von Jesus in die Nachfolge haben rufen lassen (Joh 135-51) und in der galilaumlischen Krise Jesus nicht verlassen haben (Joh 660-71) Sie haben ihrerseits schwere Glaubensprobleme ndash aber werden sie durch Jesus uumlberwinden

bull In Joh 14 und Joh 17 wird erklaumlrt werden dass die Liebe Jesu zu den Seinen ndash wie die zum Lieblingsjuumlnger ndash nicht exklusiv sondern positiv zu verstehen ist

Dass Jesus den Seinen die Liebe bdquobis zum Endeldquo erweist verweist auf den Tod Jesu Das griechische Wort ist mehrdeutig teloj kann bdquoEndeldquo aber auch bdquoZielldquo bedeuten Beide Bedeutungen schwingen mit

bull Der Tod Jesu ist das definitive Ende seiner geschichtlichen Sendung das zu akzeptieren wird den Juumlngern ungeheuer schwer fallen

bull Der Tod Jesu ist das Ziel seines Wirkens insofern es seine Liebe und Hingabe definitiv werden laumlsst

Der Korrespondenzsatz ist das Todeswort Jesu Joh 1930 bull Es ist ein Gebet wie nach allen Synoptikern (Mk 1534 par Mt 2746 bdquoGott

mein Gott warum hast du mich verlassenldquo ndash Ps 222 Lk 2346 bdquoVater in deine Haumlnde gebe ich meinen Geistldquo ndash Ps 316) aber als letztes Offenba-rungswort an die Welt

bull Die traditionelle Uumlbersetzung lautet bdquoEs ist vollbrachtldquo Man kann aber auch sagen bdquovollendetldquo (Muumlnchner Neues Testament Bible de Jerusaleme bdquoCest acheveacuteldquo) oder bdquozu Endeldquo (King James Bible bdquoIt is finishedldquo)

Eine moumlgliche auf Joh 131 abgestimmte Uumlbersetzung waumlre (wie im Muumlnchener Neu-en Testament) bdquoEs ist vollendetldquo (tetelestai)

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712 Die Fuszligwaschung a Jemandem vor dem Mahl die Fuumlszlige zu waschen ist ein Dienst den traditioneller-weise Sklaven ihren Herren erweisen (vgl 1Sam 2541)26

Joh 1313f zeigt dass die sozialen Dimensionen der Fuszligwaschung klar vor Augen stehen der Gesamttext dass der Ritus sakramental gefuumlllt wird

Das Waschen der Fuumlszlige ist ein Ritus der Vorbereitung der eine koumlrperliche Wohltat mit einer Geste der Houmlflich-keit verbindet die Anerkennung und Ehrerbietung meint (Gen 184 vgl Lk 744) und zudem mit einer rituellen Bedeutung versieht die einen Uumlbergang gestaltet von drauszligen nach drinnen vom Alltag zum Fest vom Profanen zum Heiligen

7121 Die soteriologische Deutung a Im Gespraumlch mit Petrus wird die Bedeutung der Fuszligwaschung soteriologisch gedeu-tet Sie ist eine bdquoReinigungldquo ndash nicht wie in der Taufe sondern wie in der Buszlige Petrus braucht keine Wiederholung der Wiedergeburt die er als glaumlubig gewordener Taumluferjuumlnger erlebt hat aber er bedarf mehr als andere der Vergebung weil er ndash ent-gegen seinem Vorsatz ndash Jesus verleugnet Waumlhrend er sagt fuumlr Jesus sterben zu wol-len muss gerade fuumlr ihn Jesus sterben

b Petrus erkennt nach Joh 136 das Unmoumlgliche der Situation dass der Herr ihm ei-nen Sklavendienst leistet Er wehrt diesen Dienst doppelt ab (Joh 1368a) ndash so wie er nach Joh 1336ff nicht will dass Jesus fuumlr ihn sein Leben einsetzt In diesem Nein kommt eine Liebe zu Jesus zum Ausdruck die bestimmen will Gleichzeitig aber ist das Nein auch Ausdruck des Missverstaumlndnisses dass Petrus der Diakonie Jesu womoumlglich gar nicht bedarf Petrus verschaumlrft seinen Widerspruch der aus Unverstaumlndnis stammt indem er dann ganz gewaschen werden will (Joh 139) ndash womit er aber seine Berufung leugnet

c Jesus deckt das Missverstaumlndnis des Petrus auf Die Fuszligwaschung steht nicht am Anfang sondern an einer Biegung des Weges mit Jesus Die Weg-Gemeinschaft ist darin begruumlndet dass Jesus sich in seinen Dienst stellt Dem muss entsprechen dass Petrus sich den Dienst gefallen laumlsst Er muss Jesus so nahe wie in der Fuszligwaschung an sich heranlassen Er muss den Rollentausch akzeptieren Die Langversion von Vers 10 die durch den Codex Vaticanus gedeckt und als lectio difficilior gesichert ist entspricht dem Kontext

bull Im Bild Auch nach dem Vollbad macht man sich wieder die Fuumlszlige schmutzig Man laumlsst sie sich waschen damit auch sie sauber sind man laumlsst nur sie waschen weil der sonstige Koumlrper gereinigt ist

bull In der Sache Wer durch das Bad der Wiedergeburt die Taufe bdquoganz reinldquo geworden ist muss diese Reinheit aber durch seine Schuld verloren hat muss sich die Fuumlszlige waschen lassen um durch Jesus zu Gott zu gelangen Dem entspricht am ehesten eine Deutung auf die Buszlige wie sie orthodoxen Vaumlter favorisieren

26 Hellenistische Parallelen Neuer Wettstein I2 636-644

Thomas Soumlding

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7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

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  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
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          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
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              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
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                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 18: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

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c Der gesamte Text hat eine dialogische Struktur 1 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach dem Sinn des Lebens (Lk 1025) 2 Jesus fragt zuruumlck indem er auf das Gesetz verweist (1026) 3 Der Gesetzeslehrer zitiert das Doppelgebot (Lk 1027) 4 Jesus bestaumltigt und fordert zur Praxis (Lk 1028) 5 Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nach der Identitaumlt des Naumlchsten (Lk 1029) 6 Jesus fragt zuruumlck indem er das Gleichnis erzaumlhlt (Lk 1030-36) 7 Der Gesetzeslehrer gibt die richtige Antwort (Lk 1037a) 8 Jesus fordert zum Handeln (Lk 1037b)

Jesus agiert im sokratischen Stil Er laumlsst den Fragesteller selbst die Antwort finden ndash nicht irgendwo sondern im Gesetz und in seinem Gewissen Das spiegelt fuumlr Lukas die Uumlberlegenheit Jesu und die Menschlichkeit seiner Ethik

d Das Gleichnis arbeitet mit einem scharfen Kontrast bull Auf der einen Seite stehen der Priester und der Levit Repraumlsentanten des Ju-

dentums Sie muumlssten genau wissen was zu tun ist Sie haben wenn sie wie der Verletzte auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho sind auch keinen Grund sich aus kultischen Uumlberlegungen um sich nicht zu verunreinigen an einem vorbeizugehen von dem sie glauben dass er tot sei wenn sie auf dem Weg zuruumlck sind ist fuumlr die ggf erforderliche rituelle Reinigung genuumlgend Zeit

bull Auf der anderen Seite steht der Samariter dem man es am wenigsten zutrau-en wuumlrde dass er tut was recht ist Dessen Rolle wird aber von Jesus stark betont nicht nur durch den Kontrast sondern auch dadurch dass er weit uumlber die Erste Hilfe hinaus mehr als genug tut um dem Verletzten zu helfen Er selbst leistet den sprichwoumlrtlich gewordenen Samariterdienst und treibt ungewoumlhnlich intensive Vorsorge dass der Mann nachhaltig gesundet ndash nach allen Regeln der (damaligen) aumlrztlichen Kunst

Dieser Kontrast war den Menschen sowohl zur Zeit Jesu als auch zur Zeit des Evange-listen Lukas deutlich Lk 952-56 hat ihn frisch in Erinnerung gerufen

e Jesus laumlsst durch die Kunst seiner narrativen Argumentation dem Gesetzeslehrer keine Chance nicht von seiner Antwort uumlberzeugt zu werden die seinen eigenen mo-ralischen Standpunkt veraumlndert Alle Menschen die ein Herz im Leibe haben werden erkennen dass nicht der Priester nicht der Levit sondern ausgerechnet der feindli-che der bdquohaumlretischeldquo Samariter das einzig Richtige getan hat indem er dem unter die Raumluber gefallenen Menschen geholfen hat Das aber ist schon der erste Schritt in die Richtung die Jesus den Menschen zeigt damit sie Gott und den Naumlchsten neu entde-cken koumlnnen Wer aber nicht nur tatkraumlftig wie der Samariter hilft sondern als Jude weiszlig dass er ihn wegen seiner Naumlchstenliebe nachahmen sollte hat eine Grenze uumlberschritten die durch das Nahekommen der Basileia durchlaumlssig geworden ist Der Gesetzeslehrer versperrt sich dieser Lektion nicht Er ist deshalb ein positives Beispiel

Literatur Andregrave Lacoque Lhermeacuteneutique de Jeacutesus au sujet de la loi dans la Parabole du Bon Samari-

tain in Etudes theacuteologiques et religieuses 78 (2003) 25-46

Ruben Zimmermann Die Etho-Poietik des Samaritergleichnisses (Lk 1025-37) Eine Ethik des Schauens in einer Kultur des Wegschauens in Wort und Dienst 29 (2007) 51-69

Thomas Soumlding

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6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)

a Die fuumlnfte und sechste Antithese bilden bei Matthaumlus den Houmlhepunkt der Reihe die sich am Dekalog orientiert in der Feldrede bei Lukas markiert das Gebot der Feindes-liebe den Mittelpunkt der Ethik Die Feindesliebe bezeichnet in groumlszligter Konsequenz den Standpunkt der Moralitaumlt steht aber auch im Brennpunkt der Kritik

bull Ist Gewaltlosigkeit wuumlrdelos verantwortungslos kraftlos So Nietzsche14

bull Ist Feindesliebe unrealistisch So der gesunde Menschenverstand und das Ur-teil professioneller Politik

15 So auch der juumldische Einwand16 den zuletzt Jacob Neusner vorgetragen hat17

Die antithetische Form bei Matthaumlus zeigt das Potential der Kontroverse Es ist nicht das Ziel der Exegese sie aufzuloumlsen sondern sie auszuloumlsen

b Der Blick in die Synopse zeigt im Vergleich mit Lk 627-36 zweierlei bull Die antithetische Form ist ndash hier wie sonst ndash ein matthaumlisches Spezifikum Sie

dient der Profilierung der Ethik Jesu im Gegenuumlber zur Tora ndash unter dem Vor-zeichen der Erfuumlllung (Mt 517-20)

bull Bei Lukas ist Gewaltverzicht direkter Ausdruck der Feindesliebe Matthaumlus dif-ferenziert und kombiniert um zu akzentuieren

Die Synopse fordert bei der lukanischen Uumlberlieferungsform anzusetzen aber die matthaumlische Variante nicht als sekundaumlr abzutun sondern als Reflex jesuanischer Konkretionen in den Blick zu nehmen

c Das Gebot der Feindesliebe tradiert uumlber die Redenquelle (Q) ist Urgestein und Herzstuumlck der Ethik Jesu18

14 Also sprach Zarathustra III 21 (Werke VI1) bdquoIch sollte nur Feinde haben die zu hassen sind aber nicht Feinde zum Verachten ihr muumlsst stolz auf euren Feind sein (260)ldquo

Die Stellung in der matthaumlischen Bergpredigt und der luka-nischen Feldrede zeigt dass im Urchristentum diese zentrale Bedeutung gesehen und tradiert worden ist Paulus reflektiert sie in Roumlm 129-21 Auch im johanneischen Kon-zept der Bruderliebe ist sie vorausgesetzt

15 Max Weber Politik als Beruf (1919) in ders Gesammelte politische Schriften hg v J Winckelmann Tuumlbingen 31971 505-560 bdquoMit der Bergpredigt ist es eine ernstere Sache als die glauben die diese Gebote heute gern zitieren Wenn es in Konsequenz der akosmistischen Liebesethik heiszligt dem Uumlbel nicht widerstehen mit Gewaltlsquo ndash so gilt fuumlr den Politiker der Satz du sollst dem Uumlbel gewaltsam widerstehen sonst ndash bist du fuumlr seine Uumlberhandnahme verantwortlich (550f)ldquo 16 Der Jude Tryphon plaumldiert nach Justin dial 52 bdquoIch weiszlig auch dass eure Lehren die in dem sogenannten Evangelium stehen so erhaben und groszlig sind dass wie ich meine kein Mensch sie beobachten kannldquo 17 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 Neuausgabe Frei-burg - Basel - Wien 2007 (engl 1993) Neusner praumlzisiert Jesus maszlige sich das Recht Gottes an so zu sprechen wie es die Bergpredigt uumlberliefert 18 Th Soumlding Die Verkuumlndigung Jesu 570-583

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d Nach Lk 6 sind alle Houmlrer der Botschaft Jesu zur Feindesliebe gerufen In erster Linie sind es seine Juumlnger als stellvertretende Adressaten der Seligpreisungen und Weherufe (Lk 620-26) Lukas sieht die Kirche als Ort wo primaumlr die Feindesliebe ver-wirklicht sein will gerade auch gegenuumlber Nicht-Christen (und berichtet in der Apos-telgeschichte dass dies in der Urgemeinde auch geschehen sei) Nach Matthaumlus hat Jesus direkt seine Juumlnger angesprochen (Mt 51f) ndash aber so dass alles Volk (vgl 423ff) es houmlren und daruumlber staunen kann (Mt 728f) Die Pointe ist missionstheologisch Wenn die Juumlnger ausziehen alle Voumllker ihrerseits zu Juumlngern zu machen sollen sie nicht nur taufen sondern auch lehren bdquoalles zu haltenldquo was Jesus ihnen bdquogebotenldquo hat (Mt 2818ff)

d Die Feindschaften die Jesu Gebot anspricht sind so paradigmatisch ausgewaumlhlt und scharf zugespitzt dass prinzipiell jede denkbare Feindschaft im Blick stehen muss Es werden die empoumlrendsten Formen paradigmatisch konkretisiert

bull religioumlse Verfolgung (Lk 628 Mt 544) bull koumlrperliche Gewalt selbst wenn sie demuumltigen soll (Lk 628f Mt 539) bull wirtschaftliche Ausbeutung auch wenn sie sich den Anschein des Rechts gibt

(Mt 540) bull politisch-militaumlrische Unterdruumlckung auch wenn sie schier uumlbermaumlchtig

scheint (Mt 541) Jede denkbare Grenze der Feindesliebe wird uumlberschritten der Familie und Ver-wandtschaft des Freundeskreises der Glaubensgenossen der (mehr oder weniger) Guten der Angehoumlrigen des eigenen Volkes (vgl Lk 1025-37)

e Die Feindesliebe zeigt sich in den gleichfalls paradigmatischen Konkretisierungen bull als Fuumlrbitte fuumlr die Verfolger (Lk 628 par Mt 544) und Segnen der

Blasphemiker (Lk 628) ndash im Gegensatz zum Verfluchen und zur Bitte um ihre Vernichtung durch Gottes Strafgericht

bull als aktiver Gewaltverzicht gegenuumlber erlittener Uumlbermacht (Lk 629 Mt 538-42) ndash im Gegensatz dazu Unrecht mit gleicher Muumlnze heimzuzahlen

bull als selbstlose Unterstuumltzung der Armen auch wenn deren Bitten laumlstig faumlllt (Lk 630) ndash im Gegensatz zum Kalkuumll des do ut des

bull als engagierter Einsatz fuumlr das Gute (Lk 62733) ndash im Gegensatz zu einem Mitmachen wie zur Resignation

Feindesliebe ist nicht passiv sondern aktiv Sie kreiert eine neue Situation In diesen Konkretisierungen erhellt die Feindesliebe als radikalisierte Naumlchstenliebe (Lev 1917f) die im Kontext der Gottessliebe steht (Mk 1228-34 parr) Sie ist nicht das Einverstaumlndnis mit Unrecht Schuld und Schwaumlche schon gar nicht schwaumlchliches Hinnehmen von Unrecht sondern im Gegenteil starkes aber deshalb auch leidensfauml-higes Eintreten dafuumlr Boumlses durch Gutes zu uumlberwinden (Roumlm 1221)

Thomas Soumlding

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h Die Feindesliebe ist theologisch begruumlndet und motiviert bull Der theologische Grund ist das Handeln Gottes selbst der als Schoumlpfer und Er-

loumlser permanent Feindesliebe praktiziert (Lk 635 Mt 545 vgl Roumlm 55ff) o Mit dem Blick ins Buch der Natur zeigt Jesus nach Matthaumlus Gott als

den der auch den Boumlsen und Ungerechten das Leben schenkt weil er will dass sie leben (nicht weil er will oder toleriert dass sie Boumlses und Unrechtes tun)

o Der Vergleich mit dem aumlhnlichen Motiv bei Seneca der (nicht zu Feindesliebe aber) zu groszligmuumltiger Gelassenheit gegenuumlber Feinden mahnt macht den Unterschied deutlich denn nach ihm kann Gott nicht anders als die Unterstuumltzung der Boumlsen in Kauf zu nehmen wenn er den Guten helfen will ndash wofuumlr er sich entscheidet weil das Gute mehr wert ist als das Boumlse

bull Das theologische Motiv ist die Nachahmung Gottes die imitatio Dei (Lk 636 Mt 548) der die Verheiszligung ewigen Lebens gilt des bdquoLohnesldquo der in der Gotteskindschaft besteht

In dieser Theozentrik ist die Feindesliebe Zustimmung zu der Liebe mit der Gott auch die Ungerechten und Suumlnder liebt ndash ohne ihre Suumlnde gutzuheiszligen aber auch ohne ihnen wegen ihrer Schuld seine Zuwendung zu entziehen

i Das Gebot der Feindesliebe ist angewandte Christologie bull Einerseits ist es Jesus der das Gebot ndash nach Matthaumlus im Gegensatz zur herr-

schenden Auslegung des atl Liebesgebotes ndash der Feindesliebe aufstellt bull Andererseits ist es Jesus der das Gebot umfassend verwirklicht ndash vorbildlich

in seinem Leiden heilbringend in seiner Lebenshingabe aus reiner Liebe

f Das bdquoAuge um Auge Zahn um Zahnldquo (Ex 2124) begrenzt die Vergeltung das bdquoIch aber sage euchldquo aktiviert zur Versoumlhnung Das alttestamentliche Gebot der Naumlchstenliebe umfasst innerhalb Israels Feindesliebe (Lk 1917f) und weitet sie aus (Lev 1934) Das bdquoIch aber sage euchldquo setzt sich von einer Auslegung ab die aus Sorge um Gottes Gerechtigkeit die Grenzen der Erloumlsung zu eng zieht Dafuumlr gibt es Beispiele in Qumran Der originaumlre Bezug des Gebotes der Naumlchstenliebe auf das Volk Gottes wird nicht aufgegeben aber ausgeweitet

bull In der Juumlngerschaft ist ndash in Israel und uumlber Israel hinaus ndash der Ort an dem die Feindesliebe so praktiziert werden soll dass sie ausstrahlt (vgl Mt 513-16)

bull Zum Volk Gottes gehoumlren nicht nur die Juden und alle die an Jesus glauben Gott hat vielmehr Jesus (nach Matthaumlus wie nach Lukas) deshalb gesendet damit durch seinen Dienst am Heil der Menschen der reine Feindesliebe ist alle Voumllker zu seinem Volk werden Die Kirche repraumlsentiert und realisiert stellvertretend diese Heilsuniversalitaumlt Ihre Feindesliebe konkretisiert sie ethisch

Feindesliebe durchbricht das Prinzip der Vergeltung ohne das Prinzip der Gerechtig-keit aufzugeben Das ist nur deshalb sittlich erlaubt und geboten weil das Gebot in der Liebe Gottes selbst begruumlndet ist die sich in der Feindesliebe Jesu realisiert die ihrerseits der theologische Nerv seines Lebens und Sterbens zur Erloumlsung der Suumlnder ist

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j Das psychologische Problem das Sigmund Freud scharf markiert hat19

Das ethische Problem das Fjodor Dostojewksi (Die Bruumlder Karamasow) Iwan in den Mund legt lautet

besteht da-rin dass blinde Aggressionen entwickelt wer sich moralisch uumlberfordert Dieses Prob-lem laumlsst sich wohl nur spirituell loumlsen in der Nachfolge Jesu die auf seine Kraft setzt in den Nachfolgern das Gute zu tun

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k Das Problem der Erfuumlllbarkeit der Bergpredigt und speziell des Gebotes der Fein-desliebe bewegt Theologie und Kirche seit aumlltester Zeit Eine erhebliche Verschaumlrfung des Problems geschieht durch eine moderne Emotionalisierung der Feindesliebe Wird sie aber als Ausdruck der Agape verstanden begruumlndet sie ndash in der Nachfolge Jesu ndash eine Praxis des Glaubens aus der Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe Als solche kann sie durchaus eingeuumlbt ausgebildet und gefestigt werden Sie setzt die Suche nach dem besten Weg der Verwirklichung nicht aus sondern ein Sie entspricht aber darin der Gottebenbildlichkeit aller Menschen und der Gotteskindschaft der zu Erloumlsenden dass sie an der Unbedingtheit der Bejahung die Gott ihnen zuteilwerden laumlsst Anteil hat

dass Feindesliebe letztlich Kumpanei mit den Taumltern auf Kosten der Opfer sei Dieses Problem das haumlufig nicht gesehen wird laumlsst sich nur soteriolo-gisch loumlsen weil derjenige der selbst aus reiner Liebe die Schuld der anderen ertra-gen und vergeben hat das Reich Gottes als umfassende Vollendung von Gerechtig-keit Friede und Freude (Roumlm 1417) verwirklicht

19 Das Unbehagen in der Kultur in Gesammelte Werke 14 London 1948 419-506 468-475493-506 (Abschnitte V VIII) bdquoNachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte war die aumluszligerste Intoleranz des Christentums gegen die drauszligen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge gewordenldquo (374) 19 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 20 bdquoSchlieszliglich will ich auch gar nicht dass die Mutter den Peiniger umarmt der ihren Sohn von Hunden zerreiszligen lieszlig Sie darf sich nicht unterstehen ihm zu verzeihen Wenn sie will mag sie verzeihen soweit es sie selber angeht sie mag dem Peiniger ihr maszligloses Mutterleid ver-zeihen aber die Leiden ihres zerfleischten Kindes zu verzeihen hat sie kein Recht sie darf es nicht wagen dem Peiniger zu verzeihen auch wenn das Kind selber ihm verzieheldquo (Muumlnchen 1958 330f

Thomas Soumlding

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7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)

71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20) a Mit der Fuszligwaschung21

b Die Fuszligwaschung ist das Zeichen der Passion Ihr folgen Gespraumlche mit den Juumln-gern die zwar von Jesus gewaschen und gereinigt sind aber groumlszligte Schwierigkeiten haben zu verstehen was sich tut

beginnt der 2 Hauptteil des Johannesevangeliums Das oumlffentliche Wirken ist abgeschlossen Jesus konzentriert sich auf seine Juumlnger bevor er oumlffentlich hingerichtet werden wird Er bereitet sie auf seine Passion und seine Auferstehung vor die den Weg zu Gott bahnen werden

bull Auf die Fuszligwaschung folgt zuerst eine Trias unmittelbarer Konsequenzen o Judas wird als Verraumlter identifiziert und verlaumlsst den Juumlngerkreis (Joh

1321-30) o Die Juumlnger werden zur wechselseitigen Liebe gemahnt (Joh 1331-35) o Petrus wird seine Verleugnung vorhergesagt (Joh 1336ff)

bull Auf die Fuszligwaschung folgen ausfuumlhrliche Abschiedsworte (Joh 14-16) die in ein Abschiedsgebet muumlnden (Joh 17)

c Joh 131-20 ist uumlbersichtlich aufgebaut

Joh 131 Der Hintergrund Joh 132-5 Die Fuszligwaschung beim Mahl 132 Die Situation 133ff Die Handlung Jesu Joh 136-11 Das Gespraumlch mit Petrus 136 Der erste Einwand des Petrus 137 Die erste Antwort Jesu 138a Der zweite Einwand des Petrus 138b Die zweite Antwort Jesu 139 Der dritte Einwand des Petrus 1310 Die dritte Antwort Jesu 1311 Kommentar des Evangelisten Joh 1312-20 Die Deutung vor allen Juumlngern 1312-17 Die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu 1318f Die Ansage eines Verrates 1320 Die Juumlnger als Apostel

21 Vgl Luise Abramowski Die Geschichte von der Fuszligwaschung in Zeitschrift fuumlr Theologie und Kirche 102 (2005) 176-203

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d Die Exegese diskutiert in welchem Verhaumlltnis die beiden Deutungen zu einander stehen Die erste ist soteriologisch die zweite ethisch ausgerichtet

bull Recht oft wird aus der Doppelung auf ein literarisches Wachstum des Textes geschlossen

o Moumlglichkeit 1 Die soteriologische Deutung ist die aumlltere die paraumlnetische die se-kundaumlre22

o Moumlglichkeit 2 Die ethische Deutung ist urspruumlnglich die soteriologisch nachtraumlglich zwischengeschoben

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Beide Ansaumltze sind von weitereichenden Voraussetzung zur relativen Chrono-logie des Corpus Johanneum gepraumlgt

o Wer den Ersten Johannesbrief fuumlr aumllter erachtet wird die ethische Deutung fuumlr urspruumlnglich halten

o Wer das Evangelium fuumlr aumllter erachtet wird eher die soteriologische Deutung als originaumlr einschaumltzen

Die ethische Deutung wird dann fuumlr sekundaumlr zu erachten wenn man zu dem Urteil gelangt die johanneische Theologie sei urspruumlnglich wenig konkret und eher spirituell ausgerichtet waumlhrend erst sekundaumlr Johannes gesamtkirchlich eingenordet worden sei Beide Ansaumltze gehen von einem literarischen Schichtenmodell aus das der Ei-genart johanneischer Literatur in den Evangelienerzaumlhlungen nicht angemes-sen ist Beide werden durch das Modell einer bdquorelectureldquo gemildert das ndash aumlhnlich wie in der Prophetenexegese des Alten Testaments ndash mit einer Fortschreibung der Texte rechnet aber sie zugleich als vergegenwaumlrtigende Aneignung des vor-gegebenen Textes versteht24

bull Es mehren sich wieder die Stimmen die Joh 13 als literarisch einheitlich anse-hen

Allerdings stoumlszligt dieses Modell auf die Schwie-rigkeit dass das Liebesgebot das die ethische Deutung vorbereitet in Joh 1331-35 dominant ist und nicht nur in Joh 15-16 ausgefuumlhrt sondern auch in Joh 1421 angebahnt wird

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Die Doppelung erklaumlrt sich aus der Theologie der Liebe Sie hat eine Innenseite die Liebe Jesu zu sein Seinen in der sich nach Joh 1421 die Liebe das Vaters zum Sohn ereignet und sie hat eine Auszligenseite die sich nach Joh 1331-35 und Joh 15 in der Bruderliebe der Juumlnger erweist von der die Welt angezogen werden wird (Joh 17)

Allerdings braucht es eine Erklaumlrung fuumlr die Deutung Eine moumlgliche Er-klaumlrung waumlre der Adressatenwechsel aber die Petrusszene spielt sich vor den Augen und Ohren aller ab

22 So Rudolf Schnackenburg Joh III passim 23 So Udo Schnelle Joh 237 Er will eine Ursprungsform (132a4512ab162017) die recht nahe bei Lk 22 und der Mahnung der Juumlnger zum Dienen steht zuerst in der johanneischen Schule (der er den Ersten Johannesbrief mit seiner Theologie der Liebe zurechnet) um die Vorbildethik erweitert sehen (1312c13-15) bevor der Evangelist selbst von der Einleitung an (131) konsequent seine soteriologische Deutung ins Fundament der Geschichte eingebaut habe (136-10ab) 24 So Jean Zumstein Joh 25 So Hartwig Thyen Joh

