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*) Übersetzt von Rebecca Lämmle (Universität Basel). Der vorliegende Auf- satz ist die vollständige Fassung des auf Französisch erschienenen Beitrags Entre récit héroïque et poésie rituelle: le sujet poétique qui chante le mythe, in: S. Parizet (Hrsg.), Mythe et littérature, Paris 2008, 123–141. 1) Für eine Kritik der Anwendung der modernen Kategorie des ‚Lyrischen‘ auf die griechische Dichtung sei auf meine aufeinander aufbauenden Bemerkungen verwiesen in: La poésie lyrique grecque, un genre inexistant?, Littérature 111, 1998, 87–110, sowie in: Identifications génériques entre marques discursives et pratiques énonciatives: pragmatique des genres ‘lyriques’, in: R. Baroni / M. Macé (Hrsg.), Le savoir des genres, Rennes 2006, 35–55. DAS POETISCHE ICH Enuntiative und pragmatische Fiktion in der griechischen Lieddichtung am Beispiel von Pindar, Ol. 6* Wer sich mit den verschiedenen Formen der griechischen me- lischen Dichtung auseinandersetzt, sieht sich unweigerlich mit der Frage nach dem ‚lyrischen Ich‘ konfrontiert: Auf wen bezieht sich jeweils das ‚Ich‘ in der Lieddichtung, die sich gerade durch das häu- fige Auftreten dieser sprachlichen Form auszeichnet? Diese Frage zu stellen führt in der Regel zu einem Widerspruch: Wie begrün- det man beispielsweise die Aufführung eines Liedes durch einen Chor junger Mädchen, wenn man das ‚Ich‘ im Lied, das von einem männlichen Dichter gedichtet worden ist, unmittelbar mit dessen Autor identifiziert? Es ist wenig sinnvoll, über das Problem des ‚lyrischen Ichs‘ nachzudenken, ohne linguistische Überlegungen zur Aussage (énonciation) mit einzubeziehen. Ehe das poetische Subjekt mit psychologischen oder biographischen Kategorien aufgefasst wird, ehe die romantische Konzeption von Lyrik als poetischer Aus- druck intimer Gefühle des Dichters auf die griechische Dichtung projiziert wird, 1 gilt es, sich auf den Sinn einer rein sprachlichen Manifestation und seiner Implikationen zu konzentrieren; es gilt den Sinn einer Instanz zu erörtern, die sich in den verschiedenen sprachlichen Formen von ‚Ich‘ ausdrückt. RhM 153 (2010) 125–143

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Page 1: DAS POETISCHE ICH Enuntiative und ... - rhm.uni-koeln.de · PDF fileder in der ersten Aufsatzsammlung der Problèmes de linguistique générale ... E.Benveniste, Problèmes de linguistique

) Uumlbersetzt von Rebecca Laumlmmle (Universitaumlt Basel) Der vorliegende Auf-satz ist die vollstaumlndige Fassung des auf Franzoumlsisch erschienenen Beitrags Entre reacutecit heacuteroiumlque et poeacutesie rituelle le sujet poeacutetique qui chante le mythe in S Parizet(Hrsg) Mythe et litteacuterature Paris 2008 123ndash141

1) Fuumlr eine Kritik der Anwendung der modernen Kategorie des sbquoLyrischenlsquoauf die griechische Dichtung sei auf meine aufeinander aufbauenden Bemerkungenverwiesen in La poeacutesie lyrique grecque un genre inexistant Litteacuterature 111 199887ndash110 sowie in Identifications geacuteneacuteriques entre marques discursives et pratiqueseacutenonciatives pragmatique des genres lsquolyriquesrsquo in R Baroni M Maceacute (Hrsg) Lesavoir des genres Rennes 2006 35ndash55

DAS POETISCHE ICHEnuntiative und pragmatische Fiktion

in der griechischen Lieddichtung am Beispiel von Pindar Ol 6

Wer sich mit den verschiedenen Formen der griechischen me-lischen Dichtung auseinandersetzt sieht sich unweigerlich mit derFrage nach dem sbquolyrischen Ichlsquo konfrontiert Auf wen bezieht sichjeweils das sbquoIchlsquo in der Lieddichtung die sich gerade durch das haumlu-fige Auftreten dieser sprachlichen Form auszeichnet Diese Fragezu stellen fuumlhrt in der Regel zu einem Widerspruch Wie begruumln-det man beispielsweise die Auffuumlhrung eines Liedes durch einenChor junger Maumldchen wenn man das sbquoIchlsquo im Lied das von einemmaumlnnlichen Dichter gedichtet worden ist unmittelbar mit dessenAutor identifiziert

Es ist wenig sinnvoll uumlber das Problem des sbquolyrischen Ichslsquonachzudenken ohne linguistische Uumlberlegungen zur Aussage(eacutenon ciation) mit einzubeziehen Ehe das poetische Subjekt mitpsychologischen oder biographischen Kategorien aufgefasst wirdehe die romantische Konzeption von Lyrik als poetischer Aus-druck intimer Gefuumlhle des Dichters auf die griechische Dichtungprojiziert wird1 gilt es sich auf den Sinn einer rein sprachlichenManifestation und seiner Implikationen zu konzentrieren es giltden Sinn einer Instanz zu eroumlrtern die sich in den verschiedenensprachlichen Formen von sbquoIchlsquo ausdruumlckt

RhM 153 (2010) 125ndash143

2) E Benveniste Die Tempusbeziehungen im franzoumlsischen Verb in Pro-bleme der allgemeinen Sprachwissenschaft aus dem Frz von W Bolle Muumlnchen1974 264ndash279 (Zitat 266) Urspruumlngliche frz Fassung in Bulletin de la Socieacuteteacute deLinguistique 54 1959 fasc 1 wieder abgedruckt in Problegravemes de linguistiquegeacuteneacuterale Paris 1966 237ndash250

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1 Die Strategien der poetischen Aussage

Um die Gefahren der Doxa zu umgehen und um eine kriti-sche Position einzunehmen ist es lohnenswert bei der Arbeit andiesen Texten auf die von Emile Benveniste vorgebrachte kano-nisch gewordene Unterscheidung zwischen histoire (oder reacutecit)und discours zuruumlckzugreifen In einem Artikel aus dem Jahr 1959der in der ersten Aufsatzsammlung der Problegravemes de linguistiquegeacuteneacuterale (Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft) im mitbdquoLrsquohomme et la langueldquo (bdquoDer Mensch in der Spracheldquo) betiteltenTeil wieder abgedruckt wurde schreibt sich die Unterscheidungzunaumlchst ein in eine Linguistik des discours die dazu bestimmtwird der Pragmatik besonderes Gewicht zuzumessen eine Lin-guistik die sich von nun an als Geisteswissenschaft verstanden wis-sen will

In einem Kapitel in dem er die Klassifikation grammatikali-scher Tempora im zeitgenoumlssischen Franzoumlsisch kritisch befragtstellt Benveniste fest

Die historische Aussageform die heute der Schriftsprache vorbehaltenbleibt kennzeichnet den Bericht vergangener Ereignisse Diese dreiBegriffe sbquoBerichtlsquo sbquoEreignislsquo sbquoVergangenheitlsquo sind ebenfalls zu unter-streichen Es handelt sich um die Darstellung von Tatsachen die sichin einem bestimmten Augenblick der Zeit ereigneten ohne irgendeineIntervention des Sprechers im Bericht ( ) Wir wollen den histori-schen Bericht als den Aussagemodus definieren der jede sbquoautobiogra-phischelsquo Sprachform ausschlieszligt Der Historiker wird niemals wederich noch du noch hier noch jetzt sagen weil er sich niemals des for-malen Apparats des Diskurses bedient der zunaumlchst in der Personen-beziehung ich du besteht2

Wenn Benveniste seine Aufmerksamkeit in dieser ersten Studieganz der historischen Aussage in ihrer narrativen Dimension wid-met so sind die beiden Folgekapitel im betreffenden Teil der Pro-bleme der allgemeinen Sprachwissenschaft der bdquoNatur der Prono-menldquo und der bdquoSubjektivitaumlt in der Spracheldquo zugedacht Hier stoumlszligtman auf eine ganze Reihe von Uumlberlegungen und Fragen hinsicht-

3) Benveniste (wie Anm 2) 279ndash286 (Die Natur der Pronomen) und 287ndash297 (Uumlber die Subjektivitaumlt in der Sprache) (Zitat 280)

4) E Benveniste Problegravemes de linguistique geacuteneacuterale II Paris 1974 79ndash88(Der entsprechende Artikel ist erstmals erschienen in Langages 17 1970 12ndash18)Auf dieser theoretischen Grundlage habe ich in Le reacutecit en Gregravece ancienne Eacutenon-ciations et repreacutesentations de poegravetes Paris 2002 (2 Aufl) 17ndash85 (Engl Uumlberset-zung The Craft of Poetic Speech in Ancient Greece Ithaca London 1995 3ndash59)einige Thesen zur Pragmatik der griechischen Dichtung formuliert

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lich der bdquoRealitaumltldquo zu der sich die Ausdruckformen von sbquoIchlsquo odersbquoDulsquo in jeder bdquoDiskursinstanzldquo (bdquoinstance de discoursldquo) in Bezie-hung setzen d h in jedem einzelnen Akt in dem bdquodas Sprach -system von einem Sprecher als Sprachverwendung aktualisiertwirdldquo3 Daher ist das fundamentale Prinzip das demzufolgesprachlich ausgedruumlckte sbquoIchlsquo in seiner Eigenschaft als Pronomenausschlieszliglich auf eine bdquoRealitaumlt des Diskursesldquo auf eine Realitaumltder Rede auf eine sprachliche Realitaumlt zu beziehen bdquoIch bedeutetsbquodie Person welche die gegenwaumlrtige Diskursinstanz die ich ent-haumllt aussagtlsquo ldquo dementsprechend hat bdquodie Form ich sprachlicheForm nur in dem Sprechakt der sie vortraumlgtldquo4

So zeichnet sich in praktisch impliziter Weise die essentielleUnterscheidung ab zwischen dem sbquoIchlsquo das qua pronominale undverbale Form nur eine Existenz und einen Verweischarakter lingui-stischer Art hat auf der einen Seite und dem Sprecher (bdquolocuteurldquoso Benveniste etwas irrefuumlhrend) oder vielmehr dem bdquoAussagen-denldquo (bdquoeacutenonciateurldquo) der das (psycho-soziale) Subjekt des Sprech -aktes ist auf der anderen Seite Sind sie auch nur als bdquoKategorien derSpracheldquo zu betrachten so sind sbquoIchlsquo und sbquoDulsquo nichtsdestowenigerGegenstand einer raumlumlichen wie zeitlichen Markierung Diese Markierung entspricht den linguistischen und enuntiativen Para -metern von sbquoHierlsquo und sbquoJetztlsquo Aus diesen ersten Feststellungen diesich der Unterscheidung von histoire reacutecit und discours verdan-ken geht zunaumlchst hervor was Benveniste wenig spaumlter das bdquofor-male System der Aussageldquo oder bdquoden formalen Apparat des Dis-kursesldquo (bdquoappareil formel de lrsquoeacutenonciationldquo) nennen wird Von reinsprachlicher Natur findet sich im Zentrum dieses Systems ego dasdurch zeitliche wie raumlumliche bdquoIndikatoren der Deixisldquo definiert ist Auszligerdem fuumlhren diese grundlegenden Feststellungen bezuumlg-lich der Indices der Aussage oder Aumluszligerung (eacutenonciation) die vomAusgesagten oder Geaumluszligerten (eacutenonceacute) unterschieden wird zur Skizze einer Theorie der Sprechhandlungen (speech-acts) Diskurs -

5) Benveniste (wie Anm 2) 2966) K Buumlhler Sprachtheorie Die Darstellungsform der Sprache Jena 1934

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instanzen die Formen in der ersten Person enthalten wie etwa sbquoichschwoumlrelsquo oder sbquoich versprechelsquo verweisen auf Ausgesagtes oderGeaumluszligertes (eacutenonceacute) bei dem bdquodie Aussage (sc eacutenonciation) mit derHandlung selbst zusammen[faumlllt]ldquo5

Wiewohl selbst ein Vorreiter ignoriert Benveniste die Arbei-ten und das bedeutende Buch seines geistigen Vorgaumlngers KarlBuumlhler Seit 1934 widmete der deutsche Linguist mehrere Kapitelseiner Sprachtheorie den verschiedenen Prozessen sprachlichenZeigens unter dem Einsatz von Anaphora und Demonstrativa

Den Rahmen einer Satz-Linguistik sprengend entdeckte er soin jeder Form von Diskurs ein bdquoHier-Jetzt-Ich-Systemldquo dessenAusgangspunkt im sprachlich ausgedruumlckten sbquoIchlsquo und seinen ver-schiedenen Formen besteht Dieses System das ein bdquoZeigfeldldquostrukturiert entfaltet sich dank der Potentialitaumlten der Spracheauf zwei Ebenen zum einen unter Bezugnahme auf das was dieSprecher (die Aussagenden) vor Augen haben (durch extradiskur-sive Vorgaumlnge deiktischen Verweisens) zum anderen durch einenAppell an das innere Auge und Ohr des Lesers oder Houmlrers (durchdie Vorgaumlnge intradiskursiven Zeigens anaphorischer und kata-phorischer Ordnung) Die Vorgehensweisen der bdquoDemonstratio adoculosldquo vereinen sich demnach in praktisch jeder Form von dis-cours mit den Vorgehensweisen der bdquoDeixis am Phantasmaldquo6

Unter dem Blickwinkel der Interferenz betrachtet erweistsich die (operative) Unterscheidung zwischen bdquoDeixis am Phan -tasmaldquo und bdquoDemonstratio ad oculosldquo dort als essentiell wo die-selben Demonstrativa wie etwa im Griechischen jene auf -δε evozieren was im und durch den discours (durch Anapher und Katapher) kreiert wird sich zugleich aber auf die extra-linguisti-sche Realitaumlt beziehen koumlnnen Eine solche doppelte Moumlglichkeitsowohl der internen als auch der externen Referenz mit ein unddemselben Demonstrativum laumlsst die Unterscheidung zwischendiscours und histoire reacutecit freilich als bruumlchig erscheinen sie bestaumltigt die Durchlaumlssigkeit zwischen dem Intra- und dem Ex -tra-Diskursiven indem sie zum Beispiel der Fiktion in deren Eigenschaft als moumlglicher Welt jeden Anspruch auf semantischeAutonomie entzieht Es empfiehlt sich demnach die moumlgliche

7) Eine Darstellung und Auswertung des operativen Nutzens des Begriffsbdquofonction-auteurldquo fuumlr verschiedene antike Diskursformen findet sich bei C Ca -lame R Chartier (Hrsg) Identiteacutes drsquoauteur dans lrsquoAntiquiteacute et la tradition eu-ropeacuteenne Grenoble 2004

8) Zu diesen Unterscheidungen vgl meine einfuumlhrenden Bemerkungen zuMasques drsquoautoriteacute Fiction et pragmatique dans la poeacutetique grecque antique Paris2005 13ndash40 (engl Uumlbersetzung Masks of Authority Fiction and Pragmatics in An-cient Greek Poetics Ithaca London 2005 1ndash16)

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Kombination der beiden Prozeduren der bdquoDeixis am Phantasmaldquound der bdquoDemonstratio ad oculosldquo von der Ebene des reacutecit auf jenedes discours zu uumlbertragen

Dieser doppelte Bezeichnungsvorgang der sich an die Vor-stellungskraft zu wenden und zugleich die extralinguistische Rea-litaumlt zu bezeichnen vermag betrifft ebenso was ich die bdquoAussa -geinstanzldquo (bdquoinstance drsquoeacutenonciationldquo) nenne also das sbquoIchlsquo mitsamtseinen raumlumlichen wie zeitlichen Parametern im System ego tu ndashhic ndash nunc

Das heiszligt dass sich vor jeder extradiskursiven Bezugnahmeim discours mit linguistischen Mitteln eine Autorfigur konstruiertdie rein verbaler Natur ist Die Figur des Erzaumlhlers oder genauerdes Sprecher-Ichs das haumlufig einem Gespraumlchspartner-Du gegen -uumlbergestellt ist (auch dies eine rein verbale Figur) Diese Figur diesich in einer enuntiativen Haltung herausbildet und die mit einemdiskursiven Ethos ausgestattet wird verweist nur mittelbar zu -naumlchst auf den in seiner institutionellen Funktion erfassten AutorDieser definiert sich in seiner Eigenschaft als soziale Figur durchseine bdquofonction-auteurldquo um eine von Michel Foucault vorgebrach-te Idee aufzugreifen Wer aber im Falle der griechischen Dichtungvon bdquofonction-auteurldquo spricht sagt gleichzeitig bdquofonction-exeacute-cutantldquo da die dichterische performance von Darstellern an einemrituellen Anlass uumlbernommen wird Von Aoumlden oder RhapsodenChoreuten Schauspielern eines tragischen oder komischen Dra-mas usw7 Nur uumlber diesen zunaumlchst diskursiven dann institutio-nellen Umweg verweist die Figur des Sprecher-Ichs letztlich aufden Autor in der historischen Realitaumlt mit seiner Intentionalitaumltund Kreativitaumlt (einer Kreativitaumlt die je nach Betrachtungsweise inpsychologischen psychoanalytischen mentalen kognitiven neu-ronalen oder sozialen Kategorien gefasst werden kann)8

Wichtig ist die Vermengung der Perspektive die Benvenistemit seiner Erforschung der Aussage eroumlffnet die er zwischen reacutecit

9) Ich erlaube mir hier abermals einen Verweis auf meine einfuumlhrenden Bemerkungen zu Poeacutetique des mythes dans la Gregravece antique Paris 2000 11ndash69Vgl jetzt auch Mythos musische Leistung und Ritual am Beispiel der melischenDichtung in A Bierl R Laumlmmle K Wesselmann (Hrsg) Literatur und ReligionWege zu einer mythisch-rituellen Poetik bei den Griechen Band I Berlin NewYork 2007 179ndash210

10) Fuumlr all diese sbquoperformativenlsquo Aspekte der griechischen Dichtung zumalwenn es sich um Chordichtung handelt siehe die nuumltzliche Darstellung bei A BierlDer Chor in der alten Komoumldie Ritual und Performativitaumlt Muumlnchen Leipzig2001 11ndash64

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(eacutenonceacute) und discours (eacutenonceacute de lrsquoeacutenonciation) verortet mit derPerspektive von Buumlhler in Bezug auf die Prozeduren der Deixisderen Brennpunkt das diskursive sbquoIchlsquo ist sie hat einen Einflussnicht nur auf die Konzeption des Autors und seiner dichterischenAutoritaumlt sondern auch auf jene der Fiktion und des sbquoMythoslsquo inihrer diskursiven Dimension Im Falle der Dichtung des klassi-schen Griechenlands die wir trotz ihres stark pragmatischen Cha-rakters als sbquoLiteraturlsquo auffassen gilt es demnach nicht nur das Pro-blem des dichterischen (und sbquolyrischenlsquo) sbquoIchslsquo in neuem Lichte zubetrachten sondern gleichermaszligen das Problem jener Erzaumlhlun-gen die wir sbquomythischlsquo nennen weil wir an ihrem empirischen Ge-halt zweifeln und sie daher dem Fiktiven zuordnen Der Mythosist in der Anthropologie und Philosophie eine kanonisch gewor-dene moderne Abstraktion Nun existieren aber in Griechenlandwie in anderen traditionellen Kulturen die Mythen nur in dichteri-schen Formen nur die Dichtung laumlsst diese Erzaumlhlungen uumlber dieGoumltter und die heroische Vergangenheit in Gegenwart eines Publi-kums in rituellem sozialem und kulturell gegebenem Rahmen auf-leben9 Das heiszligt dass jedes mythische eacutenonceacute von (verbalen wiesozialen) Regeln des dichterischen Genres bestimmt ist das dieAussage unter seinen jeweiligen Bedingungen realisiert Die fuumlr ge-woumlhnlich rituelle Aussagesituation fuumlgt oft die betreffende dichte-rische Komposition im Moment ihrer Auffuumlhrung in rituelleEhrerbietungen fuumlr einen Gott ein in einem Raum der ihm ge-weiht ist Durch verschiedene Prozeduren enuntiativer Art er-scheint das Gedicht wie ein Gesangs- und folglich wie ein Kult -akt10 Uumlber diesen enuntiativen und performativen Umweg wirdder sbquomythischelsquo reacutecit durch den discours auf das hic et nunc der Auf-fuumlhrung des Gesangs und ihre Umstaumlnde bezogen

Durch die Pragmatik der poetischen Formen erweist sich diesbquoFiktionlsquo des griechischen Mythos als ein viel vermoumlgendes Mittel

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musikalischen und rhythmischen Handelns uumlber die Vermittlungdes Dichters in seiner Eigenschaft als inspirierter σοφς gruumlndetdie Musik ebensosehr auf den kreativen Moumlglichkeiten einer tra-ditionellen dichterischen Sprache wie auf den Prozeduren der enun-tiativen und pragmatischen Bezeichnung wie sie von jeder ge -sprochenen Sprache gewaumlhrleistet ist Wesentlich ist in dieser Hin-sicht die Position die vom sbquoIchlsquo des Sprechers in seiner Rolle alssbquoAussageinstanzlsquo eingenommen wird diese Ich-Position bildetden Aus gangspunkt der Prozeduren der enuntiativen Bezugnahmeunter den Bedingungen der Komposition und der Aussage vondem was im Gedicht spezifisch im mythischen und fiktionalenreacutecit ausgesprochen wird Verbal und poetisch musikalisch undrhythmisch ist dieses sbquoIchlsquo das im Verlaufe der dichterischenKomposition eine beachtliche Ausdehnung erfaumlhrt Die Stimmedieses poetischen sbquoIchlsquo entwickelt sich bisweilen zu einer regel-rechten Polyphonie die in der Praxis der Auffuumlhrung ihren Nie-derschlag findet Das gilt in besonderem Maszlige fuumlr den Fall jenerFormen von Chordichtung die der umfassenden Gattung desμλος angehoumlren und die in etwas voreiliger Weise aufgrund derTatsache dass sich in ihnen ein sbquoIchlsquo findet das allzu schnell undunmittelbar mit dem Autor identifiziert wird mit dem Etikett dessbquoLyrischenlsquo versehen werden

Am einzigartigen Beispiel eines melischen Gedichtes vonPindar das der Gattung der Epinikien zugeordnet wird soll imfolgenden der komplexe Prozess der musikalischen Komposition-performance dargelegt werden der sowohl die dichterische Meta-pher als auch den heroischen reacutecit (den sbquoMythoslsquo) in den Dienst einer rituellen Feier stellt und zwar uumlber den Umweg eines enun-tiativen und pragmatischen Verfahrens von bemerkenswerterDichte

2 Dichterische Bilder und Wirkkraft des Gesangs

Von Parmenides bis Empedokles uumlber Simonides Pindaroder Bakchylides finden sich ungezaumlhlte griechische Dichter vor-klassischer Zeit die sich selbst auf den Streitwagen der Musenoder verwandter Goumlttinnen einladen Die Einladung schreibt sichein in die griechische Poetik der musikalischen Inspiration Siegruumlndet auf einer Metapher die man beispielsweise in der vedi-

11) Parm fr 28 B 11ndash5 Diels Kranz und Emp fr 31 B 33ndash5 Diels Kranzsiehe bei den melischen Dichtern auch Pind Ol 980ndash81 Isthm 861ndash62 etc ZuParmenides siehe den unentbehrlichen Kommentar von G Cerri Parmenide diElea Poema sulla natura Milano 1999 98ndash108 und 166ndash182 zu Empedokles vglA Rosenfeld-Loumlffler La poeacutetique drsquoEmpeacutedocle Cosmologie et meacutetaphore Bern New York 2005 36ndash57 Weitere Anleihen bei der vedischen Poesie sind genannt beiR Nuumlnlist Poetologische Bildersprache in der fruumlhgriechischen Dichtung Stutt-gart Leipzig 1998 255ndash261

12) Φίντις λλ ζεξον -|δη μοι σθένος μιόνων | τάχος φρακελεύθamp τrsquo ν καθαρ( | βάσομεν κχον κωμαί τε πρς νδρν | κα0 γένοςmiddot κε2ναιγρ ξ λ-|λ3ν 4δν 5γεμονεσαι | ταύταν πίστανται στεφάνους ν 7λυμπί8 | πε0δέξαντοmiddot χρ9 τοίνυν πύλας -|μνων ναπιτνάμεν ατα2ςmiddot | πρς Πιτάναν δ= παρrsquoΕρώ-|τα πόρον δε2 σμερον λθε2ν ν Bρ8middot

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schen Dichtung findet In einem metaphorischen Verfahren wirddie Liedkomposition und -auffuumlhrung mit der Teilnahme an einemWagenrennen verglichen Es ist dies die Art und Weise mit derParmenides mithilfe der Toumlchter der Sonne an die Pforte von Tagund Nacht gelangt wo ihn die goumlttliche Gerechtigkeit erwartet esist dies die Art und Weise mit der die Muse die von Empedoklesangerufen worden ist fuumlr den Dichter den fuumlgsamen Wagen lenktder vom Koumlnigreich der Froumlmmigkeit herstammt11 Aber eine Me-tapher die auf einem dynamischen Sprachbild wie jenem des Wa-gens gruumlndet ist nicht den vorplatonischen Denkern vorbehaltendie auf die epische Sprache zuruumlckgreifen sie ist auch bei diversenmelischen Dichtern in Gebrauch ganz besonders in den Gesaumln-gen die den Sieg eines jungen Athleten an den PanhellenischenSpielen feiern in Delphi oder in Olympia aber auch in Nemeaoder am Isthmus von Korinth

In einem Loblied auf den jungen sizilischen Sieger im Wagen-rennen bei den Olympischen Spielen im Jahre 472 oder 468 v Chrvergleicht sbquoPindarlsquo die Komposition seines Gedichts mit dem Er-richten eines Palastes Nachdem er ein eroumlffnendes Lob auf denSieger ausgesprochen hat indem er eine erste Verbindungsliniezwischen Olympia dem Austragungsort der Spiele und Syrakusder Heimatstadt des Siegers gezogen hat nachdem er fuumlr seineLobpreisung des edlen Hagesias die bdquohonigtoumlnendenldquo Musen alsZeuginnen angerufen hat (Ol 61ndash21) schreckt der Sprecher nichtdavor zuruumlck das Maultier-Viergespann das den OlympischenSieg errungen hat mit seinem eigenen Gedicht zu vergleichen(Ol 622ndash28)12

13) Pindar Siegeslieder Griechisch-Deutsch Herausgegeben uumlbersetzt undmit einer Einfuumlhrung versehen von Dieter Bremer Muumlnchen 1992 ndash Zum Vergleichdes Dichters mit dem Athleten bei Pindar vgl D Auger De lrsquoartisan agrave lrsquoathlegravete lesmeacutetaphores de la Creacuteation poeacutetique dans lrsquoeacutepinicie et chez Pindare in M Cos -tantini J Lallot (Hrsg) Le texte et ses repreacutesentations Paris 1987 39ndash56

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Phintis auf spann mir jetztdie Kraft der Maultiere an

so schnell es geht damit wir auf reiner Bahnden Wagen fahren und ich auch zum Ursprung derMaumlnner komme Denn jene Tiere verstehen vor anderen

auf diesem Wege zu fuumlhrenda sie die Kraumlnze in Olympiaerhielten es tut also not die Tore

der Hymnen ihnen zu oumlffnenan den Strom des Eurotas muss ich heute

kommen zur rechten Zeit nach Pitane(Uumlbers Dieter Bremer)13

Und so adressiert derjenige der sbquoIchlsquo sagt in der zweiten Triadedieser sechsten Olympischen Ode direkt den Lenker des Gespannsder Lenker Phintis ist in Olympia der Vertreter von Hagesias demAristokraten aus Syrakus der den Unterhalt des siegreichen Ge-spanns finanziert Der Dichter bittet den jungen Mann die Maul-tiere anzuschirren sie mit seinem Wagen zu lenken und ihnen diebdquoTore der Hymnen zu oumlffnenldquo (V 27) Mit einer Metapher wird dervorliegende Gesang zum Mittel einer Verschiebung deren poeti-scher Ausdruck sich uumlberdies einer starken Wegmetaphorik be-dient (κλευθος V 23 4δς V 25) Aber statt uns von Olympianach Syrakus zu fuumlhren wo uns die enuntiative Bewegung des Ge-dichts zunaumlchst hingebracht hat statt uns an die Staumltte des Siegesund von da an den Ort zu fuumlhren an dem die Siegesfeier stattfin-den duumlrfte bringt uns das Gespann-Gedicht hin an den Eurotas inLakonien ins Staumldtchen Pitane das ein Stadtteil von Sparta ist

Diese unerwartete geographische Verschiebung geht mit einerebenso unerwarteten zeitlichen Bewegung einher vom bdquoheuteldquo(σμερον V 28) das mit der Zeit der eacutenonciation des Liedes (bdquodis-coursldquo) korrespondiert in die unbestimmte Vergangenheit in einenarrative und goumlttliche Zeit (bdquoreacutecitldquo bdquomytheldquo) es ist die Zeit zu

14) Pind Ol 622ndash42 Die umstrittene Frage nach der Datierung und denUmstaumlnden der Auffuumlhrung dieses komplexen Gedichts wird eroumlrtert bei Ch Froi -de fond Lire Pindare Namur 1989 29ndash48 der fuumlr eine Auffuumlhrung des Gedichtsnicht in Syrakus sondern in Stymphale in Arkadien plaumldiert wie nach ihm auchG O Hutchinson Greek Lyric Poetry A Commentary on Selected Larger PiecesOxford 2001 371ndash374 Hierauf wird weiter unten zuruumlckgekommen Zur Sequenzder deiktischen Gesten die den enuntiativen Rahmen dieses Gedichts ausmachenvgl die nuumltzliche Studie von A Bonifazi Mescolare un cratere di canti Alessandria2001 103ndash149

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der Poseidon sich mit der jungen Pitane vereinigt hatte der epony-men Nymphe des spartanischen Staumldtchens14 Fuumlr uns entsprichtdiese Zeit derjenigen des sbquoMythoslsquo

Aus dieser goumlttlichen und geheimen Vereinigung ndash so derFortgang des dichterischen und sbquomythischenlsquo reacutecit ndash geht Euadnehervor sie wurde in Arkadien groszliggezogen nicht weit vom Al -pheios ehe sie ihrerseits vom jungen Gott Apollon verfuumlhrt wirdAus dieser zweiten Liebe eines Gottes mit einer jungen Sterblichengeht Iamos hervor Dieser Heros der ebenfalls in der Naumlhe desAlpheios in arkadischem Gebiet geboren wurde steht am Ur-sprung einer Familie von Sehern den Iamiden doch erweist er sichgleichermaszligen als Vorfahr vaumlterlicherseits des Hagesias von Sy-rakus dem Sponsor des Viergespanns das den Sieg bei den Olym-pischen Spielen errungen hat und das in dieser Epinikie besungenwird Man erfaumlhrt weiter dass er als kleines Kind ausgesetzt undinmitten der Blumen von zwei Schlangen mit Bienenhonig ernaumlhrtwurde Uumlber den Honig mit der Suumlszlige der dichterischen Ver-fuumlhrung assoziiert wird die Stimme von Iamos in die Stimme einesHellsehers verwandelt dies geschieht durch den Willen seinesGroszligvaters Poseidon und ganz besonders durch das Eingreifen sei-nes Vaters Apollon dem Gott des Orakels zu Delphi Der jungeHeros ist also dazu auserkoren diese Gabe inspirierten Hellsehensan seine Nachkommen die Iamiden weiterzuvererben Apoll istes der Iamos dann selbst nach Olympia fuumlhrt inspiriert vom Gottvon Delphi gruumlndet der junge Heros alsdann am Ufer des Alphei-os das Orakel das am Altar des Zeus die Gruumlndung der Olympi-schen Spiele durch Herakles voraussagen wird

Dem siegreichen Gespann aus Syrakus angeglichen zeichnetalso dieses Gedicht eine geographische Kreisbewegung nach In-dem der Beginn in Syrakus eingeklammert wird fuumlhrt uns derWeg der von der Metapher des Wagens gezeichnet wird tatsaumlch-

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lich vom Austragungsort des Wettkampfs in der Naumlhe des Alphei-os hin nach Lakonien und Sparta um uns schlieszliglich uumlber Pisatisund die Grenzen Arkadiens nach Olympia zuruumlckzufuumlhren Die-se geographische Reiseroute ist mit einem zeitlichen Rundgang ge-paart der uns in die Zeit der Aussage (eacutenonciation) zuruumlckfuumlhrtausgehend von diesem hic et nunc hat das Gedicht als Rennwagenzur langen genealogischen Reise in die goumlttliche und heroische Ver-gangenheit der Iamiden und ebenso in die urspruumlngliche und sbquomy-thischelsquo Zeit eines doppelten Gruumlndungsakts angehoben die Ein-richtung des Orakels zu Olympia das von den Nachfahren des Iamos gefuumlhrt wird sowie der Spiele selbst in der Zeit des Hera -kles

bdquo damit wir auf reiner Bahn den Wagen fahren und ich auchzum Ursprung der Familie des Hagesias kommeldquo (V 23) wuumlrdeich also uumlbersetzen Der Anfang dieses zeitlichen Rundgangs (derzugleich seinen Endpunkt darstellen wird) ist von der Alternationder autoreferentiellen Formen im Singular und im Plural (βάσομενim Plural aber κωμαι im Singular in demselben Vers 24) gekenn-zeichnet durch diese Fomen wird die zugleich zeitliche wie raumlum-liche Verschiebung uumlber die Vermittlung des Bilds eines Gespannsvon einer Aussageinstanz aufgenommen die mit einer komplexenKommunikationssituation korrespondiert Das sbquoIchlsquo sbquoWirlsquo desSprechers scheint in der Tat sowohl den Sieger (den Wagenlenkerdes siegreichen Gespanns in Olympia das von Hagesias von Sy-rakus unterhalten wird) als auch den Dichter (Pindar von Thebenden Lenker des Gesangs) und die wahrscheinlich anwesende Chor-gruppe welche den Gesang sbquoPindarslsquo auffuumlhrte in sich zu vereinenIn diesem Stuumlck dichterischer Historiographie geographischer wiegenealogischer Ausrichtung wohnt man der Fahrt des Dichters mitdem Wagenlenker des Hagesias bei auf dem Wagen der zum Ge-dicht geworden ist faumlhrt man mit dem Dichter in Richtung Pitanenach Sparta und durch Arkadien zuruumlck nach Olympia entlangden Ufern des Alpheios und entsprechend in die Zeit des sbquoMy-thoslsquo dieser geographische und historische Rundgang kann nur einmetaphorischer sein Er gehoumlrt ins Reich der Dichtung um nichtzu sagen der poetischen Fiktion

15) ματρομάτωρ μ Στυμ-|φαλίς εανθ9ς Μετώπα | πλάξιππον E ΘήβανHτι-|κτεν τ3ς ρατεινν δωρ | πίομαι νδράσιν αIχματα2σι πλέκων | ποικίλονμνον τρυνον νν Kταίρους |ΑIνέα πρτον μ=ν Mραν | Παρθενίαν κελαδNσαι |γνναί τrsquo Hπειτrsquo ρχα2ον νειδος λαθέσιν | λόγοις εI φεύγομεν Βοιωτίαν Pν | σσ0γρ Qγγελος Rρθός | Sϋκόμων σκυτάλα Μοι-|σ3ν γλυκUς κρατ9ρ γαφθέγκτωνοιδ3ν

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3 Enuntiative und pragmatische Polyphonie

Die metaphorische Reiseroute die vom Gedicht als Wagengezeichnet wird betrifft also ebenso den Dichter wie seine Dich-tung dies gilt um so mehr als der Sprecher gegen Ende der Odenicht mehr den jungen Lenker des maumlchtigen Hagesias von Sy-rakus sondern in der Manier des Echos einen gewissen Aineiasadressiert da der Stil dieser Verse so dicht ist (Ol 684ndash91) erweistsich seine Verortung als schwierig15

Meine Ahnmutter ist aus Stymphalosdie wohlbluumlhende Metope

welche die pferdestachelnde Thebe gebar deren liebliches Wasser

ich trinke der ich speerkaumlmpfenden Maumlnnern flechteeinen bunten Hymnos Treib nun die Gefaumlhrten Aineias zuerst Hera

die jungfraumluliche zu besingenum dann zu erkennen ob wir mit wahren Wortendem alten Schimpfwort sbquoboiotische Saulsquo entgehen

Du bist naumlmlich ein rechter BoteBriefstab der schoumlnhaarigen Musen

suumlszliger Mischkrug starktoumlnender Gesaumlnge(Uumlbers Dieter Bremer)

bdquoRechter Boteldquo bdquoBriefstab der schoumlnhaarigen Musenldquo (V 90ndash91)Der junge Mann ist niemand Geringeres als der Repraumlsentant desDichters Ihm ist die Aufgabe uumlberantwortet jetzt (νν) seine Ge-faumlhrten (Kτα2ροι V 87) dazu einzuladen die Goumlttin Hera Partheniazu besingen der in Stymphale in Arkadien gehuldigt wird Im Ver-such der antiken Kommentatoren diese schwierige Passage in dieentsprechende institutionelle Begrifflichkeit zu uumlbertragen heiszligtdas dass es diesem jungen Chorleiter angetragen wird die Cho-

16) Pind Ol 682ndash99 mit Scholion ad V 149a (I S 188 Drachmann) DieRolle des jungen Aineias ist treffend charakterisiert bei Bonifazi (wie Anm 14) 133ndash143 vgl zur Ergaumlnzung die skeptischen Bemerkungen bei M Heath Receiving theKocircmos The Context and Performance of Epinician AJPh 109 1988 180ndash195 undM Lefkowitz The First Person in Pindar Reconsidered ndash Again BIClS 40 1995139ndash150 (mit umfassender Bibliographie) Zur Syntax dieser umstrittenen Passagevgl den nuumltzlichen Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 413ndash415

17) Zu dieser Anspielung auf die Auffuumlhrung des Gedichts in einem Momentder Inspiration und Komposition den die intentionale und sbquoperformativelsquo Form desFuturs mit dem Moment seiner Ausfuumlhrung als Gesangsvortrag korrespondierenlaumlsst siehe besonders G B DrsquoAlessio Past Future and Present Past Temporal Dei-xis in Greek Archaic Lyric Arethusa 37 2004 267ndash294 (289ndash290)

Das poetische Ich 137

reuten zu trainieren die Choreuten werden zum Sprachrohr desDichters jetzt in dem Augenblick der mit der Auffuumlhrung derEpinikie zusammenfaumlllt und an einem Ort den man mit dem ar-kadischen Stymphale identifizieren wollte16

In den Versen nun die dieser Aufforderung an den jungenChorleiter unmittelbar vorausgehen nennt der Sprecher undDich ter sein Vorhaben vom lieblichen Wasser der Quelle Metopezu trinken (πίομαι V 86) und zwar in einer Form des sbquoperforma-tivenlsquo Futurs die den Moment der dichterischen Inspiration mitder Auffuumlhrung der Epinikie zusammenfallen laumlsst17 In einemabermaligen geographisch-genealogischen Rundgang der eineneue Reise in die heroische Zeit des sbquoMythoslsquo darstellt wird of-fenbar dass der Name sbquoMetopelsquo dem Namen einer Nymphe ausStymphale in Arkadien entspricht Ihre Mutter ist niemand ande-res als Thebe und Thebe wiederum ist die eponyme Nymphe vonTheben in Boumlo tien der Heimat des Dichters Vom noch unbe-stimmten Ort der Aussage (eacutenonciation) und des Vortrags des Gedichts sind wir demnach enuntiativ nicht mehr zum Ort derAustragung der Spiele und ihrer Gruumlnder gelangt sondern in eineGegend die benachbart ist dem Ursprungsort der Familie der Iamiden und demnach der Familie des Hagesias wahrscheinlich ineiner Anspielung auf seine Ahnenschaft muumltterlicherseits Dannwerden wir vom Arkadien der Iamiden wiederum nicht an denOrt der Auffuumlhrung sondern an den Ort der Komposition desGedichts geleitet nach Theben in die Heimat Pindars Und in derTat ist es der Inspiration die er bei der Quelle der Metope bdquomei-ner Ahnmutterldquo (V 84) gefunden hat zu verdanken dass der

18) Die Beziehung die der Dichter zwischen seiner Heimat Theben und demStammbaum der Iamiden herstellt ist nachgezeichnet bei L Kurke The Traffic inPraise Pindar and the Poetics of Social Economy Ithaca London 1991 147ndash149ferner Hutchinson (wie Anm 14) 410ndash413 Zu den verschiedenen Metaphern wel-che die dichterische Inspiration mit dem Erguss einer Fluumlssigkeit assoziieren sieheNuumlnlist (wie Anm 11) 195ndash199 (vgl ferner zur Kunst des Webens 110ndash118 sowieJ Scheid J Svenbro Le meacutetier de Zeus Mythe du tissage et du tissu dans le mon-de greacuteco-romain Paris 1994 119ndash130)

19) Vgl Scholia ad V 148a und 148c (I S 187 Drachmann) Vgl dazuV Vigneri Il coro dellrsquoepinicio pindarico negli scholia vetera QUCC 95 2000 87ndash103

20) Ergaumlnzend zu den Ausfuumlhrungen von Lefkovitz (wie Anm 16) sei z Bauf die hervorragenden Bemerkungen bei G B DrsquoAlessio First-Person Problems inPindar BIClS 39 1994 117ndash139 verwiesen

Claude Ca lame138

Dichter seither in einer weiteren in der melischen Dichtung haumlu-fig auftretenden Metapher befaumlhigt ist bdquoeinen bunten Hymnos zuflechtenldquo (πλέκων V 86ndash87)18

Zugunsten dieser zweiten (teilweise impliziten) Ruumlckkehr zuden Orten und Zeiten der sbquomise en discourslsquo und der Auffuumlhrungdes Gedichts wohnen wir dank der abermaligen geographischenund genealogischen (und vom Sprecher als sbquomythischlsquo vorgestell-ten) Reise der subtilen bildreichen und poetischen Entfaltung ei-nes enuntiativen Spiels bei dieses Spiel ist in der melischen Dich-tung haumlufig anzutreffen insbesondere in den Epinikien Pindarsund des Bakchylides Dieses Verfahren der sbquochorischen Delegationlsquolaumlsst in seiner Polyphonie eine Abloumlsung der Stimme des Dichter-Komponisten durch die Stimme der chorischen Gruppe zu die denGesang vortraumlgt Es uumlberrascht daher wenig dass die antikenKommentatoren den jungen Aineias als χοροδιδσκαλος bezeich-nen19 Dieser Leiter des Chors fungiert als Vermittler zwischen derinspirierten Stimme des Sprecher-Ichs und der Chor-Stimme derjungen Saumlnger welche die Auffuumlhrung des Gedichts uumlbernimmtAuf extradiskursiver Ebene wiederum dient Aineias als Vermittlerzwischen dem Autor und Komponisten des Gedichts (in Theben)und der chorischen Gruppe Ausfuumlhrender die in einem rituellenTanz singen (wahrscheinlich in Syrakus) Diese bemerkenswerteenuntiative Polyphonie macht den Streit um die Natur des sbquolyri-schen Ichslsquo in den Epinikien Pindars in vielerlei Hinsicht uumlberfluumls-sig Weder nur sbquomonodischlsquo noch ausschlieszliglich chorisch ist dassbquoIchlsquo sbquoWirlsquo des Sprechers wesentlich polyphon20

21) Zum pejorativen Sinn dieser sprichwoumlrtlichen Wendung unter Einbezugder bdquoPoetik des Tadelsldquo vgl den Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 416ndash417

22) Hier sei auf die verschiedenen Stellen verwiesen die ich in Pragmatiquede la fiction quelques proceacutedures de deixis narrative et eacutenonciative en comparaison(poeacutetique grecque) in J-M Adam U Heidmann (Hrsg) Sciences du texte et ana-lyse de discours Enjeux drsquoune interdisciplinariteacute Lausanne Genegraveve 2005 119ndash143 angefuumlhrt habe zur prozessionalen Dimension des κμος siehe insbesondereK A Morgan Pindar the Professional and the Rhetoric of the kocircmos CPh 88 19931ndash15

23) Vgl die bei Vigneri (wie Anm 19) 97ndash100 angefuumlhrten Stellen sowieC Carey The Victory Ode in Performance The Case for the Chorus CPh 86 1991192ndash200

Das poetische Ich 139

So erklaumlrt sich warum einerseits paradoxerweise der Wunschdem Vorwurf zu entgehen (φεύγομεν V 90) eine bdquoboiotische Sauldquo21

zu sein in der ersten Person Plural gehalten ist der Wunsch beziehtsich nicht nur auf die vom Dichter der Epinikien haumlufig bemuumlhtePoetik der Wahrheit sondern auch auf seinen thebanischen unddemnach boumlotischen Ursprung Andererseits ist es der ChorleiterAineias dem angetragen wird sei es den Musen sei es seinen Cho-reuten zu sagen (εWπον V 92) sie moumlgen sich erinnern und daherzugleich Syrakus und Ortygia hochleben lassen Hinsichtlich derAussage uumlberlagern sich hier durch verschiedene grammatikali-sche wie explizite delegative Bewegungen die Stimme des Dich tersund jene des χοροδιδσκαλος und der chorischen Gruppe

Infolgedessen stuumltzt sich der Uumlbergang von der Metapherzur Realitaumlt der Auffuumlhrung von Pindars Gedicht an seinem Aus-gang nicht mehr auf das Bild des Gespanns sondern auf jenes desκμος (V 98) Bild eines prozessionalen Umzugs wie er bei Pin-dar haumlufig anzutreffen ist22 In den letzten Versen der sechstenOlympischen Ode wird das Gedicht das in seiner Auffuumlhrung be-griffen ist zum prozessionalen Gesang der den siegreichen Ha-gesias aus Syrakus feiert Die antiken Kommentatoren zeigen hierkeine Zuruumlckhaltung κμος und κωμζειν werden regelmaumlszligig alsχορς und χορεXειν erklaumlrt23 In der Tat wird der Tyrann von Sy-rakus Hieron dazu eingeladen den jungen Aristokraten abzu-holen der von dem Ort herkommt wo das Gedicht ihn gelassenhatte in Stymphale Ritueller Empfang anlaumlsslich einer Kultfeier(KορτY V 95) zu Ehren von Demeter und ihrer Tochter Perse-phone die von Aineias gefeiert werden soll wahrscheinlich mit-

24) Die dreifache Ringstruktur die in dieser letzten Ruumlckkehr nach Syrakusendet ist beschrieben bei Froidefond (wie Anm 14) 45ndash48 Zu dieser dichterischenRundreise siehe die glaumlnzende Deutung von S Goldhill The Poetrsquos Voice Essays onPoetics and Greek Literature Cambridge 1991 154ndash166

Claude Ca lame140

hilfe der Musen man wird sich in Erinnerung rufen dass Mutterund Tochter zwei Schutzgottheiten der Stadt sind und dass dieFamilie des Hieron wahrscheinlich das entsprechende Priesteramtinnehatte Durch und in dem prozessionalen Gesang fuumlhrt unsder κμος demnach von Arkadien und spezifisch von Stympha-le unweit der Heimat der Iamiden sowie von Theben der Hei-mat des Dichters hin zum Ort und in die Zeit der Auffuumlhrungdes Gedichts dieser Ort so stellt es sich jetzt heraus ist SyrakusDer abschlieszligende Aufruf zur Gastfreundschaft an den Tyrannenvon Syrakus wie auch eine erste Anspielung zu Beginn des Ge-dichts auf den bdquoMann aus Syrakus den Herrn des Festzugsldquo(V 18) bestaumltigen uumlber den Umweg einer Ringkomposition dassdiese glaumlnzende sizilische Stadt die Auffuumlhrung der von Pindarkomponierten Epinikie erhaumllt24

Ο[κοθεν ο[καδε bdquovon Hause nach Hausldquo (V 99) Gedoppeltdurch eine deiktische Geste die einer bdquoDemonstratio ad oculosldquoentspricht scheint diese letzte raumlumliche Bewegung von der einenHeimat in die andere die doppelte Zugehoumlrigkeit der Familienmit-glieder des Hagesias nachzuvollziehen leiten sie sich einerseits vonden arkadischen Iamiden her sind sie andererseits aber Buumlrger vonSyrakus Wie auch immer ndash diese Bewegung zuruumlck nach Syrakusist geweiht durch die Invokation des Gottes Poseidon zum Ge-dicht-Ende Uumlber die Metapher des Schiffs und seiner beiden An-ker wird der Gott ebenso zum Garanten der doppelten Herkunftdes Hagesias der aus Arkadien und aus Syrakus stammt wie auchder Rundreise des Gedichts in seiner Auffuumlhrung von Thebennach Stymphale nach Syrakus Es ist keineswegs ein Zufall wenndas Gedicht mit der Bitte an den Gemahl der Amphitrite bdquomeineHymnenldquo (V 105) bluumlhen zu lassen schlieszligt finale Ruumlckkehr zurAussageinstanz

Herr Meeresgebieter Gerade Fahrt von Erschoumlpfun-genfern gib Gatte der Amphitrite

25) δέσποτα ποντόμεδον εθUν δ= πλόον καμάτων | κτς όντα δίδοιχρυσαλακάτοιο πόσις | μφιτρίτας μν δrsquo -|μνων Qεξrsquo ετερπ=ς Qνθος

Das poetische Ich 141

der mit der goldenen Spindel und lass meine Hymnenwachsen zu wohlerfreulicher Bluumlte

(Ol 6103ndash105 Uumlbers Dieter Bremer)25

4 Der poetische Apparat der eacutenonciation

Dargestellt als rein metaphorischer Wagen wenn es darum zutun ist mit dem Wettbewerb der vom Kutscher und seinem Ge-spann dargestellt wird die geographische und genealogische Her-kunft (Arkadien und Olympia) der siegreichen Familie nachzu-vollziehen realisiert sich der Gesang zuletzt in seiner chorischenund prozessionalen Identitaumlt im Bilde des κμος aufgefuumlhrt in Sy-rakus fuumlhrt dieses Chorgedicht genealogisch zuruumlck nach Thebenin die Heimat Pindars So fokussiert das doppelte Bild des Ge-spanns und der Prozession die Komposition des Thebaners Pindarim hic et nunc seiner Auffuumlhrung weder in Olympia dem Ort desathletischen Sieges und dem Orakelwesen der Iamiden noch inStymphale dem Ort der Vorfahren muumltterlicherseits des Hagesias(und moumlglicherweise der Heimat des Aineias) noch in Thebender Heimat Pindars und dem Ort an dem das Gedicht geschaffenwurde sondern in Syrakus anlaumlsslich einer kultischen Feier Bleibtdie geographische und genealogische Rundreise die dem sprach -lichen Gespann zugeschrieben wird poetisch und metaphorischso wird jene die als rituelle Prozession vorgestellt ist Realitaumlt nachdem genealogischen Umweg uumlber die Nymphe Thebe und Thebenin Boumlotien stimmen die Zeit und der Ort der narrativen und dis-kursiven Realisierung des Gedichts mit dem sbquoHierlsquo und dem sbquoJetztlsquoseiner Auffuumlhrung uumlberein ndash einem hic et nunc das an der Aus-sageinstanz orientiert ist

Im dichterischen sbquoIchlsquo konvergieren demnach am Ende dergesungenen Komposition die enuntiative Stimme des inspiriertenDichters die Chorstimme der Darsteller des κμος und die Stim-me ihres χοροδιδσκαλος Die bemerkenswerte semantische Aus-dehnung dieses sprachlichen und poetischen sbquoIchslsquo ist wesentlichpolyphon Aber dank der zeitlichen und insbesondere der raumlum -lichen Markierungen die wir bemerkt haben (Syrakus Sparta

26) Damit moumlchte ich dem Prinzip widersprechen auf dem die sbquokritischelsquophilologische Hermeneutik beruht und das immer wieder von Jean Bollack heftigverfochten wird zum Beispiel in seinem juumlngsten Essay Parmeacutenide de lrsquoeacutetant aumonde Lagrasse 2006 11ndash19

Claude Ca lame142

Olympia Arkadien Stymphale Theben) dank der (etwas parado-xen) geographisch-genealogischen Rundreise auch durch die fikti-ven Orte und Zeiten der Gruumlndungsmythenlsquo erhaumllt diese poly-phone Aussageinstanz eine praumlzise extradiskursive Dimension

hinsichtlich sbquoIchlsquo sbquoWirlsquondash Pindar von Theben in seiner Funktion als

inspirierter Dichter und Lehrer der Wahrheitndash Aineias (aus Stymphale) als χοροδιδσκαλοςndash die jungen Choreuten aus Syrakusndash schlieszliglich das Gedicht selbst (objektiviert im

sbquoEslsquo uumlber die Angleichung an das Maultiergespann)hinsichtlich sbquoDulsquo

ndash Hagesias der Arkadier aus Syrakusndash Phintis der Wagenlenker aus Syrakusndash Hieron der Tyrann von Syrakusndash Poseidon der Herr des Meeres

Der polyphonen Komplexitaumlt der Aussageinstanz mit ihrersemantischen Ausdehnung und diskursiven Vielschichtigkeit ent-spricht eine einzigartig ausdifferenzierte bdquofonction-auteurldquo Uumlberdie Metapher des Wagens und uumlber das Bild des κμος als prozes-sionalen und rituellen Gesangs wird sie auf die Auffuumlhrung des Ge-dichts bezogen

Damit haben wir uns weit von der romantischen Auffassungeines sbquolyrischen Ichslsquo entfernt von dem man sich einen unmittel-baren sprachlichen Ausdruck der persoumlnlichen Empfindungen desDichter-Schriftstellers und demnach vom biographischen Dichterverspricht auch weit entfernt von der Intentionalitaumlt eines Dich-ter-Individuums eines autonomen kreativen Subjekts das mit derdichterischen Tradition in die es sich einschreibt gebrochen haumlt-te26 Obwohl er unbestreitbar vorhanden ist wird der Wille derdichterischen Schoumlpfung gefiltert durch eine traditionelle dichte -rische Diktion durch die Regeln der Gattung durch die Erfor-dernisse des rituellen Anlasses durch die Verdopplung in der poe-

Das poetische Ich 143

tischen performance der bdquofonction-auteurldquo durch enuntiativeStrategien dichterischer Ordnung

Besonders im hier gewaumlhlten Beispiel stuumltzt sich das meta-phorische poetische Spiel auf das Gedicht als Objekt in seiner raumlumlichen Verschiebung (was wiederum die Teilnahme am sport-lichen Wettkampf symbolisiert) um dessen Bewegung auf den Ge-sang und den dichterischen und musikalischen Wettkampf zuuumlbertragen der im Gedicht durch ein komplexes enuntiatives Spieldargestellt wird mit diesem Dreh enuntiativer und spazio-tempo-raler Pragmatik wird das Bild des Sieges im Wettkampf auf das hicet nunc der rituellen performance des Gesangs verlagert der von ei-nem polyphonen sbquoIchlsquo auszligergewoumlhnlicher Dichte ausgetragenwird Dieses In-Bewegung-Setzen des Gesangs mittels eines Bildesist zentral in den Gedichten die uns nicht nur konkret in die Zeitund den Raum der sbquomythischenlsquo Gruumlndungsakte einfuumlhren und alspragmatisches kulturelles Gedaumlchtnis fungieren sondern die sichauch uumlber zahlreiche autoreferentielle Interventionen als Ge-sangs-Akte praumlsentieren speech-acts die uumlber enuntiative Bezug-nahmen auf die musikalische Aktivitaumlt die von denjenigen die dasGedicht auffuumlhren ausgeuumlbt wird zu song-acts werden In demMaszlige in dem ihre sbquoDurchfuumlhrunglsquo gewoumlhnlich in eine rituelle Feier fuumlr die Schutzgottheit einer Stadt eingebettet ist sind dieseGesangs-Akte auch cult-acts kultische Handlungen Was die Epi-nikie betrifft so ist ihre religioumlse und politische Aufgabe nicht nurdie Erinnerung an die aristokratische Familie aus welcher der Sie-ger an den panhellenischen Spielen stammt zu bereichern sondernauch das kollektive Gedaumlchtnis des staumldtischen Verbands dem erangehoumlrt lebendig zu erhalten Dies alles vollzieht sich in aus-drucksvollen sprachlichen Bildern die durch den sbquopoetischen Ap-parat der Aussagelsquo des rituellen Gesangs Entfaltung und Wirksam-keit finden

Im archaischen und klassischen Griechenland ist die ars scri-bendi eine ars canendi

Paris Claude Ca lame

Page 2: DAS POETISCHE ICH Enuntiative und ... - rhm.uni-koeln.de · PDF fileder in der ersten Aufsatzsammlung der Problèmes de linguistique générale ... E.Benveniste, Problèmes de linguistique

2) E Benveniste Die Tempusbeziehungen im franzoumlsischen Verb in Pro-bleme der allgemeinen Sprachwissenschaft aus dem Frz von W Bolle Muumlnchen1974 264ndash279 (Zitat 266) Urspruumlngliche frz Fassung in Bulletin de la Socieacuteteacute deLinguistique 54 1959 fasc 1 wieder abgedruckt in Problegravemes de linguistiquegeacuteneacuterale Paris 1966 237ndash250

Claude Ca lame126

1 Die Strategien der poetischen Aussage

Um die Gefahren der Doxa zu umgehen und um eine kriti-sche Position einzunehmen ist es lohnenswert bei der Arbeit andiesen Texten auf die von Emile Benveniste vorgebrachte kano-nisch gewordene Unterscheidung zwischen histoire (oder reacutecit)und discours zuruumlckzugreifen In einem Artikel aus dem Jahr 1959der in der ersten Aufsatzsammlung der Problegravemes de linguistiquegeacuteneacuterale (Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft) im mitbdquoLrsquohomme et la langueldquo (bdquoDer Mensch in der Spracheldquo) betiteltenTeil wieder abgedruckt wurde schreibt sich die Unterscheidungzunaumlchst ein in eine Linguistik des discours die dazu bestimmtwird der Pragmatik besonderes Gewicht zuzumessen eine Lin-guistik die sich von nun an als Geisteswissenschaft verstanden wis-sen will

In einem Kapitel in dem er die Klassifikation grammatikali-scher Tempora im zeitgenoumlssischen Franzoumlsisch kritisch befragtstellt Benveniste fest

Die historische Aussageform die heute der Schriftsprache vorbehaltenbleibt kennzeichnet den Bericht vergangener Ereignisse Diese dreiBegriffe sbquoBerichtlsquo sbquoEreignislsquo sbquoVergangenheitlsquo sind ebenfalls zu unter-streichen Es handelt sich um die Darstellung von Tatsachen die sichin einem bestimmten Augenblick der Zeit ereigneten ohne irgendeineIntervention des Sprechers im Bericht ( ) Wir wollen den histori-schen Bericht als den Aussagemodus definieren der jede sbquoautobiogra-phischelsquo Sprachform ausschlieszligt Der Historiker wird niemals wederich noch du noch hier noch jetzt sagen weil er sich niemals des for-malen Apparats des Diskurses bedient der zunaumlchst in der Personen-beziehung ich du besteht2

Wenn Benveniste seine Aufmerksamkeit in dieser ersten Studieganz der historischen Aussage in ihrer narrativen Dimension wid-met so sind die beiden Folgekapitel im betreffenden Teil der Pro-bleme der allgemeinen Sprachwissenschaft der bdquoNatur der Prono-menldquo und der bdquoSubjektivitaumlt in der Spracheldquo zugedacht Hier stoumlszligtman auf eine ganze Reihe von Uumlberlegungen und Fragen hinsicht-

3) Benveniste (wie Anm 2) 279ndash286 (Die Natur der Pronomen) und 287ndash297 (Uumlber die Subjektivitaumlt in der Sprache) (Zitat 280)

4) E Benveniste Problegravemes de linguistique geacuteneacuterale II Paris 1974 79ndash88(Der entsprechende Artikel ist erstmals erschienen in Langages 17 1970 12ndash18)Auf dieser theoretischen Grundlage habe ich in Le reacutecit en Gregravece ancienne Eacutenon-ciations et repreacutesentations de poegravetes Paris 2002 (2 Aufl) 17ndash85 (Engl Uumlberset-zung The Craft of Poetic Speech in Ancient Greece Ithaca London 1995 3ndash59)einige Thesen zur Pragmatik der griechischen Dichtung formuliert

Das poetische Ich 127

lich der bdquoRealitaumltldquo zu der sich die Ausdruckformen von sbquoIchlsquo odersbquoDulsquo in jeder bdquoDiskursinstanzldquo (bdquoinstance de discoursldquo) in Bezie-hung setzen d h in jedem einzelnen Akt in dem bdquodas Sprach -system von einem Sprecher als Sprachverwendung aktualisiertwirdldquo3 Daher ist das fundamentale Prinzip das demzufolgesprachlich ausgedruumlckte sbquoIchlsquo in seiner Eigenschaft als Pronomenausschlieszliglich auf eine bdquoRealitaumlt des Diskursesldquo auf eine Realitaumltder Rede auf eine sprachliche Realitaumlt zu beziehen bdquoIch bedeutetsbquodie Person welche die gegenwaumlrtige Diskursinstanz die ich ent-haumllt aussagtlsquo ldquo dementsprechend hat bdquodie Form ich sprachlicheForm nur in dem Sprechakt der sie vortraumlgtldquo4

So zeichnet sich in praktisch impliziter Weise die essentielleUnterscheidung ab zwischen dem sbquoIchlsquo das qua pronominale undverbale Form nur eine Existenz und einen Verweischarakter lingui-stischer Art hat auf der einen Seite und dem Sprecher (bdquolocuteurldquoso Benveniste etwas irrefuumlhrend) oder vielmehr dem bdquoAussagen-denldquo (bdquoeacutenonciateurldquo) der das (psycho-soziale) Subjekt des Sprech -aktes ist auf der anderen Seite Sind sie auch nur als bdquoKategorien derSpracheldquo zu betrachten so sind sbquoIchlsquo und sbquoDulsquo nichtsdestowenigerGegenstand einer raumlumlichen wie zeitlichen Markierung Diese Markierung entspricht den linguistischen und enuntiativen Para -metern von sbquoHierlsquo und sbquoJetztlsquo Aus diesen ersten Feststellungen diesich der Unterscheidung von histoire reacutecit und discours verdan-ken geht zunaumlchst hervor was Benveniste wenig spaumlter das bdquofor-male System der Aussageldquo oder bdquoden formalen Apparat des Dis-kursesldquo (bdquoappareil formel de lrsquoeacutenonciationldquo) nennen wird Von reinsprachlicher Natur findet sich im Zentrum dieses Systems ego dasdurch zeitliche wie raumlumliche bdquoIndikatoren der Deixisldquo definiert ist Auszligerdem fuumlhren diese grundlegenden Feststellungen bezuumlg-lich der Indices der Aussage oder Aumluszligerung (eacutenonciation) die vomAusgesagten oder Geaumluszligerten (eacutenonceacute) unterschieden wird zur Skizze einer Theorie der Sprechhandlungen (speech-acts) Diskurs -

5) Benveniste (wie Anm 2) 2966) K Buumlhler Sprachtheorie Die Darstellungsform der Sprache Jena 1934

102ndash148

Claude Ca lame128

instanzen die Formen in der ersten Person enthalten wie etwa sbquoichschwoumlrelsquo oder sbquoich versprechelsquo verweisen auf Ausgesagtes oderGeaumluszligertes (eacutenonceacute) bei dem bdquodie Aussage (sc eacutenonciation) mit derHandlung selbst zusammen[faumlllt]ldquo5

Wiewohl selbst ein Vorreiter ignoriert Benveniste die Arbei-ten und das bedeutende Buch seines geistigen Vorgaumlngers KarlBuumlhler Seit 1934 widmete der deutsche Linguist mehrere Kapitelseiner Sprachtheorie den verschiedenen Prozessen sprachlichenZeigens unter dem Einsatz von Anaphora und Demonstrativa

Den Rahmen einer Satz-Linguistik sprengend entdeckte er soin jeder Form von Diskurs ein bdquoHier-Jetzt-Ich-Systemldquo dessenAusgangspunkt im sprachlich ausgedruumlckten sbquoIchlsquo und seinen ver-schiedenen Formen besteht Dieses System das ein bdquoZeigfeldldquostrukturiert entfaltet sich dank der Potentialitaumlten der Spracheauf zwei Ebenen zum einen unter Bezugnahme auf das was dieSprecher (die Aussagenden) vor Augen haben (durch extradiskur-sive Vorgaumlnge deiktischen Verweisens) zum anderen durch einenAppell an das innere Auge und Ohr des Lesers oder Houmlrers (durchdie Vorgaumlnge intradiskursiven Zeigens anaphorischer und kata-phorischer Ordnung) Die Vorgehensweisen der bdquoDemonstratio adoculosldquo vereinen sich demnach in praktisch jeder Form von dis-cours mit den Vorgehensweisen der bdquoDeixis am Phantasmaldquo6

Unter dem Blickwinkel der Interferenz betrachtet erweistsich die (operative) Unterscheidung zwischen bdquoDeixis am Phan -tasmaldquo und bdquoDemonstratio ad oculosldquo dort als essentiell wo die-selben Demonstrativa wie etwa im Griechischen jene auf -δε evozieren was im und durch den discours (durch Anapher und Katapher) kreiert wird sich zugleich aber auf die extra-linguisti-sche Realitaumlt beziehen koumlnnen Eine solche doppelte Moumlglichkeitsowohl der internen als auch der externen Referenz mit ein unddemselben Demonstrativum laumlsst die Unterscheidung zwischendiscours und histoire reacutecit freilich als bruumlchig erscheinen sie bestaumltigt die Durchlaumlssigkeit zwischen dem Intra- und dem Ex -tra-Diskursiven indem sie zum Beispiel der Fiktion in deren Eigenschaft als moumlglicher Welt jeden Anspruch auf semantischeAutonomie entzieht Es empfiehlt sich demnach die moumlgliche

7) Eine Darstellung und Auswertung des operativen Nutzens des Begriffsbdquofonction-auteurldquo fuumlr verschiedene antike Diskursformen findet sich bei C Ca -lame R Chartier (Hrsg) Identiteacutes drsquoauteur dans lrsquoAntiquiteacute et la tradition eu-ropeacuteenne Grenoble 2004

8) Zu diesen Unterscheidungen vgl meine einfuumlhrenden Bemerkungen zuMasques drsquoautoriteacute Fiction et pragmatique dans la poeacutetique grecque antique Paris2005 13ndash40 (engl Uumlbersetzung Masks of Authority Fiction and Pragmatics in An-cient Greek Poetics Ithaca London 2005 1ndash16)

