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Thesenpapier zur Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19 Datenbasis verbessern Prävention gezielt weiterentwickeln Bürgerrechte wahren Prof. Dr. med. Matthias Schrappe Universität Köln, ehem. Stellv. Vorsitzender des Sachverständigenrates Gesundheit Hedwig François-Kettner Pflegemanagerin und Beraterin, ehem. Vorsitzende des Aktionsbündnis Patientensicherheit, Berlin Dr. med. Matthias Gruhl Arzt für Öffentliches Gesundheitswesen Hamburg/Bremen Franz Knieps Jurist und Vorstand eines Krankenkassenverbands, Berlin Prof. Dr. phil. Holger Pfaff Universität Köln, Zentrum für Versorgungsforschung, ehem. Vorsitzender des Expertenbeirats des Innovationsfonds Prof. Dr. rer.nat. Gerd Glaeske Universität Bremen, SOCIUM Public Health, ehem. Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheit Endversion vom 5. April 2020

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Thesenpapier zur Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19

Datenbasis verbessern

Prävention gezielt weiterentwickeln

Bürgerrechte wahren

Prof. Dr. med. Matthias Schrappe

Universität Köln, ehem. Stellv. Vorsitzender des Sachverständigenrates Gesundheit

Hedwig François-Kettner

Pflegemanagerin und Beraterin, ehem. Vorsitzende des Aktionsbündnis

Patientensicherheit, Berlin

Dr. med. Matthias Gruhl

Arzt für Öffentliches Gesundheitswesen

Hamburg/Bremen

Franz Knieps

Jurist und Vorstand eines Krankenkassenverbands, Berlin

Prof. Dr. phil. Holger Pfaff

Universität Köln, Zentrum für Versorgungsforschung, ehem. Vorsitzender des

Expertenbeirats des Innovationsfonds

Prof. Dr. rer.nat. Gerd Glaeske

Universität Bremen, SOCIUM Public Health, ehem. Mitglied im Sachverständigenrat

Gesundheit

Endversion vom 5. April 2020

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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis 2 

Präambel 3 

Zusammenfassung 4 

Thesenpapier zur Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19 (Vollversion) 8 

Vorbemerkung 8 

1. Epidemiologische Aspekte 9 1.1. Die Zahl der gemeldeten Infektionen 10 

1.2. Angaben zur Sterblichkeit (Case Fatality Rate) 13 

1.3. SARS-CoV-2 wird nosokomiale Infektion 15 

1.4. SARS-CoV-2/Covid-19 als lokales Herdgeschehen 16 

2. Präventionsstrategien 18 2.1. Allgemeine und spezifische Präventionsstrategien 18 

2.2. Allgemeine Präventionsstrategien 18 

2.3. Spezifische Präventionsstrategien 20 

3. Gesellschaftspolitische Implikationen 23 

Literatur 26 

Die Autoren 29 

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3

Präambel

Der vorliegende Text stellt sich der Aufgabe, die epidemiologische Problemlage

wissenschaftlich zu klären und aus der gegebenen Situation Empfehlungen für wirksame

Präventionsmaßnahmen abzuleiten. Die Vorschläge zur Prävention werden in einen

gesellschaftspolitischen Rahmen gestellt, der für die Autoren in einem unauflösbaren

Zusammenhang mit den geschilderten Sachverhalten steht. Dem umfangreichen

analytischen Teil wird eine kürzere Zusammenfassung vorangestellt, die eine schnelle

Orientierung über die vertretenen Standpunkte ermöglichen soll. Wie für ein Thesenpapier

nicht anders zu erwarten, werden die wichtigsten Ergebnisse zu drei Thesen mit

entsprechenden Unterpunkten verdichtet, die wortgleich in der Zusammenfassung und am

Ende der jeweiligen Kapitel zu finden sind.

Die Autoren bemühen sich um eine klare Benennung der Fakten und Probleme. Sie

verbinden hiermit keine Kritik an den handelnden Personen, die in den zurückliegenden

Wochen unter den Bedingungen einer – die Steigerung sei erlaubt – „noch

unvollständigeren Information“ entscheiden mussten als dies heute der Fall ist. In jeder

Beziehung sind die Ausführungen dieses Thesenpapiers als konstruktive Beiträge

gedacht, die den Zweck verfolgen, die Entscheidungen der kommenden Wochen zu

unterstützen.