Thomas Soumlding

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711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus a Die Liebe Jesu zu den Seinen (Joh 131) verwirklicht die Liebe Gottes zur Welt (Joh 316) die von der Liebe des Vaters zum Sohn getragen wird (Joh 335 1017) Es ist die nach der Zwischennotiz von Jesu Freundschaft mit Martha Maria und Lazarus (Joh 115) erste Betonung der Agape Jesu von der spaumlter das Liebesgebot Joh 1334 und die Verheiszligung dauernden Beistandes der Juumlnger gedeckt ist (Joh 1421-31)

b In der Liebe Jesu zu den Seinen verbindet sich die Liebe Gottes zur Welt mit der Liebe Jesu zu seinen Freunden (Joh 15) Es ist eine unbedingte Bejahung und Wert-schaumltzung die auf Sympathie beruht und lebendig macht

c Die Liebe erweist Jesus den bdquoSeinenldquo bull Im Ruumlckraum steht Joh 19-13 dass die bdquoSeinenldquo den Logos abgelehnt haben

ndash bis auf diejenigen die an seinen Namen glauben und deshalb das Recht der Gotteskindschaft erhalten

bull Die bdquoSeinenldquo sind die Juumlnger die sich von Jesus in die Nachfolge haben rufen lassen (Joh 135-51) und in der galilaumlischen Krise Jesus nicht verlassen haben (Joh 660-71) Sie haben ihrerseits schwere Glaubensprobleme ndash aber werden sie durch Jesus uumlberwinden

bull In Joh 14 und Joh 17 wird erklaumlrt werden dass die Liebe Jesu zu den Seinen ndash wie die zum Lieblingsjuumlnger ndash nicht exklusiv sondern positiv zu verstehen ist

Dass Jesus den Seinen die Liebe bdquobis zum Endeldquo erweist verweist auf den Tod Jesu Das griechische Wort ist mehrdeutig teloj kann bdquoEndeldquo aber auch bdquoZielldquo bedeuten Beide Bedeutungen schwingen mit

bull Der Tod Jesu ist das definitive Ende seiner geschichtlichen Sendung das zu akzeptieren wird den Juumlngern ungeheuer schwer fallen

bull Der Tod Jesu ist das Ziel seines Wirkens insofern es seine Liebe und Hingabe definitiv werden laumlsst

Der Korrespondenzsatz ist das Todeswort Jesu Joh 1930 bull Es ist ein Gebet wie nach allen Synoptikern (Mk 1534 par Mt 2746 bdquoGott

mein Gott warum hast du mich verlassenldquo ndash Ps 222 Lk 2346 bdquoVater in deine Haumlnde gebe ich meinen Geistldquo ndash Ps 316) aber als letztes Offenba-rungswort an die Welt

bull Die traditionelle Uumlbersetzung lautet bdquoEs ist vollbrachtldquo Man kann aber auch sagen bdquovollendetldquo (Muumlnchner Neues Testament Bible de Jerusaleme bdquoCest acheveacuteldquo) oder bdquozu Endeldquo (King James Bible bdquoIt is finishedldquo)

Eine moumlgliche auf Joh 131 abgestimmte Uumlbersetzung waumlre (wie im Muumlnchener Neu-en Testament) bdquoEs ist vollendetldquo (tetelestai)

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712 Die Fuszligwaschung a Jemandem vor dem Mahl die Fuumlszlige zu waschen ist ein Dienst den traditioneller-weise Sklaven ihren Herren erweisen (vgl 1Sam 2541)26

Joh 1313f zeigt dass die sozialen Dimensionen der Fuszligwaschung klar vor Augen stehen der Gesamttext dass der Ritus sakramental gefuumlllt wird

Das Waschen der Fuumlszlige ist ein Ritus der Vorbereitung der eine koumlrperliche Wohltat mit einer Geste der Houmlflich-keit verbindet die Anerkennung und Ehrerbietung meint (Gen 184 vgl Lk 744) und zudem mit einer rituellen Bedeutung versieht die einen Uumlbergang gestaltet von drauszligen nach drinnen vom Alltag zum Fest vom Profanen zum Heiligen

7121 Die soteriologische Deutung a Im Gespraumlch mit Petrus wird die Bedeutung der Fuszligwaschung soteriologisch gedeu-tet Sie ist eine bdquoReinigungldquo ndash nicht wie in der Taufe sondern wie in der Buszlige Petrus braucht keine Wiederholung der Wiedergeburt die er als glaumlubig gewordener Taumluferjuumlnger erlebt hat aber er bedarf mehr als andere der Vergebung weil er ndash ent-gegen seinem Vorsatz ndash Jesus verleugnet Waumlhrend er sagt fuumlr Jesus sterben zu wol-len muss gerade fuumlr ihn Jesus sterben

b Petrus erkennt nach Joh 136 das Unmoumlgliche der Situation dass der Herr ihm ei-nen Sklavendienst leistet Er wehrt diesen Dienst doppelt ab (Joh 1368a) ndash so wie er nach Joh 1336ff nicht will dass Jesus fuumlr ihn sein Leben einsetzt In diesem Nein kommt eine Liebe zu Jesus zum Ausdruck die bestimmen will Gleichzeitig aber ist das Nein auch Ausdruck des Missverstaumlndnisses dass Petrus der Diakonie Jesu womoumlglich gar nicht bedarf Petrus verschaumlrft seinen Widerspruch der aus Unverstaumlndnis stammt indem er dann ganz gewaschen werden will (Joh 139) ndash womit er aber seine Berufung leugnet

c Jesus deckt das Missverstaumlndnis des Petrus auf Die Fuszligwaschung steht nicht am Anfang sondern an einer Biegung des Weges mit Jesus Die Weg-Gemeinschaft ist darin begruumlndet dass Jesus sich in seinen Dienst stellt Dem muss entsprechen dass Petrus sich den Dienst gefallen laumlsst Er muss Jesus so nahe wie in der Fuszligwaschung an sich heranlassen Er muss den Rollentausch akzeptieren Die Langversion von Vers 10 die durch den Codex Vaticanus gedeckt und als lectio difficilior gesichert ist entspricht dem Kontext

bull Im Bild Auch nach dem Vollbad macht man sich wieder die Fuumlszlige schmutzig Man laumlsst sie sich waschen damit auch sie sauber sind man laumlsst nur sie waschen weil der sonstige Koumlrper gereinigt ist

bull In der Sache Wer durch das Bad der Wiedergeburt die Taufe bdquoganz reinldquo geworden ist muss diese Reinheit aber durch seine Schuld verloren hat muss sich die Fuumlszlige waschen lassen um durch Jesus zu Gott zu gelangen Dem entspricht am ehesten eine Deutung auf die Buszlige wie sie orthodoxen Vaumlter favorisieren

26 Hellenistische Parallelen Neuer Wettstein I2 636-644

Thomas Soumlding

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7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

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          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 19: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

Thomas Soumlding

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6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)

a Die fuumlnfte und sechste Antithese bilden bei Matthaumlus den Houmlhepunkt der Reihe die sich am Dekalog orientiert in der Feldrede bei Lukas markiert das Gebot der Feindes-liebe den Mittelpunkt der Ethik Die Feindesliebe bezeichnet in groumlszligter Konsequenz den Standpunkt der Moralitaumlt steht aber auch im Brennpunkt der Kritik

bull Ist Gewaltlosigkeit wuumlrdelos verantwortungslos kraftlos So Nietzsche14

bull Ist Feindesliebe unrealistisch So der gesunde Menschenverstand und das Ur-teil professioneller Politik

15 So auch der juumldische Einwand16 den zuletzt Jacob Neusner vorgetragen hat17

Die antithetische Form bei Matthaumlus zeigt das Potential der Kontroverse Es ist nicht das Ziel der Exegese sie aufzuloumlsen sondern sie auszuloumlsen

b Der Blick in die Synopse zeigt im Vergleich mit Lk 627-36 zweierlei bull Die antithetische Form ist ndash hier wie sonst ndash ein matthaumlisches Spezifikum Sie

dient der Profilierung der Ethik Jesu im Gegenuumlber zur Tora ndash unter dem Vor-zeichen der Erfuumlllung (Mt 517-20)

bull Bei Lukas ist Gewaltverzicht direkter Ausdruck der Feindesliebe Matthaumlus dif-ferenziert und kombiniert um zu akzentuieren

Die Synopse fordert bei der lukanischen Uumlberlieferungsform anzusetzen aber die matthaumlische Variante nicht als sekundaumlr abzutun sondern als Reflex jesuanischer Konkretionen in den Blick zu nehmen

c Das Gebot der Feindesliebe tradiert uumlber die Redenquelle (Q) ist Urgestein und Herzstuumlck der Ethik Jesu18

14 Also sprach Zarathustra III 21 (Werke VI1) bdquoIch sollte nur Feinde haben die zu hassen sind aber nicht Feinde zum Verachten ihr muumlsst stolz auf euren Feind sein (260)ldquo

Die Stellung in der matthaumlischen Bergpredigt und der luka-nischen Feldrede zeigt dass im Urchristentum diese zentrale Bedeutung gesehen und tradiert worden ist Paulus reflektiert sie in Roumlm 129-21 Auch im johanneischen Kon-zept der Bruderliebe ist sie vorausgesetzt

15 Max Weber Politik als Beruf (1919) in ders Gesammelte politische Schriften hg v J Winckelmann Tuumlbingen 31971 505-560 bdquoMit der Bergpredigt ist es eine ernstere Sache als die glauben die diese Gebote heute gern zitieren Wenn es in Konsequenz der akosmistischen Liebesethik heiszligt dem Uumlbel nicht widerstehen mit Gewaltlsquo ndash so gilt fuumlr den Politiker der Satz du sollst dem Uumlbel gewaltsam widerstehen sonst ndash bist du fuumlr seine Uumlberhandnahme verantwortlich (550f)ldquo 16 Der Jude Tryphon plaumldiert nach Justin dial 52 bdquoIch weiszlig auch dass eure Lehren die in dem sogenannten Evangelium stehen so erhaben und groszlig sind dass wie ich meine kein Mensch sie beobachten kannldquo 17 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 Neuausgabe Frei-burg - Basel - Wien 2007 (engl 1993) Neusner praumlzisiert Jesus maszlige sich das Recht Gottes an so zu sprechen wie es die Bergpredigt uumlberliefert 18 Th Soumlding Die Verkuumlndigung Jesu 570-583

20

d Nach Lk 6 sind alle Houmlrer der Botschaft Jesu zur Feindesliebe gerufen In erster Linie sind es seine Juumlnger als stellvertretende Adressaten der Seligpreisungen und Weherufe (Lk 620-26) Lukas sieht die Kirche als Ort wo primaumlr die Feindesliebe ver-wirklicht sein will gerade auch gegenuumlber Nicht-Christen (und berichtet in der Apos-telgeschichte dass dies in der Urgemeinde auch geschehen sei) Nach Matthaumlus hat Jesus direkt seine Juumlnger angesprochen (Mt 51f) ndash aber so dass alles Volk (vgl 423ff) es houmlren und daruumlber staunen kann (Mt 728f) Die Pointe ist missionstheologisch Wenn die Juumlnger ausziehen alle Voumllker ihrerseits zu Juumlngern zu machen sollen sie nicht nur taufen sondern auch lehren bdquoalles zu haltenldquo was Jesus ihnen bdquogebotenldquo hat (Mt 2818ff)

d Die Feindschaften die Jesu Gebot anspricht sind so paradigmatisch ausgewaumlhlt und scharf zugespitzt dass prinzipiell jede denkbare Feindschaft im Blick stehen muss Es werden die empoumlrendsten Formen paradigmatisch konkretisiert

bull religioumlse Verfolgung (Lk 628 Mt 544) bull koumlrperliche Gewalt selbst wenn sie demuumltigen soll (Lk 628f Mt 539) bull wirtschaftliche Ausbeutung auch wenn sie sich den Anschein des Rechts gibt

(Mt 540) bull politisch-militaumlrische Unterdruumlckung auch wenn sie schier uumlbermaumlchtig

scheint (Mt 541) Jede denkbare Grenze der Feindesliebe wird uumlberschritten der Familie und Ver-wandtschaft des Freundeskreises der Glaubensgenossen der (mehr oder weniger) Guten der Angehoumlrigen des eigenen Volkes (vgl Lk 1025-37)

e Die Feindesliebe zeigt sich in den gleichfalls paradigmatischen Konkretisierungen bull als Fuumlrbitte fuumlr die Verfolger (Lk 628 par Mt 544) und Segnen der

Blasphemiker (Lk 628) ndash im Gegensatz zum Verfluchen und zur Bitte um ihre Vernichtung durch Gottes Strafgericht

bull als aktiver Gewaltverzicht gegenuumlber erlittener Uumlbermacht (Lk 629 Mt 538-42) ndash im Gegensatz dazu Unrecht mit gleicher Muumlnze heimzuzahlen

bull als selbstlose Unterstuumltzung der Armen auch wenn deren Bitten laumlstig faumlllt (Lk 630) ndash im Gegensatz zum Kalkuumll des do ut des

bull als engagierter Einsatz fuumlr das Gute (Lk 62733) ndash im Gegensatz zu einem Mitmachen wie zur Resignation

Feindesliebe ist nicht passiv sondern aktiv Sie kreiert eine neue Situation In diesen Konkretisierungen erhellt die Feindesliebe als radikalisierte Naumlchstenliebe (Lev 1917f) die im Kontext der Gottessliebe steht (Mk 1228-34 parr) Sie ist nicht das Einverstaumlndnis mit Unrecht Schuld und Schwaumlche schon gar nicht schwaumlchliches Hinnehmen von Unrecht sondern im Gegenteil starkes aber deshalb auch leidensfauml-higes Eintreten dafuumlr Boumlses durch Gutes zu uumlberwinden (Roumlm 1221)

Thomas Soumlding

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h Die Feindesliebe ist theologisch begruumlndet und motiviert bull Der theologische Grund ist das Handeln Gottes selbst der als Schoumlpfer und Er-

loumlser permanent Feindesliebe praktiziert (Lk 635 Mt 545 vgl Roumlm 55ff) o Mit dem Blick ins Buch der Natur zeigt Jesus nach Matthaumlus Gott als

den der auch den Boumlsen und Ungerechten das Leben schenkt weil er will dass sie leben (nicht weil er will oder toleriert dass sie Boumlses und Unrechtes tun)

o Der Vergleich mit dem aumlhnlichen Motiv bei Seneca der (nicht zu Feindesliebe aber) zu groszligmuumltiger Gelassenheit gegenuumlber Feinden mahnt macht den Unterschied deutlich denn nach ihm kann Gott nicht anders als die Unterstuumltzung der Boumlsen in Kauf zu nehmen wenn er den Guten helfen will ndash wofuumlr er sich entscheidet weil das Gute mehr wert ist als das Boumlse

bull Das theologische Motiv ist die Nachahmung Gottes die imitatio Dei (Lk 636 Mt 548) der die Verheiszligung ewigen Lebens gilt des bdquoLohnesldquo der in der Gotteskindschaft besteht

In dieser Theozentrik ist die Feindesliebe Zustimmung zu der Liebe mit der Gott auch die Ungerechten und Suumlnder liebt ndash ohne ihre Suumlnde gutzuheiszligen aber auch ohne ihnen wegen ihrer Schuld seine Zuwendung zu entziehen

i Das Gebot der Feindesliebe ist angewandte Christologie bull Einerseits ist es Jesus der das Gebot ndash nach Matthaumlus im Gegensatz zur herr-

schenden Auslegung des atl Liebesgebotes ndash der Feindesliebe aufstellt bull Andererseits ist es Jesus der das Gebot umfassend verwirklicht ndash vorbildlich

in seinem Leiden heilbringend in seiner Lebenshingabe aus reiner Liebe

f Das bdquoAuge um Auge Zahn um Zahnldquo (Ex 2124) begrenzt die Vergeltung das bdquoIch aber sage euchldquo aktiviert zur Versoumlhnung Das alttestamentliche Gebot der Naumlchstenliebe umfasst innerhalb Israels Feindesliebe (Lk 1917f) und weitet sie aus (Lev 1934) Das bdquoIch aber sage euchldquo setzt sich von einer Auslegung ab die aus Sorge um Gottes Gerechtigkeit die Grenzen der Erloumlsung zu eng zieht Dafuumlr gibt es Beispiele in Qumran Der originaumlre Bezug des Gebotes der Naumlchstenliebe auf das Volk Gottes wird nicht aufgegeben aber ausgeweitet

bull In der Juumlngerschaft ist ndash in Israel und uumlber Israel hinaus ndash der Ort an dem die Feindesliebe so praktiziert werden soll dass sie ausstrahlt (vgl Mt 513-16)

bull Zum Volk Gottes gehoumlren nicht nur die Juden und alle die an Jesus glauben Gott hat vielmehr Jesus (nach Matthaumlus wie nach Lukas) deshalb gesendet damit durch seinen Dienst am Heil der Menschen der reine Feindesliebe ist alle Voumllker zu seinem Volk werden Die Kirche repraumlsentiert und realisiert stellvertretend diese Heilsuniversalitaumlt Ihre Feindesliebe konkretisiert sie ethisch

Feindesliebe durchbricht das Prinzip der Vergeltung ohne das Prinzip der Gerechtig-keit aufzugeben Das ist nur deshalb sittlich erlaubt und geboten weil das Gebot in der Liebe Gottes selbst begruumlndet ist die sich in der Feindesliebe Jesu realisiert die ihrerseits der theologische Nerv seines Lebens und Sterbens zur Erloumlsung der Suumlnder ist

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j Das psychologische Problem das Sigmund Freud scharf markiert hat19

Das ethische Problem das Fjodor Dostojewksi (Die Bruumlder Karamasow) Iwan in den Mund legt lautet

besteht da-rin dass blinde Aggressionen entwickelt wer sich moralisch uumlberfordert Dieses Prob-lem laumlsst sich wohl nur spirituell loumlsen in der Nachfolge Jesu die auf seine Kraft setzt in den Nachfolgern das Gute zu tun

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k Das Problem der Erfuumlllbarkeit der Bergpredigt und speziell des Gebotes der Fein-desliebe bewegt Theologie und Kirche seit aumlltester Zeit Eine erhebliche Verschaumlrfung des Problems geschieht durch eine moderne Emotionalisierung der Feindesliebe Wird sie aber als Ausdruck der Agape verstanden begruumlndet sie ndash in der Nachfolge Jesu ndash eine Praxis des Glaubens aus der Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe Als solche kann sie durchaus eingeuumlbt ausgebildet und gefestigt werden Sie setzt die Suche nach dem besten Weg der Verwirklichung nicht aus sondern ein Sie entspricht aber darin der Gottebenbildlichkeit aller Menschen und der Gotteskindschaft der zu Erloumlsenden dass sie an der Unbedingtheit der Bejahung die Gott ihnen zuteilwerden laumlsst Anteil hat

dass Feindesliebe letztlich Kumpanei mit den Taumltern auf Kosten der Opfer sei Dieses Problem das haumlufig nicht gesehen wird laumlsst sich nur soteriolo-gisch loumlsen weil derjenige der selbst aus reiner Liebe die Schuld der anderen ertra-gen und vergeben hat das Reich Gottes als umfassende Vollendung von Gerechtig-keit Friede und Freude (Roumlm 1417) verwirklicht

19 Das Unbehagen in der Kultur in Gesammelte Werke 14 London 1948 419-506 468-475493-506 (Abschnitte V VIII) bdquoNachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte war die aumluszligerste Intoleranz des Christentums gegen die drauszligen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge gewordenldquo (374) 19 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 20 bdquoSchlieszliglich will ich auch gar nicht dass die Mutter den Peiniger umarmt der ihren Sohn von Hunden zerreiszligen lieszlig Sie darf sich nicht unterstehen ihm zu verzeihen Wenn sie will mag sie verzeihen soweit es sie selber angeht sie mag dem Peiniger ihr maszligloses Mutterleid ver-zeihen aber die Leiden ihres zerfleischten Kindes zu verzeihen hat sie kein Recht sie darf es nicht wagen dem Peiniger zu verzeihen auch wenn das Kind selber ihm verzieheldquo (Muumlnchen 1958 330f

Thomas Soumlding

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7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)

71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20) a Mit der Fuszligwaschung21

b Die Fuszligwaschung ist das Zeichen der Passion Ihr folgen Gespraumlche mit den Juumln-gern die zwar von Jesus gewaschen und gereinigt sind aber groumlszligte Schwierigkeiten haben zu verstehen was sich tut

beginnt der 2 Hauptteil des Johannesevangeliums Das oumlffentliche Wirken ist abgeschlossen Jesus konzentriert sich auf seine Juumlnger bevor er oumlffentlich hingerichtet werden wird Er bereitet sie auf seine Passion und seine Auferstehung vor die den Weg zu Gott bahnen werden

bull Auf die Fuszligwaschung folgt zuerst eine Trias unmittelbarer Konsequenzen o Judas wird als Verraumlter identifiziert und verlaumlsst den Juumlngerkreis (Joh

1321-30) o Die Juumlnger werden zur wechselseitigen Liebe gemahnt (Joh 1331-35) o Petrus wird seine Verleugnung vorhergesagt (Joh 1336ff)

bull Auf die Fuszligwaschung folgen ausfuumlhrliche Abschiedsworte (Joh 14-16) die in ein Abschiedsgebet muumlnden (Joh 17)

c Joh 131-20 ist uumlbersichtlich aufgebaut

Joh 131 Der Hintergrund Joh 132-5 Die Fuszligwaschung beim Mahl 132 Die Situation 133ff Die Handlung Jesu Joh 136-11 Das Gespraumlch mit Petrus 136 Der erste Einwand des Petrus 137 Die erste Antwort Jesu 138a Der zweite Einwand des Petrus 138b Die zweite Antwort Jesu 139 Der dritte Einwand des Petrus 1310 Die dritte Antwort Jesu 1311 Kommentar des Evangelisten Joh 1312-20 Die Deutung vor allen Juumlngern 1312-17 Die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu 1318f Die Ansage eines Verrates 1320 Die Juumlnger als Apostel

21 Vgl Luise Abramowski Die Geschichte von der Fuszligwaschung in Zeitschrift fuumlr Theologie und Kirche 102 (2005) 176-203

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d Die Exegese diskutiert in welchem Verhaumlltnis die beiden Deutungen zu einander stehen Die erste ist soteriologisch die zweite ethisch ausgerichtet

bull Recht oft wird aus der Doppelung auf ein literarisches Wachstum des Textes geschlossen

o Moumlglichkeit 1 Die soteriologische Deutung ist die aumlltere die paraumlnetische die se-kundaumlre22

o Moumlglichkeit 2 Die ethische Deutung ist urspruumlnglich die soteriologisch nachtraumlglich zwischengeschoben

23

Beide Ansaumltze sind von weitereichenden Voraussetzung zur relativen Chrono-logie des Corpus Johanneum gepraumlgt

o Wer den Ersten Johannesbrief fuumlr aumllter erachtet wird die ethische Deutung fuumlr urspruumlnglich halten

o Wer das Evangelium fuumlr aumllter erachtet wird eher die soteriologische Deutung als originaumlr einschaumltzen

Die ethische Deutung wird dann fuumlr sekundaumlr zu erachten wenn man zu dem Urteil gelangt die johanneische Theologie sei urspruumlnglich wenig konkret und eher spirituell ausgerichtet waumlhrend erst sekundaumlr Johannes gesamtkirchlich eingenordet worden sei Beide Ansaumltze gehen von einem literarischen Schichtenmodell aus das der Ei-genart johanneischer Literatur in den Evangelienerzaumlhlungen nicht angemes-sen ist Beide werden durch das Modell einer bdquorelectureldquo gemildert das ndash aumlhnlich wie in der Prophetenexegese des Alten Testaments ndash mit einer Fortschreibung der Texte rechnet aber sie zugleich als vergegenwaumlrtigende Aneignung des vor-gegebenen Textes versteht24

bull Es mehren sich wieder die Stimmen die Joh 13 als literarisch einheitlich anse-hen

Allerdings stoumlszligt dieses Modell auf die Schwie-rigkeit dass das Liebesgebot das die ethische Deutung vorbereitet in Joh 1331-35 dominant ist und nicht nur in Joh 15-16 ausgefuumlhrt sondern auch in Joh 1421 angebahnt wird

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Die Doppelung erklaumlrt sich aus der Theologie der Liebe Sie hat eine Innenseite die Liebe Jesu zu sein Seinen in der sich nach Joh 1421 die Liebe das Vaters zum Sohn ereignet und sie hat eine Auszligenseite die sich nach Joh 1331-35 und Joh 15 in der Bruderliebe der Juumlnger erweist von der die Welt angezogen werden wird (Joh 17)

Allerdings braucht es eine Erklaumlrung fuumlr die Deutung Eine moumlgliche Er-klaumlrung waumlre der Adressatenwechsel aber die Petrusszene spielt sich vor den Augen und Ohren aller ab

22 So Rudolf Schnackenburg Joh III passim 23 So Udo Schnelle Joh 237 Er will eine Ursprungsform (132a4512ab162017) die recht nahe bei Lk 22 und der Mahnung der Juumlnger zum Dienen steht zuerst in der johanneischen Schule (der er den Ersten Johannesbrief mit seiner Theologie der Liebe zurechnet) um die Vorbildethik erweitert sehen (1312c13-15) bevor der Evangelist selbst von der Einleitung an (131) konsequent seine soteriologische Deutung ins Fundament der Geschichte eingebaut habe (136-10ab) 24 So Jean Zumstein Joh 25 So Hartwig Thyen Joh

Thomas Soumlding

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711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus a Die Liebe Jesu zu den Seinen (Joh 131) verwirklicht die Liebe Gottes zur Welt (Joh 316) die von der Liebe des Vaters zum Sohn getragen wird (Joh 335 1017) Es ist die nach der Zwischennotiz von Jesu Freundschaft mit Martha Maria und Lazarus (Joh 115) erste Betonung der Agape Jesu von der spaumlter das Liebesgebot Joh 1334 und die Verheiszligung dauernden Beistandes der Juumlnger gedeckt ist (Joh 1421-31)

b In der Liebe Jesu zu den Seinen verbindet sich die Liebe Gottes zur Welt mit der Liebe Jesu zu seinen Freunden (Joh 15) Es ist eine unbedingte Bejahung und Wert-schaumltzung die auf Sympathie beruht und lebendig macht

c Die Liebe erweist Jesus den bdquoSeinenldquo bull Im Ruumlckraum steht Joh 19-13 dass die bdquoSeinenldquo den Logos abgelehnt haben

ndash bis auf diejenigen die an seinen Namen glauben und deshalb das Recht der Gotteskindschaft erhalten

bull Die bdquoSeinenldquo sind die Juumlnger die sich von Jesus in die Nachfolge haben rufen lassen (Joh 135-51) und in der galilaumlischen Krise Jesus nicht verlassen haben (Joh 660-71) Sie haben ihrerseits schwere Glaubensprobleme ndash aber werden sie durch Jesus uumlberwinden

bull In Joh 14 und Joh 17 wird erklaumlrt werden dass die Liebe Jesu zu den Seinen ndash wie die zum Lieblingsjuumlnger ndash nicht exklusiv sondern positiv zu verstehen ist

Dass Jesus den Seinen die Liebe bdquobis zum Endeldquo erweist verweist auf den Tod Jesu Das griechische Wort ist mehrdeutig teloj kann bdquoEndeldquo aber auch bdquoZielldquo bedeuten Beide Bedeutungen schwingen mit

bull Der Tod Jesu ist das definitive Ende seiner geschichtlichen Sendung das zu akzeptieren wird den Juumlngern ungeheuer schwer fallen

bull Der Tod Jesu ist das Ziel seines Wirkens insofern es seine Liebe und Hingabe definitiv werden laumlsst

Der Korrespondenzsatz ist das Todeswort Jesu Joh 1930 bull Es ist ein Gebet wie nach allen Synoptikern (Mk 1534 par Mt 2746 bdquoGott

mein Gott warum hast du mich verlassenldquo ndash Ps 222 Lk 2346 bdquoVater in deine Haumlnde gebe ich meinen Geistldquo ndash Ps 316) aber als letztes Offenba-rungswort an die Welt

bull Die traditionelle Uumlbersetzung lautet bdquoEs ist vollbrachtldquo Man kann aber auch sagen bdquovollendetldquo (Muumlnchner Neues Testament Bible de Jerusaleme bdquoCest acheveacuteldquo) oder bdquozu Endeldquo (King James Bible bdquoIt is finishedldquo)