Das poetische Ich 129

Kombination der beiden Prozeduren der bdquoDeixis am Phantasmaldquound der bdquoDemonstratio ad oculosldquo von der Ebene des reacutecit auf jenedes discours zu uumlbertragen

Dieser doppelte Bezeichnungsvorgang der sich an die Vor-stellungskraft zu wenden und zugleich die extralinguistische Rea-litaumlt zu bezeichnen vermag betrifft ebenso was ich die bdquoAussa -geinstanzldquo (bdquoinstance drsquoeacutenonciationldquo) nenne also das sbquoIchlsquo mitsamtseinen raumlumlichen wie zeitlichen Parametern im System ego tu ndashhic ndash nunc

Das heiszligt dass sich vor jeder extradiskursiven Bezugnahmeim discours mit linguistischen Mitteln eine Autorfigur konstruiertdie rein verbaler Natur ist Die Figur des Erzaumlhlers oder genauerdes Sprecher-Ichs das haumlufig einem Gespraumlchspartner-Du gegen -uumlbergestellt ist (auch dies eine rein verbale Figur) Diese Figur diesich in einer enuntiativen Haltung herausbildet und die mit einemdiskursiven Ethos ausgestattet wird verweist nur mittelbar zu -naumlchst auf den in seiner institutionellen Funktion erfassten AutorDieser definiert sich in seiner Eigenschaft als soziale Figur durchseine bdquofonction-auteurldquo um eine von Michel Foucault vorgebrach-te Idee aufzugreifen Wer aber im Falle der griechischen Dichtungvon bdquofonction-auteurldquo spricht sagt gleichzeitig bdquofonction-exeacute-cutantldquo da die dichterische performance von Darstellern an einemrituellen Anlass uumlbernommen wird Von Aoumlden oder RhapsodenChoreuten Schauspielern eines tragischen oder komischen Dra-mas usw7 Nur uumlber diesen zunaumlchst diskursiven dann institutio-nellen Umweg verweist die Figur des Sprecher-Ichs letztlich aufden Autor in der historischen Realitaumlt mit seiner Intentionalitaumltund Kreativitaumlt (einer Kreativitaumlt die je nach Betrachtungsweise inpsychologischen psychoanalytischen mentalen kognitiven neu-ronalen oder sozialen Kategorien gefasst werden kann)8

Wichtig ist die Vermengung der Perspektive die Benvenistemit seiner Erforschung der Aussage eroumlffnet die er zwischen reacutecit

9) Ich erlaube mir hier abermals einen Verweis auf meine einfuumlhrenden Bemerkungen zu Poeacutetique des mythes dans la Gregravece antique Paris 2000 11ndash69Vgl jetzt auch Mythos musische Leistung und Ritual am Beispiel der melischenDichtung in A Bierl R Laumlmmle K Wesselmann (Hrsg) Literatur und ReligionWege zu einer mythisch-rituellen Poetik bei den Griechen Band I Berlin NewYork 2007 179ndash210

10) Fuumlr all diese sbquoperformativenlsquo Aspekte der griechischen Dichtung zumalwenn es sich um Chordichtung handelt siehe die nuumltzliche Darstellung bei A BierlDer Chor in der alten Komoumldie Ritual und Performativitaumlt Muumlnchen Leipzig2001 11ndash64

Claude Ca lame130

(eacutenonceacute) und discours (eacutenonceacute de lrsquoeacutenonciation) verortet mit derPerspektive von Buumlhler in Bezug auf die Prozeduren der Deixisderen Brennpunkt das diskursive sbquoIchlsquo ist sie hat einen Einflussnicht nur auf die Konzeption des Autors und seiner dichterischenAutoritaumlt sondern auch auf jene der Fiktion und des sbquoMythoslsquo inihrer diskursiven Dimension Im Falle der Dichtung des klassi-schen Griechenlands die wir trotz ihres stark pragmatischen Cha-rakters als sbquoLiteraturlsquo auffassen gilt es demnach nicht nur das Pro-blem des dichterischen (und sbquolyrischenlsquo) sbquoIchslsquo in neuem Lichte zubetrachten sondern gleichermaszligen das Problem jener Erzaumlhlun-gen die wir sbquomythischlsquo nennen weil wir an ihrem empirischen Ge-halt zweifeln und sie daher dem Fiktiven zuordnen Der Mythosist in der Anthropologie und Philosophie eine kanonisch gewor-dene moderne Abstraktion Nun existieren aber in Griechenlandwie in anderen traditionellen Kulturen die Mythen nur in dichteri-schen Formen nur die Dichtung laumlsst diese Erzaumlhlungen uumlber dieGoumltter und die heroische Vergangenheit in Gegenwart eines Publi-kums in rituellem sozialem und kulturell gegebenem Rahmen auf-leben9 Das heiszligt dass jedes mythische eacutenonceacute von (verbalen wiesozialen) Regeln des dichterischen Genres bestimmt ist das dieAussage unter seinen jeweiligen Bedingungen realisiert Die fuumlr ge-woumlhnlich rituelle Aussagesituation fuumlgt oft die betreffende dichte-rische Komposition im Moment ihrer Auffuumlhrung in rituelleEhrerbietungen fuumlr einen Gott ein in einem Raum der ihm ge-weiht ist Durch verschiedene Prozeduren enuntiativer Art er-scheint das Gedicht wie ein Gesangs- und folglich wie ein Kult -akt10 Uumlber diesen enuntiativen und performativen Umweg wirdder sbquomythischelsquo reacutecit durch den discours auf das hic et nunc der Auf-fuumlhrung des Gesangs und ihre Umstaumlnde bezogen

Durch die Pragmatik der poetischen Formen erweist sich diesbquoFiktionlsquo des griechischen Mythos als ein viel vermoumlgendes Mittel

Das poetische Ich 131

musikalischen und rhythmischen Handelns uumlber die Vermittlungdes Dichters in seiner Eigenschaft als inspirierter σοφς gruumlndetdie Musik ebensosehr auf den kreativen Moumlglichkeiten einer tra-ditionellen dichterischen Sprache wie auf den Prozeduren der enun-tiativen und pragmatischen Bezeichnung wie sie von jeder ge -sprochenen Sprache gewaumlhrleistet ist Wesentlich ist in dieser Hin-sicht die Position die vom sbquoIchlsquo des Sprechers in seiner Rolle alssbquoAussageinstanzlsquo eingenommen wird diese Ich-Position bildetden Aus gangspunkt der Prozeduren der enuntiativen Bezugnahmeunter den Bedingungen der Komposition und der Aussage vondem was im Gedicht spezifisch im mythischen und fiktionalenreacutecit ausgesprochen wird Verbal und poetisch musikalisch undrhythmisch ist dieses sbquoIchlsquo das im Verlaufe der dichterischenKomposition eine beachtliche Ausdehnung erfaumlhrt Die Stimmedieses poetischen sbquoIchlsquo entwickelt sich bisweilen zu einer regel-rechten Polyphonie die in der Praxis der Auffuumlhrung ihren Nie-derschlag findet Das gilt in besonderem Maszlige fuumlr den Fall jenerFormen von Chordichtung die der umfassenden Gattung desμλος angehoumlren und die in etwas voreiliger Weise aufgrund derTatsache dass sich in ihnen ein sbquoIchlsquo findet das allzu schnell undunmittelbar mit dem Autor identifiziert wird mit dem Etikett dessbquoLyrischenlsquo versehen werden

Am einzigartigen Beispiel eines melischen Gedichtes vonPindar das der Gattung der Epinikien zugeordnet wird soll imfolgenden der komplexe Prozess der musikalischen Komposition-performance dargelegt werden der sowohl die dichterische Meta-pher als auch den heroischen reacutecit (den sbquoMythoslsquo) in den Dienst einer rituellen Feier stellt und zwar uumlber den Umweg eines enun-tiativen und pragmatischen Verfahrens von bemerkenswerterDichte

2 Dichterische Bilder und Wirkkraft des Gesangs

Von Parmenides bis Empedokles uumlber Simonides Pindaroder Bakchylides finden sich ungezaumlhlte griechische Dichter vor-klassischer Zeit die sich selbst auf den Streitwagen der Musenoder verwandter Goumlttinnen einladen Die Einladung schreibt sichein in die griechische Poetik der musikalischen Inspiration Siegruumlndet auf einer Metapher die man beispielsweise in der vedi-

11) Parm fr 28 B 11ndash5 Diels Kranz und Emp fr 31 B 33ndash5 Diels Kranzsiehe bei den melischen Dichtern auch Pind Ol 980ndash81 Isthm 861ndash62 etc ZuParmenides siehe den unentbehrlichen Kommentar von G Cerri Parmenide diElea Poema sulla natura Milano 1999 98ndash108 und 166ndash182 zu Empedokles vglA Rosenfeld-Loumlffler La poeacutetique drsquoEmpeacutedocle Cosmologie et meacutetaphore Bern New York 2005 36ndash57 Weitere Anleihen bei der vedischen Poesie sind genannt beiR Nuumlnlist Poetologische Bildersprache in der fruumlhgriechischen Dichtung Stutt-gart Leipzig 1998 255ndash261

12) Φίντις λλ ζεξον -|δη μοι σθένος μιόνων | τάχος φρακελεύθamp τrsquo ν καθαρ( | βάσομεν κχον κωμαί τε πρς νδρν | κα0 γένοςmiddot κε2ναιγρ ξ λ-|λ3ν 4δν 5γεμονεσαι | ταύταν πίστανται στεφάνους ν 7λυμπί8 | πε0δέξαντοmiddot χρ9 τοίνυν πύλας -|μνων ναπιτνάμεν ατα2ςmiddot | πρς Πιτάναν δ= παρrsquoΕρώ-|τα πόρον δε2 σμερον λθε2ν ν Bρ8middot

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schen Dichtung findet In einem metaphorischen Verfahren wirddie Liedkomposition und -auffuumlhrung mit der Teilnahme an einemWagenrennen verglichen Es ist dies die Art und Weise mit derParmenides mithilfe der Toumlchter der Sonne an die Pforte von Tagund Nacht gelangt wo ihn die goumlttliche Gerechtigkeit erwartet esist dies die Art und Weise mit der die Muse die von Empedoklesangerufen worden ist fuumlr den Dichter den fuumlgsamen Wagen lenktder vom Koumlnigreich der Froumlmmigkeit herstammt11 Aber eine Me-tapher die auf einem dynamischen Sprachbild wie jenem des Wa-gens gruumlndet ist nicht den vorplatonischen Denkern vorbehaltendie auf die epische Sprache zuruumlckgreifen sie ist auch bei diversenmelischen Dichtern in Gebrauch ganz besonders in den Gesaumln-gen die den Sieg eines jungen Athleten an den PanhellenischenSpielen feiern in Delphi oder in Olympia aber auch in Nemeaoder am Isthmus von Korinth

In einem Loblied auf den jungen sizilischen Sieger im Wagen-rennen bei den Olympischen Spielen im Jahre 472 oder 468 v Chrvergleicht sbquoPindarlsquo die Komposition seines Gedichts mit dem Er-richten eines Palastes Nachdem er ein eroumlffnendes Lob auf denSieger ausgesprochen hat indem er eine erste Verbindungsliniezwischen Olympia dem Austragungsort der Spiele und Syrakusder Heimatstadt des Siegers gezogen hat nachdem er fuumlr seineLobpreisung des edlen Hagesias die bdquohonigtoumlnendenldquo Musen alsZeuginnen angerufen hat (Ol 61ndash21) schreckt der Sprecher nichtdavor zuruumlck das Maultier-Viergespann das den OlympischenSieg errungen hat mit seinem eigenen Gedicht zu vergleichen(Ol 622ndash28)12

13) Pindar Siegeslieder Griechisch-Deutsch Herausgegeben uumlbersetzt undmit einer Einfuumlhrung versehen von Dieter Bremer Muumlnchen 1992 ndash Zum Vergleichdes Dichters mit dem Athleten bei Pindar vgl D Auger De lrsquoartisan agrave lrsquoathlegravete lesmeacutetaphores de la Creacuteation poeacutetique dans lrsquoeacutepinicie et chez Pindare in M Cos -tantini J Lallot (Hrsg) Le texte et ses repreacutesentations Paris 1987 39ndash56

Das poetische Ich 133

Phintis auf spann mir jetztdie Kraft der Maultiere an

so schnell es geht damit wir auf reiner Bahnden Wagen fahren und ich auch zum Ursprung derMaumlnner komme Denn jene Tiere verstehen vor anderen

auf diesem Wege zu fuumlhrenda sie die Kraumlnze in Olympiaerhielten es tut also not die Tore

der Hymnen ihnen zu oumlffnenan den Strom des Eurotas muss ich heute

kommen zur rechten Zeit nach Pitane(Uumlbers Dieter Bremer)13

Und so adressiert derjenige der sbquoIchlsquo sagt in der zweiten Triadedieser sechsten Olympischen Ode direkt den Lenker des Gespannsder Lenker Phintis ist in Olympia der Vertreter von Hagesias demAristokraten aus Syrakus der den Unterhalt des siegreichen Ge-spanns finanziert Der Dichter bittet den jungen Mann die Maul-tiere anzuschirren sie mit seinem Wagen zu lenken und ihnen diebdquoTore der Hymnen zu oumlffnenldquo (V 27) Mit einer Metapher wird dervorliegende Gesang zum Mittel einer Verschiebung deren poeti-scher Ausdruck sich uumlberdies einer starken Wegmetaphorik be-dient (κλευθος V 23 4δς V 25) Aber statt uns von Olympianach Syrakus zu fuumlhren wo uns die enuntiative Bewegung des Ge-dichts zunaumlchst hingebracht hat statt uns an die Staumltte des Siegesund von da an den Ort zu fuumlhren an dem die Siegesfeier stattfin-den duumlrfte bringt uns das Gespann-Gedicht hin an den Eurotas inLakonien ins Staumldtchen Pitane das ein Stadtteil von Sparta ist

Diese unerwartete geographische Verschiebung geht mit einerebenso unerwarteten zeitlichen Bewegung einher vom bdquoheuteldquo(σμερον V 28) das mit der Zeit der eacutenonciation des Liedes (bdquodis-coursldquo) korrespondiert in die unbestimmte Vergangenheit in einenarrative und goumlttliche Zeit (bdquoreacutecitldquo bdquomytheldquo) es ist die Zeit zu

14) Pind Ol 622ndash42 Die umstrittene Frage nach der Datierung und denUmstaumlnden der Auffuumlhrung dieses komplexen Gedichts wird eroumlrtert bei Ch Froi -de fond Lire Pindare Namur 1989 29ndash48 der fuumlr eine Auffuumlhrung des Gedichtsnicht in Syrakus sondern in Stymphale in Arkadien plaumldiert wie nach ihm auchG O Hutchinson Greek Lyric Poetry A Commentary on Selected Larger PiecesOxford 2001 371ndash374 Hierauf wird weiter unten zuruumlckgekommen Zur Sequenzder deiktischen Gesten die den enuntiativen Rahmen dieses Gedichts ausmachenvgl die nuumltzliche Studie von A Bonifazi Mescolare un cratere di canti Alessandria2001 103ndash149

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der Poseidon sich mit der jungen Pitane vereinigt hatte der epony-men Nymphe des spartanischen Staumldtchens14 Fuumlr uns entsprichtdiese Zeit derjenigen des sbquoMythoslsquo

Aus dieser goumlttlichen und geheimen Vereinigung ndash so derFortgang des dichterischen und sbquomythischenlsquo reacutecit ndash geht Euadnehervor sie wurde in Arkadien groszliggezogen nicht weit vom Al -pheios ehe sie ihrerseits vom jungen Gott Apollon verfuumlhrt wirdAus dieser zweiten Liebe eines Gottes mit einer jungen Sterblichengeht Iamos hervor Dieser Heros der ebenfalls in der Naumlhe desAlpheios in arkadischem Gebiet geboren wurde steht am Ur-sprung einer Familie von Sehern den Iamiden doch erweist er sichgleichermaszligen als Vorfahr vaumlterlicherseits des Hagesias von Sy-rakus dem Sponsor des Viergespanns das den Sieg bei den Olym-pischen Spielen errungen hat und das in dieser Epinikie besungenwird Man erfaumlhrt weiter dass er als kleines Kind ausgesetzt undinmitten der Blumen von zwei Schlangen mit Bienenhonig ernaumlhrtwurde Uumlber den Honig mit der Suumlszlige der dichterischen Ver-fuumlhrung assoziiert wird die Stimme von Iamos in die Stimme einesHellsehers verwandelt dies geschieht durch den Willen seinesGroszligvaters Poseidon und ganz besonders durch das Eingreifen sei-nes Vaters Apollon dem Gott des Orakels zu Delphi Der jungeHeros ist also dazu auserkoren diese Gabe inspirierten Hellsehensan seine Nachkommen die Iamiden weiterzuvererben Apoll istes der Iamos dann selbst nach Olympia fuumlhrt inspiriert vom Gottvon Delphi gruumlndet der junge Heros alsdann am Ufer des Alphei-os das Orakel das am Altar des Zeus die Gruumlndung der Olympi-schen Spiele durch Herakles voraussagen wird

Dem siegreichen Gespann aus Syrakus angeglichen zeichnetalso dieses Gedicht eine geographische Kreisbewegung nach In-dem der Beginn in Syrakus eingeklammert wird fuumlhrt uns derWeg der von der Metapher des Wagens gezeichnet wird tatsaumlch-

Das poetische Ich 135

lich vom Austragungsort des Wettkampfs in der Naumlhe des Alphei-os hin nach Lakonien und Sparta um uns schlieszliglich uumlber Pisatisund die Grenzen Arkadiens nach Olympia zuruumlckzufuumlhren Die-se geographische Reiseroute ist mit einem zeitlichen Rundgang ge-paart der uns in die Zeit der Aussage (eacutenonciation) zuruumlckfuumlhrtausgehend von diesem hic et nunc hat das Gedicht als Rennwagenzur langen genealogischen Reise in die goumlttliche und heroische Ver-gangenheit der Iamiden und ebenso in die urspruumlngliche und sbquomy-thischelsquo Zeit eines doppelten Gruumlndungsakts angehoben die Ein-richtung des Orakels zu Olympia das von den Nachfahren des Iamos gefuumlhrt wird sowie der Spiele selbst in der Zeit des Hera -kles

bdquo damit wir auf reiner Bahn den Wagen fahren und ich auchzum Ursprung der Familie des Hagesias kommeldquo (V 23) wuumlrdeich also uumlbersetzen Der Anfang dieses zeitlichen Rundgangs (derzugleich seinen Endpunkt darstellen wird) ist von der Alternationder autoreferentiellen Formen im Singular und im Plural (βάσομενim Plural aber κωμαι im Singular in demselben Vers 24) gekenn-zeichnet durch diese Fomen wird die zugleich zeitliche wie raumlum-liche Verschiebung uumlber die Vermittlung des Bilds eines Gespannsvon einer Aussageinstanz aufgenommen die mit einer komplexenKommunikationssituation korrespondiert Das sbquoIchlsquo sbquoWirlsquo desSprechers scheint in der Tat sowohl den Sieger (den Wagenlenkerdes siegreichen Gespanns in Olympia das von Hagesias von Sy-rakus unterhalten wird) als auch den Dichter (Pindar von Thebenden Lenker des Gesangs) und die wahrscheinlich anwesende Chor-gruppe welche den Gesang sbquoPindarslsquo auffuumlhrte in sich zu vereinenIn diesem Stuumlck dichterischer Historiographie geographischer wiegenealogischer Ausrichtung wohnt man der Fahrt des Dichters mitdem Wagenlenker des Hagesias bei auf dem Wagen der zum Ge-dicht geworden ist faumlhrt man mit dem Dichter in Richtung Pitanenach Sparta und durch Arkadien zuruumlck nach Olympia entlangden Ufern des Alpheios und entsprechend in die Zeit des sbquoMy-thoslsquo dieser geographische und historische Rundgang kann nur einmetaphorischer sein Er gehoumlrt ins Reich der Dichtung um nichtzu sagen der poetischen Fiktion

15) ματρομάτωρ μ Στυμ-|φαλίς εανθ9ς Μετώπα | πλάξιππον E ΘήβανHτι-|κτεν τ3ς ρατεινν δωρ | πίομαι νδράσιν αIχματα2σι πλέκων | ποικίλονμνον τρυνον νν Kταίρους |ΑIνέα πρτον μ=ν Mραν | Παρθενίαν κελαδNσαι |γνναί τrsquo Hπειτrsquo ρχα2ον νειδος λαθέσιν | λόγοις εI φεύγομεν Βοιωτίαν Pν | σσ0γρ Qγγελος Rρθός | Sϋκόμων σκυτάλα Μοι-|σ3ν γλυκUς κρατ9ρ γαφθέγκτωνοιδ3ν

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3 Enuntiative und pragmatische Polyphonie

Die metaphorische Reiseroute die vom Gedicht als Wagengezeichnet wird betrifft also ebenso den Dichter wie seine Dich-tung dies gilt um so mehr als der Sprecher gegen Ende der Odenicht mehr den jungen Lenker des maumlchtigen Hagesias von Sy-rakus sondern in der Manier des Echos einen gewissen Aineiasadressiert da der Stil dieser Verse so dicht ist (Ol 684ndash91) erweistsich seine Verortung als schwierig15

Meine Ahnmutter ist aus Stymphalosdie wohlbluumlhende Metope

welche die pferdestachelnde Thebe gebar deren liebliches Wasser

ich trinke der ich speerkaumlmpfenden Maumlnnern flechteeinen bunten Hymnos Treib nun die Gefaumlhrten Aineias zuerst Hera

die jungfraumluliche zu besingenum dann zu erkennen ob wir mit wahren Wortendem alten Schimpfwort sbquoboiotische Saulsquo entgehen

Du bist naumlmlich ein rechter BoteBriefstab der schoumlnhaarigen Musen

suumlszliger Mischkrug starktoumlnender Gesaumlnge(Uumlbers Dieter Bremer)

bdquoRechter Boteldquo bdquoBriefstab der schoumlnhaarigen Musenldquo (V 90ndash91)Der junge Mann ist niemand Geringeres als der Repraumlsentant desDichters Ihm ist die Aufgabe uumlberantwortet jetzt (νν) seine Ge-faumlhrten (Kτα2ροι V 87) dazu einzuladen die Goumlttin Hera Partheniazu besingen der in Stymphale in Arkadien gehuldigt wird Im Ver-such der antiken Kommentatoren diese schwierige Passage in dieentsprechende institutionelle Begrifflichkeit zu uumlbertragen heiszligtdas dass es diesem jungen Chorleiter angetragen wird die Cho-

16) Pind Ol 682ndash99 mit Scholion ad V 149a (I S 188 Drachmann) DieRolle des jungen Aineias ist treffend charakterisiert bei Bonifazi (wie Anm 14) 133ndash143 vgl zur Ergaumlnzung die skeptischen Bemerkungen bei M Heath Receiving theKocircmos The Context and Performance of Epinician AJPh 109 1988 180ndash195 undM Lefkowitz The First Person in Pindar Reconsidered ndash Again BIClS 40 1995139ndash150 (mit umfassender Bibliographie) Zur Syntax dieser umstrittenen Passagevgl den nuumltzlichen Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 413ndash415

17) Zu dieser Anspielung auf die Auffuumlhrung des Gedichts in einem Momentder Inspiration und Komposition den die intentionale und sbquoperformativelsquo Form desFuturs mit dem Moment seiner Ausfuumlhrung als Gesangsvortrag korrespondierenlaumlsst siehe besonders G B DrsquoAlessio Past Future and Present Past Temporal Dei-xis in Greek Archaic Lyric Arethusa 37 2004 267ndash294 (289ndash290)

Das poetische Ich 137

reuten zu trainieren die Choreuten werden zum Sprachrohr desDichters jetzt in dem Augenblick der mit der Auffuumlhrung derEpinikie zusammenfaumlllt und an einem Ort den man mit dem ar-kadischen Stymphale identifizieren wollte16

In den Versen nun die dieser Aufforderung an den jungenChorleiter unmittelbar vorausgehen nennt der Sprecher undDich ter sein Vorhaben vom lieblichen Wasser der Quelle Metopezu trinken (πίομαι V 86) und zwar in einer Form des sbquoperforma-tivenlsquo Futurs die den Moment der dichterischen Inspiration mitder Auffuumlhrung der Epinikie zusammenfallen laumlsst17 In einemabermaligen geographisch-genealogischen Rundgang der eineneue Reise in die heroische Zeit des sbquoMythoslsquo darstellt wird of-fenbar dass der Name sbquoMetopelsquo dem Namen einer Nymphe ausStymphale in Arkadien entspricht Ihre Mutter ist niemand ande-res als Thebe und Thebe wiederum ist die eponyme Nymphe vonTheben in Boumlo tien der Heimat des Dichters Vom noch unbe-stimmten Ort der Aussage (eacutenonciation) und des Vortrags des Gedichts sind wir demnach enuntiativ nicht mehr zum Ort derAustragung der Spiele und ihrer Gruumlnder gelangt sondern in eineGegend die benachbart ist dem Ursprungsort der Familie der Iamiden und demnach der Familie des Hagesias wahrscheinlich ineiner Anspielung auf seine Ahnenschaft muumltterlicherseits Dannwerden wir vom Arkadien der Iamiden wiederum nicht an denOrt der Auffuumlhrung sondern an den Ort der Komposition desGedichts geleitet nach Theben in die Heimat Pindars Und in derTat ist es der Inspiration die er bei der Quelle der Metope bdquomei-ner Ahnmutterldquo (V 84) gefunden hat zu verdanken dass der

18) Die Beziehung die der Dichter zwischen seiner Heimat Theben und demStammbaum der Iamiden herstellt ist nachgezeichnet bei L Kurke The Traffic inPraise Pindar and the Poetics of Social Economy Ithaca London 1991 147ndash149ferner Hutchinson (wie Anm 14) 410ndash413 Zu den verschiedenen Metaphern wel-che die dichterische Inspiration mit dem Erguss einer Fluumlssigkeit assoziieren sieheNuumlnlist (wie Anm 11) 195ndash199 (vgl ferner zur Kunst des Webens 110ndash118 sowieJ Scheid J Svenbro Le meacutetier de Zeus Mythe du tissage et du tissu dans le mon-de greacuteco-romain Paris 1994 119ndash130)

19) Vgl Scholia ad V 148a und 148c (I S 187 Drachmann) Vgl dazuV Vigneri Il coro dellrsquoepinicio pindarico negli scholia vetera QUCC 95 2000 87ndash103

20) Ergaumlnzend zu den Ausfuumlhrungen von Lefkovitz (wie Anm 16) sei z Bauf die hervorragenden Bemerkungen bei G B DrsquoAlessio First-Person Problems inPindar BIClS 39 1994 117ndash139 verwiesen

Claude Ca lame138

Dichter seither in einer weiteren in der melischen Dichtung haumlu-fig auftretenden Metapher befaumlhigt ist bdquoeinen bunten Hymnos zuflechtenldquo (πλέκων V 86ndash87)18

Zugunsten dieser zweiten (teilweise impliziten) Ruumlckkehr zuden Orten und Zeiten der sbquomise en discourslsquo und der Auffuumlhrungdes Gedichts wohnen wir dank der abermaligen geographischenund genealogischen (und vom Sprecher als sbquomythischlsquo vorgestell-ten) Reise der subtilen bildreichen und poetischen Entfaltung ei-nes enuntiativen Spiels bei dieses Spiel ist in der melischen Dich-tung haumlufig anzutreffen insbesondere in den Epinikien Pindarsund des Bakchylides Dieses Verfahren der sbquochorischen Delegationlsquolaumlsst in seiner Polyphonie eine Abloumlsung der Stimme des Dichter-Komponisten durch die Stimme der chorischen Gruppe zu die denGesang vortraumlgt Es uumlberrascht daher wenig dass die antikenKommentatoren den jungen Aineias als χοροδιδσκαλος bezeich-nen19 Dieser Leiter des Chors fungiert als Vermittler zwischen derinspirierten Stimme des Sprecher-Ichs und der Chor-Stimme derjungen Saumlnger welche die Auffuumlhrung des Gedichts uumlbernimmtAuf extradiskursiver Ebene wiederum dient Aineias als Vermittlerzwischen dem Autor und Komponisten des Gedichts (in Theben)und der chorischen Gruppe Ausfuumlhrender die in einem rituellenTanz singen (wahrscheinlich in Syrakus) Diese bemerkenswerteenuntiative Polyphonie macht den Streit um die Natur des sbquolyri-schen Ichslsquo in den Epinikien Pindars in vielerlei Hinsicht uumlberfluumls-sig Weder nur sbquomonodischlsquo noch ausschlieszliglich chorisch ist dassbquoIchlsquo sbquoWirlsquo des Sprechers wesentlich polyphon20

21) Zum pejorativen Sinn dieser sprichwoumlrtlichen Wendung unter Einbezugder bdquoPoetik des Tadelsldquo vgl den Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 416ndash417

22) Hier sei auf die verschiedenen Stellen verwiesen die ich in Pragmatiquede la fiction quelques proceacutedures de deixis narrative et eacutenonciative en comparaison(poeacutetique grecque) in J-M Adam U Heidmann (Hrsg) Sciences du texte et ana-lyse de discours Enjeux drsquoune interdisciplinariteacute Lausanne Genegraveve 2005 119ndash143 angefuumlhrt habe zur prozessionalen Dimension des κμος siehe insbesondereK A Morgan Pindar the Professional and the Rhetoric of the kocircmos CPh 88 19931ndash15

23) Vgl die bei Vigneri (wie Anm 19) 97ndash100 angefuumlhrten Stellen sowieC Carey The Victory Ode in Performance The Case for the Chorus CPh 86 1991192ndash200

Das poetische Ich 139

So erklaumlrt sich warum einerseits paradoxerweise der Wunschdem Vorwurf zu entgehen (φεύγομεν V 90) eine bdquoboiotische Sauldquo21

zu sein in der ersten Person Plural gehalten ist der Wunsch beziehtsich nicht nur auf die vom Dichter der Epinikien haumlufig bemuumlhtePoetik der Wahrheit sondern auch auf seinen thebanischen unddemnach boumlotischen Ursprung Andererseits ist es der ChorleiterAineias dem angetragen wird sei es den Musen sei es seinen Cho-reuten zu sagen (εWπον V 92) sie moumlgen sich erinnern und daherzugleich Syrakus und Ortygia hochleben lassen Hinsichtlich derAussage uumlberlagern sich hier durch verschiedene grammatikali-sche wie explizite delegative Bewegungen die Stimme des Dich tersund jene des χοροδιδσκαλος und der chorischen Gruppe

Infolgedessen stuumltzt sich der Uumlbergang von der Metapherzur Realitaumlt der Auffuumlhrung von Pindars Gedicht an seinem Aus-gang nicht mehr auf das Bild des Gespanns sondern auf jenes desκμος (V 98) Bild eines prozessionalen Umzugs wie er bei Pin-dar haumlufig anzutreffen ist22 In den letzten Versen der sechstenOlympischen Ode wird das Gedicht das in seiner Auffuumlhrung be-griffen ist zum prozessionalen Gesang der den siegreichen Ha-gesias aus Syrakus feiert Die antiken Kommentatoren zeigen hierkeine Zuruumlckhaltung κμος und κωμζειν werden regelmaumlszligig alsχορς und χορεXειν erklaumlrt23 In der Tat wird der Tyrann von Sy-rakus Hieron dazu eingeladen den jungen Aristokraten abzu-holen der von dem Ort herkommt wo das Gedicht ihn gelassenhatte in Stymphale Ritueller Empfang anlaumlsslich einer Kultfeier(KορτY V 95) zu Ehren von Demeter und ihrer Tochter Perse-phone die von Aineias gefeiert werden soll wahrscheinlich mit-

24) Die dreifache Ringstruktur die in dieser letzten Ruumlckkehr nach Syrakusendet ist beschrieben bei Froidefond (wie Anm 14) 45ndash48 Zu dieser dichterischenRundreise siehe die glaumlnzende Deutung von S Goldhill The Poetrsquos Voice Essays onPoetics and Greek Literature Cambridge 1991 154ndash166

Claude Ca lame140

hilfe der Musen man wird sich in Erinnerung rufen dass Mutterund Tochter zwei Schutzgottheiten der Stadt sind und dass dieFamilie des Hieron wahrscheinlich das entsprechende Priesteramtinnehatte Durch und in dem prozessionalen Gesang fuumlhrt unsder κμος demnach von Arkadien und spezifisch von Stympha-le unweit der Heimat der Iamiden sowie von Theben der Hei-mat des Dichters hin zum Ort und in die Zeit der Auffuumlhrungdes Gedichts dieser Ort so stellt es sich jetzt heraus ist SyrakusDer abschlieszligende Aufruf zur Gastfreundschaft an den Tyrannenvon Syrakus wie auch eine erste Anspielung zu Beginn des Ge-dichts auf den bdquoMann aus Syrakus den Herrn des Festzugsldquo(V 18) bestaumltigen uumlber den Umweg einer Ringkomposition dassdiese glaumlnzende sizilische Stadt die Auffuumlhrung der von Pindarkomponierten Epinikie erhaumllt24

Ο[κοθεν ο[καδε bdquovon Hause nach Hausldquo (V 99) Gedoppeltdurch eine deiktische Geste die einer bdquoDemonstratio ad oculosldquoentspricht scheint diese letzte raumlumliche Bewegung von der einenHeimat in die andere die doppelte Zugehoumlrigkeit der Familienmit-glieder des Hagesias nachzuvollziehen leiten sie sich einerseits vonden arkadischen Iamiden her sind sie andererseits aber Buumlrger vonSyrakus Wie auch immer ndash diese Bewegung zuruumlck nach Syrakusist geweiht durch die Invokation des Gottes Poseidon zum Ge-dicht-Ende Uumlber die Metapher des Schiffs und seiner beiden An-ker wird der Gott ebenso zum Garanten der doppelten Herkunftdes Hagesias der aus Arkadien und aus Syrakus stammt wie auchder Rundreise des Gedichts in seiner Auffuumlhrung von Thebennach Stymphale nach Syrakus Es ist keineswegs ein Zufall wenndas Gedicht mit der Bitte an den Gemahl der Amphitrite bdquomeineHymnenldquo (V 105) bluumlhen zu lassen schlieszligt finale Ruumlckkehr zurAussageinstanz

Herr Meeresgebieter Gerade Fahrt von Erschoumlpfun-genfern gib Gatte der Amphitrite

25) δέσποτα ποντόμεδον εθUν δ= πλόον καμάτων | κτς όντα δίδοιχρυσαλακάτοιο πόσις | μφιτρίτας μν δrsquo -|μνων Qεξrsquo ετερπ=ς Qνθος

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der mit der goldenen Spindel und lass meine Hymnenwachsen zu wohlerfreulicher Bluumlte

(Ol 6103ndash105 Uumlbers Dieter Bremer)25

4 Der poetische Apparat der eacutenonciation

Dargestellt als rein metaphorischer Wagen wenn es darum zutun ist mit dem Wettbewerb der vom Kutscher und seinem Ge-spann dargestellt wird die geographische und genealogische Her-kunft (Arkadien und Olympia) der siegreichen Familie nachzu-vollziehen realisiert sich der Gesang zuletzt in seiner chorischenund prozessionalen Identitaumlt im Bilde des κμος aufgefuumlhrt in Sy-rakus fuumlhrt dieses Chorgedicht genealogisch zuruumlck nach Thebenin die Heimat Pindars So fokussiert das doppelte Bild des Ge-spanns und der Prozession die Komposition des Thebaners Pindarim hic et nunc seiner Auffuumlhrung weder in Olympia dem Ort desathletischen Sieges und dem Orakelwesen der Iamiden noch inStymphale dem Ort der Vorfahren muumltterlicherseits des Hagesias(und moumlglicherweise der Heimat des Aineias) noch in Thebender Heimat Pindars und dem Ort an dem das Gedicht geschaffenwurde sondern in Syrakus anlaumlsslich einer kultischen Feier Bleibtdie geographische und genealogische Rundreise die dem sprach -lichen Gespann zugeschrieben wird poetisch und metaphorischso wird jene die als rituelle Prozession vorgestellt ist Realitaumlt nachdem genealogischen Umweg uumlber die Nymphe Thebe und Thebenin Boumlotien stimmen die Zeit und der Ort der narrativen und dis-kursiven Realisierung des Gedichts mit dem sbquoHierlsquo und dem sbquoJetztlsquoseiner Auffuumlhrung uumlberein ndash einem hic et nunc das an der Aus-sageinstanz orientiert ist

Im dichterischen sbquoIchlsquo konvergieren demnach am Ende dergesungenen Komposition die enuntiative Stimme des inspiriertenDichters die Chorstimme der Darsteller des κμος und die Stim-me ihres χοροδιδσκαλος Die bemerkenswerte semantische Aus-dehnung dieses sprachlichen und poetischen sbquoIchslsquo ist wesentlichpolyphon Aber dank der zeitlichen und insbesondere der raumlum -lichen Markierungen die wir bemerkt haben (Syrakus Sparta

26) Damit moumlchte ich dem Prinzip widersprechen auf dem die sbquokritischelsquophilologische Hermeneutik beruht und das immer wieder von Jean Bollack heftigverfochten wird zum Beispiel in seinem juumlngsten Essay Parmeacutenide de lrsquoeacutetant aumonde Lagrasse 2006 11ndash19

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Olympia Arkadien Stymphale Theben) dank der (etwas parado-xen) geographisch-genealogischen Rundreise auch durch die fikti-ven Orte und Zeiten der Gruumlndungsmythenlsquo erhaumllt diese poly-phone Aussageinstanz eine praumlzise extradiskursive Dimension

hinsichtlich sbquoIchlsquo sbquoWirlsquondash Pindar von Theben in seiner Funktion als

inspirierter Dichter und Lehrer der Wahrheitndash Aineias (aus Stymphale) als χοροδιδσκαλοςndash die jungen Choreuten aus Syrakusndash schlieszliglich das Gedicht selbst (objektiviert im

sbquoEslsquo uumlber die Angleichung an das Maultiergespann)hinsichtlich sbquoDulsquo

ndash Hagesias der Arkadier aus Syrakusndash Phintis der Wagenlenker aus Syrakusndash Hieron der Tyrann von Syrakusndash Poseidon der Herr des Meeres

Der polyphonen Komplexitaumlt der Aussageinstanz mit ihrersemantischen Ausdehnung und diskursiven Vielschichtigkeit ent-spricht eine einzigartig ausdifferenzierte bdquofonction-auteurldquo Uumlberdie Metapher des Wagens und uumlber das Bild des κμος als prozes-sionalen und rituellen Gesangs wird sie auf die Auffuumlhrung des Ge-dichts bezogen

Damit haben wir uns weit von der romantischen Auffassungeines sbquolyrischen Ichslsquo entfernt von dem man sich einen unmittel-baren sprachlichen Ausdruck der persoumlnlichen Empfindungen desDichter-Schriftstellers und demnach vom biographischen Dichterverspricht auch weit entfernt von der Intentionalitaumlt eines Dich-ter-Individuums eines autonomen kreativen Subjekts das mit derdichterischen Tradition in die es sich einschreibt gebrochen haumlt-te26 Obwohl er unbestreitbar vorhanden ist wird der Wille derdichterischen Schoumlpfung gefiltert durch eine traditionelle dichte -rische Diktion durch die Regeln der Gattung durch die Erfor-dernisse des rituellen Anlasses durch die Verdopplung in der poe-

Das poetische Ich 143

tischen performance der bdquofonction-auteurldquo durch enuntiativeStrategien dichterischer Ordnung

Besonders im hier gewaumlhlten Beispiel stuumltzt sich das meta-phorische poetische Spiel auf das Gedicht als Objekt in seiner raumlumlichen Verschiebung (was wiederum die Teilnahme am sport-lichen Wettkampf symbolisiert) um dessen Bewegung auf den Ge-sang und den dichterischen und musikalischen Wettkampf zuuumlbertragen der im Gedicht durch ein komplexes enuntiatives Spieldargestellt wird mit diesem Dreh enuntiativer und spazio-tempo-raler Pragmatik wird das Bild des Sieges im Wettkampf auf das hicet nunc der rituellen performance des Gesangs verlagert der von ei-nem polyphonen sbquoIchlsquo auszligergewoumlhnlicher Dichte ausgetragenwird Dieses In-Bewegung-Setzen des Gesangs mittels eines Bildesist zentral in den Gedichten die uns nicht nur konkret in die Zeitund den Raum der sbquomythischenlsquo Gruumlndungsakte einfuumlhren und alspragmatisches kulturelles Gedaumlchtnis fungieren sondern die sichauch uumlber zahlreiche autoreferentielle Interventionen als Ge-sangs-Akte praumlsentieren speech-acts die uumlber enuntiative Bezug-nahmen auf die musikalische Aktivitaumlt die von denjenigen die dasGedicht auffuumlhren ausgeuumlbt wird zu song-acts werden In demMaszlige in dem ihre sbquoDurchfuumlhrunglsquo gewoumlhnlich in eine rituelle Feier fuumlr die Schutzgottheit einer Stadt eingebettet ist sind dieseGesangs-Akte auch cult-acts kultische Handlungen Was die Epi-nikie betrifft so ist ihre religioumlse und politische Aufgabe nicht nurdie Erinnerung an die aristokratische Familie aus welcher der Sie-ger an den panhellenischen Spielen stammt zu bereichern sondernauch das kollektive Gedaumlchtnis des staumldtischen Verbands dem erangehoumlrt lebendig zu erhalten Dies alles vollzieht sich in aus-drucksvollen sprachlichen Bildern die durch den sbquopoetischen Ap-parat der Aussagelsquo des rituellen Gesangs Entfaltung und Wirksam-keit finden

Im archaischen und klassischen Griechenland ist die ars scri-bendi eine ars canendi

Paris Claude Ca lame

Page 3: DAS POETISCHE ICH Enuntiative und ... - rhm.uni-koeln.de · PDF fileder in der ersten Aufsatzsammlung der Problèmes de linguistique générale ... E.Benveniste, Problèmes de linguistique

3) Benveniste (wie Anm 2) 279ndash286 (Die Natur der Pronomen) und 287ndash297 (Uumlber die Subjektivitaumlt in der Sprache) (Zitat 280)

4) E Benveniste Problegravemes de linguistique geacuteneacuterale II Paris 1974 79ndash88(Der entsprechende Artikel ist erstmals erschienen in Langages 17 1970 12ndash18)Auf dieser theoretischen Grundlage habe ich in Le reacutecit en Gregravece ancienne Eacutenon-ciations et repreacutesentations de poegravetes Paris 2002 (2 Aufl) 17ndash85 (Engl Uumlberset-zung The Craft of Poetic Speech in Ancient Greece Ithaca London 1995 3ndash59)einige Thesen zur Pragmatik der griechischen Dichtung formuliert

Das poetische Ich 127

lich der bdquoRealitaumltldquo zu der sich die Ausdruckformen von sbquoIchlsquo odersbquoDulsquo in jeder bdquoDiskursinstanzldquo (bdquoinstance de discoursldquo) in Bezie-hung setzen d h in jedem einzelnen Akt in dem bdquodas Sprach -system von einem Sprecher als Sprachverwendung aktualisiertwirdldquo3 Daher ist das fundamentale Prinzip das demzufolgesprachlich ausgedruumlckte sbquoIchlsquo in seiner Eigenschaft als Pronomenausschlieszliglich auf eine bdquoRealitaumlt des Diskursesldquo auf eine Realitaumltder Rede auf eine sprachliche Realitaumlt zu beziehen bdquoIch bedeutetsbquodie Person welche die gegenwaumlrtige Diskursinstanz die ich ent-haumllt aussagtlsquo ldquo dementsprechend hat bdquodie Form ich sprachlicheForm nur in dem Sprechakt der sie vortraumlgtldquo4

So zeichnet sich in praktisch impliziter Weise die essentielleUnterscheidung ab zwischen dem sbquoIchlsquo das qua pronominale undverbale Form nur eine Existenz und einen Verweischarakter lingui-stischer Art hat auf der einen Seite und dem Sprecher (bdquolocuteurldquoso Benveniste etwas irrefuumlhrend) oder vielmehr dem bdquoAussagen-denldquo (bdquoeacutenonciateurldquo) der das (psycho-soziale) Subjekt des Sprech -aktes ist auf der anderen Seite Sind sie auch nur als bdquoKategorien derSpracheldquo zu betrachten so sind sbquoIchlsquo und sbquoDulsquo nichtsdestowenigerGegenstand einer raumlumlichen wie zeitlichen Markierung Diese Markierung entspricht den linguistischen und enuntiativen Para -metern von sbquoHierlsquo und sbquoJetztlsquo Aus diesen ersten Feststellungen diesich der Unterscheidung von histoire reacutecit und discours verdan-ken geht zunaumlchst hervor was Benveniste wenig spaumlter das bdquofor-male System der Aussageldquo oder bdquoden formalen Apparat des Dis-kursesldquo (bdquoappareil formel de lrsquoeacutenonciationldquo) nennen wird Von reinsprachlicher Natur findet sich im Zentrum dieses Systems ego dasdurch zeitliche wie raumlumliche bdquoIndikatoren der Deixisldquo definiert ist Auszligerdem fuumlhren diese grundlegenden Feststellungen bezuumlg-lich der Indices der Aussage oder Aumluszligerung (eacutenonciation) die vomAusgesagten oder Geaumluszligerten (eacutenonceacute) unterschieden wird zur Skizze einer Theorie der Sprechhandlungen (speech-acts) Diskurs -

5) Benveniste (wie Anm 2) 2966) K Buumlhler Sprachtheorie Die Darstellungsform der Sprache Jena 1934

102ndash148

Claude Ca lame128

instanzen die Formen in der ersten Person enthalten wie etwa sbquoichschwoumlrelsquo oder sbquoich versprechelsquo verweisen auf Ausgesagtes oderGeaumluszligertes (eacutenonceacute) bei dem bdquodie Aussage (sc eacutenonciation) mit derHandlung selbst zusammen[faumlllt]ldquo5

Wiewohl selbst ein Vorreiter ignoriert Benveniste die Arbei-ten und das bedeutende Buch seines geistigen Vorgaumlngers KarlBuumlhler Seit 1934 widmete der deutsche Linguist mehrere Kapitelseiner Sprachtheorie den verschiedenen Prozessen sprachlichenZeigens unter dem Einsatz von Anaphora und Demonstrativa

Den Rahmen einer Satz-Linguistik sprengend entdeckte er soin jeder Form von Diskurs ein bdquoHier-Jetzt-Ich-Systemldquo dessenAusgangspunkt im sprachlich ausgedruumlckten sbquoIchlsquo und seinen ver-schiedenen Formen besteht Dieses System das ein bdquoZeigfeldldquostrukturiert entfaltet sich dank der Potentialitaumlten der Spracheauf zwei Ebenen zum einen unter Bezugnahme auf das was dieSprecher (die Aussagenden) vor Augen haben (durch extradiskur-sive Vorgaumlnge deiktischen Verweisens) zum anderen durch einenAppell an das innere Auge und Ohr des Lesers oder Houmlrers (durchdie Vorgaumlnge intradiskursiven Zeigens anaphorischer und kata-phorischer Ordnung) Die Vorgehensweisen der bdquoDemonstratio adoculosldquo vereinen sich demnach in praktisch jeder Form von dis-cours mit den Vorgehensweisen der bdquoDeixis am Phantasmaldquo6

Unter dem Blickwinkel der Interferenz betrachtet erweistsich die (operative) Unterscheidung zwischen bdquoDeixis am Phan -tasmaldquo und bdquoDemonstratio ad oculosldquo dort als essentiell wo die-selben Demonstrativa wie etwa im Griechischen jene auf -δε evozieren was im und durch den discours (durch Anapher und Katapher) kreiert wird sich zugleich aber auf die extra-linguisti-sche Realitaumlt beziehen koumlnnen Eine solche doppelte Moumlglichkeitsowohl der internen als auch der externen Referenz mit ein unddemselben Demonstrativum laumlsst die Unterscheidung zwischendiscours und histoire reacutecit freilich als bruumlchig erscheinen sie bestaumltigt die Durchlaumlssigkeit zwischen dem Intra- und dem Ex -tra-Diskursiven indem sie zum Beispiel der Fiktion in deren Eigenschaft als moumlglicher Welt jeden Anspruch auf semantischeAutonomie entzieht Es empfiehlt sich demnach die moumlgliche

7) Eine Darstellung und Auswertung des operativen Nutzens des Begriffsbdquofonction-auteurldquo fuumlr verschiedene antike Diskursformen findet sich bei C Ca -lame R Chartier (Hrsg) Identiteacutes drsquoauteur dans lrsquoAntiquiteacute et la tradition eu-ropeacuteenne Grenoble 2004

8) Zu diesen Unterscheidungen vgl meine einfuumlhrenden Bemerkungen zuMasques drsquoautoriteacute Fiction et pragmatique dans la poeacutetique grecque antique Paris2005 13ndash40 (engl Uumlbersetzung Masks of Authority Fiction and Pragmatics in An-cient Greek Poetics Ithaca London 2005 1ndash16)

Das poetische Ich 129

Kombination der beiden Prozeduren der bdquoDeixis am Phantasmaldquound der bdquoDemonstratio ad oculosldquo von der Ebene des reacutecit auf jenedes discours zu uumlbertragen

Dieser doppelte Bezeichnungsvorgang der sich an die Vor-stellungskraft zu wenden und zugleich die extralinguistische Rea-litaumlt zu bezeichnen vermag betrifft ebenso was ich die bdquoAussa -geinstanzldquo (bdquoinstance drsquoeacutenonciationldquo) nenne also das sbquoIchlsquo mitsamtseinen raumlumlichen wie zeitlichen Parametern im System ego tu ndashhic ndash nunc

Das heiszligt dass sich vor jeder extradiskursiven Bezugnahmeim discours mit linguistischen Mitteln eine Autorfigur konstruiertdie rein verbaler Natur ist Die Figur des Erzaumlhlers oder genauerdes Sprecher-Ichs das haumlufig einem Gespraumlchspartner-Du gegen -uumlbergestellt ist (auch dies eine rein verbale Figur) Diese Figur diesich in einer enuntiativen Haltung herausbildet und die mit einemdiskursiven Ethos ausgestattet wird verweist nur mittelbar zu -naumlchst auf den in seiner institutionellen Funktion erfassten AutorDieser definiert sich in seiner Eigenschaft als soziale Figur durchseine bdquofonction-auteurldquo um eine von Michel Foucault vorgebrach-te Idee aufzugreifen Wer aber im Falle der griechischen Dichtungvon bdquofonction-auteurldquo spricht sagt gleichzeitig bdquofonction-exeacute-cutantldquo da die dichterische performance von Darstellern an einemrituellen Anlass uumlbernommen wird Von Aoumlden oder RhapsodenChoreuten Schauspielern eines tragischen oder komischen Dra-mas usw7 Nur uumlber diesen zunaumlchst diskursiven dann institutio-nellen Umweg verweist die Figur des Sprecher-Ichs letztlich aufden Autor in der historischen Realitaumlt mit seiner Intentionalitaumltund Kreativitaumlt (einer Kreativitaumlt die je nach Betrachtungsweise inpsychologischen psychoanalytischen mentalen kognitiven neu-ronalen oder sozialen Kategorien gefasst werden kann)8

Wichtig ist die Vermengung der Perspektive die Benvenistemit seiner Erforschung der Aussage eroumlffnet die er zwischen reacutecit

9) Ich erlaube mir hier abermals einen Verweis auf meine einfuumlhrenden Bemerkungen zu Poeacutetique des mythes dans la Gregravece antique Paris 2000 11ndash69Vgl jetzt auch Mythos musische Leistung und Ritual am Beispiel der melischenDichtung in A Bierl R Laumlmmle K Wesselmann (Hrsg) Literatur und ReligionWege zu einer mythisch-rituellen Poetik bei den Griechen Band I Berlin NewYork 2007 179ndash210

10) Fuumlr all diese sbquoperformativenlsquo Aspekte der griechischen Dichtung zumalwenn es sich um Chordichtung handelt siehe die nuumltzliche Darstellung bei A BierlDer Chor in der alten Komoumldie Ritual und Performativitaumlt Muumlnchen Leipzig2001 11ndash64

Claude Ca lame130

(eacutenonceacute) und discours (eacutenonceacute de lrsquoeacutenonciation) verortet mit derPerspektive von Buumlhler in Bezug auf die Prozeduren der Deixisderen Brennpunkt das diskursive sbquoIchlsquo ist sie hat einen Einflussnicht nur auf die Konzeption des Autors und seiner dichterischenAutoritaumlt sondern auch auf jene der Fiktion und des sbquoMythoslsquo inihrer diskursiven Dimension Im Falle der Dichtung des klassi-schen Griechenlands die wir trotz ihres stark pragmatischen Cha-rakters als sbquoLiteraturlsquo auffassen gilt es demnach nicht nur das Pro-blem des dichterischen (und sbquolyrischenlsquo) sbquoIchslsquo in neuem Lichte zubetrachten sondern gleichermaszligen das Problem jener Erzaumlhlun-gen die wir sbquomythischlsquo nennen weil wir an ihrem empirischen Ge-halt zweifeln und sie daher dem Fiktiven zuordnen Der Mythosist in der Anthropologie und Philosophie eine kanonisch gewor-dene moderne Abstraktion Nun existieren aber in Griechenlandwie in anderen traditionellen Kulturen die Mythen nur in dichteri-schen Formen nur die Dichtung laumlsst diese Erzaumlhlungen uumlber dieGoumltter und die heroische Vergangenheit in Gegenwart eines Publi-kums in rituellem sozialem und kulturell gegebenem Rahmen auf-leben9 Das heiszligt dass jedes mythische eacutenonceacute von (verbalen wiesozialen) Regeln des dichterischen Genres bestimmt ist das dieAussage unter seinen jeweiligen Bedingungen realisiert Die fuumlr ge-woumlhnlich rituelle Aussagesituation fuumlgt oft die betreffende dichte-rische Komposition im Moment ihrer Auffuumlhrung in rituelleEhrerbietungen fuumlr einen Gott ein in einem Raum der ihm ge-weiht ist Durch verschiedene Prozeduren enuntiativer Art er-scheint das Gedicht wie ein Gesangs- und folglich wie ein Kult -akt10 Uumlber diesen enuntiativen und performativen Umweg wirdder sbquomythischelsquo reacutecit durch den discours auf das hic et nunc der Auf-fuumlhrung des Gesangs und ihre Umstaumlnde bezogen

Durch die Pragmatik der poetischen Formen erweist sich diesbquoFiktionlsquo des griechischen Mythos als ein viel vermoumlgendes Mittel

Das poetische Ich 131

musikalischen und rhythmischen Handelns uumlber die Vermittlungdes Dichters in seiner Eigenschaft als inspirierter σοφς gruumlndetdie Musik ebensosehr auf den kreativen Moumlglichkeiten einer tra-ditionellen dichterischen Sprache wie auf den Prozeduren der enun-tiativen und pragmatischen Bezeichnung wie sie von jeder ge -sprochenen Sprache gewaumlhrleistet ist Wesentlich ist in dieser Hin-sicht die Position die vom sbquoIchlsquo des Sprechers in seiner Rolle alssbquoAussageinstanzlsquo eingenommen wird diese Ich-Position bildetden Aus gangspunkt der Prozeduren der enuntiativen Bezugnahmeunter den Bedingungen der Komposition und der Aussage vondem was im Gedicht spezifisch im mythischen und fiktionalenreacutecit ausgesprochen wird Verbal und poetisch musikalisch undrhythmisch ist dieses sbquoIchlsquo das im Verlaufe der dichterischenKomposition eine beachtliche Ausdehnung erfaumlhrt Die Stimmedieses poetischen sbquoIchlsquo entwickelt sich bisweilen zu einer regel-rechten Polyphonie die in der Praxis der Auffuumlhrung ihren Nie-derschlag findet Das gilt in besonderem Maszlige fuumlr den Fall jenerFormen von Chordichtung die der umfassenden Gattung desμλος angehoumlren und die in etwas voreiliger Weise aufgrund derTatsache dass sich in ihnen ein sbquoIchlsquo findet das allzu schnell undunmittelbar mit dem Autor identifiziert wird mit dem Etikett dessbquoLyrischenlsquo versehen werden

Am einzigartigen Beispiel eines melischen Gedichtes vonPindar das der Gattung der Epinikien zugeordnet wird soll imfolgenden der komplexe Prozess der musikalischen Komposition-performance dargelegt werden der sowohl die dichterische Meta-pher als auch den heroischen reacutecit (den sbquoMythoslsquo) in den Dienst einer rituellen Feier stellt und zwar uumlber den Umweg eines enun-tiativen und pragmatischen Verfahrens von bemerkenswerterDichte

2 Dichterische Bilder und Wirkkraft des Gesangs

Von Parmenides bis Empedokles uumlber Simonides Pindaroder Bakchylides finden sich ungezaumlhlte griechische Dichter vor-klassischer Zeit die sich selbst auf den Streitwagen der Musenoder verwandter Goumlttinnen einladen Die Einladung schreibt sichein in die griechische Poetik der musikalischen Inspiration Siegruumlndet auf einer Metapher die man beispielsweise in der vedi-

11) Parm fr 28 B 11ndash5 Diels Kranz und Emp fr 31 B 33ndash5 Diels Kranzsiehe bei den melischen Dichtern auch Pind Ol 980ndash81 Isthm 861ndash62 etc ZuParmenides siehe den unentbehrlichen Kommentar von G Cerri Parmenide diElea Poema sulla natura Milano 1999 98ndash108 und 166ndash182 zu Empedokles vglA Rosenfeld-Loumlffler La poeacutetique drsquoEmpeacutedocle Cosmologie et meacutetaphore Bern New York 2005 36ndash57 Weitere Anleihen bei der vedischen Poesie sind genannt beiR Nuumlnlist Poetologische Bildersprache in der fruumlhgriechischen Dichtung Stutt-gart Leipzig 1998 255ndash261

12) Φίντις λλ ζεξον -|δη μοι σθένος μιόνων | τάχος φρακελεύθamp τrsquo ν καθαρ( | βάσομεν κχον κωμαί τε πρς νδρν | κα0 γένοςmiddot κε2ναιγρ ξ λ-|λ3ν 4δν 5γεμονεσαι | ταύταν πίστανται στεφάνους ν 7λυμπί8 | πε0δέξαντοmiddot χρ9 τοίνυν πύλας -|μνων ναπιτνάμεν ατα2ςmiddot | πρς Πιτάναν δ= παρrsquoΕρώ-|τα πόρον δε2 σμερον λθε2ν ν Bρ8middot

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schen Dichtung findet In einem metaphorischen Verfahren wirddie Liedkomposition und -auffuumlhrung mit der Teilnahme an einemWagenrennen verglichen Es ist dies die Art und Weise mit derParmenides mithilfe der Toumlchter der Sonne an die Pforte von Tagund Nacht gelangt wo ihn die goumlttliche Gerechtigkeit erwartet esist dies die Art und Weise mit der die Muse die von Empedoklesangerufen worden ist fuumlr den Dichter den fuumlgsamen Wagen lenktder vom Koumlnigreich der Froumlmmigkeit herstammt11 Aber eine Me-tapher die auf einem dynamischen Sprachbild wie jenem des Wa-gens gruumlndet ist nicht den vorplatonischen Denkern vorbehaltendie auf die epische Sprache zuruumlckgreifen sie ist auch bei diversenmelischen Dichtern in Gebrauch ganz besonders in den Gesaumln-gen die den Sieg eines jungen Athleten an den PanhellenischenSpielen feiern in Delphi oder in Olympia aber auch in Nemeaoder am Isthmus von Korinth

In einem Loblied auf den jungen sizilischen Sieger im Wagen-rennen bei den Olympischen Spielen im Jahre 472 oder 468 v Chrvergleicht sbquoPindarlsquo die Komposition seines Gedichts mit dem Er-richten eines Palastes Nachdem er ein eroumlffnendes Lob auf denSieger ausgesprochen hat indem er eine erste Verbindungsliniezwischen Olympia dem Austragungsort der Spiele und Syrakusder Heimatstadt des Siegers gezogen hat nachdem er fuumlr seineLobpreisung des edlen Hagesias die bdquohonigtoumlnendenldquo Musen alsZeuginnen angerufen hat (Ol 61ndash21) schreckt der Sprecher nichtdavor zuruumlck das Maultier-Viergespann das den OlympischenSieg errungen hat mit seinem eigenen Gedicht zu vergleichen(Ol 622ndash28)12

13) Pindar Siegeslieder Griechisch-Deutsch Herausgegeben uumlbersetzt undmit einer Einfuumlhrung versehen von Dieter Bremer Muumlnchen 1992 ndash Zum Vergleichdes Dichters mit dem Athleten bei Pindar vgl D Auger De lrsquoartisan agrave lrsquoathlegravete lesmeacutetaphores de la Creacuteation poeacutetique dans lrsquoeacutepinicie et chez Pindare in M Cos -tantini J Lallot (Hrsg) Le texte et ses repreacutesentations Paris 1987 39ndash56

Das poetische Ich 133

Phintis auf spann mir jetztdie Kraft der Maultiere an

so schnell es geht damit wir auf reiner Bahnden Wagen fahren und ich auch zum Ursprung derMaumlnner komme Denn jene Tiere verstehen vor anderen

auf diesem Wege zu fuumlhrenda sie die Kraumlnze in Olympiaerhielten es tut also not die Tore

der Hymnen ihnen zu oumlffnenan den Strom des Eurotas muss ich heute

kommen zur rechten Zeit nach Pitane(Uumlbers Dieter Bremer)13

Und so adressiert derjenige der sbquoIchlsquo sagt in der zweiten Triadedieser sechsten Olympischen Ode direkt den Lenker des Gespannsder Lenker Phintis ist in Olympia der Vertreter von Hagesias demAristokraten aus Syrakus der den Unterhalt des siegreichen Ge-spanns finanziert Der Dichter bittet den jungen Mann die Maul-tiere anzuschirren sie mit seinem Wagen zu lenken und ihnen diebdquoTore der Hymnen zu oumlffnenldquo (V 27) Mit einer Metapher wird dervorliegende Gesang zum Mittel einer Verschiebung deren poeti-scher Ausdruck sich uumlberdies einer starken Wegmetaphorik be-dient (κλευθος V 23 4δς V 25) Aber statt uns von Olympianach Syrakus zu fuumlhren wo uns die enuntiative Bewegung des Ge-dichts zunaumlchst hingebracht hat statt uns an die Staumltte des Siegesund von da an den Ort zu fuumlhren an dem die Siegesfeier stattfin-den duumlrfte bringt uns das Gespann-Gedicht hin an den Eurotas inLakonien ins Staumldtchen Pitane das ein Stadtteil von Sparta ist

Diese unerwartete geographische Verschiebung geht mit einerebenso unerwarteten zeitlichen Bewegung einher vom bdquoheuteldquo(σμερον V 28) das mit der Zeit der eacutenonciation des Liedes (bdquodis-coursldquo) korrespondiert in die unbestimmte Vergangenheit in einenarrative und goumlttliche Zeit (bdquoreacutecitldquo bdquomytheldquo) es ist die Zeit zu

14) Pind Ol 622ndash42 Die umstrittene Frage nach der Datierung und denUmstaumlnden der Auffuumlhrung dieses komplexen Gedichts wird eroumlrtert bei Ch Froi -de fond Lire Pindare Namur 1989 29ndash48 der fuumlr eine Auffuumlhrung des Gedichtsnicht in Syrakus sondern in Stymphale in Arkadien plaumldiert wie nach ihm auchG O Hutchinson Greek Lyric Poetry A Commentary on Selected Larger PiecesOxford 2001 371ndash374 Hierauf wird weiter unten zuruumlckgekommen Zur Sequenzder deiktischen Gesten die den enuntiativen Rahmen dieses Gedichts ausmachenvgl die nuumltzliche Studie von A Bonifazi Mescolare un cratere di canti Alessandria2001 103ndash149

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der Poseidon sich mit der jungen Pitane vereinigt hatte der epony-men Nymphe des spartanischen Staumldtchens14 Fuumlr uns entsprichtdiese Zeit derjenigen des sbquoMythoslsquo

Aus dieser goumlttlichen und geheimen Vereinigung ndash so derFortgang des dichterischen und sbquomythischenlsquo reacutecit ndash geht Euadnehervor sie wurde in Arkadien groszliggezogen nicht weit vom Al -pheios ehe sie ihrerseits vom jungen Gott Apollon verfuumlhrt wirdAus dieser zweiten Liebe eines Gottes mit einer jungen Sterblichengeht Iamos hervor Dieser Heros der ebenfalls in der Naumlhe desAlpheios in arkadischem Gebiet geboren wurde steht am Ur-sprung einer Familie von Sehern den Iamiden doch erweist er sichgleichermaszligen als Vorfahr vaumlterlicherseits des Hagesias von Sy-rakus dem Sponsor des Viergespanns das den Sieg bei den Olym-pischen Spielen errungen hat und das in dieser Epinikie besungenwird Man erfaumlhrt weiter dass er als kleines Kind ausgesetzt undinmitten der Blumen von zwei Schlangen mit Bienenhonig ernaumlhrtwurde Uumlber den Honig mit der Suumlszlige der dichterischen Ver-fuumlhrung assoziiert wird die Stimme von Iamos in die Stimme einesHellsehers verwandelt dies geschieht durch den Willen seinesGroszligvaters Poseidon und ganz besonders durch das Eingreifen sei-nes Vaters Apollon dem Gott des Orakels zu Delphi Der jungeHeros ist also dazu auserkoren diese Gabe inspirierten Hellsehensan seine Nachkommen die Iamiden weiterzuvererben Apoll istes der Iamos dann selbst nach Olympia fuumlhrt inspiriert vom Gottvon Delphi gruumlndet der junge Heros alsdann am Ufer des Alphei-os das Orakel das am Altar des Zeus die Gruumlndung der Olympi-schen Spiele durch Herakles voraussagen wird

Dem siegreichen Gespann aus Syrakus angeglichen zeichnetalso dieses Gedicht eine geographische Kreisbewegung nach In-dem der Beginn in Syrakus eingeklammert wird fuumlhrt uns derWeg der von der Metapher des Wagens gezeichnet wird tatsaumlch-