Die Autoren

Köln, Berlin, Hamburg, Bremen

5. April 2020

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Zusammenfassung

Die Bedrohung durch SARS-CoV-2/Covid-19 macht ein Zusammenwirken von Politik und

Wissenschaft notwendig. Eine sinnvolle Beratung der politischen Entscheidungsträger

muss mehrere wissenschaftliche Fachdisziplinen umfassen, wobei die diagnostischen

Fächer (hier: Virologie), die klinischen Fächer (hier: Infektiologie, Intensivmedizin) und die

Pflege ganz im Vordergrund stehen sollten. Da eine Epidemie jedoch nie allein ein

medizinisch-pflegerisches Problem darstellt, sondern immer auf die aktuelle Verfasstheit

der gesamten Gesellschaft einwirkt und auch nur im Rahmen einer

gesamtgesellschaftlichen Anstrengung zu bewältigen ist, erscheint zusätzlich eine

Mitwirkung von Vertretern der Sozialwissenschaften, Public Health, Ethik, Ökonomie,

Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft unverzichtbar. Entscheidend ist hierbei die

Einsicht, dass notwendige Verhaltensveränderungen auf Ebene der Bevölkerung und in

den Institutionen (denen bei Covid-19 besondere Bedeutung zukommt) nie allein durch

eindimensionale Einzelinterventionen (z.B. gesetzliche Vorschriften), sondern nur durch

Mehrfach- bzw. Mehrebeneninterventionen erreicht werden können, zu denen eben auch

psychologische, soziale, ökonomische und politische Maßnahmen zählen.

Im Einzelnen nimmt dieses Thesenpapier zu den drei Themenbereichen Epidemiologie,

Prävention und gesellschaftspolitische Relevanz Stellung:

1. Epidemiologie

SARS-CoV-2/Covid-19 wird durch Tröpfchen-Infektion übertragen. Eine Infektion durch

asymptomatische Virusträger ist möglich und epidemiologisch höchst relevant. Das

epidemiologische Muster ist durch Risikogruppen (hohes Alter, Multimorbidität), die

nosokomiale Übertragung im institutionellen Rahmen (Pflegeheime,

Betreuungseinrichtungen, Krankenhäuser) und das spontane Auftreten von Clustern

charakterisiert. Zur Diagnose dient der Nachweis von genetischem Material durch die

PCR-Reaktion, welche jedoch nicht zwangsläufig eine gegebene Infektiosität bedeutet.

Durch die mangelnde Verfügbarkeit wird das Testverfahren meist nur bei Symptomen

oder gegebenem Kontakt zu Infizierten durchgeführt, populationsbezogene Daten sind

daher kaum vorhanden.

These 1: Die zur Verfügung stehenden epidemiologischen Daten (gemeldete

Infektionen, Letalität) sind nicht hinreichend, die Ausbreitung und das

Ausbreitungsmuster der SARS-CoV-2/Covid-19-Pandemie zu beschreiben, und

können daher nur eingeschränkt zur Absicherung weitreichender Entscheidungen

dienen.

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These 1.1. Die Zahl der gemeldeten Infektionen hat nur eine geringe Aussagekraft, da

kein populationsbezogener Ansatz gewählt wurde, die Messung auf einen

zurückliegenden Zeitpunkt verweist und eine hohe Rate nicht getesteter (v.a.

asymptomatischer) Infizierter anzunehmen ist.

1. Die Zahl der täglich beim RKI gemeldeten Fälle wird in hohem Maße durch die

Testverfügbarkeit und Anwendungshäufigkeit beeinflusst.

2. Unter Berücksichtigung dieser anlassbezogenen Teststrategie ist es nicht

sinnvoll, von einer sog. Verdopplungszeit zu sprechen und von dieser Maßzahl

politische Entscheidungen abhängig zu machen.

3. Die Darstellung in exponentiell ansteigenden Kurven der kumulativen Häufigkeit

führt zu einer überzeichneten Wahrnehmung, sie sollte um die Gesamtzahl der

asymptomatischen Träger und Genesenen korrigiert werden.

4. Die Zahl der gemeldeten Fälle an Tag X stellt keine Aussage über die Situation

an diesem Tag dar, sondern bezieht sich auf einen Zeitpunkt in der Vergangenheit.