Eine moumlgliche auf Joh 131 abgestimmte Uumlbersetzung waumlre (wie im Muumlnchener Neu-en Testament) bdquoEs ist vollendetldquo (tetelestai)

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712 Die Fuszligwaschung a Jemandem vor dem Mahl die Fuumlszlige zu waschen ist ein Dienst den traditioneller-weise Sklaven ihren Herren erweisen (vgl 1Sam 2541)26

Joh 1313f zeigt dass die sozialen Dimensionen der Fuszligwaschung klar vor Augen stehen der Gesamttext dass der Ritus sakramental gefuumlllt wird

Das Waschen der Fuumlszlige ist ein Ritus der Vorbereitung der eine koumlrperliche Wohltat mit einer Geste der Houmlflich-keit verbindet die Anerkennung und Ehrerbietung meint (Gen 184 vgl Lk 744) und zudem mit einer rituellen Bedeutung versieht die einen Uumlbergang gestaltet von drauszligen nach drinnen vom Alltag zum Fest vom Profanen zum Heiligen

7121 Die soteriologische Deutung a Im Gespraumlch mit Petrus wird die Bedeutung der Fuszligwaschung soteriologisch gedeu-tet Sie ist eine bdquoReinigungldquo ndash nicht wie in der Taufe sondern wie in der Buszlige Petrus braucht keine Wiederholung der Wiedergeburt die er als glaumlubig gewordener Taumluferjuumlnger erlebt hat aber er bedarf mehr als andere der Vergebung weil er ndash ent-gegen seinem Vorsatz ndash Jesus verleugnet Waumlhrend er sagt fuumlr Jesus sterben zu wol-len muss gerade fuumlr ihn Jesus sterben

b Petrus erkennt nach Joh 136 das Unmoumlgliche der Situation dass der Herr ihm ei-nen Sklavendienst leistet Er wehrt diesen Dienst doppelt ab (Joh 1368a) ndash so wie er nach Joh 1336ff nicht will dass Jesus fuumlr ihn sein Leben einsetzt In diesem Nein kommt eine Liebe zu Jesus zum Ausdruck die bestimmen will Gleichzeitig aber ist das Nein auch Ausdruck des Missverstaumlndnisses dass Petrus der Diakonie Jesu womoumlglich gar nicht bedarf Petrus verschaumlrft seinen Widerspruch der aus Unverstaumlndnis stammt indem er dann ganz gewaschen werden will (Joh 139) ndash womit er aber seine Berufung leugnet

c Jesus deckt das Missverstaumlndnis des Petrus auf Die Fuszligwaschung steht nicht am Anfang sondern an einer Biegung des Weges mit Jesus Die Weg-Gemeinschaft ist darin begruumlndet dass Jesus sich in seinen Dienst stellt Dem muss entsprechen dass Petrus sich den Dienst gefallen laumlsst Er muss Jesus so nahe wie in der Fuszligwaschung an sich heranlassen Er muss den Rollentausch akzeptieren Die Langversion von Vers 10 die durch den Codex Vaticanus gedeckt und als lectio difficilior gesichert ist entspricht dem Kontext

bull Im Bild Auch nach dem Vollbad macht man sich wieder die Fuumlszlige schmutzig Man laumlsst sie sich waschen damit auch sie sauber sind man laumlsst nur sie waschen weil der sonstige Koumlrper gereinigt ist

bull In der Sache Wer durch das Bad der Wiedergeburt die Taufe bdquoganz reinldquo geworden ist muss diese Reinheit aber durch seine Schuld verloren hat muss sich die Fuumlszlige waschen lassen um durch Jesus zu Gott zu gelangen Dem entspricht am ehesten eine Deutung auf die Buszlige wie sie orthodoxen Vaumlter favorisieren

26 Hellenistische Parallelen Neuer Wettstein I2 636-644

Thomas Soumlding

27

7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

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          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 20: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

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d Nach Lk 6 sind alle Houmlrer der Botschaft Jesu zur Feindesliebe gerufen In erster Linie sind es seine Juumlnger als stellvertretende Adressaten der Seligpreisungen und Weherufe (Lk 620-26) Lukas sieht die Kirche als Ort wo primaumlr die Feindesliebe ver-wirklicht sein will gerade auch gegenuumlber Nicht-Christen (und berichtet in der Apos-telgeschichte dass dies in der Urgemeinde auch geschehen sei) Nach Matthaumlus hat Jesus direkt seine Juumlnger angesprochen (Mt 51f) ndash aber so dass alles Volk (vgl 423ff) es houmlren und daruumlber staunen kann (Mt 728f) Die Pointe ist missionstheologisch Wenn die Juumlnger ausziehen alle Voumllker ihrerseits zu Juumlngern zu machen sollen sie nicht nur taufen sondern auch lehren bdquoalles zu haltenldquo was Jesus ihnen bdquogebotenldquo hat (Mt 2818ff)

d Die Feindschaften die Jesu Gebot anspricht sind so paradigmatisch ausgewaumlhlt und scharf zugespitzt dass prinzipiell jede denkbare Feindschaft im Blick stehen muss Es werden die empoumlrendsten Formen paradigmatisch konkretisiert

bull religioumlse Verfolgung (Lk 628 Mt 544) bull koumlrperliche Gewalt selbst wenn sie demuumltigen soll (Lk 628f Mt 539) bull wirtschaftliche Ausbeutung auch wenn sie sich den Anschein des Rechts gibt

(Mt 540) bull politisch-militaumlrische Unterdruumlckung auch wenn sie schier uumlbermaumlchtig

scheint (Mt 541) Jede denkbare Grenze der Feindesliebe wird uumlberschritten der Familie und Ver-wandtschaft des Freundeskreises der Glaubensgenossen der (mehr oder weniger) Guten der Angehoumlrigen des eigenen Volkes (vgl Lk 1025-37)

e Die Feindesliebe zeigt sich in den gleichfalls paradigmatischen Konkretisierungen bull als Fuumlrbitte fuumlr die Verfolger (Lk 628 par Mt 544) und Segnen der

Blasphemiker (Lk 628) ndash im Gegensatz zum Verfluchen und zur Bitte um ihre Vernichtung durch Gottes Strafgericht

bull als aktiver Gewaltverzicht gegenuumlber erlittener Uumlbermacht (Lk 629 Mt 538-42) ndash im Gegensatz dazu Unrecht mit gleicher Muumlnze heimzuzahlen

bull als selbstlose Unterstuumltzung der Armen auch wenn deren Bitten laumlstig faumlllt (Lk 630) ndash im Gegensatz zum Kalkuumll des do ut des

bull als engagierter Einsatz fuumlr das Gute (Lk 62733) ndash im Gegensatz zu einem Mitmachen wie zur Resignation

Feindesliebe ist nicht passiv sondern aktiv Sie kreiert eine neue Situation In diesen Konkretisierungen erhellt die Feindesliebe als radikalisierte Naumlchstenliebe (Lev 1917f) die im Kontext der Gottessliebe steht (Mk 1228-34 parr) Sie ist nicht das Einverstaumlndnis mit Unrecht Schuld und Schwaumlche schon gar nicht schwaumlchliches Hinnehmen von Unrecht sondern im Gegenteil starkes aber deshalb auch leidensfauml-higes Eintreten dafuumlr Boumlses durch Gutes zu uumlberwinden (Roumlm 1221)

Thomas Soumlding

21

h Die Feindesliebe ist theologisch begruumlndet und motiviert bull Der theologische Grund ist das Handeln Gottes selbst der als Schoumlpfer und Er-

loumlser permanent Feindesliebe praktiziert (Lk 635 Mt 545 vgl Roumlm 55ff) o Mit dem Blick ins Buch der Natur zeigt Jesus nach Matthaumlus Gott als

den der auch den Boumlsen und Ungerechten das Leben schenkt weil er will dass sie leben (nicht weil er will oder toleriert dass sie Boumlses und Unrechtes tun)

o Der Vergleich mit dem aumlhnlichen Motiv bei Seneca der (nicht zu Feindesliebe aber) zu groszligmuumltiger Gelassenheit gegenuumlber Feinden mahnt macht den Unterschied deutlich denn nach ihm kann Gott nicht anders als die Unterstuumltzung der Boumlsen in Kauf zu nehmen wenn er den Guten helfen will ndash wofuumlr er sich entscheidet weil das Gute mehr wert ist als das Boumlse

bull Das theologische Motiv ist die Nachahmung Gottes die imitatio Dei (Lk 636 Mt 548) der die Verheiszligung ewigen Lebens gilt des bdquoLohnesldquo der in der Gotteskindschaft besteht

In dieser Theozentrik ist die Feindesliebe Zustimmung zu der Liebe mit der Gott auch die Ungerechten und Suumlnder liebt ndash ohne ihre Suumlnde gutzuheiszligen aber auch ohne ihnen wegen ihrer Schuld seine Zuwendung zu entziehen

i Das Gebot der Feindesliebe ist angewandte Christologie bull Einerseits ist es Jesus der das Gebot ndash nach Matthaumlus im Gegensatz zur herr-

schenden Auslegung des atl Liebesgebotes ndash der Feindesliebe aufstellt bull Andererseits ist es Jesus der das Gebot umfassend verwirklicht ndash vorbildlich

in seinem Leiden heilbringend in seiner Lebenshingabe aus reiner Liebe

f Das bdquoAuge um Auge Zahn um Zahnldquo (Ex 2124) begrenzt die Vergeltung das bdquoIch aber sage euchldquo aktiviert zur Versoumlhnung Das alttestamentliche Gebot der Naumlchstenliebe umfasst innerhalb Israels Feindesliebe (Lk 1917f) und weitet sie aus (Lev 1934) Das bdquoIch aber sage euchldquo setzt sich von einer Auslegung ab die aus Sorge um Gottes Gerechtigkeit die Grenzen der Erloumlsung zu eng zieht Dafuumlr gibt es Beispiele in Qumran Der originaumlre Bezug des Gebotes der Naumlchstenliebe auf das Volk Gottes wird nicht aufgegeben aber ausgeweitet

bull In der Juumlngerschaft ist ndash in Israel und uumlber Israel hinaus ndash der Ort an dem die Feindesliebe so praktiziert werden soll dass sie ausstrahlt (vgl Mt 513-16)

bull Zum Volk Gottes gehoumlren nicht nur die Juden und alle die an Jesus glauben Gott hat vielmehr Jesus (nach Matthaumlus wie nach Lukas) deshalb gesendet damit durch seinen Dienst am Heil der Menschen der reine Feindesliebe ist alle Voumllker zu seinem Volk werden Die Kirche repraumlsentiert und realisiert stellvertretend diese Heilsuniversalitaumlt Ihre Feindesliebe konkretisiert sie ethisch

Feindesliebe durchbricht das Prinzip der Vergeltung ohne das Prinzip der Gerechtig-keit aufzugeben Das ist nur deshalb sittlich erlaubt und geboten weil das Gebot in der Liebe Gottes selbst begruumlndet ist die sich in der Feindesliebe Jesu realisiert die ihrerseits der theologische Nerv seines Lebens und Sterbens zur Erloumlsung der Suumlnder ist

22

j Das psychologische Problem das Sigmund Freud scharf markiert hat19

Das ethische Problem das Fjodor Dostojewksi (Die Bruumlder Karamasow) Iwan in den Mund legt lautet

besteht da-rin dass blinde Aggressionen entwickelt wer sich moralisch uumlberfordert Dieses Prob-lem laumlsst sich wohl nur spirituell loumlsen in der Nachfolge Jesu die auf seine Kraft setzt in den Nachfolgern das Gute zu tun

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k Das Problem der Erfuumlllbarkeit der Bergpredigt und speziell des Gebotes der Fein-desliebe bewegt Theologie und Kirche seit aumlltester Zeit Eine erhebliche Verschaumlrfung des Problems geschieht durch eine moderne Emotionalisierung der Feindesliebe Wird sie aber als Ausdruck der Agape verstanden begruumlndet sie ndash in der Nachfolge Jesu ndash eine Praxis des Glaubens aus der Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe Als solche kann sie durchaus eingeuumlbt ausgebildet und gefestigt werden Sie setzt die Suche nach dem besten Weg der Verwirklichung nicht aus sondern ein Sie entspricht aber darin der Gottebenbildlichkeit aller Menschen und der Gotteskindschaft der zu Erloumlsenden dass sie an der Unbedingtheit der Bejahung die Gott ihnen zuteilwerden laumlsst Anteil hat

dass Feindesliebe letztlich Kumpanei mit den Taumltern auf Kosten der Opfer sei Dieses Problem das haumlufig nicht gesehen wird laumlsst sich nur soteriolo-gisch loumlsen weil derjenige der selbst aus reiner Liebe die Schuld der anderen ertra-gen und vergeben hat das Reich Gottes als umfassende Vollendung von Gerechtig-keit Friede und Freude (Roumlm 1417) verwirklicht

19 Das Unbehagen in der Kultur in Gesammelte Werke 14 London 1948 419-506 468-475493-506 (Abschnitte V VIII) bdquoNachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte war die aumluszligerste Intoleranz des Christentums gegen die drauszligen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge gewordenldquo (374) 19 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 20 bdquoSchlieszliglich will ich auch gar nicht dass die Mutter den Peiniger umarmt der ihren Sohn von Hunden zerreiszligen lieszlig Sie darf sich nicht unterstehen ihm zu verzeihen Wenn sie will mag sie verzeihen soweit es sie selber angeht sie mag dem Peiniger ihr maszligloses Mutterleid ver-zeihen aber die Leiden ihres zerfleischten Kindes zu verzeihen hat sie kein Recht sie darf es nicht wagen dem Peiniger zu verzeihen auch wenn das Kind selber ihm verzieheldquo (Muumlnchen 1958 330f

Thomas Soumlding

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7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)

71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20) a Mit der Fuszligwaschung21

b Die Fuszligwaschung ist das Zeichen der Passion Ihr folgen Gespraumlche mit den Juumln-gern die zwar von Jesus gewaschen und gereinigt sind aber groumlszligte Schwierigkeiten haben zu verstehen was sich tut

beginnt der 2 Hauptteil des Johannesevangeliums Das oumlffentliche Wirken ist abgeschlossen Jesus konzentriert sich auf seine Juumlnger bevor er oumlffentlich hingerichtet werden wird Er bereitet sie auf seine Passion und seine Auferstehung vor die den Weg zu Gott bahnen werden

bull Auf die Fuszligwaschung folgt zuerst eine Trias unmittelbarer Konsequenzen o Judas wird als Verraumlter identifiziert und verlaumlsst den Juumlngerkreis (Joh

1321-30) o Die Juumlnger werden zur wechselseitigen Liebe gemahnt (Joh 1331-35) o Petrus wird seine Verleugnung vorhergesagt (Joh 1336ff)

bull Auf die Fuszligwaschung folgen ausfuumlhrliche Abschiedsworte (Joh 14-16) die in ein Abschiedsgebet muumlnden (Joh 17)

c Joh 131-20 ist uumlbersichtlich aufgebaut

Joh 131 Der Hintergrund Joh 132-5 Die Fuszligwaschung beim Mahl 132 Die Situation 133ff Die Handlung Jesu Joh 136-11 Das Gespraumlch mit Petrus 136 Der erste Einwand des Petrus 137 Die erste Antwort Jesu 138a Der zweite Einwand des Petrus 138b Die zweite Antwort Jesu 139 Der dritte Einwand des Petrus 1310 Die dritte Antwort Jesu 1311 Kommentar des Evangelisten Joh 1312-20 Die Deutung vor allen Juumlngern 1312-17 Die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu 1318f Die Ansage eines Verrates 1320 Die Juumlnger als Apostel

21 Vgl Luise Abramowski Die Geschichte von der Fuszligwaschung in Zeitschrift fuumlr Theologie und Kirche 102 (2005) 176-203

24

d Die Exegese diskutiert in welchem Verhaumlltnis die beiden Deutungen zu einander stehen Die erste ist soteriologisch die zweite ethisch ausgerichtet

bull Recht oft wird aus der Doppelung auf ein literarisches Wachstum des Textes geschlossen

o Moumlglichkeit 1 Die soteriologische Deutung ist die aumlltere die paraumlnetische die se-kundaumlre22

o Moumlglichkeit 2 Die ethische Deutung ist urspruumlnglich die soteriologisch nachtraumlglich zwischengeschoben

23

Beide Ansaumltze sind von weitereichenden Voraussetzung zur relativen Chrono-logie des Corpus Johanneum gepraumlgt

o Wer den Ersten Johannesbrief fuumlr aumllter erachtet wird die ethische Deutung fuumlr urspruumlnglich halten

o Wer das Evangelium fuumlr aumllter erachtet wird eher die soteriologische Deutung als originaumlr einschaumltzen

Die ethische Deutung wird dann fuumlr sekundaumlr zu erachten wenn man zu dem Urteil gelangt die johanneische Theologie sei urspruumlnglich wenig konkret und eher spirituell ausgerichtet waumlhrend erst sekundaumlr Johannes gesamtkirchlich eingenordet worden sei Beide Ansaumltze gehen von einem literarischen Schichtenmodell aus das der Ei-genart johanneischer Literatur in den Evangelienerzaumlhlungen nicht angemes-sen ist Beide werden durch das Modell einer bdquorelectureldquo gemildert das ndash aumlhnlich wie in der Prophetenexegese des Alten Testaments ndash mit einer Fortschreibung der Texte rechnet aber sie zugleich als vergegenwaumlrtigende Aneignung des vor-gegebenen Textes versteht24

bull Es mehren sich wieder die Stimmen die Joh 13 als literarisch einheitlich anse-hen

Allerdings stoumlszligt dieses Modell auf die Schwie-rigkeit dass das Liebesgebot das die ethische Deutung vorbereitet in Joh 1331-35 dominant ist und nicht nur in Joh 15-16 ausgefuumlhrt sondern auch in Joh 1421 angebahnt wird

25

Die Doppelung erklaumlrt sich aus der Theologie der Liebe Sie hat eine Innenseite die Liebe Jesu zu sein Seinen in der sich nach Joh 1421 die Liebe das Vaters zum Sohn ereignet und sie hat eine Auszligenseite die sich nach Joh 1331-35 und Joh 15 in der Bruderliebe der Juumlnger erweist von der die Welt angezogen werden wird (Joh 17)

Allerdings braucht es eine Erklaumlrung fuumlr die Deutung Eine moumlgliche Er-klaumlrung waumlre der Adressatenwechsel aber die Petrusszene spielt sich vor den Augen und Ohren aller ab

22 So Rudolf Schnackenburg Joh III passim 23 So Udo Schnelle Joh 237 Er will eine Ursprungsform (132a4512ab162017) die recht nahe bei Lk 22 und der Mahnung der Juumlnger zum Dienen steht zuerst in der johanneischen Schule (der er den Ersten Johannesbrief mit seiner Theologie der Liebe zurechnet) um die Vorbildethik erweitert sehen (1312c13-15) bevor der Evangelist selbst von der Einleitung an (131) konsequent seine soteriologische Deutung ins Fundament der Geschichte eingebaut habe (136-10ab) 24 So Jean Zumstein Joh 25 So Hartwig Thyen Joh

Thomas Soumlding

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711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus a Die Liebe Jesu zu den Seinen (Joh 131) verwirklicht die Liebe Gottes zur Welt (Joh 316) die von der Liebe des Vaters zum Sohn getragen wird (Joh 335 1017) Es ist die nach der Zwischennotiz von Jesu Freundschaft mit Martha Maria und Lazarus (Joh 115) erste Betonung der Agape Jesu von der spaumlter das Liebesgebot Joh 1334 und die Verheiszligung dauernden Beistandes der Juumlnger gedeckt ist (Joh 1421-31)

b In der Liebe Jesu zu den Seinen verbindet sich die Liebe Gottes zur Welt mit der Liebe Jesu zu seinen Freunden (Joh 15) Es ist eine unbedingte Bejahung und Wert-schaumltzung die auf Sympathie beruht und lebendig macht

c Die Liebe erweist Jesus den bdquoSeinenldquo bull Im Ruumlckraum steht Joh 19-13 dass die bdquoSeinenldquo den Logos abgelehnt haben

ndash bis auf diejenigen die an seinen Namen glauben und deshalb das Recht der Gotteskindschaft erhalten

bull Die bdquoSeinenldquo sind die Juumlnger die sich von Jesus in die Nachfolge haben rufen lassen (Joh 135-51) und in der galilaumlischen Krise Jesus nicht verlassen haben (Joh 660-71) Sie haben ihrerseits schwere Glaubensprobleme ndash aber werden sie durch Jesus uumlberwinden

bull In Joh 14 und Joh 17 wird erklaumlrt werden dass die Liebe Jesu zu den Seinen ndash wie die zum Lieblingsjuumlnger ndash nicht exklusiv sondern positiv zu verstehen ist

Dass Jesus den Seinen die Liebe bdquobis zum Endeldquo erweist verweist auf den Tod Jesu Das griechische Wort ist mehrdeutig teloj kann bdquoEndeldquo aber auch bdquoZielldquo bedeuten Beide Bedeutungen schwingen mit

bull Der Tod Jesu ist das definitive Ende seiner geschichtlichen Sendung das zu akzeptieren wird den Juumlngern ungeheuer schwer fallen

bull Der Tod Jesu ist das Ziel seines Wirkens insofern es seine Liebe und Hingabe definitiv werden laumlsst

Der Korrespondenzsatz ist das Todeswort Jesu Joh 1930 bull Es ist ein Gebet wie nach allen Synoptikern (Mk 1534 par Mt 2746 bdquoGott

mein Gott warum hast du mich verlassenldquo ndash Ps 222 Lk 2346 bdquoVater in deine Haumlnde gebe ich meinen Geistldquo ndash Ps 316) aber als letztes Offenba-rungswort an die Welt

bull Die traditionelle Uumlbersetzung lautet bdquoEs ist vollbrachtldquo Man kann aber auch sagen bdquovollendetldquo (Muumlnchner Neues Testament Bible de Jerusaleme bdquoCest acheveacuteldquo) oder bdquozu Endeldquo (King James Bible bdquoIt is finishedldquo)

Eine moumlgliche auf Joh 131 abgestimmte Uumlbersetzung waumlre (wie im Muumlnchener Neu-en Testament) bdquoEs ist vollendetldquo (tetelestai)

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712 Die Fuszligwaschung a Jemandem vor dem Mahl die Fuumlszlige zu waschen ist ein Dienst den traditioneller-weise Sklaven ihren Herren erweisen (vgl 1Sam 2541)26

Joh 1313f zeigt dass die sozialen Dimensionen der Fuszligwaschung klar vor Augen stehen der Gesamttext dass der Ritus sakramental gefuumlllt wird

Das Waschen der Fuumlszlige ist ein Ritus der Vorbereitung der eine koumlrperliche Wohltat mit einer Geste der Houmlflich-keit verbindet die Anerkennung und Ehrerbietung meint (Gen 184 vgl Lk 744) und zudem mit einer rituellen Bedeutung versieht die einen Uumlbergang gestaltet von drauszligen nach drinnen vom Alltag zum Fest vom Profanen zum Heiligen

7121 Die soteriologische Deutung a Im Gespraumlch mit Petrus wird die Bedeutung der Fuszligwaschung soteriologisch gedeu-tet Sie ist eine bdquoReinigungldquo ndash nicht wie in der Taufe sondern wie in der Buszlige Petrus braucht keine Wiederholung der Wiedergeburt die er als glaumlubig gewordener Taumluferjuumlnger erlebt hat aber er bedarf mehr als andere der Vergebung weil er ndash ent-gegen seinem Vorsatz ndash Jesus verleugnet Waumlhrend er sagt fuumlr Jesus sterben zu wol-len muss gerade fuumlr ihn Jesus sterben

b Petrus erkennt nach Joh 136 das Unmoumlgliche der Situation dass der Herr ihm ei-nen Sklavendienst leistet Er wehrt diesen Dienst doppelt ab (Joh 1368a) ndash so wie er nach Joh 1336ff nicht will dass Jesus fuumlr ihn sein Leben einsetzt In diesem Nein kommt eine Liebe zu Jesus zum Ausdruck die bestimmen will Gleichzeitig aber ist das Nein auch Ausdruck des Missverstaumlndnisses dass Petrus der Diakonie Jesu womoumlglich gar nicht bedarf Petrus verschaumlrft seinen Widerspruch der aus Unverstaumlndnis stammt indem er dann ganz gewaschen werden will (Joh 139) ndash womit er aber seine Berufung leugnet

c Jesus deckt das Missverstaumlndnis des Petrus auf Die Fuszligwaschung steht nicht am Anfang sondern an einer Biegung des Weges mit Jesus Die Weg-Gemeinschaft ist darin begruumlndet dass Jesus sich in seinen Dienst stellt Dem muss entsprechen dass Petrus sich den Dienst gefallen laumlsst Er muss Jesus so nahe wie in der Fuszligwaschung an sich heranlassen Er muss den Rollentausch akzeptieren Die Langversion von Vers 10 die durch den Codex Vaticanus gedeckt und als lectio difficilior gesichert ist entspricht dem Kontext

bull Im Bild Auch nach dem Vollbad macht man sich wieder die Fuumlszlige schmutzig Man laumlsst sie sich waschen damit auch sie sauber sind man laumlsst nur sie waschen weil der sonstige Koumlrper gereinigt ist

bull In der Sache Wer durch das Bad der Wiedergeburt die Taufe bdquoganz reinldquo geworden ist muss diese Reinheit aber durch seine Schuld verloren hat muss sich die Fuumlszlige waschen lassen um durch Jesus zu Gott zu gelangen Dem entspricht am ehesten eine Deutung auf die Buszlige wie sie orthodoxen Vaumlter favorisieren

26 Hellenistische Parallelen Neuer Wettstein I2 636-644

Thomas Soumlding

27

7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

28

c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

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              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 21: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

Thomas Soumlding

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h Die Feindesliebe ist theologisch begruumlndet und motiviert bull Der theologische Grund ist das Handeln Gottes selbst der als Schoumlpfer und Er-

loumlser permanent Feindesliebe praktiziert (Lk 635 Mt 545 vgl Roumlm 55ff) o Mit dem Blick ins Buch der Natur zeigt Jesus nach Matthaumlus Gott als

den der auch den Boumlsen und Ungerechten das Leben schenkt weil er will dass sie leben (nicht weil er will oder toleriert dass sie Boumlses und Unrechtes tun)

o Der Vergleich mit dem aumlhnlichen Motiv bei Seneca der (nicht zu Feindesliebe aber) zu groszligmuumltiger Gelassenheit gegenuumlber Feinden mahnt macht den Unterschied deutlich denn nach ihm kann Gott nicht anders als die Unterstuumltzung der Boumlsen in Kauf zu nehmen wenn er den Guten helfen will ndash wofuumlr er sich entscheidet weil das Gute mehr wert ist als das Boumlse

bull Das theologische Motiv ist die Nachahmung Gottes die imitatio Dei (Lk 636 Mt 548) der die Verheiszligung ewigen Lebens gilt des bdquoLohnesldquo der in der Gotteskindschaft besteht

In dieser Theozentrik ist die Feindesliebe Zustimmung zu der Liebe mit der Gott auch die Ungerechten und Suumlnder liebt ndash ohne ihre Suumlnde gutzuheiszligen aber auch ohne ihnen wegen ihrer Schuld seine Zuwendung zu entziehen

i Das Gebot der Feindesliebe ist angewandte Christologie bull Einerseits ist es Jesus der das Gebot ndash nach Matthaumlus im Gegensatz zur herr-

schenden Auslegung des atl Liebesgebotes ndash der Feindesliebe aufstellt bull Andererseits ist es Jesus der das Gebot umfassend verwirklicht ndash vorbildlich

in seinem Leiden heilbringend in seiner Lebenshingabe aus reiner Liebe

f Das bdquoAuge um Auge Zahn um Zahnldquo (Ex 2124) begrenzt die Vergeltung das bdquoIch aber sage euchldquo aktiviert zur Versoumlhnung Das alttestamentliche Gebot der Naumlchstenliebe umfasst innerhalb Israels Feindesliebe (Lk 1917f) und weitet sie aus (Lev 1934) Das bdquoIch aber sage euchldquo setzt sich von einer Auslegung ab die aus Sorge um Gottes Gerechtigkeit die Grenzen der Erloumlsung zu eng zieht Dafuumlr gibt es Beispiele in Qumran Der originaumlre Bezug des Gebotes der Naumlchstenliebe auf das Volk Gottes wird nicht aufgegeben aber ausgeweitet

bull In der Juumlngerschaft ist ndash in Israel und uumlber Israel hinaus ndash der Ort an dem die Feindesliebe so praktiziert werden soll dass sie ausstrahlt (vgl Mt 513-16)

bull Zum Volk Gottes gehoumlren nicht nur die Juden und alle die an Jesus glauben Gott hat vielmehr Jesus (nach Matthaumlus wie nach Lukas) deshalb gesendet damit durch seinen Dienst am Heil der Menschen der reine Feindesliebe ist alle Voumllker zu seinem Volk werden Die Kirche repraumlsentiert und realisiert stellvertretend diese Heilsuniversalitaumlt Ihre Feindesliebe konkretisiert sie ethisch