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lich vom Austragungsort des Wettkampfs in der Naumlhe des Alphei-os hin nach Lakonien und Sparta um uns schlieszliglich uumlber Pisatisund die Grenzen Arkadiens nach Olympia zuruumlckzufuumlhren Die-se geographische Reiseroute ist mit einem zeitlichen Rundgang ge-paart der uns in die Zeit der Aussage (eacutenonciation) zuruumlckfuumlhrtausgehend von diesem hic et nunc hat das Gedicht als Rennwagenzur langen genealogischen Reise in die goumlttliche und heroische Ver-gangenheit der Iamiden und ebenso in die urspruumlngliche und sbquomy-thischelsquo Zeit eines doppelten Gruumlndungsakts angehoben die Ein-richtung des Orakels zu Olympia das von den Nachfahren des Iamos gefuumlhrt wird sowie der Spiele selbst in der Zeit des Hera -kles

bdquo damit wir auf reiner Bahn den Wagen fahren und ich auchzum Ursprung der Familie des Hagesias kommeldquo (V 23) wuumlrdeich also uumlbersetzen Der Anfang dieses zeitlichen Rundgangs (derzugleich seinen Endpunkt darstellen wird) ist von der Alternationder autoreferentiellen Formen im Singular und im Plural (βάσομενim Plural aber κωμαι im Singular in demselben Vers 24) gekenn-zeichnet durch diese Fomen wird die zugleich zeitliche wie raumlum-liche Verschiebung uumlber die Vermittlung des Bilds eines Gespannsvon einer Aussageinstanz aufgenommen die mit einer komplexenKommunikationssituation korrespondiert Das sbquoIchlsquo sbquoWirlsquo desSprechers scheint in der Tat sowohl den Sieger (den Wagenlenkerdes siegreichen Gespanns in Olympia das von Hagesias von Sy-rakus unterhalten wird) als auch den Dichter (Pindar von Thebenden Lenker des Gesangs) und die wahrscheinlich anwesende Chor-gruppe welche den Gesang sbquoPindarslsquo auffuumlhrte in sich zu vereinenIn diesem Stuumlck dichterischer Historiographie geographischer wiegenealogischer Ausrichtung wohnt man der Fahrt des Dichters mitdem Wagenlenker des Hagesias bei auf dem Wagen der zum Ge-dicht geworden ist faumlhrt man mit dem Dichter in Richtung Pitanenach Sparta und durch Arkadien zuruumlck nach Olympia entlangden Ufern des Alpheios und entsprechend in die Zeit des sbquoMy-thoslsquo dieser geographische und historische Rundgang kann nur einmetaphorischer sein Er gehoumlrt ins Reich der Dichtung um nichtzu sagen der poetischen Fiktion

15) ματρομάτωρ μ Στυμ-|φαλίς εανθ9ς Μετώπα | πλάξιππον E ΘήβανHτι-|κτεν τ3ς ρατεινν δωρ | πίομαι νδράσιν αIχματα2σι πλέκων | ποικίλονμνον τρυνον νν Kταίρους |ΑIνέα πρτον μ=ν Mραν | Παρθενίαν κελαδNσαι |γνναί τrsquo Hπειτrsquo ρχα2ον νειδος λαθέσιν | λόγοις εI φεύγομεν Βοιωτίαν Pν | σσ0γρ Qγγελος Rρθός | Sϋκόμων σκυτάλα Μοι-|σ3ν γλυκUς κρατ9ρ γαφθέγκτωνοιδ3ν

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3 Enuntiative und pragmatische Polyphonie

Die metaphorische Reiseroute die vom Gedicht als Wagengezeichnet wird betrifft also ebenso den Dichter wie seine Dich-tung dies gilt um so mehr als der Sprecher gegen Ende der Odenicht mehr den jungen Lenker des maumlchtigen Hagesias von Sy-rakus sondern in der Manier des Echos einen gewissen Aineiasadressiert da der Stil dieser Verse so dicht ist (Ol 684ndash91) erweistsich seine Verortung als schwierig15

Meine Ahnmutter ist aus Stymphalosdie wohlbluumlhende Metope

welche die pferdestachelnde Thebe gebar deren liebliches Wasser

ich trinke der ich speerkaumlmpfenden Maumlnnern flechteeinen bunten Hymnos Treib nun die Gefaumlhrten Aineias zuerst Hera

die jungfraumluliche zu besingenum dann zu erkennen ob wir mit wahren Wortendem alten Schimpfwort sbquoboiotische Saulsquo entgehen

Du bist naumlmlich ein rechter BoteBriefstab der schoumlnhaarigen Musen

suumlszliger Mischkrug starktoumlnender Gesaumlnge(Uumlbers Dieter Bremer)

bdquoRechter Boteldquo bdquoBriefstab der schoumlnhaarigen Musenldquo (V 90ndash91)Der junge Mann ist niemand Geringeres als der Repraumlsentant desDichters Ihm ist die Aufgabe uumlberantwortet jetzt (νν) seine Ge-faumlhrten (Kτα2ροι V 87) dazu einzuladen die Goumlttin Hera Partheniazu besingen der in Stymphale in Arkadien gehuldigt wird Im Ver-such der antiken Kommentatoren diese schwierige Passage in dieentsprechende institutionelle Begrifflichkeit zu uumlbertragen heiszligtdas dass es diesem jungen Chorleiter angetragen wird die Cho-

16) Pind Ol 682ndash99 mit Scholion ad V 149a (I S 188 Drachmann) DieRolle des jungen Aineias ist treffend charakterisiert bei Bonifazi (wie Anm 14) 133ndash143 vgl zur Ergaumlnzung die skeptischen Bemerkungen bei M Heath Receiving theKocircmos The Context and Performance of Epinician AJPh 109 1988 180ndash195 undM Lefkowitz The First Person in Pindar Reconsidered ndash Again BIClS 40 1995139ndash150 (mit umfassender Bibliographie) Zur Syntax dieser umstrittenen Passagevgl den nuumltzlichen Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 413ndash415

17) Zu dieser Anspielung auf die Auffuumlhrung des Gedichts in einem Momentder Inspiration und Komposition den die intentionale und sbquoperformativelsquo Form desFuturs mit dem Moment seiner Ausfuumlhrung als Gesangsvortrag korrespondierenlaumlsst siehe besonders G B DrsquoAlessio Past Future and Present Past Temporal Dei-xis in Greek Archaic Lyric Arethusa 37 2004 267ndash294 (289ndash290)

Das poetische Ich 137

reuten zu trainieren die Choreuten werden zum Sprachrohr desDichters jetzt in dem Augenblick der mit der Auffuumlhrung derEpinikie zusammenfaumlllt und an einem Ort den man mit dem ar-kadischen Stymphale identifizieren wollte16

In den Versen nun die dieser Aufforderung an den jungenChorleiter unmittelbar vorausgehen nennt der Sprecher undDich ter sein Vorhaben vom lieblichen Wasser der Quelle Metopezu trinken (πίομαι V 86) und zwar in einer Form des sbquoperforma-tivenlsquo Futurs die den Moment der dichterischen Inspiration mitder Auffuumlhrung der Epinikie zusammenfallen laumlsst17 In einemabermaligen geographisch-genealogischen Rundgang der eineneue Reise in die heroische Zeit des sbquoMythoslsquo darstellt wird of-fenbar dass der Name sbquoMetopelsquo dem Namen einer Nymphe ausStymphale in Arkadien entspricht Ihre Mutter ist niemand ande-res als Thebe und Thebe wiederum ist die eponyme Nymphe vonTheben in Boumlo tien der Heimat des Dichters Vom noch unbe-stimmten Ort der Aussage (eacutenonciation) und des Vortrags des Gedichts sind wir demnach enuntiativ nicht mehr zum Ort derAustragung der Spiele und ihrer Gruumlnder gelangt sondern in eineGegend die benachbart ist dem Ursprungsort der Familie der Iamiden und demnach der Familie des Hagesias wahrscheinlich ineiner Anspielung auf seine Ahnenschaft muumltterlicherseits Dannwerden wir vom Arkadien der Iamiden wiederum nicht an denOrt der Auffuumlhrung sondern an den Ort der Komposition desGedichts geleitet nach Theben in die Heimat Pindars Und in derTat ist es der Inspiration die er bei der Quelle der Metope bdquomei-ner Ahnmutterldquo (V 84) gefunden hat zu verdanken dass der

18) Die Beziehung die der Dichter zwischen seiner Heimat Theben und demStammbaum der Iamiden herstellt ist nachgezeichnet bei L Kurke The Traffic inPraise Pindar and the Poetics of Social Economy Ithaca London 1991 147ndash149ferner Hutchinson (wie Anm 14) 410ndash413 Zu den verschiedenen Metaphern wel-che die dichterische Inspiration mit dem Erguss einer Fluumlssigkeit assoziieren sieheNuumlnlist (wie Anm 11) 195ndash199 (vgl ferner zur Kunst des Webens 110ndash118 sowieJ Scheid J Svenbro Le meacutetier de Zeus Mythe du tissage et du tissu dans le mon-de greacuteco-romain Paris 1994 119ndash130)

19) Vgl Scholia ad V 148a und 148c (I S 187 Drachmann) Vgl dazuV Vigneri Il coro dellrsquoepinicio pindarico negli scholia vetera QUCC 95 2000 87ndash103

20) Ergaumlnzend zu den Ausfuumlhrungen von Lefkovitz (wie Anm 16) sei z Bauf die hervorragenden Bemerkungen bei G B DrsquoAlessio First-Person Problems inPindar BIClS 39 1994 117ndash139 verwiesen

Claude Ca lame138

Dichter seither in einer weiteren in der melischen Dichtung haumlu-fig auftretenden Metapher befaumlhigt ist bdquoeinen bunten Hymnos zuflechtenldquo (πλέκων V 86ndash87)18

Zugunsten dieser zweiten (teilweise impliziten) Ruumlckkehr zuden Orten und Zeiten der sbquomise en discourslsquo und der Auffuumlhrungdes Gedichts wohnen wir dank der abermaligen geographischenund genealogischen (und vom Sprecher als sbquomythischlsquo vorgestell-ten) Reise der subtilen bildreichen und poetischen Entfaltung ei-nes enuntiativen Spiels bei dieses Spiel ist in der melischen Dich-tung haumlufig anzutreffen insbesondere in den Epinikien Pindarsund des Bakchylides Dieses Verfahren der sbquochorischen Delegationlsquolaumlsst in seiner Polyphonie eine Abloumlsung der Stimme des Dichter-Komponisten durch die Stimme der chorischen Gruppe zu die denGesang vortraumlgt Es uumlberrascht daher wenig dass die antikenKommentatoren den jungen Aineias als χοροδιδσκαλος bezeich-nen19 Dieser Leiter des Chors fungiert als Vermittler zwischen derinspirierten Stimme des Sprecher-Ichs und der Chor-Stimme derjungen Saumlnger welche die Auffuumlhrung des Gedichts uumlbernimmtAuf extradiskursiver Ebene wiederum dient Aineias als Vermittlerzwischen dem Autor und Komponisten des Gedichts (in Theben)und der chorischen Gruppe Ausfuumlhrender die in einem rituellenTanz singen (wahrscheinlich in Syrakus) Diese bemerkenswerteenuntiative Polyphonie macht den Streit um die Natur des sbquolyri-schen Ichslsquo in den Epinikien Pindars in vielerlei Hinsicht uumlberfluumls-sig Weder nur sbquomonodischlsquo noch ausschlieszliglich chorisch ist dassbquoIchlsquo sbquoWirlsquo des Sprechers wesentlich polyphon20

21) Zum pejorativen Sinn dieser sprichwoumlrtlichen Wendung unter Einbezugder bdquoPoetik des Tadelsldquo vgl den Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 416ndash417

22) Hier sei auf die verschiedenen Stellen verwiesen die ich in Pragmatiquede la fiction quelques proceacutedures de deixis narrative et eacutenonciative en comparaison(poeacutetique grecque) in J-M Adam U Heidmann (Hrsg) Sciences du texte et ana-lyse de discours Enjeux drsquoune interdisciplinariteacute Lausanne Genegraveve 2005 119ndash143 angefuumlhrt habe zur prozessionalen Dimension des κμος siehe insbesondereK A Morgan Pindar the Professional and the Rhetoric of the kocircmos CPh 88 19931ndash15

23) Vgl die bei Vigneri (wie Anm 19) 97ndash100 angefuumlhrten Stellen sowieC Carey The Victory Ode in Performance The Case for the Chorus CPh 86 1991192ndash200

Das poetische Ich 139

So erklaumlrt sich warum einerseits paradoxerweise der Wunschdem Vorwurf zu entgehen (φεύγομεν V 90) eine bdquoboiotische Sauldquo21

zu sein in der ersten Person Plural gehalten ist der Wunsch beziehtsich nicht nur auf die vom Dichter der Epinikien haumlufig bemuumlhtePoetik der Wahrheit sondern auch auf seinen thebanischen unddemnach boumlotischen Ursprung Andererseits ist es der ChorleiterAineias dem angetragen wird sei es den Musen sei es seinen Cho-reuten zu sagen (εWπον V 92) sie moumlgen sich erinnern und daherzugleich Syrakus und Ortygia hochleben lassen Hinsichtlich derAussage uumlberlagern sich hier durch verschiedene grammatikali-sche wie explizite delegative Bewegungen die Stimme des Dich tersund jene des χοροδιδσκαλος und der chorischen Gruppe

Infolgedessen stuumltzt sich der Uumlbergang von der Metapherzur Realitaumlt der Auffuumlhrung von Pindars Gedicht an seinem Aus-gang nicht mehr auf das Bild des Gespanns sondern auf jenes desκμος (V 98) Bild eines prozessionalen Umzugs wie er bei Pin-dar haumlufig anzutreffen ist22 In den letzten Versen der sechstenOlympischen Ode wird das Gedicht das in seiner Auffuumlhrung be-griffen ist zum prozessionalen Gesang der den siegreichen Ha-gesias aus Syrakus feiert Die antiken Kommentatoren zeigen hierkeine Zuruumlckhaltung κμος und κωμζειν werden regelmaumlszligig alsχορς und χορεXειν erklaumlrt23 In der Tat wird der Tyrann von Sy-rakus Hieron dazu eingeladen den jungen Aristokraten abzu-holen der von dem Ort herkommt wo das Gedicht ihn gelassenhatte in Stymphale Ritueller Empfang anlaumlsslich einer Kultfeier(KορτY V 95) zu Ehren von Demeter und ihrer Tochter Perse-phone die von Aineias gefeiert werden soll wahrscheinlich mit-

24) Die dreifache Ringstruktur die in dieser letzten Ruumlckkehr nach Syrakusendet ist beschrieben bei Froidefond (wie Anm 14) 45ndash48 Zu dieser dichterischenRundreise siehe die glaumlnzende Deutung von S Goldhill The Poetrsquos Voice Essays onPoetics and Greek Literature Cambridge 1991 154ndash166

Claude Ca lame140

hilfe der Musen man wird sich in Erinnerung rufen dass Mutterund Tochter zwei Schutzgottheiten der Stadt sind und dass dieFamilie des Hieron wahrscheinlich das entsprechende Priesteramtinnehatte Durch und in dem prozessionalen Gesang fuumlhrt unsder κμος demnach von Arkadien und spezifisch von Stympha-le unweit der Heimat der Iamiden sowie von Theben der Hei-mat des Dichters hin zum Ort und in die Zeit der Auffuumlhrungdes Gedichts dieser Ort so stellt es sich jetzt heraus ist SyrakusDer abschlieszligende Aufruf zur Gastfreundschaft an den Tyrannenvon Syrakus wie auch eine erste Anspielung zu Beginn des Ge-dichts auf den bdquoMann aus Syrakus den Herrn des Festzugsldquo(V 18) bestaumltigen uumlber den Umweg einer Ringkomposition dassdiese glaumlnzende sizilische Stadt die Auffuumlhrung der von Pindarkomponierten Epinikie erhaumllt24

Ο[κοθεν ο[καδε bdquovon Hause nach Hausldquo (V 99) Gedoppeltdurch eine deiktische Geste die einer bdquoDemonstratio ad oculosldquoentspricht scheint diese letzte raumlumliche Bewegung von der einenHeimat in die andere die doppelte Zugehoumlrigkeit der Familienmit-glieder des Hagesias nachzuvollziehen leiten sie sich einerseits vonden arkadischen Iamiden her sind sie andererseits aber Buumlrger vonSyrakus Wie auch immer ndash diese Bewegung zuruumlck nach Syrakusist geweiht durch die Invokation des Gottes Poseidon zum Ge-dicht-Ende Uumlber die Metapher des Schiffs und seiner beiden An-ker wird der Gott ebenso zum Garanten der doppelten Herkunftdes Hagesias der aus Arkadien und aus Syrakus stammt wie auchder Rundreise des Gedichts in seiner Auffuumlhrung von Thebennach Stymphale nach Syrakus Es ist keineswegs ein Zufall wenndas Gedicht mit der Bitte an den Gemahl der Amphitrite bdquomeineHymnenldquo (V 105) bluumlhen zu lassen schlieszligt finale Ruumlckkehr zurAussageinstanz

Herr Meeresgebieter Gerade Fahrt von Erschoumlpfun-genfern gib Gatte der Amphitrite

25) δέσποτα ποντόμεδον εθUν δ= πλόον καμάτων | κτς όντα δίδοιχρυσαλακάτοιο πόσις | μφιτρίτας μν δrsquo -|μνων Qεξrsquo ετερπ=ς Qνθος

Das poetische Ich 141

der mit der goldenen Spindel und lass meine Hymnenwachsen zu wohlerfreulicher Bluumlte

(Ol 6103ndash105 Uumlbers Dieter Bremer)25

4 Der poetische Apparat der eacutenonciation

Dargestellt als rein metaphorischer Wagen wenn es darum zutun ist mit dem Wettbewerb der vom Kutscher und seinem Ge-spann dargestellt wird die geographische und genealogische Her-kunft (Arkadien und Olympia) der siegreichen Familie nachzu-vollziehen realisiert sich der Gesang zuletzt in seiner chorischenund prozessionalen Identitaumlt im Bilde des κμος aufgefuumlhrt in Sy-rakus fuumlhrt dieses Chorgedicht genealogisch zuruumlck nach Thebenin die Heimat Pindars So fokussiert das doppelte Bild des Ge-spanns und der Prozession die Komposition des Thebaners Pindarim hic et nunc seiner Auffuumlhrung weder in Olympia dem Ort desathletischen Sieges und dem Orakelwesen der Iamiden noch inStymphale dem Ort der Vorfahren muumltterlicherseits des Hagesias(und moumlglicherweise der Heimat des Aineias) noch in Thebender Heimat Pindars und dem Ort an dem das Gedicht geschaffenwurde sondern in Syrakus anlaumlsslich einer kultischen Feier Bleibtdie geographische und genealogische Rundreise die dem sprach -lichen Gespann zugeschrieben wird poetisch und metaphorischso wird jene die als rituelle Prozession vorgestellt ist Realitaumlt nachdem genealogischen Umweg uumlber die Nymphe Thebe und Thebenin Boumlotien stimmen die Zeit und der Ort der narrativen und dis-kursiven Realisierung des Gedichts mit dem sbquoHierlsquo und dem sbquoJetztlsquoseiner Auffuumlhrung uumlberein ndash einem hic et nunc das an der Aus-sageinstanz orientiert ist

Im dichterischen sbquoIchlsquo konvergieren demnach am Ende dergesungenen Komposition die enuntiative Stimme des inspiriertenDichters die Chorstimme der Darsteller des κμος und die Stim-me ihres χοροδιδσκαλος Die bemerkenswerte semantische Aus-dehnung dieses sprachlichen und poetischen sbquoIchslsquo ist wesentlichpolyphon Aber dank der zeitlichen und insbesondere der raumlum -lichen Markierungen die wir bemerkt haben (Syrakus Sparta

26) Damit moumlchte ich dem Prinzip widersprechen auf dem die sbquokritischelsquophilologische Hermeneutik beruht und das immer wieder von Jean Bollack heftigverfochten wird zum Beispiel in seinem juumlngsten Essay Parmeacutenide de lrsquoeacutetant aumonde Lagrasse 2006 11ndash19

Claude Ca lame142

Olympia Arkadien Stymphale Theben) dank der (etwas parado-xen) geographisch-genealogischen Rundreise auch durch die fikti-ven Orte und Zeiten der Gruumlndungsmythenlsquo erhaumllt diese poly-phone Aussageinstanz eine praumlzise extradiskursive Dimension

hinsichtlich sbquoIchlsquo sbquoWirlsquondash Pindar von Theben in seiner Funktion als

inspirierter Dichter und Lehrer der Wahrheitndash Aineias (aus Stymphale) als χοροδιδσκαλοςndash die jungen Choreuten aus Syrakusndash schlieszliglich das Gedicht selbst (objektiviert im

sbquoEslsquo uumlber die Angleichung an das Maultiergespann)hinsichtlich sbquoDulsquo

ndash Hagesias der Arkadier aus Syrakusndash Phintis der Wagenlenker aus Syrakusndash Hieron der Tyrann von Syrakusndash Poseidon der Herr des Meeres

Der polyphonen Komplexitaumlt der Aussageinstanz mit ihrersemantischen Ausdehnung und diskursiven Vielschichtigkeit ent-spricht eine einzigartig ausdifferenzierte bdquofonction-auteurldquo Uumlberdie Metapher des Wagens und uumlber das Bild des κμος als prozes-sionalen und rituellen Gesangs wird sie auf die Auffuumlhrung des Ge-dichts bezogen

Damit haben wir uns weit von der romantischen Auffassungeines sbquolyrischen Ichslsquo entfernt von dem man sich einen unmittel-baren sprachlichen Ausdruck der persoumlnlichen Empfindungen desDichter-Schriftstellers und demnach vom biographischen Dichterverspricht auch weit entfernt von der Intentionalitaumlt eines Dich-ter-Individuums eines autonomen kreativen Subjekts das mit derdichterischen Tradition in die es sich einschreibt gebrochen haumlt-te26 Obwohl er unbestreitbar vorhanden ist wird der Wille derdichterischen Schoumlpfung gefiltert durch eine traditionelle dichte -rische Diktion durch die Regeln der Gattung durch die Erfor-dernisse des rituellen Anlasses durch die Verdopplung in der poe-

Das poetische Ich 143

tischen performance der bdquofonction-auteurldquo durch enuntiativeStrategien dichterischer Ordnung

Besonders im hier gewaumlhlten Beispiel stuumltzt sich das meta-phorische poetische Spiel auf das Gedicht als Objekt in seiner raumlumlichen Verschiebung (was wiederum die Teilnahme am sport-lichen Wettkampf symbolisiert) um dessen Bewegung auf den Ge-sang und den dichterischen und musikalischen Wettkampf zuuumlbertragen der im Gedicht durch ein komplexes enuntiatives Spieldargestellt wird mit diesem Dreh enuntiativer und spazio-tempo-raler Pragmatik wird das Bild des Sieges im Wettkampf auf das hicet nunc der rituellen performance des Gesangs verlagert der von ei-nem polyphonen sbquoIchlsquo auszligergewoumlhnlicher Dichte ausgetragenwird Dieses In-Bewegung-Setzen des Gesangs mittels eines Bildesist zentral in den Gedichten die uns nicht nur konkret in die Zeitund den Raum der sbquomythischenlsquo Gruumlndungsakte einfuumlhren und alspragmatisches kulturelles Gedaumlchtnis fungieren sondern die sichauch uumlber zahlreiche autoreferentielle Interventionen als Ge-sangs-Akte praumlsentieren speech-acts die uumlber enuntiative Bezug-nahmen auf die musikalische Aktivitaumlt die von denjenigen die dasGedicht auffuumlhren ausgeuumlbt wird zu song-acts werden In demMaszlige in dem ihre sbquoDurchfuumlhrunglsquo gewoumlhnlich in eine rituelle Feier fuumlr die Schutzgottheit einer Stadt eingebettet ist sind dieseGesangs-Akte auch cult-acts kultische Handlungen Was die Epi-nikie betrifft so ist ihre religioumlse und politische Aufgabe nicht nurdie Erinnerung an die aristokratische Familie aus welcher der Sie-ger an den panhellenischen Spielen stammt zu bereichern sondernauch das kollektive Gedaumlchtnis des staumldtischen Verbands dem erangehoumlrt lebendig zu erhalten Dies alles vollzieht sich in aus-drucksvollen sprachlichen Bildern die durch den sbquopoetischen Ap-parat der Aussagelsquo des rituellen Gesangs Entfaltung und Wirksam-keit finden

Im archaischen und klassischen Griechenland ist die ars scri-bendi eine ars canendi

Paris Claude Ca lame

Page 4: DAS POETISCHE ICH Enuntiative und ... - rhm.uni-koeln.de · PDF fileder in der ersten Aufsatzsammlung der Problèmes de linguistique générale ... E.Benveniste, Problèmes de linguistique

5) Benveniste (wie Anm 2) 2966) K Buumlhler Sprachtheorie Die Darstellungsform der Sprache Jena 1934

102ndash148

Claude Ca lame128

instanzen die Formen in der ersten Person enthalten wie etwa sbquoichschwoumlrelsquo oder sbquoich versprechelsquo verweisen auf Ausgesagtes oderGeaumluszligertes (eacutenonceacute) bei dem bdquodie Aussage (sc eacutenonciation) mit derHandlung selbst zusammen[faumlllt]ldquo5

Wiewohl selbst ein Vorreiter ignoriert Benveniste die Arbei-ten und das bedeutende Buch seines geistigen Vorgaumlngers KarlBuumlhler Seit 1934 widmete der deutsche Linguist mehrere Kapitelseiner Sprachtheorie den verschiedenen Prozessen sprachlichenZeigens unter dem Einsatz von Anaphora und Demonstrativa

Den Rahmen einer Satz-Linguistik sprengend entdeckte er soin jeder Form von Diskurs ein bdquoHier-Jetzt-Ich-Systemldquo dessenAusgangspunkt im sprachlich ausgedruumlckten sbquoIchlsquo und seinen ver-schiedenen Formen besteht Dieses System das ein bdquoZeigfeldldquostrukturiert entfaltet sich dank der Potentialitaumlten der Spracheauf zwei Ebenen zum einen unter Bezugnahme auf das was dieSprecher (die Aussagenden) vor Augen haben (durch extradiskur-sive Vorgaumlnge deiktischen Verweisens) zum anderen durch einenAppell an das innere Auge und Ohr des Lesers oder Houmlrers (durchdie Vorgaumlnge intradiskursiven Zeigens anaphorischer und kata-phorischer Ordnung) Die Vorgehensweisen der bdquoDemonstratio adoculosldquo vereinen sich demnach in praktisch jeder Form von dis-cours mit den Vorgehensweisen der bdquoDeixis am Phantasmaldquo6

Unter dem Blickwinkel der Interferenz betrachtet erweistsich die (operative) Unterscheidung zwischen bdquoDeixis am Phan -tasmaldquo und bdquoDemonstratio ad oculosldquo dort als essentiell wo die-selben Demonstrativa wie etwa im Griechischen jene auf -δε evozieren was im und durch den discours (durch Anapher und Katapher) kreiert wird sich zugleich aber auf die extra-linguisti-sche Realitaumlt beziehen koumlnnen Eine solche doppelte Moumlglichkeitsowohl der internen als auch der externen Referenz mit ein unddemselben Demonstrativum laumlsst die Unterscheidung zwischendiscours und histoire reacutecit freilich als bruumlchig erscheinen sie bestaumltigt die Durchlaumlssigkeit zwischen dem Intra- und dem Ex -tra-Diskursiven indem sie zum Beispiel der Fiktion in deren Eigenschaft als moumlglicher Welt jeden Anspruch auf semantischeAutonomie entzieht Es empfiehlt sich demnach die moumlgliche

7) Eine Darstellung und Auswertung des operativen Nutzens des Begriffsbdquofonction-auteurldquo fuumlr verschiedene antike Diskursformen findet sich bei C Ca -lame R Chartier (Hrsg) Identiteacutes drsquoauteur dans lrsquoAntiquiteacute et la tradition eu-ropeacuteenne Grenoble 2004

8) Zu diesen Unterscheidungen vgl meine einfuumlhrenden Bemerkungen zuMasques drsquoautoriteacute Fiction et pragmatique dans la poeacutetique grecque antique Paris2005 13ndash40 (engl Uumlbersetzung Masks of Authority Fiction and Pragmatics in An-cient Greek Poetics Ithaca London 2005 1ndash16)

Das poetische Ich 129

Kombination der beiden Prozeduren der bdquoDeixis am Phantasmaldquound der bdquoDemonstratio ad oculosldquo von der Ebene des reacutecit auf jenedes discours zu uumlbertragen

Dieser doppelte Bezeichnungsvorgang der sich an die Vor-stellungskraft zu wenden und zugleich die extralinguistische Rea-litaumlt zu bezeichnen vermag betrifft ebenso was ich die bdquoAussa -geinstanzldquo (bdquoinstance drsquoeacutenonciationldquo) nenne also das sbquoIchlsquo mitsamtseinen raumlumlichen wie zeitlichen Parametern im System ego tu ndashhic ndash nunc

Das heiszligt dass sich vor jeder extradiskursiven Bezugnahmeim discours mit linguistischen Mitteln eine Autorfigur konstruiertdie rein verbaler Natur ist Die Figur des Erzaumlhlers oder genauerdes Sprecher-Ichs das haumlufig einem Gespraumlchspartner-Du gegen -uumlbergestellt ist (auch dies eine rein verbale Figur) Diese Figur diesich in einer enuntiativen Haltung herausbildet und die mit einemdiskursiven Ethos ausgestattet wird verweist nur mittelbar zu -naumlchst auf den in seiner institutionellen Funktion erfassten AutorDieser definiert sich in seiner Eigenschaft als soziale Figur durchseine bdquofonction-auteurldquo um eine von Michel Foucault vorgebrach-te Idee aufzugreifen Wer aber im Falle der griechischen Dichtungvon bdquofonction-auteurldquo spricht sagt gleichzeitig bdquofonction-exeacute-cutantldquo da die dichterische performance von Darstellern an einemrituellen Anlass uumlbernommen wird Von Aoumlden oder RhapsodenChoreuten Schauspielern eines tragischen oder komischen Dra-mas usw7 Nur uumlber diesen zunaumlchst diskursiven dann institutio-nellen Umweg verweist die Figur des Sprecher-Ichs letztlich aufden Autor in der historischen Realitaumlt mit seiner Intentionalitaumltund Kreativitaumlt (einer Kreativitaumlt die je nach Betrachtungsweise inpsychologischen psychoanalytischen mentalen kognitiven neu-ronalen oder sozialen Kategorien gefasst werden kann)8

Wichtig ist die Vermengung der Perspektive die Benvenistemit seiner Erforschung der Aussage eroumlffnet die er zwischen reacutecit

9) Ich erlaube mir hier abermals einen Verweis auf meine einfuumlhrenden Bemerkungen zu Poeacutetique des mythes dans la Gregravece antique Paris 2000 11ndash69Vgl jetzt auch Mythos musische Leistung und Ritual am Beispiel der melischenDichtung in A Bierl R Laumlmmle K Wesselmann (Hrsg) Literatur und ReligionWege zu einer mythisch-rituellen Poetik bei den Griechen Band I Berlin NewYork 2007 179ndash210

10) Fuumlr all diese sbquoperformativenlsquo Aspekte der griechischen Dichtung zumalwenn es sich um Chordichtung handelt siehe die nuumltzliche Darstellung bei A BierlDer Chor in der alten Komoumldie Ritual und Performativitaumlt Muumlnchen Leipzig2001 11ndash64

Claude Ca lame130

(eacutenonceacute) und discours (eacutenonceacute de lrsquoeacutenonciation) verortet mit derPerspektive von Buumlhler in Bezug auf die Prozeduren der Deixisderen Brennpunkt das diskursive sbquoIchlsquo ist sie hat einen Einflussnicht nur auf die Konzeption des Autors und seiner dichterischenAutoritaumlt sondern auch auf jene der Fiktion und des sbquoMythoslsquo inihrer diskursiven Dimension Im Falle der Dichtung des klassi-schen Griechenlands die wir trotz ihres stark pragmatischen Cha-rakters als sbquoLiteraturlsquo auffassen gilt es demnach nicht nur das Pro-blem des dichterischen (und sbquolyrischenlsquo) sbquoIchslsquo in neuem Lichte zubetrachten sondern gleichermaszligen das Problem jener Erzaumlhlun-gen die wir sbquomythischlsquo nennen weil wir an ihrem empirischen Ge-halt zweifeln und sie daher dem Fiktiven zuordnen Der Mythosist in der Anthropologie und Philosophie eine kanonisch gewor-dene moderne Abstraktion Nun existieren aber in Griechenlandwie in anderen traditionellen Kulturen die Mythen nur in dichteri-schen Formen nur die Dichtung laumlsst diese Erzaumlhlungen uumlber dieGoumltter und die heroische Vergangenheit in Gegenwart eines Publi-kums in rituellem sozialem und kulturell gegebenem Rahmen auf-leben9 Das heiszligt dass jedes mythische eacutenonceacute von (verbalen wiesozialen) Regeln des dichterischen Genres bestimmt ist das dieAussage unter seinen jeweiligen Bedingungen realisiert Die fuumlr ge-woumlhnlich rituelle Aussagesituation fuumlgt oft die betreffende dichte-rische Komposition im Moment ihrer Auffuumlhrung in rituelleEhrerbietungen fuumlr einen Gott ein in einem Raum der ihm ge-weiht ist Durch verschiedene Prozeduren enuntiativer Art er-scheint das Gedicht wie ein Gesangs- und folglich wie ein Kult -akt10 Uumlber diesen enuntiativen und performativen Umweg wirdder sbquomythischelsquo reacutecit durch den discours auf das hic et nunc der Auf-fuumlhrung des Gesangs und ihre Umstaumlnde bezogen

Durch die Pragmatik der poetischen Formen erweist sich diesbquoFiktionlsquo des griechischen Mythos als ein viel vermoumlgendes Mittel

Das poetische Ich 131

musikalischen und rhythmischen Handelns uumlber die Vermittlungdes Dichters in seiner Eigenschaft als inspirierter σοφς gruumlndetdie Musik ebensosehr auf den kreativen Moumlglichkeiten einer tra-ditionellen dichterischen Sprache wie auf den Prozeduren der enun-tiativen und pragmatischen Bezeichnung wie sie von jeder ge -sprochenen Sprache gewaumlhrleistet ist Wesentlich ist in dieser Hin-sicht die Position die vom sbquoIchlsquo des Sprechers in seiner Rolle alssbquoAussageinstanzlsquo eingenommen wird diese Ich-Position bildetden Aus gangspunkt der Prozeduren der enuntiativen Bezugnahmeunter den Bedingungen der Komposition und der Aussage vondem was im Gedicht spezifisch im mythischen und fiktionalenreacutecit ausgesprochen wird Verbal und poetisch musikalisch undrhythmisch ist dieses sbquoIchlsquo das im Verlaufe der dichterischenKomposition eine beachtliche Ausdehnung erfaumlhrt Die Stimmedieses poetischen sbquoIchlsquo entwickelt sich bisweilen zu einer regel-rechten Polyphonie die in der Praxis der Auffuumlhrung ihren Nie-derschlag findet Das gilt in besonderem Maszlige fuumlr den Fall jenerFormen von Chordichtung die der umfassenden Gattung desμλος angehoumlren und die in etwas voreiliger Weise aufgrund derTatsache dass sich in ihnen ein sbquoIchlsquo findet das allzu schnell undunmittelbar mit dem Autor identifiziert wird mit dem Etikett dessbquoLyrischenlsquo versehen werden

Am einzigartigen Beispiel eines melischen Gedichtes vonPindar das der Gattung der Epinikien zugeordnet wird soll imfolgenden der komplexe Prozess der musikalischen Komposition-performance dargelegt werden der sowohl die dichterische Meta-pher als auch den heroischen reacutecit (den sbquoMythoslsquo) in den Dienst einer rituellen Feier stellt und zwar uumlber den Umweg eines enun-tiativen und pragmatischen Verfahrens von bemerkenswerterDichte

2 Dichterische Bilder und Wirkkraft des Gesangs

Von Parmenides bis Empedokles uumlber Simonides Pindaroder Bakchylides finden sich ungezaumlhlte griechische Dichter vor-klassischer Zeit die sich selbst auf den Streitwagen der Musenoder verwandter Goumlttinnen einladen Die Einladung schreibt sichein in die griechische Poetik der musikalischen Inspiration Siegruumlndet auf einer Metapher die man beispielsweise in der vedi-

11) Parm fr 28 B 11ndash5 Diels Kranz und Emp fr 31 B 33ndash5 Diels Kranzsiehe bei den melischen Dichtern auch Pind Ol 980ndash81 Isthm 861ndash62 etc ZuParmenides siehe den unentbehrlichen Kommentar von G Cerri Parmenide diElea Poema sulla natura Milano 1999 98ndash108 und 166ndash182 zu Empedokles vglA Rosenfeld-Loumlffler La poeacutetique drsquoEmpeacutedocle Cosmologie et meacutetaphore Bern New York 2005 36ndash57 Weitere Anleihen bei der vedischen Poesie sind genannt beiR Nuumlnlist Poetologische Bildersprache in der fruumlhgriechischen Dichtung Stutt-gart Leipzig 1998 255ndash261

12) Φίντις λλ ζεξον -|δη μοι σθένος μιόνων | τάχος φρακελεύθamp τrsquo ν καθαρ( | βάσομεν κχον κωμαί τε πρς νδρν | κα0 γένοςmiddot κε2ναιγρ ξ λ-|λ3ν 4δν 5γεμονεσαι | ταύταν πίστανται στεφάνους ν 7λυμπί8 | πε0δέξαντοmiddot χρ9 τοίνυν πύλας -|μνων ναπιτνάμεν ατα2ςmiddot | πρς Πιτάναν δ= παρrsquoΕρώ-|τα πόρον δε2 σμερον λθε2ν ν Bρ8middot

Claude Ca lame132

schen Dichtung findet In einem metaphorischen Verfahren wirddie Liedkomposition und -auffuumlhrung mit der Teilnahme an einemWagenrennen verglichen Es ist dies die Art und Weise mit derParmenides mithilfe der Toumlchter der Sonne an die Pforte von Tagund Nacht gelangt wo ihn die goumlttliche Gerechtigkeit erwartet esist dies die Art und Weise mit der die Muse die von Empedoklesangerufen worden ist fuumlr den Dichter den fuumlgsamen Wagen lenktder vom Koumlnigreich der Froumlmmigkeit herstammt11 Aber eine Me-tapher die auf einem dynamischen Sprachbild wie jenem des Wa-gens gruumlndet ist nicht den vorplatonischen Denkern vorbehaltendie auf die epische Sprache zuruumlckgreifen sie ist auch bei diversenmelischen Dichtern in Gebrauch ganz besonders in den Gesaumln-gen die den Sieg eines jungen Athleten an den PanhellenischenSpielen feiern in Delphi oder in Olympia aber auch in Nemeaoder am Isthmus von Korinth

In einem Loblied auf den jungen sizilischen Sieger im Wagen-rennen bei den Olympischen Spielen im Jahre 472 oder 468 v Chrvergleicht sbquoPindarlsquo die Komposition seines Gedichts mit dem Er-richten eines Palastes Nachdem er ein eroumlffnendes Lob auf denSieger ausgesprochen hat indem er eine erste Verbindungsliniezwischen Olympia dem Austragungsort der Spiele und Syrakusder Heimatstadt des Siegers gezogen hat nachdem er fuumlr seineLobpreisung des edlen Hagesias die bdquohonigtoumlnendenldquo Musen alsZeuginnen angerufen hat (Ol 61ndash21) schreckt der Sprecher nichtdavor zuruumlck das Maultier-Viergespann das den OlympischenSieg errungen hat mit seinem eigenen Gedicht zu vergleichen(Ol 622ndash28)12

13) Pindar Siegeslieder Griechisch-Deutsch Herausgegeben uumlbersetzt undmit einer Einfuumlhrung versehen von Dieter Bremer Muumlnchen 1992 ndash Zum Vergleichdes Dichters mit dem Athleten bei Pindar vgl D Auger De lrsquoartisan agrave lrsquoathlegravete lesmeacutetaphores de la Creacuteation poeacutetique dans lrsquoeacutepinicie et chez Pindare in M Cos -tantini J Lallot (Hrsg) Le texte et ses repreacutesentations Paris 1987 39ndash56

Das poetische Ich 133

Phintis auf spann mir jetztdie Kraft der Maultiere an

so schnell es geht damit wir auf reiner Bahnden Wagen fahren und ich auch zum Ursprung derMaumlnner komme Denn jene Tiere verstehen vor anderen

auf diesem Wege zu fuumlhrenda sie die Kraumlnze in Olympiaerhielten es tut also not die Tore

der Hymnen ihnen zu oumlffnenan den Strom des Eurotas muss ich heute

kommen zur rechten Zeit nach Pitane(Uumlbers Dieter Bremer)13

Und so adressiert derjenige der sbquoIchlsquo sagt in der zweiten Triadedieser sechsten Olympischen Ode direkt den Lenker des Gespannsder Lenker Phintis ist in Olympia der Vertreter von Hagesias demAristokraten aus Syrakus der den Unterhalt des siegreichen Ge-spanns finanziert Der Dichter bittet den jungen Mann die Maul-tiere anzuschirren sie mit seinem Wagen zu lenken und ihnen diebdquoTore der Hymnen zu oumlffnenldquo (V 27) Mit einer Metapher wird dervorliegende Gesang zum Mittel einer Verschiebung deren poeti-scher Ausdruck sich uumlberdies einer starken Wegmetaphorik be-dient (κλευθος V 23 4δς V 25) Aber statt uns von Olympianach Syrakus zu fuumlhren wo uns die enuntiative Bewegung des Ge-dichts zunaumlchst hingebracht hat statt uns an die Staumltte des Siegesund von da an den Ort zu fuumlhren an dem die Siegesfeier stattfin-den duumlrfte bringt uns das Gespann-Gedicht hin an den Eurotas inLakonien ins Staumldtchen Pitane das ein Stadtteil von Sparta ist

Diese unerwartete geographische Verschiebung geht mit einerebenso unerwarteten zeitlichen Bewegung einher vom bdquoheuteldquo(σμερον V 28) das mit der Zeit der eacutenonciation des Liedes (bdquodis-coursldquo) korrespondiert in die unbestimmte Vergangenheit in einenarrative und goumlttliche Zeit (bdquoreacutecitldquo bdquomytheldquo) es ist die Zeit zu

14) Pind Ol 622ndash42 Die umstrittene Frage nach der Datierung und denUmstaumlnden der Auffuumlhrung dieses komplexen Gedichts wird eroumlrtert bei Ch Froi -de fond Lire Pindare Namur 1989 29ndash48 der fuumlr eine Auffuumlhrung des Gedichtsnicht in Syrakus sondern in Stymphale in Arkadien plaumldiert wie nach ihm auchG O Hutchinson Greek Lyric Poetry A Commentary on Selected Larger PiecesOxford 2001 371ndash374 Hierauf wird weiter unten zuruumlckgekommen Zur Sequenzder deiktischen Gesten die den enuntiativen Rahmen dieses Gedichts ausmachenvgl die nuumltzliche Studie von A Bonifazi Mescolare un cratere di canti Alessandria2001 103ndash149

Claude Ca lame134

der Poseidon sich mit der jungen Pitane vereinigt hatte der epony-men Nymphe des spartanischen Staumldtchens14 Fuumlr uns entsprichtdiese Zeit derjenigen des sbquoMythoslsquo

Aus dieser goumlttlichen und geheimen Vereinigung ndash so derFortgang des dichterischen und sbquomythischenlsquo reacutecit ndash geht Euadnehervor sie wurde in Arkadien groszliggezogen nicht weit vom Al -pheios ehe sie ihrerseits vom jungen Gott Apollon verfuumlhrt wirdAus dieser zweiten Liebe eines Gottes mit einer jungen Sterblichengeht Iamos hervor Dieser Heros der ebenfalls in der Naumlhe desAlpheios in arkadischem Gebiet geboren wurde steht am Ur-sprung einer Familie von Sehern den Iamiden doch erweist er sichgleichermaszligen als Vorfahr vaumlterlicherseits des Hagesias von Sy-rakus dem Sponsor des Viergespanns das den Sieg bei den Olym-pischen Spielen errungen hat und das in dieser Epinikie besungenwird Man erfaumlhrt weiter dass er als kleines Kind ausgesetzt undinmitten der Blumen von zwei Schlangen mit Bienenhonig ernaumlhrtwurde Uumlber den Honig mit der Suumlszlige der dichterischen Ver-fuumlhrung assoziiert wird die Stimme von Iamos in die Stimme einesHellsehers verwandelt dies geschieht durch den Willen seinesGroszligvaters Poseidon und ganz besonders durch das Eingreifen sei-nes Vaters Apollon dem Gott des Orakels zu Delphi Der jungeHeros ist also dazu auserkoren diese Gabe inspirierten Hellsehensan seine Nachkommen die Iamiden weiterzuvererben Apoll istes der Iamos dann selbst nach Olympia fuumlhrt inspiriert vom Gottvon Delphi gruumlndet der junge Heros alsdann am Ufer des Alphei-os das Orakel das am Altar des Zeus die Gruumlndung der Olympi-schen Spiele durch Herakles voraussagen wird

Dem siegreichen Gespann aus Syrakus angeglichen zeichnetalso dieses Gedicht eine geographische Kreisbewegung nach In-dem der Beginn in Syrakus eingeklammert wird fuumlhrt uns derWeg der von der Metapher des Wagens gezeichnet wird tatsaumlch-

Das poetische Ich 135

lich vom Austragungsort des Wettkampfs in der Naumlhe des Alphei-os hin nach Lakonien und Sparta um uns schlieszliglich uumlber Pisatisund die Grenzen Arkadiens nach Olympia zuruumlckzufuumlhren Die-se geographische Reiseroute ist mit einem zeitlichen Rundgang ge-paart der uns in die Zeit der Aussage (eacutenonciation) zuruumlckfuumlhrtausgehend von diesem hic et nunc hat das Gedicht als Rennwagenzur langen genealogischen Reise in die goumlttliche und heroische Ver-gangenheit der Iamiden und ebenso in die urspruumlngliche und sbquomy-thischelsquo Zeit eines doppelten Gruumlndungsakts angehoben die Ein-richtung des Orakels zu Olympia das von den Nachfahren des Iamos gefuumlhrt wird sowie der Spiele selbst in der Zeit des Hera -kles

bdquo damit wir auf reiner Bahn den Wagen fahren und ich auchzum Ursprung der Familie des Hagesias kommeldquo (V 23) wuumlrdeich also uumlbersetzen Der Anfang dieses zeitlichen Rundgangs (derzugleich seinen Endpunkt darstellen wird) ist von der Alternationder autoreferentiellen Formen im Singular und im Plural (βάσομενim Plural aber κωμαι im Singular in demselben Vers 24) gekenn-zeichnet durch diese Fomen wird die zugleich zeitliche wie raumlum-liche Verschiebung uumlber die Vermittlung des Bilds eines Gespannsvon einer Aussageinstanz aufgenommen die mit einer komplexenKommunikationssituation korrespondiert Das sbquoIchlsquo sbquoWirlsquo desSprechers scheint in der Tat sowohl den Sieger (den Wagenlenkerdes siegreichen Gespanns in Olympia das von Hagesias von Sy-rakus unterhalten wird) als auch den Dichter (Pindar von Thebenden Lenker des Gesangs) und die wahrscheinlich anwesende Chor-gruppe welche den Gesang sbquoPindarslsquo auffuumlhrte in sich zu vereinenIn diesem Stuumlck dichterischer Historiographie geographischer wiegenealogischer Ausrichtung wohnt man der Fahrt des Dichters mitdem Wagenlenker des Hagesias bei auf dem Wagen der zum Ge-dicht geworden ist faumlhrt man mit dem Dichter in Richtung Pitanenach Sparta und durch Arkadien zuruumlck nach Olympia entlangden Ufern des Alpheios und entsprechend in die Zeit des sbquoMy-thoslsquo dieser geographische und historische Rundgang kann nur einmetaphorischer sein Er gehoumlrt ins Reich der Dichtung um nichtzu sagen der poetischen Fiktion

15) ματρομάτωρ μ Στυμ-|φαλίς εανθ9ς Μετώπα | πλάξιππον E ΘήβανHτι-|κτεν τ3ς ρατεινν δωρ | πίομαι νδράσιν αIχματα2σι πλέκων | ποικίλονμνον τρυνον νν Kταίρους |ΑIνέα πρτον μ=ν Mραν | Παρθενίαν κελαδNσαι |γνναί τrsquo Hπειτrsquo ρχα2ον νειδος λαθέσιν | λόγοις εI φεύγομεν Βοιωτίαν Pν | σσ0γρ Qγγελος Rρθός | Sϋκόμων σκυτάλα Μοι-|σ3ν γλυκUς κρατ9ρ γαφθέγκτωνοιδ3ν

Claude Ca lame136

3 Enuntiative und pragmatische Polyphonie

Die metaphorische Reiseroute die vom Gedicht als Wagengezeichnet wird betrifft also ebenso den Dichter wie seine Dich-tung dies gilt um so mehr als der Sprecher gegen Ende der Odenicht mehr den jungen Lenker des maumlchtigen Hagesias von Sy-rakus sondern in der Manier des Echos einen gewissen Aineiasadressiert da der Stil dieser Verse so dicht ist (Ol 684ndash91) erweistsich seine Verortung als schwierig15

Meine Ahnmutter ist aus Stymphalosdie wohlbluumlhende Metope

welche die pferdestachelnde Thebe gebar deren liebliches Wasser

ich trinke der ich speerkaumlmpfenden Maumlnnern flechteeinen bunten Hymnos Treib nun die Gefaumlhrten Aineias zuerst Hera

die jungfraumluliche zu besingenum dann zu erkennen ob wir mit wahren Wortendem alten Schimpfwort sbquoboiotische Saulsquo entgehen

Du bist naumlmlich ein rechter BoteBriefstab der schoumlnhaarigen Musen

suumlszliger Mischkrug starktoumlnender Gesaumlnge(Uumlbers Dieter Bremer)

bdquoRechter Boteldquo bdquoBriefstab der schoumlnhaarigen Musenldquo (V 90ndash91)Der junge Mann ist niemand Geringeres als der Repraumlsentant desDichters Ihm ist die Aufgabe uumlberantwortet jetzt (νν) seine Ge-faumlhrten (Kτα2ροι V 87) dazu einzuladen die Goumlttin Hera Partheniazu besingen der in Stymphale in Arkadien gehuldigt wird Im Ver-such der antiken Kommentatoren diese schwierige Passage in dieentsprechende institutionelle Begrifflichkeit zu uumlbertragen heiszligtdas dass es diesem jungen Chorleiter angetragen wird die Cho-

16) Pind Ol 682ndash99 mit Scholion ad V 149a (I S 188 Drachmann) DieRolle des jungen Aineias ist treffend charakterisiert bei Bonifazi (wie Anm 14) 133ndash143 vgl zur Ergaumlnzung die skeptischen Bemerkungen bei M Heath Receiving theKocircmos The Context and Performance of Epinician AJPh 109 1988 180ndash195 undM Lefkowitz The First Person in Pindar Reconsidered ndash Again BIClS 40 1995139ndash150 (mit umfassender Bibliographie) Zur Syntax dieser umstrittenen Passagevgl den nuumltzlichen Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 413ndash415

17) Zu dieser Anspielung auf die Auffuumlhrung des Gedichts in einem Momentder Inspiration und Komposition den die intentionale und sbquoperformativelsquo Form desFuturs mit dem Moment seiner Ausfuumlhrung als Gesangsvortrag korrespondierenlaumlsst siehe besonders G B DrsquoAlessio Past Future and Present Past Temporal Dei-xis in Greek Archaic Lyric Arethusa 37 2004 267ndash294 (289ndash290)

Das poetische Ich 137

reuten zu trainieren die Choreuten werden zum Sprachrohr desDichters jetzt in dem Augenblick der mit der Auffuumlhrung derEpinikie zusammenfaumlllt und an einem Ort den man mit dem ar-kadischen Stymphale identifizieren wollte16

In den Versen nun die dieser Aufforderung an den jungenChorleiter unmittelbar vorausgehen nennt der Sprecher undDich ter sein Vorhaben vom lieblichen Wasser der Quelle Metopezu trinken (πίομαι V 86) und zwar in einer Form des sbquoperforma-tivenlsquo Futurs die den Moment der dichterischen Inspiration mitder Auffuumlhrung der Epinikie zusammenfallen laumlsst17 In einemabermaligen geographisch-genealogischen Rundgang der eineneue Reise in die heroische Zeit des sbquoMythoslsquo darstellt wird of-fenbar dass der Name sbquoMetopelsquo dem Namen einer Nymphe ausStymphale in Arkadien entspricht Ihre Mutter ist niemand ande-res als Thebe und Thebe wiederum ist die eponyme Nymphe vonTheben in Boumlo tien der Heimat des Dichters Vom noch unbe-stimmten Ort der Aussage (eacutenonciation) und des Vortrags des Gedichts sind wir demnach enuntiativ nicht mehr zum Ort derAustragung der Spiele und ihrer Gruumlnder gelangt sondern in eineGegend die benachbart ist dem Ursprungsort der Familie der Iamiden und demnach der Familie des Hagesias wahrscheinlich ineiner Anspielung auf seine Ahnenschaft muumltterlicherseits Dannwerden wir vom Arkadien der Iamiden wiederum nicht an denOrt der Auffuumlhrung sondern an den Ort der Komposition desGedichts geleitet nach Theben in die Heimat Pindars Und in derTat ist es der Inspiration die er bei der Quelle der Metope bdquomei-ner Ahnmutterldquo (V 84) gefunden hat zu verdanken dass der

18) Die Beziehung die der Dichter zwischen seiner Heimat Theben und demStammbaum der Iamiden herstellt ist nachgezeichnet bei L Kurke The Traffic inPraise Pindar and the Poetics of Social Economy Ithaca London 1991 147ndash149ferner Hutchinson (wie Anm 14) 410ndash413 Zu den verschiedenen Metaphern wel-che die dichterische Inspiration mit dem Erguss einer Fluumlssigkeit assoziieren sieheNuumlnlist (wie Anm 11) 195ndash199 (vgl ferner zur Kunst des Webens 110ndash118 sowieJ Scheid J Svenbro Le meacutetier de Zeus Mythe du tissage et du tissu dans le mon-de greacuteco-romain Paris 1994 119ndash130)

19) Vgl Scholia ad V 148a und 148c (I S 187 Drachmann) Vgl dazuV Vigneri Il coro dellrsquoepinicio pindarico negli scholia vetera QUCC 95 2000 87ndash103

20) Ergaumlnzend zu den Ausfuumlhrungen von Lefkovitz (wie Anm 16) sei z Bauf die hervorragenden Bemerkungen bei G B DrsquoAlessio First-Person Problems inPindar BIClS 39 1994 117ndash139 verwiesen

Claude Ca lame138

Dichter seither in einer weiteren in der melischen Dichtung haumlu-fig auftretenden Metapher befaumlhigt ist bdquoeinen bunten Hymnos zuflechtenldquo (πλέκων V 86ndash87)18

Zugunsten dieser zweiten (teilweise impliziten) Ruumlckkehr zuden Orten und Zeiten der sbquomise en discourslsquo und der Auffuumlhrungdes Gedichts wohnen wir dank der abermaligen geographischenund genealogischen (und vom Sprecher als sbquomythischlsquo vorgestell-ten) Reise der subtilen bildreichen und poetischen Entfaltung ei-nes enuntiativen Spiels bei dieses Spiel ist in der melischen Dich-tung haumlufig anzutreffen insbesondere in den Epinikien Pindarsund des Bakchylides Dieses Verfahren der sbquochorischen Delegationlsquolaumlsst in seiner Polyphonie eine Abloumlsung der Stimme des Dichter-Komponisten durch die Stimme der chorischen Gruppe zu die denGesang vortraumlgt Es uumlberrascht daher wenig dass die antikenKommentatoren den jungen Aineias als χοροδιδσκαλος bezeich-nen19 Dieser Leiter des Chors fungiert als Vermittler zwischen derinspirierten Stimme des Sprecher-Ichs und der Chor-Stimme derjungen Saumlnger welche die Auffuumlhrung des Gedichts uumlbernimmtAuf extradiskursiver Ebene wiederum dient Aineias als Vermittlerzwischen dem Autor und Komponisten des Gedichts (in Theben)und der chorischen Gruppe Ausfuumlhrender die in einem rituellenTanz singen (wahrscheinlich in Syrakus) Diese bemerkenswerteenuntiative Polyphonie macht den Streit um die Natur des sbquolyri-schen Ichslsquo in den Epinikien Pindars in vielerlei Hinsicht uumlberfluumls-sig Weder nur sbquomonodischlsquo noch ausschlieszliglich chorisch ist dassbquoIchlsquo sbquoWirlsquo des Sprechers wesentlich polyphon20

21) Zum pejorativen Sinn dieser sprichwoumlrtlichen Wendung unter Einbezugder bdquoPoetik des Tadelsldquo vgl den Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 416ndash417

22) Hier sei auf die verschiedenen Stellen verwiesen die ich in Pragmatiquede la fiction quelques proceacutedures de deixis narrative et eacutenonciative en comparaison(poeacutetique grecque) in J-M Adam U Heidmann (Hrsg) Sciences du texte et ana-lyse de discours Enjeux drsquoune interdisciplinariteacute Lausanne Genegraveve 2005 119ndash143 angefuumlhrt habe zur prozessionalen Dimension des κμος siehe insbesondereK A Morgan Pindar the Professional and the Rhetoric of the kocircmos CPh 88 19931ndash15

23) Vgl die bei Vigneri (wie Anm 19) 97ndash100 angefuumlhrten Stellen sowieC Carey The Victory Ode in Performance The Case for the Chorus CPh 86 1991192ndash200

Das poetische Ich 139

So erklaumlrt sich warum einerseits paradoxerweise der Wunschdem Vorwurf zu entgehen (φεύγομεν V 90) eine bdquoboiotische Sauldquo21

zu sein in der ersten Person Plural gehalten ist der Wunsch beziehtsich nicht nur auf die vom Dichter der Epinikien haumlufig bemuumlhtePoetik der Wahrheit sondern auch auf seinen thebanischen unddemnach boumlotischen Ursprung Andererseits ist es der ChorleiterAineias dem angetragen wird sei es den Musen sei es seinen Cho-reuten zu sagen (εWπον V 92) sie moumlgen sich erinnern und daherzugleich Syrakus und Ortygia hochleben lassen Hinsichtlich derAussage uumlberlagern sich hier durch verschiedene grammatikali-sche wie explizite delegative Bewegungen die Stimme des Dich tersund jene des χοροδιδσκαλος und der chorischen Gruppe

Infolgedessen stuumltzt sich der Uumlbergang von der Metapherzur Realitaumlt der Auffuumlhrung von Pindars Gedicht an seinem Aus-gang nicht mehr auf das Bild des Gespanns sondern auf jenes desκμος (V 98) Bild eines prozessionalen Umzugs wie er bei Pin-dar haumlufig anzutreffen ist22 In den letzten Versen der sechstenOlympischen Ode wird das Gedicht das in seiner Auffuumlhrung be-griffen ist zum prozessionalen Gesang der den siegreichen Ha-gesias aus Syrakus feiert Die antiken Kommentatoren zeigen hierkeine Zuruumlckhaltung κμος und κωμζειν werden regelmaumlszligig alsχορς und χορεXειν erklaumlrt23 In der Tat wird der Tyrann von Sy-rakus Hieron dazu eingeladen den jungen Aristokraten abzu-holen der von dem Ort herkommt wo das Gedicht ihn gelassenhatte in Stymphale Ritueller Empfang anlaumlsslich einer Kultfeier(KορτY V 95) zu Ehren von Demeter und ihrer Tochter Perse-phone die von Aineias gefeiert werden soll wahrscheinlich mit-

24) Die dreifache Ringstruktur die in dieser letzten Ruumlckkehr nach Syrakusendet ist beschrieben bei Froidefond (wie Anm 14) 45ndash48 Zu dieser dichterischenRundreise siehe die glaumlnzende Deutung von S Goldhill The Poetrsquos Voice Essays onPoetics and Greek Literature Cambridge 1991 154ndash166

Claude Ca lame140

hilfe der Musen man wird sich in Erinnerung rufen dass Mutterund Tochter zwei Schutzgottheiten der Stadt sind und dass dieFamilie des Hieron wahrscheinlich das entsprechende Priesteramtinnehatte Durch und in dem prozessionalen Gesang fuumlhrt unsder κμος demnach von Arkadien und spezifisch von Stympha-le unweit der Heimat der Iamiden sowie von Theben der Hei-mat des Dichters hin zum Ort und in die Zeit der Auffuumlhrungdes Gedichts dieser Ort so stellt es sich jetzt heraus ist SyrakusDer abschlieszligende Aufruf zur Gastfreundschaft an den Tyrannenvon Syrakus wie auch eine erste Anspielung zu Beginn des Ge-dichts auf den bdquoMann aus Syrakus den Herrn des Festzugsldquo(V 18) bestaumltigen uumlber den Umweg einer Ringkomposition dassdiese glaumlnzende sizilische Stadt die Auffuumlhrung der von Pindarkomponierten Epinikie erhaumllt24

Ο[κοθεν ο[καδε bdquovon Hause nach Hausldquo (V 99) Gedoppeltdurch eine deiktische Geste die einer bdquoDemonstratio ad oculosldquoentspricht scheint diese letzte raumlumliche Bewegung von der einenHeimat in die andere die doppelte Zugehoumlrigkeit der Familienmit-glieder des Hagesias nachzuvollziehen leiten sie sich einerseits vonden arkadischen Iamiden her sind sie andererseits aber Buumlrger vonSyrakus Wie auch immer ndash diese Bewegung zuruumlck nach Syrakusist geweiht durch die Invokation des Gottes Poseidon zum Ge-dicht-Ende Uumlber die Metapher des Schiffs und seiner beiden An-ker wird der Gott ebenso zum Garanten der doppelten Herkunftdes Hagesias der aus Arkadien und aus Syrakus stammt wie auchder Rundreise des Gedichts in seiner Auffuumlhrung von Thebennach Stymphale nach Syrakus Es ist keineswegs ein Zufall wenndas Gedicht mit der Bitte an den Gemahl der Amphitrite bdquomeineHymnenldquo (V 105) bluumlhen zu lassen schlieszligt finale Ruumlckkehr zurAussageinstanz

Herr Meeresgebieter Gerade Fahrt von Erschoumlpfun-genfern gib Gatte der Amphitrite

25) δέσποτα ποντόμεδον εθUν δ= πλόον καμάτων | κτς όντα δίδοιχρυσαλακάτοιο πόσις | μφιτρίτας μν δrsquo -|μνων Qεξrsquo ετερπ=ς Qνθος

Das poetische Ich 141

der mit der goldenen Spindel und lass meine Hymnenwachsen zu wohlerfreulicher Bluumlte

(Ol 6103ndash105 Uumlbers Dieter Bremer)25

4 Der poetische Apparat der eacutenonciation

Dargestellt als rein metaphorischer Wagen wenn es darum zutun ist mit dem Wettbewerb der vom Kutscher und seinem Ge-spann dargestellt wird die geographische und genealogische Her-kunft (Arkadien und Olympia) der siegreichen Familie nachzu-vollziehen realisiert sich der Gesang zuletzt in seiner chorischenund prozessionalen Identitaumlt im Bilde des κμος aufgefuumlhrt in Sy-rakus fuumlhrt dieses Chorgedicht genealogisch zuruumlck nach Thebenin die Heimat Pindars So fokussiert das doppelte Bild des Ge-spanns und der Prozession die Komposition des Thebaners Pindarim hic et nunc seiner Auffuumlhrung weder in Olympia dem Ort desathletischen Sieges und dem Orakelwesen der Iamiden noch inStymphale dem Ort der Vorfahren muumltterlicherseits des Hagesias(und moumlglicherweise der Heimat des Aineias) noch in Thebender Heimat Pindars und dem Ort an dem das Gedicht geschaffenwurde sondern in Syrakus anlaumlsslich einer kultischen Feier Bleibtdie geographische und genealogische Rundreise die dem sprach -lichen Gespann zugeschrieben wird poetisch und metaphorischso wird jene die als rituelle Prozession vorgestellt ist Realitaumlt nachdem genealogischen Umweg uumlber die Nymphe Thebe und Thebenin Boumlotien stimmen die Zeit und der Ort der narrativen und dis-kursiven Realisierung des Gedichts mit dem sbquoHierlsquo und dem sbquoJetztlsquoseiner Auffuumlhrung uumlberein ndash einem hic et nunc das an der Aus-sageinstanz orientiert ist

Im dichterischen sbquoIchlsquo konvergieren demnach am Ende dergesungenen Komposition die enuntiative Stimme des inspiriertenDichters die Chorstimme der Darsteller des κμος und die Stim-me ihres χοροδιδσκαλος Die bemerkenswerte semantische Aus-dehnung dieses sprachlichen und poetischen sbquoIchslsquo ist wesentlichpolyphon Aber dank der zeitlichen und insbesondere der raumlum -lichen Markierungen die wir bemerkt haben (Syrakus Sparta

26) Damit moumlchte ich dem Prinzip widersprechen auf dem die sbquokritischelsquophilologische Hermeneutik beruht und das immer wieder von Jean Bollack heftigverfochten wird zum Beispiel in seinem juumlngsten Essay Parmeacutenide de lrsquoeacutetant aumonde Lagrasse 2006 11ndash19

Claude Ca lame142

Olympia Arkadien Stymphale Theben) dank der (etwas parado-xen) geographisch-genealogischen Rundreise auch durch die fikti-ven Orte und Zeiten der Gruumlndungsmythenlsquo erhaumllt diese poly-phone Aussageinstanz eine praumlzise extradiskursive Dimension

hinsichtlich sbquoIchlsquo sbquoWirlsquondash Pindar von Theben in seiner Funktion als

inspirierter Dichter und Lehrer der Wahrheitndash Aineias (aus Stymphale) als χοροδιδσκαλοςndash die jungen Choreuten aus Syrakusndash schlieszliglich das Gedicht selbst (objektiviert im

sbquoEslsquo uumlber die Angleichung an das Maultiergespann)hinsichtlich sbquoDulsquo

ndash Hagesias der Arkadier aus Syrakusndash Phintis der Wagenlenker aus Syrakusndash Hieron der Tyrann von Syrakusndash Poseidon der Herr des Meeres

Der polyphonen Komplexitaumlt der Aussageinstanz mit ihrersemantischen Ausdehnung und diskursiven Vielschichtigkeit ent-spricht eine einzigartig ausdifferenzierte bdquofonction-auteurldquo Uumlberdie Metapher des Wagens und uumlber das Bild des κμος als prozes-sionalen und rituellen Gesangs wird sie auf die Auffuumlhrung des Ge-dichts bezogen