5. Ungefähr zwei Drittel der Infizierten werden zu diesem Zeitpunkt nicht erfasst.

6. Überlegungen zu populationsbezogenen Stichproben (Nationale Kohorte)

müssen intensiviert werden.

These 1.2. Die Zahlen zur Sterblichkeit (Case Fatality Rate) überschätzen derzeit das

Problem und können nicht valide interpretiert werden.

1. Mangelnde Abgrenzung der Grundgesamtheit: es ist derzeit nicht bekannt, auf

wie viel infizierte Personen die Zahl der gestorbenen Patienten zu beziehen ist;

2. Fehlende Berücksichtigung der attributable mortality: es ist nicht klar, inwieweit

die beobachtete Letalität tatsächlich auf die Infektion mit SARS-CoV-2

zurückzuführen und nicht durch die Komorbidität oder den natürlichen Verlauf zu

erklären ist;

3. Fehlender Periodenvergleich über mehrere Jahre in gleichen Patientenkollektiven

vergleichbarer Morbidität: es gibt keine Erkenntnisse über die excess-mortality im

Vergleich zu einer Alters-, Komorbiditäts- und Jahreszeit-gematchten Population in

den zurückliegenden Jahren.

These 1.3. SARS-CoV-2 kann als nosokomiale Infektion in Krankenhäusern und Pflege-

bzw. Betreuungseinrichtungen auf andere Patienten und Mitarbeiter übertragen werden.

Dieser Ausbreitungstyp stellt mittlerweile den dominierenden Verbreitungsmodus

dar. Der Aufenthalt in Risikogebieten und der individuelle Kontakt wird an

Bedeutung abnehmen.

These 1.4. Covid-19 ist durch ein lokales Herdgeschehen (Cluster) mit nicht

vorhersehbarem Muster des Auftretens gekennzeichnet.

SARS-CoV-2/Covid-19 stellt keine homogene, eine ganze Bevölkerung einheitlich

betreffende Epidemie dar, sondern breitet sich inhomogen über lokal begrenzte

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Cluster (z.B. Heinsberg, Würzburg, Wolfsburg) aus, die in Lokalisierung und

Ausdehnung nicht vorhersehbar sind (komplexes System).

2. Präventionsstrategien

These 2: Die allgemeinen Präventionsmaßnahmen (z.B. social distancing) sind

theoretisch schlecht abgesichert, ihre Wirksamkeit ist beschränkt und zudem

paradox (je wirksamer, desto größer ist die Gefahr einer „zweiten Welle“) und sie

sind hinsichtlich ihrer Kollateralschäden nicht effizient. Analog zu anderen

Epidemien (z.B. HIV) müssen sie daher ergänzt und allmählich ersetzt werden durch

Zielgruppen-orientierte Maßnahmen, die sich auf die vier Risikogruppen hohes

Alter, Multimorbidität, institutioneller Kontakt und Zugehörigkeit zu einem lokalen

Cluster beziehen.

Diese vier Risikofaktoren sind voneinander abhängig: während betagte Personen ohne

Multimorbidität kaum ein erhöhtes Risiko haben, steigt ihr Risiko mit zunehmender

Multimorbidität rapide an, erhöht sich weiter bei Kontakt zu Krankenversorgungs-

und/oder Pflegeeinrichtungen und „explodiert“ geradezu bei Auftreten spontan

entstehender lokaler Herde. Für die Fortentwicklung der Präventionsstrategien sind u.a.

folgende Empfehlungen zu geben:

Ergänzung der allgemeinen Präventionsmaßnahmen (Eindämmung, containment)

durch spezifische Präventionskonzepte,

Entwicklung eines einfachen Risikoscores auf der Basis der o.g. vier

Risikokonstellationen, das auf Einzelpersonen und Personengruppen anwendbar ist,

Trennung der Betreuungs- und Behandlungsprozesse der Infizierten bzw. Nicht-

Infizierten im institutionellen Rahmen (Entwicklung von Vorgaben), und

zentrale Etablierung einer Hochrisiko-Task Force, die auf spontan entstehende

Herde (Cluster) reagieren kann.