Feindesliebe durchbricht das Prinzip der Vergeltung ohne das Prinzip der Gerechtig-keit aufzugeben Das ist nur deshalb sittlich erlaubt und geboten weil das Gebot in der Liebe Gottes selbst begruumlndet ist die sich in der Feindesliebe Jesu realisiert die ihrerseits der theologische Nerv seines Lebens und Sterbens zur Erloumlsung der Suumlnder ist

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j Das psychologische Problem das Sigmund Freud scharf markiert hat19

Das ethische Problem das Fjodor Dostojewksi (Die Bruumlder Karamasow) Iwan in den Mund legt lautet

besteht da-rin dass blinde Aggressionen entwickelt wer sich moralisch uumlberfordert Dieses Prob-lem laumlsst sich wohl nur spirituell loumlsen in der Nachfolge Jesu die auf seine Kraft setzt in den Nachfolgern das Gute zu tun

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k Das Problem der Erfuumlllbarkeit der Bergpredigt und speziell des Gebotes der Fein-desliebe bewegt Theologie und Kirche seit aumlltester Zeit Eine erhebliche Verschaumlrfung des Problems geschieht durch eine moderne Emotionalisierung der Feindesliebe Wird sie aber als Ausdruck der Agape verstanden begruumlndet sie ndash in der Nachfolge Jesu ndash eine Praxis des Glaubens aus der Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe Als solche kann sie durchaus eingeuumlbt ausgebildet und gefestigt werden Sie setzt die Suche nach dem besten Weg der Verwirklichung nicht aus sondern ein Sie entspricht aber darin der Gottebenbildlichkeit aller Menschen und der Gotteskindschaft der zu Erloumlsenden dass sie an der Unbedingtheit der Bejahung die Gott ihnen zuteilwerden laumlsst Anteil hat

dass Feindesliebe letztlich Kumpanei mit den Taumltern auf Kosten der Opfer sei Dieses Problem das haumlufig nicht gesehen wird laumlsst sich nur soteriolo-gisch loumlsen weil derjenige der selbst aus reiner Liebe die Schuld der anderen ertra-gen und vergeben hat das Reich Gottes als umfassende Vollendung von Gerechtig-keit Friede und Freude (Roumlm 1417) verwirklicht

19 Das Unbehagen in der Kultur in Gesammelte Werke 14 London 1948 419-506 468-475493-506 (Abschnitte V VIII) bdquoNachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte war die aumluszligerste Intoleranz des Christentums gegen die drauszligen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge gewordenldquo (374) 19 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 20 bdquoSchlieszliglich will ich auch gar nicht dass die Mutter den Peiniger umarmt der ihren Sohn von Hunden zerreiszligen lieszlig Sie darf sich nicht unterstehen ihm zu verzeihen Wenn sie will mag sie verzeihen soweit es sie selber angeht sie mag dem Peiniger ihr maszligloses Mutterleid ver-zeihen aber die Leiden ihres zerfleischten Kindes zu verzeihen hat sie kein Recht sie darf es nicht wagen dem Peiniger zu verzeihen auch wenn das Kind selber ihm verzieheldquo (Muumlnchen 1958 330f

Thomas Soumlding

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7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)

71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20) a Mit der Fuszligwaschung21

b Die Fuszligwaschung ist das Zeichen der Passion Ihr folgen Gespraumlche mit den Juumln-gern die zwar von Jesus gewaschen und gereinigt sind aber groumlszligte Schwierigkeiten haben zu verstehen was sich tut

beginnt der 2 Hauptteil des Johannesevangeliums Das oumlffentliche Wirken ist abgeschlossen Jesus konzentriert sich auf seine Juumlnger bevor er oumlffentlich hingerichtet werden wird Er bereitet sie auf seine Passion und seine Auferstehung vor die den Weg zu Gott bahnen werden

bull Auf die Fuszligwaschung folgt zuerst eine Trias unmittelbarer Konsequenzen o Judas wird als Verraumlter identifiziert und verlaumlsst den Juumlngerkreis (Joh

1321-30) o Die Juumlnger werden zur wechselseitigen Liebe gemahnt (Joh 1331-35) o Petrus wird seine Verleugnung vorhergesagt (Joh 1336ff)

bull Auf die Fuszligwaschung folgen ausfuumlhrliche Abschiedsworte (Joh 14-16) die in ein Abschiedsgebet muumlnden (Joh 17)

c Joh 131-20 ist uumlbersichtlich aufgebaut

Joh 131 Der Hintergrund Joh 132-5 Die Fuszligwaschung beim Mahl 132 Die Situation 133ff Die Handlung Jesu Joh 136-11 Das Gespraumlch mit Petrus 136 Der erste Einwand des Petrus 137 Die erste Antwort Jesu 138a Der zweite Einwand des Petrus 138b Die zweite Antwort Jesu 139 Der dritte Einwand des Petrus 1310 Die dritte Antwort Jesu 1311 Kommentar des Evangelisten Joh 1312-20 Die Deutung vor allen Juumlngern 1312-17 Die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu 1318f Die Ansage eines Verrates 1320 Die Juumlnger als Apostel

21 Vgl Luise Abramowski Die Geschichte von der Fuszligwaschung in Zeitschrift fuumlr Theologie und Kirche 102 (2005) 176-203

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d Die Exegese diskutiert in welchem Verhaumlltnis die beiden Deutungen zu einander stehen Die erste ist soteriologisch die zweite ethisch ausgerichtet

bull Recht oft wird aus der Doppelung auf ein literarisches Wachstum des Textes geschlossen

o Moumlglichkeit 1 Die soteriologische Deutung ist die aumlltere die paraumlnetische die se-kundaumlre22

o Moumlglichkeit 2 Die ethische Deutung ist urspruumlnglich die soteriologisch nachtraumlglich zwischengeschoben

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Beide Ansaumltze sind von weitereichenden Voraussetzung zur relativen Chrono-logie des Corpus Johanneum gepraumlgt

o Wer den Ersten Johannesbrief fuumlr aumllter erachtet wird die ethische Deutung fuumlr urspruumlnglich halten

o Wer das Evangelium fuumlr aumllter erachtet wird eher die soteriologische Deutung als originaumlr einschaumltzen

Die ethische Deutung wird dann fuumlr sekundaumlr zu erachten wenn man zu dem Urteil gelangt die johanneische Theologie sei urspruumlnglich wenig konkret und eher spirituell ausgerichtet waumlhrend erst sekundaumlr Johannes gesamtkirchlich eingenordet worden sei Beide Ansaumltze gehen von einem literarischen Schichtenmodell aus das der Ei-genart johanneischer Literatur in den Evangelienerzaumlhlungen nicht angemes-sen ist Beide werden durch das Modell einer bdquorelectureldquo gemildert das ndash aumlhnlich wie in der Prophetenexegese des Alten Testaments ndash mit einer Fortschreibung der Texte rechnet aber sie zugleich als vergegenwaumlrtigende Aneignung des vor-gegebenen Textes versteht24

bull Es mehren sich wieder die Stimmen die Joh 13 als literarisch einheitlich anse-hen

Allerdings stoumlszligt dieses Modell auf die Schwie-rigkeit dass das Liebesgebot das die ethische Deutung vorbereitet in Joh 1331-35 dominant ist und nicht nur in Joh 15-16 ausgefuumlhrt sondern auch in Joh 1421 angebahnt wird

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Die Doppelung erklaumlrt sich aus der Theologie der Liebe Sie hat eine Innenseite die Liebe Jesu zu sein Seinen in der sich nach Joh 1421 die Liebe das Vaters zum Sohn ereignet und sie hat eine Auszligenseite die sich nach Joh 1331-35 und Joh 15 in der Bruderliebe der Juumlnger erweist von der die Welt angezogen werden wird (Joh 17)

Allerdings braucht es eine Erklaumlrung fuumlr die Deutung Eine moumlgliche Er-klaumlrung waumlre der Adressatenwechsel aber die Petrusszene spielt sich vor den Augen und Ohren aller ab

22 So Rudolf Schnackenburg Joh III passim 23 So Udo Schnelle Joh 237 Er will eine Ursprungsform (132a4512ab162017) die recht nahe bei Lk 22 und der Mahnung der Juumlnger zum Dienen steht zuerst in der johanneischen Schule (der er den Ersten Johannesbrief mit seiner Theologie der Liebe zurechnet) um die Vorbildethik erweitert sehen (1312c13-15) bevor der Evangelist selbst von der Einleitung an (131) konsequent seine soteriologische Deutung ins Fundament der Geschichte eingebaut habe (136-10ab) 24 So Jean Zumstein Joh 25 So Hartwig Thyen Joh

Thomas Soumlding

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711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus a Die Liebe Jesu zu den Seinen (Joh 131) verwirklicht die Liebe Gottes zur Welt (Joh 316) die von der Liebe des Vaters zum Sohn getragen wird (Joh 335 1017) Es ist die nach der Zwischennotiz von Jesu Freundschaft mit Martha Maria und Lazarus (Joh 115) erste Betonung der Agape Jesu von der spaumlter das Liebesgebot Joh 1334 und die Verheiszligung dauernden Beistandes der Juumlnger gedeckt ist (Joh 1421-31)

b In der Liebe Jesu zu den Seinen verbindet sich die Liebe Gottes zur Welt mit der Liebe Jesu zu seinen Freunden (Joh 15) Es ist eine unbedingte Bejahung und Wert-schaumltzung die auf Sympathie beruht und lebendig macht

c Die Liebe erweist Jesus den bdquoSeinenldquo bull Im Ruumlckraum steht Joh 19-13 dass die bdquoSeinenldquo den Logos abgelehnt haben

ndash bis auf diejenigen die an seinen Namen glauben und deshalb das Recht der Gotteskindschaft erhalten

bull Die bdquoSeinenldquo sind die Juumlnger die sich von Jesus in die Nachfolge haben rufen lassen (Joh 135-51) und in der galilaumlischen Krise Jesus nicht verlassen haben (Joh 660-71) Sie haben ihrerseits schwere Glaubensprobleme ndash aber werden sie durch Jesus uumlberwinden

bull In Joh 14 und Joh 17 wird erklaumlrt werden dass die Liebe Jesu zu den Seinen ndash wie die zum Lieblingsjuumlnger ndash nicht exklusiv sondern positiv zu verstehen ist

Dass Jesus den Seinen die Liebe bdquobis zum Endeldquo erweist verweist auf den Tod Jesu Das griechische Wort ist mehrdeutig teloj kann bdquoEndeldquo aber auch bdquoZielldquo bedeuten Beide Bedeutungen schwingen mit

bull Der Tod Jesu ist das definitive Ende seiner geschichtlichen Sendung das zu akzeptieren wird den Juumlngern ungeheuer schwer fallen

bull Der Tod Jesu ist das Ziel seines Wirkens insofern es seine Liebe und Hingabe definitiv werden laumlsst

Der Korrespondenzsatz ist das Todeswort Jesu Joh 1930 bull Es ist ein Gebet wie nach allen Synoptikern (Mk 1534 par Mt 2746 bdquoGott

mein Gott warum hast du mich verlassenldquo ndash Ps 222 Lk 2346 bdquoVater in deine Haumlnde gebe ich meinen Geistldquo ndash Ps 316) aber als letztes Offenba-rungswort an die Welt

bull Die traditionelle Uumlbersetzung lautet bdquoEs ist vollbrachtldquo Man kann aber auch sagen bdquovollendetldquo (Muumlnchner Neues Testament Bible de Jerusaleme bdquoCest acheveacuteldquo) oder bdquozu Endeldquo (King James Bible bdquoIt is finishedldquo)

Eine moumlgliche auf Joh 131 abgestimmte Uumlbersetzung waumlre (wie im Muumlnchener Neu-en Testament) bdquoEs ist vollendetldquo (tetelestai)

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712 Die Fuszligwaschung a Jemandem vor dem Mahl die Fuumlszlige zu waschen ist ein Dienst den traditioneller-weise Sklaven ihren Herren erweisen (vgl 1Sam 2541)26

Joh 1313f zeigt dass die sozialen Dimensionen der Fuszligwaschung klar vor Augen stehen der Gesamttext dass der Ritus sakramental gefuumlllt wird

Das Waschen der Fuumlszlige ist ein Ritus der Vorbereitung der eine koumlrperliche Wohltat mit einer Geste der Houmlflich-keit verbindet die Anerkennung und Ehrerbietung meint (Gen 184 vgl Lk 744) und zudem mit einer rituellen Bedeutung versieht die einen Uumlbergang gestaltet von drauszligen nach drinnen vom Alltag zum Fest vom Profanen zum Heiligen

7121 Die soteriologische Deutung a Im Gespraumlch mit Petrus wird die Bedeutung der Fuszligwaschung soteriologisch gedeu-tet Sie ist eine bdquoReinigungldquo ndash nicht wie in der Taufe sondern wie in der Buszlige Petrus braucht keine Wiederholung der Wiedergeburt die er als glaumlubig gewordener Taumluferjuumlnger erlebt hat aber er bedarf mehr als andere der Vergebung weil er ndash ent-gegen seinem Vorsatz ndash Jesus verleugnet Waumlhrend er sagt fuumlr Jesus sterben zu wol-len muss gerade fuumlr ihn Jesus sterben

b Petrus erkennt nach Joh 136 das Unmoumlgliche der Situation dass der Herr ihm ei-nen Sklavendienst leistet Er wehrt diesen Dienst doppelt ab (Joh 1368a) ndash so wie er nach Joh 1336ff nicht will dass Jesus fuumlr ihn sein Leben einsetzt In diesem Nein kommt eine Liebe zu Jesus zum Ausdruck die bestimmen will Gleichzeitig aber ist das Nein auch Ausdruck des Missverstaumlndnisses dass Petrus der Diakonie Jesu womoumlglich gar nicht bedarf Petrus verschaumlrft seinen Widerspruch der aus Unverstaumlndnis stammt indem er dann ganz gewaschen werden will (Joh 139) ndash womit er aber seine Berufung leugnet

c Jesus deckt das Missverstaumlndnis des Petrus auf Die Fuszligwaschung steht nicht am Anfang sondern an einer Biegung des Weges mit Jesus Die Weg-Gemeinschaft ist darin begruumlndet dass Jesus sich in seinen Dienst stellt Dem muss entsprechen dass Petrus sich den Dienst gefallen laumlsst Er muss Jesus so nahe wie in der Fuszligwaschung an sich heranlassen Er muss den Rollentausch akzeptieren Die Langversion von Vers 10 die durch den Codex Vaticanus gedeckt und als lectio difficilior gesichert ist entspricht dem Kontext

bull Im Bild Auch nach dem Vollbad macht man sich wieder die Fuumlszlige schmutzig Man laumlsst sie sich waschen damit auch sie sauber sind man laumlsst nur sie waschen weil der sonstige Koumlrper gereinigt ist

bull In der Sache Wer durch das Bad der Wiedergeburt die Taufe bdquoganz reinldquo geworden ist muss diese Reinheit aber durch seine Schuld verloren hat muss sich die Fuumlszlige waschen lassen um durch Jesus zu Gott zu gelangen Dem entspricht am ehesten eine Deutung auf die Buszlige wie sie orthodoxen Vaumlter favorisieren

26 Hellenistische Parallelen Neuer Wettstein I2 636-644

Thomas Soumlding

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7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
    • Kontakt
      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
        • Markusevangelium
        • Lukasevangelium
        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 22: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

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j Das psychologische Problem das Sigmund Freud scharf markiert hat19

Das ethische Problem das Fjodor Dostojewksi (Die Bruumlder Karamasow) Iwan in den Mund legt lautet

besteht da-rin dass blinde Aggressionen entwickelt wer sich moralisch uumlberfordert Dieses Prob-lem laumlsst sich wohl nur spirituell loumlsen in der Nachfolge Jesu die auf seine Kraft setzt in den Nachfolgern das Gute zu tun

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k Das Problem der Erfuumlllbarkeit der Bergpredigt und speziell des Gebotes der Fein-desliebe bewegt Theologie und Kirche seit aumlltester Zeit Eine erhebliche Verschaumlrfung des Problems geschieht durch eine moderne Emotionalisierung der Feindesliebe Wird sie aber als Ausdruck der Agape verstanden begruumlndet sie ndash in der Nachfolge Jesu ndash eine Praxis des Glaubens aus der Einheit von Gottes- und Naumlchstenliebe Als solche kann sie durchaus eingeuumlbt ausgebildet und gefestigt werden Sie setzt die Suche nach dem besten Weg der Verwirklichung nicht aus sondern ein Sie entspricht aber darin der Gottebenbildlichkeit aller Menschen und der Gotteskindschaft der zu Erloumlsenden dass sie an der Unbedingtheit der Bejahung die Gott ihnen zuteilwerden laumlsst Anteil hat

dass Feindesliebe letztlich Kumpanei mit den Taumltern auf Kosten der Opfer sei Dieses Problem das haumlufig nicht gesehen wird laumlsst sich nur soteriolo-gisch loumlsen weil derjenige der selbst aus reiner Liebe die Schuld der anderen ertra-gen und vergeben hat das Reich Gottes als umfassende Vollendung von Gerechtig-keit Friede und Freude (Roumlm 1417) verwirklicht

19 Das Unbehagen in der Kultur in Gesammelte Werke 14 London 1948 419-506 468-475493-506 (Abschnitte V VIII) bdquoNachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte war die aumluszligerste Intoleranz des Christentums gegen die drauszligen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge gewordenldquo (374) 19 Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein juumldisch-christlicher Dialog Muumlnchen 1997 20 bdquoSchlieszliglich will ich auch gar nicht dass die Mutter den Peiniger umarmt der ihren Sohn von Hunden zerreiszligen lieszlig Sie darf sich nicht unterstehen ihm zu verzeihen Wenn sie will mag sie verzeihen soweit es sie selber angeht sie mag dem Peiniger ihr maszligloses Mutterleid ver-zeihen aber die Leiden ihres zerfleischten Kindes zu verzeihen hat sie kein Recht sie darf es nicht wagen dem Peiniger zu verzeihen auch wenn das Kind selber ihm verzieheldquo (Muumlnchen 1958 330f

Thomas Soumlding

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7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)

71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20) a Mit der Fuszligwaschung21

b Die Fuszligwaschung ist das Zeichen der Passion Ihr folgen Gespraumlche mit den Juumln-gern die zwar von Jesus gewaschen und gereinigt sind aber groumlszligte Schwierigkeiten haben zu verstehen was sich tut

beginnt der 2 Hauptteil des Johannesevangeliums Das oumlffentliche Wirken ist abgeschlossen Jesus konzentriert sich auf seine Juumlnger bevor er oumlffentlich hingerichtet werden wird Er bereitet sie auf seine Passion und seine Auferstehung vor die den Weg zu Gott bahnen werden

bull Auf die Fuszligwaschung folgt zuerst eine Trias unmittelbarer Konsequenzen o Judas wird als Verraumlter identifiziert und verlaumlsst den Juumlngerkreis (Joh

1321-30) o Die Juumlnger werden zur wechselseitigen Liebe gemahnt (Joh 1331-35) o Petrus wird seine Verleugnung vorhergesagt (Joh 1336ff)

bull Auf die Fuszligwaschung folgen ausfuumlhrliche Abschiedsworte (Joh 14-16) die in ein Abschiedsgebet muumlnden (Joh 17)

c Joh 131-20 ist uumlbersichtlich aufgebaut

Joh 131 Der Hintergrund Joh 132-5 Die Fuszligwaschung beim Mahl 132 Die Situation 133ff Die Handlung Jesu Joh 136-11 Das Gespraumlch mit Petrus 136 Der erste Einwand des Petrus 137 Die erste Antwort Jesu 138a Der zweite Einwand des Petrus 138b Die zweite Antwort Jesu 139 Der dritte Einwand des Petrus 1310 Die dritte Antwort Jesu 1311 Kommentar des Evangelisten Joh 1312-20 Die Deutung vor allen Juumlngern 1312-17 Die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu 1318f Die Ansage eines Verrates 1320 Die Juumlnger als Apostel

21 Vgl Luise Abramowski Die Geschichte von der Fuszligwaschung in Zeitschrift fuumlr Theologie und Kirche 102 (2005) 176-203

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d Die Exegese diskutiert in welchem Verhaumlltnis die beiden Deutungen zu einander stehen Die erste ist soteriologisch die zweite ethisch ausgerichtet

bull Recht oft wird aus der Doppelung auf ein literarisches Wachstum des Textes geschlossen

o Moumlglichkeit 1 Die soteriologische Deutung ist die aumlltere die paraumlnetische die se-kundaumlre22

o Moumlglichkeit 2 Die ethische Deutung ist urspruumlnglich die soteriologisch nachtraumlglich zwischengeschoben

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Beide Ansaumltze sind von weitereichenden Voraussetzung zur relativen Chrono-logie des Corpus Johanneum gepraumlgt

o Wer den Ersten Johannesbrief fuumlr aumllter erachtet wird die ethische Deutung fuumlr urspruumlnglich halten

o Wer das Evangelium fuumlr aumllter erachtet wird eher die soteriologische Deutung als originaumlr einschaumltzen

Die ethische Deutung wird dann fuumlr sekundaumlr zu erachten wenn man zu dem Urteil gelangt die johanneische Theologie sei urspruumlnglich wenig konkret und eher spirituell ausgerichtet waumlhrend erst sekundaumlr Johannes gesamtkirchlich eingenordet worden sei Beide Ansaumltze gehen von einem literarischen Schichtenmodell aus das der Ei-genart johanneischer Literatur in den Evangelienerzaumlhlungen nicht angemes-sen ist Beide werden durch das Modell einer bdquorelectureldquo gemildert das ndash aumlhnlich wie in der Prophetenexegese des Alten Testaments ndash mit einer Fortschreibung der Texte rechnet aber sie zugleich als vergegenwaumlrtigende Aneignung des vor-gegebenen Textes versteht24

bull Es mehren sich wieder die Stimmen die Joh 13 als literarisch einheitlich anse-hen

Allerdings stoumlszligt dieses Modell auf die Schwie-rigkeit dass das Liebesgebot das die ethische Deutung vorbereitet in Joh 1331-35 dominant ist und nicht nur in Joh 15-16 ausgefuumlhrt sondern auch in Joh 1421 angebahnt wird

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Die Doppelung erklaumlrt sich aus der Theologie der Liebe Sie hat eine Innenseite die Liebe Jesu zu sein Seinen in der sich nach Joh 1421 die Liebe das Vaters zum Sohn ereignet und sie hat eine Auszligenseite die sich nach Joh 1331-35 und Joh 15 in der Bruderliebe der Juumlnger erweist von der die Welt angezogen werden wird (Joh 17)

Allerdings braucht es eine Erklaumlrung fuumlr die Deutung Eine moumlgliche Er-klaumlrung waumlre der Adressatenwechsel aber die Petrusszene spielt sich vor den Augen und Ohren aller ab

22 So Rudolf Schnackenburg Joh III passim 23 So Udo Schnelle Joh 237 Er will eine Ursprungsform (132a4512ab162017) die recht nahe bei Lk 22 und der Mahnung der Juumlnger zum Dienen steht zuerst in der johanneischen Schule (der er den Ersten Johannesbrief mit seiner Theologie der Liebe zurechnet) um die Vorbildethik erweitert sehen (1312c13-15) bevor der Evangelist selbst von der Einleitung an (131) konsequent seine soteriologische Deutung ins Fundament der Geschichte eingebaut habe (136-10ab) 24 So Jean Zumstein Joh 25 So Hartwig Thyen Joh

Thomas Soumlding

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711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus a Die Liebe Jesu zu den Seinen (Joh 131) verwirklicht die Liebe Gottes zur Welt (Joh 316) die von der Liebe des Vaters zum Sohn getragen wird (Joh 335 1017) Es ist die nach der Zwischennotiz von Jesu Freundschaft mit Martha Maria und Lazarus (Joh 115) erste Betonung der Agape Jesu von der spaumlter das Liebesgebot Joh 1334 und die Verheiszligung dauernden Beistandes der Juumlnger gedeckt ist (Joh 1421-31)

b In der Liebe Jesu zu den Seinen verbindet sich die Liebe Gottes zur Welt mit der Liebe Jesu zu seinen Freunden (Joh 15) Es ist eine unbedingte Bejahung und Wert-schaumltzung die auf Sympathie beruht und lebendig macht

c Die Liebe erweist Jesus den bdquoSeinenldquo bull Im Ruumlckraum steht Joh 19-13 dass die bdquoSeinenldquo den Logos abgelehnt haben

ndash bis auf diejenigen die an seinen Namen glauben und deshalb das Recht der Gotteskindschaft erhalten

bull Die bdquoSeinenldquo sind die Juumlnger die sich von Jesus in die Nachfolge haben rufen lassen (Joh 135-51) und in der galilaumlischen Krise Jesus nicht verlassen haben (Joh 660-71) Sie haben ihrerseits schwere Glaubensprobleme ndash aber werden sie durch Jesus uumlberwinden

bull In Joh 14 und Joh 17 wird erklaumlrt werden dass die Liebe Jesu zu den Seinen ndash wie die zum Lieblingsjuumlnger ndash nicht exklusiv sondern positiv zu verstehen ist

Dass Jesus den Seinen die Liebe bdquobis zum Endeldquo erweist verweist auf den Tod Jesu Das griechische Wort ist mehrdeutig teloj kann bdquoEndeldquo aber auch bdquoZielldquo bedeuten Beide Bedeutungen schwingen mit

bull Der Tod Jesu ist das definitive Ende seiner geschichtlichen Sendung das zu akzeptieren wird den Juumlngern ungeheuer schwer fallen

bull Der Tod Jesu ist das Ziel seines Wirkens insofern es seine Liebe und Hingabe definitiv werden laumlsst

Der Korrespondenzsatz ist das Todeswort Jesu Joh 1930 bull Es ist ein Gebet wie nach allen Synoptikern (Mk 1534 par Mt 2746 bdquoGott

mein Gott warum hast du mich verlassenldquo ndash Ps 222 Lk 2346 bdquoVater in deine Haumlnde gebe ich meinen Geistldquo ndash Ps 316) aber als letztes Offenba-rungswort an die Welt

bull Die traditionelle Uumlbersetzung lautet bdquoEs ist vollbrachtldquo Man kann aber auch sagen bdquovollendetldquo (Muumlnchner Neues Testament Bible de Jerusaleme bdquoCest acheveacuteldquo) oder bdquozu Endeldquo (King James Bible bdquoIt is finishedldquo)

Eine moumlgliche auf Joh 131 abgestimmte Uumlbersetzung waumlre (wie im Muumlnchener Neu-en Testament) bdquoEs ist vollendetldquo (tetelestai)

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712 Die Fuszligwaschung a Jemandem vor dem Mahl die Fuumlszlige zu waschen ist ein Dienst den traditioneller-weise Sklaven ihren Herren erweisen (vgl 1Sam 2541)26

Joh 1313f zeigt dass die sozialen Dimensionen der Fuszligwaschung klar vor Augen stehen der Gesamttext dass der Ritus sakramental gefuumlllt wird

Das Waschen der Fuumlszlige ist ein Ritus der Vorbereitung der eine koumlrperliche Wohltat mit einer Geste der Houmlflich-keit verbindet die Anerkennung und Ehrerbietung meint (Gen 184 vgl Lk 744) und zudem mit einer rituellen Bedeutung versieht die einen Uumlbergang gestaltet von drauszligen nach drinnen vom Alltag zum Fest vom Profanen zum Heiligen