Damit haben wir uns weit von der romantischen Auffassungeines sbquolyrischen Ichslsquo entfernt von dem man sich einen unmittel-baren sprachlichen Ausdruck der persoumlnlichen Empfindungen desDichter-Schriftstellers und demnach vom biographischen Dichterverspricht auch weit entfernt von der Intentionalitaumlt eines Dich-ter-Individuums eines autonomen kreativen Subjekts das mit derdichterischen Tradition in die es sich einschreibt gebrochen haumlt-te26 Obwohl er unbestreitbar vorhanden ist wird der Wille derdichterischen Schoumlpfung gefiltert durch eine traditionelle dichte -rische Diktion durch die Regeln der Gattung durch die Erfor-dernisse des rituellen Anlasses durch die Verdopplung in der poe-

Das poetische Ich 143

tischen performance der bdquofonction-auteurldquo durch enuntiativeStrategien dichterischer Ordnung

Besonders im hier gewaumlhlten Beispiel stuumltzt sich das meta-phorische poetische Spiel auf das Gedicht als Objekt in seiner raumlumlichen Verschiebung (was wiederum die Teilnahme am sport-lichen Wettkampf symbolisiert) um dessen Bewegung auf den Ge-sang und den dichterischen und musikalischen Wettkampf zuuumlbertragen der im Gedicht durch ein komplexes enuntiatives Spieldargestellt wird mit diesem Dreh enuntiativer und spazio-tempo-raler Pragmatik wird das Bild des Sieges im Wettkampf auf das hicet nunc der rituellen performance des Gesangs verlagert der von ei-nem polyphonen sbquoIchlsquo auszligergewoumlhnlicher Dichte ausgetragenwird Dieses In-Bewegung-Setzen des Gesangs mittels eines Bildesist zentral in den Gedichten die uns nicht nur konkret in die Zeitund den Raum der sbquomythischenlsquo Gruumlndungsakte einfuumlhren und alspragmatisches kulturelles Gedaumlchtnis fungieren sondern die sichauch uumlber zahlreiche autoreferentielle Interventionen als Ge-sangs-Akte praumlsentieren speech-acts die uumlber enuntiative Bezug-nahmen auf die musikalische Aktivitaumlt die von denjenigen die dasGedicht auffuumlhren ausgeuumlbt wird zu song-acts werden In demMaszlige in dem ihre sbquoDurchfuumlhrunglsquo gewoumlhnlich in eine rituelle Feier fuumlr die Schutzgottheit einer Stadt eingebettet ist sind dieseGesangs-Akte auch cult-acts kultische Handlungen Was die Epi-nikie betrifft so ist ihre religioumlse und politische Aufgabe nicht nurdie Erinnerung an die aristokratische Familie aus welcher der Sie-ger an den panhellenischen Spielen stammt zu bereichern sondernauch das kollektive Gedaumlchtnis des staumldtischen Verbands dem erangehoumlrt lebendig zu erhalten Dies alles vollzieht sich in aus-drucksvollen sprachlichen Bildern die durch den sbquopoetischen Ap-parat der Aussagelsquo des rituellen Gesangs Entfaltung und Wirksam-keit finden

Im archaischen und klassischen Griechenland ist die ars scri-bendi eine ars canendi

Paris Claude Ca lame

Page 5: DAS POETISCHE ICH Enuntiative und ... - rhm.uni-koeln.de · PDF fileder in der ersten Aufsatzsammlung der Problèmes de linguistique générale ... E.Benveniste, Problèmes de linguistique

7) Eine Darstellung und Auswertung des operativen Nutzens des Begriffsbdquofonction-auteurldquo fuumlr verschiedene antike Diskursformen findet sich bei C Ca -lame R Chartier (Hrsg) Identiteacutes drsquoauteur dans lrsquoAntiquiteacute et la tradition eu-ropeacuteenne Grenoble 2004

8) Zu diesen Unterscheidungen vgl meine einfuumlhrenden Bemerkungen zuMasques drsquoautoriteacute Fiction et pragmatique dans la poeacutetique grecque antique Paris2005 13ndash40 (engl Uumlbersetzung Masks of Authority Fiction and Pragmatics in An-cient Greek Poetics Ithaca London 2005 1ndash16)

Das poetische Ich 129

Kombination der beiden Prozeduren der bdquoDeixis am Phantasmaldquound der bdquoDemonstratio ad oculosldquo von der Ebene des reacutecit auf jenedes discours zu uumlbertragen

Dieser doppelte Bezeichnungsvorgang der sich an die Vor-stellungskraft zu wenden und zugleich die extralinguistische Rea-litaumlt zu bezeichnen vermag betrifft ebenso was ich die bdquoAussa -geinstanzldquo (bdquoinstance drsquoeacutenonciationldquo) nenne also das sbquoIchlsquo mitsamtseinen raumlumlichen wie zeitlichen Parametern im System ego tu ndashhic ndash nunc

Das heiszligt dass sich vor jeder extradiskursiven Bezugnahmeim discours mit linguistischen Mitteln eine Autorfigur konstruiertdie rein verbaler Natur ist Die Figur des Erzaumlhlers oder genauerdes Sprecher-Ichs das haumlufig einem Gespraumlchspartner-Du gegen -uumlbergestellt ist (auch dies eine rein verbale Figur) Diese Figur diesich in einer enuntiativen Haltung herausbildet und die mit einemdiskursiven Ethos ausgestattet wird verweist nur mittelbar zu -naumlchst auf den in seiner institutionellen Funktion erfassten AutorDieser definiert sich in seiner Eigenschaft als soziale Figur durchseine bdquofonction-auteurldquo um eine von Michel Foucault vorgebrach-te Idee aufzugreifen Wer aber im Falle der griechischen Dichtungvon bdquofonction-auteurldquo spricht sagt gleichzeitig bdquofonction-exeacute-cutantldquo da die dichterische performance von Darstellern an einemrituellen Anlass uumlbernommen wird Von Aoumlden oder RhapsodenChoreuten Schauspielern eines tragischen oder komischen Dra-mas usw7 Nur uumlber diesen zunaumlchst diskursiven dann institutio-nellen Umweg verweist die Figur des Sprecher-Ichs letztlich aufden Autor in der historischen Realitaumlt mit seiner Intentionalitaumltund Kreativitaumlt (einer Kreativitaumlt die je nach Betrachtungsweise inpsychologischen psychoanalytischen mentalen kognitiven neu-ronalen oder sozialen Kategorien gefasst werden kann)8

Wichtig ist die Vermengung der Perspektive die Benvenistemit seiner Erforschung der Aussage eroumlffnet die er zwischen reacutecit

9) Ich erlaube mir hier abermals einen Verweis auf meine einfuumlhrenden Bemerkungen zu Poeacutetique des mythes dans la Gregravece antique Paris 2000 11ndash69Vgl jetzt auch Mythos musische Leistung und Ritual am Beispiel der melischenDichtung in A Bierl R Laumlmmle K Wesselmann (Hrsg) Literatur und ReligionWege zu einer mythisch-rituellen Poetik bei den Griechen Band I Berlin NewYork 2007 179ndash210

10) Fuumlr all diese sbquoperformativenlsquo Aspekte der griechischen Dichtung zumalwenn es sich um Chordichtung handelt siehe die nuumltzliche Darstellung bei A BierlDer Chor in der alten Komoumldie Ritual und Performativitaumlt Muumlnchen Leipzig2001 11ndash64

Claude Ca lame130

(eacutenonceacute) und discours (eacutenonceacute de lrsquoeacutenonciation) verortet mit derPerspektive von Buumlhler in Bezug auf die Prozeduren der Deixisderen Brennpunkt das diskursive sbquoIchlsquo ist sie hat einen Einflussnicht nur auf die Konzeption des Autors und seiner dichterischenAutoritaumlt sondern auch auf jene der Fiktion und des sbquoMythoslsquo inihrer diskursiven Dimension Im Falle der Dichtung des klassi-schen Griechenlands die wir trotz ihres stark pragmatischen Cha-rakters als sbquoLiteraturlsquo auffassen gilt es demnach nicht nur das Pro-blem des dichterischen (und sbquolyrischenlsquo) sbquoIchslsquo in neuem Lichte zubetrachten sondern gleichermaszligen das Problem jener Erzaumlhlun-gen die wir sbquomythischlsquo nennen weil wir an ihrem empirischen Ge-halt zweifeln und sie daher dem Fiktiven zuordnen Der Mythosist in der Anthropologie und Philosophie eine kanonisch gewor-dene moderne Abstraktion Nun existieren aber in Griechenlandwie in anderen traditionellen Kulturen die Mythen nur in dichteri-schen Formen nur die Dichtung laumlsst diese Erzaumlhlungen uumlber dieGoumltter und die heroische Vergangenheit in Gegenwart eines Publi-kums in rituellem sozialem und kulturell gegebenem Rahmen auf-leben9 Das heiszligt dass jedes mythische eacutenonceacute von (verbalen wiesozialen) Regeln des dichterischen Genres bestimmt ist das dieAussage unter seinen jeweiligen Bedingungen realisiert Die fuumlr ge-woumlhnlich rituelle Aussagesituation fuumlgt oft die betreffende dichte-rische Komposition im Moment ihrer Auffuumlhrung in rituelleEhrerbietungen fuumlr einen Gott ein in einem Raum der ihm ge-weiht ist Durch verschiedene Prozeduren enuntiativer Art er-scheint das Gedicht wie ein Gesangs- und folglich wie ein Kult -akt10 Uumlber diesen enuntiativen und performativen Umweg wirdder sbquomythischelsquo reacutecit durch den discours auf das hic et nunc der Auf-fuumlhrung des Gesangs und ihre Umstaumlnde bezogen

Durch die Pragmatik der poetischen Formen erweist sich diesbquoFiktionlsquo des griechischen Mythos als ein viel vermoumlgendes Mittel

Das poetische Ich 131

musikalischen und rhythmischen Handelns uumlber die Vermittlungdes Dichters in seiner Eigenschaft als inspirierter σοφς gruumlndetdie Musik ebensosehr auf den kreativen Moumlglichkeiten einer tra-ditionellen dichterischen Sprache wie auf den Prozeduren der enun-tiativen und pragmatischen Bezeichnung wie sie von jeder ge -sprochenen Sprache gewaumlhrleistet ist Wesentlich ist in dieser Hin-sicht die Position die vom sbquoIchlsquo des Sprechers in seiner Rolle alssbquoAussageinstanzlsquo eingenommen wird diese Ich-Position bildetden Aus gangspunkt der Prozeduren der enuntiativen Bezugnahmeunter den Bedingungen der Komposition und der Aussage vondem was im Gedicht spezifisch im mythischen und fiktionalenreacutecit ausgesprochen wird Verbal und poetisch musikalisch undrhythmisch ist dieses sbquoIchlsquo das im Verlaufe der dichterischenKomposition eine beachtliche Ausdehnung erfaumlhrt Die Stimmedieses poetischen sbquoIchlsquo entwickelt sich bisweilen zu einer regel-rechten Polyphonie die in der Praxis der Auffuumlhrung ihren Nie-derschlag findet Das gilt in besonderem Maszlige fuumlr den Fall jenerFormen von Chordichtung die der umfassenden Gattung desμλος angehoumlren und die in etwas voreiliger Weise aufgrund derTatsache dass sich in ihnen ein sbquoIchlsquo findet das allzu schnell undunmittelbar mit dem Autor identifiziert wird mit dem Etikett dessbquoLyrischenlsquo versehen werden

Am einzigartigen Beispiel eines melischen Gedichtes vonPindar das der Gattung der Epinikien zugeordnet wird soll imfolgenden der komplexe Prozess der musikalischen Komposition-performance dargelegt werden der sowohl die dichterische Meta-pher als auch den heroischen reacutecit (den sbquoMythoslsquo) in den Dienst einer rituellen Feier stellt und zwar uumlber den Umweg eines enun-tiativen und pragmatischen Verfahrens von bemerkenswerterDichte

2 Dichterische Bilder und Wirkkraft des Gesangs

Von Parmenides bis Empedokles uumlber Simonides Pindaroder Bakchylides finden sich ungezaumlhlte griechische Dichter vor-klassischer Zeit die sich selbst auf den Streitwagen der Musenoder verwandter Goumlttinnen einladen Die Einladung schreibt sichein in die griechische Poetik der musikalischen Inspiration Siegruumlndet auf einer Metapher die man beispielsweise in der vedi-

11) Parm fr 28 B 11ndash5 Diels Kranz und Emp fr 31 B 33ndash5 Diels Kranzsiehe bei den melischen Dichtern auch Pind Ol 980ndash81 Isthm 861ndash62 etc ZuParmenides siehe den unentbehrlichen Kommentar von G Cerri Parmenide diElea Poema sulla natura Milano 1999 98ndash108 und 166ndash182 zu Empedokles vglA Rosenfeld-Loumlffler La poeacutetique drsquoEmpeacutedocle Cosmologie et meacutetaphore Bern New York 2005 36ndash57 Weitere Anleihen bei der vedischen Poesie sind genannt beiR Nuumlnlist Poetologische Bildersprache in der fruumlhgriechischen Dichtung Stutt-gart Leipzig 1998 255ndash261

12) Φίντις λλ ζεξον -|δη μοι σθένος μιόνων | τάχος φρακελεύθamp τrsquo ν καθαρ( | βάσομεν κχον κωμαί τε πρς νδρν | κα0 γένοςmiddot κε2ναιγρ ξ λ-|λ3ν 4δν 5γεμονεσαι | ταύταν πίστανται στεφάνους ν 7λυμπί8 | πε0δέξαντοmiddot χρ9 τοίνυν πύλας -|μνων ναπιτνάμεν ατα2ςmiddot | πρς Πιτάναν δ= παρrsquoΕρώ-|τα πόρον δε2 σμερον λθε2ν ν Bρ8middot

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schen Dichtung findet In einem metaphorischen Verfahren wirddie Liedkomposition und -auffuumlhrung mit der Teilnahme an einemWagenrennen verglichen Es ist dies die Art und Weise mit derParmenides mithilfe der Toumlchter der Sonne an die Pforte von Tagund Nacht gelangt wo ihn die goumlttliche Gerechtigkeit erwartet esist dies die Art und Weise mit der die Muse die von Empedoklesangerufen worden ist fuumlr den Dichter den fuumlgsamen Wagen lenktder vom Koumlnigreich der Froumlmmigkeit herstammt11 Aber eine Me-tapher die auf einem dynamischen Sprachbild wie jenem des Wa-gens gruumlndet ist nicht den vorplatonischen Denkern vorbehaltendie auf die epische Sprache zuruumlckgreifen sie ist auch bei diversenmelischen Dichtern in Gebrauch ganz besonders in den Gesaumln-gen die den Sieg eines jungen Athleten an den PanhellenischenSpielen feiern in Delphi oder in Olympia aber auch in Nemeaoder am Isthmus von Korinth

In einem Loblied auf den jungen sizilischen Sieger im Wagen-rennen bei den Olympischen Spielen im Jahre 472 oder 468 v Chrvergleicht sbquoPindarlsquo die Komposition seines Gedichts mit dem Er-richten eines Palastes Nachdem er ein eroumlffnendes Lob auf denSieger ausgesprochen hat indem er eine erste Verbindungsliniezwischen Olympia dem Austragungsort der Spiele und Syrakusder Heimatstadt des Siegers gezogen hat nachdem er fuumlr seineLobpreisung des edlen Hagesias die bdquohonigtoumlnendenldquo Musen alsZeuginnen angerufen hat (Ol 61ndash21) schreckt der Sprecher nichtdavor zuruumlck das Maultier-Viergespann das den OlympischenSieg errungen hat mit seinem eigenen Gedicht zu vergleichen(Ol 622ndash28)12

13) Pindar Siegeslieder Griechisch-Deutsch Herausgegeben uumlbersetzt undmit einer Einfuumlhrung versehen von Dieter Bremer Muumlnchen 1992 ndash Zum Vergleichdes Dichters mit dem Athleten bei Pindar vgl D Auger De lrsquoartisan agrave lrsquoathlegravete lesmeacutetaphores de la Creacuteation poeacutetique dans lrsquoeacutepinicie et chez Pindare in M Cos -tantini J Lallot (Hrsg) Le texte et ses repreacutesentations Paris 1987 39ndash56

Das poetische Ich 133

Phintis auf spann mir jetztdie Kraft der Maultiere an

so schnell es geht damit wir auf reiner Bahnden Wagen fahren und ich auch zum Ursprung derMaumlnner komme Denn jene Tiere verstehen vor anderen

auf diesem Wege zu fuumlhrenda sie die Kraumlnze in Olympiaerhielten es tut also not die Tore

der Hymnen ihnen zu oumlffnenan den Strom des Eurotas muss ich heute

kommen zur rechten Zeit nach Pitane(Uumlbers Dieter Bremer)13

Und so adressiert derjenige der sbquoIchlsquo sagt in der zweiten Triadedieser sechsten Olympischen Ode direkt den Lenker des Gespannsder Lenker Phintis ist in Olympia der Vertreter von Hagesias demAristokraten aus Syrakus der den Unterhalt des siegreichen Ge-spanns finanziert Der Dichter bittet den jungen Mann die Maul-tiere anzuschirren sie mit seinem Wagen zu lenken und ihnen diebdquoTore der Hymnen zu oumlffnenldquo (V 27) Mit einer Metapher wird dervorliegende Gesang zum Mittel einer Verschiebung deren poeti-scher Ausdruck sich uumlberdies einer starken Wegmetaphorik be-dient (κλευθος V 23 4δς V 25) Aber statt uns von Olympianach Syrakus zu fuumlhren wo uns die enuntiative Bewegung des Ge-dichts zunaumlchst hingebracht hat statt uns an die Staumltte des Siegesund von da an den Ort zu fuumlhren an dem die Siegesfeier stattfin-den duumlrfte bringt uns das Gespann-Gedicht hin an den Eurotas inLakonien ins Staumldtchen Pitane das ein Stadtteil von Sparta ist

Diese unerwartete geographische Verschiebung geht mit einerebenso unerwarteten zeitlichen Bewegung einher vom bdquoheuteldquo(σμερον V 28) das mit der Zeit der eacutenonciation des Liedes (bdquodis-coursldquo) korrespondiert in die unbestimmte Vergangenheit in einenarrative und goumlttliche Zeit (bdquoreacutecitldquo bdquomytheldquo) es ist die Zeit zu

14) Pind Ol 622ndash42 Die umstrittene Frage nach der Datierung und denUmstaumlnden der Auffuumlhrung dieses komplexen Gedichts wird eroumlrtert bei Ch Froi -de fond Lire Pindare Namur 1989 29ndash48 der fuumlr eine Auffuumlhrung des Gedichtsnicht in Syrakus sondern in Stymphale in Arkadien plaumldiert wie nach ihm auchG O Hutchinson Greek Lyric Poetry A Commentary on Selected Larger PiecesOxford 2001 371ndash374 Hierauf wird weiter unten zuruumlckgekommen Zur Sequenzder deiktischen Gesten die den enuntiativen Rahmen dieses Gedichts ausmachenvgl die nuumltzliche Studie von A Bonifazi Mescolare un cratere di canti Alessandria2001 103ndash149

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der Poseidon sich mit der jungen Pitane vereinigt hatte der epony-men Nymphe des spartanischen Staumldtchens14 Fuumlr uns entsprichtdiese Zeit derjenigen des sbquoMythoslsquo

Aus dieser goumlttlichen und geheimen Vereinigung ndash so derFortgang des dichterischen und sbquomythischenlsquo reacutecit ndash geht Euadnehervor sie wurde in Arkadien groszliggezogen nicht weit vom Al -pheios ehe sie ihrerseits vom jungen Gott Apollon verfuumlhrt wirdAus dieser zweiten Liebe eines Gottes mit einer jungen Sterblichengeht Iamos hervor Dieser Heros der ebenfalls in der Naumlhe desAlpheios in arkadischem Gebiet geboren wurde steht am Ur-sprung einer Familie von Sehern den Iamiden doch erweist er sichgleichermaszligen als Vorfahr vaumlterlicherseits des Hagesias von Sy-rakus dem Sponsor des Viergespanns das den Sieg bei den Olym-pischen Spielen errungen hat und das in dieser Epinikie besungenwird Man erfaumlhrt weiter dass er als kleines Kind ausgesetzt undinmitten der Blumen von zwei Schlangen mit Bienenhonig ernaumlhrtwurde Uumlber den Honig mit der Suumlszlige der dichterischen Ver-fuumlhrung assoziiert wird die Stimme von Iamos in die Stimme einesHellsehers verwandelt dies geschieht durch den Willen seinesGroszligvaters Poseidon und ganz besonders durch das Eingreifen sei-nes Vaters Apollon dem Gott des Orakels zu Delphi Der jungeHeros ist also dazu auserkoren diese Gabe inspirierten Hellsehensan seine Nachkommen die Iamiden weiterzuvererben Apoll istes der Iamos dann selbst nach Olympia fuumlhrt inspiriert vom Gottvon Delphi gruumlndet der junge Heros alsdann am Ufer des Alphei-os das Orakel das am Altar des Zeus die Gruumlndung der Olympi-schen Spiele durch Herakles voraussagen wird

Dem siegreichen Gespann aus Syrakus angeglichen zeichnetalso dieses Gedicht eine geographische Kreisbewegung nach In-dem der Beginn in Syrakus eingeklammert wird fuumlhrt uns derWeg der von der Metapher des Wagens gezeichnet wird tatsaumlch-

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lich vom Austragungsort des Wettkampfs in der Naumlhe des Alphei-os hin nach Lakonien und Sparta um uns schlieszliglich uumlber Pisatisund die Grenzen Arkadiens nach Olympia zuruumlckzufuumlhren Die-se geographische Reiseroute ist mit einem zeitlichen Rundgang ge-paart der uns in die Zeit der Aussage (eacutenonciation) zuruumlckfuumlhrtausgehend von diesem hic et nunc hat das Gedicht als Rennwagenzur langen genealogischen Reise in die goumlttliche und heroische Ver-gangenheit der Iamiden und ebenso in die urspruumlngliche und sbquomy-thischelsquo Zeit eines doppelten Gruumlndungsakts angehoben die Ein-richtung des Orakels zu Olympia das von den Nachfahren des Iamos gefuumlhrt wird sowie der Spiele selbst in der Zeit des Hera -kles

bdquo damit wir auf reiner Bahn den Wagen fahren und ich auchzum Ursprung der Familie des Hagesias kommeldquo (V 23) wuumlrdeich also uumlbersetzen Der Anfang dieses zeitlichen Rundgangs (derzugleich seinen Endpunkt darstellen wird) ist von der Alternationder autoreferentiellen Formen im Singular und im Plural (βάσομενim Plural aber κωμαι im Singular in demselben Vers 24) gekenn-zeichnet durch diese Fomen wird die zugleich zeitliche wie raumlum-liche Verschiebung uumlber die Vermittlung des Bilds eines Gespannsvon einer Aussageinstanz aufgenommen die mit einer komplexenKommunikationssituation korrespondiert Das sbquoIchlsquo sbquoWirlsquo desSprechers scheint in der Tat sowohl den Sieger (den Wagenlenkerdes siegreichen Gespanns in Olympia das von Hagesias von Sy-rakus unterhalten wird) als auch den Dichter (Pindar von Thebenden Lenker des Gesangs) und die wahrscheinlich anwesende Chor-gruppe welche den Gesang sbquoPindarslsquo auffuumlhrte in sich zu vereinenIn diesem Stuumlck dichterischer Historiographie geographischer wiegenealogischer Ausrichtung wohnt man der Fahrt des Dichters mitdem Wagenlenker des Hagesias bei auf dem Wagen der zum Ge-dicht geworden ist faumlhrt man mit dem Dichter in Richtung Pitanenach Sparta und durch Arkadien zuruumlck nach Olympia entlangden Ufern des Alpheios und entsprechend in die Zeit des sbquoMy-thoslsquo dieser geographische und historische Rundgang kann nur einmetaphorischer sein Er gehoumlrt ins Reich der Dichtung um nichtzu sagen der poetischen Fiktion

15) ματρομάτωρ μ Στυμ-|φαλίς εανθ9ς Μετώπα | πλάξιππον E ΘήβανHτι-|κτεν τ3ς ρατεινν δωρ | πίομαι νδράσιν αIχματα2σι πλέκων | ποικίλονμνον τρυνον νν Kταίρους |ΑIνέα πρτον μ=ν Mραν | Παρθενίαν κελαδNσαι |γνναί τrsquo Hπειτrsquo ρχα2ον νειδος λαθέσιν | λόγοις εI φεύγομεν Βοιωτίαν Pν | σσ0γρ Qγγελος Rρθός | Sϋκόμων σκυτάλα Μοι-|σ3ν γλυκUς κρατ9ρ γαφθέγκτωνοιδ3ν

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3 Enuntiative und pragmatische Polyphonie

Die metaphorische Reiseroute die vom Gedicht als Wagengezeichnet wird betrifft also ebenso den Dichter wie seine Dich-tung dies gilt um so mehr als der Sprecher gegen Ende der Odenicht mehr den jungen Lenker des maumlchtigen Hagesias von Sy-rakus sondern in der Manier des Echos einen gewissen Aineiasadressiert da der Stil dieser Verse so dicht ist (Ol 684ndash91) erweistsich seine Verortung als schwierig15

Meine Ahnmutter ist aus Stymphalosdie wohlbluumlhende Metope

welche die pferdestachelnde Thebe gebar deren liebliches Wasser

ich trinke der ich speerkaumlmpfenden Maumlnnern flechteeinen bunten Hymnos Treib nun die Gefaumlhrten Aineias zuerst Hera

die jungfraumluliche zu besingenum dann zu erkennen ob wir mit wahren Wortendem alten Schimpfwort sbquoboiotische Saulsquo entgehen

Du bist naumlmlich ein rechter BoteBriefstab der schoumlnhaarigen Musen

suumlszliger Mischkrug starktoumlnender Gesaumlnge(Uumlbers Dieter Bremer)

bdquoRechter Boteldquo bdquoBriefstab der schoumlnhaarigen Musenldquo (V 90ndash91)Der junge Mann ist niemand Geringeres als der Repraumlsentant desDichters Ihm ist die Aufgabe uumlberantwortet jetzt (νν) seine Ge-faumlhrten (Kτα2ροι V 87) dazu einzuladen die Goumlttin Hera Partheniazu besingen der in Stymphale in Arkadien gehuldigt wird Im Ver-such der antiken Kommentatoren diese schwierige Passage in dieentsprechende institutionelle Begrifflichkeit zu uumlbertragen heiszligtdas dass es diesem jungen Chorleiter angetragen wird die Cho-

16) Pind Ol 682ndash99 mit Scholion ad V 149a (I S 188 Drachmann) DieRolle des jungen Aineias ist treffend charakterisiert bei Bonifazi (wie Anm 14) 133ndash143 vgl zur Ergaumlnzung die skeptischen Bemerkungen bei M Heath Receiving theKocircmos The Context and Performance of Epinician AJPh 109 1988 180ndash195 undM Lefkowitz The First Person in Pindar Reconsidered ndash Again BIClS 40 1995139ndash150 (mit umfassender Bibliographie) Zur Syntax dieser umstrittenen Passagevgl den nuumltzlichen Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 413ndash415

17) Zu dieser Anspielung auf die Auffuumlhrung des Gedichts in einem Momentder Inspiration und Komposition den die intentionale und sbquoperformativelsquo Form desFuturs mit dem Moment seiner Ausfuumlhrung als Gesangsvortrag korrespondierenlaumlsst siehe besonders G B DrsquoAlessio Past Future and Present Past Temporal Dei-xis in Greek Archaic Lyric Arethusa 37 2004 267ndash294 (289ndash290)

Das poetische Ich 137

reuten zu trainieren die Choreuten werden zum Sprachrohr desDichters jetzt in dem Augenblick der mit der Auffuumlhrung derEpinikie zusammenfaumlllt und an einem Ort den man mit dem ar-kadischen Stymphale identifizieren wollte16

In den Versen nun die dieser Aufforderung an den jungenChorleiter unmittelbar vorausgehen nennt der Sprecher undDich ter sein Vorhaben vom lieblichen Wasser der Quelle Metopezu trinken (πίομαι V 86) und zwar in einer Form des sbquoperforma-tivenlsquo Futurs die den Moment der dichterischen Inspiration mitder Auffuumlhrung der Epinikie zusammenfallen laumlsst17 In einemabermaligen geographisch-genealogischen Rundgang der eineneue Reise in die heroische Zeit des sbquoMythoslsquo darstellt wird of-fenbar dass der Name sbquoMetopelsquo dem Namen einer Nymphe ausStymphale in Arkadien entspricht Ihre Mutter ist niemand ande-res als Thebe und Thebe wiederum ist die eponyme Nymphe vonTheben in Boumlo tien der Heimat des Dichters Vom noch unbe-stimmten Ort der Aussage (eacutenonciation) und des Vortrags des Gedichts sind wir demnach enuntiativ nicht mehr zum Ort derAustragung der Spiele und ihrer Gruumlnder gelangt sondern in eineGegend die benachbart ist dem Ursprungsort der Familie der Iamiden und demnach der Familie des Hagesias wahrscheinlich ineiner Anspielung auf seine Ahnenschaft muumltterlicherseits Dannwerden wir vom Arkadien der Iamiden wiederum nicht an denOrt der Auffuumlhrung sondern an den Ort der Komposition desGedichts geleitet nach Theben in die Heimat Pindars Und in derTat ist es der Inspiration die er bei der Quelle der Metope bdquomei-ner Ahnmutterldquo (V 84) gefunden hat zu verdanken dass der

18) Die Beziehung die der Dichter zwischen seiner Heimat Theben und demStammbaum der Iamiden herstellt ist nachgezeichnet bei L Kurke The Traffic inPraise Pindar and the Poetics of Social Economy Ithaca London 1991 147ndash149ferner Hutchinson (wie Anm 14) 410ndash413 Zu den verschiedenen Metaphern wel-che die dichterische Inspiration mit dem Erguss einer Fluumlssigkeit assoziieren sieheNuumlnlist (wie Anm 11) 195ndash199 (vgl ferner zur Kunst des Webens 110ndash118 sowieJ Scheid J Svenbro Le meacutetier de Zeus Mythe du tissage et du tissu dans le mon-de greacuteco-romain Paris 1994 119ndash130)

19) Vgl Scholia ad V 148a und 148c (I S 187 Drachmann) Vgl dazuV Vigneri Il coro dellrsquoepinicio pindarico negli scholia vetera QUCC 95 2000 87ndash103

20) Ergaumlnzend zu den Ausfuumlhrungen von Lefkovitz (wie Anm 16) sei z Bauf die hervorragenden Bemerkungen bei G B DrsquoAlessio First-Person Problems inPindar BIClS 39 1994 117ndash139 verwiesen

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Dichter seither in einer weiteren in der melischen Dichtung haumlu-fig auftretenden Metapher befaumlhigt ist bdquoeinen bunten Hymnos zuflechtenldquo (πλέκων V 86ndash87)18

Zugunsten dieser zweiten (teilweise impliziten) Ruumlckkehr zuden Orten und Zeiten der sbquomise en discourslsquo und der Auffuumlhrungdes Gedichts wohnen wir dank der abermaligen geographischenund genealogischen (und vom Sprecher als sbquomythischlsquo vorgestell-ten) Reise der subtilen bildreichen und poetischen Entfaltung ei-nes enuntiativen Spiels bei dieses Spiel ist in der melischen Dich-tung haumlufig anzutreffen insbesondere in den Epinikien Pindarsund des Bakchylides Dieses Verfahren der sbquochorischen Delegationlsquolaumlsst in seiner Polyphonie eine Abloumlsung der Stimme des Dichter-Komponisten durch die Stimme der chorischen Gruppe zu die denGesang vortraumlgt Es uumlberrascht daher wenig dass die antikenKommentatoren den jungen Aineias als χοροδιδσκαλος bezeich-nen19 Dieser Leiter des Chors fungiert als Vermittler zwischen derinspirierten Stimme des Sprecher-Ichs und der Chor-Stimme derjungen Saumlnger welche die Auffuumlhrung des Gedichts uumlbernimmtAuf extradiskursiver Ebene wiederum dient Aineias als Vermittlerzwischen dem Autor und Komponisten des Gedichts (in Theben)und der chorischen Gruppe Ausfuumlhrender die in einem rituellenTanz singen (wahrscheinlich in Syrakus) Diese bemerkenswerteenuntiative Polyphonie macht den Streit um die Natur des sbquolyri-schen Ichslsquo in den Epinikien Pindars in vielerlei Hinsicht uumlberfluumls-sig Weder nur sbquomonodischlsquo noch ausschlieszliglich chorisch ist dassbquoIchlsquo sbquoWirlsquo des Sprechers wesentlich polyphon20

21) Zum pejorativen Sinn dieser sprichwoumlrtlichen Wendung unter Einbezugder bdquoPoetik des Tadelsldquo vgl den Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 416ndash417

22) Hier sei auf die verschiedenen Stellen verwiesen die ich in Pragmatiquede la fiction quelques proceacutedures de deixis narrative et eacutenonciative en comparaison(poeacutetique grecque) in J-M Adam U Heidmann (Hrsg) Sciences du texte et ana-lyse de discours Enjeux drsquoune interdisciplinariteacute Lausanne Genegraveve 2005 119ndash143 angefuumlhrt habe zur prozessionalen Dimension des κμος siehe insbesondereK A Morgan Pindar the Professional and the Rhetoric of the kocircmos CPh 88 19931ndash15

23) Vgl die bei Vigneri (wie Anm 19) 97ndash100 angefuumlhrten Stellen sowieC Carey The Victory Ode in Performance The Case for the Chorus CPh 86 1991192ndash200

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So erklaumlrt sich warum einerseits paradoxerweise der Wunschdem Vorwurf zu entgehen (φεύγομεν V 90) eine bdquoboiotische Sauldquo21

zu sein in der ersten Person Plural gehalten ist der Wunsch beziehtsich nicht nur auf die vom Dichter der Epinikien haumlufig bemuumlhtePoetik der Wahrheit sondern auch auf seinen thebanischen unddemnach boumlotischen Ursprung Andererseits ist es der ChorleiterAineias dem angetragen wird sei es den Musen sei es seinen Cho-reuten zu sagen (εWπον V 92) sie moumlgen sich erinnern und daherzugleich Syrakus und Ortygia hochleben lassen Hinsichtlich derAussage uumlberlagern sich hier durch verschiedene grammatikali-sche wie explizite delegative Bewegungen die Stimme des Dich tersund jene des χοροδιδσκαλος und der chorischen Gruppe

Infolgedessen stuumltzt sich der Uumlbergang von der Metapherzur Realitaumlt der Auffuumlhrung von Pindars Gedicht an seinem Aus-gang nicht mehr auf das Bild des Gespanns sondern auf jenes desκμος (V 98) Bild eines prozessionalen Umzugs wie er bei Pin-dar haumlufig anzutreffen ist22 In den letzten Versen der sechstenOlympischen Ode wird das Gedicht das in seiner Auffuumlhrung be-griffen ist zum prozessionalen Gesang der den siegreichen Ha-gesias aus Syrakus feiert Die antiken Kommentatoren zeigen hierkeine Zuruumlckhaltung κμος und κωμζειν werden regelmaumlszligig alsχορς und χορεXειν erklaumlrt23 In der Tat wird der Tyrann von Sy-rakus Hieron dazu eingeladen den jungen Aristokraten abzu-holen der von dem Ort herkommt wo das Gedicht ihn gelassenhatte in Stymphale Ritueller Empfang anlaumlsslich einer Kultfeier(KορτY V 95) zu Ehren von Demeter und ihrer Tochter Perse-phone die von Aineias gefeiert werden soll wahrscheinlich mit-

24) Die dreifache Ringstruktur die in dieser letzten Ruumlckkehr nach Syrakusendet ist beschrieben bei Froidefond (wie Anm 14) 45ndash48 Zu dieser dichterischenRundreise siehe die glaumlnzende Deutung von S Goldhill The Poetrsquos Voice Essays onPoetics and Greek Literature Cambridge 1991 154ndash166

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hilfe der Musen man wird sich in Erinnerung rufen dass Mutterund Tochter zwei Schutzgottheiten der Stadt sind und dass dieFamilie des Hieron wahrscheinlich das entsprechende Priesteramtinnehatte Durch und in dem prozessionalen Gesang fuumlhrt unsder κμος demnach von Arkadien und spezifisch von Stympha-le unweit der Heimat der Iamiden sowie von Theben der Hei-mat des Dichters hin zum Ort und in die Zeit der Auffuumlhrungdes Gedichts dieser Ort so stellt es sich jetzt heraus ist SyrakusDer abschlieszligende Aufruf zur Gastfreundschaft an den Tyrannenvon Syrakus wie auch eine erste Anspielung zu Beginn des Ge-dichts auf den bdquoMann aus Syrakus den Herrn des Festzugsldquo(V 18) bestaumltigen uumlber den Umweg einer Ringkomposition dassdiese glaumlnzende sizilische Stadt die Auffuumlhrung der von Pindarkomponierten Epinikie erhaumllt24

Ο[κοθεν ο[καδε bdquovon Hause nach Hausldquo (V 99) Gedoppeltdurch eine deiktische Geste die einer bdquoDemonstratio ad oculosldquoentspricht scheint diese letzte raumlumliche Bewegung von der einenHeimat in die andere die doppelte Zugehoumlrigkeit der Familienmit-glieder des Hagesias nachzuvollziehen leiten sie sich einerseits vonden arkadischen Iamiden her sind sie andererseits aber Buumlrger vonSyrakus Wie auch immer ndash diese Bewegung zuruumlck nach Syrakusist geweiht durch die Invokation des Gottes Poseidon zum Ge-dicht-Ende Uumlber die Metapher des Schiffs und seiner beiden An-ker wird der Gott ebenso zum Garanten der doppelten Herkunftdes Hagesias der aus Arkadien und aus Syrakus stammt wie auchder Rundreise des Gedichts in seiner Auffuumlhrung von Thebennach Stymphale nach Syrakus Es ist keineswegs ein Zufall wenndas Gedicht mit der Bitte an den Gemahl der Amphitrite bdquomeineHymnenldquo (V 105) bluumlhen zu lassen schlieszligt finale Ruumlckkehr zurAussageinstanz

Herr Meeresgebieter Gerade Fahrt von Erschoumlpfun-genfern gib Gatte der Amphitrite

25) δέσποτα ποντόμεδον εθUν δ= πλόον καμάτων | κτς όντα δίδοιχρυσαλακάτοιο πόσις | μφιτρίτας μν δrsquo -|μνων Qεξrsquo ετερπ=ς Qνθος

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der mit der goldenen Spindel und lass meine Hymnenwachsen zu wohlerfreulicher Bluumlte

(Ol 6103ndash105 Uumlbers Dieter Bremer)25

4 Der poetische Apparat der eacutenonciation

Dargestellt als rein metaphorischer Wagen wenn es darum zutun ist mit dem Wettbewerb der vom Kutscher und seinem Ge-spann dargestellt wird die geographische und genealogische Her-kunft (Arkadien und Olympia) der siegreichen Familie nachzu-vollziehen realisiert sich der Gesang zuletzt in seiner chorischenund prozessionalen Identitaumlt im Bilde des κμος aufgefuumlhrt in Sy-rakus fuumlhrt dieses Chorgedicht genealogisch zuruumlck nach Thebenin die Heimat Pindars So fokussiert das doppelte Bild des Ge-spanns und der Prozession die Komposition des Thebaners Pindarim hic et nunc seiner Auffuumlhrung weder in Olympia dem Ort desathletischen Sieges und dem Orakelwesen der Iamiden noch inStymphale dem Ort der Vorfahren muumltterlicherseits des Hagesias(und moumlglicherweise der Heimat des Aineias) noch in Thebender Heimat Pindars und dem Ort an dem das Gedicht geschaffenwurde sondern in Syrakus anlaumlsslich einer kultischen Feier Bleibtdie geographische und genealogische Rundreise die dem sprach -lichen Gespann zugeschrieben wird poetisch und metaphorischso wird jene die als rituelle Prozession vorgestellt ist Realitaumlt nachdem genealogischen Umweg uumlber die Nymphe Thebe und Thebenin Boumlotien stimmen die Zeit und der Ort der narrativen und dis-kursiven Realisierung des Gedichts mit dem sbquoHierlsquo und dem sbquoJetztlsquoseiner Auffuumlhrung uumlberein ndash einem hic et nunc das an der Aus-sageinstanz orientiert ist

Im dichterischen sbquoIchlsquo konvergieren demnach am Ende dergesungenen Komposition die enuntiative Stimme des inspiriertenDichters die Chorstimme der Darsteller des κμος und die Stim-me ihres χοροδιδσκαλος Die bemerkenswerte semantische Aus-dehnung dieses sprachlichen und poetischen sbquoIchslsquo ist wesentlichpolyphon Aber dank der zeitlichen und insbesondere der raumlum -lichen Markierungen die wir bemerkt haben (Syrakus Sparta

26) Damit moumlchte ich dem Prinzip widersprechen auf dem die sbquokritischelsquophilologische Hermeneutik beruht und das immer wieder von Jean Bollack heftigverfochten wird zum Beispiel in seinem juumlngsten Essay Parmeacutenide de lrsquoeacutetant aumonde Lagrasse 2006 11ndash19

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Olympia Arkadien Stymphale Theben) dank der (etwas parado-xen) geographisch-genealogischen Rundreise auch durch die fikti-ven Orte und Zeiten der Gruumlndungsmythenlsquo erhaumllt diese poly-phone Aussageinstanz eine praumlzise extradiskursive Dimension

hinsichtlich sbquoIchlsquo sbquoWirlsquondash Pindar von Theben in seiner Funktion als

inspirierter Dichter und Lehrer der Wahrheitndash Aineias (aus Stymphale) als χοροδιδσκαλοςndash die jungen Choreuten aus Syrakusndash schlieszliglich das Gedicht selbst (objektiviert im

sbquoEslsquo uumlber die Angleichung an das Maultiergespann)hinsichtlich sbquoDulsquo

ndash Hagesias der Arkadier aus Syrakusndash Phintis der Wagenlenker aus Syrakusndash Hieron der Tyrann von Syrakusndash Poseidon der Herr des Meeres

Der polyphonen Komplexitaumlt der Aussageinstanz mit ihrersemantischen Ausdehnung und diskursiven Vielschichtigkeit ent-spricht eine einzigartig ausdifferenzierte bdquofonction-auteurldquo Uumlberdie Metapher des Wagens und uumlber das Bild des κμος als prozes-sionalen und rituellen Gesangs wird sie auf die Auffuumlhrung des Ge-dichts bezogen

Damit haben wir uns weit von der romantischen Auffassungeines sbquolyrischen Ichslsquo entfernt von dem man sich einen unmittel-baren sprachlichen Ausdruck der persoumlnlichen Empfindungen desDichter-Schriftstellers und demnach vom biographischen Dichterverspricht auch weit entfernt von der Intentionalitaumlt eines Dich-ter-Individuums eines autonomen kreativen Subjekts das mit derdichterischen Tradition in die es sich einschreibt gebrochen haumlt-te26 Obwohl er unbestreitbar vorhanden ist wird der Wille derdichterischen Schoumlpfung gefiltert durch eine traditionelle dichte -rische Diktion durch die Regeln der Gattung durch die Erfor-dernisse des rituellen Anlasses durch die Verdopplung in der poe-

Das poetische Ich 143

tischen performance der bdquofonction-auteurldquo durch enuntiativeStrategien dichterischer Ordnung

Besonders im hier gewaumlhlten Beispiel stuumltzt sich das meta-phorische poetische Spiel auf das Gedicht als Objekt in seiner raumlumlichen Verschiebung (was wiederum die Teilnahme am sport-lichen Wettkampf symbolisiert) um dessen Bewegung auf den Ge-sang und den dichterischen und musikalischen Wettkampf zuuumlbertragen der im Gedicht durch ein komplexes enuntiatives Spieldargestellt wird mit diesem Dreh enuntiativer und spazio-tempo-raler Pragmatik wird das Bild des Sieges im Wettkampf auf das hicet nunc der rituellen performance des Gesangs verlagert der von ei-nem polyphonen sbquoIchlsquo auszligergewoumlhnlicher Dichte ausgetragenwird Dieses In-Bewegung-Setzen des Gesangs mittels eines Bildesist zentral in den Gedichten die uns nicht nur konkret in die Zeitund den Raum der sbquomythischenlsquo Gruumlndungsakte einfuumlhren und alspragmatisches kulturelles Gedaumlchtnis fungieren sondern die sichauch uumlber zahlreiche autoreferentielle Interventionen als Ge-sangs-Akte praumlsentieren speech-acts die uumlber enuntiative Bezug-nahmen auf die musikalische Aktivitaumlt die von denjenigen die dasGedicht auffuumlhren ausgeuumlbt wird zu song-acts werden In demMaszlige in dem ihre sbquoDurchfuumlhrunglsquo gewoumlhnlich in eine rituelle Feier fuumlr die Schutzgottheit einer Stadt eingebettet ist sind dieseGesangs-Akte auch cult-acts kultische Handlungen Was die Epi-nikie betrifft so ist ihre religioumlse und politische Aufgabe nicht nurdie Erinnerung an die aristokratische Familie aus welcher der Sie-ger an den panhellenischen Spielen stammt zu bereichern sondernauch das kollektive Gedaumlchtnis des staumldtischen Verbands dem erangehoumlrt lebendig zu erhalten Dies alles vollzieht sich in aus-drucksvollen sprachlichen Bildern die durch den sbquopoetischen Ap-parat der Aussagelsquo des rituellen Gesangs Entfaltung und Wirksam-keit finden

Im archaischen und klassischen Griechenland ist die ars scri-bendi eine ars canendi

Paris Claude Ca lame

Page 6: DAS POETISCHE ICH Enuntiative und ... - rhm.uni-koeln.de · PDF fileder in der ersten Aufsatzsammlung der Problèmes de linguistique générale ... E.Benveniste, Problèmes de linguistique

9) Ich erlaube mir hier abermals einen Verweis auf meine einfuumlhrenden Bemerkungen zu Poeacutetique des mythes dans la Gregravece antique Paris 2000 11ndash69Vgl jetzt auch Mythos musische Leistung und Ritual am Beispiel der melischenDichtung in A Bierl R Laumlmmle K Wesselmann (Hrsg) Literatur und ReligionWege zu einer mythisch-rituellen Poetik bei den Griechen Band I Berlin NewYork 2007 179ndash210

10) Fuumlr all diese sbquoperformativenlsquo Aspekte der griechischen Dichtung zumalwenn es sich um Chordichtung handelt siehe die nuumltzliche Darstellung bei A BierlDer Chor in der alten Komoumldie Ritual und Performativitaumlt Muumlnchen Leipzig2001 11ndash64

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(eacutenonceacute) und discours (eacutenonceacute de lrsquoeacutenonciation) verortet mit derPerspektive von Buumlhler in Bezug auf die Prozeduren der Deixisderen Brennpunkt das diskursive sbquoIchlsquo ist sie hat einen Einflussnicht nur auf die Konzeption des Autors und seiner dichterischenAutoritaumlt sondern auch auf jene der Fiktion und des sbquoMythoslsquo inihrer diskursiven Dimension Im Falle der Dichtung des klassi-schen Griechenlands die wir trotz ihres stark pragmatischen Cha-rakters als sbquoLiteraturlsquo auffassen gilt es demnach nicht nur das Pro-blem des dichterischen (und sbquolyrischenlsquo) sbquoIchslsquo in neuem Lichte zubetrachten sondern gleichermaszligen das Problem jener Erzaumlhlun-gen die wir sbquomythischlsquo nennen weil wir an ihrem empirischen Ge-halt zweifeln und sie daher dem Fiktiven zuordnen Der Mythosist in der Anthropologie und Philosophie eine kanonisch gewor-dene moderne Abstraktion Nun existieren aber in Griechenlandwie in anderen traditionellen Kulturen die Mythen nur in dichteri-schen Formen nur die Dichtung laumlsst diese Erzaumlhlungen uumlber dieGoumltter und die heroische Vergangenheit in Gegenwart eines Publi-kums in rituellem sozialem und kulturell gegebenem Rahmen auf-leben9 Das heiszligt dass jedes mythische eacutenonceacute von (verbalen wiesozialen) Regeln des dichterischen Genres bestimmt ist das dieAussage unter seinen jeweiligen Bedingungen realisiert Die fuumlr ge-woumlhnlich rituelle Aussagesituation fuumlgt oft die betreffende dichte-rische Komposition im Moment ihrer Auffuumlhrung in rituelleEhrerbietungen fuumlr einen Gott ein in einem Raum der ihm ge-weiht ist Durch verschiedene Prozeduren enuntiativer Art er-scheint das Gedicht wie ein Gesangs- und folglich wie ein Kult -akt10 Uumlber diesen enuntiativen und performativen Umweg wirdder sbquomythischelsquo reacutecit durch den discours auf das hic et nunc der Auf-fuumlhrung des Gesangs und ihre Umstaumlnde bezogen

Durch die Pragmatik der poetischen Formen erweist sich diesbquoFiktionlsquo des griechischen Mythos als ein viel vermoumlgendes Mittel

Das poetische Ich 131

musikalischen und rhythmischen Handelns uumlber die Vermittlungdes Dichters in seiner Eigenschaft als inspirierter σοφς gruumlndetdie Musik ebensosehr auf den kreativen Moumlglichkeiten einer tra-ditionellen dichterischen Sprache wie auf den Prozeduren der enun-tiativen und pragmatischen Bezeichnung wie sie von jeder ge -sprochenen Sprache gewaumlhrleistet ist Wesentlich ist in dieser Hin-sicht die Position die vom sbquoIchlsquo des Sprechers in seiner Rolle alssbquoAussageinstanzlsquo eingenommen wird diese Ich-Position bildetden Aus gangspunkt der Prozeduren der enuntiativen Bezugnahmeunter den Bedingungen der Komposition und der Aussage vondem was im Gedicht spezifisch im mythischen und fiktionalenreacutecit ausgesprochen wird Verbal und poetisch musikalisch undrhythmisch ist dieses sbquoIchlsquo das im Verlaufe der dichterischenKomposition eine beachtliche Ausdehnung erfaumlhrt Die Stimmedieses poetischen sbquoIchlsquo entwickelt sich bisweilen zu einer regel-rechten Polyphonie die in der Praxis der Auffuumlhrung ihren Nie-derschlag findet Das gilt in besonderem Maszlige fuumlr den Fall jenerFormen von Chordichtung die der umfassenden Gattung desμλος angehoumlren und die in etwas voreiliger Weise aufgrund derTatsache dass sich in ihnen ein sbquoIchlsquo findet das allzu schnell undunmittelbar mit dem Autor identifiziert wird mit dem Etikett dessbquoLyrischenlsquo versehen werden

Am einzigartigen Beispiel eines melischen Gedichtes vonPindar das der Gattung der Epinikien zugeordnet wird soll imfolgenden der komplexe Prozess der musikalischen Komposition-performance dargelegt werden der sowohl die dichterische Meta-pher als auch den heroischen reacutecit (den sbquoMythoslsquo) in den Dienst einer rituellen Feier stellt und zwar uumlber den Umweg eines enun-tiativen und pragmatischen Verfahrens von bemerkenswerterDichte

2 Dichterische Bilder und Wirkkraft des Gesangs

Von Parmenides bis Empedokles uumlber Simonides Pindaroder Bakchylides finden sich ungezaumlhlte griechische Dichter vor-klassischer Zeit die sich selbst auf den Streitwagen der Musenoder verwandter Goumlttinnen einladen Die Einladung schreibt sichein in die griechische Poetik der musikalischen Inspiration Siegruumlndet auf einer Metapher die man beispielsweise in der vedi-

11) Parm fr 28 B 11ndash5 Diels Kranz und Emp fr 31 B 33ndash5 Diels Kranzsiehe bei den melischen Dichtern auch Pind Ol 980ndash81 Isthm 861ndash62 etc ZuParmenides siehe den unentbehrlichen Kommentar von G Cerri Parmenide diElea Poema sulla natura Milano 1999 98ndash108 und 166ndash182 zu Empedokles vglA Rosenfeld-Loumlffler La poeacutetique drsquoEmpeacutedocle Cosmologie et meacutetaphore Bern New York 2005 36ndash57 Weitere Anleihen bei der vedischen Poesie sind genannt beiR Nuumlnlist Poetologische Bildersprache in der fruumlhgriechischen Dichtung Stutt-gart Leipzig 1998 255ndash261

12) Φίντις λλ ζεξον -|δη μοι σθένος μιόνων | τάχος φρακελεύθamp τrsquo ν καθαρ( | βάσομεν κχον κωμαί τε πρς νδρν | κα0 γένοςmiddot κε2ναιγρ ξ λ-|λ3ν 4δν 5γεμονεσαι | ταύταν πίστανται στεφάνους ν 7λυμπί8 | πε0δέξαντοmiddot χρ9 τοίνυν πύλας -|μνων ναπιτνάμεν ατα2ςmiddot | πρς Πιτάναν δ= παρrsquoΕρώ-|τα πόρον δε2 σμερον λθε2ν ν Bρ8middot

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schen Dichtung findet In einem metaphorischen Verfahren wirddie Liedkomposition und -auffuumlhrung mit der Teilnahme an einemWagenrennen verglichen Es ist dies die Art und Weise mit derParmenides mithilfe der Toumlchter der Sonne an die Pforte von Tagund Nacht gelangt wo ihn die goumlttliche Gerechtigkeit erwartet esist dies die Art und Weise mit der die Muse die von Empedoklesangerufen worden ist fuumlr den Dichter den fuumlgsamen Wagen lenktder vom Koumlnigreich der Froumlmmigkeit herstammt11 Aber eine Me-tapher die auf einem dynamischen Sprachbild wie jenem des Wa-gens gruumlndet ist nicht den vorplatonischen Denkern vorbehaltendie auf die epische Sprache zuruumlckgreifen sie ist auch bei diversenmelischen Dichtern in Gebrauch ganz besonders in den Gesaumln-gen die den Sieg eines jungen Athleten an den PanhellenischenSpielen feiern in Delphi oder in Olympia aber auch in Nemeaoder am Isthmus von Korinth

In einem Loblied auf den jungen sizilischen Sieger im Wagen-rennen bei den Olympischen Spielen im Jahre 472 oder 468 v Chrvergleicht sbquoPindarlsquo die Komposition seines Gedichts mit dem Er-richten eines Palastes Nachdem er ein eroumlffnendes Lob auf denSieger ausgesprochen hat indem er eine erste Verbindungsliniezwischen Olympia dem Austragungsort der Spiele und Syrakusder Heimatstadt des Siegers gezogen hat nachdem er fuumlr seineLobpreisung des edlen Hagesias die bdquohonigtoumlnendenldquo Musen alsZeuginnen angerufen hat (Ol 61ndash21) schreckt der Sprecher nichtdavor zuruumlck das Maultier-Viergespann das den OlympischenSieg errungen hat mit seinem eigenen Gedicht zu vergleichen(Ol 622ndash28)12

13) Pindar Siegeslieder Griechisch-Deutsch Herausgegeben uumlbersetzt undmit einer Einfuumlhrung versehen von Dieter Bremer Muumlnchen 1992 ndash Zum Vergleichdes Dichters mit dem Athleten bei Pindar vgl D Auger De lrsquoartisan agrave lrsquoathlegravete lesmeacutetaphores de la Creacuteation poeacutetique dans lrsquoeacutepinicie et chez Pindare in M Cos -tantini J Lallot (Hrsg) Le texte et ses repreacutesentations Paris 1987 39ndash56

Das poetische Ich 133

Phintis auf spann mir jetztdie Kraft der Maultiere an

so schnell es geht damit wir auf reiner Bahnden Wagen fahren und ich auch zum Ursprung derMaumlnner komme Denn jene Tiere verstehen vor anderen

auf diesem Wege zu fuumlhrenda sie die Kraumlnze in Olympiaerhielten es tut also not die Tore

der Hymnen ihnen zu oumlffnenan den Strom des Eurotas muss ich heute

kommen zur rechten Zeit nach Pitane(Uumlbers Dieter Bremer)13

Und so adressiert derjenige der sbquoIchlsquo sagt in der zweiten Triadedieser sechsten Olympischen Ode direkt den Lenker des Gespannsder Lenker Phintis ist in Olympia der Vertreter von Hagesias demAristokraten aus Syrakus der den Unterhalt des siegreichen Ge-spanns finanziert Der Dichter bittet den jungen Mann die Maul-tiere anzuschirren sie mit seinem Wagen zu lenken und ihnen diebdquoTore der Hymnen zu oumlffnenldquo (V 27) Mit einer Metapher wird dervorliegende Gesang zum Mittel einer Verschiebung deren poeti-scher Ausdruck sich uumlberdies einer starken Wegmetaphorik be-dient (κλευθος V 23 4δς V 25) Aber statt uns von Olympianach Syrakus zu fuumlhren wo uns die enuntiative Bewegung des Ge-dichts zunaumlchst hingebracht hat statt uns an die Staumltte des Siegesund von da an den Ort zu fuumlhren an dem die Siegesfeier stattfin-den duumlrfte bringt uns das Gespann-Gedicht hin an den Eurotas inLakonien ins Staumldtchen Pitane das ein Stadtteil von Sparta ist

Diese unerwartete geographische Verschiebung geht mit einerebenso unerwarteten zeitlichen Bewegung einher vom bdquoheuteldquo(σμερον V 28) das mit der Zeit der eacutenonciation des Liedes (bdquodis-coursldquo) korrespondiert in die unbestimmte Vergangenheit in einenarrative und goumlttliche Zeit (bdquoreacutecitldquo bdquomytheldquo) es ist die Zeit zu

14) Pind Ol 622ndash42 Die umstrittene Frage nach der Datierung und denUmstaumlnden der Auffuumlhrung dieses komplexen Gedichts wird eroumlrtert bei Ch Froi -de fond Lire Pindare Namur 1989 29ndash48 der fuumlr eine Auffuumlhrung des Gedichtsnicht in Syrakus sondern in Stymphale in Arkadien plaumldiert wie nach ihm auchG O Hutchinson Greek Lyric Poetry A Commentary on Selected Larger PiecesOxford 2001 371ndash374 Hierauf wird weiter unten zuruumlckgekommen Zur Sequenzder deiktischen Gesten die den enuntiativen Rahmen dieses Gedichts ausmachenvgl die nuumltzliche Studie von A Bonifazi Mescolare un cratere di canti Alessandria2001 103ndash149

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der Poseidon sich mit der jungen Pitane vereinigt hatte der epony-men Nymphe des spartanischen Staumldtchens14 Fuumlr uns entsprichtdiese Zeit derjenigen des sbquoMythoslsquo

Aus dieser goumlttlichen und geheimen Vereinigung ndash so derFortgang des dichterischen und sbquomythischenlsquo reacutecit ndash geht Euadnehervor sie wurde in Arkadien groszliggezogen nicht weit vom Al -pheios ehe sie ihrerseits vom jungen Gott Apollon verfuumlhrt wirdAus dieser zweiten Liebe eines Gottes mit einer jungen Sterblichengeht Iamos hervor Dieser Heros der ebenfalls in der Naumlhe desAlpheios in arkadischem Gebiet geboren wurde steht am Ur-sprung einer Familie von Sehern den Iamiden doch erweist er sichgleichermaszligen als Vorfahr vaumlterlicherseits des Hagesias von Sy-rakus dem Sponsor des Viergespanns das den Sieg bei den Olym-pischen Spielen errungen hat und das in dieser Epinikie besungenwird Man erfaumlhrt weiter dass er als kleines Kind ausgesetzt undinmitten der Blumen von zwei Schlangen mit Bienenhonig ernaumlhrtwurde Uumlber den Honig mit der Suumlszlige der dichterischen Ver-fuumlhrung assoziiert wird die Stimme von Iamos in die Stimme einesHellsehers verwandelt dies geschieht durch den Willen seinesGroszligvaters Poseidon und ganz besonders durch das Eingreifen sei-nes Vaters Apollon dem Gott des Orakels zu Delphi Der jungeHeros ist also dazu auserkoren diese Gabe inspirierten Hellsehensan seine Nachkommen die Iamiden weiterzuvererben Apoll istes der Iamos dann selbst nach Olympia fuumlhrt inspiriert vom Gottvon Delphi gruumlndet der junge Heros alsdann am Ufer des Alphei-os das Orakel das am Altar des Zeus die Gruumlndung der Olympi-schen Spiele durch Herakles voraussagen wird

Dem siegreichen Gespann aus Syrakus angeglichen zeichnetalso dieses Gedicht eine geographische Kreisbewegung nach In-dem der Beginn in Syrakus eingeklammert wird fuumlhrt uns derWeg der von der Metapher des Wagens gezeichnet wird tatsaumlch-

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lich vom Austragungsort des Wettkampfs in der Naumlhe des Alphei-os hin nach Lakonien und Sparta um uns schlieszliglich uumlber Pisatisund die Grenzen Arkadiens nach Olympia zuruumlckzufuumlhren Die-se geographische Reiseroute ist mit einem zeitlichen Rundgang ge-paart der uns in die Zeit der Aussage (eacutenonciation) zuruumlckfuumlhrtausgehend von diesem hic et nunc hat das Gedicht als Rennwagenzur langen genealogischen Reise in die goumlttliche und heroische Ver-gangenheit der Iamiden und ebenso in die urspruumlngliche und sbquomy-thischelsquo Zeit eines doppelten Gruumlndungsakts angehoben die Ein-richtung des Orakels zu Olympia das von den Nachfahren des Iamos gefuumlhrt wird sowie der Spiele selbst in der Zeit des Hera -kles

bdquo damit wir auf reiner Bahn den Wagen fahren und ich auchzum Ursprung der Familie des Hagesias kommeldquo (V 23) wuumlrdeich also uumlbersetzen Der Anfang dieses zeitlichen Rundgangs (derzugleich seinen Endpunkt darstellen wird) ist von der Alternationder autoreferentiellen Formen im Singular und im Plural (βάσομενim Plural aber κωμαι im Singular in demselben Vers 24) gekenn-zeichnet durch diese Fomen wird die zugleich zeitliche wie raumlum-liche Verschiebung uumlber die Vermittlung des Bilds eines Gespannsvon einer Aussageinstanz aufgenommen die mit einer komplexenKommunikationssituation korrespondiert Das sbquoIchlsquo sbquoWirlsquo desSprechers scheint in der Tat sowohl den Sieger (den Wagenlenkerdes siegreichen Gespanns in Olympia das von Hagesias von Sy-rakus unterhalten wird) als auch den Dichter (Pindar von Thebenden Lenker des Gesangs) und die wahrscheinlich anwesende Chor-gruppe welche den Gesang sbquoPindarslsquo auffuumlhrte in sich zu vereinenIn diesem Stuumlck dichterischer Historiographie geographischer wiegenealogischer Ausrichtung wohnt man der Fahrt des Dichters mitdem Wagenlenker des Hagesias bei auf dem Wagen der zum Ge-dicht geworden ist faumlhrt man mit dem Dichter in Richtung Pitanenach Sparta und durch Arkadien zuruumlck nach Olympia entlangden Ufern des Alpheios und entsprechend in die Zeit des sbquoMy-thoslsquo dieser geographische und historische Rundgang kann nur einmetaphorischer sein Er gehoumlrt ins Reich der Dichtung um nichtzu sagen der poetischen Fiktion

15) ματρομάτωρ μ Στυμ-|φαλίς εανθ9ς Μετώπα | πλάξιππον E ΘήβανHτι-|κτεν τ3ς ρατεινν δωρ | πίομαι νδράσιν αIχματα2σι πλέκων | ποικίλονμνον τρυνον νν Kταίρους |ΑIνέα πρτον μ=ν Mραν | Παρθενίαν κελαδNσαι |γνναί τrsquo Hπειτrsquo ρχα2ον νειδος λαθέσιν | λόγοις εI φεύγομεν Βοιωτίαν Pν | σσ0γρ Qγγελος Rρθός | Sϋκόμων σκυτάλα Μοι-|σ3ν γλυκUς κρατ9ρ γαφθέγκτωνοιδ3ν

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3 Enuntiative und pragmatische Polyphonie

Die metaphorische Reiseroute die vom Gedicht als Wagengezeichnet wird betrifft also ebenso den Dichter wie seine Dich-tung dies gilt um so mehr als der Sprecher gegen Ende der Odenicht mehr den jungen Lenker des maumlchtigen Hagesias von Sy-rakus sondern in der Manier des Echos einen gewissen Aineiasadressiert da der Stil dieser Verse so dicht ist (Ol 684ndash91) erweistsich seine Verortung als schwierig15

Meine Ahnmutter ist aus Stymphalosdie wohlbluumlhende Metope

welche die pferdestachelnde Thebe gebar deren liebliches Wasser

ich trinke der ich speerkaumlmpfenden Maumlnnern flechteeinen bunten Hymnos Treib nun die Gefaumlhrten Aineias zuerst Hera

die jungfraumluliche zu besingenum dann zu erkennen ob wir mit wahren Wortendem alten Schimpfwort sbquoboiotische Saulsquo entgehen

Du bist naumlmlich ein rechter BoteBriefstab der schoumlnhaarigen Musen

suumlszliger Mischkrug starktoumlnender Gesaumlnge(Uumlbers Dieter Bremer)

bdquoRechter Boteldquo bdquoBriefstab der schoumlnhaarigen Musenldquo (V 90ndash91)Der junge Mann ist niemand Geringeres als der Repraumlsentant desDichters Ihm ist die Aufgabe uumlberantwortet jetzt (νν) seine Ge-faumlhrten (Kτα2ροι V 87) dazu einzuladen die Goumlttin Hera Partheniazu besingen der in Stymphale in Arkadien gehuldigt wird Im Ver-such der antiken Kommentatoren diese schwierige Passage in dieentsprechende institutionelle Begrifflichkeit zu uumlbertragen heiszligtdas dass es diesem jungen Chorleiter angetragen wird die Cho-

16) Pind Ol 682ndash99 mit Scholion ad V 149a (I S 188 Drachmann) DieRolle des jungen Aineias ist treffend charakterisiert bei Bonifazi (wie Anm 14) 133ndash143 vgl zur Ergaumlnzung die skeptischen Bemerkungen bei M Heath Receiving theKocircmos The Context and Performance of Epinician AJPh 109 1988 180ndash195 undM Lefkowitz The First Person in Pindar Reconsidered ndash Again BIClS 40 1995139ndash150 (mit umfassender Bibliographie) Zur Syntax dieser umstrittenen Passagevgl den nuumltzlichen Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 413ndash415

17) Zu dieser Anspielung auf die Auffuumlhrung des Gedichts in einem Momentder Inspiration und Komposition den die intentionale und sbquoperformativelsquo Form desFuturs mit dem Moment seiner Ausfuumlhrung als Gesangsvortrag korrespondierenlaumlsst siehe besonders G B DrsquoAlessio Past Future and Present Past Temporal Dei-xis in Greek Archaic Lyric Arethusa 37 2004 267ndash294 (289ndash290)