3. Gesellschaftliche Aspekte

These 3: Entstehung und Bekämpfung einer Pandemie sind in gesellschaftliche

Prozesse eingebettet. Die derzeitig angewandte allgemeine Präventionsstrategie

(partieller shutdown) kann anfangs in einer unübersichtlichen Situation das richtige

Mittel gewesen sein, birgt aber die Gefahr, die soziale Ungleichheit und andere

Konflikte zu verstärken. Es besteht weiterhin das Risiko eines Konfliktes mit den

normativen und juristischen Grundlagen der Gesellschaft. Demokratische

Grundsätze und Bürgerrechte dürfen nicht gegen Gesundheit ausgespielt werden.

Die Einbeziehung von Experten aus Wissenschaft und Praxis muss in einer Breite

erfolgen, die einer solchen Entwicklung entgegenwirkt.

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Obwohl Solidarität und Verbundenheit eingefordert wird, ist davon auszugehen, dass die

SARS-CoV-2/Covid-19-Pandemie und die bisherigen allgemeinen

Präventionsmaßnahmen auf gesellschaftliche Prozesse einwirken und bestehende

Konfliktlinien vertiefen. In erster Linie trifft dies auf die Problematik der sozialen

Ungleichheit zu, denn allein die Bevölkerungs-bezogenen Maßnahmen treffen Personen

mit niedrigem Einkommen und Selbstständige deutlich stärker als Personen mit größerem

finanziellen Spielraum. In zweiter Linie wird die derzeitige Legitimationskrise des

demokratischen Systems verschärft, denn erneut wird die Alternativlosigkeit des

exekutiven Handelns dem demokratischen Diskurs gegenübergestellt (z.B. Reduktion der

parlamentarischen Kontrolle). Die beiden letztgenannten Punkte werden verstärkt durch –

drittens - ökonomische Risiken, die mit dem Fortbestehen und den eventuellen

Verschärfungen in der Einschränkung von Freizügigkeit und Berufsausübung verbunden

sind. Viertens besteht die Gefahr, dass unter Verweis auf den unaufschiebbaren

Handlungsbedarf autoritäre Elemente des Staatsverständnisses aus Ländern mit

totalitären Gesellschaftssystemen in das deutsche Staats- und Rechtssystem

übernommen werden (z.B. individuelle Handyortung). Es muss klargestellt werden und

klargestellt bleiben, dass es keinen trade-off zwischen der demokratischen Verfasstheit

und den Bürgerrechten auf der einen Seite und den Anforderungen der

Seuchenbekämpfung auf der anderen Seite geben darf. Insbesondere dürfen die

normativen Grundlagen des Rechtsstaates nicht relativiert werden.

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Thesenpapier zur Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19

(Vollversion)

Datenbasis verbessern, Prävention gezielt weiterentwickeln, Bürgerrechte wahren

Vorbemerkung

Das Ausmaß der weltweiten Bedrohung durch die SARS-CoV-2/Covid-19-Pandemie ist

bislang nicht zuverlässig einzuschätzen. Wie in ähnlich gelagerten historischen Beispielen

ruft auch diese Pandemie ein stringentes staatliches Handeln auf den Plan, das über die

bestehenden rechtlichen Grundlagen hinaus explizit auf wissenschaftliche Erkenntnisse

und Stellungnahmen Bezug nimmt. Diese Interaktion zwischen Politik und Wissenschaft

ist zur Bewältigung einer solchen Krise wünschenswert, stellt für beide Seiten jedoch nur

dann ein sinnvolles Vorgehen dar, wenn die Breite der relevanten wissenschaftlichen

Ansätze und fachlichen Expertisen zutreffend abgebildet wird und unterschiedliche

Perspektiven zu Wort kommen.

Die Pandemien der Vergangenheit haben deutlich vor Augen geführt, dass die in erster

Linie nachgefragten naturwissenschaftlichen bzw. diagnostischen Erkenntnisse zwar

unverzichtbar, jedoch alleine nicht hinreichend für die erfolgreiche Bewältigung einer

Pandemie sind. In zweiter Linie sind daher die medizinisch-pflegerischen Disziplinen und

Berufsgruppen mit einzubeziehen, vor allem da die Einrichtungen von Krankenversorgung

und Pflege nicht nur als Stätten der Behandlung und Betreuung, sondern auch als Stätten

der Verbreitung eine zentrale Rolle spielen (s.u.: SARS-CoV-2/Covid-19 als nosokomiale