7121 Die soteriologische Deutung a Im Gespraumlch mit Petrus wird die Bedeutung der Fuszligwaschung soteriologisch gedeu-tet Sie ist eine bdquoReinigungldquo ndash nicht wie in der Taufe sondern wie in der Buszlige Petrus braucht keine Wiederholung der Wiedergeburt die er als glaumlubig gewordener Taumluferjuumlnger erlebt hat aber er bedarf mehr als andere der Vergebung weil er ndash ent-gegen seinem Vorsatz ndash Jesus verleugnet Waumlhrend er sagt fuumlr Jesus sterben zu wol-len muss gerade fuumlr ihn Jesus sterben

b Petrus erkennt nach Joh 136 das Unmoumlgliche der Situation dass der Herr ihm ei-nen Sklavendienst leistet Er wehrt diesen Dienst doppelt ab (Joh 1368a) ndash so wie er nach Joh 1336ff nicht will dass Jesus fuumlr ihn sein Leben einsetzt In diesem Nein kommt eine Liebe zu Jesus zum Ausdruck die bestimmen will Gleichzeitig aber ist das Nein auch Ausdruck des Missverstaumlndnisses dass Petrus der Diakonie Jesu womoumlglich gar nicht bedarf Petrus verschaumlrft seinen Widerspruch der aus Unverstaumlndnis stammt indem er dann ganz gewaschen werden will (Joh 139) ndash womit er aber seine Berufung leugnet

c Jesus deckt das Missverstaumlndnis des Petrus auf Die Fuszligwaschung steht nicht am Anfang sondern an einer Biegung des Weges mit Jesus Die Weg-Gemeinschaft ist darin begruumlndet dass Jesus sich in seinen Dienst stellt Dem muss entsprechen dass Petrus sich den Dienst gefallen laumlsst Er muss Jesus so nahe wie in der Fuszligwaschung an sich heranlassen Er muss den Rollentausch akzeptieren Die Langversion von Vers 10 die durch den Codex Vaticanus gedeckt und als lectio difficilior gesichert ist entspricht dem Kontext

bull Im Bild Auch nach dem Vollbad macht man sich wieder die Fuumlszlige schmutzig Man laumlsst sie sich waschen damit auch sie sauber sind man laumlsst nur sie waschen weil der sonstige Koumlrper gereinigt ist

bull In der Sache Wer durch das Bad der Wiedergeburt die Taufe bdquoganz reinldquo geworden ist muss diese Reinheit aber durch seine Schuld verloren hat muss sich die Fuumlszlige waschen lassen um durch Jesus zu Gott zu gelangen Dem entspricht am ehesten eine Deutung auf die Buszlige wie sie orthodoxen Vaumlter favorisieren

26 Hellenistische Parallelen Neuer Wettstein I2 636-644

Thomas Soumlding

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7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
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      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
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        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 23: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

Thomas Soumlding

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7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)

71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20) a Mit der Fuszligwaschung21

b Die Fuszligwaschung ist das Zeichen der Passion Ihr folgen Gespraumlche mit den Juumln-gern die zwar von Jesus gewaschen und gereinigt sind aber groumlszligte Schwierigkeiten haben zu verstehen was sich tut

beginnt der 2 Hauptteil des Johannesevangeliums Das oumlffentliche Wirken ist abgeschlossen Jesus konzentriert sich auf seine Juumlnger bevor er oumlffentlich hingerichtet werden wird Er bereitet sie auf seine Passion und seine Auferstehung vor die den Weg zu Gott bahnen werden

bull Auf die Fuszligwaschung folgt zuerst eine Trias unmittelbarer Konsequenzen o Judas wird als Verraumlter identifiziert und verlaumlsst den Juumlngerkreis (Joh

1321-30) o Die Juumlnger werden zur wechselseitigen Liebe gemahnt (Joh 1331-35) o Petrus wird seine Verleugnung vorhergesagt (Joh 1336ff)

bull Auf die Fuszligwaschung folgen ausfuumlhrliche Abschiedsworte (Joh 14-16) die in ein Abschiedsgebet muumlnden (Joh 17)

c Joh 131-20 ist uumlbersichtlich aufgebaut

Joh 131 Der Hintergrund Joh 132-5 Die Fuszligwaschung beim Mahl 132 Die Situation 133ff Die Handlung Jesu Joh 136-11 Das Gespraumlch mit Petrus 136 Der erste Einwand des Petrus 137 Die erste Antwort Jesu 138a Der zweite Einwand des Petrus 138b Die zweite Antwort Jesu 139 Der dritte Einwand des Petrus 1310 Die dritte Antwort Jesu 1311 Kommentar des Evangelisten Joh 1312-20 Die Deutung vor allen Juumlngern 1312-17 Die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu 1318f Die Ansage eines Verrates 1320 Die Juumlnger als Apostel

21 Vgl Luise Abramowski Die Geschichte von der Fuszligwaschung in Zeitschrift fuumlr Theologie und Kirche 102 (2005) 176-203

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d Die Exegese diskutiert in welchem Verhaumlltnis die beiden Deutungen zu einander stehen Die erste ist soteriologisch die zweite ethisch ausgerichtet

bull Recht oft wird aus der Doppelung auf ein literarisches Wachstum des Textes geschlossen

o Moumlglichkeit 1 Die soteriologische Deutung ist die aumlltere die paraumlnetische die se-kundaumlre22

o Moumlglichkeit 2 Die ethische Deutung ist urspruumlnglich die soteriologisch nachtraumlglich zwischengeschoben

23

Beide Ansaumltze sind von weitereichenden Voraussetzung zur relativen Chrono-logie des Corpus Johanneum gepraumlgt

o Wer den Ersten Johannesbrief fuumlr aumllter erachtet wird die ethische Deutung fuumlr urspruumlnglich halten

o Wer das Evangelium fuumlr aumllter erachtet wird eher die soteriologische Deutung als originaumlr einschaumltzen

Die ethische Deutung wird dann fuumlr sekundaumlr zu erachten wenn man zu dem Urteil gelangt die johanneische Theologie sei urspruumlnglich wenig konkret und eher spirituell ausgerichtet waumlhrend erst sekundaumlr Johannes gesamtkirchlich eingenordet worden sei Beide Ansaumltze gehen von einem literarischen Schichtenmodell aus das der Ei-genart johanneischer Literatur in den Evangelienerzaumlhlungen nicht angemes-sen ist Beide werden durch das Modell einer bdquorelectureldquo gemildert das ndash aumlhnlich wie in der Prophetenexegese des Alten Testaments ndash mit einer Fortschreibung der Texte rechnet aber sie zugleich als vergegenwaumlrtigende Aneignung des vor-gegebenen Textes versteht24

bull Es mehren sich wieder die Stimmen die Joh 13 als literarisch einheitlich anse-hen

Allerdings stoumlszligt dieses Modell auf die Schwie-rigkeit dass das Liebesgebot das die ethische Deutung vorbereitet in Joh 1331-35 dominant ist und nicht nur in Joh 15-16 ausgefuumlhrt sondern auch in Joh 1421 angebahnt wird

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Die Doppelung erklaumlrt sich aus der Theologie der Liebe Sie hat eine Innenseite die Liebe Jesu zu sein Seinen in der sich nach Joh 1421 die Liebe das Vaters zum Sohn ereignet und sie hat eine Auszligenseite die sich nach Joh 1331-35 und Joh 15 in der Bruderliebe der Juumlnger erweist von der die Welt angezogen werden wird (Joh 17)

Allerdings braucht es eine Erklaumlrung fuumlr die Deutung Eine moumlgliche Er-klaumlrung waumlre der Adressatenwechsel aber die Petrusszene spielt sich vor den Augen und Ohren aller ab

22 So Rudolf Schnackenburg Joh III passim 23 So Udo Schnelle Joh 237 Er will eine Ursprungsform (132a4512ab162017) die recht nahe bei Lk 22 und der Mahnung der Juumlnger zum Dienen steht zuerst in der johanneischen Schule (der er den Ersten Johannesbrief mit seiner Theologie der Liebe zurechnet) um die Vorbildethik erweitert sehen (1312c13-15) bevor der Evangelist selbst von der Einleitung an (131) konsequent seine soteriologische Deutung ins Fundament der Geschichte eingebaut habe (136-10ab) 24 So Jean Zumstein Joh 25 So Hartwig Thyen Joh

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711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus a Die Liebe Jesu zu den Seinen (Joh 131) verwirklicht die Liebe Gottes zur Welt (Joh 316) die von der Liebe des Vaters zum Sohn getragen wird (Joh 335 1017) Es ist die nach der Zwischennotiz von Jesu Freundschaft mit Martha Maria und Lazarus (Joh 115) erste Betonung der Agape Jesu von der spaumlter das Liebesgebot Joh 1334 und die Verheiszligung dauernden Beistandes der Juumlnger gedeckt ist (Joh 1421-31)

b In der Liebe Jesu zu den Seinen verbindet sich die Liebe Gottes zur Welt mit der Liebe Jesu zu seinen Freunden (Joh 15) Es ist eine unbedingte Bejahung und Wert-schaumltzung die auf Sympathie beruht und lebendig macht

c Die Liebe erweist Jesus den bdquoSeinenldquo bull Im Ruumlckraum steht Joh 19-13 dass die bdquoSeinenldquo den Logos abgelehnt haben

ndash bis auf diejenigen die an seinen Namen glauben und deshalb das Recht der Gotteskindschaft erhalten

bull Die bdquoSeinenldquo sind die Juumlnger die sich von Jesus in die Nachfolge haben rufen lassen (Joh 135-51) und in der galilaumlischen Krise Jesus nicht verlassen haben (Joh 660-71) Sie haben ihrerseits schwere Glaubensprobleme ndash aber werden sie durch Jesus uumlberwinden

bull In Joh 14 und Joh 17 wird erklaumlrt werden dass die Liebe Jesu zu den Seinen ndash wie die zum Lieblingsjuumlnger ndash nicht exklusiv sondern positiv zu verstehen ist

Dass Jesus den Seinen die Liebe bdquobis zum Endeldquo erweist verweist auf den Tod Jesu Das griechische Wort ist mehrdeutig teloj kann bdquoEndeldquo aber auch bdquoZielldquo bedeuten Beide Bedeutungen schwingen mit

bull Der Tod Jesu ist das definitive Ende seiner geschichtlichen Sendung das zu akzeptieren wird den Juumlngern ungeheuer schwer fallen

bull Der Tod Jesu ist das Ziel seines Wirkens insofern es seine Liebe und Hingabe definitiv werden laumlsst

Der Korrespondenzsatz ist das Todeswort Jesu Joh 1930 bull Es ist ein Gebet wie nach allen Synoptikern (Mk 1534 par Mt 2746 bdquoGott

mein Gott warum hast du mich verlassenldquo ndash Ps 222 Lk 2346 bdquoVater in deine Haumlnde gebe ich meinen Geistldquo ndash Ps 316) aber als letztes Offenba-rungswort an die Welt

bull Die traditionelle Uumlbersetzung lautet bdquoEs ist vollbrachtldquo Man kann aber auch sagen bdquovollendetldquo (Muumlnchner Neues Testament Bible de Jerusaleme bdquoCest acheveacuteldquo) oder bdquozu Endeldquo (King James Bible bdquoIt is finishedldquo)

Eine moumlgliche auf Joh 131 abgestimmte Uumlbersetzung waumlre (wie im Muumlnchener Neu-en Testament) bdquoEs ist vollendetldquo (tetelestai)

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712 Die Fuszligwaschung a Jemandem vor dem Mahl die Fuumlszlige zu waschen ist ein Dienst den traditioneller-weise Sklaven ihren Herren erweisen (vgl 1Sam 2541)26

Joh 1313f zeigt dass die sozialen Dimensionen der Fuszligwaschung klar vor Augen stehen der Gesamttext dass der Ritus sakramental gefuumlllt wird

Das Waschen der Fuumlszlige ist ein Ritus der Vorbereitung der eine koumlrperliche Wohltat mit einer Geste der Houmlflich-keit verbindet die Anerkennung und Ehrerbietung meint (Gen 184 vgl Lk 744) und zudem mit einer rituellen Bedeutung versieht die einen Uumlbergang gestaltet von drauszligen nach drinnen vom Alltag zum Fest vom Profanen zum Heiligen

7121 Die soteriologische Deutung a Im Gespraumlch mit Petrus wird die Bedeutung der Fuszligwaschung soteriologisch gedeu-tet Sie ist eine bdquoReinigungldquo ndash nicht wie in der Taufe sondern wie in der Buszlige Petrus braucht keine Wiederholung der Wiedergeburt die er als glaumlubig gewordener Taumluferjuumlnger erlebt hat aber er bedarf mehr als andere der Vergebung weil er ndash ent-gegen seinem Vorsatz ndash Jesus verleugnet Waumlhrend er sagt fuumlr Jesus sterben zu wol-len muss gerade fuumlr ihn Jesus sterben

b Petrus erkennt nach Joh 136 das Unmoumlgliche der Situation dass der Herr ihm ei-nen Sklavendienst leistet Er wehrt diesen Dienst doppelt ab (Joh 1368a) ndash so wie er nach Joh 1336ff nicht will dass Jesus fuumlr ihn sein Leben einsetzt In diesem Nein kommt eine Liebe zu Jesus zum Ausdruck die bestimmen will Gleichzeitig aber ist das Nein auch Ausdruck des Missverstaumlndnisses dass Petrus der Diakonie Jesu womoumlglich gar nicht bedarf Petrus verschaumlrft seinen Widerspruch der aus Unverstaumlndnis stammt indem er dann ganz gewaschen werden will (Joh 139) ndash womit er aber seine Berufung leugnet

c Jesus deckt das Missverstaumlndnis des Petrus auf Die Fuszligwaschung steht nicht am Anfang sondern an einer Biegung des Weges mit Jesus Die Weg-Gemeinschaft ist darin begruumlndet dass Jesus sich in seinen Dienst stellt Dem muss entsprechen dass Petrus sich den Dienst gefallen laumlsst Er muss Jesus so nahe wie in der Fuszligwaschung an sich heranlassen Er muss den Rollentausch akzeptieren Die Langversion von Vers 10 die durch den Codex Vaticanus gedeckt und als lectio difficilior gesichert ist entspricht dem Kontext

bull Im Bild Auch nach dem Vollbad macht man sich wieder die Fuumlszlige schmutzig Man laumlsst sie sich waschen damit auch sie sauber sind man laumlsst nur sie waschen weil der sonstige Koumlrper gereinigt ist

bull In der Sache Wer durch das Bad der Wiedergeburt die Taufe bdquoganz reinldquo geworden ist muss diese Reinheit aber durch seine Schuld verloren hat muss sich die Fuumlszlige waschen lassen um durch Jesus zu Gott zu gelangen Dem entspricht am ehesten eine Deutung auf die Buszlige wie sie orthodoxen Vaumlter favorisieren

26 Hellenistische Parallelen Neuer Wettstein I2 636-644

Thomas Soumlding

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7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

48

c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

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          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 24: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

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d Die Exegese diskutiert in welchem Verhaumlltnis die beiden Deutungen zu einander stehen Die erste ist soteriologisch die zweite ethisch ausgerichtet

bull Recht oft wird aus der Doppelung auf ein literarisches Wachstum des Textes geschlossen

o Moumlglichkeit 1 Die soteriologische Deutung ist die aumlltere die paraumlnetische die se-kundaumlre22

o Moumlglichkeit 2 Die ethische Deutung ist urspruumlnglich die soteriologisch nachtraumlglich zwischengeschoben

23

Beide Ansaumltze sind von weitereichenden Voraussetzung zur relativen Chrono-logie des Corpus Johanneum gepraumlgt

o Wer den Ersten Johannesbrief fuumlr aumllter erachtet wird die ethische Deutung fuumlr urspruumlnglich halten

o Wer das Evangelium fuumlr aumllter erachtet wird eher die soteriologische Deutung als originaumlr einschaumltzen

Die ethische Deutung wird dann fuumlr sekundaumlr zu erachten wenn man zu dem Urteil gelangt die johanneische Theologie sei urspruumlnglich wenig konkret und eher spirituell ausgerichtet waumlhrend erst sekundaumlr Johannes gesamtkirchlich eingenordet worden sei Beide Ansaumltze gehen von einem literarischen Schichtenmodell aus das der Ei-genart johanneischer Literatur in den Evangelienerzaumlhlungen nicht angemes-sen ist Beide werden durch das Modell einer bdquorelectureldquo gemildert das ndash aumlhnlich wie in der Prophetenexegese des Alten Testaments ndash mit einer Fortschreibung der Texte rechnet aber sie zugleich als vergegenwaumlrtigende Aneignung des vor-gegebenen Textes versteht24

bull Es mehren sich wieder die Stimmen die Joh 13 als literarisch einheitlich anse-hen

Allerdings stoumlszligt dieses Modell auf die Schwie-rigkeit dass das Liebesgebot das die ethische Deutung vorbereitet in Joh 1331-35 dominant ist und nicht nur in Joh 15-16 ausgefuumlhrt sondern auch in Joh 1421 angebahnt wird

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Die Doppelung erklaumlrt sich aus der Theologie der Liebe Sie hat eine Innenseite die Liebe Jesu zu sein Seinen in der sich nach Joh 1421 die Liebe das Vaters zum Sohn ereignet und sie hat eine Auszligenseite die sich nach Joh 1331-35 und Joh 15 in der Bruderliebe der Juumlnger erweist von der die Welt angezogen werden wird (Joh 17)

Allerdings braucht es eine Erklaumlrung fuumlr die Deutung Eine moumlgliche Er-klaumlrung waumlre der Adressatenwechsel aber die Petrusszene spielt sich vor den Augen und Ohren aller ab

22 So Rudolf Schnackenburg Joh III passim 23 So Udo Schnelle Joh 237 Er will eine Ursprungsform (132a4512ab162017) die recht nahe bei Lk 22 und der Mahnung der Juumlnger zum Dienen steht zuerst in der johanneischen Schule (der er den Ersten Johannesbrief mit seiner Theologie der Liebe zurechnet) um die Vorbildethik erweitert sehen (1312c13-15) bevor der Evangelist selbst von der Einleitung an (131) konsequent seine soteriologische Deutung ins Fundament der Geschichte eingebaut habe (136-10ab) 24 So Jean Zumstein Joh 25 So Hartwig Thyen Joh

Thomas Soumlding

25

711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus a Die Liebe Jesu zu den Seinen (Joh 131) verwirklicht die Liebe Gottes zur Welt (Joh 316) die von der Liebe des Vaters zum Sohn getragen wird (Joh 335 1017) Es ist die nach der Zwischennotiz von Jesu Freundschaft mit Martha Maria und Lazarus (Joh 115) erste Betonung der Agape Jesu von der spaumlter das Liebesgebot Joh 1334 und die Verheiszligung dauernden Beistandes der Juumlnger gedeckt ist (Joh 1421-31)

b In der Liebe Jesu zu den Seinen verbindet sich die Liebe Gottes zur Welt mit der Liebe Jesu zu seinen Freunden (Joh 15) Es ist eine unbedingte Bejahung und Wert-schaumltzung die auf Sympathie beruht und lebendig macht

c Die Liebe erweist Jesus den bdquoSeinenldquo bull Im Ruumlckraum steht Joh 19-13 dass die bdquoSeinenldquo den Logos abgelehnt haben

ndash bis auf diejenigen die an seinen Namen glauben und deshalb das Recht der Gotteskindschaft erhalten

bull Die bdquoSeinenldquo sind die Juumlnger die sich von Jesus in die Nachfolge haben rufen lassen (Joh 135-51) und in der galilaumlischen Krise Jesus nicht verlassen haben (Joh 660-71) Sie haben ihrerseits schwere Glaubensprobleme ndash aber werden sie durch Jesus uumlberwinden

bull In Joh 14 und Joh 17 wird erklaumlrt werden dass die Liebe Jesu zu den Seinen ndash wie die zum Lieblingsjuumlnger ndash nicht exklusiv sondern positiv zu verstehen ist

Dass Jesus den Seinen die Liebe bdquobis zum Endeldquo erweist verweist auf den Tod Jesu Das griechische Wort ist mehrdeutig teloj kann bdquoEndeldquo aber auch bdquoZielldquo bedeuten Beide Bedeutungen schwingen mit

bull Der Tod Jesu ist das definitive Ende seiner geschichtlichen Sendung das zu akzeptieren wird den Juumlngern ungeheuer schwer fallen

bull Der Tod Jesu ist das Ziel seines Wirkens insofern es seine Liebe und Hingabe definitiv werden laumlsst

Der Korrespondenzsatz ist das Todeswort Jesu Joh 1930 bull Es ist ein Gebet wie nach allen Synoptikern (Mk 1534 par Mt 2746 bdquoGott

mein Gott warum hast du mich verlassenldquo ndash Ps 222 Lk 2346 bdquoVater in deine Haumlnde gebe ich meinen Geistldquo ndash Ps 316) aber als letztes Offenba-rungswort an die Welt

bull Die traditionelle Uumlbersetzung lautet bdquoEs ist vollbrachtldquo Man kann aber auch sagen bdquovollendetldquo (Muumlnchner Neues Testament Bible de Jerusaleme bdquoCest acheveacuteldquo) oder bdquozu Endeldquo (King James Bible bdquoIt is finishedldquo)

Eine moumlgliche auf Joh 131 abgestimmte Uumlbersetzung waumlre (wie im Muumlnchener Neu-en Testament) bdquoEs ist vollendetldquo (tetelestai)

26

712 Die Fuszligwaschung a Jemandem vor dem Mahl die Fuumlszlige zu waschen ist ein Dienst den traditioneller-weise Sklaven ihren Herren erweisen (vgl 1Sam 2541)26

Joh 1313f zeigt dass die sozialen Dimensionen der Fuszligwaschung klar vor Augen stehen der Gesamttext dass der Ritus sakramental gefuumlllt wird

Das Waschen der Fuumlszlige ist ein Ritus der Vorbereitung der eine koumlrperliche Wohltat mit einer Geste der Houmlflich-keit verbindet die Anerkennung und Ehrerbietung meint (Gen 184 vgl Lk 744) und zudem mit einer rituellen Bedeutung versieht die einen Uumlbergang gestaltet von drauszligen nach drinnen vom Alltag zum Fest vom Profanen zum Heiligen

7121 Die soteriologische Deutung a Im Gespraumlch mit Petrus wird die Bedeutung der Fuszligwaschung soteriologisch gedeu-tet Sie ist eine bdquoReinigungldquo ndash nicht wie in der Taufe sondern wie in der Buszlige Petrus braucht keine Wiederholung der Wiedergeburt die er als glaumlubig gewordener Taumluferjuumlnger erlebt hat aber er bedarf mehr als andere der Vergebung weil er ndash ent-gegen seinem Vorsatz ndash Jesus verleugnet Waumlhrend er sagt fuumlr Jesus sterben zu wol-len muss gerade fuumlr ihn Jesus sterben

b Petrus erkennt nach Joh 136 das Unmoumlgliche der Situation dass der Herr ihm ei-nen Sklavendienst leistet Er wehrt diesen Dienst doppelt ab (Joh 1368a) ndash so wie er nach Joh 1336ff nicht will dass Jesus fuumlr ihn sein Leben einsetzt In diesem Nein kommt eine Liebe zu Jesus zum Ausdruck die bestimmen will Gleichzeitig aber ist das Nein auch Ausdruck des Missverstaumlndnisses dass Petrus der Diakonie Jesu womoumlglich gar nicht bedarf Petrus verschaumlrft seinen Widerspruch der aus Unverstaumlndnis stammt indem er dann ganz gewaschen werden will (Joh 139) ndash womit er aber seine Berufung leugnet

c Jesus deckt das Missverstaumlndnis des Petrus auf Die Fuszligwaschung steht nicht am Anfang sondern an einer Biegung des Weges mit Jesus Die Weg-Gemeinschaft ist darin begruumlndet dass Jesus sich in seinen Dienst stellt Dem muss entsprechen dass Petrus sich den Dienst gefallen laumlsst Er muss Jesus so nahe wie in der Fuszligwaschung an sich heranlassen Er muss den Rollentausch akzeptieren Die Langversion von Vers 10 die durch den Codex Vaticanus gedeckt und als lectio difficilior gesichert ist entspricht dem Kontext

bull Im Bild Auch nach dem Vollbad macht man sich wieder die Fuumlszlige schmutzig Man laumlsst sie sich waschen damit auch sie sauber sind man laumlsst nur sie waschen weil der sonstige Koumlrper gereinigt ist

bull In der Sache Wer durch das Bad der Wiedergeburt die Taufe bdquoganz reinldquo geworden ist muss diese Reinheit aber durch seine Schuld verloren hat muss sich die Fuumlszlige waschen lassen um durch Jesus zu Gott zu gelangen Dem entspricht am ehesten eine Deutung auf die Buszlige wie sie orthodoxen Vaumlter favorisieren

26 Hellenistische Parallelen Neuer Wettstein I2 636-644

Thomas Soumlding

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7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
    • Kontakt
      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
        • Markusevangelium
        • Lukasevangelium
        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 25: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

Thomas Soumlding

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711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus a Die Liebe Jesu zu den Seinen (Joh 131) verwirklicht die Liebe Gottes zur Welt (Joh 316) die von der Liebe des Vaters zum Sohn getragen wird (Joh 335 1017) Es ist die nach der Zwischennotiz von Jesu Freundschaft mit Martha Maria und Lazarus (Joh 115) erste Betonung der Agape Jesu von der spaumlter das Liebesgebot Joh 1334 und die Verheiszligung dauernden Beistandes der Juumlnger gedeckt ist (Joh 1421-31)

b In der Liebe Jesu zu den Seinen verbindet sich die Liebe Gottes zur Welt mit der Liebe Jesu zu seinen Freunden (Joh 15) Es ist eine unbedingte Bejahung und Wert-schaumltzung die auf Sympathie beruht und lebendig macht

c Die Liebe erweist Jesus den bdquoSeinenldquo bull Im Ruumlckraum steht Joh 19-13 dass die bdquoSeinenldquo den Logos abgelehnt haben

ndash bis auf diejenigen die an seinen Namen glauben und deshalb das Recht der Gotteskindschaft erhalten

bull Die bdquoSeinenldquo sind die Juumlnger die sich von Jesus in die Nachfolge haben rufen lassen (Joh 135-51) und in der galilaumlischen Krise Jesus nicht verlassen haben (Joh 660-71) Sie haben ihrerseits schwere Glaubensprobleme ndash aber werden sie durch Jesus uumlberwinden

bull In Joh 14 und Joh 17 wird erklaumlrt werden dass die Liebe Jesu zu den Seinen ndash wie die zum Lieblingsjuumlnger ndash nicht exklusiv sondern positiv zu verstehen ist

Dass Jesus den Seinen die Liebe bdquobis zum Endeldquo erweist verweist auf den Tod Jesu Das griechische Wort ist mehrdeutig teloj kann bdquoEndeldquo aber auch bdquoZielldquo bedeuten Beide Bedeutungen schwingen mit

bull Der Tod Jesu ist das definitive Ende seiner geschichtlichen Sendung das zu akzeptieren wird den Juumlngern ungeheuer schwer fallen

bull Der Tod Jesu ist das Ziel seines Wirkens insofern es seine Liebe und Hingabe definitiv werden laumlsst

Der Korrespondenzsatz ist das Todeswort Jesu Joh 1930 bull Es ist ein Gebet wie nach allen Synoptikern (Mk 1534 par Mt 2746 bdquoGott

mein Gott warum hast du mich verlassenldquo ndash Ps 222 Lk 2346 bdquoVater in deine Haumlnde gebe ich meinen Geistldquo ndash Ps 316) aber als letztes Offenba-rungswort an die Welt

bull Die traditionelle Uumlbersetzung lautet bdquoEs ist vollbrachtldquo Man kann aber auch sagen bdquovollendetldquo (Muumlnchner Neues Testament Bible de Jerusaleme bdquoCest acheveacuteldquo) oder bdquozu Endeldquo (King James Bible bdquoIt is finishedldquo)

Eine moumlgliche auf Joh 131 abgestimmte Uumlbersetzung waumlre (wie im Muumlnchener Neu-en Testament) bdquoEs ist vollendetldquo (tetelestai)

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712 Die Fuszligwaschung a Jemandem vor dem Mahl die Fuumlszlige zu waschen ist ein Dienst den traditioneller-weise Sklaven ihren Herren erweisen (vgl 1Sam 2541)26

Joh 1313f zeigt dass die sozialen Dimensionen der Fuszligwaschung klar vor Augen stehen der Gesamttext dass der Ritus sakramental gefuumlllt wird