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reuten zu trainieren die Choreuten werden zum Sprachrohr desDichters jetzt in dem Augenblick der mit der Auffuumlhrung derEpinikie zusammenfaumlllt und an einem Ort den man mit dem ar-kadischen Stymphale identifizieren wollte16

In den Versen nun die dieser Aufforderung an den jungenChorleiter unmittelbar vorausgehen nennt der Sprecher undDich ter sein Vorhaben vom lieblichen Wasser der Quelle Metopezu trinken (πίομαι V 86) und zwar in einer Form des sbquoperforma-tivenlsquo Futurs die den Moment der dichterischen Inspiration mitder Auffuumlhrung der Epinikie zusammenfallen laumlsst17 In einemabermaligen geographisch-genealogischen Rundgang der eineneue Reise in die heroische Zeit des sbquoMythoslsquo darstellt wird of-fenbar dass der Name sbquoMetopelsquo dem Namen einer Nymphe ausStymphale in Arkadien entspricht Ihre Mutter ist niemand ande-res als Thebe und Thebe wiederum ist die eponyme Nymphe vonTheben in Boumlo tien der Heimat des Dichters Vom noch unbe-stimmten Ort der Aussage (eacutenonciation) und des Vortrags des Gedichts sind wir demnach enuntiativ nicht mehr zum Ort derAustragung der Spiele und ihrer Gruumlnder gelangt sondern in eineGegend die benachbart ist dem Ursprungsort der Familie der Iamiden und demnach der Familie des Hagesias wahrscheinlich ineiner Anspielung auf seine Ahnenschaft muumltterlicherseits Dannwerden wir vom Arkadien der Iamiden wiederum nicht an denOrt der Auffuumlhrung sondern an den Ort der Komposition desGedichts geleitet nach Theben in die Heimat Pindars Und in derTat ist es der Inspiration die er bei der Quelle der Metope bdquomei-ner Ahnmutterldquo (V 84) gefunden hat zu verdanken dass der

18) Die Beziehung die der Dichter zwischen seiner Heimat Theben und demStammbaum der Iamiden herstellt ist nachgezeichnet bei L Kurke The Traffic inPraise Pindar and the Poetics of Social Economy Ithaca London 1991 147ndash149ferner Hutchinson (wie Anm 14) 410ndash413 Zu den verschiedenen Metaphern wel-che die dichterische Inspiration mit dem Erguss einer Fluumlssigkeit assoziieren sieheNuumlnlist (wie Anm 11) 195ndash199 (vgl ferner zur Kunst des Webens 110ndash118 sowieJ Scheid J Svenbro Le meacutetier de Zeus Mythe du tissage et du tissu dans le mon-de greacuteco-romain Paris 1994 119ndash130)

19) Vgl Scholia ad V 148a und 148c (I S 187 Drachmann) Vgl dazuV Vigneri Il coro dellrsquoepinicio pindarico negli scholia vetera QUCC 95 2000 87ndash103

20) Ergaumlnzend zu den Ausfuumlhrungen von Lefkovitz (wie Anm 16) sei z Bauf die hervorragenden Bemerkungen bei G B DrsquoAlessio First-Person Problems inPindar BIClS 39 1994 117ndash139 verwiesen

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Dichter seither in einer weiteren in der melischen Dichtung haumlu-fig auftretenden Metapher befaumlhigt ist bdquoeinen bunten Hymnos zuflechtenldquo (πλέκων V 86ndash87)18

Zugunsten dieser zweiten (teilweise impliziten) Ruumlckkehr zuden Orten und Zeiten der sbquomise en discourslsquo und der Auffuumlhrungdes Gedichts wohnen wir dank der abermaligen geographischenund genealogischen (und vom Sprecher als sbquomythischlsquo vorgestell-ten) Reise der subtilen bildreichen und poetischen Entfaltung ei-nes enuntiativen Spiels bei dieses Spiel ist in der melischen Dich-tung haumlufig anzutreffen insbesondere in den Epinikien Pindarsund des Bakchylides Dieses Verfahren der sbquochorischen Delegationlsquolaumlsst in seiner Polyphonie eine Abloumlsung der Stimme des Dichter-Komponisten durch die Stimme der chorischen Gruppe zu die denGesang vortraumlgt Es uumlberrascht daher wenig dass die antikenKommentatoren den jungen Aineias als χοροδιδσκαλος bezeich-nen19 Dieser Leiter des Chors fungiert als Vermittler zwischen derinspirierten Stimme des Sprecher-Ichs und der Chor-Stimme derjungen Saumlnger welche die Auffuumlhrung des Gedichts uumlbernimmtAuf extradiskursiver Ebene wiederum dient Aineias als Vermittlerzwischen dem Autor und Komponisten des Gedichts (in Theben)und der chorischen Gruppe Ausfuumlhrender die in einem rituellenTanz singen (wahrscheinlich in Syrakus) Diese bemerkenswerteenuntiative Polyphonie macht den Streit um die Natur des sbquolyri-schen Ichslsquo in den Epinikien Pindars in vielerlei Hinsicht uumlberfluumls-sig Weder nur sbquomonodischlsquo noch ausschlieszliglich chorisch ist dassbquoIchlsquo sbquoWirlsquo des Sprechers wesentlich polyphon20

21) Zum pejorativen Sinn dieser sprichwoumlrtlichen Wendung unter Einbezugder bdquoPoetik des Tadelsldquo vgl den Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 416ndash417

22) Hier sei auf die verschiedenen Stellen verwiesen die ich in Pragmatiquede la fiction quelques proceacutedures de deixis narrative et eacutenonciative en comparaison(poeacutetique grecque) in J-M Adam U Heidmann (Hrsg) Sciences du texte et ana-lyse de discours Enjeux drsquoune interdisciplinariteacute Lausanne Genegraveve 2005 119ndash143 angefuumlhrt habe zur prozessionalen Dimension des κμος siehe insbesondereK A Morgan Pindar the Professional and the Rhetoric of the kocircmos CPh 88 19931ndash15

23) Vgl die bei Vigneri (wie Anm 19) 97ndash100 angefuumlhrten Stellen sowieC Carey The Victory Ode in Performance The Case for the Chorus CPh 86 1991192ndash200

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So erklaumlrt sich warum einerseits paradoxerweise der Wunschdem Vorwurf zu entgehen (φεύγομεν V 90) eine bdquoboiotische Sauldquo21

zu sein in der ersten Person Plural gehalten ist der Wunsch beziehtsich nicht nur auf die vom Dichter der Epinikien haumlufig bemuumlhtePoetik der Wahrheit sondern auch auf seinen thebanischen unddemnach boumlotischen Ursprung Andererseits ist es der ChorleiterAineias dem angetragen wird sei es den Musen sei es seinen Cho-reuten zu sagen (εWπον V 92) sie moumlgen sich erinnern und daherzugleich Syrakus und Ortygia hochleben lassen Hinsichtlich derAussage uumlberlagern sich hier durch verschiedene grammatikali-sche wie explizite delegative Bewegungen die Stimme des Dich tersund jene des χοροδιδσκαλος und der chorischen Gruppe

Infolgedessen stuumltzt sich der Uumlbergang von der Metapherzur Realitaumlt der Auffuumlhrung von Pindars Gedicht an seinem Aus-gang nicht mehr auf das Bild des Gespanns sondern auf jenes desκμος (V 98) Bild eines prozessionalen Umzugs wie er bei Pin-dar haumlufig anzutreffen ist22 In den letzten Versen der sechstenOlympischen Ode wird das Gedicht das in seiner Auffuumlhrung be-griffen ist zum prozessionalen Gesang der den siegreichen Ha-gesias aus Syrakus feiert Die antiken Kommentatoren zeigen hierkeine Zuruumlckhaltung κμος und κωμζειν werden regelmaumlszligig alsχορς und χορεXειν erklaumlrt23 In der Tat wird der Tyrann von Sy-rakus Hieron dazu eingeladen den jungen Aristokraten abzu-holen der von dem Ort herkommt wo das Gedicht ihn gelassenhatte in Stymphale Ritueller Empfang anlaumlsslich einer Kultfeier(KορτY V 95) zu Ehren von Demeter und ihrer Tochter Perse-phone die von Aineias gefeiert werden soll wahrscheinlich mit-

24) Die dreifache Ringstruktur die in dieser letzten Ruumlckkehr nach Syrakusendet ist beschrieben bei Froidefond (wie Anm 14) 45ndash48 Zu dieser dichterischenRundreise siehe die glaumlnzende Deutung von S Goldhill The Poetrsquos Voice Essays onPoetics and Greek Literature Cambridge 1991 154ndash166

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hilfe der Musen man wird sich in Erinnerung rufen dass Mutterund Tochter zwei Schutzgottheiten der Stadt sind und dass dieFamilie des Hieron wahrscheinlich das entsprechende Priesteramtinnehatte Durch und in dem prozessionalen Gesang fuumlhrt unsder κμος demnach von Arkadien und spezifisch von Stympha-le unweit der Heimat der Iamiden sowie von Theben der Hei-mat des Dichters hin zum Ort und in die Zeit der Auffuumlhrungdes Gedichts dieser Ort so stellt es sich jetzt heraus ist SyrakusDer abschlieszligende Aufruf zur Gastfreundschaft an den Tyrannenvon Syrakus wie auch eine erste Anspielung zu Beginn des Ge-dichts auf den bdquoMann aus Syrakus den Herrn des Festzugsldquo(V 18) bestaumltigen uumlber den Umweg einer Ringkomposition dassdiese glaumlnzende sizilische Stadt die Auffuumlhrung der von Pindarkomponierten Epinikie erhaumllt24

Ο[κοθεν ο[καδε bdquovon Hause nach Hausldquo (V 99) Gedoppeltdurch eine deiktische Geste die einer bdquoDemonstratio ad oculosldquoentspricht scheint diese letzte raumlumliche Bewegung von der einenHeimat in die andere die doppelte Zugehoumlrigkeit der Familienmit-glieder des Hagesias nachzuvollziehen leiten sie sich einerseits vonden arkadischen Iamiden her sind sie andererseits aber Buumlrger vonSyrakus Wie auch immer ndash diese Bewegung zuruumlck nach Syrakusist geweiht durch die Invokation des Gottes Poseidon zum Ge-dicht-Ende Uumlber die Metapher des Schiffs und seiner beiden An-ker wird der Gott ebenso zum Garanten der doppelten Herkunftdes Hagesias der aus Arkadien und aus Syrakus stammt wie auchder Rundreise des Gedichts in seiner Auffuumlhrung von Thebennach Stymphale nach Syrakus Es ist keineswegs ein Zufall wenndas Gedicht mit der Bitte an den Gemahl der Amphitrite bdquomeineHymnenldquo (V 105) bluumlhen zu lassen schlieszligt finale Ruumlckkehr zurAussageinstanz

Herr Meeresgebieter Gerade Fahrt von Erschoumlpfun-genfern gib Gatte der Amphitrite

25) δέσποτα ποντόμεδον εθUν δ= πλόον καμάτων | κτς όντα δίδοιχρυσαλακάτοιο πόσις | μφιτρίτας μν δrsquo -|μνων Qεξrsquo ετερπ=ς Qνθος

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der mit der goldenen Spindel und lass meine Hymnenwachsen zu wohlerfreulicher Bluumlte

(Ol 6103ndash105 Uumlbers Dieter Bremer)25

4 Der poetische Apparat der eacutenonciation

Dargestellt als rein metaphorischer Wagen wenn es darum zutun ist mit dem Wettbewerb der vom Kutscher und seinem Ge-spann dargestellt wird die geographische und genealogische Her-kunft (Arkadien und Olympia) der siegreichen Familie nachzu-vollziehen realisiert sich der Gesang zuletzt in seiner chorischenund prozessionalen Identitaumlt im Bilde des κμος aufgefuumlhrt in Sy-rakus fuumlhrt dieses Chorgedicht genealogisch zuruumlck nach Thebenin die Heimat Pindars So fokussiert das doppelte Bild des Ge-spanns und der Prozession die Komposition des Thebaners Pindarim hic et nunc seiner Auffuumlhrung weder in Olympia dem Ort desathletischen Sieges und dem Orakelwesen der Iamiden noch inStymphale dem Ort der Vorfahren muumltterlicherseits des Hagesias(und moumlglicherweise der Heimat des Aineias) noch in Thebender Heimat Pindars und dem Ort an dem das Gedicht geschaffenwurde sondern in Syrakus anlaumlsslich einer kultischen Feier Bleibtdie geographische und genealogische Rundreise die dem sprach -lichen Gespann zugeschrieben wird poetisch und metaphorischso wird jene die als rituelle Prozession vorgestellt ist Realitaumlt nachdem genealogischen Umweg uumlber die Nymphe Thebe und Thebenin Boumlotien stimmen die Zeit und der Ort der narrativen und dis-kursiven Realisierung des Gedichts mit dem sbquoHierlsquo und dem sbquoJetztlsquoseiner Auffuumlhrung uumlberein ndash einem hic et nunc das an der Aus-sageinstanz orientiert ist

Im dichterischen sbquoIchlsquo konvergieren demnach am Ende dergesungenen Komposition die enuntiative Stimme des inspiriertenDichters die Chorstimme der Darsteller des κμος und die Stim-me ihres χοροδιδσκαλος Die bemerkenswerte semantische Aus-dehnung dieses sprachlichen und poetischen sbquoIchslsquo ist wesentlichpolyphon Aber dank der zeitlichen und insbesondere der raumlum -lichen Markierungen die wir bemerkt haben (Syrakus Sparta

26) Damit moumlchte ich dem Prinzip widersprechen auf dem die sbquokritischelsquophilologische Hermeneutik beruht und das immer wieder von Jean Bollack heftigverfochten wird zum Beispiel in seinem juumlngsten Essay Parmeacutenide de lrsquoeacutetant aumonde Lagrasse 2006 11ndash19

Claude Ca lame142

Olympia Arkadien Stymphale Theben) dank der (etwas parado-xen) geographisch-genealogischen Rundreise auch durch die fikti-ven Orte und Zeiten der Gruumlndungsmythenlsquo erhaumllt diese poly-phone Aussageinstanz eine praumlzise extradiskursive Dimension

hinsichtlich sbquoIchlsquo sbquoWirlsquondash Pindar von Theben in seiner Funktion als

inspirierter Dichter und Lehrer der Wahrheitndash Aineias (aus Stymphale) als χοροδιδσκαλοςndash die jungen Choreuten aus Syrakusndash schlieszliglich das Gedicht selbst (objektiviert im

sbquoEslsquo uumlber die Angleichung an das Maultiergespann)hinsichtlich sbquoDulsquo

ndash Hagesias der Arkadier aus Syrakusndash Phintis der Wagenlenker aus Syrakusndash Hieron der Tyrann von Syrakusndash Poseidon der Herr des Meeres

Der polyphonen Komplexitaumlt der Aussageinstanz mit ihrersemantischen Ausdehnung und diskursiven Vielschichtigkeit ent-spricht eine einzigartig ausdifferenzierte bdquofonction-auteurldquo Uumlberdie Metapher des Wagens und uumlber das Bild des κμος als prozes-sionalen und rituellen Gesangs wird sie auf die Auffuumlhrung des Ge-dichts bezogen

Damit haben wir uns weit von der romantischen Auffassungeines sbquolyrischen Ichslsquo entfernt von dem man sich einen unmittel-baren sprachlichen Ausdruck der persoumlnlichen Empfindungen desDichter-Schriftstellers und demnach vom biographischen Dichterverspricht auch weit entfernt von der Intentionalitaumlt eines Dich-ter-Individuums eines autonomen kreativen Subjekts das mit derdichterischen Tradition in die es sich einschreibt gebrochen haumlt-te26 Obwohl er unbestreitbar vorhanden ist wird der Wille derdichterischen Schoumlpfung gefiltert durch eine traditionelle dichte -rische Diktion durch die Regeln der Gattung durch die Erfor-dernisse des rituellen Anlasses durch die Verdopplung in der poe-

Das poetische Ich 143

tischen performance der bdquofonction-auteurldquo durch enuntiativeStrategien dichterischer Ordnung

Besonders im hier gewaumlhlten Beispiel stuumltzt sich das meta-phorische poetische Spiel auf das Gedicht als Objekt in seiner raumlumlichen Verschiebung (was wiederum die Teilnahme am sport-lichen Wettkampf symbolisiert) um dessen Bewegung auf den Ge-sang und den dichterischen und musikalischen Wettkampf zuuumlbertragen der im Gedicht durch ein komplexes enuntiatives Spieldargestellt wird mit diesem Dreh enuntiativer und spazio-tempo-raler Pragmatik wird das Bild des Sieges im Wettkampf auf das hicet nunc der rituellen performance des Gesangs verlagert der von ei-nem polyphonen sbquoIchlsquo auszligergewoumlhnlicher Dichte ausgetragenwird Dieses In-Bewegung-Setzen des Gesangs mittels eines Bildesist zentral in den Gedichten die uns nicht nur konkret in die Zeitund den Raum der sbquomythischenlsquo Gruumlndungsakte einfuumlhren und alspragmatisches kulturelles Gedaumlchtnis fungieren sondern die sichauch uumlber zahlreiche autoreferentielle Interventionen als Ge-sangs-Akte praumlsentieren speech-acts die uumlber enuntiative Bezug-nahmen auf die musikalische Aktivitaumlt die von denjenigen die dasGedicht auffuumlhren ausgeuumlbt wird zu song-acts werden In demMaszlige in dem ihre sbquoDurchfuumlhrunglsquo gewoumlhnlich in eine rituelle Feier fuumlr die Schutzgottheit einer Stadt eingebettet ist sind dieseGesangs-Akte auch cult-acts kultische Handlungen Was die Epi-nikie betrifft so ist ihre religioumlse und politische Aufgabe nicht nurdie Erinnerung an die aristokratische Familie aus welcher der Sie-ger an den panhellenischen Spielen stammt zu bereichern sondernauch das kollektive Gedaumlchtnis des staumldtischen Verbands dem erangehoumlrt lebendig zu erhalten Dies alles vollzieht sich in aus-drucksvollen sprachlichen Bildern die durch den sbquopoetischen Ap-parat der Aussagelsquo des rituellen Gesangs Entfaltung und Wirksam-keit finden

Im archaischen und klassischen Griechenland ist die ars scri-bendi eine ars canendi

Paris Claude Ca lame

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Das poetische Ich 131

musikalischen und rhythmischen Handelns uumlber die Vermittlungdes Dichters in seiner Eigenschaft als inspirierter σοφς gruumlndetdie Musik ebensosehr auf den kreativen Moumlglichkeiten einer tra-ditionellen dichterischen Sprache wie auf den Prozeduren der enun-tiativen und pragmatischen Bezeichnung wie sie von jeder ge -sprochenen Sprache gewaumlhrleistet ist Wesentlich ist in dieser Hin-sicht die Position die vom sbquoIchlsquo des Sprechers in seiner Rolle alssbquoAussageinstanzlsquo eingenommen wird diese Ich-Position bildetden Aus gangspunkt der Prozeduren der enuntiativen Bezugnahmeunter den Bedingungen der Komposition und der Aussage vondem was im Gedicht spezifisch im mythischen und fiktionalenreacutecit ausgesprochen wird Verbal und poetisch musikalisch undrhythmisch ist dieses sbquoIchlsquo das im Verlaufe der dichterischenKomposition eine beachtliche Ausdehnung erfaumlhrt Die Stimmedieses poetischen sbquoIchlsquo entwickelt sich bisweilen zu einer regel-rechten Polyphonie die in der Praxis der Auffuumlhrung ihren Nie-derschlag findet Das gilt in besonderem Maszlige fuumlr den Fall jenerFormen von Chordichtung die der umfassenden Gattung desμλος angehoumlren und die in etwas voreiliger Weise aufgrund derTatsache dass sich in ihnen ein sbquoIchlsquo findet das allzu schnell undunmittelbar mit dem Autor identifiziert wird mit dem Etikett dessbquoLyrischenlsquo versehen werden

Am einzigartigen Beispiel eines melischen Gedichtes vonPindar das der Gattung der Epinikien zugeordnet wird soll imfolgenden der komplexe Prozess der musikalischen Komposition-performance dargelegt werden der sowohl die dichterische Meta-pher als auch den heroischen reacutecit (den sbquoMythoslsquo) in den Dienst einer rituellen Feier stellt und zwar uumlber den Umweg eines enun-tiativen und pragmatischen Verfahrens von bemerkenswerterDichte

2 Dichterische Bilder und Wirkkraft des Gesangs

Von Parmenides bis Empedokles uumlber Simonides Pindaroder Bakchylides finden sich ungezaumlhlte griechische Dichter vor-klassischer Zeit die sich selbst auf den Streitwagen der Musenoder verwandter Goumlttinnen einladen Die Einladung schreibt sichein in die griechische Poetik der musikalischen Inspiration Siegruumlndet auf einer Metapher die man beispielsweise in der vedi-

11) Parm fr 28 B 11ndash5 Diels Kranz und Emp fr 31 B 33ndash5 Diels Kranzsiehe bei den melischen Dichtern auch Pind Ol 980ndash81 Isthm 861ndash62 etc ZuParmenides siehe den unentbehrlichen Kommentar von G Cerri Parmenide diElea Poema sulla natura Milano 1999 98ndash108 und 166ndash182 zu Empedokles vglA Rosenfeld-Loumlffler La poeacutetique drsquoEmpeacutedocle Cosmologie et meacutetaphore Bern New York 2005 36ndash57 Weitere Anleihen bei der vedischen Poesie sind genannt beiR Nuumlnlist Poetologische Bildersprache in der fruumlhgriechischen Dichtung Stutt-gart Leipzig 1998 255ndash261

12) Φίντις λλ ζεξον -|δη μοι σθένος μιόνων | τάχος φρακελεύθamp τrsquo ν καθαρ( | βάσομεν κχον κωμαί τε πρς νδρν | κα0 γένοςmiddot κε2ναιγρ ξ λ-|λ3ν 4δν 5γεμονεσαι | ταύταν πίστανται στεφάνους ν 7λυμπί8 | πε0δέξαντοmiddot χρ9 τοίνυν πύλας -|μνων ναπιτνάμεν ατα2ςmiddot | πρς Πιτάναν δ= παρrsquoΕρώ-|τα πόρον δε2 σμερον λθε2ν ν Bρ8middot

Claude Ca lame132

schen Dichtung findet In einem metaphorischen Verfahren wirddie Liedkomposition und -auffuumlhrung mit der Teilnahme an einemWagenrennen verglichen Es ist dies die Art und Weise mit derParmenides mithilfe der Toumlchter der Sonne an die Pforte von Tagund Nacht gelangt wo ihn die goumlttliche Gerechtigkeit erwartet esist dies die Art und Weise mit der die Muse die von Empedoklesangerufen worden ist fuumlr den Dichter den fuumlgsamen Wagen lenktder vom Koumlnigreich der Froumlmmigkeit herstammt11 Aber eine Me-tapher die auf einem dynamischen Sprachbild wie jenem des Wa-gens gruumlndet ist nicht den vorplatonischen Denkern vorbehaltendie auf die epische Sprache zuruumlckgreifen sie ist auch bei diversenmelischen Dichtern in Gebrauch ganz besonders in den Gesaumln-gen die den Sieg eines jungen Athleten an den PanhellenischenSpielen feiern in Delphi oder in Olympia aber auch in Nemeaoder am Isthmus von Korinth

In einem Loblied auf den jungen sizilischen Sieger im Wagen-rennen bei den Olympischen Spielen im Jahre 472 oder 468 v Chrvergleicht sbquoPindarlsquo die Komposition seines Gedichts mit dem Er-richten eines Palastes Nachdem er ein eroumlffnendes Lob auf denSieger ausgesprochen hat indem er eine erste Verbindungsliniezwischen Olympia dem Austragungsort der Spiele und Syrakusder Heimatstadt des Siegers gezogen hat nachdem er fuumlr seineLobpreisung des edlen Hagesias die bdquohonigtoumlnendenldquo Musen alsZeuginnen angerufen hat (Ol 61ndash21) schreckt der Sprecher nichtdavor zuruumlck das Maultier-Viergespann das den OlympischenSieg errungen hat mit seinem eigenen Gedicht zu vergleichen(Ol 622ndash28)12

13) Pindar Siegeslieder Griechisch-Deutsch Herausgegeben uumlbersetzt undmit einer Einfuumlhrung versehen von Dieter Bremer Muumlnchen 1992 ndash Zum Vergleichdes Dichters mit dem Athleten bei Pindar vgl D Auger De lrsquoartisan agrave lrsquoathlegravete lesmeacutetaphores de la Creacuteation poeacutetique dans lrsquoeacutepinicie et chez Pindare in M Cos -tantini J Lallot (Hrsg) Le texte et ses repreacutesentations Paris 1987 39ndash56

Das poetische Ich 133

Phintis auf spann mir jetztdie Kraft der Maultiere an

so schnell es geht damit wir auf reiner Bahnden Wagen fahren und ich auch zum Ursprung derMaumlnner komme Denn jene Tiere verstehen vor anderen

auf diesem Wege zu fuumlhrenda sie die Kraumlnze in Olympiaerhielten es tut also not die Tore

der Hymnen ihnen zu oumlffnenan den Strom des Eurotas muss ich heute

kommen zur rechten Zeit nach Pitane(Uumlbers Dieter Bremer)13

Und so adressiert derjenige der sbquoIchlsquo sagt in der zweiten Triadedieser sechsten Olympischen Ode direkt den Lenker des Gespannsder Lenker Phintis ist in Olympia der Vertreter von Hagesias demAristokraten aus Syrakus der den Unterhalt des siegreichen Ge-spanns finanziert Der Dichter bittet den jungen Mann die Maul-tiere anzuschirren sie mit seinem Wagen zu lenken und ihnen diebdquoTore der Hymnen zu oumlffnenldquo (V 27) Mit einer Metapher wird dervorliegende Gesang zum Mittel einer Verschiebung deren poeti-scher Ausdruck sich uumlberdies einer starken Wegmetaphorik be-dient (κλευθος V 23 4δς V 25) Aber statt uns von Olympianach Syrakus zu fuumlhren wo uns die enuntiative Bewegung des Ge-dichts zunaumlchst hingebracht hat statt uns an die Staumltte des Siegesund von da an den Ort zu fuumlhren an dem die Siegesfeier stattfin-den duumlrfte bringt uns das Gespann-Gedicht hin an den Eurotas inLakonien ins Staumldtchen Pitane das ein Stadtteil von Sparta ist

Diese unerwartete geographische Verschiebung geht mit einerebenso unerwarteten zeitlichen Bewegung einher vom bdquoheuteldquo(σμερον V 28) das mit der Zeit der eacutenonciation des Liedes (bdquodis-coursldquo) korrespondiert in die unbestimmte Vergangenheit in einenarrative und goumlttliche Zeit (bdquoreacutecitldquo bdquomytheldquo) es ist die Zeit zu

14) Pind Ol 622ndash42 Die umstrittene Frage nach der Datierung und denUmstaumlnden der Auffuumlhrung dieses komplexen Gedichts wird eroumlrtert bei Ch Froi -de fond Lire Pindare Namur 1989 29ndash48 der fuumlr eine Auffuumlhrung des Gedichtsnicht in Syrakus sondern in Stymphale in Arkadien plaumldiert wie nach ihm auchG O Hutchinson Greek Lyric Poetry A Commentary on Selected Larger PiecesOxford 2001 371ndash374 Hierauf wird weiter unten zuruumlckgekommen Zur Sequenzder deiktischen Gesten die den enuntiativen Rahmen dieses Gedichts ausmachenvgl die nuumltzliche Studie von A Bonifazi Mescolare un cratere di canti Alessandria2001 103ndash149

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der Poseidon sich mit der jungen Pitane vereinigt hatte der epony-men Nymphe des spartanischen Staumldtchens14 Fuumlr uns entsprichtdiese Zeit derjenigen des sbquoMythoslsquo

Aus dieser goumlttlichen und geheimen Vereinigung ndash so derFortgang des dichterischen und sbquomythischenlsquo reacutecit ndash geht Euadnehervor sie wurde in Arkadien groszliggezogen nicht weit vom Al -pheios ehe sie ihrerseits vom jungen Gott Apollon verfuumlhrt wirdAus dieser zweiten Liebe eines Gottes mit einer jungen Sterblichengeht Iamos hervor Dieser Heros der ebenfalls in der Naumlhe desAlpheios in arkadischem Gebiet geboren wurde steht am Ur-sprung einer Familie von Sehern den Iamiden doch erweist er sichgleichermaszligen als Vorfahr vaumlterlicherseits des Hagesias von Sy-rakus dem Sponsor des Viergespanns das den Sieg bei den Olym-pischen Spielen errungen hat und das in dieser Epinikie besungenwird Man erfaumlhrt weiter dass er als kleines Kind ausgesetzt undinmitten der Blumen von zwei Schlangen mit Bienenhonig ernaumlhrtwurde Uumlber den Honig mit der Suumlszlige der dichterischen Ver-fuumlhrung assoziiert wird die Stimme von Iamos in die Stimme einesHellsehers verwandelt dies geschieht durch den Willen seinesGroszligvaters Poseidon und ganz besonders durch das Eingreifen sei-nes Vaters Apollon dem Gott des Orakels zu Delphi Der jungeHeros ist also dazu auserkoren diese Gabe inspirierten Hellsehensan seine Nachkommen die Iamiden weiterzuvererben Apoll istes der Iamos dann selbst nach Olympia fuumlhrt inspiriert vom Gottvon Delphi gruumlndet der junge Heros alsdann am Ufer des Alphei-os das Orakel das am Altar des Zeus die Gruumlndung der Olympi-schen Spiele durch Herakles voraussagen wird

Dem siegreichen Gespann aus Syrakus angeglichen zeichnetalso dieses Gedicht eine geographische Kreisbewegung nach In-dem der Beginn in Syrakus eingeklammert wird fuumlhrt uns derWeg der von der Metapher des Wagens gezeichnet wird tatsaumlch-

Das poetische Ich 135

lich vom Austragungsort des Wettkampfs in der Naumlhe des Alphei-os hin nach Lakonien und Sparta um uns schlieszliglich uumlber Pisatisund die Grenzen Arkadiens nach Olympia zuruumlckzufuumlhren Die-se geographische Reiseroute ist mit einem zeitlichen Rundgang ge-paart der uns in die Zeit der Aussage (eacutenonciation) zuruumlckfuumlhrtausgehend von diesem hic et nunc hat das Gedicht als Rennwagenzur langen genealogischen Reise in die goumlttliche und heroische Ver-gangenheit der Iamiden und ebenso in die urspruumlngliche und sbquomy-thischelsquo Zeit eines doppelten Gruumlndungsakts angehoben die Ein-richtung des Orakels zu Olympia das von den Nachfahren des Iamos gefuumlhrt wird sowie der Spiele selbst in der Zeit des Hera -kles

bdquo damit wir auf reiner Bahn den Wagen fahren und ich auchzum Ursprung der Familie des Hagesias kommeldquo (V 23) wuumlrdeich also uumlbersetzen Der Anfang dieses zeitlichen Rundgangs (derzugleich seinen Endpunkt darstellen wird) ist von der Alternationder autoreferentiellen Formen im Singular und im Plural (βάσομενim Plural aber κωμαι im Singular in demselben Vers 24) gekenn-zeichnet durch diese Fomen wird die zugleich zeitliche wie raumlum-liche Verschiebung uumlber die Vermittlung des Bilds eines Gespannsvon einer Aussageinstanz aufgenommen die mit einer komplexenKommunikationssituation korrespondiert Das sbquoIchlsquo sbquoWirlsquo desSprechers scheint in der Tat sowohl den Sieger (den Wagenlenkerdes siegreichen Gespanns in Olympia das von Hagesias von Sy-rakus unterhalten wird) als auch den Dichter (Pindar von Thebenden Lenker des Gesangs) und die wahrscheinlich anwesende Chor-gruppe welche den Gesang sbquoPindarslsquo auffuumlhrte in sich zu vereinenIn diesem Stuumlck dichterischer Historiographie geographischer wiegenealogischer Ausrichtung wohnt man der Fahrt des Dichters mitdem Wagenlenker des Hagesias bei auf dem Wagen der zum Ge-dicht geworden ist faumlhrt man mit dem Dichter in Richtung Pitanenach Sparta und durch Arkadien zuruumlck nach Olympia entlangden Ufern des Alpheios und entsprechend in die Zeit des sbquoMy-thoslsquo dieser geographische und historische Rundgang kann nur einmetaphorischer sein Er gehoumlrt ins Reich der Dichtung um nichtzu sagen der poetischen Fiktion

15) ματρομάτωρ μ Στυμ-|φαλίς εανθ9ς Μετώπα | πλάξιππον E ΘήβανHτι-|κτεν τ3ς ρατεινν δωρ | πίομαι νδράσιν αIχματα2σι πλέκων | ποικίλονμνον τρυνον νν Kταίρους |ΑIνέα πρτον μ=ν Mραν | Παρθενίαν κελαδNσαι |γνναί τrsquo Hπειτrsquo ρχα2ον νειδος λαθέσιν | λόγοις εI φεύγομεν Βοιωτίαν Pν | σσ0γρ Qγγελος Rρθός | Sϋκόμων σκυτάλα Μοι-|σ3ν γλυκUς κρατ9ρ γαφθέγκτωνοιδ3ν

Claude Ca lame136

3 Enuntiative und pragmatische Polyphonie

Die metaphorische Reiseroute die vom Gedicht als Wagengezeichnet wird betrifft also ebenso den Dichter wie seine Dich-tung dies gilt um so mehr als der Sprecher gegen Ende der Odenicht mehr den jungen Lenker des maumlchtigen Hagesias von Sy-rakus sondern in der Manier des Echos einen gewissen Aineiasadressiert da der Stil dieser Verse so dicht ist (Ol 684ndash91) erweistsich seine Verortung als schwierig15

Meine Ahnmutter ist aus Stymphalosdie wohlbluumlhende Metope

welche die pferdestachelnde Thebe gebar deren liebliches Wasser

ich trinke der ich speerkaumlmpfenden Maumlnnern flechteeinen bunten Hymnos Treib nun die Gefaumlhrten Aineias zuerst Hera

die jungfraumluliche zu besingenum dann zu erkennen ob wir mit wahren Wortendem alten Schimpfwort sbquoboiotische Saulsquo entgehen

Du bist naumlmlich ein rechter BoteBriefstab der schoumlnhaarigen Musen

suumlszliger Mischkrug starktoumlnender Gesaumlnge(Uumlbers Dieter Bremer)

bdquoRechter Boteldquo bdquoBriefstab der schoumlnhaarigen Musenldquo (V 90ndash91)Der junge Mann ist niemand Geringeres als der Repraumlsentant desDichters Ihm ist die Aufgabe uumlberantwortet jetzt (νν) seine Ge-faumlhrten (Kτα2ροι V 87) dazu einzuladen die Goumlttin Hera Partheniazu besingen der in Stymphale in Arkadien gehuldigt wird Im Ver-such der antiken Kommentatoren diese schwierige Passage in dieentsprechende institutionelle Begrifflichkeit zu uumlbertragen heiszligtdas dass es diesem jungen Chorleiter angetragen wird die Cho-

16) Pind Ol 682ndash99 mit Scholion ad V 149a (I S 188 Drachmann) DieRolle des jungen Aineias ist treffend charakterisiert bei Bonifazi (wie Anm 14) 133ndash143 vgl zur Ergaumlnzung die skeptischen Bemerkungen bei M Heath Receiving theKocircmos The Context and Performance of Epinician AJPh 109 1988 180ndash195 undM Lefkowitz The First Person in Pindar Reconsidered ndash Again BIClS 40 1995139ndash150 (mit umfassender Bibliographie) Zur Syntax dieser umstrittenen Passagevgl den nuumltzlichen Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 413ndash415

17) Zu dieser Anspielung auf die Auffuumlhrung des Gedichts in einem Momentder Inspiration und Komposition den die intentionale und sbquoperformativelsquo Form desFuturs mit dem Moment seiner Ausfuumlhrung als Gesangsvortrag korrespondierenlaumlsst siehe besonders G B DrsquoAlessio Past Future and Present Past Temporal Dei-xis in Greek Archaic Lyric Arethusa 37 2004 267ndash294 (289ndash290)

Das poetische Ich 137

reuten zu trainieren die Choreuten werden zum Sprachrohr desDichters jetzt in dem Augenblick der mit der Auffuumlhrung derEpinikie zusammenfaumlllt und an einem Ort den man mit dem ar-kadischen Stymphale identifizieren wollte16

In den Versen nun die dieser Aufforderung an den jungenChorleiter unmittelbar vorausgehen nennt der Sprecher undDich ter sein Vorhaben vom lieblichen Wasser der Quelle Metopezu trinken (πίομαι V 86) und zwar in einer Form des sbquoperforma-tivenlsquo Futurs die den Moment der dichterischen Inspiration mitder Auffuumlhrung der Epinikie zusammenfallen laumlsst17 In einemabermaligen geographisch-genealogischen Rundgang der eineneue Reise in die heroische Zeit des sbquoMythoslsquo darstellt wird of-fenbar dass der Name sbquoMetopelsquo dem Namen einer Nymphe ausStymphale in Arkadien entspricht Ihre Mutter ist niemand ande-res als Thebe und Thebe wiederum ist die eponyme Nymphe vonTheben in Boumlo tien der Heimat des Dichters Vom noch unbe-stimmten Ort der Aussage (eacutenonciation) und des Vortrags des Gedichts sind wir demnach enuntiativ nicht mehr zum Ort derAustragung der Spiele und ihrer Gruumlnder gelangt sondern in eineGegend die benachbart ist dem Ursprungsort der Familie der Iamiden und demnach der Familie des Hagesias wahrscheinlich ineiner Anspielung auf seine Ahnenschaft muumltterlicherseits Dannwerden wir vom Arkadien der Iamiden wiederum nicht an denOrt der Auffuumlhrung sondern an den Ort der Komposition desGedichts geleitet nach Theben in die Heimat Pindars Und in derTat ist es der Inspiration die er bei der Quelle der Metope bdquomei-ner Ahnmutterldquo (V 84) gefunden hat zu verdanken dass der

18) Die Beziehung die der Dichter zwischen seiner Heimat Theben und demStammbaum der Iamiden herstellt ist nachgezeichnet bei L Kurke The Traffic inPraise Pindar and the Poetics of Social Economy Ithaca London 1991 147ndash149ferner Hutchinson (wie Anm 14) 410ndash413 Zu den verschiedenen Metaphern wel-che die dichterische Inspiration mit dem Erguss einer Fluumlssigkeit assoziieren sieheNuumlnlist (wie Anm 11) 195ndash199 (vgl ferner zur Kunst des Webens 110ndash118 sowieJ Scheid J Svenbro Le meacutetier de Zeus Mythe du tissage et du tissu dans le mon-de greacuteco-romain Paris 1994 119ndash130)

19) Vgl Scholia ad V 148a und 148c (I S 187 Drachmann) Vgl dazuV Vigneri Il coro dellrsquoepinicio pindarico negli scholia vetera QUCC 95 2000 87ndash103

20) Ergaumlnzend zu den Ausfuumlhrungen von Lefkovitz (wie Anm 16) sei z Bauf die hervorragenden Bemerkungen bei G B DrsquoAlessio First-Person Problems inPindar BIClS 39 1994 117ndash139 verwiesen

Claude Ca lame138

Dichter seither in einer weiteren in der melischen Dichtung haumlu-fig auftretenden Metapher befaumlhigt ist bdquoeinen bunten Hymnos zuflechtenldquo (πλέκων V 86ndash87)18

Zugunsten dieser zweiten (teilweise impliziten) Ruumlckkehr zuden Orten und Zeiten der sbquomise en discourslsquo und der Auffuumlhrungdes Gedichts wohnen wir dank der abermaligen geographischenund genealogischen (und vom Sprecher als sbquomythischlsquo vorgestell-ten) Reise der subtilen bildreichen und poetischen Entfaltung ei-nes enuntiativen Spiels bei dieses Spiel ist in der melischen Dich-tung haumlufig anzutreffen insbesondere in den Epinikien Pindarsund des Bakchylides Dieses Verfahren der sbquochorischen Delegationlsquolaumlsst in seiner Polyphonie eine Abloumlsung der Stimme des Dichter-Komponisten durch die Stimme der chorischen Gruppe zu die denGesang vortraumlgt Es uumlberrascht daher wenig dass die antikenKommentatoren den jungen Aineias als χοροδιδσκαλος bezeich-nen19 Dieser Leiter des Chors fungiert als Vermittler zwischen derinspirierten Stimme des Sprecher-Ichs und der Chor-Stimme derjungen Saumlnger welche die Auffuumlhrung des Gedichts uumlbernimmtAuf extradiskursiver Ebene wiederum dient Aineias als Vermittlerzwischen dem Autor und Komponisten des Gedichts (in Theben)und der chorischen Gruppe Ausfuumlhrender die in einem rituellenTanz singen (wahrscheinlich in Syrakus) Diese bemerkenswerteenuntiative Polyphonie macht den Streit um die Natur des sbquolyri-schen Ichslsquo in den Epinikien Pindars in vielerlei Hinsicht uumlberfluumls-sig Weder nur sbquomonodischlsquo noch ausschlieszliglich chorisch ist dassbquoIchlsquo sbquoWirlsquo des Sprechers wesentlich polyphon20

21) Zum pejorativen Sinn dieser sprichwoumlrtlichen Wendung unter Einbezugder bdquoPoetik des Tadelsldquo vgl den Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 416ndash417

22) Hier sei auf die verschiedenen Stellen verwiesen die ich in Pragmatiquede la fiction quelques proceacutedures de deixis narrative et eacutenonciative en comparaison(poeacutetique grecque) in J-M Adam U Heidmann (Hrsg) Sciences du texte et ana-lyse de discours Enjeux drsquoune interdisciplinariteacute Lausanne Genegraveve 2005 119ndash143 angefuumlhrt habe zur prozessionalen Dimension des κμος siehe insbesondereK A Morgan Pindar the Professional and the Rhetoric of the kocircmos CPh 88 19931ndash15

23) Vgl die bei Vigneri (wie Anm 19) 97ndash100 angefuumlhrten Stellen sowieC Carey The Victory Ode in Performance The Case for the Chorus CPh 86 1991192ndash200

Das poetische Ich 139

So erklaumlrt sich warum einerseits paradoxerweise der Wunschdem Vorwurf zu entgehen (φεύγομεν V 90) eine bdquoboiotische Sauldquo21

zu sein in der ersten Person Plural gehalten ist der Wunsch beziehtsich nicht nur auf die vom Dichter der Epinikien haumlufig bemuumlhtePoetik der Wahrheit sondern auch auf seinen thebanischen unddemnach boumlotischen Ursprung Andererseits ist es der ChorleiterAineias dem angetragen wird sei es den Musen sei es seinen Cho-reuten zu sagen (εWπον V 92) sie moumlgen sich erinnern und daherzugleich Syrakus und Ortygia hochleben lassen Hinsichtlich derAussage uumlberlagern sich hier durch verschiedene grammatikali-sche wie explizite delegative Bewegungen die Stimme des Dich tersund jene des χοροδιδσκαλος und der chorischen Gruppe

Infolgedessen stuumltzt sich der Uumlbergang von der Metapherzur Realitaumlt der Auffuumlhrung von Pindars Gedicht an seinem Aus-gang nicht mehr auf das Bild des Gespanns sondern auf jenes desκμος (V 98) Bild eines prozessionalen Umzugs wie er bei Pin-dar haumlufig anzutreffen ist22 In den letzten Versen der sechstenOlympischen Ode wird das Gedicht das in seiner Auffuumlhrung be-griffen ist zum prozessionalen Gesang der den siegreichen Ha-gesias aus Syrakus feiert Die antiken Kommentatoren zeigen hierkeine Zuruumlckhaltung κμος und κωμζειν werden regelmaumlszligig alsχορς und χορεXειν erklaumlrt23 In der Tat wird der Tyrann von Sy-rakus Hieron dazu eingeladen den jungen Aristokraten abzu-holen der von dem Ort herkommt wo das Gedicht ihn gelassenhatte in Stymphale Ritueller Empfang anlaumlsslich einer Kultfeier(KορτY V 95) zu Ehren von Demeter und ihrer Tochter Perse-phone die von Aineias gefeiert werden soll wahrscheinlich mit-

24) Die dreifache Ringstruktur die in dieser letzten Ruumlckkehr nach Syrakusendet ist beschrieben bei Froidefond (wie Anm 14) 45ndash48 Zu dieser dichterischenRundreise siehe die glaumlnzende Deutung von S Goldhill The Poetrsquos Voice Essays onPoetics and Greek Literature Cambridge 1991 154ndash166

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hilfe der Musen man wird sich in Erinnerung rufen dass Mutterund Tochter zwei Schutzgottheiten der Stadt sind und dass dieFamilie des Hieron wahrscheinlich das entsprechende Priesteramtinnehatte Durch und in dem prozessionalen Gesang fuumlhrt unsder κμος demnach von Arkadien und spezifisch von Stympha-le unweit der Heimat der Iamiden sowie von Theben der Hei-mat des Dichters hin zum Ort und in die Zeit der Auffuumlhrungdes Gedichts dieser Ort so stellt es sich jetzt heraus ist SyrakusDer abschlieszligende Aufruf zur Gastfreundschaft an den Tyrannenvon Syrakus wie auch eine erste Anspielung zu Beginn des Ge-dichts auf den bdquoMann aus Syrakus den Herrn des Festzugsldquo(V 18) bestaumltigen uumlber den Umweg einer Ringkomposition dassdiese glaumlnzende sizilische Stadt die Auffuumlhrung der von Pindarkomponierten Epinikie erhaumllt24

Ο[κοθεν ο[καδε bdquovon Hause nach Hausldquo (V 99) Gedoppeltdurch eine deiktische Geste die einer bdquoDemonstratio ad oculosldquoentspricht scheint diese letzte raumlumliche Bewegung von der einenHeimat in die andere die doppelte Zugehoumlrigkeit der Familienmit-glieder des Hagesias nachzuvollziehen leiten sie sich einerseits vonden arkadischen Iamiden her sind sie andererseits aber Buumlrger vonSyrakus Wie auch immer ndash diese Bewegung zuruumlck nach Syrakusist geweiht durch die Invokation des Gottes Poseidon zum Ge-dicht-Ende Uumlber die Metapher des Schiffs und seiner beiden An-ker wird der Gott ebenso zum Garanten der doppelten Herkunftdes Hagesias der aus Arkadien und aus Syrakus stammt wie auchder Rundreise des Gedichts in seiner Auffuumlhrung von Thebennach Stymphale nach Syrakus Es ist keineswegs ein Zufall wenndas Gedicht mit der Bitte an den Gemahl der Amphitrite bdquomeineHymnenldquo (V 105) bluumlhen zu lassen schlieszligt finale Ruumlckkehr zurAussageinstanz

Herr Meeresgebieter Gerade Fahrt von Erschoumlpfun-genfern gib Gatte der Amphitrite

25) δέσποτα ποντόμεδον εθUν δ= πλόον καμάτων | κτς όντα δίδοιχρυσαλακάτοιο πόσις | μφιτρίτας μν δrsquo -|μνων Qεξrsquo ετερπ=ς Qνθος

Das poetische Ich 141

der mit der goldenen Spindel und lass meine Hymnenwachsen zu wohlerfreulicher Bluumlte

(Ol 6103ndash105 Uumlbers Dieter Bremer)25

4 Der poetische Apparat der eacutenonciation

Dargestellt als rein metaphorischer Wagen wenn es darum zutun ist mit dem Wettbewerb der vom Kutscher und seinem Ge-spann dargestellt wird die geographische und genealogische Her-kunft (Arkadien und Olympia) der siegreichen Familie nachzu-vollziehen realisiert sich der Gesang zuletzt in seiner chorischenund prozessionalen Identitaumlt im Bilde des κμος aufgefuumlhrt in Sy-rakus fuumlhrt dieses Chorgedicht genealogisch zuruumlck nach Thebenin die Heimat Pindars So fokussiert das doppelte Bild des Ge-spanns und der Prozession die Komposition des Thebaners Pindarim hic et nunc seiner Auffuumlhrung weder in Olympia dem Ort desathletischen Sieges und dem Orakelwesen der Iamiden noch inStymphale dem Ort der Vorfahren muumltterlicherseits des Hagesias(und moumlglicherweise der Heimat des Aineias) noch in Thebender Heimat Pindars und dem Ort an dem das Gedicht geschaffenwurde sondern in Syrakus anlaumlsslich einer kultischen Feier Bleibtdie geographische und genealogische Rundreise die dem sprach -lichen Gespann zugeschrieben wird poetisch und metaphorischso wird jene die als rituelle Prozession vorgestellt ist Realitaumlt nachdem genealogischen Umweg uumlber die Nymphe Thebe und Thebenin Boumlotien stimmen die Zeit und der Ort der narrativen und dis-kursiven Realisierung des Gedichts mit dem sbquoHierlsquo und dem sbquoJetztlsquoseiner Auffuumlhrung uumlberein ndash einem hic et nunc das an der Aus-sageinstanz orientiert ist

Im dichterischen sbquoIchlsquo konvergieren demnach am Ende dergesungenen Komposition die enuntiative Stimme des inspiriertenDichters die Chorstimme der Darsteller des κμος und die Stim-me ihres χοροδιδσκαλος Die bemerkenswerte semantische Aus-dehnung dieses sprachlichen und poetischen sbquoIchslsquo ist wesentlichpolyphon Aber dank der zeitlichen und insbesondere der raumlum -lichen Markierungen die wir bemerkt haben (Syrakus Sparta

26) Damit moumlchte ich dem Prinzip widersprechen auf dem die sbquokritischelsquophilologische Hermeneutik beruht und das immer wieder von Jean Bollack heftigverfochten wird zum Beispiel in seinem juumlngsten Essay Parmeacutenide de lrsquoeacutetant aumonde Lagrasse 2006 11ndash19

Claude Ca lame142

Olympia Arkadien Stymphale Theben) dank der (etwas parado-xen) geographisch-genealogischen Rundreise auch durch die fikti-ven Orte und Zeiten der Gruumlndungsmythenlsquo erhaumllt diese poly-phone Aussageinstanz eine praumlzise extradiskursive Dimension

hinsichtlich sbquoIchlsquo sbquoWirlsquondash Pindar von Theben in seiner Funktion als

inspirierter Dichter und Lehrer der Wahrheitndash Aineias (aus Stymphale) als χοροδιδσκαλοςndash die jungen Choreuten aus Syrakusndash schlieszliglich das Gedicht selbst (objektiviert im

sbquoEslsquo uumlber die Angleichung an das Maultiergespann)hinsichtlich sbquoDulsquo

ndash Hagesias der Arkadier aus Syrakusndash Phintis der Wagenlenker aus Syrakusndash Hieron der Tyrann von Syrakusndash Poseidon der Herr des Meeres

Der polyphonen Komplexitaumlt der Aussageinstanz mit ihrersemantischen Ausdehnung und diskursiven Vielschichtigkeit ent-spricht eine einzigartig ausdifferenzierte bdquofonction-auteurldquo Uumlberdie Metapher des Wagens und uumlber das Bild des κμος als prozes-sionalen und rituellen Gesangs wird sie auf die Auffuumlhrung des Ge-dichts bezogen

Damit haben wir uns weit von der romantischen Auffassungeines sbquolyrischen Ichslsquo entfernt von dem man sich einen unmittel-baren sprachlichen Ausdruck der persoumlnlichen Empfindungen desDichter-Schriftstellers und demnach vom biographischen Dichterverspricht auch weit entfernt von der Intentionalitaumlt eines Dich-ter-Individuums eines autonomen kreativen Subjekts das mit derdichterischen Tradition in die es sich einschreibt gebrochen haumlt-te26 Obwohl er unbestreitbar vorhanden ist wird der Wille derdichterischen Schoumlpfung gefiltert durch eine traditionelle dichte -rische Diktion durch die Regeln der Gattung durch die Erfor-dernisse des rituellen Anlasses durch die Verdopplung in der poe-

Das poetische Ich 143

tischen performance der bdquofonction-auteurldquo durch enuntiativeStrategien dichterischer Ordnung

Besonders im hier gewaumlhlten Beispiel stuumltzt sich das meta-phorische poetische Spiel auf das Gedicht als Objekt in seiner raumlumlichen Verschiebung (was wiederum die Teilnahme am sport-lichen Wettkampf symbolisiert) um dessen Bewegung auf den Ge-sang und den dichterischen und musikalischen Wettkampf zuuumlbertragen der im Gedicht durch ein komplexes enuntiatives Spieldargestellt wird mit diesem Dreh enuntiativer und spazio-tempo-raler Pragmatik wird das Bild des Sieges im Wettkampf auf das hicet nunc der rituellen performance des Gesangs verlagert der von ei-nem polyphonen sbquoIchlsquo auszligergewoumlhnlicher Dichte ausgetragenwird Dieses In-Bewegung-Setzen des Gesangs mittels eines Bildesist zentral in den Gedichten die uns nicht nur konkret in die Zeitund den Raum der sbquomythischenlsquo Gruumlndungsakte einfuumlhren und alspragmatisches kulturelles Gedaumlchtnis fungieren sondern die sichauch uumlber zahlreiche autoreferentielle Interventionen als Ge-sangs-Akte praumlsentieren speech-acts die uumlber enuntiative Bezug-nahmen auf die musikalische Aktivitaumlt die von denjenigen die dasGedicht auffuumlhren ausgeuumlbt wird zu song-acts werden In demMaszlige in dem ihre sbquoDurchfuumlhrunglsquo gewoumlhnlich in eine rituelle Feier fuumlr die Schutzgottheit einer Stadt eingebettet ist sind dieseGesangs-Akte auch cult-acts kultische Handlungen Was die Epi-nikie betrifft so ist ihre religioumlse und politische Aufgabe nicht nurdie Erinnerung an die aristokratische Familie aus welcher der Sie-ger an den panhellenischen Spielen stammt zu bereichern sondernauch das kollektive Gedaumlchtnis des staumldtischen Verbands dem erangehoumlrt lebendig zu erhalten Dies alles vollzieht sich in aus-drucksvollen sprachlichen Bildern die durch den sbquopoetischen Ap-parat der Aussagelsquo des rituellen Gesangs Entfaltung und Wirksam-keit finden

Im archaischen und klassischen Griechenland ist die ars scri-bendi eine ars canendi

Paris Claude Ca lame

Page 8: DAS POETISCHE ICH Enuntiative und ... - rhm.uni-koeln.de · PDF fileder in der ersten Aufsatzsammlung der Problèmes de linguistique générale ... E.Benveniste, Problèmes de linguistique

11) Parm fr 28 B 11ndash5 Diels Kranz und Emp fr 31 B 33ndash5 Diels Kranzsiehe bei den melischen Dichtern auch Pind Ol 980ndash81 Isthm 861ndash62 etc ZuParmenides siehe den unentbehrlichen Kommentar von G Cerri Parmenide diElea Poema sulla natura Milano 1999 98ndash108 und 166ndash182 zu Empedokles vglA Rosenfeld-Loumlffler La poeacutetique drsquoEmpeacutedocle Cosmologie et meacutetaphore Bern New York 2005 36ndash57 Weitere Anleihen bei der vedischen Poesie sind genannt beiR Nuumlnlist Poetologische Bildersprache in der fruumlhgriechischen Dichtung Stutt-gart Leipzig 1998 255ndash261

12) Φίντις λλ ζεξον -|δη μοι σθένος μιόνων | τάχος φρακελεύθamp τrsquo ν καθαρ( | βάσομεν κχον κωμαί τε πρς νδρν | κα0 γένοςmiddot κε2ναιγρ ξ λ-|λ3ν 4δν 5γεμονεσαι | ταύταν πίστανται στεφάνους ν 7λυμπί8 | πε0δέξαντοmiddot χρ9 τοίνυν πύλας -|μνων ναπιτνάμεν ατα2ςmiddot | πρς Πιτάναν δ= παρrsquoΕρώ-|τα πόρον δε2 σμερον λθε2ν ν Bρ8middot

Claude Ca lame132

schen Dichtung findet In einem metaphorischen Verfahren wirddie Liedkomposition und -auffuumlhrung mit der Teilnahme an einemWagenrennen verglichen Es ist dies die Art und Weise mit derParmenides mithilfe der Toumlchter der Sonne an die Pforte von Tagund Nacht gelangt wo ihn die goumlttliche Gerechtigkeit erwartet esist dies die Art und Weise mit der die Muse die von Empedoklesangerufen worden ist fuumlr den Dichter den fuumlgsamen Wagen lenktder vom Koumlnigreich der Froumlmmigkeit herstammt11 Aber eine Me-tapher die auf einem dynamischen Sprachbild wie jenem des Wa-gens gruumlndet ist nicht den vorplatonischen Denkern vorbehaltendie auf die epische Sprache zuruumlckgreifen sie ist auch bei diversenmelischen Dichtern in Gebrauch ganz besonders in den Gesaumln-gen die den Sieg eines jungen Athleten an den PanhellenischenSpielen feiern in Delphi oder in Olympia aber auch in Nemeaoder am Isthmus von Korinth

In einem Loblied auf den jungen sizilischen Sieger im Wagen-rennen bei den Olympischen Spielen im Jahre 472 oder 468 v Chrvergleicht sbquoPindarlsquo die Komposition seines Gedichts mit dem Er-richten eines Palastes Nachdem er ein eroumlffnendes Lob auf denSieger ausgesprochen hat indem er eine erste Verbindungsliniezwischen Olympia dem Austragungsort der Spiele und Syrakusder Heimatstadt des Siegers gezogen hat nachdem er fuumlr seineLobpreisung des edlen Hagesias die bdquohonigtoumlnendenldquo Musen alsZeuginnen angerufen hat (Ol 61ndash21) schreckt der Sprecher nichtdavor zuruumlck das Maultier-Viergespann das den OlympischenSieg errungen hat mit seinem eigenen Gedicht zu vergleichen(Ol 622ndash28)12

13) Pindar Siegeslieder Griechisch-Deutsch Herausgegeben uumlbersetzt undmit einer Einfuumlhrung versehen von Dieter Bremer Muumlnchen 1992 ndash Zum Vergleichdes Dichters mit dem Athleten bei Pindar vgl D Auger De lrsquoartisan agrave lrsquoathlegravete lesmeacutetaphores de la Creacuteation poeacutetique dans lrsquoeacutepinicie et chez Pindare in M Cos -tantini J Lallot (Hrsg) Le texte et ses repreacutesentations Paris 1987 39ndash56

Das poetische Ich 133

Phintis auf spann mir jetztdie Kraft der Maultiere an

so schnell es geht damit wir auf reiner Bahnden Wagen fahren und ich auch zum Ursprung derMaumlnner komme Denn jene Tiere verstehen vor anderen

auf diesem Wege zu fuumlhrenda sie die Kraumlnze in Olympiaerhielten es tut also not die Tore

der Hymnen ihnen zu oumlffnenan den Strom des Eurotas muss ich heute

kommen zur rechten Zeit nach Pitane(Uumlbers Dieter Bremer)13

Und so adressiert derjenige der sbquoIchlsquo sagt in der zweiten Triadedieser sechsten Olympischen Ode direkt den Lenker des Gespannsder Lenker Phintis ist in Olympia der Vertreter von Hagesias demAristokraten aus Syrakus der den Unterhalt des siegreichen Ge-spanns finanziert Der Dichter bittet den jungen Mann die Maul-tiere anzuschirren sie mit seinem Wagen zu lenken und ihnen diebdquoTore der Hymnen zu oumlffnenldquo (V 27) Mit einer Metapher wird dervorliegende Gesang zum Mittel einer Verschiebung deren poeti-scher Ausdruck sich uumlberdies einer starken Wegmetaphorik be-dient (κλευθος V 23 4δς V 25) Aber statt uns von Olympianach Syrakus zu fuumlhren wo uns die enuntiative Bewegung des Ge-dichts zunaumlchst hingebracht hat statt uns an die Staumltte des Siegesund von da an den Ort zu fuumlhren an dem die Siegesfeier stattfin-den duumlrfte bringt uns das Gespann-Gedicht hin an den Eurotas inLakonien ins Staumldtchen Pitane das ein Stadtteil von Sparta ist

Diese unerwartete geographische Verschiebung geht mit einerebenso unerwarteten zeitlichen Bewegung einher vom bdquoheuteldquo(σμερον V 28) das mit der Zeit der eacutenonciation des Liedes (bdquodis-coursldquo) korrespondiert in die unbestimmte Vergangenheit in einenarrative und goumlttliche Zeit (bdquoreacutecitldquo bdquomytheldquo) es ist die Zeit zu

14) Pind Ol 622ndash42 Die umstrittene Frage nach der Datierung und denUmstaumlnden der Auffuumlhrung dieses komplexen Gedichts wird eroumlrtert bei Ch Froi -de fond Lire Pindare Namur 1989 29ndash48 der fuumlr eine Auffuumlhrung des Gedichtsnicht in Syrakus sondern in Stymphale in Arkadien plaumldiert wie nach ihm auchG O Hutchinson Greek Lyric Poetry A Commentary on Selected Larger PiecesOxford 2001 371ndash374 Hierauf wird weiter unten zuruumlckgekommen Zur Sequenzder deiktischen Gesten die den enuntiativen Rahmen dieses Gedichts ausmachenvgl die nuumltzliche Studie von A Bonifazi Mescolare un cratere di canti Alessandria2001 103ndash149

Claude Ca lame134

der Poseidon sich mit der jungen Pitane vereinigt hatte der epony-men Nymphe des spartanischen Staumldtchens14 Fuumlr uns entsprichtdiese Zeit derjenigen des sbquoMythoslsquo

Aus dieser goumlttlichen und geheimen Vereinigung ndash so derFortgang des dichterischen und sbquomythischenlsquo reacutecit ndash geht Euadnehervor sie wurde in Arkadien groszliggezogen nicht weit vom Al -pheios ehe sie ihrerseits vom jungen Gott Apollon verfuumlhrt wirdAus dieser zweiten Liebe eines Gottes mit einer jungen Sterblichengeht Iamos hervor Dieser Heros der ebenfalls in der Naumlhe desAlpheios in arkadischem Gebiet geboren wurde steht am Ur-sprung einer Familie von Sehern den Iamiden doch erweist er sichgleichermaszligen als Vorfahr vaumlterlicherseits des Hagesias von Sy-rakus dem Sponsor des Viergespanns das den Sieg bei den Olym-pischen Spielen errungen hat und das in dieser Epinikie besungenwird Man erfaumlhrt weiter dass er als kleines Kind ausgesetzt undinmitten der Blumen von zwei Schlangen mit Bienenhonig ernaumlhrtwurde Uumlber den Honig mit der Suumlszlige der dichterischen Ver-fuumlhrung assoziiert wird die Stimme von Iamos in die Stimme einesHellsehers verwandelt dies geschieht durch den Willen seinesGroszligvaters Poseidon und ganz besonders durch das Eingreifen sei-nes Vaters Apollon dem Gott des Orakels zu Delphi Der jungeHeros ist also dazu auserkoren diese Gabe inspirierten Hellsehensan seine Nachkommen die Iamiden weiterzuvererben Apoll istes der Iamos dann selbst nach Olympia fuumlhrt inspiriert vom Gottvon Delphi gruumlndet der junge Heros alsdann am Ufer des Alphei-os das Orakel das am Altar des Zeus die Gruumlndung der Olympi-schen Spiele durch Herakles voraussagen wird

Dem siegreichen Gespann aus Syrakus angeglichen zeichnetalso dieses Gedicht eine geographische Kreisbewegung nach In-dem der Beginn in Syrakus eingeklammert wird fuumlhrt uns derWeg der von der Metapher des Wagens gezeichnet wird tatsaumlch-

Das poetische Ich 135

lich vom Austragungsort des Wettkampfs in der Naumlhe des Alphei-os hin nach Lakonien und Sparta um uns schlieszliglich uumlber Pisatisund die Grenzen Arkadiens nach Olympia zuruumlckzufuumlhren Die-se geographische Reiseroute ist mit einem zeitlichen Rundgang ge-paart der uns in die Zeit der Aussage (eacutenonciation) zuruumlckfuumlhrtausgehend von diesem hic et nunc hat das Gedicht als Rennwagenzur langen genealogischen Reise in die goumlttliche und heroische Ver-gangenheit der Iamiden und ebenso in die urspruumlngliche und sbquomy-thischelsquo Zeit eines doppelten Gruumlndungsakts angehoben die Ein-richtung des Orakels zu Olympia das von den Nachfahren des Iamos gefuumlhrt wird sowie der Spiele selbst in der Zeit des Hera -kles

bdquo damit wir auf reiner Bahn den Wagen fahren und ich auchzum Ursprung der Familie des Hagesias kommeldquo (V 23) wuumlrdeich also uumlbersetzen Der Anfang dieses zeitlichen Rundgangs (derzugleich seinen Endpunkt darstellen wird) ist von der Alternationder autoreferentiellen Formen im Singular und im Plural (βάσομενim Plural aber κωμαι im Singular in demselben Vers 24) gekenn-zeichnet durch diese Fomen wird die zugleich zeitliche wie raumlum-liche Verschiebung uumlber die Vermittlung des Bilds eines Gespannsvon einer Aussageinstanz aufgenommen die mit einer komplexenKommunikationssituation korrespondiert Das sbquoIchlsquo sbquoWirlsquo desSprechers scheint in der Tat sowohl den Sieger (den Wagenlenkerdes siegreichen Gespanns in Olympia das von Hagesias von Sy-rakus unterhalten wird) als auch den Dichter (Pindar von Thebenden Lenker des Gesangs) und die wahrscheinlich anwesende Chor-gruppe welche den Gesang sbquoPindarslsquo auffuumlhrte in sich zu vereinenIn diesem Stuumlck dichterischer Historiographie geographischer wiegenealogischer Ausrichtung wohnt man der Fahrt des Dichters mitdem Wagenlenker des Hagesias bei auf dem Wagen der zum Ge-dicht geworden ist faumlhrt man mit dem Dichter in Richtung Pitanenach Sparta und durch Arkadien zuruumlck nach Olympia entlangden Ufern des Alpheios und entsprechend in die Zeit des sbquoMy-thoslsquo dieser geographische und historische Rundgang kann nur einmetaphorischer sein Er gehoumlrt ins Reich der Dichtung um nichtzu sagen der poetischen Fiktion