Infektion). In Erweiterung der Perspektive – ausgehend von der Einsicht, dass ein

„Entkommen“ aus der durch die Pandemie verursachten Krise nur durch

Mehrfachinterventionen auf mehreren Ebenen möglich ist – müssen Erkenntnisse aus den

Bereichen Epidemiologie, Verhaltenspsychologie, Kognitionswissenschaften, Public

Health, Soziologie, Ökonomie, Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft mit

herangezogen werden. Im Mittelpunkt stehen dabei die Disziplinen, die Erfahrungen und

Kenntnisse im Verbesserungsmanagement auf sozialer und institutioneller Ebene haben,

besonders vor dem Hintergrund infektiologischer Problemstellungen; hier ist vor allem an

Spezialisten im Management von mehrfach-resistenten Erregern und Antibiotika-

Resistenzen und an Experten in der Bekämpfung von Epidemien wie Ebola zu denken.

Wenngleich die Bewältigung der Pandemie das prioritäre Ziel darstellt, darf last not least

nicht aus dem Blick geraten, dass alle Maßnahmen gleichermaßen daran zu messen sind,

ob sie das Fortbestehen der gesellschaftlichen Werte und Lebensbedingungen

garantieren und fördern. Da die gesellschaftspolitischen Implikationen einer staatlich bzw.

exekutiv dominierten Krisenbekämpfung in hohem Maße die normativen Grundlagen

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eines demokratischen Gesellschaftsmodells betreffen, muss sich der Fokus der

wissenschaftlich-politischen Interaktion auch auf Fragen des sozialen Ausgleichs, der

wirtschaftlichen Grundlagen auf nationaler, multilateraler und globaler Ebene (Abele-

Brehm et al. 2020) und der Legitimation des demokratischen Systems beziehen.

Das vorliegende Thesenpapier trifft aus dieser großen Bandbreite von Themen eine

bewusste Auswahl. Die Schwerpunkte dieser Auswahl beziehen sich zum einen auf

epidemiologische Fragen, zum anderen auf die Weiterentwicklung der

Präventionsmaßnahmen und drittens auf die gesellschaftspolitischen Implikationen.

1. Epidemiologische Aspekte

SARS-CoV-2 stellt eine Zoonose mit noch nicht abschließend identifiziertem Reservoir im

Tierreich dar und wird als Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch übertragen. Eine

Schmierinfektion über unbelebte Oberflächen ist unwahrscheinlich, da zwar

Virusgenmaterial, in der Kultur jedoch kein infektiöses Virus nachgewiesen werden kann

(Streeck 2020). Die ersten Fallserien sind klein und inhomogen (Bhatraju et al. 2020, An

der Heiden und Buchholz 2020, Onder et al. 2020). Die Infektiosität ist hoch, jeder

Infizierte infiziert im Durchschnitt deutlich mehr als einen weiteren Menschen, resultierend

in einer sog. Verdopplungszeit (s.u.) zwischen 2 und über 5 Tagen. Epidemiologisch

bedeutsam ist die hohe Rate asymptomatischer, infektiöser Virusträger (bis 80% der

Infizierten), außerdem geht bei Infizierten, die Symptome entwickeln (20%), diesen

Symptomen eine noch asymptomatische Phase von 1-2 Tagen voraus, in der sie

ebenfalls bereits infektiös sind. In beiden Fällen ist die Diagnose der Infektion nur durch

Laboruntersuchungen möglich, allerdings werden diese Untersuchungen (Virusnachweis)

bei begrenzten Testressourcen nur dann initiiert, wenn anamnestische Angaben einen

Hinweis auf ein erhöhtes Risiko ergeben (z.B. Aufenthalt in Risikogebieten, Kontakt zu

Infizierten). Von den symptomatisch-Infizierten wird ein noch nicht genau bekannter Anteil

stationär behandlungsbedürftig, was in vielen Fällen zur intensivmedizinischen

Behandlung und Beatmungstherapie führt. Die Letalität der beatmeten Patienten ist hoch.

Wie erste veröffentlichte Serien zeigen, hängen stationäre Behandlungsbedürftigkeit und

Letalität respektive Prognose deutlich vom Alter und von der Zahl der Komorbiditäten ab;

das größte Risiko besteht für Patienten über 80 Jahre mit Mehrfach-Komorbiditäten.