Das Waschen der Fuumlszlige ist ein Ritus der Vorbereitung der eine koumlrperliche Wohltat mit einer Geste der Houmlflich-keit verbindet die Anerkennung und Ehrerbietung meint (Gen 184 vgl Lk 744) und zudem mit einer rituellen Bedeutung versieht die einen Uumlbergang gestaltet von drauszligen nach drinnen vom Alltag zum Fest vom Profanen zum Heiligen

7121 Die soteriologische Deutung a Im Gespraumlch mit Petrus wird die Bedeutung der Fuszligwaschung soteriologisch gedeu-tet Sie ist eine bdquoReinigungldquo ndash nicht wie in der Taufe sondern wie in der Buszlige Petrus braucht keine Wiederholung der Wiedergeburt die er als glaumlubig gewordener Taumluferjuumlnger erlebt hat aber er bedarf mehr als andere der Vergebung weil er ndash ent-gegen seinem Vorsatz ndash Jesus verleugnet Waumlhrend er sagt fuumlr Jesus sterben zu wol-len muss gerade fuumlr ihn Jesus sterben

b Petrus erkennt nach Joh 136 das Unmoumlgliche der Situation dass der Herr ihm ei-nen Sklavendienst leistet Er wehrt diesen Dienst doppelt ab (Joh 1368a) ndash so wie er nach Joh 1336ff nicht will dass Jesus fuumlr ihn sein Leben einsetzt In diesem Nein kommt eine Liebe zu Jesus zum Ausdruck die bestimmen will Gleichzeitig aber ist das Nein auch Ausdruck des Missverstaumlndnisses dass Petrus der Diakonie Jesu womoumlglich gar nicht bedarf Petrus verschaumlrft seinen Widerspruch der aus Unverstaumlndnis stammt indem er dann ganz gewaschen werden will (Joh 139) ndash womit er aber seine Berufung leugnet

c Jesus deckt das Missverstaumlndnis des Petrus auf Die Fuszligwaschung steht nicht am Anfang sondern an einer Biegung des Weges mit Jesus Die Weg-Gemeinschaft ist darin begruumlndet dass Jesus sich in seinen Dienst stellt Dem muss entsprechen dass Petrus sich den Dienst gefallen laumlsst Er muss Jesus so nahe wie in der Fuszligwaschung an sich heranlassen Er muss den Rollentausch akzeptieren Die Langversion von Vers 10 die durch den Codex Vaticanus gedeckt und als lectio difficilior gesichert ist entspricht dem Kontext

bull Im Bild Auch nach dem Vollbad macht man sich wieder die Fuumlszlige schmutzig Man laumlsst sie sich waschen damit auch sie sauber sind man laumlsst nur sie waschen weil der sonstige Koumlrper gereinigt ist

bull In der Sache Wer durch das Bad der Wiedergeburt die Taufe bdquoganz reinldquo geworden ist muss diese Reinheit aber durch seine Schuld verloren hat muss sich die Fuumlszlige waschen lassen um durch Jesus zu Gott zu gelangen Dem entspricht am ehesten eine Deutung auf die Buszlige wie sie orthodoxen Vaumlter favorisieren

26 Hellenistische Parallelen Neuer Wettstein I2 636-644

Thomas Soumlding

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7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

48

c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

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          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 26: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

26

712 Die Fuszligwaschung a Jemandem vor dem Mahl die Fuumlszlige zu waschen ist ein Dienst den traditioneller-weise Sklaven ihren Herren erweisen (vgl 1Sam 2541)26

Joh 1313f zeigt dass die sozialen Dimensionen der Fuszligwaschung klar vor Augen stehen der Gesamttext dass der Ritus sakramental gefuumlllt wird

Das Waschen der Fuumlszlige ist ein Ritus der Vorbereitung der eine koumlrperliche Wohltat mit einer Geste der Houmlflich-keit verbindet die Anerkennung und Ehrerbietung meint (Gen 184 vgl Lk 744) und zudem mit einer rituellen Bedeutung versieht die einen Uumlbergang gestaltet von drauszligen nach drinnen vom Alltag zum Fest vom Profanen zum Heiligen

7121 Die soteriologische Deutung a Im Gespraumlch mit Petrus wird die Bedeutung der Fuszligwaschung soteriologisch gedeu-tet Sie ist eine bdquoReinigungldquo ndash nicht wie in der Taufe sondern wie in der Buszlige Petrus braucht keine Wiederholung der Wiedergeburt die er als glaumlubig gewordener Taumluferjuumlnger erlebt hat aber er bedarf mehr als andere der Vergebung weil er ndash ent-gegen seinem Vorsatz ndash Jesus verleugnet Waumlhrend er sagt fuumlr Jesus sterben zu wol-len muss gerade fuumlr ihn Jesus sterben

b Petrus erkennt nach Joh 136 das Unmoumlgliche der Situation dass der Herr ihm ei-nen Sklavendienst leistet Er wehrt diesen Dienst doppelt ab (Joh 1368a) ndash so wie er nach Joh 1336ff nicht will dass Jesus fuumlr ihn sein Leben einsetzt In diesem Nein kommt eine Liebe zu Jesus zum Ausdruck die bestimmen will Gleichzeitig aber ist das Nein auch Ausdruck des Missverstaumlndnisses dass Petrus der Diakonie Jesu womoumlglich gar nicht bedarf Petrus verschaumlrft seinen Widerspruch der aus Unverstaumlndnis stammt indem er dann ganz gewaschen werden will (Joh 139) ndash womit er aber seine Berufung leugnet

c Jesus deckt das Missverstaumlndnis des Petrus auf Die Fuszligwaschung steht nicht am Anfang sondern an einer Biegung des Weges mit Jesus Die Weg-Gemeinschaft ist darin begruumlndet dass Jesus sich in seinen Dienst stellt Dem muss entsprechen dass Petrus sich den Dienst gefallen laumlsst Er muss Jesus so nahe wie in der Fuszligwaschung an sich heranlassen Er muss den Rollentausch akzeptieren Die Langversion von Vers 10 die durch den Codex Vaticanus gedeckt und als lectio difficilior gesichert ist entspricht dem Kontext

bull Im Bild Auch nach dem Vollbad macht man sich wieder die Fuumlszlige schmutzig Man laumlsst sie sich waschen damit auch sie sauber sind man laumlsst nur sie waschen weil der sonstige Koumlrper gereinigt ist

bull In der Sache Wer durch das Bad der Wiedergeburt die Taufe bdquoganz reinldquo geworden ist muss diese Reinheit aber durch seine Schuld verloren hat muss sich die Fuumlszlige waschen lassen um durch Jesus zu Gott zu gelangen Dem entspricht am ehesten eine Deutung auf die Buszlige wie sie orthodoxen Vaumlter favorisieren

26 Hellenistische Parallelen Neuer Wettstein I2 636-644

Thomas Soumlding

27

7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
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        • Uumlbergreifende Titel
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        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 27: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

Thomas Soumlding

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7122 Die ethische Deutung

a Joh 1312-20 setzt auf die Vorbildlichkeit des Dienstes Jesu behaumllt aber das Niveau der soteriologischen Deutung bei

bull Das Verstehen das Jesus nach Joh 1312 anmahnt zielt auf Konsequenzen die sich aus der Sache ergeben

o Ohne die Praxis der Liebe ist nicht verstanden was Liebe ist ndash das wird zu einem Leitmotiv des Ersten Johannesbriefes

o Die Praxis der Liebe soll aus dem Einverstaumlndnis mit der Tat Jesu er-wachsen also nicht blinder sondern verstaumlndiger Gehorsam sein

Jesus fragt die Juumlnger nach dem Verstaumlndnis seiner Tat aber damit indirekt auch nach dem Verstaumlndnis seiner selbst und seines Heilsdienstes fuumlr sie

bull Kyrios ist Jesus nicht nur als derjenige dem alles Ansehen und letztlich die Eh-re Gottes gebuumlhrt sondern auch als derjenige der von Gott dem Vater die Vollmacht erlangt hat das ewige Leben zu schenken

Das Missverstaumlndnis des Petrus war ihm Grunde dass er Jesus nicht als Kyrios und Diakonos hat sehen wollen oder koumlnnen Die ethische Deutung setzt voraus dass die theologische Klarstellung die Jesus nach Joh 136-10 Petrus gegenuumlber vorgenommen hat alle erreicht hat b Nach Joh 1315 stellt Jesus sich als Vorbild (upodeigma) dar

bull Die Vorbildlichkeit Jesu kann nicht gegen seine Heilsbedeutung ausgetauscht oder ausgespielt werden weil nur er derjenige ist der zu retten zu reinigen zu heiligen vermag

o Waumlre Jesus nur Vorbild hinge die Moumlglichkeit der Erloumlsung an der moralischen Kraft derer die ihm nacheifern

o Die Erloumlsung waumlre dann bestenfalls eine zweiter Klasse aber nie eine vollkommene die nur von Gott kommen kann

o Die Juumlnger sind aber keine Heroen der Nachfolge sondern auf Jesus Diakonie bleibend angewiesen

o Wegen der Universalitaumlt des Heilswillens Gottes reicht die Vorbild-lichkeit Jesu nicht aus

Die Heilswirksamkeit Jesu besteht in seiner Diakonie aus Liebe Diese Liebe ist vorbildlich Sie steckt an Man kann sich von ihr entzuumlnden lassen Imitatio Christi ist eine Form des Glaubens Gaumlbe es sie nicht bliebe die Gnade den Glaumlubigen letztlich fremd Die Moumlglichkeit der Nachahmung ist selbst eine Wirkung (und keine Einschraumlnkung) des Heilsdienstes Jesu

bull Die Formulierung in Joh 1314f ist genau so dass die dialektische Einheit von soteriologischer Grundlegung und ethischer Nachahmung deutlich werden kann

Vers 14 formuliert bdquoWenn hellip dannldquo Das eine folgt aus dem anderen die Tat Jesu ermoumlglicht die Tat der Juumlnger und zielt auf sie weil der Dienst der Reinigung weiter geleistet werden muss weil die Juumlnger immer wieder darauf angewiesen sind Vers 15 formuliert bdquohellip so wie hellipldquo Das kaqwj verweist nicht nur auf ein Modell son-dern eine Vorgabe Das christologische Gefaumllle bleibt erhalten Die Juumlnger die Jesus nachahmen waschen ja nicht Jesus die Fuumlszlige so als ob der ihren Reinigungsdienst noumltig haumltte sondern einander weil sie noumltig haben dass fortgesetzt wird was Jesus begonnen hat ndash in der Weise dass umgesetzt wird was er vorgegeben hat

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
    • Kontakt
      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
        • Markusevangelium
        • Lukasevangelium
        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 28: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

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c Die christologisch-soteriologische Begruumlndung der Ethik und die ethische Dimension des Heilswirkens Jesu ist eine Grundstruktur johanneischer Theologie sie zeigt sich auch beim Liebesgebot Joh 1334 das im Duktus des Evangeliums aus der Fuszligwa-schungsperikope abgeleitet wird

bull Die Zeitenfolge ist signifikant o Jesus hat geliebt (Aorist ndash nicht im Sinn einer abgeschlossenen Ver-

gangenheit sondern einer schon lange bestehenden Praxis auf die man bereits zuruumlckblicken kann)

o Die Juumlnger sollen lieben ndash im Blick auf eine Zukunft die sich ihnen er-oumlffnet

bull Das bdquoneue Gebotldquo besteht darin dass die Juumlnger einander lieben bdquoso wieldquo Je-sus sie geliebt

o Die Neuheit des Gebotes ist also nicht der Imperativ der Liebe der ist viel mehr bdquoaltldquo (vgl 1Joh 27 ndash mit dem Hintergrund Lev 1918 bdquoDu sollst deinen Naumlchsten lieben wie dich selbstldquo)

o Die Neuheit ist vielmehr die Praumlgung durch Jesus die in der Weiter-gabe der Liebe besteht die er den Seinen erweist

bull Die Juumlnger sollen bdquoeinanderldquo lieben bdquoso wieldquo Jesus sie bdquogeliebt hatldquo Seine Liebe ist Basis und Maszligstab Antrieb und Quelle ihrer Liebe zueinander

Er hat sie geliebt bdquodamitldquo sie einander lieben Die Liebesfaumlhigkeit seiner Juumlnger ist ein wesentliches Ziel der Liebe die Jesus ihnen erweist

d Die Nachahmung der Fuszligwaschung hat mehrere Dimensionen bull Sie nimmt einerseits die Dialektik von Herr-Sein und Diener-Sein auf Das ist

eine johanneische Variante zur synoptischen Dialektik (Mk 935ff parr) die zentral zur Sendungs-Ekklesiologie gehoumlrt (die auch in Joh 131620 durch-scheint) Das ist der Kern ekklesialer Ethik

bull Sie zielt aber andererseits auch auf die bdquoReinigungldquo von den Suumlnden also die Vergebung der Schuld innerhalb des Juumlngerkreises Das ist der Kern ekklesialer Sakramentalitaumlt Insofern ist Joh 13 ein Pendant zu Joh 2022f wonach die Vergebung der Suumlnden im Zentrum der missionarischen Sendung der Juumlnger durch den Auferstanden steht

Die sakramentale Deutung der Fuszligwaschung als Zeichen der Reinigung von den Suumln-den hat erhebliche theologische Dimensionen

bull Rechtfertigungstheologisch vertraumlgt sie sich nur mit einer Deutung des simul justus et peccator die von der radikalen Assymetrie der erfolgten Heiligung und der verbliebenen Suumlndhaftigkeit gepraumlgt ist

bull Ekklesiologisch fragt sich wer die sakramentale Vollmacht hat in der Nach-folge Jesu Suumlnden zu vergeben Joh 13 ist nicht ganz eindeutig Einerseits gilt bdquoeinanderldquo andererseits feiert Jesus das Mahl mit den Zwoumllf Insgesamt kennt das Corpus Johanneum nicht eine bdquoGemeinde ohne Amtldquo (so aber Hans-Josef Klauck) sondern eine Gemeinschaft des Glaubens die nicht petrinisch domi-niert sondern johanneisch inspiriert ist aber den Lieblingsjuumlnger bdquoJohannesldquo auf Petrus hin orientiert und die Gemeinschaft der Glaubenden auf des Zeug-nis des Apostel-Juumlngers verpflichtet das nicht nur Buch geworden ist sondern auch die sakramentale Praxis gepraumlgt hat

bull Liturgetheologisch fragt sich ob die gegenwaumlrtige Praxis des Ego te absolvo die ganz die Vollmacht betont die Diakonie nicht unterschaumltzt Hier bietet die Liturgie vom Gruumlndonnerstag einen Ansatz

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

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          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 29: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

Thomas Soumlding

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722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6) a Das theologische Leitmotiv ist die Erkenntnis Gottes Sie wird ndash gut biblisch ndash als nicht theoretische sondern praktische Gottesbeziehung entwickelt mithin als Liebe zu Gott die sich im menschlichen Miteinander bewaumlhrt Von dieser Gottesliebe wird eine Gottesbeziehung abgesetzt die allein auf Wissen beruht (1Joh 23) Ob es tat-saumlchlich die Frontstellung zu einer herzlosen Form von Gotteswissen gegeben hat steht dahin Die drohende Sezession die mit Berufung auf bessere theologische Ein-sicht droht oder schon eingetreten ist steht im Hintergrund ndash und wird hintergruumlndig kritisiert

b Die Gebote die gehalten werden sollen (V 3) aber nicht von allen gehalten wer-den (V 4) sind die der Tora in ihrer jesuanisch-christologischen Grundinterpretation besonders das Hauptgebot (Dtn 64f) und das Liebesgebot (Lev 1918 vgl vgl 1Joh 27ff) Der Passus zielt aber nicht auf eine Hermeneutik des Gesetzes sondern auf die Einheit von Spiritualitaumlt und Moralitaumlt also auf den Erweis des Glaubens im Leben Diese Einheit ist freilich theologisch begruumlndet Die Gebote sind Gottes Wort unter dem Aspekt dass es verpflichtet Gottes Wort sind sie weil er sie ndash dem Alten Testa-ment zufolge ndash (in Form der Zehn Gebote) selbst geschrieben resp erlassen hat

c Das Halten des Wortes Gottes ist moumlglich aufgrund der Liebe Gottes (V 5) Im Hal-ten des Gebotes erreicht sie ihr Ziel Das meint bdquoVollendungldquo nicht moralischen Per-fektionismus sondern Konsequenz auf dem Weg der Liebe

d Das bdquoIn-Seinldquo ist ein Leitmotiv johanneischer (aber auch paulinischer) Theologie Die Teilhabe an der Liebe Gottes deren urspruumlnglicher Ort die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist ist der Inbegriff der Vollendung die aber nicht immer nur Zukunft und Jenseits sondern auch Gegenwart und Diesseits ist im Glauben

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

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              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 30: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

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7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11) a Neu ist der Rekurs auf das Liebesgebot samt der Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo (1Joh 27f) Durch diesen Rekurs gewinnt die Mahnung an Gewicht Umgekehrt wird durch die Anwendung die theologische Tiefe der Mahnung ausgelotet und ihre Verbindung mit der Heilszusage begruumlndet Diese Begruumlndung ist letztlich soteriologisch wie die pointierte Aussage vom Scheinen des Lichtes in 1Joh 28 anzeigt

b Durch die Dialektik von bdquoaltldquo und bdquoneuldquo wird indirekt die Beziehung zur Verkuumlndi-gung Jesu qualifiziert Die Dialektik gewinnt im Vergleich mit Joh 1334f Profil Dort kennzeichnet Jesus das Gebot der Bruderliebe ausdruumlcklich als bdquoneuldquo Es ist insofern tatsaumlchlich bdquoneuldquo als es (1) von Jesus erlassen und vorgelebt wird bis zur Hingabe seines Lebens (2) in der Juumlngerschaft einen neuen Ort findet und (3) die Grenze des Todes in der Auferstehung uumlberschreitet so dass die Liebe ewig waumlhrt Hier wird hin-gegen das Gebot zuerst als bdquoaltldquo qualifiziert ndash und damit (antiken Maszligstaumlben gemaumlszlig) nicht ab- sondern aufgewertet Der Aspekt ist die Bekanntheit Das Liebesgebot ist altbekannt weil es bdquovon Anfang anldquo gehoumlrt worden ist also zur Verkuumlndigung gehoumlrte (1Joh 27 vgl 224) Das aber heiszligt Das bdquoneueldquo Gebot das Jesus verkuumlndet und das die idealen Zeugen aus seinem eigenen Mund gehoumlrt haben damit sie es weiterver-kuumlnden (vgl1Joh 11-4) kann jetzt als bdquoaltesldquo firmieren weil es den Adressaten als Gebot Jesu bereits nahegebracht worden ist Das bdquoWortldquo (V 7) ist das Evangelium die bdquoBotschaftldquo (1Joh 15) Vers 7 setzt sich also mitnichten vom Evangelium ab sondern unterstreicht gerade im Gegenteil seine bleibende Geltung so wie Jesus nach den Abschiedsreden seinen Juumlngern alles Wesentliche mitgegeben hat sie aber vom Geist in die Wahrheit hineingefuumlhrt werden (Joh 14-16) so koumlnnen sie hier sein Liebesgebot aufnehmen und aktualisieren Dann erklaumlrt sich auch das bdquoneuldquo in Vers 8 Es ist das repetierte und aktualisierte Liebesgebot Jesu selbst Es ist bereits bekannt (bdquoin euchldquo) ndash aber muss auch realisiert werden

c Sowohl in Joh 13 als auch in 1Joh 2 gilt die Aufmerksamkeit der Bruderliebe Das wird zuweilen als bdquoKonventikelethikldquo kritisiert ist aber eine moralische Konzentration die sich aus der Logik des alttestamentlichen Liebesgebotes erklaumlrtKonzentration wie Konkretion stehen im Dienst moralischer Ernsthaftigkeit und ethischer Praxis Das johanneische Gebot der Bruderliebe knuumlpft daran an

bull Die Juumlngerschaft die Gemeindemitglieder praumlgen die ethischen Nahbezie-hungen die in erster Linie gestaltet werden muumlssen ndash um der Gemeinschaft des Glaubens und der Wirkung auf andere willen die nicht das abstoszligende Bild eines zerstrittenen Haufens sondern das anziehende Bild eines Freun-deskreises gezeigt bekommen sollen damit Neugier auf den Glauben geweckt wird

bull Die Bruderliebe ist gefragt wenn es Streit im Haus des Glaubens gibt ndashwie ihn der Erste Johannesbrief entdecken laumlsst und bekaumlmpfen will Glaubensstreit ist in Lev 19 nicht genannt aber die groszlige Versuchung des Christentums das allein auf dem Glauben gruumlndet Die Liebe erfordert allerdings vom Ersten Johannesbrief her gesehen nicht den Glaubensdissens zu verdraumlngen oder zu vertuschen sondern ihn auszutragen um ihn zu einem Konsens zu fuumlhren

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

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          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 31: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

Thomas Soumlding

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Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes

a Im Alten wie im Neuen Testament ist das Gebot der Naumlchsten- der Feindes- und der Bruderliebe nicht nur konstitutiv auf die Gottesliebe bezogen sondern auch struk-turell in der Liebe Gottes begruumlndet In der johanneischen Theologie kommt diese Begruumlndung explizit zum Ausdruck (1Joh 48) Sie ist aber breit in der Biblischen Theo-logie angelegt

b Die aumlltesten Belege fuumlr die Liebe Gottes stammen aus der prophetischen Gerichts-predigt

bull Nach Hosea gibt Israel sich der Unzucht mit anderen Goumlttern hin waumlhrend Gott sein Volk in freier und leidenschaftlicher Treue liebt (Hos 31-4 111-11) Diese Liebe die sich genuin in der Erwaumlhlung und Erziehung des Volkes erwie-sen hat (Hos 111-4) aumluszligert sich angesichts der Schuld Israels primaumlr im Ge-richt das dem Volk seine selbstverschuldete Todesverfallenheit offenbart (Hos 34 915 115f) letztlich aber in einer dramatischen Vergebung die ei-nen Neuanfang ermoumlglicht (Hos 118-11)

bull Die spaumltere Prophetie baut diese Heilsperspektive aus (Hos 218f Jer 313f Jes 418 434 481 618 639 Mal 12 Zeph 317)

Paraumlnetisch akzentuiert das Deuteronomium im Rahmen der Bundestheologie bull Wie Gott durch die Gabe des Bundes und des Gesetzes sein Volk ins Leben

ruft erwaumlhlt und am Leben erhaumllt (Dtn 437-40 76-16 1014f 236) soll auch Israel Gott allein lieben (Dtn 64f) um so des Bundessegens teilhaftig zu werden

bull Dtn 1018f spricht singulaumlr von Gottes Liebe zu den Fremden Im Psalter verbinden sich mit dem Motiv der Liebe Gottes va die Erfahrung seines Beistandes in tiefer Not (Ps 1469 vgl Spr 159) und die Hoffnung auf die Restitution des niedergedruumlckten Israel (Ps 475 7867f) Das Weisheit Salomos eines der juumlngsten Buumlcher des Alten Testaments traut Gottes Liebe zu selbst den Tod zu uumlberwinden (Weish 47-9) redet unter dem Einfluss stoi-scher Philosophie von Gottes schoumlpferischer Liebe zum gesamten Kosmos (Weish 1124) und hebt besonders die Liebe Gottes zur personifizierten Weisheit hervor (Weish 83) mit der er in voller Gemeinschaft lebt um die We4isheit an seiner Macht und seinem Wissen teilhaben zu lassen

c Im Fruumlhjudentum wird einerseits das weisheitliche Verstaumlndnis gepflegt dass Got-tes Liebe den Gerechten gilt (TestIss 11) weshalb Gerechtigkeit und Froumlmmigkeit angezeigt sind (vgl Philo) andererseits das apokalyptische Verstaumlndnis entwickelt dass sich Gottes Liebe in der Eroumlffnung einer Zukunft jenseits des Gerichtes erweist (TestLevi 1813 4Esr 58)

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
    • Kontakt
      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
        • Markusevangelium
        • Lukasevangelium
        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 32: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

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d Im Neuen Testament ist das Verstaumlndnis der Liebe (Agape) Gottes entscheidend vom Christusgeschehen gepraumlgt

bull Der Sache nach verkuumlndet Jesus die Naumlhe der Gottesherrschaft (Mk 114f) als eschatologischen Erweis der Liebe Gottes die sich in Suumlndenvergebung (Lk 1511-32) unverhoffter Guumlte (Mt 201-16) und schoumlpferischer Barmherzigkeit (Lk 636) so realisiert dass sie die Heils-Vollendung verheiszligt und im Vorgriff verwirklicht Allerdings fehlt eine begriffliche Explikation als Liebe

bull Paulus begreift Gottes Liebe wie das Alte Testament (besonders das Deutero-nomium) von der Erwaumlhlung her betont aber deren Universalitaumlt (1Thess 14 Roumlm 17) die Gottes Liebe zu Israel (Roumlm 913 [Mal 12f] 1128) nicht relati-viert und deutet sie vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die radikale Suumln-digkeit aller Menschen (Roumlm 118 - 320) als Feindesliebe Gottes (Roumlm 58f) die durch Christus zur Rechtfertigung der Gottlosen und kuumlnftigen Rettung der Glaubenden fuumlhrt (Roumlm 51-11 831-39)

bull Johannes versteht im Horizont seiner radikalen Unterscheidung von Gott und Welt die Liebe Gottes als seine Selbstoffenbarung zur Rettung der Welt in der Dahingabe seines eingeborenen Sohnes (Joh 316) Deshalb ist Gottes Liebe zur Welt an seine Liebe zum Sohn zuruumlckgebunden (Joh 335 520 1017 159f 1724-26) die jener so ungebrochen beantwortet (Joh 1431) dass die Liebe zwischen Vater und Sohn schlechthin zur Quelle des Lebens wird (Joh 159f 1724ff)

bull Der 1Joh bringt diesen Ansatz in spezifischer Akzentuierung auf den Grund-Satz Gott ist Liebe weil er Gottes Handeln als sein Wesen versteht und sein Wesen in seinem Handeln offenbart sieht (1Joh 4816)

Durch die Christologie wird das Motiv der Liebe Gottes nicht neu eingefuumlhrt aber konkretisiert Jesus verkuumlndet und verkoumlrpert die Liebe Gottes Beides kann er nur als der von Gott Geliebte der Gott liebt Dadurch wird die Liebe Gottes die den Men-schen gilt als Weitergabe derjenigen Liebe wirksam und erkennbar die in Gott selbst ist Damit ist wiederum die Moumlglichkeit eroumlffnet dass die Liebe die Menschen Gott und einander erweisen als Anteilgabe an der Liebe Gottes selbst gesehen werden kann (Dieser Abschnitt basiert auf Th Soumlding Art Liebe Gottes I Biblisch-theologisch in LThK 6 [1997] 924ff)

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

48

c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
    • Kontakt
      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
        • Markusevangelium
        • Lukasevangelium
        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 33: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