15) ματρομάτωρ μ Στυμ-|φαλίς εανθ9ς Μετώπα | πλάξιππον E ΘήβανHτι-|κτεν τ3ς ρατεινν δωρ | πίομαι νδράσιν αIχματα2σι πλέκων | ποικίλονμνον τρυνον νν Kταίρους |ΑIνέα πρτον μ=ν Mραν | Παρθενίαν κελαδNσαι |γνναί τrsquo Hπειτrsquo ρχα2ον νειδος λαθέσιν | λόγοις εI φεύγομεν Βοιωτίαν Pν | σσ0γρ Qγγελος Rρθός | Sϋκόμων σκυτάλα Μοι-|σ3ν γλυκUς κρατ9ρ γαφθέγκτωνοιδ3ν

Claude Ca lame136

3 Enuntiative und pragmatische Polyphonie

Die metaphorische Reiseroute die vom Gedicht als Wagengezeichnet wird betrifft also ebenso den Dichter wie seine Dich-tung dies gilt um so mehr als der Sprecher gegen Ende der Odenicht mehr den jungen Lenker des maumlchtigen Hagesias von Sy-rakus sondern in der Manier des Echos einen gewissen Aineiasadressiert da der Stil dieser Verse so dicht ist (Ol 684ndash91) erweistsich seine Verortung als schwierig15

Meine Ahnmutter ist aus Stymphalosdie wohlbluumlhende Metope

welche die pferdestachelnde Thebe gebar deren liebliches Wasser

ich trinke der ich speerkaumlmpfenden Maumlnnern flechteeinen bunten Hymnos Treib nun die Gefaumlhrten Aineias zuerst Hera

die jungfraumluliche zu besingenum dann zu erkennen ob wir mit wahren Wortendem alten Schimpfwort sbquoboiotische Saulsquo entgehen

Du bist naumlmlich ein rechter BoteBriefstab der schoumlnhaarigen Musen

suumlszliger Mischkrug starktoumlnender Gesaumlnge(Uumlbers Dieter Bremer)

bdquoRechter Boteldquo bdquoBriefstab der schoumlnhaarigen Musenldquo (V 90ndash91)Der junge Mann ist niemand Geringeres als der Repraumlsentant desDichters Ihm ist die Aufgabe uumlberantwortet jetzt (νν) seine Ge-faumlhrten (Kτα2ροι V 87) dazu einzuladen die Goumlttin Hera Partheniazu besingen der in Stymphale in Arkadien gehuldigt wird Im Ver-such der antiken Kommentatoren diese schwierige Passage in dieentsprechende institutionelle Begrifflichkeit zu uumlbertragen heiszligtdas dass es diesem jungen Chorleiter angetragen wird die Cho-

16) Pind Ol 682ndash99 mit Scholion ad V 149a (I S 188 Drachmann) DieRolle des jungen Aineias ist treffend charakterisiert bei Bonifazi (wie Anm 14) 133ndash143 vgl zur Ergaumlnzung die skeptischen Bemerkungen bei M Heath Receiving theKocircmos The Context and Performance of Epinician AJPh 109 1988 180ndash195 undM Lefkowitz The First Person in Pindar Reconsidered ndash Again BIClS 40 1995139ndash150 (mit umfassender Bibliographie) Zur Syntax dieser umstrittenen Passagevgl den nuumltzlichen Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 413ndash415

17) Zu dieser Anspielung auf die Auffuumlhrung des Gedichts in einem Momentder Inspiration und Komposition den die intentionale und sbquoperformativelsquo Form desFuturs mit dem Moment seiner Ausfuumlhrung als Gesangsvortrag korrespondierenlaumlsst siehe besonders G B DrsquoAlessio Past Future and Present Past Temporal Dei-xis in Greek Archaic Lyric Arethusa 37 2004 267ndash294 (289ndash290)

Das poetische Ich 137

reuten zu trainieren die Choreuten werden zum Sprachrohr desDichters jetzt in dem Augenblick der mit der Auffuumlhrung derEpinikie zusammenfaumlllt und an einem Ort den man mit dem ar-kadischen Stymphale identifizieren wollte16

In den Versen nun die dieser Aufforderung an den jungenChorleiter unmittelbar vorausgehen nennt der Sprecher undDich ter sein Vorhaben vom lieblichen Wasser der Quelle Metopezu trinken (πίομαι V 86) und zwar in einer Form des sbquoperforma-tivenlsquo Futurs die den Moment der dichterischen Inspiration mitder Auffuumlhrung der Epinikie zusammenfallen laumlsst17 In einemabermaligen geographisch-genealogischen Rundgang der eineneue Reise in die heroische Zeit des sbquoMythoslsquo darstellt wird of-fenbar dass der Name sbquoMetopelsquo dem Namen einer Nymphe ausStymphale in Arkadien entspricht Ihre Mutter ist niemand ande-res als Thebe und Thebe wiederum ist die eponyme Nymphe vonTheben in Boumlo tien der Heimat des Dichters Vom noch unbe-stimmten Ort der Aussage (eacutenonciation) und des Vortrags des Gedichts sind wir demnach enuntiativ nicht mehr zum Ort derAustragung der Spiele und ihrer Gruumlnder gelangt sondern in eineGegend die benachbart ist dem Ursprungsort der Familie der Iamiden und demnach der Familie des Hagesias wahrscheinlich ineiner Anspielung auf seine Ahnenschaft muumltterlicherseits Dannwerden wir vom Arkadien der Iamiden wiederum nicht an denOrt der Auffuumlhrung sondern an den Ort der Komposition desGedichts geleitet nach Theben in die Heimat Pindars Und in derTat ist es der Inspiration die er bei der Quelle der Metope bdquomei-ner Ahnmutterldquo (V 84) gefunden hat zu verdanken dass der

18) Die Beziehung die der Dichter zwischen seiner Heimat Theben und demStammbaum der Iamiden herstellt ist nachgezeichnet bei L Kurke The Traffic inPraise Pindar and the Poetics of Social Economy Ithaca London 1991 147ndash149ferner Hutchinson (wie Anm 14) 410ndash413 Zu den verschiedenen Metaphern wel-che die dichterische Inspiration mit dem Erguss einer Fluumlssigkeit assoziieren sieheNuumlnlist (wie Anm 11) 195ndash199 (vgl ferner zur Kunst des Webens 110ndash118 sowieJ Scheid J Svenbro Le meacutetier de Zeus Mythe du tissage et du tissu dans le mon-de greacuteco-romain Paris 1994 119ndash130)

19) Vgl Scholia ad V 148a und 148c (I S 187 Drachmann) Vgl dazuV Vigneri Il coro dellrsquoepinicio pindarico negli scholia vetera QUCC 95 2000 87ndash103

20) Ergaumlnzend zu den Ausfuumlhrungen von Lefkovitz (wie Anm 16) sei z Bauf die hervorragenden Bemerkungen bei G B DrsquoAlessio First-Person Problems inPindar BIClS 39 1994 117ndash139 verwiesen

Claude Ca lame138

Dichter seither in einer weiteren in der melischen Dichtung haumlu-fig auftretenden Metapher befaumlhigt ist bdquoeinen bunten Hymnos zuflechtenldquo (πλέκων V 86ndash87)18

Zugunsten dieser zweiten (teilweise impliziten) Ruumlckkehr zuden Orten und Zeiten der sbquomise en discourslsquo und der Auffuumlhrungdes Gedichts wohnen wir dank der abermaligen geographischenund genealogischen (und vom Sprecher als sbquomythischlsquo vorgestell-ten) Reise der subtilen bildreichen und poetischen Entfaltung ei-nes enuntiativen Spiels bei dieses Spiel ist in der melischen Dich-tung haumlufig anzutreffen insbesondere in den Epinikien Pindarsund des Bakchylides Dieses Verfahren der sbquochorischen Delegationlsquolaumlsst in seiner Polyphonie eine Abloumlsung der Stimme des Dichter-Komponisten durch die Stimme der chorischen Gruppe zu die denGesang vortraumlgt Es uumlberrascht daher wenig dass die antikenKommentatoren den jungen Aineias als χοροδιδσκαλος bezeich-nen19 Dieser Leiter des Chors fungiert als Vermittler zwischen derinspirierten Stimme des Sprecher-Ichs und der Chor-Stimme derjungen Saumlnger welche die Auffuumlhrung des Gedichts uumlbernimmtAuf extradiskursiver Ebene wiederum dient Aineias als Vermittlerzwischen dem Autor und Komponisten des Gedichts (in Theben)und der chorischen Gruppe Ausfuumlhrender die in einem rituellenTanz singen (wahrscheinlich in Syrakus) Diese bemerkenswerteenuntiative Polyphonie macht den Streit um die Natur des sbquolyri-schen Ichslsquo in den Epinikien Pindars in vielerlei Hinsicht uumlberfluumls-sig Weder nur sbquomonodischlsquo noch ausschlieszliglich chorisch ist dassbquoIchlsquo sbquoWirlsquo des Sprechers wesentlich polyphon20

21) Zum pejorativen Sinn dieser sprichwoumlrtlichen Wendung unter Einbezugder bdquoPoetik des Tadelsldquo vgl den Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 416ndash417

22) Hier sei auf die verschiedenen Stellen verwiesen die ich in Pragmatiquede la fiction quelques proceacutedures de deixis narrative et eacutenonciative en comparaison(poeacutetique grecque) in J-M Adam U Heidmann (Hrsg) Sciences du texte et ana-lyse de discours Enjeux drsquoune interdisciplinariteacute Lausanne Genegraveve 2005 119ndash143 angefuumlhrt habe zur prozessionalen Dimension des κμος siehe insbesondereK A Morgan Pindar the Professional and the Rhetoric of the kocircmos CPh 88 19931ndash15

23) Vgl die bei Vigneri (wie Anm 19) 97ndash100 angefuumlhrten Stellen sowieC Carey The Victory Ode in Performance The Case for the Chorus CPh 86 1991192ndash200

Das poetische Ich 139

So erklaumlrt sich warum einerseits paradoxerweise der Wunschdem Vorwurf zu entgehen (φεύγομεν V 90) eine bdquoboiotische Sauldquo21

zu sein in der ersten Person Plural gehalten ist der Wunsch beziehtsich nicht nur auf die vom Dichter der Epinikien haumlufig bemuumlhtePoetik der Wahrheit sondern auch auf seinen thebanischen unddemnach boumlotischen Ursprung Andererseits ist es der ChorleiterAineias dem angetragen wird sei es den Musen sei es seinen Cho-reuten zu sagen (εWπον V 92) sie moumlgen sich erinnern und daherzugleich Syrakus und Ortygia hochleben lassen Hinsichtlich derAussage uumlberlagern sich hier durch verschiedene grammatikali-sche wie explizite delegative Bewegungen die Stimme des Dich tersund jene des χοροδιδσκαλος und der chorischen Gruppe

Infolgedessen stuumltzt sich der Uumlbergang von der Metapherzur Realitaumlt der Auffuumlhrung von Pindars Gedicht an seinem Aus-gang nicht mehr auf das Bild des Gespanns sondern auf jenes desκμος (V 98) Bild eines prozessionalen Umzugs wie er bei Pin-dar haumlufig anzutreffen ist22 In den letzten Versen der sechstenOlympischen Ode wird das Gedicht das in seiner Auffuumlhrung be-griffen ist zum prozessionalen Gesang der den siegreichen Ha-gesias aus Syrakus feiert Die antiken Kommentatoren zeigen hierkeine Zuruumlckhaltung κμος und κωμζειν werden regelmaumlszligig alsχορς und χορεXειν erklaumlrt23 In der Tat wird der Tyrann von Sy-rakus Hieron dazu eingeladen den jungen Aristokraten abzu-holen der von dem Ort herkommt wo das Gedicht ihn gelassenhatte in Stymphale Ritueller Empfang anlaumlsslich einer Kultfeier(KορτY V 95) zu Ehren von Demeter und ihrer Tochter Perse-phone die von Aineias gefeiert werden soll wahrscheinlich mit-

24) Die dreifache Ringstruktur die in dieser letzten Ruumlckkehr nach Syrakusendet ist beschrieben bei Froidefond (wie Anm 14) 45ndash48 Zu dieser dichterischenRundreise siehe die glaumlnzende Deutung von S Goldhill The Poetrsquos Voice Essays onPoetics and Greek Literature Cambridge 1991 154ndash166

Claude Ca lame140

hilfe der Musen man wird sich in Erinnerung rufen dass Mutterund Tochter zwei Schutzgottheiten der Stadt sind und dass dieFamilie des Hieron wahrscheinlich das entsprechende Priesteramtinnehatte Durch und in dem prozessionalen Gesang fuumlhrt unsder κμος demnach von Arkadien und spezifisch von Stympha-le unweit der Heimat der Iamiden sowie von Theben der Hei-mat des Dichters hin zum Ort und in die Zeit der Auffuumlhrungdes Gedichts dieser Ort so stellt es sich jetzt heraus ist SyrakusDer abschlieszligende Aufruf zur Gastfreundschaft an den Tyrannenvon Syrakus wie auch eine erste Anspielung zu Beginn des Ge-dichts auf den bdquoMann aus Syrakus den Herrn des Festzugsldquo(V 18) bestaumltigen uumlber den Umweg einer Ringkomposition dassdiese glaumlnzende sizilische Stadt die Auffuumlhrung der von Pindarkomponierten Epinikie erhaumllt24

Ο[κοθεν ο[καδε bdquovon Hause nach Hausldquo (V 99) Gedoppeltdurch eine deiktische Geste die einer bdquoDemonstratio ad oculosldquoentspricht scheint diese letzte raumlumliche Bewegung von der einenHeimat in die andere die doppelte Zugehoumlrigkeit der Familienmit-glieder des Hagesias nachzuvollziehen leiten sie sich einerseits vonden arkadischen Iamiden her sind sie andererseits aber Buumlrger vonSyrakus Wie auch immer ndash diese Bewegung zuruumlck nach Syrakusist geweiht durch die Invokation des Gottes Poseidon zum Ge-dicht-Ende Uumlber die Metapher des Schiffs und seiner beiden An-ker wird der Gott ebenso zum Garanten der doppelten Herkunftdes Hagesias der aus Arkadien und aus Syrakus stammt wie auchder Rundreise des Gedichts in seiner Auffuumlhrung von Thebennach Stymphale nach Syrakus Es ist keineswegs ein Zufall wenndas Gedicht mit der Bitte an den Gemahl der Amphitrite bdquomeineHymnenldquo (V 105) bluumlhen zu lassen schlieszligt finale Ruumlckkehr zurAussageinstanz

Herr Meeresgebieter Gerade Fahrt von Erschoumlpfun-genfern gib Gatte der Amphitrite

25) δέσποτα ποντόμεδον εθUν δ= πλόον καμάτων | κτς όντα δίδοιχρυσαλακάτοιο πόσις | μφιτρίτας μν δrsquo -|μνων Qεξrsquo ετερπ=ς Qνθος

Das poetische Ich 141

der mit der goldenen Spindel und lass meine Hymnenwachsen zu wohlerfreulicher Bluumlte

(Ol 6103ndash105 Uumlbers Dieter Bremer)25

4 Der poetische Apparat der eacutenonciation

Dargestellt als rein metaphorischer Wagen wenn es darum zutun ist mit dem Wettbewerb der vom Kutscher und seinem Ge-spann dargestellt wird die geographische und genealogische Her-kunft (Arkadien und Olympia) der siegreichen Familie nachzu-vollziehen realisiert sich der Gesang zuletzt in seiner chorischenund prozessionalen Identitaumlt im Bilde des κμος aufgefuumlhrt in Sy-rakus fuumlhrt dieses Chorgedicht genealogisch zuruumlck nach Thebenin die Heimat Pindars So fokussiert das doppelte Bild des Ge-spanns und der Prozession die Komposition des Thebaners Pindarim hic et nunc seiner Auffuumlhrung weder in Olympia dem Ort desathletischen Sieges und dem Orakelwesen der Iamiden noch inStymphale dem Ort der Vorfahren muumltterlicherseits des Hagesias(und moumlglicherweise der Heimat des Aineias) noch in Thebender Heimat Pindars und dem Ort an dem das Gedicht geschaffenwurde sondern in Syrakus anlaumlsslich einer kultischen Feier Bleibtdie geographische und genealogische Rundreise die dem sprach -lichen Gespann zugeschrieben wird poetisch und metaphorischso wird jene die als rituelle Prozession vorgestellt ist Realitaumlt nachdem genealogischen Umweg uumlber die Nymphe Thebe und Thebenin Boumlotien stimmen die Zeit und der Ort der narrativen und dis-kursiven Realisierung des Gedichts mit dem sbquoHierlsquo und dem sbquoJetztlsquoseiner Auffuumlhrung uumlberein ndash einem hic et nunc das an der Aus-sageinstanz orientiert ist

Im dichterischen sbquoIchlsquo konvergieren demnach am Ende dergesungenen Komposition die enuntiative Stimme des inspiriertenDichters die Chorstimme der Darsteller des κμος und die Stim-me ihres χοροδιδσκαλος Die bemerkenswerte semantische Aus-dehnung dieses sprachlichen und poetischen sbquoIchslsquo ist wesentlichpolyphon Aber dank der zeitlichen und insbesondere der raumlum -lichen Markierungen die wir bemerkt haben (Syrakus Sparta

26) Damit moumlchte ich dem Prinzip widersprechen auf dem die sbquokritischelsquophilologische Hermeneutik beruht und das immer wieder von Jean Bollack heftigverfochten wird zum Beispiel in seinem juumlngsten Essay Parmeacutenide de lrsquoeacutetant aumonde Lagrasse 2006 11ndash19

Claude Ca lame142

Olympia Arkadien Stymphale Theben) dank der (etwas parado-xen) geographisch-genealogischen Rundreise auch durch die fikti-ven Orte und Zeiten der Gruumlndungsmythenlsquo erhaumllt diese poly-phone Aussageinstanz eine praumlzise extradiskursive Dimension

hinsichtlich sbquoIchlsquo sbquoWirlsquondash Pindar von Theben in seiner Funktion als

inspirierter Dichter und Lehrer der Wahrheitndash Aineias (aus Stymphale) als χοροδιδσκαλοςndash die jungen Choreuten aus Syrakusndash schlieszliglich das Gedicht selbst (objektiviert im

sbquoEslsquo uumlber die Angleichung an das Maultiergespann)hinsichtlich sbquoDulsquo

ndash Hagesias der Arkadier aus Syrakusndash Phintis der Wagenlenker aus Syrakusndash Hieron der Tyrann von Syrakusndash Poseidon der Herr des Meeres

Der polyphonen Komplexitaumlt der Aussageinstanz mit ihrersemantischen Ausdehnung und diskursiven Vielschichtigkeit ent-spricht eine einzigartig ausdifferenzierte bdquofonction-auteurldquo Uumlberdie Metapher des Wagens und uumlber das Bild des κμος als prozes-sionalen und rituellen Gesangs wird sie auf die Auffuumlhrung des Ge-dichts bezogen

Damit haben wir uns weit von der romantischen Auffassungeines sbquolyrischen Ichslsquo entfernt von dem man sich einen unmittel-baren sprachlichen Ausdruck der persoumlnlichen Empfindungen desDichter-Schriftstellers und demnach vom biographischen Dichterverspricht auch weit entfernt von der Intentionalitaumlt eines Dich-ter-Individuums eines autonomen kreativen Subjekts das mit derdichterischen Tradition in die es sich einschreibt gebrochen haumlt-te26 Obwohl er unbestreitbar vorhanden ist wird der Wille derdichterischen Schoumlpfung gefiltert durch eine traditionelle dichte -rische Diktion durch die Regeln der Gattung durch die Erfor-dernisse des rituellen Anlasses durch die Verdopplung in der poe-

Das poetische Ich 143

tischen performance der bdquofonction-auteurldquo durch enuntiativeStrategien dichterischer Ordnung

Besonders im hier gewaumlhlten Beispiel stuumltzt sich das meta-phorische poetische Spiel auf das Gedicht als Objekt in seiner raumlumlichen Verschiebung (was wiederum die Teilnahme am sport-lichen Wettkampf symbolisiert) um dessen Bewegung auf den Ge-sang und den dichterischen und musikalischen Wettkampf zuuumlbertragen der im Gedicht durch ein komplexes enuntiatives Spieldargestellt wird mit diesem Dreh enuntiativer und spazio-tempo-raler Pragmatik wird das Bild des Sieges im Wettkampf auf das hicet nunc der rituellen performance des Gesangs verlagert der von ei-nem polyphonen sbquoIchlsquo auszligergewoumlhnlicher Dichte ausgetragenwird Dieses In-Bewegung-Setzen des Gesangs mittels eines Bildesist zentral in den Gedichten die uns nicht nur konkret in die Zeitund den Raum der sbquomythischenlsquo Gruumlndungsakte einfuumlhren und alspragmatisches kulturelles Gedaumlchtnis fungieren sondern die sichauch uumlber zahlreiche autoreferentielle Interventionen als Ge-sangs-Akte praumlsentieren speech-acts die uumlber enuntiative Bezug-nahmen auf die musikalische Aktivitaumlt die von denjenigen die dasGedicht auffuumlhren ausgeuumlbt wird zu song-acts werden In demMaszlige in dem ihre sbquoDurchfuumlhrunglsquo gewoumlhnlich in eine rituelle Feier fuumlr die Schutzgottheit einer Stadt eingebettet ist sind dieseGesangs-Akte auch cult-acts kultische Handlungen Was die Epi-nikie betrifft so ist ihre religioumlse und politische Aufgabe nicht nurdie Erinnerung an die aristokratische Familie aus welcher der Sie-ger an den panhellenischen Spielen stammt zu bereichern sondernauch das kollektive Gedaumlchtnis des staumldtischen Verbands dem erangehoumlrt lebendig zu erhalten Dies alles vollzieht sich in aus-drucksvollen sprachlichen Bildern die durch den sbquopoetischen Ap-parat der Aussagelsquo des rituellen Gesangs Entfaltung und Wirksam-keit finden

Im archaischen und klassischen Griechenland ist die ars scri-bendi eine ars canendi

Paris Claude Ca lame

Page 9: DAS POETISCHE ICH Enuntiative und ... - rhm.uni-koeln.de · PDF fileder in der ersten Aufsatzsammlung der Problèmes de linguistique générale ... E.Benveniste, Problèmes de linguistique

13) Pindar Siegeslieder Griechisch-Deutsch Herausgegeben uumlbersetzt undmit einer Einfuumlhrung versehen von Dieter Bremer Muumlnchen 1992 ndash Zum Vergleichdes Dichters mit dem Athleten bei Pindar vgl D Auger De lrsquoartisan agrave lrsquoathlegravete lesmeacutetaphores de la Creacuteation poeacutetique dans lrsquoeacutepinicie et chez Pindare in M Cos -tantini J Lallot (Hrsg) Le texte et ses repreacutesentations Paris 1987 39ndash56

Das poetische Ich 133

Phintis auf spann mir jetztdie Kraft der Maultiere an

so schnell es geht damit wir auf reiner Bahnden Wagen fahren und ich auch zum Ursprung derMaumlnner komme Denn jene Tiere verstehen vor anderen

auf diesem Wege zu fuumlhrenda sie die Kraumlnze in Olympiaerhielten es tut also not die Tore

der Hymnen ihnen zu oumlffnenan den Strom des Eurotas muss ich heute

kommen zur rechten Zeit nach Pitane(Uumlbers Dieter Bremer)13

Und so adressiert derjenige der sbquoIchlsquo sagt in der zweiten Triadedieser sechsten Olympischen Ode direkt den Lenker des Gespannsder Lenker Phintis ist in Olympia der Vertreter von Hagesias demAristokraten aus Syrakus der den Unterhalt des siegreichen Ge-spanns finanziert Der Dichter bittet den jungen Mann die Maul-tiere anzuschirren sie mit seinem Wagen zu lenken und ihnen diebdquoTore der Hymnen zu oumlffnenldquo (V 27) Mit einer Metapher wird dervorliegende Gesang zum Mittel einer Verschiebung deren poeti-scher Ausdruck sich uumlberdies einer starken Wegmetaphorik be-dient (κλευθος V 23 4δς V 25) Aber statt uns von Olympianach Syrakus zu fuumlhren wo uns die enuntiative Bewegung des Ge-dichts zunaumlchst hingebracht hat statt uns an die Staumltte des Siegesund von da an den Ort zu fuumlhren an dem die Siegesfeier stattfin-den duumlrfte bringt uns das Gespann-Gedicht hin an den Eurotas inLakonien ins Staumldtchen Pitane das ein Stadtteil von Sparta ist

Diese unerwartete geographische Verschiebung geht mit einerebenso unerwarteten zeitlichen Bewegung einher vom bdquoheuteldquo(σμερον V 28) das mit der Zeit der eacutenonciation des Liedes (bdquodis-coursldquo) korrespondiert in die unbestimmte Vergangenheit in einenarrative und goumlttliche Zeit (bdquoreacutecitldquo bdquomytheldquo) es ist die Zeit zu

14) Pind Ol 622ndash42 Die umstrittene Frage nach der Datierung und denUmstaumlnden der Auffuumlhrung dieses komplexen Gedichts wird eroumlrtert bei Ch Froi -de fond Lire Pindare Namur 1989 29ndash48 der fuumlr eine Auffuumlhrung des Gedichtsnicht in Syrakus sondern in Stymphale in Arkadien plaumldiert wie nach ihm auchG O Hutchinson Greek Lyric Poetry A Commentary on Selected Larger PiecesOxford 2001 371ndash374 Hierauf wird weiter unten zuruumlckgekommen Zur Sequenzder deiktischen Gesten die den enuntiativen Rahmen dieses Gedichts ausmachenvgl die nuumltzliche Studie von A Bonifazi Mescolare un cratere di canti Alessandria2001 103ndash149

Claude Ca lame134

der Poseidon sich mit der jungen Pitane vereinigt hatte der epony-men Nymphe des spartanischen Staumldtchens14 Fuumlr uns entsprichtdiese Zeit derjenigen des sbquoMythoslsquo

Aus dieser goumlttlichen und geheimen Vereinigung ndash so derFortgang des dichterischen und sbquomythischenlsquo reacutecit ndash geht Euadnehervor sie wurde in Arkadien groszliggezogen nicht weit vom Al -pheios ehe sie ihrerseits vom jungen Gott Apollon verfuumlhrt wirdAus dieser zweiten Liebe eines Gottes mit einer jungen Sterblichengeht Iamos hervor Dieser Heros der ebenfalls in der Naumlhe desAlpheios in arkadischem Gebiet geboren wurde steht am Ur-sprung einer Familie von Sehern den Iamiden doch erweist er sichgleichermaszligen als Vorfahr vaumlterlicherseits des Hagesias von Sy-rakus dem Sponsor des Viergespanns das den Sieg bei den Olym-pischen Spielen errungen hat und das in dieser Epinikie besungenwird Man erfaumlhrt weiter dass er als kleines Kind ausgesetzt undinmitten der Blumen von zwei Schlangen mit Bienenhonig ernaumlhrtwurde Uumlber den Honig mit der Suumlszlige der dichterischen Ver-fuumlhrung assoziiert wird die Stimme von Iamos in die Stimme einesHellsehers verwandelt dies geschieht durch den Willen seinesGroszligvaters Poseidon und ganz besonders durch das Eingreifen sei-nes Vaters Apollon dem Gott des Orakels zu Delphi Der jungeHeros ist also dazu auserkoren diese Gabe inspirierten Hellsehensan seine Nachkommen die Iamiden weiterzuvererben Apoll istes der Iamos dann selbst nach Olympia fuumlhrt inspiriert vom Gottvon Delphi gruumlndet der junge Heros alsdann am Ufer des Alphei-os das Orakel das am Altar des Zeus die Gruumlndung der Olympi-schen Spiele durch Herakles voraussagen wird

Dem siegreichen Gespann aus Syrakus angeglichen zeichnetalso dieses Gedicht eine geographische Kreisbewegung nach In-dem der Beginn in Syrakus eingeklammert wird fuumlhrt uns derWeg der von der Metapher des Wagens gezeichnet wird tatsaumlch-

Das poetische Ich 135

lich vom Austragungsort des Wettkampfs in der Naumlhe des Alphei-os hin nach Lakonien und Sparta um uns schlieszliglich uumlber Pisatisund die Grenzen Arkadiens nach Olympia zuruumlckzufuumlhren Die-se geographische Reiseroute ist mit einem zeitlichen Rundgang ge-paart der uns in die Zeit der Aussage (eacutenonciation) zuruumlckfuumlhrtausgehend von diesem hic et nunc hat das Gedicht als Rennwagenzur langen genealogischen Reise in die goumlttliche und heroische Ver-gangenheit der Iamiden und ebenso in die urspruumlngliche und sbquomy-thischelsquo Zeit eines doppelten Gruumlndungsakts angehoben die Ein-richtung des Orakels zu Olympia das von den Nachfahren des Iamos gefuumlhrt wird sowie der Spiele selbst in der Zeit des Hera -kles

bdquo damit wir auf reiner Bahn den Wagen fahren und ich auchzum Ursprung der Familie des Hagesias kommeldquo (V 23) wuumlrdeich also uumlbersetzen Der Anfang dieses zeitlichen Rundgangs (derzugleich seinen Endpunkt darstellen wird) ist von der Alternationder autoreferentiellen Formen im Singular und im Plural (βάσομενim Plural aber κωμαι im Singular in demselben Vers 24) gekenn-zeichnet durch diese Fomen wird die zugleich zeitliche wie raumlum-liche Verschiebung uumlber die Vermittlung des Bilds eines Gespannsvon einer Aussageinstanz aufgenommen die mit einer komplexenKommunikationssituation korrespondiert Das sbquoIchlsquo sbquoWirlsquo desSprechers scheint in der Tat sowohl den Sieger (den Wagenlenkerdes siegreichen Gespanns in Olympia das von Hagesias von Sy-rakus unterhalten wird) als auch den Dichter (Pindar von Thebenden Lenker des Gesangs) und die wahrscheinlich anwesende Chor-gruppe welche den Gesang sbquoPindarslsquo auffuumlhrte in sich zu vereinenIn diesem Stuumlck dichterischer Historiographie geographischer wiegenealogischer Ausrichtung wohnt man der Fahrt des Dichters mitdem Wagenlenker des Hagesias bei auf dem Wagen der zum Ge-dicht geworden ist faumlhrt man mit dem Dichter in Richtung Pitanenach Sparta und durch Arkadien zuruumlck nach Olympia entlangden Ufern des Alpheios und entsprechend in die Zeit des sbquoMy-thoslsquo dieser geographische und historische Rundgang kann nur einmetaphorischer sein Er gehoumlrt ins Reich der Dichtung um nichtzu sagen der poetischen Fiktion

15) ματρομάτωρ μ Στυμ-|φαλίς εανθ9ς Μετώπα | πλάξιππον E ΘήβανHτι-|κτεν τ3ς ρατεινν δωρ | πίομαι νδράσιν αIχματα2σι πλέκων | ποικίλονμνον τρυνον νν Kταίρους |ΑIνέα πρτον μ=ν Mραν | Παρθενίαν κελαδNσαι |γνναί τrsquo Hπειτrsquo ρχα2ον νειδος λαθέσιν | λόγοις εI φεύγομεν Βοιωτίαν Pν | σσ0γρ Qγγελος Rρθός | Sϋκόμων σκυτάλα Μοι-|σ3ν γλυκUς κρατ9ρ γαφθέγκτωνοιδ3ν

Claude Ca lame136

3 Enuntiative und pragmatische Polyphonie

Die metaphorische Reiseroute die vom Gedicht als Wagengezeichnet wird betrifft also ebenso den Dichter wie seine Dich-tung dies gilt um so mehr als der Sprecher gegen Ende der Odenicht mehr den jungen Lenker des maumlchtigen Hagesias von Sy-rakus sondern in der Manier des Echos einen gewissen Aineiasadressiert da der Stil dieser Verse so dicht ist (Ol 684ndash91) erweistsich seine Verortung als schwierig15

Meine Ahnmutter ist aus Stymphalosdie wohlbluumlhende Metope

welche die pferdestachelnde Thebe gebar deren liebliches Wasser

ich trinke der ich speerkaumlmpfenden Maumlnnern flechteeinen bunten Hymnos Treib nun die Gefaumlhrten Aineias zuerst Hera

die jungfraumluliche zu besingenum dann zu erkennen ob wir mit wahren Wortendem alten Schimpfwort sbquoboiotische Saulsquo entgehen

Du bist naumlmlich ein rechter BoteBriefstab der schoumlnhaarigen Musen

suumlszliger Mischkrug starktoumlnender Gesaumlnge(Uumlbers Dieter Bremer)

bdquoRechter Boteldquo bdquoBriefstab der schoumlnhaarigen Musenldquo (V 90ndash91)Der junge Mann ist niemand Geringeres als der Repraumlsentant desDichters Ihm ist die Aufgabe uumlberantwortet jetzt (νν) seine Ge-faumlhrten (Kτα2ροι V 87) dazu einzuladen die Goumlttin Hera Partheniazu besingen der in Stymphale in Arkadien gehuldigt wird Im Ver-such der antiken Kommentatoren diese schwierige Passage in dieentsprechende institutionelle Begrifflichkeit zu uumlbertragen heiszligtdas dass es diesem jungen Chorleiter angetragen wird die Cho-

16) Pind Ol 682ndash99 mit Scholion ad V 149a (I S 188 Drachmann) DieRolle des jungen Aineias ist treffend charakterisiert bei Bonifazi (wie Anm 14) 133ndash143 vgl zur Ergaumlnzung die skeptischen Bemerkungen bei M Heath Receiving theKocircmos The Context and Performance of Epinician AJPh 109 1988 180ndash195 undM Lefkowitz The First Person in Pindar Reconsidered ndash Again BIClS 40 1995139ndash150 (mit umfassender Bibliographie) Zur Syntax dieser umstrittenen Passagevgl den nuumltzlichen Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 413ndash415

17) Zu dieser Anspielung auf die Auffuumlhrung des Gedichts in einem Momentder Inspiration und Komposition den die intentionale und sbquoperformativelsquo Form desFuturs mit dem Moment seiner Ausfuumlhrung als Gesangsvortrag korrespondierenlaumlsst siehe besonders G B DrsquoAlessio Past Future and Present Past Temporal Dei-xis in Greek Archaic Lyric Arethusa 37 2004 267ndash294 (289ndash290)

Das poetische Ich 137

reuten zu trainieren die Choreuten werden zum Sprachrohr desDichters jetzt in dem Augenblick der mit der Auffuumlhrung derEpinikie zusammenfaumlllt und an einem Ort den man mit dem ar-kadischen Stymphale identifizieren wollte16

In den Versen nun die dieser Aufforderung an den jungenChorleiter unmittelbar vorausgehen nennt der Sprecher undDich ter sein Vorhaben vom lieblichen Wasser der Quelle Metopezu trinken (πίομαι V 86) und zwar in einer Form des sbquoperforma-tivenlsquo Futurs die den Moment der dichterischen Inspiration mitder Auffuumlhrung der Epinikie zusammenfallen laumlsst17 In einemabermaligen geographisch-genealogischen Rundgang der eineneue Reise in die heroische Zeit des sbquoMythoslsquo darstellt wird of-fenbar dass der Name sbquoMetopelsquo dem Namen einer Nymphe ausStymphale in Arkadien entspricht Ihre Mutter ist niemand ande-res als Thebe und Thebe wiederum ist die eponyme Nymphe vonTheben in Boumlo tien der Heimat des Dichters Vom noch unbe-stimmten Ort der Aussage (eacutenonciation) und des Vortrags des Gedichts sind wir demnach enuntiativ nicht mehr zum Ort derAustragung der Spiele und ihrer Gruumlnder gelangt sondern in eineGegend die benachbart ist dem Ursprungsort der Familie der Iamiden und demnach der Familie des Hagesias wahrscheinlich ineiner Anspielung auf seine Ahnenschaft muumltterlicherseits Dannwerden wir vom Arkadien der Iamiden wiederum nicht an denOrt der Auffuumlhrung sondern an den Ort der Komposition desGedichts geleitet nach Theben in die Heimat Pindars Und in derTat ist es der Inspiration die er bei der Quelle der Metope bdquomei-ner Ahnmutterldquo (V 84) gefunden hat zu verdanken dass der

18) Die Beziehung die der Dichter zwischen seiner Heimat Theben und demStammbaum der Iamiden herstellt ist nachgezeichnet bei L Kurke The Traffic inPraise Pindar and the Poetics of Social Economy Ithaca London 1991 147ndash149ferner Hutchinson (wie Anm 14) 410ndash413 Zu den verschiedenen Metaphern wel-che die dichterische Inspiration mit dem Erguss einer Fluumlssigkeit assoziieren sieheNuumlnlist (wie Anm 11) 195ndash199 (vgl ferner zur Kunst des Webens 110ndash118 sowieJ Scheid J Svenbro Le meacutetier de Zeus Mythe du tissage et du tissu dans le mon-de greacuteco-romain Paris 1994 119ndash130)

19) Vgl Scholia ad V 148a und 148c (I S 187 Drachmann) Vgl dazuV Vigneri Il coro dellrsquoepinicio pindarico negli scholia vetera QUCC 95 2000 87ndash103

20) Ergaumlnzend zu den Ausfuumlhrungen von Lefkovitz (wie Anm 16) sei z Bauf die hervorragenden Bemerkungen bei G B DrsquoAlessio First-Person Problems inPindar BIClS 39 1994 117ndash139 verwiesen

Claude Ca lame138

Dichter seither in einer weiteren in der melischen Dichtung haumlu-fig auftretenden Metapher befaumlhigt ist bdquoeinen bunten Hymnos zuflechtenldquo (πλέκων V 86ndash87)18

Zugunsten dieser zweiten (teilweise impliziten) Ruumlckkehr zuden Orten und Zeiten der sbquomise en discourslsquo und der Auffuumlhrungdes Gedichts wohnen wir dank der abermaligen geographischenund genealogischen (und vom Sprecher als sbquomythischlsquo vorgestell-ten) Reise der subtilen bildreichen und poetischen Entfaltung ei-nes enuntiativen Spiels bei dieses Spiel ist in der melischen Dich-tung haumlufig anzutreffen insbesondere in den Epinikien Pindarsund des Bakchylides Dieses Verfahren der sbquochorischen Delegationlsquolaumlsst in seiner Polyphonie eine Abloumlsung der Stimme des Dichter-Komponisten durch die Stimme der chorischen Gruppe zu die denGesang vortraumlgt Es uumlberrascht daher wenig dass die antikenKommentatoren den jungen Aineias als χοροδιδσκαλος bezeich-nen19 Dieser Leiter des Chors fungiert als Vermittler zwischen derinspirierten Stimme des Sprecher-Ichs und der Chor-Stimme derjungen Saumlnger welche die Auffuumlhrung des Gedichts uumlbernimmtAuf extradiskursiver Ebene wiederum dient Aineias als Vermittlerzwischen dem Autor und Komponisten des Gedichts (in Theben)und der chorischen Gruppe Ausfuumlhrender die in einem rituellenTanz singen (wahrscheinlich in Syrakus) Diese bemerkenswerteenuntiative Polyphonie macht den Streit um die Natur des sbquolyri-schen Ichslsquo in den Epinikien Pindars in vielerlei Hinsicht uumlberfluumls-sig Weder nur sbquomonodischlsquo noch ausschlieszliglich chorisch ist dassbquoIchlsquo sbquoWirlsquo des Sprechers wesentlich polyphon20

21) Zum pejorativen Sinn dieser sprichwoumlrtlichen Wendung unter Einbezugder bdquoPoetik des Tadelsldquo vgl den Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 416ndash417

22) Hier sei auf die verschiedenen Stellen verwiesen die ich in Pragmatiquede la fiction quelques proceacutedures de deixis narrative et eacutenonciative en comparaison(poeacutetique grecque) in J-M Adam U Heidmann (Hrsg) Sciences du texte et ana-lyse de discours Enjeux drsquoune interdisciplinariteacute Lausanne Genegraveve 2005 119ndash143 angefuumlhrt habe zur prozessionalen Dimension des κμος siehe insbesondereK A Morgan Pindar the Professional and the Rhetoric of the kocircmos CPh 88 19931ndash15

23) Vgl die bei Vigneri (wie Anm 19) 97ndash100 angefuumlhrten Stellen sowieC Carey The Victory Ode in Performance The Case for the Chorus CPh 86 1991192ndash200

Das poetische Ich 139

So erklaumlrt sich warum einerseits paradoxerweise der Wunschdem Vorwurf zu entgehen (φεύγομεν V 90) eine bdquoboiotische Sauldquo21

zu sein in der ersten Person Plural gehalten ist der Wunsch beziehtsich nicht nur auf die vom Dichter der Epinikien haumlufig bemuumlhtePoetik der Wahrheit sondern auch auf seinen thebanischen unddemnach boumlotischen Ursprung Andererseits ist es der ChorleiterAineias dem angetragen wird sei es den Musen sei es seinen Cho-reuten zu sagen (εWπον V 92) sie moumlgen sich erinnern und daherzugleich Syrakus und Ortygia hochleben lassen Hinsichtlich derAussage uumlberlagern sich hier durch verschiedene grammatikali-sche wie explizite delegative Bewegungen die Stimme des Dich tersund jene des χοροδιδσκαλος und der chorischen Gruppe

Infolgedessen stuumltzt sich der Uumlbergang von der Metapherzur Realitaumlt der Auffuumlhrung von Pindars Gedicht an seinem Aus-gang nicht mehr auf das Bild des Gespanns sondern auf jenes desκμος (V 98) Bild eines prozessionalen Umzugs wie er bei Pin-dar haumlufig anzutreffen ist22 In den letzten Versen der sechstenOlympischen Ode wird das Gedicht das in seiner Auffuumlhrung be-griffen ist zum prozessionalen Gesang der den siegreichen Ha-gesias aus Syrakus feiert Die antiken Kommentatoren zeigen hierkeine Zuruumlckhaltung κμος und κωμζειν werden regelmaumlszligig alsχορς und χορεXειν erklaumlrt23 In der Tat wird der Tyrann von Sy-rakus Hieron dazu eingeladen den jungen Aristokraten abzu-holen der von dem Ort herkommt wo das Gedicht ihn gelassenhatte in Stymphale Ritueller Empfang anlaumlsslich einer Kultfeier(KορτY V 95) zu Ehren von Demeter und ihrer Tochter Perse-phone die von Aineias gefeiert werden soll wahrscheinlich mit-

24) Die dreifache Ringstruktur die in dieser letzten Ruumlckkehr nach Syrakusendet ist beschrieben bei Froidefond (wie Anm 14) 45ndash48 Zu dieser dichterischenRundreise siehe die glaumlnzende Deutung von S Goldhill The Poetrsquos Voice Essays onPoetics and Greek Literature Cambridge 1991 154ndash166

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hilfe der Musen man wird sich in Erinnerung rufen dass Mutterund Tochter zwei Schutzgottheiten der Stadt sind und dass dieFamilie des Hieron wahrscheinlich das entsprechende Priesteramtinnehatte Durch und in dem prozessionalen Gesang fuumlhrt unsder κμος demnach von Arkadien und spezifisch von Stympha-le unweit der Heimat der Iamiden sowie von Theben der Hei-mat des Dichters hin zum Ort und in die Zeit der Auffuumlhrungdes Gedichts dieser Ort so stellt es sich jetzt heraus ist SyrakusDer abschlieszligende Aufruf zur Gastfreundschaft an den Tyrannenvon Syrakus wie auch eine erste Anspielung zu Beginn des Ge-dichts auf den bdquoMann aus Syrakus den Herrn des Festzugsldquo(V 18) bestaumltigen uumlber den Umweg einer Ringkomposition dassdiese glaumlnzende sizilische Stadt die Auffuumlhrung der von Pindarkomponierten Epinikie erhaumllt24

Ο[κοθεν ο[καδε bdquovon Hause nach Hausldquo (V 99) Gedoppeltdurch eine deiktische Geste die einer bdquoDemonstratio ad oculosldquoentspricht scheint diese letzte raumlumliche Bewegung von der einenHeimat in die andere die doppelte Zugehoumlrigkeit der Familienmit-glieder des Hagesias nachzuvollziehen leiten sie sich einerseits vonden arkadischen Iamiden her sind sie andererseits aber Buumlrger vonSyrakus Wie auch immer ndash diese Bewegung zuruumlck nach Syrakusist geweiht durch die Invokation des Gottes Poseidon zum Ge-dicht-Ende Uumlber die Metapher des Schiffs und seiner beiden An-ker wird der Gott ebenso zum Garanten der doppelten Herkunftdes Hagesias der aus Arkadien und aus Syrakus stammt wie auchder Rundreise des Gedichts in seiner Auffuumlhrung von Thebennach Stymphale nach Syrakus Es ist keineswegs ein Zufall wenndas Gedicht mit der Bitte an den Gemahl der Amphitrite bdquomeineHymnenldquo (V 105) bluumlhen zu lassen schlieszligt finale Ruumlckkehr zurAussageinstanz

Herr Meeresgebieter Gerade Fahrt von Erschoumlpfun-genfern gib Gatte der Amphitrite

25) δέσποτα ποντόμεδον εθUν δ= πλόον καμάτων | κτς όντα δίδοιχρυσαλακάτοιο πόσις | μφιτρίτας μν δrsquo -|μνων Qεξrsquo ετερπ=ς Qνθος

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der mit der goldenen Spindel und lass meine Hymnenwachsen zu wohlerfreulicher Bluumlte

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4 Der poetische Apparat der eacutenonciation

Dargestellt als rein metaphorischer Wagen wenn es darum zutun ist mit dem Wettbewerb der vom Kutscher und seinem Ge-spann dargestellt wird die geographische und genealogische Her-kunft (Arkadien und Olympia) der siegreichen Familie nachzu-vollziehen realisiert sich der Gesang zuletzt in seiner chorischenund prozessionalen Identitaumlt im Bilde des κμος aufgefuumlhrt in Sy-rakus fuumlhrt dieses Chorgedicht genealogisch zuruumlck nach Thebenin die Heimat Pindars So fokussiert das doppelte Bild des Ge-spanns und der Prozession die Komposition des Thebaners Pindarim hic et nunc seiner Auffuumlhrung weder in Olympia dem Ort desathletischen Sieges und dem Orakelwesen der Iamiden noch inStymphale dem Ort der Vorfahren muumltterlicherseits des Hagesias(und moumlglicherweise der Heimat des Aineias) noch in Thebender Heimat Pindars und dem Ort an dem das Gedicht geschaffenwurde sondern in Syrakus anlaumlsslich einer kultischen Feier Bleibtdie geographische und genealogische Rundreise die dem sprach -lichen Gespann zugeschrieben wird poetisch und metaphorischso wird jene die als rituelle Prozession vorgestellt ist Realitaumlt nachdem genealogischen Umweg uumlber die Nymphe Thebe und Thebenin Boumlotien stimmen die Zeit und der Ort der narrativen und dis-kursiven Realisierung des Gedichts mit dem sbquoHierlsquo und dem sbquoJetztlsquoseiner Auffuumlhrung uumlberein ndash einem hic et nunc das an der Aus-sageinstanz orientiert ist

Im dichterischen sbquoIchlsquo konvergieren demnach am Ende dergesungenen Komposition die enuntiative Stimme des inspiriertenDichters die Chorstimme der Darsteller des κμος und die Stim-me ihres χοροδιδσκαλος Die bemerkenswerte semantische Aus-dehnung dieses sprachlichen und poetischen sbquoIchslsquo ist wesentlichpolyphon Aber dank der zeitlichen und insbesondere der raumlum -lichen Markierungen die wir bemerkt haben (Syrakus Sparta

26) Damit moumlchte ich dem Prinzip widersprechen auf dem die sbquokritischelsquophilologische Hermeneutik beruht und das immer wieder von Jean Bollack heftigverfochten wird zum Beispiel in seinem juumlngsten Essay Parmeacutenide de lrsquoeacutetant aumonde Lagrasse 2006 11ndash19

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Olympia Arkadien Stymphale Theben) dank der (etwas parado-xen) geographisch-genealogischen Rundreise auch durch die fikti-ven Orte und Zeiten der Gruumlndungsmythenlsquo erhaumllt diese poly-phone Aussageinstanz eine praumlzise extradiskursive Dimension

hinsichtlich sbquoIchlsquo sbquoWirlsquondash Pindar von Theben in seiner Funktion als

inspirierter Dichter und Lehrer der Wahrheitndash Aineias (aus Stymphale) als χοροδιδσκαλοςndash die jungen Choreuten aus Syrakusndash schlieszliglich das Gedicht selbst (objektiviert im

sbquoEslsquo uumlber die Angleichung an das Maultiergespann)hinsichtlich sbquoDulsquo

ndash Hagesias der Arkadier aus Syrakusndash Phintis der Wagenlenker aus Syrakusndash Hieron der Tyrann von Syrakusndash Poseidon der Herr des Meeres

Der polyphonen Komplexitaumlt der Aussageinstanz mit ihrersemantischen Ausdehnung und diskursiven Vielschichtigkeit ent-spricht eine einzigartig ausdifferenzierte bdquofonction-auteurldquo Uumlberdie Metapher des Wagens und uumlber das Bild des κμος als prozes-sionalen und rituellen Gesangs wird sie auf die Auffuumlhrung des Ge-dichts bezogen

Damit haben wir uns weit von der romantischen Auffassungeines sbquolyrischen Ichslsquo entfernt von dem man sich einen unmittel-baren sprachlichen Ausdruck der persoumlnlichen Empfindungen desDichter-Schriftstellers und demnach vom biographischen Dichterverspricht auch weit entfernt von der Intentionalitaumlt eines Dich-ter-Individuums eines autonomen kreativen Subjekts das mit derdichterischen Tradition in die es sich einschreibt gebrochen haumlt-te26 Obwohl er unbestreitbar vorhanden ist wird der Wille derdichterischen Schoumlpfung gefiltert durch eine traditionelle dichte -rische Diktion durch die Regeln der Gattung durch die Erfor-dernisse des rituellen Anlasses durch die Verdopplung in der poe-

Das poetische Ich 143

tischen performance der bdquofonction-auteurldquo durch enuntiativeStrategien dichterischer Ordnung

Besonders im hier gewaumlhlten Beispiel stuumltzt sich das meta-phorische poetische Spiel auf das Gedicht als Objekt in seiner raumlumlichen Verschiebung (was wiederum die Teilnahme am sport-lichen Wettkampf symbolisiert) um dessen Bewegung auf den Ge-sang und den dichterischen und musikalischen Wettkampf zuuumlbertragen der im Gedicht durch ein komplexes enuntiatives Spieldargestellt wird mit diesem Dreh enuntiativer und spazio-tempo-raler Pragmatik wird das Bild des Sieges im Wettkampf auf das hicet nunc der rituellen performance des Gesangs verlagert der von ei-nem polyphonen sbquoIchlsquo auszligergewoumlhnlicher Dichte ausgetragenwird Dieses In-Bewegung-Setzen des Gesangs mittels eines Bildesist zentral in den Gedichten die uns nicht nur konkret in die Zeitund den Raum der sbquomythischenlsquo Gruumlndungsakte einfuumlhren und alspragmatisches kulturelles Gedaumlchtnis fungieren sondern die sichauch uumlber zahlreiche autoreferentielle Interventionen als Ge-sangs-Akte praumlsentieren speech-acts die uumlber enuntiative Bezug-nahmen auf die musikalische Aktivitaumlt die von denjenigen die dasGedicht auffuumlhren ausgeuumlbt wird zu song-acts werden In demMaszlige in dem ihre sbquoDurchfuumlhrunglsquo gewoumlhnlich in eine rituelle Feier fuumlr die Schutzgottheit einer Stadt eingebettet ist sind dieseGesangs-Akte auch cult-acts kultische Handlungen Was die Epi-nikie betrifft so ist ihre religioumlse und politische Aufgabe nicht nurdie Erinnerung an die aristokratische Familie aus welcher der Sie-ger an den panhellenischen Spielen stammt zu bereichern sondernauch das kollektive Gedaumlchtnis des staumldtischen Verbands dem erangehoumlrt lebendig zu erhalten Dies alles vollzieht sich in aus-drucksvollen sprachlichen Bildern die durch den sbquopoetischen Ap-parat der Aussagelsquo des rituellen Gesangs Entfaltung und Wirksam-keit finden

Im archaischen und klassischen Griechenland ist die ars scri-bendi eine ars canendi

Paris Claude Ca lame

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14) Pind Ol 622ndash42 Die umstrittene Frage nach der Datierung und denUmstaumlnden der Auffuumlhrung dieses komplexen Gedichts wird eroumlrtert bei Ch Froi -de fond Lire Pindare Namur 1989 29ndash48 der fuumlr eine Auffuumlhrung des Gedichtsnicht in Syrakus sondern in Stymphale in Arkadien plaumldiert wie nach ihm auchG O Hutchinson Greek Lyric Poetry A Commentary on Selected Larger PiecesOxford 2001 371ndash374 Hierauf wird weiter unten zuruumlckgekommen Zur Sequenzder deiktischen Gesten die den enuntiativen Rahmen dieses Gedichts ausmachenvgl die nuumltzliche Studie von A Bonifazi Mescolare un cratere di canti Alessandria2001 103ndash149

Claude Ca lame134

der Poseidon sich mit der jungen Pitane vereinigt hatte der epony-men Nymphe des spartanischen Staumldtchens14 Fuumlr uns entsprichtdiese Zeit derjenigen des sbquoMythoslsquo

Aus dieser goumlttlichen und geheimen Vereinigung ndash so derFortgang des dichterischen und sbquomythischenlsquo reacutecit ndash geht Euadnehervor sie wurde in Arkadien groszliggezogen nicht weit vom Al -pheios ehe sie ihrerseits vom jungen Gott Apollon verfuumlhrt wirdAus dieser zweiten Liebe eines Gottes mit einer jungen Sterblichengeht Iamos hervor Dieser Heros der ebenfalls in der Naumlhe desAlpheios in arkadischem Gebiet geboren wurde steht am Ur-sprung einer Familie von Sehern den Iamiden doch erweist er sichgleichermaszligen als Vorfahr vaumlterlicherseits des Hagesias von Sy-rakus dem Sponsor des Viergespanns das den Sieg bei den Olym-pischen Spielen errungen hat und das in dieser Epinikie besungenwird Man erfaumlhrt weiter dass er als kleines Kind ausgesetzt undinmitten der Blumen von zwei Schlangen mit Bienenhonig ernaumlhrtwurde Uumlber den Honig mit der Suumlszlige der dichterischen Ver-fuumlhrung assoziiert wird die Stimme von Iamos in die Stimme einesHellsehers verwandelt dies geschieht durch den Willen seinesGroszligvaters Poseidon und ganz besonders durch das Eingreifen sei-nes Vaters Apollon dem Gott des Orakels zu Delphi Der jungeHeros ist also dazu auserkoren diese Gabe inspirierten Hellsehensan seine Nachkommen die Iamiden weiterzuvererben Apoll istes der Iamos dann selbst nach Olympia fuumlhrt inspiriert vom Gottvon Delphi gruumlndet der junge Heros alsdann am Ufer des Alphei-os das Orakel das am Altar des Zeus die Gruumlndung der Olympi-schen Spiele durch Herakles voraussagen wird

Dem siegreichen Gespann aus Syrakus angeglichen zeichnetalso dieses Gedicht eine geographische Kreisbewegung nach In-dem der Beginn in Syrakus eingeklammert wird fuumlhrt uns derWeg der von der Metapher des Wagens gezeichnet wird tatsaumlch-

Das poetische Ich 135

lich vom Austragungsort des Wettkampfs in der Naumlhe des Alphei-os hin nach Lakonien und Sparta um uns schlieszliglich uumlber Pisatisund die Grenzen Arkadiens nach Olympia zuruumlckzufuumlhren Die-se geographische Reiseroute ist mit einem zeitlichen Rundgang ge-paart der uns in die Zeit der Aussage (eacutenonciation) zuruumlckfuumlhrtausgehend von diesem hic et nunc hat das Gedicht als Rennwagenzur langen genealogischen Reise in die goumlttliche und heroische Ver-gangenheit der Iamiden und ebenso in die urspruumlngliche und sbquomy-thischelsquo Zeit eines doppelten Gruumlndungsakts angehoben die Ein-richtung des Orakels zu Olympia das von den Nachfahren des Iamos gefuumlhrt wird sowie der Spiele selbst in der Zeit des Hera -kles

bdquo damit wir auf reiner Bahn den Wagen fahren und ich auchzum Ursprung der Familie des Hagesias kommeldquo (V 23) wuumlrdeich also uumlbersetzen Der Anfang dieses zeitlichen Rundgangs (derzugleich seinen Endpunkt darstellen wird) ist von der Alternationder autoreferentiellen Formen im Singular und im Plural (βάσομενim Plural aber κωμαι im Singular in demselben Vers 24) gekenn-zeichnet durch diese Fomen wird die zugleich zeitliche wie raumlum-liche Verschiebung uumlber die Vermittlung des Bilds eines Gespannsvon einer Aussageinstanz aufgenommen die mit einer komplexenKommunikationssituation korrespondiert Das sbquoIchlsquo sbquoWirlsquo desSprechers scheint in der Tat sowohl den Sieger (den Wagenlenkerdes siegreichen Gespanns in Olympia das von Hagesias von Sy-rakus unterhalten wird) als auch den Dichter (Pindar von Thebenden Lenker des Gesangs) und die wahrscheinlich anwesende Chor-gruppe welche den Gesang sbquoPindarslsquo auffuumlhrte in sich zu vereinenIn diesem Stuumlck dichterischer Historiographie geographischer wiegenealogischer Ausrichtung wohnt man der Fahrt des Dichters mitdem Wagenlenker des Hagesias bei auf dem Wagen der zum Ge-dicht geworden ist faumlhrt man mit dem Dichter in Richtung Pitanenach Sparta und durch Arkadien zuruumlck nach Olympia entlangden Ufern des Alpheios und entsprechend in die Zeit des sbquoMy-thoslsquo dieser geographische und historische Rundgang kann nur einmetaphorischer sein Er gehoumlrt ins Reich der Dichtung um nichtzu sagen der poetischen Fiktion

15) ματρομάτωρ μ Στυμ-|φαλίς εανθ9ς Μετώπα | πλάξιππον E ΘήβανHτι-|κτεν τ3ς ρατεινν δωρ | πίομαι νδράσιν αIχματα2σι πλέκων | ποικίλονμνον τρυνον νν Kταίρους |ΑIνέα πρτον μ=ν Mραν | Παρθενίαν κελαδNσαι |γνναί τrsquo Hπειτrsquo ρχα2ον νειδος λαθέσιν | λόγοις εI φεύγομεν Βοιωτίαν Pν | σσ0γρ Qγγελος Rρθός | Sϋκόμων σκυτάλα Μοι-|σ3ν γλυκUς κρατ9ρ γαφθέγκτωνοιδ3ν

Claude Ca lame136

3 Enuntiative und pragmatische Polyphonie

Die metaphorische Reiseroute die vom Gedicht als Wagengezeichnet wird betrifft also ebenso den Dichter wie seine Dich-tung dies gilt um so mehr als der Sprecher gegen Ende der Odenicht mehr den jungen Lenker des maumlchtigen Hagesias von Sy-rakus sondern in der Manier des Echos einen gewissen Aineiasadressiert da der Stil dieser Verse so dicht ist (Ol 684ndash91) erweistsich seine Verortung als schwierig15

Meine Ahnmutter ist aus Stymphalosdie wohlbluumlhende Metope

welche die pferdestachelnde Thebe gebar deren liebliches Wasser

ich trinke der ich speerkaumlmpfenden Maumlnnern flechteeinen bunten Hymnos Treib nun die Gefaumlhrten Aineias zuerst Hera

die jungfraumluliche zu besingenum dann zu erkennen ob wir mit wahren Wortendem alten Schimpfwort sbquoboiotische Saulsquo entgehen

Du bist naumlmlich ein rechter BoteBriefstab der schoumlnhaarigen Musen

suumlszliger Mischkrug starktoumlnender Gesaumlnge(Uumlbers Dieter Bremer)

bdquoRechter Boteldquo bdquoBriefstab der schoumlnhaarigen Musenldquo (V 90ndash91)Der junge Mann ist niemand Geringeres als der Repraumlsentant desDichters Ihm ist die Aufgabe uumlberantwortet jetzt (νν) seine Ge-faumlhrten (Kτα2ροι V 87) dazu einzuladen die Goumlttin Hera Partheniazu besingen der in Stymphale in Arkadien gehuldigt wird Im Ver-such der antiken Kommentatoren diese schwierige Passage in dieentsprechende institutionelle Begrifflichkeit zu uumlbertragen heiszligtdas dass es diesem jungen Chorleiter angetragen wird die Cho-

16) Pind Ol 682ndash99 mit Scholion ad V 149a (I S 188 Drachmann) DieRolle des jungen Aineias ist treffend charakterisiert bei Bonifazi (wie Anm 14) 133ndash143 vgl zur Ergaumlnzung die skeptischen Bemerkungen bei M Heath Receiving theKocircmos The Context and Performance of Epinician AJPh 109 1988 180ndash195 undM Lefkowitz The First Person in Pindar Reconsidered ndash Again BIClS 40 1995139ndash150 (mit umfassender Bibliographie) Zur Syntax dieser umstrittenen Passagevgl den nuumltzlichen Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 413ndash415

17) Zu dieser Anspielung auf die Auffuumlhrung des Gedichts in einem Momentder Inspiration und Komposition den die intentionale und sbquoperformativelsquo Form desFuturs mit dem Moment seiner Ausfuumlhrung als Gesangsvortrag korrespondierenlaumlsst siehe besonders G B DrsquoAlessio Past Future and Present Past Temporal Dei-xis in Greek Archaic Lyric Arethusa 37 2004 267ndash294 (289ndash290)

Das poetische Ich 137

reuten zu trainieren die Choreuten werden zum Sprachrohr desDichters jetzt in dem Augenblick der mit der Auffuumlhrung derEpinikie zusammenfaumlllt und an einem Ort den man mit dem ar-kadischen Stymphale identifizieren wollte16

In den Versen nun die dieser Aufforderung an den jungenChorleiter unmittelbar vorausgehen nennt der Sprecher undDich ter sein Vorhaben vom lieblichen Wasser der Quelle Metopezu trinken (πίομαι V 86) und zwar in einer Form des sbquoperforma-tivenlsquo Futurs die den Moment der dichterischen Inspiration mitder Auffuumlhrung der Epinikie zusammenfallen laumlsst17 In einemabermaligen geographisch-genealogischen Rundgang der eineneue Reise in die heroische Zeit des sbquoMythoslsquo darstellt wird of-fenbar dass der Name sbquoMetopelsquo dem Namen einer Nymphe ausStymphale in Arkadien entspricht Ihre Mutter ist niemand ande-res als Thebe und Thebe wiederum ist die eponyme Nymphe vonTheben in Boumlo tien der Heimat des Dichters Vom noch unbe-stimmten Ort der Aussage (eacutenonciation) und des Vortrags des Gedichts sind wir demnach enuntiativ nicht mehr zum Ort derAustragung der Spiele und ihrer Gruumlnder gelangt sondern in eineGegend die benachbart ist dem Ursprungsort der Familie der Iamiden und demnach der Familie des Hagesias wahrscheinlich ineiner Anspielung auf seine Ahnenschaft muumltterlicherseits Dannwerden wir vom Arkadien der Iamiden wiederum nicht an denOrt der Auffuumlhrung sondern an den Ort der Komposition desGedichts geleitet nach Theben in die Heimat Pindars Und in derTat ist es der Inspiration die er bei der Quelle der Metope bdquomei-ner Ahnmutterldquo (V 84) gefunden hat zu verdanken dass der

18) Die Beziehung die der Dichter zwischen seiner Heimat Theben und demStammbaum der Iamiden herstellt ist nachgezeichnet bei L Kurke The Traffic inPraise Pindar and the Poetics of Social Economy Ithaca London 1991 147ndash149ferner Hutchinson (wie Anm 14) 410ndash413 Zu den verschiedenen Metaphern wel-che die dichterische Inspiration mit dem Erguss einer Fluumlssigkeit assoziieren sieheNuumlnlist (wie Anm 11) 195ndash199 (vgl ferner zur Kunst des Webens 110ndash118 sowieJ Scheid J Svenbro Le meacutetier de Zeus Mythe du tissage et du tissu dans le mon-de greacuteco-romain Paris 1994 119ndash130)

19) Vgl Scholia ad V 148a und 148c (I S 187 Drachmann) Vgl dazuV Vigneri Il coro dellrsquoepinicio pindarico negli scholia vetera QUCC 95 2000 87ndash103

20) Ergaumlnzend zu den Ausfuumlhrungen von Lefkovitz (wie Anm 16) sei z Bauf die hervorragenden Bemerkungen bei G B DrsquoAlessio First-Person Problems inPindar BIClS 39 1994 117ndash139 verwiesen

Claude Ca lame138

Dichter seither in einer weiteren in der melischen Dichtung haumlu-fig auftretenden Metapher befaumlhigt ist bdquoeinen bunten Hymnos zuflechtenldquo (πλέκων V 86ndash87)18

Zugunsten dieser zweiten (teilweise impliziten) Ruumlckkehr zuden Orten und Zeiten der sbquomise en discourslsquo und der Auffuumlhrungdes Gedichts wohnen wir dank der abermaligen geographischenund genealogischen (und vom Sprecher als sbquomythischlsquo vorgestell-ten) Reise der subtilen bildreichen und poetischen Entfaltung ei-nes enuntiativen Spiels bei dieses Spiel ist in der melischen Dich-tung haumlufig anzutreffen insbesondere in den Epinikien Pindarsund des Bakchylides Dieses Verfahren der sbquochorischen Delegationlsquolaumlsst in seiner Polyphonie eine Abloumlsung der Stimme des Dichter-Komponisten durch die Stimme der chorischen Gruppe zu die denGesang vortraumlgt Es uumlberrascht daher wenig dass die antikenKommentatoren den jungen Aineias als χοροδιδσκαλος bezeich-nen19 Dieser Leiter des Chors fungiert als Vermittler zwischen derinspirierten Stimme des Sprecher-Ichs und der Chor-Stimme derjungen Saumlnger welche die Auffuumlhrung des Gedichts uumlbernimmtAuf extradiskursiver Ebene wiederum dient Aineias als Vermittlerzwischen dem Autor und Komponisten des Gedichts (in Theben)und der chorischen Gruppe Ausfuumlhrender die in einem rituellenTanz singen (wahrscheinlich in Syrakus) Diese bemerkenswerteenuntiative Polyphonie macht den Streit um die Natur des sbquolyri-schen Ichslsquo in den Epinikien Pindars in vielerlei Hinsicht uumlberfluumls-sig Weder nur sbquomonodischlsquo noch ausschlieszliglich chorisch ist dassbquoIchlsquo sbquoWirlsquo des Sprechers wesentlich polyphon20

21) Zum pejorativen Sinn dieser sprichwoumlrtlichen Wendung unter Einbezugder bdquoPoetik des Tadelsldquo vgl den Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 416ndash417