Jüngere Patienten werden zwar auch in Einzelfällen intensivpflichtig, haben jedoch eine

relativ günstige Prognose.

Der Nachweis der Infektion erfolgt in der Praxis über den PCR-Nachweis des

Virusgenoms, ein Antigentest ist in der Erprobung. Die PCR weist genetisches Material

des Virus nach (z.B. auch auf unbelebten Oberflächen), dieser Nachweis ist jedoch nicht

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identisch mit einer Infektiosität (Viruskultur negativ). Ein SARS-CoV-2/Covid-19-

spezifischer Nachweis von Antikörpern zur Identifikation von geschützten Personen, die

die Erkrankung überstanden haben, liegt noch nicht vor. Die Sensitivität und Spezifität des

PCR-Nachweises ist hoch, wird aber offensichtlich im Alltag durch technische Probleme

(Abstrichtechnik, Lagerung etc.) gemindert. Aussagen zum Positiven/Negativen

Prädiktiven Wert unter verschiedenen Prävalenzbedingungen bzw. zur Diskrimination im

diagnostischen Ablauf sind mangels breit einsetzbarer Standardverfahren und wegen des

kurzen Zeitraums seit Auftreten von Covid-19 noch nicht verfügbar.

Der epidemiologische Kenntnisstand und die zugrundeliegenden Konzepte sind derzeit

Gegenstand vielfacher Kritik durch führende Wissenschaftler aus dem In- und Ausland

(eine Auswahl: Ferdinand Gerlach, Vorsitzender des Sachverständigenrates zur

Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (Gerlach 2020); John Ioannidis,

Stanford University, als einer der weltweit führenden Spezialisten auf dem Gebiet der

Klinischen Epidemiologie (Ioannidis 2020); Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin

(2020)). Im Folgenden wird auf Fragen der Interpretation von Häufigkeitsangaben und

Sterblichkeitsdaten sowie auf die zu erwartenden Ausbreitungsmuster eingegangen.

1.1. Die Zahl der gemeldeten Infektionen

1. Die Zahl der täglich beim RKI gemeldeten Fälle wird in hohem Maße durch die

Testverfügbarkeit und Anwendungshäufigkeit beeinflusst. Das Robert-Koch-Institut

(RKI) veröffentlicht täglich die Zahl der in Deutschland gemeldeten und vom RKI

plausibilisierten Fälle (alternativ lassen sich die Fallzahlen der John-Hopkins-University

heranziehen). Diese Zahlen lassen jedoch keine Aussagen zur Prävalenz, zur

Periodenprävalenz oder gar zur Inzidenz über einen Zeitraum von z.B. einem Monat zu,

da

die Gesamtzahl der durchgeführten Teste nur unvollständig bekannt ist (dann

wäre eine Angabe zur Prävalenz wenigstens bezogen auf die Gesamtzahl der Tests

möglich: „in der getesteten Population liegt der Prozentsatz der Infizierten bei x%“),

keine systematische Testung bezogen auf eine definierte Population (sondern nur

eine anlassbezogene Testung bei Auftreten von Symptomen) vorgenommen wird

(„in einer zufällig ausgewählten Population von 100.000 Personen liegt der

Prozentsatz der Infizierten bei x%“).

2. Unter Berücksichtigung dieser anlassbezogenen Teststrategie ist es nicht

sinnvoll, von einer sog. Verdopplungszeit zu sprechen und von dieser Maßzahl

weitreichende Entscheidungen abhängig zu machen. Wenn man Entscheidungen von

der Geschwindigkeit der Virusausbreitung gemessen an der Verdopplung der positiv

getesteten Personen abhängig machen würde, müsste man sich auf systematisch

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gewonnene Populationsstichproben oder Longitudinaluntersuchungen beziehen. In der

gegenwärtigen Situation sind sinnvollere Endpunkte z.B. durch die Indikation zur

stationären resp. intensivmedizinischen Behandlung gegeben, soweit sie auf eine

spezifische Falldefinition bezogen sind. Wie unten zur Sterblichkeit ausgeführt, reicht

hierzu nicht der Virusnachweis aus, sondern es müssen spezifische Krankheitszeichen

(z.B. wie interstitielle Pneumonie) hinzugezogen werden.