Thomas Soumlding

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9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)

a Aumlhnlich programmatisch wie das jesuanische Doppelgebot (Mk 1228-34 parr) ist das Liebesgebot bei Paulus In Gal 513f und Roumlm 138ff zitiert er Lev 1918 und weist das Gebot der Naumlchstenliebe als Inbegriff des Gesetzes aus Der theologische Kontext der Rechtfertigungslehre gibt den Zitaten ihr spezifisches Gewicht Paulus ist auch auszligerhalb der Rechtfertigungstheologie ein Verfechter der Agape-Ethik (vgl nur 1Kor 13) Aber in den Kontroversen uumlber die Rechtfertigung erhaumllt die Ethik ein eigenes Profil

b Die Rechtfertigungslehre die Paulus sowohl im Galater- als auch im Roumlmerbrief programmatisch entwickelt reflektiert warum und wie Gott einen Suumlnder mit sich versoumlhnt indem er ihm die Schuld vergibt und ihn zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes fuumlhrt Die Rechtfertigungslehre ist die profilierteste Form neutestamentli-cher Gnadenlehre ndash mit der groumlszligten Wirkung besonders auf das abendlaumlndische Christentum Die Gnadenlehre entwickelt Paulus als Lehre von der Rechtfertigung weil die Erloumlsung nicht purer Wille Gottes ist (der dann immer auch anders koumlnnte) sondern die Etablierung universaler Gerechtigkeit in der alle das Ihre erhalten also das Grundverhaumlltnis zwischen Gott und Mensch das durch Adams Schuld unrecht geworden ist wieder zurechtgebracht wird deshalb realisiert Gott in der Rechtferti-gung suumlndiger Menschen seine eigene Gerechtigkeit die als himmlische Gerechtigkeit Barmherzigkeit umfasst und Liebe verwirklicht (vgl Roumlm 831-38)

c Die Frage wen und wie Gott rechtfertigt diskutiert Paulus in einem Spannungsfeld das von der Stellung des Gesetzes aufgebaut wird Vor seiner Berufung (Gal 115f) hat Paulus ndash wie jeder Pharisaumler ndash die These vertreten dass Gott durch das Gesetz recht-fertigt dh denjenigen (sei es auch erst in der Auferstehung) zu ihrem Recht verhilft die das Gesetz halten und insofern gerecht sind (vgl Lev 185 ndash Roumlm 105 Gal 312) Nach Damaskus erkennt Paulus diesen Ansatz als Irrtum Als Apostel begruumlndet er die These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo sondern der bdquoGlaube an Jesus Christusldquo rechtfertigt (Gal 216 Roumlm 328) Einen Anstoszlig hat sein Uumlbereifer gegeben der ihn zum Christenverfolger hat werden lassen (Gal 113f)

d Sein eigentliches Argument gewinnt Paulus als Exeget der Bibel Israels Im Galater-brief entwickelt er dieses Argument polemisch gegen Gegner die von Heidenchristen die Beschneidung verlangen und gegen deren Sympathisanten in den Gemeinden Im Roumlmerbrief entwickelt Paulus das Thema in groumlszligerer Ruhe und Differenziertheit aber im Wissen um die Kritik an seiner Person und Position Zwei theologische Hauptein-waumlnde werden gegen ihn geltend gemacht Er verfaumllsche die bdquoSchriftldquo die das Gesetz einschaumlrfe und mache die Gnade billig weil er die Ethik aushoumlhle

e Paulus sieht die Notwendigkeit der Rechtfertigung darin dass Menschen nicht nur Suumlnden begehen sondern Suumlnder sind Denn Sie koumlnnen ihre guten Werke nicht ge-gen ihre boumlsen Taten Worte und Gedanken aufrechnen sie muumlssen sich fragen wes-halb sie uumlberhaupt suumlndigen dh Gott nicht als Gott und ihre Naumlchsten nicht als Men-schen anerkennen ndash und sie koumlnnen nur antworten dass sie wie Adam sind und sein wollen wie Gott (Gen 35 ndash Roumlm 7) Ihre persoumlnliche Suumlnde ist ein Teil der Suumlnden-macht die den Tod uumlber das Leben herrschen laumlsst

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
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    • Die exegetische Methode
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        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 34: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

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e Paulus begruumlndet seine These dass nicht bdquoWerke des Gesetzesldquo rechtfertigen koumln-nen zweifach

1 An alttestamentlichen Schluumlsseltexten wird die Rechtfertigung an den Glau-ben gebunden Am wichtigsten ist Abraham Nach Gen 156 hat Gott ihn ge-rechtfertigt weil er der Verheiszligung vertraut hat (Gen 12) bevor er auch nur ein bdquoWerkldquo getan und die Beschneidung vollzogen hat (Gen 17) die nach Gal 3 die Rechtfertigung nicht konditionieren und nach Roumlm 4 die Rechtfertigung nur besiegeln kann

2 In der Breite der Tora der Prophetie und der Weisheitsliteratur (vgl Roumlm 39-20) wird die Herrschaft der Suumlnde uumlber Juden und Heiden bezeugt das Gesetz hat sie nicht gebannt sondern entlarvt

Aus beidem folgert er dass das Gesetz nicht zu dem Zweck gegeben worden ist die Menschen zu erloumlsen sondern zu dem Zweck ihnen ihre Erloumlsungsbeduumlrftigkeit vor Augen zu fuumlhren Gleichzeitig macht es Hoffnung auf den Messias Allerdings ist Paulus weit davon entfernt die Bedeutung des Gesetzes zu marginalisieren Es darf nicht negiert werden (sonst haumltte Gott es nicht erlassen) sondern muss erfuumlllt werden Diese Erfuumlllung geschieht in der Liebe weil der Wille Gottes der sich im Gesetz niederschlaumlgt von seiner Liebe gepraumlgt ist Das Liebesgebot etabliert eine Hermeneutik des Gesetzes die bdquoin Christusldquo erkannt und realisiert wer-den kann

f Die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben an Gott der sich im Glauben an Jesus Christus konkretisiert weil im Glauben das ganze Leben in Gott festgemacht wird Der Glaube der sich im Bekenntnis ausspricht gruumlndet auf einer Erkenntnis und begruumlndet Verantwortung Er ist nicht nur Meinung sondern Uumlberzeugung nicht nur Entschluss sondern Lebensweg und nicht nur ein Lippenbekenntnis sondern eine Herzenssache Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt weil der Heilige Geist dieje-nigen die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will zu Houmlrern des Wortes macht (Roumlm 10) die Gott als den verstehen und bejahen achten lieben und ehren der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht inso-fern sie den Schoumlpfer und Erloumlser mit ganzem Herzen ganzer Seele vollem Verstand und voller Kraft bejahen Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Naumlchsten gerecht weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 56) sodass das Gesetz erfuumlllt wird (Gal 513f Roumlm 138ff) Der rechtfertigende Glaube ist in der Liebe wirksam (Gal 56) weil er Gott als den bekennt und ihm als dem vertraut der das Liebesgebot als Summe des Gesetzes er-laumlsst dadurch wird die Naumlchstenliebe zur Teilhabe an der Liebe Gottes selbst

g Die bdquoNaumlchstenldquo sind fuumlr Paulus in erster Linie die Mit-Christen (Gal 610) aber der Radius der Naumlchstenliebe geht daruumlber hinaus (Roumlm 129-21)

Literatur Th Soumlding (Hg) Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Die biblische Basis der bdquoGemein-

samen Erklaumlrungldquo von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund Mit Beitraumlgen von F-L Hossfeld U Wilckens K Kertelge H Huumlbner K-W Niebuhr M Theobald und Th Soumlding (QD 180) Freiburg - Basel - Wien 1999 2 Auflage 2001

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
    • Kontakt
      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
        • Markusevangelium
        • Lukasevangelium
        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 35: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

Thomas Soumlding

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10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)

a Paulus entwickelt im Roumlmerbrief eine Theologie der Gerechtigkeit Gottes die in der Rechtfertigung der Glaubenden kulminiert (Roumlm 116f) Weil Paulus die Erloumlsung als Rechtfertigung reflektiert wohnt der Gnadenmitteilung eine ethische Dimension inne Diese Ethik der Rechtfertigung benennt nicht die Bedingungen sondern die Konsequenzen der rettenden Gotteserfahrung im Glauben an Jesus Christus Paulus hat diese Zusammenhaumlnge in der Entwicklung der Rechtfertigungs-Soteriologie immer wieder beruumlhrt besonders in Roumlm 6 wo er den Einwand die Suumlnde zu foumlrdern mit der Partizipation der Glaumlubigen an der Gerechtigkeit Jesu Christi beantwortet

b Die Formulierungen des Passus muumlssen genau so sorgfaumlltig auf die Goldwaage ge-legt werden wie in dogmatischen Ausfuumlhrungen Erstens hat Paulus geschliffen formu-liert zweitens ist jedem seiner Worte im Laufe der Geschichte eine ungeheure ndash viel-leicht uumlbergroszlige ndash Bedeutung zuerkannt worden nachdem sie kanonisiert worden sind Also muumlssen die syntaktischen Strukturen semantischen Gehalt und pragmati-schen Potentiale genau erhoben werden um Uumlberinterpretationen abzuweisen aber Bedeutungstiefen auszuloten

101 Analyse

a Ab Roumlm 12 arbeitet Paulus die Ethik explizit heraus

Roumlm 12-13 Allgemeine Ethik

Roumlm 14 Spezielle Ethik Starke und Schwache in Rom

Roumlm 151-13 Schluss-Applikation

Die Allgemeine Ethik hat folgenden Aufbau

Roumlm 121f Der Grundsatz der Ethik Leben als Gabe

Roumlm 123-8 Der Ort der Ethik Die Kirche der Leib Christi

Roumlm 129-21 Die Praxis der Ethik Liebe nach innen und auszligen

Roumlm 131-7 Politische Ethik

Roumlm 138-14 Die Begruumlndung der Ethik Die Erfuumlllung des Gesetzes

Roumlm 131-7 ist ein Einschub der die brisante Thematik der Politik beruumlhrt In den vier Hauptabschnitten wird eine konsequent theozentrische Ethik entwickelt deren Nerv die Agape ist

b Roumlm 129-21 verschraumlnkt programmatisch die Innen- und die Auszligenperspektive der Liebe

Roumlm 129 Der ethische Grundsatz Eroumlffnungsvariante Roumlm 1210-13 Die Liebe nach innen Staumlrkung des Guten Roumlm 1214 Die Liebe nach auszligen Segnung der Verfolger Roumlm 1215 Die Liebe nach innen und auszligen Solidaritaumlt Roumlm 1216 Liebe nach innen Demut Roumlm 1217-20 Liebe nach innen und auszligen Feindesliebe Roumlm 1221 Der ethische Grundsatz Schlussvariante

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
    • Kontakt
      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
        • Markusevangelium
        • Lukasevangelium
        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 36: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

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c Waumlhrend man bei den Versen 10-13 und 14 noch den Eindruck haben kann dass Gut und Boumlse auf die Sphaumlren innerhalb und auszligerhalb der Gemeinde verteilt werden koumlnnen wird diese Grenze von Vers 15 an durchlaumlssig Deshalb wird in Vers 16 das innergemeindliche Motiv der Demut eingefuumlhrt damit dann die entscheidende Be-waumlhrungsprobe der Liebe ndash von Lev 19 her ndash inner- wie auszligerkirchlich diskutiert wer-den kann die Uumlberwindung von Feindschaft

d Auf dieselbe Struktur sind die Rahmen-Maximen ausgerichtet Waumlhrend Vers 9 einleitend die Integritaumlt der Agape betont unterstreicht Vers 21 ausleitend ihre Konstruktivitaumlt Die ungeheuchelte Agape uumlberwindet das Boumlse durch das Gute

e Die Die Mahnungen zur innergemeindlichen Agape haben keinen konkreten Anlass in Missstaumlnden sondern sind prinzipiell Ihre situative Konkretion diskutiert Paulus in Roumlm 14 Aus dem Konflikt zwischen bdquoStarkenldquo und bdquoSchwachenldquo den Paulus dort bearbeitet ergibt sich dass Anlass zur Selbstkritik und Selbstbesinnung besteht aber auch zu einer genauen Eroumlrterung der Spezialfragen die eigenes Gewicht haben Die Auszligenbeziehungen der roumlmischen Gemeinde sind allerdings prekaumlr Verfolgung ist Erfahrung 48 n Chr hat Kaiser Claudius die bdquoJudenldquo ndash in erster Linie wohl die Juden-christen (vgl Apg 182) ndash aus Rom vertreiben lassen weil sie angeblich gefaumlhrliche Geheimbuumlndler seien27 Inzwischen ist das Edikt zwar wieder aufgehoben aber die Wunde schmerzt Kurze Zeit nach Abfassung des Roumlmerbriefes wird es zur neronischen Christenverfolgung kommen28

27 Sueton Claudius XXV bdquoDie Juden vertrieb er aus Rom weil sie von Chrestus aufgehetzt fortwaumlhrend Unruhe stiftetenldquo

Die paulinischen Interventionen sind also ebenso brisant wie vorausschauend

28 Tacitus annales 1544 bdquoDaher schob Nero um dem Gerede ein Ende zu machen andere als Schuldige vor und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Schandtaten verhasst vom Volk sbquoChrestianerlsquo genannt wurden Der Mann von dem sich dieser Name ablei-tet Christus war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden doch fuumlr den Augenblick unterdruumlckt brach der verhaumlngnisvolle Aberglaube schnell wieder aus nicht nur in Judaumla dem Ursprungsland dieses Uumlbels sondern auch in Rom wo aus der ganzen Welt alle Graumluel und Scheuszliglichkeiten zusammenkommen und gefeiert werdenldquo

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
    • Kontakt
      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
        • Markusevangelium
        • Lukasevangelium
        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 37: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

Thomas Soumlding

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102 Die Staumlrkung des Guten

a Die Staumlrkung des Guten hat ihren Ort in der Gemeinde dem Leib Christi (Roumlm 123-8) weil hier die vom Glauben gestifteten Nahbeziehungen entstanden sind die ge-pflegt werden muumlssen damit der Organismus der Kirche sich gut entwickelt

b In Vers 10 wird Gemeindeethik als Familienethik platziert Geschwisterliebe (phila-delphia) ist primaumlr als natuumlrliche Solidaritaumlt im Familienverbund gefragt wird hier aber ndash wie oft bei Jesus und im fruumlhen Christentum ndash auf die Glaubensgemeinschaft die familia Dei uumlbertragen Dem entspricht dass als ethische Tugend storgeacute er-scheint die natuumlrliche Liebe zwischen Familienangehoumlrigen Die Semantik spiegelt die Enge der Glaubensbeziehungen

c In Vers 10b taucht das Thema bdquoEhreldquo auf das in der Antike ndash als Gegensatz zu bdquoSchandeldquo ndash aumluszligerst groszlige Bedeutung hat29

Die Forderung einander in der Ehrerbietung bdquozuvorzukommenldquo fuumlhrt aus einem rei-nen Gegenuumlber der Anerkennung in ein Miteinander der wechselseitigen Unterstuumlt-zung hinein Das ist die ekklesiologische Pointe Man kann die Ehre der anderen im-mer nur dann anerkennen wenn man nicht sogleich auf die eigene Ehre erpicht ist aber man soll darauf vertrauen koumlnnen dass die Wuumlrde des Dienstes theologisch begruumlndet ist und ndash nach Moumlglichkeit ndash wiederum von anderen geachtet gewuumlrdigt gefoumlrdert wird Das ist eine kreuzestheologisch strukturierte Ethik Sie findet ein Echo in Roumlm 1216b

bdquoEhreldquo ist Prestige das auf Anerkennung beruht Die bdquoEhreldquo von Menschen theologisch betrachtet ist ihre Gottebenbildlich-keit die sich soteriologisch in der Geschwisterschaft Jesu Christi erweist Diese bdquoEhreldquo anzuerkennen heiszligt die Kirchenmitgliedschaft den Glauben die Taufe das Charisma des Naumlchsten nicht nur zu erkennen sondern auch anzuerkennen

d Im Griechischen bleibt V 10b der Hauptsatz es folgen in Vers 11 Adjektive und Partizipien die charakterisieren auf welche Weise die Ehrerbietung erfolgen soll mit bdquoEifer nicht traumlgeldquo also engagiert kreativ interessiert erfuumlllt vom bdquoGeistldquo weil nur der Geist die Kreativitaumlt erzeugt auf die dialektische Weise des Paulus anderen Aner-kennung zu zollen im Dienst am Kyrios weil Jesus das Modell jener Ehrung ist

e Vers 12 setzt die Kette der Partizipialkonstruktionen fort die Vers 10 b qualifizie-ren aber durchweg imperativischen Sinn haben bdquoHoffnungldquo und bdquoBedraumlngnisldquo sind Widerspruumlche die aber im bdquoGebetldquo zusammenfinden koumlnnen weil Gott ins Spiel kommt der sich im auferweckten Gekreuzigten offenbart 1Kor 13 liegt nahe

bull Die Hoffnung begruumlndet Freude weil Gott die Ehre aller garantieren wird bull Die Bedraumlngnis verlangt Geduld weil sie weh tut und mit der Schande be-

droht sie begruumlndet Geduld weil Gott der Schande ein Ende bereitet - wo-rauf nur zu hoffen ist

bull Das Gebet erfordert Beharrlichkeit weil eine schnelle Loumlsung nicht verheiszligen ist Beharrlichkeit aber ein nachhaltiges timing meint das Probleme nicht aus-sitzt sondern angeht um sie nachhaltig zu loumlsen

Vers 12 ist eine Kurzformel glaumlubigen Lebens 29 Vgl Bruce Malina Die Welt des Neuen Testaments Kulturanthropologische Einsichten Stuttgart 1993 ders Christian Origins and Cultural Anthropology Practical Models for Biblical Interpretation Eugene 2010

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

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              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 38: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

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f Vers 13 bleibt bei der Partizipienreihe Waumlhrend die Verse 11 und 12 die Einstellung derer besprochen haben die anderen Ehre erweisen sollen nennt Vers 13 paradig-matische Handlungsfelder Die bdquoHeiligenldquo sind die Mitchristen und zwar nicht nur die Mitglieder der eigenen Ortskirche sondern auch andere

bull Vers 13a spricht von praktischer Lebenshilfe und alltaumlglicher Unterstuumltzung Im Blick stehen die bdquoBeduumlrfnisseldquo ndash nicht im Sinn des Begehrens sondern des-sen was Not tut Das Partizip verlangt Anteilnahme Es ist immer noumltig alles zu tun um Not zu lindern es ist nicht immer moumlglich wirksam zu helfen es waumlre verheerend so zu helfen dass den Notleidenden ihre Ehre abgeschnit-ten wird deshalb ist es notwendig aus Anteilnahme heraus zu helfen Es wird auch noumltig Hauptamtliche zu finanzieren (vgl Gal 66)

bull Gastfreundschaft ist eine elementare Tugend die (bis heute) im Orient be-sonders intensiv gepflegt wird30

Gastfreundschaft und Unterstuumltzung von Notleidenden sind nicht spezifisch christli-che sondern allgemein menschliche Tugenden die im Horizont des Glaubens geach-tet und spezifisch verwirklicht werden

Sie hat im fruumlhen Christentum aus zwei Gruumlnden eine besondere Bedeutung 1 wegen der reisenden Apostel und ih-rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die vor Ort aufgenommen werden mussten 2 wegen der strukturellen Marginalisierung der Glaumlubigen die zu sozialen Kompensationen bei Reisenden und Migranten fuumlhren mussten In der Kapitale des Imperiums ist beides speziell wichtig

g Vers 15 der - wohl mit Rekurs auf Sir 72431

h Die Mahnung zur Einmuumltigkeit in Roumlm 1216a die 155 in Form einer Bitte an den Gott der Geduld und des Trostes aufnimmt entspricht Phil 22 wie dort geht es nicht um eine formale Uumlbereinstimmung der Meinungen und Ansichten sondern um ekklesiale Koinonia wie sie von der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus als leben-dige Gemeinschaft unterschiedlicher Charismentraumlger (vgl Roumlm 124-8) moumlglich wird

- zur Mit-Freude und zum Mit-Weinen ermuntert und dabei selbstverstaumlndlich nicht Opportunismus sondern Anteilnahme das Wort redet entspricht 1Kor 1226 und ist auch dort innerkirchliche gemeint

i Paulus gelingt es in Roumlm 129-1315f zahlreiche Impulse fuumlr die Entwicklung eines von Liebe getragenen Miteinanders der Gemeindeglieder zu geben die nicht auf Ver-boten beruhen sondern auf der Staumlrkung des Guten Das Gewicht liegt weniger auf den Einzelmahnungen als auf der Mahnrede als ganzer die durch die Fuumllle der Wei-sungen ein eindrucksvolles Gesamtbild entstehen laumlsst Die Vielzahl der Mahnungen weist auf die Vielfalt der innergemeindlichen Aufgaben hin laumlsst aber auch deutliche Konvergenzen erkennen die Bereitschaft zum Dienen die solidarische Unterstuumltzung des anderen die Arbeit am Aufbau einer engen ekklesialen Lebensgemeinschaft und die Intensitaumlt der Zuwendung zum Naumlchsten

30 Vgl Otto Hiltbrunner Gastfreundschaft in der Antike und im fruumlhen Christentum Darmstadt 2012 ferner Helga Rusche Gastfreundschaft in der Verkuumlndigung des Neuen Testaments und ihr Verhaumlltnis zur Mission Muumlnster 1958 31 Vgl TestIss 75a Jos 177 ferner die Texte bei Bill III 298

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
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      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
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        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 39: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

Thomas Soumlding

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103 Die Uumlberwindung des Boumlsen

a Der Intensitaumlt der Agape als Philadelphia entspricht ihre Kraft uumlber den Kreis der Ekklesia hinauszudringen und sich dort sogar angesichts von Verfolgung und erlitte-nem Unrecht zu bewaumlhren aber auch die Suumlnde in der Gemeinde zu uumlberwinden Die Pointe formuliert praumlzise Vers 2132

b Vers 14 fordert dazu auf die Verfolger der Gemeinde nicht zu verfluchen sondern zu segnen (vgl Lk 628 par Mt 544) Das Wort wird von Paulus nicht als Jesuswort markiert steht aber in einer Tradition mit ihm die der Apostel auch anderenorts auf-nimmt (vgl Roumlm 1217 und 1Thess 515 mit Lk 629 par Mt 539b-41 sowie Roumlm 1219-21 mit Lk 627a35 par Mt 544a)

Es geht darum dass die Christen dem Boumlsen das ihnen in welcher Form auch immer entgegenschlaumlgt nicht durch ihre eigenen Reakti-onen weitere Nahrung geben sondern es durch das bdquoGuteldquo das sich ihnen vom Evan-gelium her erschlieszligt uumlberwinden - zunaumlchst in ihren eigenen Herzen aber auch soweit moumlglich bei den Feinden und Verfolgern selbst

Paulus denkt an diejenigen die den Christen ihres Glaubens wegen feindlich entge-gentreten sei es durch Verleumdung und Verspottung sei es durch soziale Diskrimi-nierung sei es durch Vertreibung Vermoumlgenseinzug Inhaftierung oder Bestrafung33

c Die Frage wie sich diese Haltung den Feinden gegenuumlber in die Praxis umsetzen soll beantwortet Paulus in 1217-21 Die Aufforderung in Vers 17 Boumlses nicht mit Boumlsem zu vergelten sondern allen Menschen gegenuumlber auf das Gute bedacht zu sein entspricht 1Thess 515 Wie dort nimmt Paulus einen Grundsatz weisheitlicher Ethik auf der im Alten Testament und im Fruumlhjudentum nicht selten bezeugt ist aber auch in der stoischen Ethik zahlreiche Parallelen aufweist und auch neben Paulus in der urchristlichen Evangeliumsverkuumlndigung bekannt gewesen ist

Wuumlrde sie ein Fluch dem Zorngericht Gottes uumlberantworten soll sie das Segnen unter Gottes Gnade stellen So wie die Christen hoffen duumlrfen aufgrund ihres Glaubens bereits gegenwaumlrtig die Erfahrung geschenkten Heils zu machen und in der eschatolo-gischen Zukunft endguumlltig gerettet zu werden sollen sie auch beten und bitten dass ihre Feinde die Liebe Gottes erfahren

d Die Mahnung mit allen Menschen Frieden zu halten wobei nach 1217 gerade an die Widersacher und nach Vers 14 sogar an die Verfolger zu denken ist erinnert an 1Thess 513 ist dort aber ebenso wie in Roumlm 1419 auf die innergemeindlichen Ver-haumlltnisse bezogen bdquoFriedeldquo steht fuumlr die Vermeidung von Zank Hader und Streit ist aber im Lichte der Parallelen (besonders Roumlm 51 1533 1620 1Thess 523 Phil 49 2Kor 1311) umfassender zu verstehen und wird letztlich vom Heilsgeschehen her bestimmt Paulus macht nicht das Friedenstiften von der Versoumlhnungsbereitschaft des anderen oder der Wahrung eigener Glaubensidentitaumlt abhaumlngig auf die Schwierigkeit hin dass die eigene Friedfertigkeit nicht schon den Frieden garantiert

32 Der Vers ist eine weisheitliche Sentenz mit Parallelen sowohl im paganen Hellenismus (Polyaen Strat 512 im Kontext freilich auf Kriegslisten bezogen) als auch im Fruumlhjudentum (TestBenj 42f 1QS 1017f vgl CD 92-5) 33 Die Vita des Apostels gibt eine anschauliche Vorstellung wie 1Thess 22 Phil 1712-17 217 41114 Phlm 1Kor 412f 2Kor 48-1216f 63-10 74 1123b-2932f 1210 Gal 511 612 belegen Von Verfolgungen und Bedraumlngnissen christlicher Gemeinden redet Paulus noch in 1Thess 16 214 31-6 Phil 129 Roumlm 53 817-2735 auch 1Kor 1357

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
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        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
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        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 40: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

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e In den folgenden Versen wird die Rache verboten wie in Lev 1917f Signifikant ist die theozentrische Begruumlndung die mit Berufung auf Dtn 3235 erfolgt Paulus verbie-tet die Rache weil sich die Christen damit zum Richter uumlber ihre Feinde aufschwingen und dann eine Rolle einnehmen wuumlrden die allein Gott zusteht Der Sinn des Satzes ist nicht nur deshalb auf Rache zu verzichten damit der Frevler desto sicherer vom goumlttlichen Zorngericht getroffen wird das wuumlrde Vers 14 widersprechen Paulus will vielmehr deutlich machen dass es das Vorrecht Gottes zu beschneiden hieszlige wollte man sich selbst raumlchen Der Hinweis auf die absolute Praumlrogative Gottes schafft den Raum fuumlr eine kreative Uumlberwindung des Boumlsen durch das Gute eine Vorhersage uumlber Gottes Urteil im Endgericht ist damit nicht impliziert An einem Zitat aus Spr 2521f LXX entlang zieht Paulus diese Linie in Vers 20 weiter aus Er stellt vollends klar dass erlittene Verfolgung und zugefuumlgtes Unrecht nicht davon dispensieren koumlnnen dem in Not geratenen Feind zu helfen - wobei im Lichte des Kontextes ebenso deutlich ist dass die Hilfsbeduumlrftigkeit des Feindes nur deshalb genannt wird weil sie der Vergeltung eine besonders leichte Handhabe boumlte nicht aber deshalb weil Feindesliebe nur in einer Notsituation des Feindes Pflicht waumlre Die zweite Vershaumllfte laumlsst fragen ob es nicht doch im Sinne des Paulus sei den Feind letztendlich Gottes Zorngericht zu uumlberantworten Der Kontext weist jedoch klar auf eine negative Antwort hin Die Hoffnung des Apostels besteht darin dass der Verzicht auf Wiedervergeltung die Uumlberwindung der Rachegedanken und die aktive Feindes-liebe die Gegner zur Umkehr bewegen koumlnnten

f Angesichts der angespannten Lage in der sich roumlmische Gemeinde offenbar (aumlhn-lich wie die Thessalonichs und Philippis) befindet gewinnen die Verse die zur Fein-desliebe anhalten eine deutliche pragmatische Pointe Paulus will die roumlmischen Christen dafuumlr gewinnen auf die Ablehnung die der Gemeinde entgegenschlaumlgt und zu Beleidigungen Benachteiligungen und Pressionen vielfaumlltiger Art fuumlhrt nicht mit Hass sondern mit gewaltloser Feindesliebe zu reagieren Im letzten Brief des Apostels wird diese Herausforderung der Agape die er bereits im Rahmen seiner Erstverkuumlndi-gung (wie andere christliche Missionare vor und neben ihm) umrissen hat aus gege-benem Anlass am nachdruumlcklichsten betont Auch wenn eine ausdruumlckliche theo-logische und christologische Motivation fehlt (vgl aber Roumlm 1415 151-13) ergibt sich aus dem Vorzeichen der Paraklese in Roumlm 121f (das seinerseits auf Roumlm 558 und 839 verweist) dass sich gerade in dieser Feindesliebe der Christen ihr Bestimmtsein durch das Erbarmen Gottes artikuliert das in der Lebenshingabe Jesu seinen eschatologisch klarsten Ausdruck gefunden hat

Literatur Dieses Kapitel basiert auf Th Soumlding Das Liebesgebot bei Paulus 241-250

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
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        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
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        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 41: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