22) Hier sei auf die verschiedenen Stellen verwiesen die ich in Pragmatiquede la fiction quelques proceacutedures de deixis narrative et eacutenonciative en comparaison(poeacutetique grecque) in J-M Adam U Heidmann (Hrsg) Sciences du texte et ana-lyse de discours Enjeux drsquoune interdisciplinariteacute Lausanne Genegraveve 2005 119ndash143 angefuumlhrt habe zur prozessionalen Dimension des κμος siehe insbesondereK A Morgan Pindar the Professional and the Rhetoric of the kocircmos CPh 88 19931ndash15

23) Vgl die bei Vigneri (wie Anm 19) 97ndash100 angefuumlhrten Stellen sowieC Carey The Victory Ode in Performance The Case for the Chorus CPh 86 1991192ndash200

Das poetische Ich 139

So erklaumlrt sich warum einerseits paradoxerweise der Wunschdem Vorwurf zu entgehen (φεύγομεν V 90) eine bdquoboiotische Sauldquo21

zu sein in der ersten Person Plural gehalten ist der Wunsch beziehtsich nicht nur auf die vom Dichter der Epinikien haumlufig bemuumlhtePoetik der Wahrheit sondern auch auf seinen thebanischen unddemnach boumlotischen Ursprung Andererseits ist es der ChorleiterAineias dem angetragen wird sei es den Musen sei es seinen Cho-reuten zu sagen (εWπον V 92) sie moumlgen sich erinnern und daherzugleich Syrakus und Ortygia hochleben lassen Hinsichtlich derAussage uumlberlagern sich hier durch verschiedene grammatikali-sche wie explizite delegative Bewegungen die Stimme des Dich tersund jene des χοροδιδσκαλος und der chorischen Gruppe

Infolgedessen stuumltzt sich der Uumlbergang von der Metapherzur Realitaumlt der Auffuumlhrung von Pindars Gedicht an seinem Aus-gang nicht mehr auf das Bild des Gespanns sondern auf jenes desκμος (V 98) Bild eines prozessionalen Umzugs wie er bei Pin-dar haumlufig anzutreffen ist22 In den letzten Versen der sechstenOlympischen Ode wird das Gedicht das in seiner Auffuumlhrung be-griffen ist zum prozessionalen Gesang der den siegreichen Ha-gesias aus Syrakus feiert Die antiken Kommentatoren zeigen hierkeine Zuruumlckhaltung κμος und κωμζειν werden regelmaumlszligig alsχορς und χορεXειν erklaumlrt23 In der Tat wird der Tyrann von Sy-rakus Hieron dazu eingeladen den jungen Aristokraten abzu-holen der von dem Ort herkommt wo das Gedicht ihn gelassenhatte in Stymphale Ritueller Empfang anlaumlsslich einer Kultfeier(KορτY V 95) zu Ehren von Demeter und ihrer Tochter Perse-phone die von Aineias gefeiert werden soll wahrscheinlich mit-

24) Die dreifache Ringstruktur die in dieser letzten Ruumlckkehr nach Syrakusendet ist beschrieben bei Froidefond (wie Anm 14) 45ndash48 Zu dieser dichterischenRundreise siehe die glaumlnzende Deutung von S Goldhill The Poetrsquos Voice Essays onPoetics and Greek Literature Cambridge 1991 154ndash166

Claude Ca lame140

hilfe der Musen man wird sich in Erinnerung rufen dass Mutterund Tochter zwei Schutzgottheiten der Stadt sind und dass dieFamilie des Hieron wahrscheinlich das entsprechende Priesteramtinnehatte Durch und in dem prozessionalen Gesang fuumlhrt unsder κμος demnach von Arkadien und spezifisch von Stympha-le unweit der Heimat der Iamiden sowie von Theben der Hei-mat des Dichters hin zum Ort und in die Zeit der Auffuumlhrungdes Gedichts dieser Ort so stellt es sich jetzt heraus ist SyrakusDer abschlieszligende Aufruf zur Gastfreundschaft an den Tyrannenvon Syrakus wie auch eine erste Anspielung zu Beginn des Ge-dichts auf den bdquoMann aus Syrakus den Herrn des Festzugsldquo(V 18) bestaumltigen uumlber den Umweg einer Ringkomposition dassdiese glaumlnzende sizilische Stadt die Auffuumlhrung der von Pindarkomponierten Epinikie erhaumllt24

Ο[κοθεν ο[καδε bdquovon Hause nach Hausldquo (V 99) Gedoppeltdurch eine deiktische Geste die einer bdquoDemonstratio ad oculosldquoentspricht scheint diese letzte raumlumliche Bewegung von der einenHeimat in die andere die doppelte Zugehoumlrigkeit der Familienmit-glieder des Hagesias nachzuvollziehen leiten sie sich einerseits vonden arkadischen Iamiden her sind sie andererseits aber Buumlrger vonSyrakus Wie auch immer ndash diese Bewegung zuruumlck nach Syrakusist geweiht durch die Invokation des Gottes Poseidon zum Ge-dicht-Ende Uumlber die Metapher des Schiffs und seiner beiden An-ker wird der Gott ebenso zum Garanten der doppelten Herkunftdes Hagesias der aus Arkadien und aus Syrakus stammt wie auchder Rundreise des Gedichts in seiner Auffuumlhrung von Thebennach Stymphale nach Syrakus Es ist keineswegs ein Zufall wenndas Gedicht mit der Bitte an den Gemahl der Amphitrite bdquomeineHymnenldquo (V 105) bluumlhen zu lassen schlieszligt finale Ruumlckkehr zurAussageinstanz

Herr Meeresgebieter Gerade Fahrt von Erschoumlpfun-genfern gib Gatte der Amphitrite

25) δέσποτα ποντόμεδον εθUν δ= πλόον καμάτων | κτς όντα δίδοιχρυσαλακάτοιο πόσις | μφιτρίτας μν δrsquo -|μνων Qεξrsquo ετερπ=ς Qνθος

Das poetische Ich 141

der mit der goldenen Spindel und lass meine Hymnenwachsen zu wohlerfreulicher Bluumlte

(Ol 6103ndash105 Uumlbers Dieter Bremer)25

4 Der poetische Apparat der eacutenonciation

Dargestellt als rein metaphorischer Wagen wenn es darum zutun ist mit dem Wettbewerb der vom Kutscher und seinem Ge-spann dargestellt wird die geographische und genealogische Her-kunft (Arkadien und Olympia) der siegreichen Familie nachzu-vollziehen realisiert sich der Gesang zuletzt in seiner chorischenund prozessionalen Identitaumlt im Bilde des κμος aufgefuumlhrt in Sy-rakus fuumlhrt dieses Chorgedicht genealogisch zuruumlck nach Thebenin die Heimat Pindars So fokussiert das doppelte Bild des Ge-spanns und der Prozession die Komposition des Thebaners Pindarim hic et nunc seiner Auffuumlhrung weder in Olympia dem Ort desathletischen Sieges und dem Orakelwesen der Iamiden noch inStymphale dem Ort der Vorfahren muumltterlicherseits des Hagesias(und moumlglicherweise der Heimat des Aineias) noch in Thebender Heimat Pindars und dem Ort an dem das Gedicht geschaffenwurde sondern in Syrakus anlaumlsslich einer kultischen Feier Bleibtdie geographische und genealogische Rundreise die dem sprach -lichen Gespann zugeschrieben wird poetisch und metaphorischso wird jene die als rituelle Prozession vorgestellt ist Realitaumlt nachdem genealogischen Umweg uumlber die Nymphe Thebe und Thebenin Boumlotien stimmen die Zeit und der Ort der narrativen und dis-kursiven Realisierung des Gedichts mit dem sbquoHierlsquo und dem sbquoJetztlsquoseiner Auffuumlhrung uumlberein ndash einem hic et nunc das an der Aus-sageinstanz orientiert ist

Im dichterischen sbquoIchlsquo konvergieren demnach am Ende dergesungenen Komposition die enuntiative Stimme des inspiriertenDichters die Chorstimme der Darsteller des κμος und die Stim-me ihres χοροδιδσκαλος Die bemerkenswerte semantische Aus-dehnung dieses sprachlichen und poetischen sbquoIchslsquo ist wesentlichpolyphon Aber dank der zeitlichen und insbesondere der raumlum -lichen Markierungen die wir bemerkt haben (Syrakus Sparta

26) Damit moumlchte ich dem Prinzip widersprechen auf dem die sbquokritischelsquophilologische Hermeneutik beruht und das immer wieder von Jean Bollack heftigverfochten wird zum Beispiel in seinem juumlngsten Essay Parmeacutenide de lrsquoeacutetant aumonde Lagrasse 2006 11ndash19

Claude Ca lame142

Olympia Arkadien Stymphale Theben) dank der (etwas parado-xen) geographisch-genealogischen Rundreise auch durch die fikti-ven Orte und Zeiten der Gruumlndungsmythenlsquo erhaumllt diese poly-phone Aussageinstanz eine praumlzise extradiskursive Dimension

hinsichtlich sbquoIchlsquo sbquoWirlsquondash Pindar von Theben in seiner Funktion als

inspirierter Dichter und Lehrer der Wahrheitndash Aineias (aus Stymphale) als χοροδιδσκαλοςndash die jungen Choreuten aus Syrakusndash schlieszliglich das Gedicht selbst (objektiviert im

sbquoEslsquo uumlber die Angleichung an das Maultiergespann)hinsichtlich sbquoDulsquo

ndash Hagesias der Arkadier aus Syrakusndash Phintis der Wagenlenker aus Syrakusndash Hieron der Tyrann von Syrakusndash Poseidon der Herr des Meeres

Der polyphonen Komplexitaumlt der Aussageinstanz mit ihrersemantischen Ausdehnung und diskursiven Vielschichtigkeit ent-spricht eine einzigartig ausdifferenzierte bdquofonction-auteurldquo Uumlberdie Metapher des Wagens und uumlber das Bild des κμος als prozes-sionalen und rituellen Gesangs wird sie auf die Auffuumlhrung des Ge-dichts bezogen

Damit haben wir uns weit von der romantischen Auffassungeines sbquolyrischen Ichslsquo entfernt von dem man sich einen unmittel-baren sprachlichen Ausdruck der persoumlnlichen Empfindungen desDichter-Schriftstellers und demnach vom biographischen Dichterverspricht auch weit entfernt von der Intentionalitaumlt eines Dich-ter-Individuums eines autonomen kreativen Subjekts das mit derdichterischen Tradition in die es sich einschreibt gebrochen haumlt-te26 Obwohl er unbestreitbar vorhanden ist wird der Wille derdichterischen Schoumlpfung gefiltert durch eine traditionelle dichte -rische Diktion durch die Regeln der Gattung durch die Erfor-dernisse des rituellen Anlasses durch die Verdopplung in der poe-

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tischen performance der bdquofonction-auteurldquo durch enuntiativeStrategien dichterischer Ordnung

Besonders im hier gewaumlhlten Beispiel stuumltzt sich das meta-phorische poetische Spiel auf das Gedicht als Objekt in seiner raumlumlichen Verschiebung (was wiederum die Teilnahme am sport-lichen Wettkampf symbolisiert) um dessen Bewegung auf den Ge-sang und den dichterischen und musikalischen Wettkampf zuuumlbertragen der im Gedicht durch ein komplexes enuntiatives Spieldargestellt wird mit diesem Dreh enuntiativer und spazio-tempo-raler Pragmatik wird das Bild des Sieges im Wettkampf auf das hicet nunc der rituellen performance des Gesangs verlagert der von ei-nem polyphonen sbquoIchlsquo auszligergewoumlhnlicher Dichte ausgetragenwird Dieses In-Bewegung-Setzen des Gesangs mittels eines Bildesist zentral in den Gedichten die uns nicht nur konkret in die Zeitund den Raum der sbquomythischenlsquo Gruumlndungsakte einfuumlhren und alspragmatisches kulturelles Gedaumlchtnis fungieren sondern die sichauch uumlber zahlreiche autoreferentielle Interventionen als Ge-sangs-Akte praumlsentieren speech-acts die uumlber enuntiative Bezug-nahmen auf die musikalische Aktivitaumlt die von denjenigen die dasGedicht auffuumlhren ausgeuumlbt wird zu song-acts werden In demMaszlige in dem ihre sbquoDurchfuumlhrunglsquo gewoumlhnlich in eine rituelle Feier fuumlr die Schutzgottheit einer Stadt eingebettet ist sind dieseGesangs-Akte auch cult-acts kultische Handlungen Was die Epi-nikie betrifft so ist ihre religioumlse und politische Aufgabe nicht nurdie Erinnerung an die aristokratische Familie aus welcher der Sie-ger an den panhellenischen Spielen stammt zu bereichern sondernauch das kollektive Gedaumlchtnis des staumldtischen Verbands dem erangehoumlrt lebendig zu erhalten Dies alles vollzieht sich in aus-drucksvollen sprachlichen Bildern die durch den sbquopoetischen Ap-parat der Aussagelsquo des rituellen Gesangs Entfaltung und Wirksam-keit finden

Im archaischen und klassischen Griechenland ist die ars scri-bendi eine ars canendi

Paris Claude Ca lame

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lich vom Austragungsort des Wettkampfs in der Naumlhe des Alphei-os hin nach Lakonien und Sparta um uns schlieszliglich uumlber Pisatisund die Grenzen Arkadiens nach Olympia zuruumlckzufuumlhren Die-se geographische Reiseroute ist mit einem zeitlichen Rundgang ge-paart der uns in die Zeit der Aussage (eacutenonciation) zuruumlckfuumlhrtausgehend von diesem hic et nunc hat das Gedicht als Rennwagenzur langen genealogischen Reise in die goumlttliche und heroische Ver-gangenheit der Iamiden und ebenso in die urspruumlngliche und sbquomy-thischelsquo Zeit eines doppelten Gruumlndungsakts angehoben die Ein-richtung des Orakels zu Olympia das von den Nachfahren des Iamos gefuumlhrt wird sowie der Spiele selbst in der Zeit des Hera -kles

bdquo damit wir auf reiner Bahn den Wagen fahren und ich auchzum Ursprung der Familie des Hagesias kommeldquo (V 23) wuumlrdeich also uumlbersetzen Der Anfang dieses zeitlichen Rundgangs (derzugleich seinen Endpunkt darstellen wird) ist von der Alternationder autoreferentiellen Formen im Singular und im Plural (βάσομενim Plural aber κωμαι im Singular in demselben Vers 24) gekenn-zeichnet durch diese Fomen wird die zugleich zeitliche wie raumlum-liche Verschiebung uumlber die Vermittlung des Bilds eines Gespannsvon einer Aussageinstanz aufgenommen die mit einer komplexenKommunikationssituation korrespondiert Das sbquoIchlsquo sbquoWirlsquo desSprechers scheint in der Tat sowohl den Sieger (den Wagenlenkerdes siegreichen Gespanns in Olympia das von Hagesias von Sy-rakus unterhalten wird) als auch den Dichter (Pindar von Thebenden Lenker des Gesangs) und die wahrscheinlich anwesende Chor-gruppe welche den Gesang sbquoPindarslsquo auffuumlhrte in sich zu vereinenIn diesem Stuumlck dichterischer Historiographie geographischer wiegenealogischer Ausrichtung wohnt man der Fahrt des Dichters mitdem Wagenlenker des Hagesias bei auf dem Wagen der zum Ge-dicht geworden ist faumlhrt man mit dem Dichter in Richtung Pitanenach Sparta und durch Arkadien zuruumlck nach Olympia entlangden Ufern des Alpheios und entsprechend in die Zeit des sbquoMy-thoslsquo dieser geographische und historische Rundgang kann nur einmetaphorischer sein Er gehoumlrt ins Reich der Dichtung um nichtzu sagen der poetischen Fiktion

15) ματρομάτωρ μ Στυμ-|φαλίς εανθ9ς Μετώπα | πλάξιππον E ΘήβανHτι-|κτεν τ3ς ρατεινν δωρ | πίομαι νδράσιν αIχματα2σι πλέκων | ποικίλονμνον τρυνον νν Kταίρους |ΑIνέα πρτον μ=ν Mραν | Παρθενίαν κελαδNσαι |γνναί τrsquo Hπειτrsquo ρχα2ον νειδος λαθέσιν | λόγοις εI φεύγομεν Βοιωτίαν Pν | σσ0γρ Qγγελος Rρθός | Sϋκόμων σκυτάλα Μοι-|σ3ν γλυκUς κρατ9ρ γαφθέγκτωνοιδ3ν

Claude Ca lame136

3 Enuntiative und pragmatische Polyphonie

Die metaphorische Reiseroute die vom Gedicht als Wagengezeichnet wird betrifft also ebenso den Dichter wie seine Dich-tung dies gilt um so mehr als der Sprecher gegen Ende der Odenicht mehr den jungen Lenker des maumlchtigen Hagesias von Sy-rakus sondern in der Manier des Echos einen gewissen Aineiasadressiert da der Stil dieser Verse so dicht ist (Ol 684ndash91) erweistsich seine Verortung als schwierig15

Meine Ahnmutter ist aus Stymphalosdie wohlbluumlhende Metope

welche die pferdestachelnde Thebe gebar deren liebliches Wasser

ich trinke der ich speerkaumlmpfenden Maumlnnern flechteeinen bunten Hymnos Treib nun die Gefaumlhrten Aineias zuerst Hera

die jungfraumluliche zu besingenum dann zu erkennen ob wir mit wahren Wortendem alten Schimpfwort sbquoboiotische Saulsquo entgehen

Du bist naumlmlich ein rechter BoteBriefstab der schoumlnhaarigen Musen

suumlszliger Mischkrug starktoumlnender Gesaumlnge(Uumlbers Dieter Bremer)

bdquoRechter Boteldquo bdquoBriefstab der schoumlnhaarigen Musenldquo (V 90ndash91)Der junge Mann ist niemand Geringeres als der Repraumlsentant desDichters Ihm ist die Aufgabe uumlberantwortet jetzt (νν) seine Ge-faumlhrten (Kτα2ροι V 87) dazu einzuladen die Goumlttin Hera Partheniazu besingen der in Stymphale in Arkadien gehuldigt wird Im Ver-such der antiken Kommentatoren diese schwierige Passage in dieentsprechende institutionelle Begrifflichkeit zu uumlbertragen heiszligtdas dass es diesem jungen Chorleiter angetragen wird die Cho-

16) Pind Ol 682ndash99 mit Scholion ad V 149a (I S 188 Drachmann) DieRolle des jungen Aineias ist treffend charakterisiert bei Bonifazi (wie Anm 14) 133ndash143 vgl zur Ergaumlnzung die skeptischen Bemerkungen bei M Heath Receiving theKocircmos The Context and Performance of Epinician AJPh 109 1988 180ndash195 undM Lefkowitz The First Person in Pindar Reconsidered ndash Again BIClS 40 1995139ndash150 (mit umfassender Bibliographie) Zur Syntax dieser umstrittenen Passagevgl den nuumltzlichen Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 413ndash415

17) Zu dieser Anspielung auf die Auffuumlhrung des Gedichts in einem Momentder Inspiration und Komposition den die intentionale und sbquoperformativelsquo Form desFuturs mit dem Moment seiner Ausfuumlhrung als Gesangsvortrag korrespondierenlaumlsst siehe besonders G B DrsquoAlessio Past Future and Present Past Temporal Dei-xis in Greek Archaic Lyric Arethusa 37 2004 267ndash294 (289ndash290)

Das poetische Ich 137

reuten zu trainieren die Choreuten werden zum Sprachrohr desDichters jetzt in dem Augenblick der mit der Auffuumlhrung derEpinikie zusammenfaumlllt und an einem Ort den man mit dem ar-kadischen Stymphale identifizieren wollte16

In den Versen nun die dieser Aufforderung an den jungenChorleiter unmittelbar vorausgehen nennt der Sprecher undDich ter sein Vorhaben vom lieblichen Wasser der Quelle Metopezu trinken (πίομαι V 86) und zwar in einer Form des sbquoperforma-tivenlsquo Futurs die den Moment der dichterischen Inspiration mitder Auffuumlhrung der Epinikie zusammenfallen laumlsst17 In einemabermaligen geographisch-genealogischen Rundgang der eineneue Reise in die heroische Zeit des sbquoMythoslsquo darstellt wird of-fenbar dass der Name sbquoMetopelsquo dem Namen einer Nymphe ausStymphale in Arkadien entspricht Ihre Mutter ist niemand ande-res als Thebe und Thebe wiederum ist die eponyme Nymphe vonTheben in Boumlo tien der Heimat des Dichters Vom noch unbe-stimmten Ort der Aussage (eacutenonciation) und des Vortrags des Gedichts sind wir demnach enuntiativ nicht mehr zum Ort derAustragung der Spiele und ihrer Gruumlnder gelangt sondern in eineGegend die benachbart ist dem Ursprungsort der Familie der Iamiden und demnach der Familie des Hagesias wahrscheinlich ineiner Anspielung auf seine Ahnenschaft muumltterlicherseits Dannwerden wir vom Arkadien der Iamiden wiederum nicht an denOrt der Auffuumlhrung sondern an den Ort der Komposition desGedichts geleitet nach Theben in die Heimat Pindars Und in derTat ist es der Inspiration die er bei der Quelle der Metope bdquomei-ner Ahnmutterldquo (V 84) gefunden hat zu verdanken dass der

18) Die Beziehung die der Dichter zwischen seiner Heimat Theben und demStammbaum der Iamiden herstellt ist nachgezeichnet bei L Kurke The Traffic inPraise Pindar and the Poetics of Social Economy Ithaca London 1991 147ndash149ferner Hutchinson (wie Anm 14) 410ndash413 Zu den verschiedenen Metaphern wel-che die dichterische Inspiration mit dem Erguss einer Fluumlssigkeit assoziieren sieheNuumlnlist (wie Anm 11) 195ndash199 (vgl ferner zur Kunst des Webens 110ndash118 sowieJ Scheid J Svenbro Le meacutetier de Zeus Mythe du tissage et du tissu dans le mon-de greacuteco-romain Paris 1994 119ndash130)

19) Vgl Scholia ad V 148a und 148c (I S 187 Drachmann) Vgl dazuV Vigneri Il coro dellrsquoepinicio pindarico negli scholia vetera QUCC 95 2000 87ndash103

20) Ergaumlnzend zu den Ausfuumlhrungen von Lefkovitz (wie Anm 16) sei z Bauf die hervorragenden Bemerkungen bei G B DrsquoAlessio First-Person Problems inPindar BIClS 39 1994 117ndash139 verwiesen

Claude Ca lame138

Dichter seither in einer weiteren in der melischen Dichtung haumlu-fig auftretenden Metapher befaumlhigt ist bdquoeinen bunten Hymnos zuflechtenldquo (πλέκων V 86ndash87)18

Zugunsten dieser zweiten (teilweise impliziten) Ruumlckkehr zuden Orten und Zeiten der sbquomise en discourslsquo und der Auffuumlhrungdes Gedichts wohnen wir dank der abermaligen geographischenund genealogischen (und vom Sprecher als sbquomythischlsquo vorgestell-ten) Reise der subtilen bildreichen und poetischen Entfaltung ei-nes enuntiativen Spiels bei dieses Spiel ist in der melischen Dich-tung haumlufig anzutreffen insbesondere in den Epinikien Pindarsund des Bakchylides Dieses Verfahren der sbquochorischen Delegationlsquolaumlsst in seiner Polyphonie eine Abloumlsung der Stimme des Dichter-Komponisten durch die Stimme der chorischen Gruppe zu die denGesang vortraumlgt Es uumlberrascht daher wenig dass die antikenKommentatoren den jungen Aineias als χοροδιδσκαλος bezeich-nen19 Dieser Leiter des Chors fungiert als Vermittler zwischen derinspirierten Stimme des Sprecher-Ichs und der Chor-Stimme derjungen Saumlnger welche die Auffuumlhrung des Gedichts uumlbernimmtAuf extradiskursiver Ebene wiederum dient Aineias als Vermittlerzwischen dem Autor und Komponisten des Gedichts (in Theben)und der chorischen Gruppe Ausfuumlhrender die in einem rituellenTanz singen (wahrscheinlich in Syrakus) Diese bemerkenswerteenuntiative Polyphonie macht den Streit um die Natur des sbquolyri-schen Ichslsquo in den Epinikien Pindars in vielerlei Hinsicht uumlberfluumls-sig Weder nur sbquomonodischlsquo noch ausschlieszliglich chorisch ist dassbquoIchlsquo sbquoWirlsquo des Sprechers wesentlich polyphon20

21) Zum pejorativen Sinn dieser sprichwoumlrtlichen Wendung unter Einbezugder bdquoPoetik des Tadelsldquo vgl den Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 416ndash417

22) Hier sei auf die verschiedenen Stellen verwiesen die ich in Pragmatiquede la fiction quelques proceacutedures de deixis narrative et eacutenonciative en comparaison(poeacutetique grecque) in J-M Adam U Heidmann (Hrsg) Sciences du texte et ana-lyse de discours Enjeux drsquoune interdisciplinariteacute Lausanne Genegraveve 2005 119ndash143 angefuumlhrt habe zur prozessionalen Dimension des κμος siehe insbesondereK A Morgan Pindar the Professional and the Rhetoric of the kocircmos CPh 88 19931ndash15

23) Vgl die bei Vigneri (wie Anm 19) 97ndash100 angefuumlhrten Stellen sowieC Carey The Victory Ode in Performance The Case for the Chorus CPh 86 1991192ndash200

Das poetische Ich 139

So erklaumlrt sich warum einerseits paradoxerweise der Wunschdem Vorwurf zu entgehen (φεύγομεν V 90) eine bdquoboiotische Sauldquo21

zu sein in der ersten Person Plural gehalten ist der Wunsch beziehtsich nicht nur auf die vom Dichter der Epinikien haumlufig bemuumlhtePoetik der Wahrheit sondern auch auf seinen thebanischen unddemnach boumlotischen Ursprung Andererseits ist es der ChorleiterAineias dem angetragen wird sei es den Musen sei es seinen Cho-reuten zu sagen (εWπον V 92) sie moumlgen sich erinnern und daherzugleich Syrakus und Ortygia hochleben lassen Hinsichtlich derAussage uumlberlagern sich hier durch verschiedene grammatikali-sche wie explizite delegative Bewegungen die Stimme des Dich tersund jene des χοροδιδσκαλος und der chorischen Gruppe

Infolgedessen stuumltzt sich der Uumlbergang von der Metapherzur Realitaumlt der Auffuumlhrung von Pindars Gedicht an seinem Aus-gang nicht mehr auf das Bild des Gespanns sondern auf jenes desκμος (V 98) Bild eines prozessionalen Umzugs wie er bei Pin-dar haumlufig anzutreffen ist22 In den letzten Versen der sechstenOlympischen Ode wird das Gedicht das in seiner Auffuumlhrung be-griffen ist zum prozessionalen Gesang der den siegreichen Ha-gesias aus Syrakus feiert Die antiken Kommentatoren zeigen hierkeine Zuruumlckhaltung κμος und κωμζειν werden regelmaumlszligig alsχορς und χορεXειν erklaumlrt23 In der Tat wird der Tyrann von Sy-rakus Hieron dazu eingeladen den jungen Aristokraten abzu-holen der von dem Ort herkommt wo das Gedicht ihn gelassenhatte in Stymphale Ritueller Empfang anlaumlsslich einer Kultfeier(KορτY V 95) zu Ehren von Demeter und ihrer Tochter Perse-phone die von Aineias gefeiert werden soll wahrscheinlich mit-

24) Die dreifache Ringstruktur die in dieser letzten Ruumlckkehr nach Syrakusendet ist beschrieben bei Froidefond (wie Anm 14) 45ndash48 Zu dieser dichterischenRundreise siehe die glaumlnzende Deutung von S Goldhill The Poetrsquos Voice Essays onPoetics and Greek Literature Cambridge 1991 154ndash166

Claude Ca lame140

hilfe der Musen man wird sich in Erinnerung rufen dass Mutterund Tochter zwei Schutzgottheiten der Stadt sind und dass dieFamilie des Hieron wahrscheinlich das entsprechende Priesteramtinnehatte Durch und in dem prozessionalen Gesang fuumlhrt unsder κμος demnach von Arkadien und spezifisch von Stympha-le unweit der Heimat der Iamiden sowie von Theben der Hei-mat des Dichters hin zum Ort und in die Zeit der Auffuumlhrungdes Gedichts dieser Ort so stellt es sich jetzt heraus ist SyrakusDer abschlieszligende Aufruf zur Gastfreundschaft an den Tyrannenvon Syrakus wie auch eine erste Anspielung zu Beginn des Ge-dichts auf den bdquoMann aus Syrakus den Herrn des Festzugsldquo(V 18) bestaumltigen uumlber den Umweg einer Ringkomposition dassdiese glaumlnzende sizilische Stadt die Auffuumlhrung der von Pindarkomponierten Epinikie erhaumllt24

Ο[κοθεν ο[καδε bdquovon Hause nach Hausldquo (V 99) Gedoppeltdurch eine deiktische Geste die einer bdquoDemonstratio ad oculosldquoentspricht scheint diese letzte raumlumliche Bewegung von der einenHeimat in die andere die doppelte Zugehoumlrigkeit der Familienmit-glieder des Hagesias nachzuvollziehen leiten sie sich einerseits vonden arkadischen Iamiden her sind sie andererseits aber Buumlrger vonSyrakus Wie auch immer ndash diese Bewegung zuruumlck nach Syrakusist geweiht durch die Invokation des Gottes Poseidon zum Ge-dicht-Ende Uumlber die Metapher des Schiffs und seiner beiden An-ker wird der Gott ebenso zum Garanten der doppelten Herkunftdes Hagesias der aus Arkadien und aus Syrakus stammt wie auchder Rundreise des Gedichts in seiner Auffuumlhrung von Thebennach Stymphale nach Syrakus Es ist keineswegs ein Zufall wenndas Gedicht mit der Bitte an den Gemahl der Amphitrite bdquomeineHymnenldquo (V 105) bluumlhen zu lassen schlieszligt finale Ruumlckkehr zurAussageinstanz

Herr Meeresgebieter Gerade Fahrt von Erschoumlpfun-genfern gib Gatte der Amphitrite

25) δέσποτα ποντόμεδον εθUν δ= πλόον καμάτων | κτς όντα δίδοιχρυσαλακάτοιο πόσις | μφιτρίτας μν δrsquo -|μνων Qεξrsquo ετερπ=ς Qνθος

Das poetische Ich 141

der mit der goldenen Spindel und lass meine Hymnenwachsen zu wohlerfreulicher Bluumlte

(Ol 6103ndash105 Uumlbers Dieter Bremer)25

4 Der poetische Apparat der eacutenonciation

Dargestellt als rein metaphorischer Wagen wenn es darum zutun ist mit dem Wettbewerb der vom Kutscher und seinem Ge-spann dargestellt wird die geographische und genealogische Her-kunft (Arkadien und Olympia) der siegreichen Familie nachzu-vollziehen realisiert sich der Gesang zuletzt in seiner chorischenund prozessionalen Identitaumlt im Bilde des κμος aufgefuumlhrt in Sy-rakus fuumlhrt dieses Chorgedicht genealogisch zuruumlck nach Thebenin die Heimat Pindars So fokussiert das doppelte Bild des Ge-spanns und der Prozession die Komposition des Thebaners Pindarim hic et nunc seiner Auffuumlhrung weder in Olympia dem Ort desathletischen Sieges und dem Orakelwesen der Iamiden noch inStymphale dem Ort der Vorfahren muumltterlicherseits des Hagesias(und moumlglicherweise der Heimat des Aineias) noch in Thebender Heimat Pindars und dem Ort an dem das Gedicht geschaffenwurde sondern in Syrakus anlaumlsslich einer kultischen Feier Bleibtdie geographische und genealogische Rundreise die dem sprach -lichen Gespann zugeschrieben wird poetisch und metaphorischso wird jene die als rituelle Prozession vorgestellt ist Realitaumlt nachdem genealogischen Umweg uumlber die Nymphe Thebe und Thebenin Boumlotien stimmen die Zeit und der Ort der narrativen und dis-kursiven Realisierung des Gedichts mit dem sbquoHierlsquo und dem sbquoJetztlsquoseiner Auffuumlhrung uumlberein ndash einem hic et nunc das an der Aus-sageinstanz orientiert ist

Im dichterischen sbquoIchlsquo konvergieren demnach am Ende dergesungenen Komposition die enuntiative Stimme des inspiriertenDichters die Chorstimme der Darsteller des κμος und die Stim-me ihres χοροδιδσκαλος Die bemerkenswerte semantische Aus-dehnung dieses sprachlichen und poetischen sbquoIchslsquo ist wesentlichpolyphon Aber dank der zeitlichen und insbesondere der raumlum -lichen Markierungen die wir bemerkt haben (Syrakus Sparta

26) Damit moumlchte ich dem Prinzip widersprechen auf dem die sbquokritischelsquophilologische Hermeneutik beruht und das immer wieder von Jean Bollack heftigverfochten wird zum Beispiel in seinem juumlngsten Essay Parmeacutenide de lrsquoeacutetant aumonde Lagrasse 2006 11ndash19

Claude Ca lame142

Olympia Arkadien Stymphale Theben) dank der (etwas parado-xen) geographisch-genealogischen Rundreise auch durch die fikti-ven Orte und Zeiten der Gruumlndungsmythenlsquo erhaumllt diese poly-phone Aussageinstanz eine praumlzise extradiskursive Dimension

hinsichtlich sbquoIchlsquo sbquoWirlsquondash Pindar von Theben in seiner Funktion als

inspirierter Dichter und Lehrer der Wahrheitndash Aineias (aus Stymphale) als χοροδιδσκαλοςndash die jungen Choreuten aus Syrakusndash schlieszliglich das Gedicht selbst (objektiviert im

sbquoEslsquo uumlber die Angleichung an das Maultiergespann)hinsichtlich sbquoDulsquo

ndash Hagesias der Arkadier aus Syrakusndash Phintis der Wagenlenker aus Syrakusndash Hieron der Tyrann von Syrakusndash Poseidon der Herr des Meeres

Der polyphonen Komplexitaumlt der Aussageinstanz mit ihrersemantischen Ausdehnung und diskursiven Vielschichtigkeit ent-spricht eine einzigartig ausdifferenzierte bdquofonction-auteurldquo Uumlberdie Metapher des Wagens und uumlber das Bild des κμος als prozes-sionalen und rituellen Gesangs wird sie auf die Auffuumlhrung des Ge-dichts bezogen

Damit haben wir uns weit von der romantischen Auffassungeines sbquolyrischen Ichslsquo entfernt von dem man sich einen unmittel-baren sprachlichen Ausdruck der persoumlnlichen Empfindungen desDichter-Schriftstellers und demnach vom biographischen Dichterverspricht auch weit entfernt von der Intentionalitaumlt eines Dich-ter-Individuums eines autonomen kreativen Subjekts das mit derdichterischen Tradition in die es sich einschreibt gebrochen haumlt-te26 Obwohl er unbestreitbar vorhanden ist wird der Wille derdichterischen Schoumlpfung gefiltert durch eine traditionelle dichte -rische Diktion durch die Regeln der Gattung durch die Erfor-dernisse des rituellen Anlasses durch die Verdopplung in der poe-

Das poetische Ich 143

tischen performance der bdquofonction-auteurldquo durch enuntiativeStrategien dichterischer Ordnung

Besonders im hier gewaumlhlten Beispiel stuumltzt sich das meta-phorische poetische Spiel auf das Gedicht als Objekt in seiner raumlumlichen Verschiebung (was wiederum die Teilnahme am sport-lichen Wettkampf symbolisiert) um dessen Bewegung auf den Ge-sang und den dichterischen und musikalischen Wettkampf zuuumlbertragen der im Gedicht durch ein komplexes enuntiatives Spieldargestellt wird mit diesem Dreh enuntiativer und spazio-tempo-raler Pragmatik wird das Bild des Sieges im Wettkampf auf das hicet nunc der rituellen performance des Gesangs verlagert der von ei-nem polyphonen sbquoIchlsquo auszligergewoumlhnlicher Dichte ausgetragenwird Dieses In-Bewegung-Setzen des Gesangs mittels eines Bildesist zentral in den Gedichten die uns nicht nur konkret in die Zeitund den Raum der sbquomythischenlsquo Gruumlndungsakte einfuumlhren und alspragmatisches kulturelles Gedaumlchtnis fungieren sondern die sichauch uumlber zahlreiche autoreferentielle Interventionen als Ge-sangs-Akte praumlsentieren speech-acts die uumlber enuntiative Bezug-nahmen auf die musikalische Aktivitaumlt die von denjenigen die dasGedicht auffuumlhren ausgeuumlbt wird zu song-acts werden In demMaszlige in dem ihre sbquoDurchfuumlhrunglsquo gewoumlhnlich in eine rituelle Feier fuumlr die Schutzgottheit einer Stadt eingebettet ist sind dieseGesangs-Akte auch cult-acts kultische Handlungen Was die Epi-nikie betrifft so ist ihre religioumlse und politische Aufgabe nicht nurdie Erinnerung an die aristokratische Familie aus welcher der Sie-ger an den panhellenischen Spielen stammt zu bereichern sondernauch das kollektive Gedaumlchtnis des staumldtischen Verbands dem erangehoumlrt lebendig zu erhalten Dies alles vollzieht sich in aus-drucksvollen sprachlichen Bildern die durch den sbquopoetischen Ap-parat der Aussagelsquo des rituellen Gesangs Entfaltung und Wirksam-keit finden

Im archaischen und klassischen Griechenland ist die ars scri-bendi eine ars canendi

Paris Claude Ca lame

Page 12: DAS POETISCHE ICH Enuntiative und ... - rhm.uni-koeln.de · PDF fileder in der ersten Aufsatzsammlung der Problèmes de linguistique générale ... E.Benveniste, Problèmes de linguistique

15) ματρομάτωρ μ Στυμ-|φαλίς εανθ9ς Μετώπα | πλάξιππον E ΘήβανHτι-|κτεν τ3ς ρατεινν δωρ | πίομαι νδράσιν αIχματα2σι πλέκων | ποικίλονμνον τρυνον νν Kταίρους |ΑIνέα πρτον μ=ν Mραν | Παρθενίαν κελαδNσαι |γνναί τrsquo Hπειτrsquo ρχα2ον νειδος λαθέσιν | λόγοις εI φεύγομεν Βοιωτίαν Pν | σσ0γρ Qγγελος Rρθός | Sϋκόμων σκυτάλα Μοι-|σ3ν γλυκUς κρατ9ρ γαφθέγκτωνοιδ3ν

Claude Ca lame136

3 Enuntiative und pragmatische Polyphonie

Die metaphorische Reiseroute die vom Gedicht als Wagengezeichnet wird betrifft also ebenso den Dichter wie seine Dich-tung dies gilt um so mehr als der Sprecher gegen Ende der Odenicht mehr den jungen Lenker des maumlchtigen Hagesias von Sy-rakus sondern in der Manier des Echos einen gewissen Aineiasadressiert da der Stil dieser Verse so dicht ist (Ol 684ndash91) erweistsich seine Verortung als schwierig15

Meine Ahnmutter ist aus Stymphalosdie wohlbluumlhende Metope

welche die pferdestachelnde Thebe gebar deren liebliches Wasser

ich trinke der ich speerkaumlmpfenden Maumlnnern flechteeinen bunten Hymnos Treib nun die Gefaumlhrten Aineias zuerst Hera

die jungfraumluliche zu besingenum dann zu erkennen ob wir mit wahren Wortendem alten Schimpfwort sbquoboiotische Saulsquo entgehen

Du bist naumlmlich ein rechter BoteBriefstab der schoumlnhaarigen Musen

suumlszliger Mischkrug starktoumlnender Gesaumlnge(Uumlbers Dieter Bremer)

bdquoRechter Boteldquo bdquoBriefstab der schoumlnhaarigen Musenldquo (V 90ndash91)Der junge Mann ist niemand Geringeres als der Repraumlsentant desDichters Ihm ist die Aufgabe uumlberantwortet jetzt (νν) seine Ge-faumlhrten (Kτα2ροι V 87) dazu einzuladen die Goumlttin Hera Partheniazu besingen der in Stymphale in Arkadien gehuldigt wird Im Ver-such der antiken Kommentatoren diese schwierige Passage in dieentsprechende institutionelle Begrifflichkeit zu uumlbertragen heiszligtdas dass es diesem jungen Chorleiter angetragen wird die Cho-

16) Pind Ol 682ndash99 mit Scholion ad V 149a (I S 188 Drachmann) DieRolle des jungen Aineias ist treffend charakterisiert bei Bonifazi (wie Anm 14) 133ndash143 vgl zur Ergaumlnzung die skeptischen Bemerkungen bei M Heath Receiving theKocircmos The Context and Performance of Epinician AJPh 109 1988 180ndash195 undM Lefkowitz The First Person in Pindar Reconsidered ndash Again BIClS 40 1995139ndash150 (mit umfassender Bibliographie) Zur Syntax dieser umstrittenen Passagevgl den nuumltzlichen Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 413ndash415

17) Zu dieser Anspielung auf die Auffuumlhrung des Gedichts in einem Momentder Inspiration und Komposition den die intentionale und sbquoperformativelsquo Form desFuturs mit dem Moment seiner Ausfuumlhrung als Gesangsvortrag korrespondierenlaumlsst siehe besonders G B DrsquoAlessio Past Future and Present Past Temporal Dei-xis in Greek Archaic Lyric Arethusa 37 2004 267ndash294 (289ndash290)

Das poetische Ich 137

reuten zu trainieren die Choreuten werden zum Sprachrohr desDichters jetzt in dem Augenblick der mit der Auffuumlhrung derEpinikie zusammenfaumlllt und an einem Ort den man mit dem ar-kadischen Stymphale identifizieren wollte16

In den Versen nun die dieser Aufforderung an den jungenChorleiter unmittelbar vorausgehen nennt der Sprecher undDich ter sein Vorhaben vom lieblichen Wasser der Quelle Metopezu trinken (πίομαι V 86) und zwar in einer Form des sbquoperforma-tivenlsquo Futurs die den Moment der dichterischen Inspiration mitder Auffuumlhrung der Epinikie zusammenfallen laumlsst17 In einemabermaligen geographisch-genealogischen Rundgang der eineneue Reise in die heroische Zeit des sbquoMythoslsquo darstellt wird of-fenbar dass der Name sbquoMetopelsquo dem Namen einer Nymphe ausStymphale in Arkadien entspricht Ihre Mutter ist niemand ande-res als Thebe und Thebe wiederum ist die eponyme Nymphe vonTheben in Boumlo tien der Heimat des Dichters Vom noch unbe-stimmten Ort der Aussage (eacutenonciation) und des Vortrags des Gedichts sind wir demnach enuntiativ nicht mehr zum Ort derAustragung der Spiele und ihrer Gruumlnder gelangt sondern in eineGegend die benachbart ist dem Ursprungsort der Familie der Iamiden und demnach der Familie des Hagesias wahrscheinlich ineiner Anspielung auf seine Ahnenschaft muumltterlicherseits Dannwerden wir vom Arkadien der Iamiden wiederum nicht an denOrt der Auffuumlhrung sondern an den Ort der Komposition desGedichts geleitet nach Theben in die Heimat Pindars Und in derTat ist es der Inspiration die er bei der Quelle der Metope bdquomei-ner Ahnmutterldquo (V 84) gefunden hat zu verdanken dass der

18) Die Beziehung die der Dichter zwischen seiner Heimat Theben und demStammbaum der Iamiden herstellt ist nachgezeichnet bei L Kurke The Traffic inPraise Pindar and the Poetics of Social Economy Ithaca London 1991 147ndash149ferner Hutchinson (wie Anm 14) 410ndash413 Zu den verschiedenen Metaphern wel-che die dichterische Inspiration mit dem Erguss einer Fluumlssigkeit assoziieren sieheNuumlnlist (wie Anm 11) 195ndash199 (vgl ferner zur Kunst des Webens 110ndash118 sowieJ Scheid J Svenbro Le meacutetier de Zeus Mythe du tissage et du tissu dans le mon-de greacuteco-romain Paris 1994 119ndash130)

19) Vgl Scholia ad V 148a und 148c (I S 187 Drachmann) Vgl dazuV Vigneri Il coro dellrsquoepinicio pindarico negli scholia vetera QUCC 95 2000 87ndash103

20) Ergaumlnzend zu den Ausfuumlhrungen von Lefkovitz (wie Anm 16) sei z Bauf die hervorragenden Bemerkungen bei G B DrsquoAlessio First-Person Problems inPindar BIClS 39 1994 117ndash139 verwiesen

Claude Ca lame138

Dichter seither in einer weiteren in der melischen Dichtung haumlu-fig auftretenden Metapher befaumlhigt ist bdquoeinen bunten Hymnos zuflechtenldquo (πλέκων V 86ndash87)18

Zugunsten dieser zweiten (teilweise impliziten) Ruumlckkehr zuden Orten und Zeiten der sbquomise en discourslsquo und der Auffuumlhrungdes Gedichts wohnen wir dank der abermaligen geographischenund genealogischen (und vom Sprecher als sbquomythischlsquo vorgestell-ten) Reise der subtilen bildreichen und poetischen Entfaltung ei-nes enuntiativen Spiels bei dieses Spiel ist in der melischen Dich-tung haumlufig anzutreffen insbesondere in den Epinikien Pindarsund des Bakchylides Dieses Verfahren der sbquochorischen Delegationlsquolaumlsst in seiner Polyphonie eine Abloumlsung der Stimme des Dichter-Komponisten durch die Stimme der chorischen Gruppe zu die denGesang vortraumlgt Es uumlberrascht daher wenig dass die antikenKommentatoren den jungen Aineias als χοροδιδσκαλος bezeich-nen19 Dieser Leiter des Chors fungiert als Vermittler zwischen derinspirierten Stimme des Sprecher-Ichs und der Chor-Stimme derjungen Saumlnger welche die Auffuumlhrung des Gedichts uumlbernimmtAuf extradiskursiver Ebene wiederum dient Aineias als Vermittlerzwischen dem Autor und Komponisten des Gedichts (in Theben)und der chorischen Gruppe Ausfuumlhrender die in einem rituellenTanz singen (wahrscheinlich in Syrakus) Diese bemerkenswerteenuntiative Polyphonie macht den Streit um die Natur des sbquolyri-schen Ichslsquo in den Epinikien Pindars in vielerlei Hinsicht uumlberfluumls-sig Weder nur sbquomonodischlsquo noch ausschlieszliglich chorisch ist dassbquoIchlsquo sbquoWirlsquo des Sprechers wesentlich polyphon20

21) Zum pejorativen Sinn dieser sprichwoumlrtlichen Wendung unter Einbezugder bdquoPoetik des Tadelsldquo vgl den Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 416ndash417

22) Hier sei auf die verschiedenen Stellen verwiesen die ich in Pragmatiquede la fiction quelques proceacutedures de deixis narrative et eacutenonciative en comparaison(poeacutetique grecque) in J-M Adam U Heidmann (Hrsg) Sciences du texte et ana-lyse de discours Enjeux drsquoune interdisciplinariteacute Lausanne Genegraveve 2005 119ndash143 angefuumlhrt habe zur prozessionalen Dimension des κμος siehe insbesondereK A Morgan Pindar the Professional and the Rhetoric of the kocircmos CPh 88 19931ndash15

23) Vgl die bei Vigneri (wie Anm 19) 97ndash100 angefuumlhrten Stellen sowieC Carey The Victory Ode in Performance The Case for the Chorus CPh 86 1991192ndash200

Das poetische Ich 139

So erklaumlrt sich warum einerseits paradoxerweise der Wunschdem Vorwurf zu entgehen (φεύγομεν V 90) eine bdquoboiotische Sauldquo21

zu sein in der ersten Person Plural gehalten ist der Wunsch beziehtsich nicht nur auf die vom Dichter der Epinikien haumlufig bemuumlhtePoetik der Wahrheit sondern auch auf seinen thebanischen unddemnach boumlotischen Ursprung Andererseits ist es der ChorleiterAineias dem angetragen wird sei es den Musen sei es seinen Cho-reuten zu sagen (εWπον V 92) sie moumlgen sich erinnern und daherzugleich Syrakus und Ortygia hochleben lassen Hinsichtlich derAussage uumlberlagern sich hier durch verschiedene grammatikali-sche wie explizite delegative Bewegungen die Stimme des Dich tersund jene des χοροδιδσκαλος und der chorischen Gruppe

Infolgedessen stuumltzt sich der Uumlbergang von der Metapherzur Realitaumlt der Auffuumlhrung von Pindars Gedicht an seinem Aus-gang nicht mehr auf das Bild des Gespanns sondern auf jenes desκμος (V 98) Bild eines prozessionalen Umzugs wie er bei Pin-dar haumlufig anzutreffen ist22 In den letzten Versen der sechstenOlympischen Ode wird das Gedicht das in seiner Auffuumlhrung be-griffen ist zum prozessionalen Gesang der den siegreichen Ha-gesias aus Syrakus feiert Die antiken Kommentatoren zeigen hierkeine Zuruumlckhaltung κμος und κωμζειν werden regelmaumlszligig alsχορς und χορεXειν erklaumlrt23 In der Tat wird der Tyrann von Sy-rakus Hieron dazu eingeladen den jungen Aristokraten abzu-holen der von dem Ort herkommt wo das Gedicht ihn gelassenhatte in Stymphale Ritueller Empfang anlaumlsslich einer Kultfeier(KορτY V 95) zu Ehren von Demeter und ihrer Tochter Perse-phone die von Aineias gefeiert werden soll wahrscheinlich mit-

24) Die dreifache Ringstruktur die in dieser letzten Ruumlckkehr nach Syrakusendet ist beschrieben bei Froidefond (wie Anm 14) 45ndash48 Zu dieser dichterischenRundreise siehe die glaumlnzende Deutung von S Goldhill The Poetrsquos Voice Essays onPoetics and Greek Literature Cambridge 1991 154ndash166

Claude Ca lame140

hilfe der Musen man wird sich in Erinnerung rufen dass Mutterund Tochter zwei Schutzgottheiten der Stadt sind und dass dieFamilie des Hieron wahrscheinlich das entsprechende Priesteramtinnehatte Durch und in dem prozessionalen Gesang fuumlhrt unsder κμος demnach von Arkadien und spezifisch von Stympha-le unweit der Heimat der Iamiden sowie von Theben der Hei-mat des Dichters hin zum Ort und in die Zeit der Auffuumlhrungdes Gedichts dieser Ort so stellt es sich jetzt heraus ist SyrakusDer abschlieszligende Aufruf zur Gastfreundschaft an den Tyrannenvon Syrakus wie auch eine erste Anspielung zu Beginn des Ge-dichts auf den bdquoMann aus Syrakus den Herrn des Festzugsldquo(V 18) bestaumltigen uumlber den Umweg einer Ringkomposition dassdiese glaumlnzende sizilische Stadt die Auffuumlhrung der von Pindarkomponierten Epinikie erhaumllt24

Ο[κοθεν ο[καδε bdquovon Hause nach Hausldquo (V 99) Gedoppeltdurch eine deiktische Geste die einer bdquoDemonstratio ad oculosldquoentspricht scheint diese letzte raumlumliche Bewegung von der einenHeimat in die andere die doppelte Zugehoumlrigkeit der Familienmit-glieder des Hagesias nachzuvollziehen leiten sie sich einerseits vonden arkadischen Iamiden her sind sie andererseits aber Buumlrger vonSyrakus Wie auch immer ndash diese Bewegung zuruumlck nach Syrakusist geweiht durch die Invokation des Gottes Poseidon zum Ge-dicht-Ende Uumlber die Metapher des Schiffs und seiner beiden An-ker wird der Gott ebenso zum Garanten der doppelten Herkunftdes Hagesias der aus Arkadien und aus Syrakus stammt wie auchder Rundreise des Gedichts in seiner Auffuumlhrung von Thebennach Stymphale nach Syrakus Es ist keineswegs ein Zufall wenndas Gedicht mit der Bitte an den Gemahl der Amphitrite bdquomeineHymnenldquo (V 105) bluumlhen zu lassen schlieszligt finale Ruumlckkehr zurAussageinstanz

Herr Meeresgebieter Gerade Fahrt von Erschoumlpfun-genfern gib Gatte der Amphitrite

25) δέσποτα ποντόμεδον εθUν δ= πλόον καμάτων | κτς όντα δίδοιχρυσαλακάτοιο πόσις | μφιτρίτας μν δrsquo -|μνων Qεξrsquo ετερπ=ς Qνθος

Das poetische Ich 141

der mit der goldenen Spindel und lass meine Hymnenwachsen zu wohlerfreulicher Bluumlte

(Ol 6103ndash105 Uumlbers Dieter Bremer)25

4 Der poetische Apparat der eacutenonciation

Dargestellt als rein metaphorischer Wagen wenn es darum zutun ist mit dem Wettbewerb der vom Kutscher und seinem Ge-spann dargestellt wird die geographische und genealogische Her-kunft (Arkadien und Olympia) der siegreichen Familie nachzu-vollziehen realisiert sich der Gesang zuletzt in seiner chorischenund prozessionalen Identitaumlt im Bilde des κμος aufgefuumlhrt in Sy-rakus fuumlhrt dieses Chorgedicht genealogisch zuruumlck nach Thebenin die Heimat Pindars So fokussiert das doppelte Bild des Ge-spanns und der Prozession die Komposition des Thebaners Pindarim hic et nunc seiner Auffuumlhrung weder in Olympia dem Ort desathletischen Sieges und dem Orakelwesen der Iamiden noch inStymphale dem Ort der Vorfahren muumltterlicherseits des Hagesias(und moumlglicherweise der Heimat des Aineias) noch in Thebender Heimat Pindars und dem Ort an dem das Gedicht geschaffenwurde sondern in Syrakus anlaumlsslich einer kultischen Feier Bleibtdie geographische und genealogische Rundreise die dem sprach -lichen Gespann zugeschrieben wird poetisch und metaphorischso wird jene die als rituelle Prozession vorgestellt ist Realitaumlt nachdem genealogischen Umweg uumlber die Nymphe Thebe und Thebenin Boumlotien stimmen die Zeit und der Ort der narrativen und dis-kursiven Realisierung des Gedichts mit dem sbquoHierlsquo und dem sbquoJetztlsquoseiner Auffuumlhrung uumlberein ndash einem hic et nunc das an der Aus-sageinstanz orientiert ist

Im dichterischen sbquoIchlsquo konvergieren demnach am Ende dergesungenen Komposition die enuntiative Stimme des inspiriertenDichters die Chorstimme der Darsteller des κμος und die Stim-me ihres χοροδιδσκαλος Die bemerkenswerte semantische Aus-dehnung dieses sprachlichen und poetischen sbquoIchslsquo ist wesentlichpolyphon Aber dank der zeitlichen und insbesondere der raumlum -lichen Markierungen die wir bemerkt haben (Syrakus Sparta

26) Damit moumlchte ich dem Prinzip widersprechen auf dem die sbquokritischelsquophilologische Hermeneutik beruht und das immer wieder von Jean Bollack heftigverfochten wird zum Beispiel in seinem juumlngsten Essay Parmeacutenide de lrsquoeacutetant aumonde Lagrasse 2006 11ndash19

Claude Ca lame142

Olympia Arkadien Stymphale Theben) dank der (etwas parado-xen) geographisch-genealogischen Rundreise auch durch die fikti-ven Orte und Zeiten der Gruumlndungsmythenlsquo erhaumllt diese poly-phone Aussageinstanz eine praumlzise extradiskursive Dimension

hinsichtlich sbquoIchlsquo sbquoWirlsquondash Pindar von Theben in seiner Funktion als

inspirierter Dichter und Lehrer der Wahrheitndash Aineias (aus Stymphale) als χοροδιδσκαλοςndash die jungen Choreuten aus Syrakusndash schlieszliglich das Gedicht selbst (objektiviert im

sbquoEslsquo uumlber die Angleichung an das Maultiergespann)hinsichtlich sbquoDulsquo

ndash Hagesias der Arkadier aus Syrakusndash Phintis der Wagenlenker aus Syrakusndash Hieron der Tyrann von Syrakusndash Poseidon der Herr des Meeres

Der polyphonen Komplexitaumlt der Aussageinstanz mit ihrersemantischen Ausdehnung und diskursiven Vielschichtigkeit ent-spricht eine einzigartig ausdifferenzierte bdquofonction-auteurldquo Uumlberdie Metapher des Wagens und uumlber das Bild des κμος als prozes-sionalen und rituellen Gesangs wird sie auf die Auffuumlhrung des Ge-dichts bezogen

Damit haben wir uns weit von der romantischen Auffassungeines sbquolyrischen Ichslsquo entfernt von dem man sich einen unmittel-baren sprachlichen Ausdruck der persoumlnlichen Empfindungen desDichter-Schriftstellers und demnach vom biographischen Dichterverspricht auch weit entfernt von der Intentionalitaumlt eines Dich-ter-Individuums eines autonomen kreativen Subjekts das mit derdichterischen Tradition in die es sich einschreibt gebrochen haumlt-te26 Obwohl er unbestreitbar vorhanden ist wird der Wille derdichterischen Schoumlpfung gefiltert durch eine traditionelle dichte -rische Diktion durch die Regeln der Gattung durch die Erfor-dernisse des rituellen Anlasses durch die Verdopplung in der poe-

Das poetische Ich 143

tischen performance der bdquofonction-auteurldquo durch enuntiativeStrategien dichterischer Ordnung

Besonders im hier gewaumlhlten Beispiel stuumltzt sich das meta-phorische poetische Spiel auf das Gedicht als Objekt in seiner raumlumlichen Verschiebung (was wiederum die Teilnahme am sport-lichen Wettkampf symbolisiert) um dessen Bewegung auf den Ge-sang und den dichterischen und musikalischen Wettkampf zuuumlbertragen der im Gedicht durch ein komplexes enuntiatives Spieldargestellt wird mit diesem Dreh enuntiativer und spazio-tempo-raler Pragmatik wird das Bild des Sieges im Wettkampf auf das hicet nunc der rituellen performance des Gesangs verlagert der von ei-nem polyphonen sbquoIchlsquo auszligergewoumlhnlicher Dichte ausgetragenwird Dieses In-Bewegung-Setzen des Gesangs mittels eines Bildesist zentral in den Gedichten die uns nicht nur konkret in die Zeitund den Raum der sbquomythischenlsquo Gruumlndungsakte einfuumlhren und alspragmatisches kulturelles Gedaumlchtnis fungieren sondern die sichauch uumlber zahlreiche autoreferentielle Interventionen als Ge-sangs-Akte praumlsentieren speech-acts die uumlber enuntiative Bezug-nahmen auf die musikalische Aktivitaumlt die von denjenigen die dasGedicht auffuumlhren ausgeuumlbt wird zu song-acts werden In demMaszlige in dem ihre sbquoDurchfuumlhrunglsquo gewoumlhnlich in eine rituelle Feier fuumlr die Schutzgottheit einer Stadt eingebettet ist sind dieseGesangs-Akte auch cult-acts kultische Handlungen Was die Epi-nikie betrifft so ist ihre religioumlse und politische Aufgabe nicht nurdie Erinnerung an die aristokratische Familie aus welcher der Sie-ger an den panhellenischen Spielen stammt zu bereichern sondernauch das kollektive Gedaumlchtnis des staumldtischen Verbands dem erangehoumlrt lebendig zu erhalten Dies alles vollzieht sich in aus-drucksvollen sprachlichen Bildern die durch den sbquopoetischen Ap-parat der Aussagelsquo des rituellen Gesangs Entfaltung und Wirksam-keit finden

Im archaischen und klassischen Griechenland ist die ars scri-bendi eine ars canendi

Paris Claude Ca lame

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16) Pind Ol 682ndash99 mit Scholion ad V 149a (I S 188 Drachmann) DieRolle des jungen Aineias ist treffend charakterisiert bei Bonifazi (wie Anm 14) 133ndash143 vgl zur Ergaumlnzung die skeptischen Bemerkungen bei M Heath Receiving theKocircmos The Context and Performance of Epinician AJPh 109 1988 180ndash195 undM Lefkowitz The First Person in Pindar Reconsidered ndash Again BIClS 40 1995139ndash150 (mit umfassender Bibliographie) Zur Syntax dieser umstrittenen Passagevgl den nuumltzlichen Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 413ndash415

17) Zu dieser Anspielung auf die Auffuumlhrung des Gedichts in einem Momentder Inspiration und Komposition den die intentionale und sbquoperformativelsquo Form desFuturs mit dem Moment seiner Ausfuumlhrung als Gesangsvortrag korrespondierenlaumlsst siehe besonders G B DrsquoAlessio Past Future and Present Past Temporal Dei-xis in Greek Archaic Lyric Arethusa 37 2004 267ndash294 (289ndash290)

Das poetische Ich 137

reuten zu trainieren die Choreuten werden zum Sprachrohr desDichters jetzt in dem Augenblick der mit der Auffuumlhrung derEpinikie zusammenfaumlllt und an einem Ort den man mit dem ar-kadischen Stymphale identifizieren wollte16

In den Versen nun die dieser Aufforderung an den jungenChorleiter unmittelbar vorausgehen nennt der Sprecher undDich ter sein Vorhaben vom lieblichen Wasser der Quelle Metopezu trinken (πίομαι V 86) und zwar in einer Form des sbquoperforma-tivenlsquo Futurs die den Moment der dichterischen Inspiration mitder Auffuumlhrung der Epinikie zusammenfallen laumlsst17 In einemabermaligen geographisch-genealogischen Rundgang der eineneue Reise in die heroische Zeit des sbquoMythoslsquo darstellt wird of-fenbar dass der Name sbquoMetopelsquo dem Namen einer Nymphe ausStymphale in Arkadien entspricht Ihre Mutter ist niemand ande-res als Thebe und Thebe wiederum ist die eponyme Nymphe vonTheben in Boumlo tien der Heimat des Dichters Vom noch unbe-stimmten Ort der Aussage (eacutenonciation) und des Vortrags des Gedichts sind wir demnach enuntiativ nicht mehr zum Ort derAustragung der Spiele und ihrer Gruumlnder gelangt sondern in eineGegend die benachbart ist dem Ursprungsort der Familie der Iamiden und demnach der Familie des Hagesias wahrscheinlich ineiner Anspielung auf seine Ahnenschaft muumltterlicherseits Dannwerden wir vom Arkadien der Iamiden wiederum nicht an denOrt der Auffuumlhrung sondern an den Ort der Komposition desGedichts geleitet nach Theben in die Heimat Pindars Und in derTat ist es der Inspiration die er bei der Quelle der Metope bdquomei-ner Ahnmutterldquo (V 84) gefunden hat zu verdanken dass der

18) Die Beziehung die der Dichter zwischen seiner Heimat Theben und demStammbaum der Iamiden herstellt ist nachgezeichnet bei L Kurke The Traffic inPraise Pindar and the Poetics of Social Economy Ithaca London 1991 147ndash149ferner Hutchinson (wie Anm 14) 410ndash413 Zu den verschiedenen Metaphern wel-che die dichterische Inspiration mit dem Erguss einer Fluumlssigkeit assoziieren sieheNuumlnlist (wie Anm 11) 195ndash199 (vgl ferner zur Kunst des Webens 110ndash118 sowieJ Scheid J Svenbro Le meacutetier de Zeus Mythe du tissage et du tissu dans le mon-de greacuteco-romain Paris 1994 119ndash130)

19) Vgl Scholia ad V 148a und 148c (I S 187 Drachmann) Vgl dazuV Vigneri Il coro dellrsquoepinicio pindarico negli scholia vetera QUCC 95 2000 87ndash103

20) Ergaumlnzend zu den Ausfuumlhrungen von Lefkovitz (wie Anm 16) sei z Bauf die hervorragenden Bemerkungen bei G B DrsquoAlessio First-Person Problems inPindar BIClS 39 1994 117ndash139 verwiesen

Claude Ca lame138

Dichter seither in einer weiteren in der melischen Dichtung haumlu-fig auftretenden Metapher befaumlhigt ist bdquoeinen bunten Hymnos zuflechtenldquo (πλέκων V 86ndash87)18

Zugunsten dieser zweiten (teilweise impliziten) Ruumlckkehr zuden Orten und Zeiten der sbquomise en discourslsquo und der Auffuumlhrungdes Gedichts wohnen wir dank der abermaligen geographischenund genealogischen (und vom Sprecher als sbquomythischlsquo vorgestell-ten) Reise der subtilen bildreichen und poetischen Entfaltung ei-nes enuntiativen Spiels bei dieses Spiel ist in der melischen Dich-tung haumlufig anzutreffen insbesondere in den Epinikien Pindarsund des Bakchylides Dieses Verfahren der sbquochorischen Delegationlsquolaumlsst in seiner Polyphonie eine Abloumlsung der Stimme des Dichter-Komponisten durch die Stimme der chorischen Gruppe zu die denGesang vortraumlgt Es uumlberrascht daher wenig dass die antikenKommentatoren den jungen Aineias als χοροδιδσκαλος bezeich-nen19 Dieser Leiter des Chors fungiert als Vermittler zwischen derinspirierten Stimme des Sprecher-Ichs und der Chor-Stimme derjungen Saumlnger welche die Auffuumlhrung des Gedichts uumlbernimmtAuf extradiskursiver Ebene wiederum dient Aineias als Vermittlerzwischen dem Autor und Komponisten des Gedichts (in Theben)und der chorischen Gruppe Ausfuumlhrender die in einem rituellenTanz singen (wahrscheinlich in Syrakus) Diese bemerkenswerteenuntiative Polyphonie macht den Streit um die Natur des sbquolyri-schen Ichslsquo in den Epinikien Pindars in vielerlei Hinsicht uumlberfluumls-sig Weder nur sbquomonodischlsquo noch ausschlieszliglich chorisch ist dassbquoIchlsquo sbquoWirlsquo des Sprechers wesentlich polyphon20

21) Zum pejorativen Sinn dieser sprichwoumlrtlichen Wendung unter Einbezugder bdquoPoetik des Tadelsldquo vgl den Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 416ndash417

22) Hier sei auf die verschiedenen Stellen verwiesen die ich in Pragmatiquede la fiction quelques proceacutedures de deixis narrative et eacutenonciative en comparaison(poeacutetique grecque) in J-M Adam U Heidmann (Hrsg) Sciences du texte et ana-lyse de discours Enjeux drsquoune interdisciplinariteacute Lausanne Genegraveve 2005 119ndash143 angefuumlhrt habe zur prozessionalen Dimension des κμος siehe insbesondereK A Morgan Pindar the Professional and the Rhetoric of the kocircmos CPh 88 19931ndash15