3. Die Darstellung in exponentiell ansteigenden Kurven der kumulativen Häufigkeit

führt zu einer überzeichneten Wahrnehmung. Die kumulative Darstellung der täglich

neu diagnostizierten Fälle erweckt den Eindruck eines katastrophalen Anstiegs und sollte

daher durch eine Darstellung ersetzt werden, die den Neuinfektionen die Gesamtzahl der

Asymptomatischen und genesenen Patienten an die Seite stellt, denn dadurch wird

klargestellt, dass die meisten (Schätzwert 98%) der Infizierten keine bleibenden Schäden

davontragen.

4. Die Zahl der gemeldeten Fälle an Tag X stellt keine Aussage über die Situation an

diesem Tag dar, sondern bezieht sich auf einen Zeitpunkt in der Vergangenheit.

Ungeachtet der vorgenannten Punkte ist die Angabe einer Zahl von Infizierten zu einem

bestimmten Zeitpunkt (z.B. „heute“) in einem dynamischen Geschehen nicht für diesen

Zeitpunkt relevant, sondern bezieht sich auf einen zurückliegenden Zeitpunkt. Obwohl es

schwierig ist abzuschätzen, wie weit dieser Punkt zurückliegt, kommt dieser Abschätzung

große Bedeutung zu, denn seit diesem Zeitpunkt in der Vergangenheit ist die Zahl der

Infizierten entweder weiter angestiegen oder auch abgefallen. In die Abschätzung müssen

mit einfließen

die Inkubationszeit zwischen Infektion und Auftreten der Symptomatik (z.B. fünf

Tage);

der Zeitraum zwischen Auftreten der Symptome und der Testdurchführung (z.B.

fünf 5 Tage);

der Zeitraum der technischen Testdurchführung (z.B. zwei Tage) und

der Meldeverzug vom Vorliegen des Testergebnisses bis zur Meldung beim RKI

(z.B. drei Tage).

Die hier genannten Schätzwerte summieren sich auf eine Verzögerung von insgesamt 15

Tagen. In den vergangenen 15 Tagen hat sich in der gegenwärtigen Situation die Zahl der

Infizierten aller Wahrscheinlichkeit nach deutlich nach oben entwickelt (s. Abb. 1).

5. Ungefähr zwei Drittel der Infizierten werden zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht

erfasst. Auch unter Kenntnis des Zeitpunkts (Tag X-15), für den die Anzahl von bekannt

Infizierten gültig sein kann, muss als weitere Frage geklärt werden, wie hoch der Anteil

der zu diesem Zeitpunkt getesteten Personen an allen Infizierten ist. Es müssen hier die

symptomatischen und asymptomatischen Infizierten unterschieden werden:

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Symptomatisch-Infizierte (20%): man muss davon ausgehen, dass nicht alle

Symptomträger getestet werden, weil sie z.B. „als normale Grippe durchgehen“.

Annahme: 50% der Symptomatisch-infizierten werden getestet, oder 10% aller

Infizierten;

Asymptomatisch-Infizierte (80%): von den Asymptomatischen werden z.B. im

Rahmen von Umfelduntersuchungen zahlreiche Personen getestet, der Großteil

wird jedoch nicht erfasst. Annahme: ein Viertel der asymptomatisch-Infizierten wird

getestet (20% aller Infizierten).

Zusammenfassend kann man in der Größenordnung davon ausgehen, dass ca. ein Drittel

(10 plus 20%) aller Infizierten zum Zeitpunkt Tag X–15 getestet werden und zwei Drittel

einer Testung entgehen.

In Abbildung 1 wird dieses Szenario ausgehend vom Tag X 17. März (damals rund 8000

bekannt-Infizierte) beispielhaft dargestellt. Tag X-15 entspricht dem 1. März (Tage 13/14

werden wg. der Umstellung des Meldeverfahrens als ein Tag gezählt). Entscheidend ist,

dass die Zahl von 24.000 Infizierten am Tag X-15 bis zum Tag X fünf Verdopplungszeiten

à 3 Tagen durchlaufen, was zur Annahme führt, dass am 17. März statt von 8000

bestätigten Infektionen von knapp 800.000 Infizierten ausgegangen werden muss. Legt

man drei Verdopplungszeiten à 5 Tagen zugrunde, erhält man 192.000 Infizierte. Diese

Überlegungen stellen selbstredend ein Modell mit zahlreichen Annahmen dar und sind

daher mit mehreren Unsicherheiten belastet. Sie sollen die Problematik jedoch

beispielhaft illustrieren.