Thomas Soumlding

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11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)

a Der Jakobusbrief wird oft als theologischer Antipode des Paulus gesehen weil er die Rechtfertigung dezidiert an bdquoWerkenldquo festmacht waumlhrend ein Glaube der nur zu einem Lippenbekenntnis fuumlhre tot sei (Jak 214-26) Aber die theologische Opposition ist eine optische Taumluschung Sie beruht darauf dass bei Paulus die Texte die eine Erfuumlllung des Gesetzes fordern unterbelichtet werden und dass bei Jakobus derselbe Begriff des Glaubens wie bei Paulus unterstellt wird doch waumlhrend fuumlr Paulus der rechtfertigende Glaube jener ist bdquoder durch Lieber wirksam istldquo (Gal 514) sieht Jako-bus die Gefahr eines Bekenntnisses dem keine Taten folgen Dennoch sind die Zugaumlnge und Ansaumltze zur Rechtfertigungslehre unterschiedlich Pau-lus wie Jakobus partizipieren auf verschiedene Weise an einem gemeinsamen pool fruumlhjuumldischer und fruumlhchristlicher Rechtfertigungstheologie Paulus nutzt sie um die Heilssuffizienz des rechtfertigenden Glaubens zu beschreiben Jakobus um die Not-wendigkeit ethischen Engagements zu unterstreichen

b Der Jakobusbrief will vom Herrenbruder einem fuumlhrenden Mitglied der Jerusalem Urgemeinde geschrieben worden sein der auf dem Apostelkonzil (Apg 15) Paulus unterstuumltzt danach in Antiochia einen Konflikt des Paulus mit Petrus veranlasst (Gal 211-14) und spaumlter Paulus in der Jerusalem aus der Schusslinie genommen hat (Apg 2118-26) Die Exegese urteilt jedoch meist der Brief sei ndash wegen seines ausgezeich-neten Griechisch ndash pseudepigraph Allerdings ist er auch dann eine gesetzesfreundli-che Stimme des fruumlhen Judenchristentums im Neuen Testament

c Die staumlrkste Inspirationsquelle des Jakobusbriefes ist die alttestamentliche Weisheit ndash in der Form in der ihr Verhaumlltnis zur Tora als theologische Entsprechung geklaumlrt worden ist Besonders wichtig ist das Buch Jesus Sirach das in aumlhnlicher Weise wie der Jakobusbrief an das soziale Gewissen der Reichen appelliert und durch caritative Solidaritaumlt den Zusammenhalt der Adressaten staumlrken will Bei Jakobus sind es die bdquodie zwoumllf Staumlmme die in der Diaspora lebenldquo (Jak 11) also die Mitglieder des ndash in Israel verwurzelten ndash Gottesvolkes das auf der ganzen Welt eine Minderheit ist aus der Minoritaumltslage folgt desto dringlicher der enge Zusammenhalt

d Der Jakobusbrief entfaltet sein Anliegen in mehreren Schritten

I Gaben Jak 12-18 Persoumlnliche Integritaumlt Jak 119-27 Houmlren auf Gottes Wort Jak 21-13 Solidaritaumlt mit den Armen Jak 214-25 Aktiver Glaube II Tugenden Jak 31-13 Ehrlichkeit Jak 314-18 Weisheit Jak 41-12 Reinheit Jak 413-17 Bescheidenheit III Aktionen Jak 51-6 Kritik der Reichen Jak 57-12 Ausdauer Jak 513-18 Gebet Jak 519f Sorge um Suumlnder und Irrende

Der Brief steigt mit einer Theologie des Wortes Gottes ein die sich anthropologisch verwirklicht und beschreibt dann Tugenden um schlieszliglich bei Aktionen zu landen

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e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
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        • Altes Testament und Judentum
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        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 42: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

42

e Die Mahnung zur Solidaritaumlt ist dreifach akzentuiert 1 In Jak 21-13 wird aus der Berufung durch Gott (vgl Jak 118) die Notwendung

der Anerkennung und Wertschaumltzung der Armen gefolgert ndash aktives Houmlren im Tun

2 In Jak 214-26 wird das Stichwort bdquoGlaubeldquo aus Jak 21 aufgegriffen und inso-fern geklaumlrt als ein toter von einem lebendigen Glauben unterschieden wird der sich gerade in der Solidaritaumlt mit den Armen erweist (Jak 214f)

3 In Jak 51-6 werden die hartherzigen Reichen aufs Korn genommen dass sie den Armen nicht vorenthalten was sie brauchen

Die Pragmatik der Abfolge ist logisch bull Zuerst wird mit dem Liebesgebot (Lev 1918 ndash Jak 28) die Notwendigkeit der

Armensolidaritaumlt begruumlndet Der Arme ist der Naumlchste der Naumlchste ist der Armen ndash Gott stellt den Reichen die Armen als ihre Naumlchsten vor Augen

bull Dann wird unter dieser Voraussetzung die Sorge fuumlr die Armen als Erweis des Glaubens erwiesen (Jak 214-26) das Gebot der Naumlchstenliebe ist das para-digmatische bdquoWerkldquo das es zu gilt

bull Schlieszliglich (in Jak 51-6) werden diejenigen ermahnt die es besonders noumltig haben die aber besonders viel helfen koumlnnen

f Den Zusammenhalt bestimmt eine Theologie des Gesetzes die ndash unter der Voraus-setzung dass die Tora Gottes Wort ist das gehoumlrt werden muss (vgl Jak 119-27) ndash anthropologisch und ekklesiologisch qualifiziert ist (ohne dass das Verhaumlltnis zwischen Juden und Christen problematisiert wuumlrde)

bull Es ist das bdquoGesetz der Freiheitldquo (Jak 125 212) Damit ist der urspruumlngliche Ort der Sinai-Tora der Exodus eingeholt Das Gesetz ist bdquoder Freiheitldquo inso-fern es (zwar nicht befreit aber) ein Leben in Freiheit fordert und foumlrdert das nur Gott als Herrn anerkennt und deshalb die Bestimmung des Menschen er-fuumlllt Das Gesetz gibt der Freiheit eine Ordnung die sie schuumltzt In Jak 125 ist die Verheiszligung dominant die befreit weil sie die Menschen mit Gott verbin-det in Jak 212 das Gericht ohne das es um der Gerechtigkeit willen keine Vollendung geben kann Die Armen duumlrfen deshalb nicht wieder versklavt werden sondern muumlssen die Freiheit genieszligen koumlnnen ndash auch dadurch dass sie von Not und Schande befreit werden durch die Groszligzuumlgigkeit derer die es sich leisten koumlnnen

bull Es ist das bdquokoumlnigliche Gesetzldquo (Jak 28) weil es die Partizipation des Volkes am Koumlnigtum Gottes die der Exodus konstituiert sichert Damit ist das bdquoDu sollst hellipldquo nicht als Heteronomie sondern als Theonomie reflektiert die auf freier Anerkennung beruht (wobei Gott nach Jak 2 die Freiheit aumlhnlich wie nach Gal 4 zu sich selbst befreit hat) Die Armen sind nicht Sklaven sondern Freie die zum koumlniglichen Geschlecht Gottes gehoumlren (Jak 25) so muumlssen sie anerkannt und zu einem menschen-wuumlrdigen Leben gefuumlhrt werden

Die Armen sind im Jakobusbrief nicht nur Objekte der Fuumlrsorge sondern Typen an denen sub contrario deutlich wird was Gott mit allen Menschen im Sinn hat aus Ar-men Reiche machen

g Die ethische Konkretion ist vor allem auf Fragen das Ansehen bedacht Arme sollen nicht verachtet sondern geehrt werden Die Caritas ist selbstverstaumlndlich wird aber durch ein drastisch schlechtes Beispiel (in Jak 51-6) unterstrichen

Thomas Soumlding

43

12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

44

d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

45

13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

48

c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

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                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 43: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

Thomas Soumlding

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12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)

a Der Erste Petrusbrief ist historisch-kritisch betrachtet nicht von Petrus selbst son-dern in seinem Namen ndash wahrscheinlich durch Silvanus ndash geschrieben worden Er ge-houmlrt zu den bdquokatholischenldquo Kirchen die sich nicht mit den Spezialproblemen einer einzelnen Gemeinde sondern den typischen Glaubensproblemen einer Zeit resp einer Region befassen

b Der Brief redet die Christen als angefochtenen Minderheit an ndash und nimmt deshalb Probleme vorweg wie sie sich wenige Jahre spaumlter in Kleinasien zugespitzt haben werden wie die Plinius-Briefe und Kaiser Trajans Antworten zeigen Er entwickelt eine Soteriologie und Ekklesiologie auf der geistigen Houmlhe der Paulinen Er schlaumlgt den Bogen zuruumlck von Rom in das Kernland der paulinischen Mission in denen das Chris-tentum am kraumlftigen waumlchst Er verklammert Soteriologie und Ethik aumlhnlich eng wie Paulus aber auf andere Weise Er zitiert nicht direkt das Liebesgebot (Lev1918) ob-wohl er Lev 191 (bdquoSeid heilig denn ich bin heiligldquo) in1Petr116 aufnimmt aber entwi-ckelt eine formidable Theologie der Agape

b Der Brief wendet sich von Babylon-Rom (1Petr 512) aus an die Christen Kleinasiens (1Petr 11) dh im paulinischen Missionsgebiet Er redet die Christen als angefochte-nen Minderheit an sie leben in der bdquoDiasporaldquo der Zerstreuung als bdquoFremdeldquo heiszligt nicht mit vollen Buumlrgerrechten aber einer anderen Heimat von der sie fern sind Die-se Heimat ist der Himmel auf Erden sind sie im Exil Die Christen leiden unter starker Benachteiligung und unter Verfolgungen durch ihre heidnische Umgebung und koumlnnen diese nur als Ungerechtigkeit wahrnehmen nicht aber auch als Chance fuumlr eine erneuerte Gestaltung des Christseins Die Gruumlnde fuumlr die strukturelle Diskriminierung ist die religioumlse Distanzierung der Glaumlubigen vom reli-gioumls impraumlgnierten Kultur- und Wirtschaftsleben Typische Anfeindungsgruumlnde sind im Spiegel aumllterer Quellen betrachtet das starke Gemeinschaftsleben der undurch-sichtige Kult und die merkwuumlrdige Verkuumlndigung eines Gekreuzigten mit der Ent-schiedenheit des juumldischen Monotheismus Je deutlicher das Christentum vom Juden-tum unterschieden wird desto prekaumlrer wird die juristische Situation Der Brief ist geschrieben um diesen Christen die Groumlszlige der ihnen geschenkten Gnade wieder vor Augen zu stellen und sie von dorther neu zu motivieren (1Petr 512)

c Der Brief entwickelt eine starke Ekklesiologie des Volkes Gottes die das gemeinsa-me Priestertum aller Glaumlubigen stark macht (1Petr 21-10) Basistext ist Ex 196 die Uumlbertragung auf die Kirche geschieht mit Hilfe von Ho 169 Das Verhaumlltnis zu den Juden spielt keine Rolle Die Diaspora ist Schicksal und Sendung Der priesterliche Dienst besteht im Zeugnis fuumlr das Evangelium in Wort und Tat So legen sie bdquoRechenschaft ab vom bdquoGrund der Hoffnungldquo (1Petr 315) Hier findet die Ethik ihren theologischen Platz

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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
    • Kontakt
      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
        • Markusevangelium
        • Lukasevangelium
        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
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d Die Ethik ist christologisch basiert weil sie in der Glaubensgemeinschaft gelebt wird die durch Jesus Christus konstituiert wird (1Petr118-25) Sie ist christologisch motiviert weil Jesus in seiner Heilsbedeutung als Vorbild gezeichnet wird Leittext ist 1Petr 221-24 Der Verfasser eignet sich Jes 53 an konzentriert sich aber nicht auf die Opfertheologie die er uumlbernimmt sondern auf die Gewaltlosigkeit des Gottesknech-tes in der er die Vorbildlichkeit Jesu begruumlndet sieht Diese Gewaltlosigkeit ist nicht Schwaumlche sondern Uumlberzeugung die Wuumlrde der Verfolger zu achten und die Gerech-tigkeit nur von Gott zu erwarten

e Die Uumlbertragung auf die Ethik ist frappierend weil als Vorbilder fuumlr diejenigen die Jesus zum Vorbild nehmen sollen Sklaven angesehen werden (1Petr 218ff) Die Ver-bindung liegt darin dass Jesus den Tod eines Sklaven gestorben ist und die Sklaven wie er ungerecht leiden muumlssen Damit ist eine enorme Aufwertung verbunden die kreuzestheologisch begruumlndet ist Allerdings leistet die Sklaven-Paraklese der Zeit ihrer Entstehung Tribut und muss vor dem Verdacht des Quietismus geschuumltzt wer-den das gelingt durch den Ausblick auf das Verhalten Jesu Christi und die eschatolo-gische Hoffnung die sich durch ihn oumlffnet

f Durch die Nachahmung dieses Verhaltens Jesu Christi sollen die Christen ein Ethos entwickeln das der frohen Botschaft entspricht und zugleich ein Zeugnis der Hoff-nung mitten in der Fremde abgibt das die Aggressivitaumlt durch Gewaltlosigkeit unter-laumluft die Skepsis durch Kritik und das Unverstaumlndnis durch Anteilnahme Der Erste Petrusbrief ruft nicht zur Revolution und nicht zum Opportunismus sondern zur hu-manen Gestaltung der vorgegeben Lebensverhaumlltnisse zur selbstkritischen Pruumlfung der eigenen Lebenslage zur Leidensfaumlhigkeit und zur schleichenden Verwandlung der Welt

Literatur Thomas Soumlding (Hg) Hoffnung in Bedraumlngnis Studien zum Ersten Petrusbrief (SBS) Stuttgart

2009

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
    • Pruumlfungsleistungen
    • Beratung
    • Kontakt
      • Literaturhinweise
        • Uumlbergreifende Titel
        • Altes Testament und Judentum
        • Matthaumlusevangelium
        • Markusevangelium
        • Lukasevangelium
        • Corpus Iohanneum
        • Corpus Paulinum
        • Jakobusbrief
          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
Page 45: Das Liebesgebot. Eine ethische Orientierung an der Bibel · 2 Das Liebesgebot. Die Vorlesung im Studium Das Thema Das Gebot der Nächstenliebe ist eine starke Brücke zwischen dem

Thomas Soumlding

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13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik

a Das Verhaumlltnis zum Alten Testament ist konstitutiv weil das Gesetz das einen star-ken ethischen Anteil hat nicht aufgeloumlst sondern erfuumlllt wird (Mt 517-20) Das ist eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen der synoptischen und der johanneischen Jesus-tradition einerseits der paulinischen Theologie und der Positionen im Jakobusbrief und im Ersten Petrusbrief andererseits Diese theologische Affirmation des Gesetzes ist zwar in Teilen der christlichen Exegese mit einem Fragezeichen versehen im Zuge des juumldisch-christlichen Dialoges aber neu entdeckt worden Die Fundierung der neutestamentlichen in der alttestamentlichen Ethik wird durch das Liebesgebot herausragend qualifiziert Sowohl in der synoptischen Tradition als auch bei Paulus und Jakobus wird Lev 1918 zu einem ethischen Schluumlsselwort das als Torazitat ausgewiesen wird Die fundamentale Uumlbereinstimmung ist die Kehrseite einer kreativen Hermeneutik die durch das Evangelium gesteuert wird Dadurch entstehen Spannungen aber auch Konvergenzen mit profilierten juumldischen Positionen

bull Spannungen mit strengeren Hermeneutiken zB den pharisaumlischen die auf Reinheit setzen und deshalb juumldische Identitaumlt durch Speisevorschriften und Reinheitsgebote organisieren wollen

bull Konvergenzen mit liberalen Stroumlmungen zB den Patriarchentestamenten die sich der Lebbarkeit der Tora verschreiben und durch das Liebesgebot die Eingangsschwelle niedrigerlegen

Im Vergleich ist die hermeneutische Stellenwert des Liebesgebotes in der Jesustradi-tion und im fruumlhen Christentum signifikant erhoumlht (deshalb aber nicht schon auch die Praxis der Agape) Die theologische Ursache besteht darin dass in den Evangelien wie in den Briefen der Glaube zur zentralen Kategorie des Lebens wird der die Liebe Got-tes bejaht und daraus eine Ethik der Agape inspiriert Im Vergleich ist auch der hermeneutische Code signifikant staumlrker durch das Liebes-gebot und das mit ihm kompatible Glaubensprinzip gepraumlgt Bei Jesus (vgl Mk 71-23 parr) geschieht dies durch eine Personalisierung des Reinheitsdenkens bei Paulus (Roumlm 4 Phil 3) durch eine Spiritualisierung der Beschneidung

In der Religionspaumldagogik sind zwei Konsequenzen zu ziehen bull erstens die Rekonstruktion der Verwurzelung Jesu wie der Kirche im Urchris-

tentum auch auf dem Feld der Ethik bull zweitens die Entwicklung einer begruumlndeten Anerkennung des Gesetzes Got-

tes das durch Menschen vermittelt wird ndash wider alle menschlichen Gesetze die sich den Anschein des Goumlttlichen geben

In aumllteren Werken findet sich oft noch die Vorstellung Jesus habe die Menschen aus der starren Kasuistik des Gesetzes in die Freiheit der Liebe gefuumlhrt Das ist eine Pro-jektion innerkirchlicher Konflikte auf die juumldisch-christlichen Beziehungen zur Zeit Jesu und der Urkirche Tatsaumlchlich hat das Gesetz seine eigene Freiheit die Liebe ihre ei-genen Regeln Kasuistik kann zum Korsett werden aber auch dem Einzelfall Gerech-tigkeit widerfahren lassen Das Liebesgebot weist die Richtung bedarf aber der Konk-retion

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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

48

c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

  • Vorlesungsplan
  • Das Liebesgebot Die Vorlesung im Studium
    • Das Thema
    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
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          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
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b Sowohl terminologisch (Agape) als auch konzeptionell ragt im religionsgeschichtli-chen Vergleich der Antike das Liebesgebot als charakteristisch christlich heraus Die ethische Pointe ist spezifisch christlich weil sowohl die Wortwahl als auch der konsti-tutive Bezug auf das Alte Testament zeigen dass die Gottesliebe (die es nur im juumldi-schen und christlichen Monotheismus gibt) die Naumlchstenliebe inspiriert Das Urchristentum Jesus folgend erkennt in der Einheit von Gottes- und Naumlchsten-liebe das Herz christlicher Ethik erkennt und bestimmt so seinen Platz im kulturellen Umfeld der Antike

1 Dem neutestamentlichen Anspruch nach wird im Urchristentum keine Son-dermoral entwickelt sondern Moral uumlberhaupt realisiert weil auf der Basis eines positiv geklaumlrten Gottesverhaumlltnisses auch die Ethik in ihren personalen und sozialen Dimensionen illusionsfrei und ambitioniert erscheint Dieser Ansatz begruumlndet zweierlei

(1) ein Grundvertrauen in die Faumlhigkeit durch Werke der Liebe Wider-stand einzudaumlmmen Verstaumlndnis zu wecken und Koalitionen zu schmieden was sowohl der Erste Thessalonicherbrief als auch der Erste Petrusbrief mit Nachdruck vertreten

(2) ein Interesse nach gemeinsamen ethischen Standards zu suchen und durch aufmerksame kritische Pruumlfung den Pool ethischer Einstellun-gen und Einsichten Haltungen und Handlungen Werte und Wahrhei-ten aufzufuumlllen was Paulus sowohl im Ersten Thessalonicherbrief als auch im Philipperbrief ausdruumlcklich gefordert hat

Die Ethik der Agape speist sowohl das Vertrauen als auch das Interesse und qualifiziert es ethisch als Mit-Menschlichkeit und soziale Verantwortung die in Freiheit aus dem Gehorsam gegen Gott entwickelt werden Die Eschatologie loumlst die Bedeutung der Gegenwart nicht auf sondern stei-gert und relativiert deshalb nicht die Ethik sondern erhellt ihre Bedeutung am Letzten Tag kommt sie im Juumlngsten Gericht zur Sprache

Thomas Soumlding

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2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

48

c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

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    • Die exegetische Methode
    • Das didaktische Ziel
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          • 1 Fragen zum Liebesgebot ndash exegetisch katechetisch didaktisch
            • Literatur zur Vertiefung
              • 2 Das Liebesgebot im Alten Testament (Lev 1918)
              • 3 Das Liebesgebot im Judentum
              • 4 Das Doppelgebot (Mk 1228-34 parr)
              • 5 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1025-37)
                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
                        • 7121 Die soteriologische Deutung
                        • 7122 Die ethische Deutung
                          • 722 Das johanneische Gebot der Bruderliebe
                          • 7221 Die Gottesliebe als Vorgabe der Naumlchstenliebe (1Joh 23-6)
                          • 7 222 Die Bruderliebe als Konsequenz der Naumlchstenliebe (1Joh 27-11)
                              • Die Liebe Gottes als Herzstuumlck des Liebesgebotes
                              • 9 Liebe als Erfuumlllung des Gesetzes (Gal 513f Roumlm 138ff)
                              • 10 Liebe innerhalb und auszligerhalb der Kirche (Roumlm 129-21)
                                • 101 Analyse
                                • 102 Die Staumlrkung des Guten
                                • 103 Die Uumlberwindung des Boumlsen
                                  • Literatur
                                      • 11 Solidaritaumlt als Naumlchstenliebe (Jak)
                                      • 12 Liebe in Bedraumlngnis (1Petr)
                                        • Literatur
                                          • 13 Das Liebesgebot im Zentrum christlicher Ethik
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Thomas Soumlding

47

2 In biblisch-theologischer Perspektive wird der Charakter der neutestamentli-chen Ethik die ein breites Spektrum abdeckt aber durch die ethische Schalt-zentrale des Liebesgebotes identifiziert wird erkennbar ndash aber so die eigene Sicht nicht als das ganz Andere philosophischer kultureller Ethik sondern als die bessere Alternative die auf uumlberraschende Weise realisiert und transzen-diert was als gut und gerecht erkannt wird Aus diesem Anspruch erklaumlrt sich eine starke Motivation zur Mission die dann ihrerseits ethisch qualifiziert ist jedenfalls theoretisch Die Basis der Gemeinsamkeit ist in der Perspektive neutestamentlicher Ethik die Schoumlpfungstheologie die nicht nur eine biologi-sche sondern auch eine ethische Ordnung stiftet die sich zB im Gewissen meldet (Roumlm 213f) die Basis der Differenz die durch Erkenntnis die Logik des Willens Gottes erkennt und in der Welt realisiert ist der Glaube der die Gottesliebe durch die Naumlchstenliebe verifiziert

3 In der Perspektive vergleichender Moralforschung zeigen sich Kennzeichen christlicher Ethik deren Geltung nicht exklusiv vom christologischen Gottes-bekenntnis abhaumlngig deren Genese aber untrennbar mit ihm verbunden ist

(1) Als typisch christlich kann einerseits alles gelten was mit einer Auf-wertung der Leidenden der Schwachen der Demuumltigen zu tun hat Diese Tendenz muss wie in der Neuzeit Nietzsche betont hat34

(2) Als typisch christlich kann andererseits alles gelten was eine ethische Gestaltung traditioneller Sozialformen ist in erster Linie des bdquoHausesldquo und der bdquoFamilieldquo auch der Arbeit aber kaum erst des Staates (Roumlm 131-7 1Petr 2 1Tim 2) und der Gesellschaft Oft wird diese Sozial-ethik als Verbuumlrgerlichung kritisiert die von der jesuanischen Radika-litaumlt abgefallen sei Aber Jesus war in seiner Ethik der Nachfolge an Ehe und Kindern an Caritas und Steuerzahlen (Mk 101-31 parr 1213-17 parr) durchaus interessiert und als Ethik der Nachhaltigkeit ist die soziale Konkretion ein Gebot der Stunde

von der Versuchung einer schwachen Moral geschuumltzt werden die Schwaumlchlichkeit Weinerlichkeit Selbstmittleid Ichschwaumlche praumlmiert (und deshalb dem Missbrauch Tuumlr und Toroumlffnet) ist aber eine direk-te Wirkung der Passionstheologie Das Ethos der Armut die Reich-tum der Schande die Ehre der Ohnmacht die Macht bedeutet kann nicht der Vertroumlstung dienen aber denen in ihrer Not beistehen die aus eigener oder durch fremde Schuld nicht nur von Menschen son-dern scheinbar auch von Gott verlassen sind

Allerdings sind zeitbedingte Grenzen der Ethik nicht zu uumlbersehen sowohl die Geschlechterverhaumlltnisse als auch die Sklaverei werden ndash zwar nicht als ius divinum sanktioniert aber ndash als gegeben hinge-nommen und allenfalls innerkirchlich relativiert

Einmal im Lichte des Glaubens gefunden und missionarisch kommuniziert koumlnnen die ethischen Positionen ndashmodifiziert ndash auch ohne das Vorzeichen des Glaubens rekonstruiert werden dadurch erweitert sich die Kommunikations-basis

Die Religionspaumldagogik kann auf die universalistische Dimension christlicher Ethik setzen und in der Schule ihre aktuelle Uumlberzeugungskraft testen

34 So Anm 14

48

c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

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c Der bdquoNaumlchsteldquo den es zu lieben gilt ist immer gerade der Mensch der Aufmerk-samkeit Zuwendung Hilfe Kritik Widerstand Anteilnahme Aufmunterung Unter-stuumltzung noumltig hat Das Gebot der Naumlchstenliebe kritisiert jeden moralischen Idealis-mus und ruft zur Konkretion ja macht die Priorisierung zum moralischen Kriterium Das Neue Testament folgt genau der Logik der Konkretion die das Alte Testament in Lev 19 vorgegeben und das Fruumlhjudentum auf die Verhaumlltnisse der Diaspora uumlbertra-gen (TestXII) in den innerjuumldischen Debatten aber verschaumlrft (1QS 1QSa CD) hat Die innerkirchliche Geschwisterliebe (Joh 15-17 1Joh Roumlm 12 Jak 24 1Petr 2) nimmt die ekklesiologische Grundlinie von Lev 19 auf dass der bdquoNaumlchsteldquo das Mit-Glied im Volk Gottes ist und versteht sich nicht exklusiv sondern positiv so wie in Lev 1934 die Fremdenliebe als Ausweitung der Naumlchstenliebe vorgesehen wird so enden auch nach den Evangelien und nach den Briefen die ethischen Pflichten nicht an der Ge-meindegrenze moumlgen sie auch nur im Einzelfall bdquoLiebeldquo genannt werden Allerdings weitet Jesus in der Feldrede resp der Bergpredigt die Grenzen der Naumlchs-tenliebe extrem aus weil er im Horizont der Liebe Gottes die er der Sache nach als Feindesliebe versteht auch diejenigen die verfolgen ausbeuten und schmaumlhen nicht von der Notwendigkeit der Liebe ausnimmt so sie ins Gesichtsfeld treten Bei Paulus (1Thess 4 Roumlm 12) und im Ersten Petrusbrief werden adaumlquate Uumlbertragungen in die Situation der nachoumlsterlichen Gemeinde vorgenommen Eine konkrete Sozialethik ist im Neuen Testament nur ansatzweise entwickelt es gibt aber Grundentscheidungen die aus dem Weltdienst der Kirche folgen Im Religionsunterricht muss wie in der Katechese der moralische Enthusiasmus junger Menschen angesprochen und geklaumlrt werden Das Ziel ist ein verlaumlssliches nachhalti-ges Engagement fuumlr andere zu foumlrdern das um die Notwendigkeit weiszlig Prioritaumlten zu setzen und die Entscheidungen reflektieren kann

d Die Liebe die geboten werden kann ist nicht der Eros der vielmehr eine Macht ist nicht die Freundschaft die vielmehr Luxus ist weniger die storgecirc die vielmehr natuumlr-lich ist aber die Agape die aus der Klaumlrung des Gottesverhaumlltnisses stammt und als Haltung eingeuumlbt als Praxis motiviert werden muss In der Religionspaumldagogik muumlssen die verschiedenen Arten der Liebe unterschieden werden insbesondere muss die reine Emotionalitaumlt sexuell konnotiert oder nicht in ein tieferes Verstaumlndnis der Liebe uumlberfuumlhrt werden das dann auch die Geschlecht-lichkeit integriert

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                • Literatur
                  • 6 Das Gebot der Feindesliebe (Mt 538-48 par Lk 627-36)
                  • 7 Das Gebot der Bruderliebe (Joh 13-16 1Joh)
                    • 71 Die Fuszligwaschung (Joh 131-20)
                      • 711 Die vollendete Liebe Gottes in Jesus
                      • 712 Die Fuszligwaschung
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