23) Vgl die bei Vigneri (wie Anm 19) 97ndash100 angefuumlhrten Stellen sowieC Carey The Victory Ode in Performance The Case for the Chorus CPh 86 1991192ndash200

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So erklaumlrt sich warum einerseits paradoxerweise der Wunschdem Vorwurf zu entgehen (φεύγομεν V 90) eine bdquoboiotische Sauldquo21

zu sein in der ersten Person Plural gehalten ist der Wunsch beziehtsich nicht nur auf die vom Dichter der Epinikien haumlufig bemuumlhtePoetik der Wahrheit sondern auch auf seinen thebanischen unddemnach boumlotischen Ursprung Andererseits ist es der ChorleiterAineias dem angetragen wird sei es den Musen sei es seinen Cho-reuten zu sagen (εWπον V 92) sie moumlgen sich erinnern und daherzugleich Syrakus und Ortygia hochleben lassen Hinsichtlich derAussage uumlberlagern sich hier durch verschiedene grammatikali-sche wie explizite delegative Bewegungen die Stimme des Dich tersund jene des χοροδιδσκαλος und der chorischen Gruppe

Infolgedessen stuumltzt sich der Uumlbergang von der Metapherzur Realitaumlt der Auffuumlhrung von Pindars Gedicht an seinem Aus-gang nicht mehr auf das Bild des Gespanns sondern auf jenes desκμος (V 98) Bild eines prozessionalen Umzugs wie er bei Pin-dar haumlufig anzutreffen ist22 In den letzten Versen der sechstenOlympischen Ode wird das Gedicht das in seiner Auffuumlhrung be-griffen ist zum prozessionalen Gesang der den siegreichen Ha-gesias aus Syrakus feiert Die antiken Kommentatoren zeigen hierkeine Zuruumlckhaltung κμος und κωμζειν werden regelmaumlszligig alsχορς und χορεXειν erklaumlrt23 In der Tat wird der Tyrann von Sy-rakus Hieron dazu eingeladen den jungen Aristokraten abzu-holen der von dem Ort herkommt wo das Gedicht ihn gelassenhatte in Stymphale Ritueller Empfang anlaumlsslich einer Kultfeier(KορτY V 95) zu Ehren von Demeter und ihrer Tochter Perse-phone die von Aineias gefeiert werden soll wahrscheinlich mit-

24) Die dreifache Ringstruktur die in dieser letzten Ruumlckkehr nach Syrakusendet ist beschrieben bei Froidefond (wie Anm 14) 45ndash48 Zu dieser dichterischenRundreise siehe die glaumlnzende Deutung von S Goldhill The Poetrsquos Voice Essays onPoetics and Greek Literature Cambridge 1991 154ndash166

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hilfe der Musen man wird sich in Erinnerung rufen dass Mutterund Tochter zwei Schutzgottheiten der Stadt sind und dass dieFamilie des Hieron wahrscheinlich das entsprechende Priesteramtinnehatte Durch und in dem prozessionalen Gesang fuumlhrt unsder κμος demnach von Arkadien und spezifisch von Stympha-le unweit der Heimat der Iamiden sowie von Theben der Hei-mat des Dichters hin zum Ort und in die Zeit der Auffuumlhrungdes Gedichts dieser Ort so stellt es sich jetzt heraus ist SyrakusDer abschlieszligende Aufruf zur Gastfreundschaft an den Tyrannenvon Syrakus wie auch eine erste Anspielung zu Beginn des Ge-dichts auf den bdquoMann aus Syrakus den Herrn des Festzugsldquo(V 18) bestaumltigen uumlber den Umweg einer Ringkomposition dassdiese glaumlnzende sizilische Stadt die Auffuumlhrung der von Pindarkomponierten Epinikie erhaumllt24

Ο[κοθεν ο[καδε bdquovon Hause nach Hausldquo (V 99) Gedoppeltdurch eine deiktische Geste die einer bdquoDemonstratio ad oculosldquoentspricht scheint diese letzte raumlumliche Bewegung von der einenHeimat in die andere die doppelte Zugehoumlrigkeit der Familienmit-glieder des Hagesias nachzuvollziehen leiten sie sich einerseits vonden arkadischen Iamiden her sind sie andererseits aber Buumlrger vonSyrakus Wie auch immer ndash diese Bewegung zuruumlck nach Syrakusist geweiht durch die Invokation des Gottes Poseidon zum Ge-dicht-Ende Uumlber die Metapher des Schiffs und seiner beiden An-ker wird der Gott ebenso zum Garanten der doppelten Herkunftdes Hagesias der aus Arkadien und aus Syrakus stammt wie auchder Rundreise des Gedichts in seiner Auffuumlhrung von Thebennach Stymphale nach Syrakus Es ist keineswegs ein Zufall wenndas Gedicht mit der Bitte an den Gemahl der Amphitrite bdquomeineHymnenldquo (V 105) bluumlhen zu lassen schlieszligt finale Ruumlckkehr zurAussageinstanz

Herr Meeresgebieter Gerade Fahrt von Erschoumlpfun-genfern gib Gatte der Amphitrite

25) δέσποτα ποντόμεδον εθUν δ= πλόον καμάτων | κτς όντα δίδοιχρυσαλακάτοιο πόσις | μφιτρίτας μν δrsquo -|μνων Qεξrsquo ετερπ=ς Qνθος

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der mit der goldenen Spindel und lass meine Hymnenwachsen zu wohlerfreulicher Bluumlte

(Ol 6103ndash105 Uumlbers Dieter Bremer)25

4 Der poetische Apparat der eacutenonciation

Dargestellt als rein metaphorischer Wagen wenn es darum zutun ist mit dem Wettbewerb der vom Kutscher und seinem Ge-spann dargestellt wird die geographische und genealogische Her-kunft (Arkadien und Olympia) der siegreichen Familie nachzu-vollziehen realisiert sich der Gesang zuletzt in seiner chorischenund prozessionalen Identitaumlt im Bilde des κμος aufgefuumlhrt in Sy-rakus fuumlhrt dieses Chorgedicht genealogisch zuruumlck nach Thebenin die Heimat Pindars So fokussiert das doppelte Bild des Ge-spanns und der Prozession die Komposition des Thebaners Pindarim hic et nunc seiner Auffuumlhrung weder in Olympia dem Ort desathletischen Sieges und dem Orakelwesen der Iamiden noch inStymphale dem Ort der Vorfahren muumltterlicherseits des Hagesias(und moumlglicherweise der Heimat des Aineias) noch in Thebender Heimat Pindars und dem Ort an dem das Gedicht geschaffenwurde sondern in Syrakus anlaumlsslich einer kultischen Feier Bleibtdie geographische und genealogische Rundreise die dem sprach -lichen Gespann zugeschrieben wird poetisch und metaphorischso wird jene die als rituelle Prozession vorgestellt ist Realitaumlt nachdem genealogischen Umweg uumlber die Nymphe Thebe und Thebenin Boumlotien stimmen die Zeit und der Ort der narrativen und dis-kursiven Realisierung des Gedichts mit dem sbquoHierlsquo und dem sbquoJetztlsquoseiner Auffuumlhrung uumlberein ndash einem hic et nunc das an der Aus-sageinstanz orientiert ist

Im dichterischen sbquoIchlsquo konvergieren demnach am Ende dergesungenen Komposition die enuntiative Stimme des inspiriertenDichters die Chorstimme der Darsteller des κμος und die Stim-me ihres χοροδιδσκαλος Die bemerkenswerte semantische Aus-dehnung dieses sprachlichen und poetischen sbquoIchslsquo ist wesentlichpolyphon Aber dank der zeitlichen und insbesondere der raumlum -lichen Markierungen die wir bemerkt haben (Syrakus Sparta

26) Damit moumlchte ich dem Prinzip widersprechen auf dem die sbquokritischelsquophilologische Hermeneutik beruht und das immer wieder von Jean Bollack heftigverfochten wird zum Beispiel in seinem juumlngsten Essay Parmeacutenide de lrsquoeacutetant aumonde Lagrasse 2006 11ndash19

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Olympia Arkadien Stymphale Theben) dank der (etwas parado-xen) geographisch-genealogischen Rundreise auch durch die fikti-ven Orte und Zeiten der Gruumlndungsmythenlsquo erhaumllt diese poly-phone Aussageinstanz eine praumlzise extradiskursive Dimension

hinsichtlich sbquoIchlsquo sbquoWirlsquondash Pindar von Theben in seiner Funktion als

inspirierter Dichter und Lehrer der Wahrheitndash Aineias (aus Stymphale) als χοροδιδσκαλοςndash die jungen Choreuten aus Syrakusndash schlieszliglich das Gedicht selbst (objektiviert im

sbquoEslsquo uumlber die Angleichung an das Maultiergespann)hinsichtlich sbquoDulsquo

ndash Hagesias der Arkadier aus Syrakusndash Phintis der Wagenlenker aus Syrakusndash Hieron der Tyrann von Syrakusndash Poseidon der Herr des Meeres

Der polyphonen Komplexitaumlt der Aussageinstanz mit ihrersemantischen Ausdehnung und diskursiven Vielschichtigkeit ent-spricht eine einzigartig ausdifferenzierte bdquofonction-auteurldquo Uumlberdie Metapher des Wagens und uumlber das Bild des κμος als prozes-sionalen und rituellen Gesangs wird sie auf die Auffuumlhrung des Ge-dichts bezogen

Damit haben wir uns weit von der romantischen Auffassungeines sbquolyrischen Ichslsquo entfernt von dem man sich einen unmittel-baren sprachlichen Ausdruck der persoumlnlichen Empfindungen desDichter-Schriftstellers und demnach vom biographischen Dichterverspricht auch weit entfernt von der Intentionalitaumlt eines Dich-ter-Individuums eines autonomen kreativen Subjekts das mit derdichterischen Tradition in die es sich einschreibt gebrochen haumlt-te26 Obwohl er unbestreitbar vorhanden ist wird der Wille derdichterischen Schoumlpfung gefiltert durch eine traditionelle dichte -rische Diktion durch die Regeln der Gattung durch die Erfor-dernisse des rituellen Anlasses durch die Verdopplung in der poe-

Das poetische Ich 143

tischen performance der bdquofonction-auteurldquo durch enuntiativeStrategien dichterischer Ordnung

Besonders im hier gewaumlhlten Beispiel stuumltzt sich das meta-phorische poetische Spiel auf das Gedicht als Objekt in seiner raumlumlichen Verschiebung (was wiederum die Teilnahme am sport-lichen Wettkampf symbolisiert) um dessen Bewegung auf den Ge-sang und den dichterischen und musikalischen Wettkampf zuuumlbertragen der im Gedicht durch ein komplexes enuntiatives Spieldargestellt wird mit diesem Dreh enuntiativer und spazio-tempo-raler Pragmatik wird das Bild des Sieges im Wettkampf auf das hicet nunc der rituellen performance des Gesangs verlagert der von ei-nem polyphonen sbquoIchlsquo auszligergewoumlhnlicher Dichte ausgetragenwird Dieses In-Bewegung-Setzen des Gesangs mittels eines Bildesist zentral in den Gedichten die uns nicht nur konkret in die Zeitund den Raum der sbquomythischenlsquo Gruumlndungsakte einfuumlhren und alspragmatisches kulturelles Gedaumlchtnis fungieren sondern die sichauch uumlber zahlreiche autoreferentielle Interventionen als Ge-sangs-Akte praumlsentieren speech-acts die uumlber enuntiative Bezug-nahmen auf die musikalische Aktivitaumlt die von denjenigen die dasGedicht auffuumlhren ausgeuumlbt wird zu song-acts werden In demMaszlige in dem ihre sbquoDurchfuumlhrunglsquo gewoumlhnlich in eine rituelle Feier fuumlr die Schutzgottheit einer Stadt eingebettet ist sind dieseGesangs-Akte auch cult-acts kultische Handlungen Was die Epi-nikie betrifft so ist ihre religioumlse und politische Aufgabe nicht nurdie Erinnerung an die aristokratische Familie aus welcher der Sie-ger an den panhellenischen Spielen stammt zu bereichern sondernauch das kollektive Gedaumlchtnis des staumldtischen Verbands dem erangehoumlrt lebendig zu erhalten Dies alles vollzieht sich in aus-drucksvollen sprachlichen Bildern die durch den sbquopoetischen Ap-parat der Aussagelsquo des rituellen Gesangs Entfaltung und Wirksam-keit finden

Im archaischen und klassischen Griechenland ist die ars scri-bendi eine ars canendi

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18) Die Beziehung die der Dichter zwischen seiner Heimat Theben und demStammbaum der Iamiden herstellt ist nachgezeichnet bei L Kurke The Traffic inPraise Pindar and the Poetics of Social Economy Ithaca London 1991 147ndash149ferner Hutchinson (wie Anm 14) 410ndash413 Zu den verschiedenen Metaphern wel-che die dichterische Inspiration mit dem Erguss einer Fluumlssigkeit assoziieren sieheNuumlnlist (wie Anm 11) 195ndash199 (vgl ferner zur Kunst des Webens 110ndash118 sowieJ Scheid J Svenbro Le meacutetier de Zeus Mythe du tissage et du tissu dans le mon-de greacuteco-romain Paris 1994 119ndash130)

19) Vgl Scholia ad V 148a und 148c (I S 187 Drachmann) Vgl dazuV Vigneri Il coro dellrsquoepinicio pindarico negli scholia vetera QUCC 95 2000 87ndash103

20) Ergaumlnzend zu den Ausfuumlhrungen von Lefkovitz (wie Anm 16) sei z Bauf die hervorragenden Bemerkungen bei G B DrsquoAlessio First-Person Problems inPindar BIClS 39 1994 117ndash139 verwiesen

Claude Ca lame138

Dichter seither in einer weiteren in der melischen Dichtung haumlu-fig auftretenden Metapher befaumlhigt ist bdquoeinen bunten Hymnos zuflechtenldquo (πλέκων V 86ndash87)18

Zugunsten dieser zweiten (teilweise impliziten) Ruumlckkehr zuden Orten und Zeiten der sbquomise en discourslsquo und der Auffuumlhrungdes Gedichts wohnen wir dank der abermaligen geographischenund genealogischen (und vom Sprecher als sbquomythischlsquo vorgestell-ten) Reise der subtilen bildreichen und poetischen Entfaltung ei-nes enuntiativen Spiels bei dieses Spiel ist in der melischen Dich-tung haumlufig anzutreffen insbesondere in den Epinikien Pindarsund des Bakchylides Dieses Verfahren der sbquochorischen Delegationlsquolaumlsst in seiner Polyphonie eine Abloumlsung der Stimme des Dichter-Komponisten durch die Stimme der chorischen Gruppe zu die denGesang vortraumlgt Es uumlberrascht daher wenig dass die antikenKommentatoren den jungen Aineias als χοροδιδσκαλος bezeich-nen19 Dieser Leiter des Chors fungiert als Vermittler zwischen derinspirierten Stimme des Sprecher-Ichs und der Chor-Stimme derjungen Saumlnger welche die Auffuumlhrung des Gedichts uumlbernimmtAuf extradiskursiver Ebene wiederum dient Aineias als Vermittlerzwischen dem Autor und Komponisten des Gedichts (in Theben)und der chorischen Gruppe Ausfuumlhrender die in einem rituellenTanz singen (wahrscheinlich in Syrakus) Diese bemerkenswerteenuntiative Polyphonie macht den Streit um die Natur des sbquolyri-schen Ichslsquo in den Epinikien Pindars in vielerlei Hinsicht uumlberfluumls-sig Weder nur sbquomonodischlsquo noch ausschlieszliglich chorisch ist dassbquoIchlsquo sbquoWirlsquo des Sprechers wesentlich polyphon20

21) Zum pejorativen Sinn dieser sprichwoumlrtlichen Wendung unter Einbezugder bdquoPoetik des Tadelsldquo vgl den Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 416ndash417

22) Hier sei auf die verschiedenen Stellen verwiesen die ich in Pragmatiquede la fiction quelques proceacutedures de deixis narrative et eacutenonciative en comparaison(poeacutetique grecque) in J-M Adam U Heidmann (Hrsg) Sciences du texte et ana-lyse de discours Enjeux drsquoune interdisciplinariteacute Lausanne Genegraveve 2005 119ndash143 angefuumlhrt habe zur prozessionalen Dimension des κμος siehe insbesondereK A Morgan Pindar the Professional and the Rhetoric of the kocircmos CPh 88 19931ndash15

23) Vgl die bei Vigneri (wie Anm 19) 97ndash100 angefuumlhrten Stellen sowieC Carey The Victory Ode in Performance The Case for the Chorus CPh 86 1991192ndash200

Das poetische Ich 139

So erklaumlrt sich warum einerseits paradoxerweise der Wunschdem Vorwurf zu entgehen (φεύγομεν V 90) eine bdquoboiotische Sauldquo21

zu sein in der ersten Person Plural gehalten ist der Wunsch beziehtsich nicht nur auf die vom Dichter der Epinikien haumlufig bemuumlhtePoetik der Wahrheit sondern auch auf seinen thebanischen unddemnach boumlotischen Ursprung Andererseits ist es der ChorleiterAineias dem angetragen wird sei es den Musen sei es seinen Cho-reuten zu sagen (εWπον V 92) sie moumlgen sich erinnern und daherzugleich Syrakus und Ortygia hochleben lassen Hinsichtlich derAussage uumlberlagern sich hier durch verschiedene grammatikali-sche wie explizite delegative Bewegungen die Stimme des Dich tersund jene des χοροδιδσκαλος und der chorischen Gruppe

Infolgedessen stuumltzt sich der Uumlbergang von der Metapherzur Realitaumlt der Auffuumlhrung von Pindars Gedicht an seinem Aus-gang nicht mehr auf das Bild des Gespanns sondern auf jenes desκμος (V 98) Bild eines prozessionalen Umzugs wie er bei Pin-dar haumlufig anzutreffen ist22 In den letzten Versen der sechstenOlympischen Ode wird das Gedicht das in seiner Auffuumlhrung be-griffen ist zum prozessionalen Gesang der den siegreichen Ha-gesias aus Syrakus feiert Die antiken Kommentatoren zeigen hierkeine Zuruumlckhaltung κμος und κωμζειν werden regelmaumlszligig alsχορς und χορεXειν erklaumlrt23 In der Tat wird der Tyrann von Sy-rakus Hieron dazu eingeladen den jungen Aristokraten abzu-holen der von dem Ort herkommt wo das Gedicht ihn gelassenhatte in Stymphale Ritueller Empfang anlaumlsslich einer Kultfeier(KορτY V 95) zu Ehren von Demeter und ihrer Tochter Perse-phone die von Aineias gefeiert werden soll wahrscheinlich mit-

24) Die dreifache Ringstruktur die in dieser letzten Ruumlckkehr nach Syrakusendet ist beschrieben bei Froidefond (wie Anm 14) 45ndash48 Zu dieser dichterischenRundreise siehe die glaumlnzende Deutung von S Goldhill The Poetrsquos Voice Essays onPoetics and Greek Literature Cambridge 1991 154ndash166

Claude Ca lame140

hilfe der Musen man wird sich in Erinnerung rufen dass Mutterund Tochter zwei Schutzgottheiten der Stadt sind und dass dieFamilie des Hieron wahrscheinlich das entsprechende Priesteramtinnehatte Durch und in dem prozessionalen Gesang fuumlhrt unsder κμος demnach von Arkadien und spezifisch von Stympha-le unweit der Heimat der Iamiden sowie von Theben der Hei-mat des Dichters hin zum Ort und in die Zeit der Auffuumlhrungdes Gedichts dieser Ort so stellt es sich jetzt heraus ist SyrakusDer abschlieszligende Aufruf zur Gastfreundschaft an den Tyrannenvon Syrakus wie auch eine erste Anspielung zu Beginn des Ge-dichts auf den bdquoMann aus Syrakus den Herrn des Festzugsldquo(V 18) bestaumltigen uumlber den Umweg einer Ringkomposition dassdiese glaumlnzende sizilische Stadt die Auffuumlhrung der von Pindarkomponierten Epinikie erhaumllt24

Ο[κοθεν ο[καδε bdquovon Hause nach Hausldquo (V 99) Gedoppeltdurch eine deiktische Geste die einer bdquoDemonstratio ad oculosldquoentspricht scheint diese letzte raumlumliche Bewegung von der einenHeimat in die andere die doppelte Zugehoumlrigkeit der Familienmit-glieder des Hagesias nachzuvollziehen leiten sie sich einerseits vonden arkadischen Iamiden her sind sie andererseits aber Buumlrger vonSyrakus Wie auch immer ndash diese Bewegung zuruumlck nach Syrakusist geweiht durch die Invokation des Gottes Poseidon zum Ge-dicht-Ende Uumlber die Metapher des Schiffs und seiner beiden An-ker wird der Gott ebenso zum Garanten der doppelten Herkunftdes Hagesias der aus Arkadien und aus Syrakus stammt wie auchder Rundreise des Gedichts in seiner Auffuumlhrung von Thebennach Stymphale nach Syrakus Es ist keineswegs ein Zufall wenndas Gedicht mit der Bitte an den Gemahl der Amphitrite bdquomeineHymnenldquo (V 105) bluumlhen zu lassen schlieszligt finale Ruumlckkehr zurAussageinstanz

Herr Meeresgebieter Gerade Fahrt von Erschoumlpfun-genfern gib Gatte der Amphitrite

25) δέσποτα ποντόμεδον εθUν δ= πλόον καμάτων | κτς όντα δίδοιχρυσαλακάτοιο πόσις | μφιτρίτας μν δrsquo -|μνων Qεξrsquo ετερπ=ς Qνθος

Das poetische Ich 141

der mit der goldenen Spindel und lass meine Hymnenwachsen zu wohlerfreulicher Bluumlte

(Ol 6103ndash105 Uumlbers Dieter Bremer)25

4 Der poetische Apparat der eacutenonciation

Dargestellt als rein metaphorischer Wagen wenn es darum zutun ist mit dem Wettbewerb der vom Kutscher und seinem Ge-spann dargestellt wird die geographische und genealogische Her-kunft (Arkadien und Olympia) der siegreichen Familie nachzu-vollziehen realisiert sich der Gesang zuletzt in seiner chorischenund prozessionalen Identitaumlt im Bilde des κμος aufgefuumlhrt in Sy-rakus fuumlhrt dieses Chorgedicht genealogisch zuruumlck nach Thebenin die Heimat Pindars So fokussiert das doppelte Bild des Ge-spanns und der Prozession die Komposition des Thebaners Pindarim hic et nunc seiner Auffuumlhrung weder in Olympia dem Ort desathletischen Sieges und dem Orakelwesen der Iamiden noch inStymphale dem Ort der Vorfahren muumltterlicherseits des Hagesias(und moumlglicherweise der Heimat des Aineias) noch in Thebender Heimat Pindars und dem Ort an dem das Gedicht geschaffenwurde sondern in Syrakus anlaumlsslich einer kultischen Feier Bleibtdie geographische und genealogische Rundreise die dem sprach -lichen Gespann zugeschrieben wird poetisch und metaphorischso wird jene die als rituelle Prozession vorgestellt ist Realitaumlt nachdem genealogischen Umweg uumlber die Nymphe Thebe und Thebenin Boumlotien stimmen die Zeit und der Ort der narrativen und dis-kursiven Realisierung des Gedichts mit dem sbquoHierlsquo und dem sbquoJetztlsquoseiner Auffuumlhrung uumlberein ndash einem hic et nunc das an der Aus-sageinstanz orientiert ist

Im dichterischen sbquoIchlsquo konvergieren demnach am Ende dergesungenen Komposition die enuntiative Stimme des inspiriertenDichters die Chorstimme der Darsteller des κμος und die Stim-me ihres χοροδιδσκαλος Die bemerkenswerte semantische Aus-dehnung dieses sprachlichen und poetischen sbquoIchslsquo ist wesentlichpolyphon Aber dank der zeitlichen und insbesondere der raumlum -lichen Markierungen die wir bemerkt haben (Syrakus Sparta

26) Damit moumlchte ich dem Prinzip widersprechen auf dem die sbquokritischelsquophilologische Hermeneutik beruht und das immer wieder von Jean Bollack heftigverfochten wird zum Beispiel in seinem juumlngsten Essay Parmeacutenide de lrsquoeacutetant aumonde Lagrasse 2006 11ndash19

Claude Ca lame142

Olympia Arkadien Stymphale Theben) dank der (etwas parado-xen) geographisch-genealogischen Rundreise auch durch die fikti-ven Orte und Zeiten der Gruumlndungsmythenlsquo erhaumllt diese poly-phone Aussageinstanz eine praumlzise extradiskursive Dimension

hinsichtlich sbquoIchlsquo sbquoWirlsquondash Pindar von Theben in seiner Funktion als

inspirierter Dichter und Lehrer der Wahrheitndash Aineias (aus Stymphale) als χοροδιδσκαλοςndash die jungen Choreuten aus Syrakusndash schlieszliglich das Gedicht selbst (objektiviert im

sbquoEslsquo uumlber die Angleichung an das Maultiergespann)hinsichtlich sbquoDulsquo

ndash Hagesias der Arkadier aus Syrakusndash Phintis der Wagenlenker aus Syrakusndash Hieron der Tyrann von Syrakusndash Poseidon der Herr des Meeres

Der polyphonen Komplexitaumlt der Aussageinstanz mit ihrersemantischen Ausdehnung und diskursiven Vielschichtigkeit ent-spricht eine einzigartig ausdifferenzierte bdquofonction-auteurldquo Uumlberdie Metapher des Wagens und uumlber das Bild des κμος als prozes-sionalen und rituellen Gesangs wird sie auf die Auffuumlhrung des Ge-dichts bezogen

Damit haben wir uns weit von der romantischen Auffassungeines sbquolyrischen Ichslsquo entfernt von dem man sich einen unmittel-baren sprachlichen Ausdruck der persoumlnlichen Empfindungen desDichter-Schriftstellers und demnach vom biographischen Dichterverspricht auch weit entfernt von der Intentionalitaumlt eines Dich-ter-Individuums eines autonomen kreativen Subjekts das mit derdichterischen Tradition in die es sich einschreibt gebrochen haumlt-te26 Obwohl er unbestreitbar vorhanden ist wird der Wille derdichterischen Schoumlpfung gefiltert durch eine traditionelle dichte -rische Diktion durch die Regeln der Gattung durch die Erfor-dernisse des rituellen Anlasses durch die Verdopplung in der poe-

Das poetische Ich 143

tischen performance der bdquofonction-auteurldquo durch enuntiativeStrategien dichterischer Ordnung

Besonders im hier gewaumlhlten Beispiel stuumltzt sich das meta-phorische poetische Spiel auf das Gedicht als Objekt in seiner raumlumlichen Verschiebung (was wiederum die Teilnahme am sport-lichen Wettkampf symbolisiert) um dessen Bewegung auf den Ge-sang und den dichterischen und musikalischen Wettkampf zuuumlbertragen der im Gedicht durch ein komplexes enuntiatives Spieldargestellt wird mit diesem Dreh enuntiativer und spazio-tempo-raler Pragmatik wird das Bild des Sieges im Wettkampf auf das hicet nunc der rituellen performance des Gesangs verlagert der von ei-nem polyphonen sbquoIchlsquo auszligergewoumlhnlicher Dichte ausgetragenwird Dieses In-Bewegung-Setzen des Gesangs mittels eines Bildesist zentral in den Gedichten die uns nicht nur konkret in die Zeitund den Raum der sbquomythischenlsquo Gruumlndungsakte einfuumlhren und alspragmatisches kulturelles Gedaumlchtnis fungieren sondern die sichauch uumlber zahlreiche autoreferentielle Interventionen als Ge-sangs-Akte praumlsentieren speech-acts die uumlber enuntiative Bezug-nahmen auf die musikalische Aktivitaumlt die von denjenigen die dasGedicht auffuumlhren ausgeuumlbt wird zu song-acts werden In demMaszlige in dem ihre sbquoDurchfuumlhrunglsquo gewoumlhnlich in eine rituelle Feier fuumlr die Schutzgottheit einer Stadt eingebettet ist sind dieseGesangs-Akte auch cult-acts kultische Handlungen Was die Epi-nikie betrifft so ist ihre religioumlse und politische Aufgabe nicht nurdie Erinnerung an die aristokratische Familie aus welcher der Sie-ger an den panhellenischen Spielen stammt zu bereichern sondernauch das kollektive Gedaumlchtnis des staumldtischen Verbands dem erangehoumlrt lebendig zu erhalten Dies alles vollzieht sich in aus-drucksvollen sprachlichen Bildern die durch den sbquopoetischen Ap-parat der Aussagelsquo des rituellen Gesangs Entfaltung und Wirksam-keit finden

Im archaischen und klassischen Griechenland ist die ars scri-bendi eine ars canendi

Paris Claude Ca lame

Page 15: DAS POETISCHE ICH Enuntiative und ... - rhm.uni-koeln.de · PDF fileder in der ersten Aufsatzsammlung der Problèmes de linguistique générale ... E.Benveniste, Problèmes de linguistique

21) Zum pejorativen Sinn dieser sprichwoumlrtlichen Wendung unter Einbezugder bdquoPoetik des Tadelsldquo vgl den Kommentar von Hutchinson (wie Anm 14) 416ndash417

22) Hier sei auf die verschiedenen Stellen verwiesen die ich in Pragmatiquede la fiction quelques proceacutedures de deixis narrative et eacutenonciative en comparaison(poeacutetique grecque) in J-M Adam U Heidmann (Hrsg) Sciences du texte et ana-lyse de discours Enjeux drsquoune interdisciplinariteacute Lausanne Genegraveve 2005 119ndash143 angefuumlhrt habe zur prozessionalen Dimension des κμος siehe insbesondereK A Morgan Pindar the Professional and the Rhetoric of the kocircmos CPh 88 19931ndash15

23) Vgl die bei Vigneri (wie Anm 19) 97ndash100 angefuumlhrten Stellen sowieC Carey The Victory Ode in Performance The Case for the Chorus CPh 86 1991192ndash200

Das poetische Ich 139

So erklaumlrt sich warum einerseits paradoxerweise der Wunschdem Vorwurf zu entgehen (φεύγομεν V 90) eine bdquoboiotische Sauldquo21

zu sein in der ersten Person Plural gehalten ist der Wunsch beziehtsich nicht nur auf die vom Dichter der Epinikien haumlufig bemuumlhtePoetik der Wahrheit sondern auch auf seinen thebanischen unddemnach boumlotischen Ursprung Andererseits ist es der ChorleiterAineias dem angetragen wird sei es den Musen sei es seinen Cho-reuten zu sagen (εWπον V 92) sie moumlgen sich erinnern und daherzugleich Syrakus und Ortygia hochleben lassen Hinsichtlich derAussage uumlberlagern sich hier durch verschiedene grammatikali-sche wie explizite delegative Bewegungen die Stimme des Dich tersund jene des χοροδιδσκαλος und der chorischen Gruppe

Infolgedessen stuumltzt sich der Uumlbergang von der Metapherzur Realitaumlt der Auffuumlhrung von Pindars Gedicht an seinem Aus-gang nicht mehr auf das Bild des Gespanns sondern auf jenes desκμος (V 98) Bild eines prozessionalen Umzugs wie er bei Pin-dar haumlufig anzutreffen ist22 In den letzten Versen der sechstenOlympischen Ode wird das Gedicht das in seiner Auffuumlhrung be-griffen ist zum prozessionalen Gesang der den siegreichen Ha-gesias aus Syrakus feiert Die antiken Kommentatoren zeigen hierkeine Zuruumlckhaltung κμος und κωμζειν werden regelmaumlszligig alsχορς und χορεXειν erklaumlrt23 In der Tat wird der Tyrann von Sy-rakus Hieron dazu eingeladen den jungen Aristokraten abzu-holen der von dem Ort herkommt wo das Gedicht ihn gelassenhatte in Stymphale Ritueller Empfang anlaumlsslich einer Kultfeier(KορτY V 95) zu Ehren von Demeter und ihrer Tochter Perse-phone die von Aineias gefeiert werden soll wahrscheinlich mit-

24) Die dreifache Ringstruktur die in dieser letzten Ruumlckkehr nach Syrakusendet ist beschrieben bei Froidefond (wie Anm 14) 45ndash48 Zu dieser dichterischenRundreise siehe die glaumlnzende Deutung von S Goldhill The Poetrsquos Voice Essays onPoetics and Greek Literature Cambridge 1991 154ndash166

Claude Ca lame140

hilfe der Musen man wird sich in Erinnerung rufen dass Mutterund Tochter zwei Schutzgottheiten der Stadt sind und dass dieFamilie des Hieron wahrscheinlich das entsprechende Priesteramtinnehatte Durch und in dem prozessionalen Gesang fuumlhrt unsder κμος demnach von Arkadien und spezifisch von Stympha-le unweit der Heimat der Iamiden sowie von Theben der Hei-mat des Dichters hin zum Ort und in die Zeit der Auffuumlhrungdes Gedichts dieser Ort so stellt es sich jetzt heraus ist SyrakusDer abschlieszligende Aufruf zur Gastfreundschaft an den Tyrannenvon Syrakus wie auch eine erste Anspielung zu Beginn des Ge-dichts auf den bdquoMann aus Syrakus den Herrn des Festzugsldquo(V 18) bestaumltigen uumlber den Umweg einer Ringkomposition dassdiese glaumlnzende sizilische Stadt die Auffuumlhrung der von Pindarkomponierten Epinikie erhaumllt24

Ο[κοθεν ο[καδε bdquovon Hause nach Hausldquo (V 99) Gedoppeltdurch eine deiktische Geste die einer bdquoDemonstratio ad oculosldquoentspricht scheint diese letzte raumlumliche Bewegung von der einenHeimat in die andere die doppelte Zugehoumlrigkeit der Familienmit-glieder des Hagesias nachzuvollziehen leiten sie sich einerseits vonden arkadischen Iamiden her sind sie andererseits aber Buumlrger vonSyrakus Wie auch immer ndash diese Bewegung zuruumlck nach Syrakusist geweiht durch die Invokation des Gottes Poseidon zum Ge-dicht-Ende Uumlber die Metapher des Schiffs und seiner beiden An-ker wird der Gott ebenso zum Garanten der doppelten Herkunftdes Hagesias der aus Arkadien und aus Syrakus stammt wie auchder Rundreise des Gedichts in seiner Auffuumlhrung von Thebennach Stymphale nach Syrakus Es ist keineswegs ein Zufall wenndas Gedicht mit der Bitte an den Gemahl der Amphitrite bdquomeineHymnenldquo (V 105) bluumlhen zu lassen schlieszligt finale Ruumlckkehr zurAussageinstanz

Herr Meeresgebieter Gerade Fahrt von Erschoumlpfun-genfern gib Gatte der Amphitrite

25) δέσποτα ποντόμεδον εθUν δ= πλόον καμάτων | κτς όντα δίδοιχρυσαλακάτοιο πόσις | μφιτρίτας μν δrsquo -|μνων Qεξrsquo ετερπ=ς Qνθος

Das poetische Ich 141

der mit der goldenen Spindel und lass meine Hymnenwachsen zu wohlerfreulicher Bluumlte

(Ol 6103ndash105 Uumlbers Dieter Bremer)25

4 Der poetische Apparat der eacutenonciation

Dargestellt als rein metaphorischer Wagen wenn es darum zutun ist mit dem Wettbewerb der vom Kutscher und seinem Ge-spann dargestellt wird die geographische und genealogische Her-kunft (Arkadien und Olympia) der siegreichen Familie nachzu-vollziehen realisiert sich der Gesang zuletzt in seiner chorischenund prozessionalen Identitaumlt im Bilde des κμος aufgefuumlhrt in Sy-rakus fuumlhrt dieses Chorgedicht genealogisch zuruumlck nach Thebenin die Heimat Pindars So fokussiert das doppelte Bild des Ge-spanns und der Prozession die Komposition des Thebaners Pindarim hic et nunc seiner Auffuumlhrung weder in Olympia dem Ort desathletischen Sieges und dem Orakelwesen der Iamiden noch inStymphale dem Ort der Vorfahren muumltterlicherseits des Hagesias(und moumlglicherweise der Heimat des Aineias) noch in Thebender Heimat Pindars und dem Ort an dem das Gedicht geschaffenwurde sondern in Syrakus anlaumlsslich einer kultischen Feier Bleibtdie geographische und genealogische Rundreise die dem sprach -lichen Gespann zugeschrieben wird poetisch und metaphorischso wird jene die als rituelle Prozession vorgestellt ist Realitaumlt nachdem genealogischen Umweg uumlber die Nymphe Thebe und Thebenin Boumlotien stimmen die Zeit und der Ort der narrativen und dis-kursiven Realisierung des Gedichts mit dem sbquoHierlsquo und dem sbquoJetztlsquoseiner Auffuumlhrung uumlberein ndash einem hic et nunc das an der Aus-sageinstanz orientiert ist

Im dichterischen sbquoIchlsquo konvergieren demnach am Ende dergesungenen Komposition die enuntiative Stimme des inspiriertenDichters die Chorstimme der Darsteller des κμος und die Stim-me ihres χοροδιδσκαλος Die bemerkenswerte semantische Aus-dehnung dieses sprachlichen und poetischen sbquoIchslsquo ist wesentlichpolyphon Aber dank der zeitlichen und insbesondere der raumlum -lichen Markierungen die wir bemerkt haben (Syrakus Sparta

26) Damit moumlchte ich dem Prinzip widersprechen auf dem die sbquokritischelsquophilologische Hermeneutik beruht und das immer wieder von Jean Bollack heftigverfochten wird zum Beispiel in seinem juumlngsten Essay Parmeacutenide de lrsquoeacutetant aumonde Lagrasse 2006 11ndash19

Claude Ca lame142

Olympia Arkadien Stymphale Theben) dank der (etwas parado-xen) geographisch-genealogischen Rundreise auch durch die fikti-ven Orte und Zeiten der Gruumlndungsmythenlsquo erhaumllt diese poly-phone Aussageinstanz eine praumlzise extradiskursive Dimension

hinsichtlich sbquoIchlsquo sbquoWirlsquondash Pindar von Theben in seiner Funktion als

inspirierter Dichter und Lehrer der Wahrheitndash Aineias (aus Stymphale) als χοροδιδσκαλοςndash die jungen Choreuten aus Syrakusndash schlieszliglich das Gedicht selbst (objektiviert im

sbquoEslsquo uumlber die Angleichung an das Maultiergespann)hinsichtlich sbquoDulsquo

ndash Hagesias der Arkadier aus Syrakusndash Phintis der Wagenlenker aus Syrakusndash Hieron der Tyrann von Syrakusndash Poseidon der Herr des Meeres

Der polyphonen Komplexitaumlt der Aussageinstanz mit ihrersemantischen Ausdehnung und diskursiven Vielschichtigkeit ent-spricht eine einzigartig ausdifferenzierte bdquofonction-auteurldquo Uumlberdie Metapher des Wagens und uumlber das Bild des κμος als prozes-sionalen und rituellen Gesangs wird sie auf die Auffuumlhrung des Ge-dichts bezogen

Damit haben wir uns weit von der romantischen Auffassungeines sbquolyrischen Ichslsquo entfernt von dem man sich einen unmittel-baren sprachlichen Ausdruck der persoumlnlichen Empfindungen desDichter-Schriftstellers und demnach vom biographischen Dichterverspricht auch weit entfernt von der Intentionalitaumlt eines Dich-ter-Individuums eines autonomen kreativen Subjekts das mit derdichterischen Tradition in die es sich einschreibt gebrochen haumlt-te26 Obwohl er unbestreitbar vorhanden ist wird der Wille derdichterischen Schoumlpfung gefiltert durch eine traditionelle dichte -rische Diktion durch die Regeln der Gattung durch die Erfor-dernisse des rituellen Anlasses durch die Verdopplung in der poe-

Das poetische Ich 143

tischen performance der bdquofonction-auteurldquo durch enuntiativeStrategien dichterischer Ordnung

Besonders im hier gewaumlhlten Beispiel stuumltzt sich das meta-phorische poetische Spiel auf das Gedicht als Objekt in seiner raumlumlichen Verschiebung (was wiederum die Teilnahme am sport-lichen Wettkampf symbolisiert) um dessen Bewegung auf den Ge-sang und den dichterischen und musikalischen Wettkampf zuuumlbertragen der im Gedicht durch ein komplexes enuntiatives Spieldargestellt wird mit diesem Dreh enuntiativer und spazio-tempo-raler Pragmatik wird das Bild des Sieges im Wettkampf auf das hicet nunc der rituellen performance des Gesangs verlagert der von ei-nem polyphonen sbquoIchlsquo auszligergewoumlhnlicher Dichte ausgetragenwird Dieses In-Bewegung-Setzen des Gesangs mittels eines Bildesist zentral in den Gedichten die uns nicht nur konkret in die Zeitund den Raum der sbquomythischenlsquo Gruumlndungsakte einfuumlhren und alspragmatisches kulturelles Gedaumlchtnis fungieren sondern die sichauch uumlber zahlreiche autoreferentielle Interventionen als Ge-sangs-Akte praumlsentieren speech-acts die uumlber enuntiative Bezug-nahmen auf die musikalische Aktivitaumlt die von denjenigen die dasGedicht auffuumlhren ausgeuumlbt wird zu song-acts werden In demMaszlige in dem ihre sbquoDurchfuumlhrunglsquo gewoumlhnlich in eine rituelle Feier fuumlr die Schutzgottheit einer Stadt eingebettet ist sind dieseGesangs-Akte auch cult-acts kultische Handlungen Was die Epi-nikie betrifft so ist ihre religioumlse und politische Aufgabe nicht nurdie Erinnerung an die aristokratische Familie aus welcher der Sie-ger an den panhellenischen Spielen stammt zu bereichern sondernauch das kollektive Gedaumlchtnis des staumldtischen Verbands dem erangehoumlrt lebendig zu erhalten Dies alles vollzieht sich in aus-drucksvollen sprachlichen Bildern die durch den sbquopoetischen Ap-parat der Aussagelsquo des rituellen Gesangs Entfaltung und Wirksam-keit finden

Im archaischen und klassischen Griechenland ist die ars scri-bendi eine ars canendi

Paris Claude Ca lame

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24) Die dreifache Ringstruktur die in dieser letzten Ruumlckkehr nach Syrakusendet ist beschrieben bei Froidefond (wie Anm 14) 45ndash48 Zu dieser dichterischenRundreise siehe die glaumlnzende Deutung von S Goldhill The Poetrsquos Voice Essays onPoetics and Greek Literature Cambridge 1991 154ndash166

Claude Ca lame140

hilfe der Musen man wird sich in Erinnerung rufen dass Mutterund Tochter zwei Schutzgottheiten der Stadt sind und dass dieFamilie des Hieron wahrscheinlich das entsprechende Priesteramtinnehatte Durch und in dem prozessionalen Gesang fuumlhrt unsder κμος demnach von Arkadien und spezifisch von Stympha-le unweit der Heimat der Iamiden sowie von Theben der Hei-mat des Dichters hin zum Ort und in die Zeit der Auffuumlhrungdes Gedichts dieser Ort so stellt es sich jetzt heraus ist SyrakusDer abschlieszligende Aufruf zur Gastfreundschaft an den Tyrannenvon Syrakus wie auch eine erste Anspielung zu Beginn des Ge-dichts auf den bdquoMann aus Syrakus den Herrn des Festzugsldquo(V 18) bestaumltigen uumlber den Umweg einer Ringkomposition dassdiese glaumlnzende sizilische Stadt die Auffuumlhrung der von Pindarkomponierten Epinikie erhaumllt24

Ο[κοθεν ο[καδε bdquovon Hause nach Hausldquo (V 99) Gedoppeltdurch eine deiktische Geste die einer bdquoDemonstratio ad oculosldquoentspricht scheint diese letzte raumlumliche Bewegung von der einenHeimat in die andere die doppelte Zugehoumlrigkeit der Familienmit-glieder des Hagesias nachzuvollziehen leiten sie sich einerseits vonden arkadischen Iamiden her sind sie andererseits aber Buumlrger vonSyrakus Wie auch immer ndash diese Bewegung zuruumlck nach Syrakusist geweiht durch die Invokation des Gottes Poseidon zum Ge-dicht-Ende Uumlber die Metapher des Schiffs und seiner beiden An-ker wird der Gott ebenso zum Garanten der doppelten Herkunftdes Hagesias der aus Arkadien und aus Syrakus stammt wie auchder Rundreise des Gedichts in seiner Auffuumlhrung von Thebennach Stymphale nach Syrakus Es ist keineswegs ein Zufall wenndas Gedicht mit der Bitte an den Gemahl der Amphitrite bdquomeineHymnenldquo (V 105) bluumlhen zu lassen schlieszligt finale Ruumlckkehr zurAussageinstanz

Herr Meeresgebieter Gerade Fahrt von Erschoumlpfun-genfern gib Gatte der Amphitrite

25) δέσποτα ποντόμεδον εθUν δ= πλόον καμάτων | κτς όντα δίδοιχρυσαλακάτοιο πόσις | μφιτρίτας μν δrsquo -|μνων Qεξrsquo ετερπ=ς Qνθος

Das poetische Ich 141

der mit der goldenen Spindel und lass meine Hymnenwachsen zu wohlerfreulicher Bluumlte

(Ol 6103ndash105 Uumlbers Dieter Bremer)25

4 Der poetische Apparat der eacutenonciation

Dargestellt als rein metaphorischer Wagen wenn es darum zutun ist mit dem Wettbewerb der vom Kutscher und seinem Ge-spann dargestellt wird die geographische und genealogische Her-kunft (Arkadien und Olympia) der siegreichen Familie nachzu-vollziehen realisiert sich der Gesang zuletzt in seiner chorischenund prozessionalen Identitaumlt im Bilde des κμος aufgefuumlhrt in Sy-rakus fuumlhrt dieses Chorgedicht genealogisch zuruumlck nach Thebenin die Heimat Pindars So fokussiert das doppelte Bild des Ge-spanns und der Prozession die Komposition des Thebaners Pindarim hic et nunc seiner Auffuumlhrung weder in Olympia dem Ort desathletischen Sieges und dem Orakelwesen der Iamiden noch inStymphale dem Ort der Vorfahren muumltterlicherseits des Hagesias(und moumlglicherweise der Heimat des Aineias) noch in Thebender Heimat Pindars und dem Ort an dem das Gedicht geschaffenwurde sondern in Syrakus anlaumlsslich einer kultischen Feier Bleibtdie geographische und genealogische Rundreise die dem sprach -lichen Gespann zugeschrieben wird poetisch und metaphorischso wird jene die als rituelle Prozession vorgestellt ist Realitaumlt nachdem genealogischen Umweg uumlber die Nymphe Thebe und Thebenin Boumlotien stimmen die Zeit und der Ort der narrativen und dis-kursiven Realisierung des Gedichts mit dem sbquoHierlsquo und dem sbquoJetztlsquoseiner Auffuumlhrung uumlberein ndash einem hic et nunc das an der Aus-sageinstanz orientiert ist

Im dichterischen sbquoIchlsquo konvergieren demnach am Ende dergesungenen Komposition die enuntiative Stimme des inspiriertenDichters die Chorstimme der Darsteller des κμος und die Stim-me ihres χοροδιδσκαλος Die bemerkenswerte semantische Aus-dehnung dieses sprachlichen und poetischen sbquoIchslsquo ist wesentlichpolyphon Aber dank der zeitlichen und insbesondere der raumlum -lichen Markierungen die wir bemerkt haben (Syrakus Sparta

26) Damit moumlchte ich dem Prinzip widersprechen auf dem die sbquokritischelsquophilologische Hermeneutik beruht und das immer wieder von Jean Bollack heftigverfochten wird zum Beispiel in seinem juumlngsten Essay Parmeacutenide de lrsquoeacutetant aumonde Lagrasse 2006 11ndash19

Claude Ca lame142

Olympia Arkadien Stymphale Theben) dank der (etwas parado-xen) geographisch-genealogischen Rundreise auch durch die fikti-ven Orte und Zeiten der Gruumlndungsmythenlsquo erhaumllt diese poly-phone Aussageinstanz eine praumlzise extradiskursive Dimension

hinsichtlich sbquoIchlsquo sbquoWirlsquondash Pindar von Theben in seiner Funktion als

inspirierter Dichter und Lehrer der Wahrheitndash Aineias (aus Stymphale) als χοροδιδσκαλοςndash die jungen Choreuten aus Syrakusndash schlieszliglich das Gedicht selbst (objektiviert im

sbquoEslsquo uumlber die Angleichung an das Maultiergespann)hinsichtlich sbquoDulsquo

ndash Hagesias der Arkadier aus Syrakusndash Phintis der Wagenlenker aus Syrakusndash Hieron der Tyrann von Syrakusndash Poseidon der Herr des Meeres

Der polyphonen Komplexitaumlt der Aussageinstanz mit ihrersemantischen Ausdehnung und diskursiven Vielschichtigkeit ent-spricht eine einzigartig ausdifferenzierte bdquofonction-auteurldquo Uumlberdie Metapher des Wagens und uumlber das Bild des κμος als prozes-sionalen und rituellen Gesangs wird sie auf die Auffuumlhrung des Ge-dichts bezogen

Damit haben wir uns weit von der romantischen Auffassungeines sbquolyrischen Ichslsquo entfernt von dem man sich einen unmittel-baren sprachlichen Ausdruck der persoumlnlichen Empfindungen desDichter-Schriftstellers und demnach vom biographischen Dichterverspricht auch weit entfernt von der Intentionalitaumlt eines Dich-ter-Individuums eines autonomen kreativen Subjekts das mit derdichterischen Tradition in die es sich einschreibt gebrochen haumlt-te26 Obwohl er unbestreitbar vorhanden ist wird der Wille derdichterischen Schoumlpfung gefiltert durch eine traditionelle dichte -rische Diktion durch die Regeln der Gattung durch die Erfor-dernisse des rituellen Anlasses durch die Verdopplung in der poe-

Das poetische Ich 143

tischen performance der bdquofonction-auteurldquo durch enuntiativeStrategien dichterischer Ordnung

Besonders im hier gewaumlhlten Beispiel stuumltzt sich das meta-phorische poetische Spiel auf das Gedicht als Objekt in seiner raumlumlichen Verschiebung (was wiederum die Teilnahme am sport-lichen Wettkampf symbolisiert) um dessen Bewegung auf den Ge-sang und den dichterischen und musikalischen Wettkampf zuuumlbertragen der im Gedicht durch ein komplexes enuntiatives Spieldargestellt wird mit diesem Dreh enuntiativer und spazio-tempo-raler Pragmatik wird das Bild des Sieges im Wettkampf auf das hicet nunc der rituellen performance des Gesangs verlagert der von ei-nem polyphonen sbquoIchlsquo auszligergewoumlhnlicher Dichte ausgetragenwird Dieses In-Bewegung-Setzen des Gesangs mittels eines Bildesist zentral in den Gedichten die uns nicht nur konkret in die Zeitund den Raum der sbquomythischenlsquo Gruumlndungsakte einfuumlhren und alspragmatisches kulturelles Gedaumlchtnis fungieren sondern die sichauch uumlber zahlreiche autoreferentielle Interventionen als Ge-sangs-Akte praumlsentieren speech-acts die uumlber enuntiative Bezug-nahmen auf die musikalische Aktivitaumlt die von denjenigen die dasGedicht auffuumlhren ausgeuumlbt wird zu song-acts werden In demMaszlige in dem ihre sbquoDurchfuumlhrunglsquo gewoumlhnlich in eine rituelle Feier fuumlr die Schutzgottheit einer Stadt eingebettet ist sind dieseGesangs-Akte auch cult-acts kultische Handlungen Was die Epi-nikie betrifft so ist ihre religioumlse und politische Aufgabe nicht nurdie Erinnerung an die aristokratische Familie aus welcher der Sie-ger an den panhellenischen Spielen stammt zu bereichern sondernauch das kollektive Gedaumlchtnis des staumldtischen Verbands dem erangehoumlrt lebendig zu erhalten Dies alles vollzieht sich in aus-drucksvollen sprachlichen Bildern die durch den sbquopoetischen Ap-parat der Aussagelsquo des rituellen Gesangs Entfaltung und Wirksam-keit finden

Im archaischen und klassischen Griechenland ist die ars scri-bendi eine ars canendi

Paris Claude Ca lame

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25) δέσποτα ποντόμεδον εθUν δ= πλόον καμάτων | κτς όντα δίδοιχρυσαλακάτοιο πόσις | μφιτρίτας μν δrsquo -|μνων Qεξrsquo ετερπ=ς Qνθος

Das poetische Ich 141

der mit der goldenen Spindel und lass meine Hymnenwachsen zu wohlerfreulicher Bluumlte

(Ol 6103ndash105 Uumlbers Dieter Bremer)25

4 Der poetische Apparat der eacutenonciation

Dargestellt als rein metaphorischer Wagen wenn es darum zutun ist mit dem Wettbewerb der vom Kutscher und seinem Ge-spann dargestellt wird die geographische und genealogische Her-kunft (Arkadien und Olympia) der siegreichen Familie nachzu-vollziehen realisiert sich der Gesang zuletzt in seiner chorischenund prozessionalen Identitaumlt im Bilde des κμος aufgefuumlhrt in Sy-rakus fuumlhrt dieses Chorgedicht genealogisch zuruumlck nach Thebenin die Heimat Pindars So fokussiert das doppelte Bild des Ge-spanns und der Prozession die Komposition des Thebaners Pindarim hic et nunc seiner Auffuumlhrung weder in Olympia dem Ort desathletischen Sieges und dem Orakelwesen der Iamiden noch inStymphale dem Ort der Vorfahren muumltterlicherseits des Hagesias(und moumlglicherweise der Heimat des Aineias) noch in Thebender Heimat Pindars und dem Ort an dem das Gedicht geschaffenwurde sondern in Syrakus anlaumlsslich einer kultischen Feier Bleibtdie geographische und genealogische Rundreise die dem sprach -lichen Gespann zugeschrieben wird poetisch und metaphorischso wird jene die als rituelle Prozession vorgestellt ist Realitaumlt nachdem genealogischen Umweg uumlber die Nymphe Thebe und Thebenin Boumlotien stimmen die Zeit und der Ort der narrativen und dis-kursiven Realisierung des Gedichts mit dem sbquoHierlsquo und dem sbquoJetztlsquoseiner Auffuumlhrung uumlberein ndash einem hic et nunc das an der Aus-sageinstanz orientiert ist

Im dichterischen sbquoIchlsquo konvergieren demnach am Ende dergesungenen Komposition die enuntiative Stimme des inspiriertenDichters die Chorstimme der Darsteller des κμος und die Stim-me ihres χοροδιδσκαλος Die bemerkenswerte semantische Aus-dehnung dieses sprachlichen und poetischen sbquoIchslsquo ist wesentlichpolyphon Aber dank der zeitlichen und insbesondere der raumlum -lichen Markierungen die wir bemerkt haben (Syrakus Sparta

26) Damit moumlchte ich dem Prinzip widersprechen auf dem die sbquokritischelsquophilologische Hermeneutik beruht und das immer wieder von Jean Bollack heftigverfochten wird zum Beispiel in seinem juumlngsten Essay Parmeacutenide de lrsquoeacutetant aumonde Lagrasse 2006 11ndash19

Claude Ca lame142

Olympia Arkadien Stymphale Theben) dank der (etwas parado-xen) geographisch-genealogischen Rundreise auch durch die fikti-ven Orte und Zeiten der Gruumlndungsmythenlsquo erhaumllt diese poly-phone Aussageinstanz eine praumlzise extradiskursive Dimension

hinsichtlich sbquoIchlsquo sbquoWirlsquondash Pindar von Theben in seiner Funktion als

inspirierter Dichter und Lehrer der Wahrheitndash Aineias (aus Stymphale) als χοροδιδσκαλοςndash die jungen Choreuten aus Syrakusndash schlieszliglich das Gedicht selbst (objektiviert im

sbquoEslsquo uumlber die Angleichung an das Maultiergespann)hinsichtlich sbquoDulsquo

ndash Hagesias der Arkadier aus Syrakusndash Phintis der Wagenlenker aus Syrakusndash Hieron der Tyrann von Syrakusndash Poseidon der Herr des Meeres

Der polyphonen Komplexitaumlt der Aussageinstanz mit ihrersemantischen Ausdehnung und diskursiven Vielschichtigkeit ent-spricht eine einzigartig ausdifferenzierte bdquofonction-auteurldquo Uumlberdie Metapher des Wagens und uumlber das Bild des κμος als prozes-sionalen und rituellen Gesangs wird sie auf die Auffuumlhrung des Ge-dichts bezogen

Damit haben wir uns weit von der romantischen Auffassungeines sbquolyrischen Ichslsquo entfernt von dem man sich einen unmittel-baren sprachlichen Ausdruck der persoumlnlichen Empfindungen desDichter-Schriftstellers und demnach vom biographischen Dichterverspricht auch weit entfernt von der Intentionalitaumlt eines Dich-ter-Individuums eines autonomen kreativen Subjekts das mit derdichterischen Tradition in die es sich einschreibt gebrochen haumlt-te26 Obwohl er unbestreitbar vorhanden ist wird der Wille derdichterischen Schoumlpfung gefiltert durch eine traditionelle dichte -rische Diktion durch die Regeln der Gattung durch die Erfor-dernisse des rituellen Anlasses durch die Verdopplung in der poe-

Das poetische Ich 143

tischen performance der bdquofonction-auteurldquo durch enuntiativeStrategien dichterischer Ordnung

Besonders im hier gewaumlhlten Beispiel stuumltzt sich das meta-phorische poetische Spiel auf das Gedicht als Objekt in seiner raumlumlichen Verschiebung (was wiederum die Teilnahme am sport-lichen Wettkampf symbolisiert) um dessen Bewegung auf den Ge-sang und den dichterischen und musikalischen Wettkampf zuuumlbertragen der im Gedicht durch ein komplexes enuntiatives Spieldargestellt wird mit diesem Dreh enuntiativer und spazio-tempo-raler Pragmatik wird das Bild des Sieges im Wettkampf auf das hicet nunc der rituellen performance des Gesangs verlagert der von ei-nem polyphonen sbquoIchlsquo auszligergewoumlhnlicher Dichte ausgetragenwird Dieses In-Bewegung-Setzen des Gesangs mittels eines Bildesist zentral in den Gedichten die uns nicht nur konkret in die Zeitund den Raum der sbquomythischenlsquo Gruumlndungsakte einfuumlhren und alspragmatisches kulturelles Gedaumlchtnis fungieren sondern die sichauch uumlber zahlreiche autoreferentielle Interventionen als Ge-sangs-Akte praumlsentieren speech-acts die uumlber enuntiative Bezug-nahmen auf die musikalische Aktivitaumlt die von denjenigen die dasGedicht auffuumlhren ausgeuumlbt wird zu song-acts werden In demMaszlige in dem ihre sbquoDurchfuumlhrunglsquo gewoumlhnlich in eine rituelle Feier fuumlr die Schutzgottheit einer Stadt eingebettet ist sind dieseGesangs-Akte auch cult-acts kultische Handlungen Was die Epi-nikie betrifft so ist ihre religioumlse und politische Aufgabe nicht nurdie Erinnerung an die aristokratische Familie aus welcher der Sie-ger an den panhellenischen Spielen stammt zu bereichern sondernauch das kollektive Gedaumlchtnis des staumldtischen Verbands dem erangehoumlrt lebendig zu erhalten Dies alles vollzieht sich in aus-drucksvollen sprachlichen Bildern die durch den sbquopoetischen Ap-parat der Aussagelsquo des rituellen Gesangs Entfaltung und Wirksam-keit finden

Im archaischen und klassischen Griechenland ist die ars scri-bendi eine ars canendi

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26) Damit moumlchte ich dem Prinzip widersprechen auf dem die sbquokritischelsquophilologische Hermeneutik beruht und das immer wieder von Jean Bollack heftigverfochten wird zum Beispiel in seinem juumlngsten Essay Parmeacutenide de lrsquoeacutetant aumonde Lagrasse 2006 11ndash19

Claude Ca lame142

Olympia Arkadien Stymphale Theben) dank der (etwas parado-xen) geographisch-genealogischen Rundreise auch durch die fikti-ven Orte und Zeiten der Gruumlndungsmythenlsquo erhaumllt diese poly-phone Aussageinstanz eine praumlzise extradiskursive Dimension

hinsichtlich sbquoIchlsquo sbquoWirlsquondash Pindar von Theben in seiner Funktion als

inspirierter Dichter und Lehrer der Wahrheitndash Aineias (aus Stymphale) als χοροδιδσκαλοςndash die jungen Choreuten aus Syrakusndash schlieszliglich das Gedicht selbst (objektiviert im

sbquoEslsquo uumlber die Angleichung an das Maultiergespann)hinsichtlich sbquoDulsquo

ndash Hagesias der Arkadier aus Syrakusndash Phintis der Wagenlenker aus Syrakusndash Hieron der Tyrann von Syrakusndash Poseidon der Herr des Meeres

Der polyphonen Komplexitaumlt der Aussageinstanz mit ihrersemantischen Ausdehnung und diskursiven Vielschichtigkeit ent-spricht eine einzigartig ausdifferenzierte bdquofonction-auteurldquo Uumlberdie Metapher des Wagens und uumlber das Bild des κμος als prozes-sionalen und rituellen Gesangs wird sie auf die Auffuumlhrung des Ge-dichts bezogen

Damit haben wir uns weit von der romantischen Auffassungeines sbquolyrischen Ichslsquo entfernt von dem man sich einen unmittel-baren sprachlichen Ausdruck der persoumlnlichen Empfindungen desDichter-Schriftstellers und demnach vom biographischen Dichterverspricht auch weit entfernt von der Intentionalitaumlt eines Dich-ter-Individuums eines autonomen kreativen Subjekts das mit derdichterischen Tradition in die es sich einschreibt gebrochen haumlt-te26 Obwohl er unbestreitbar vorhanden ist wird der Wille derdichterischen Schoumlpfung gefiltert durch eine traditionelle dichte -rische Diktion durch die Regeln der Gattung durch die Erfor-dernisse des rituellen Anlasses durch die Verdopplung in der poe-

Das poetische Ich 143

tischen performance der bdquofonction-auteurldquo durch enuntiativeStrategien dichterischer Ordnung

Besonders im hier gewaumlhlten Beispiel stuumltzt sich das meta-phorische poetische Spiel auf das Gedicht als Objekt in seiner raumlumlichen Verschiebung (was wiederum die Teilnahme am sport-lichen Wettkampf symbolisiert) um dessen Bewegung auf den Ge-sang und den dichterischen und musikalischen Wettkampf zuuumlbertragen der im Gedicht durch ein komplexes enuntiatives Spieldargestellt wird mit diesem Dreh enuntiativer und spazio-tempo-raler Pragmatik wird das Bild des Sieges im Wettkampf auf das hicet nunc der rituellen performance des Gesangs verlagert der von ei-nem polyphonen sbquoIchlsquo auszligergewoumlhnlicher Dichte ausgetragenwird Dieses In-Bewegung-Setzen des Gesangs mittels eines Bildesist zentral in den Gedichten die uns nicht nur konkret in die Zeitund den Raum der sbquomythischenlsquo Gruumlndungsakte einfuumlhren und alspragmatisches kulturelles Gedaumlchtnis fungieren sondern die sichauch uumlber zahlreiche autoreferentielle Interventionen als Ge-sangs-Akte praumlsentieren speech-acts die uumlber enuntiative Bezug-nahmen auf die musikalische Aktivitaumlt die von denjenigen die dasGedicht auffuumlhren ausgeuumlbt wird zu song-acts werden In demMaszlige in dem ihre sbquoDurchfuumlhrunglsquo gewoumlhnlich in eine rituelle Feier fuumlr die Schutzgottheit einer Stadt eingebettet ist sind dieseGesangs-Akte auch cult-acts kultische Handlungen Was die Epi-nikie betrifft so ist ihre religioumlse und politische Aufgabe nicht nurdie Erinnerung an die aristokratische Familie aus welcher der Sie-ger an den panhellenischen Spielen stammt zu bereichern sondernauch das kollektive Gedaumlchtnis des staumldtischen Verbands dem erangehoumlrt lebendig zu erhalten Dies alles vollzieht sich in aus-drucksvollen sprachlichen Bildern die durch den sbquopoetischen Ap-parat der Aussagelsquo des rituellen Gesangs Entfaltung und Wirksam-keit finden

Im archaischen und klassischen Griechenland ist die ars scri-bendi eine ars canendi

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Das poetische Ich 143

tischen performance der bdquofonction-auteurldquo durch enuntiativeStrategien dichterischer Ordnung

Besonders im hier gewaumlhlten Beispiel stuumltzt sich das meta-phorische poetische Spiel auf das Gedicht als Objekt in seiner raumlumlichen Verschiebung (was wiederum die Teilnahme am sport-lichen Wettkampf symbolisiert) um dessen Bewegung auf den Ge-sang und den dichterischen und musikalischen Wettkampf zuuumlbertragen der im Gedicht durch ein komplexes enuntiatives Spieldargestellt wird mit diesem Dreh enuntiativer und spazio-tempo-raler Pragmatik wird das Bild des Sieges im Wettkampf auf das hicet nunc der rituellen performance des Gesangs verlagert der von ei-nem polyphonen sbquoIchlsquo auszligergewoumlhnlicher Dichte ausgetragenwird Dieses In-Bewegung-Setzen des Gesangs mittels eines Bildesist zentral in den Gedichten die uns nicht nur konkret in die Zeitund den Raum der sbquomythischenlsquo Gruumlndungsakte einfuumlhren und alspragmatisches kulturelles Gedaumlchtnis fungieren sondern die sichauch uumlber zahlreiche autoreferentielle Interventionen als Ge-sangs-Akte praumlsentieren speech-acts die uumlber enuntiative Bezug-nahmen auf die musikalische Aktivitaumlt die von denjenigen die dasGedicht auffuumlhren ausgeuumlbt wird zu song-acts werden In demMaszlige in dem ihre sbquoDurchfuumlhrunglsquo gewoumlhnlich in eine rituelle Feier fuumlr die Schutzgottheit einer Stadt eingebettet ist sind dieseGesangs-Akte auch cult-acts kultische Handlungen Was die Epi-nikie betrifft so ist ihre religioumlse und politische Aufgabe nicht nurdie Erinnerung an die aristokratische Familie aus welcher der Sie-ger an den panhellenischen Spielen stammt zu bereichern sondernauch das kollektive Gedaumlchtnis des staumldtischen Verbands dem erangehoumlrt lebendig zu erhalten Dies alles vollzieht sich in aus-drucksvollen sprachlichen Bildern die durch den sbquopoetischen Ap-parat der Aussagelsquo des rituellen Gesangs Entfaltung und Wirksam-keit finden

Im archaischen und klassischen Griechenland ist die ars scri-bendi eine ars canendi

Paris Claude Ca lame