6. Überlegungen zu populationsbezogenen Stichproben (Nationale Covid-19-

Kohorte) müssen intensiviert werden. Um die wichtigen Fragen zur Prävalenz und

Inzidenz zu klären, bedarf es der Untersuchung einer repräsentativen Stichprobe analog

zur Nationalen Kohorte bei der HIV-Infektion in den 80er Jahren. Entsprechenden

Ansätzen, so wie sie derzeit an einigen Forschungseinrichtungen verfolgt werden, ist zum

Zwecke der verbesserten Steuerung der Präventionsmaßnahmen größte Priorität

zuzuweisen. Die Größenordnung muss mindestens 10.000 Personen umfassen, um

hinsichtlich der bekannten Risikofaktoren stratifizieren und Aussagen über die

Hochrisikokollektive machen zu können, eine iterative z.B. zweiwöchentliche Testung ist

einzubeziehen. Weiterhin ist ein solches Vorgehen auch dazu in der Lage, Aussagen zu

überstandenen Infektionen (und bei Vorliegen eines Antiköpertestes später auch zur

erworbenen Immunität) zu machen. Es darf nicht vergessen werden: die erschreckenden

Zahlen zum Anstieg der Infizierten werden deutlich relativiert, wenn man die Zahl der

Patienten bzw. Personen abrechnet, die die Infektion ohne oder mit beherrschbaren

Krankheitszeichen überstanden haben.

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Abb. 1: Modell zur Abschätzung der Zahl Infizierter aus der Zahl gemeldeter

Infizierter am Tag 17.3.2020 (8000 gemeldete SARS-CoV-2/Covid-19-Infizierte.

Halblogarithmische Darstellung, Annahme einer Verdopplungszeit von 3 Tagen,

Spontanverlauf ohne wirksame Prävention. Modellannahmen 1: a Meldeverzug 3 Tg., b

Testdurchführung 2 Tg., c Zeit Symptome – Testdurchführung 5 Tg., d Inkubationszeit 5

Tg.; Modellannahmen 2: A 50% der symptomatisch-Infizierten werden getestet (10%

aller Infizierten), B 25% der asymptomatisch-Infizierten werden getestet (weiter 20% aller

Infizierten, => 1/3 der Infizierten werden getestet, aber 2/3 der Infizierten werden nicht

erfasst (Faktor 3). * Umstellung des Meldeverfahrens am 13./14.3., wird als ein Tag

gezählt.

1.2. Angaben zur Sterblichkeit (Case Fatality Rate)

Angaben zur Letalität einer Erkrankung (Case Fatality Rate) spielen bei der Beurteilung

einer Epidemie wie SARS-CoV-2/Covid-19 eine entscheidende Rolle. Die Letalität kann

als Kennziffer jedoch nur dann sinnvoll verwendet werden, wenn mehrere Bedingungen

erfüllt sind:

die Grundgesamtheit der Population, auf die die Zahl der Gestorbenen bezogen

wird, muss bekannt sein;

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die Sterblichkeit, die auf die Erkrankung zurückgeht, muss von der Sterblichkeit

durch den natürlichen Verlauf und andere Erkrankungen abgegrenzt werden

(zurechenbare Sterblichkeit oder attributable mortality);

die Sterblichkeit der Erkrankung sollte im historischen Vergleich eine zusätzliche

Sterblichkeit (excess mortality) zur Folge haben, gerade wenn in den

Vergleichszeiträumen die betreffende Erkrankung noch nicht bekannt oder

diagnostizierbar war. Bei saisonalen Erkrankungen ist der jahreszeitliche Vergleich

sinnvoll.

1. Es ist derzeit nicht bekannt, auf wie viel infizierte Personen die Zahl der

gestorbenen Patienten zu beziehen ist. Das RKI bezieht die Letalität auf die Zahl der

gemeldeten Fälle, die nach dem heutigen Vorgehen aber stark von der Testverfügbarkeit

abhängig ist (s. Punkt 1.1., RKI 2020). Es gibt eigentlich nur eine einzige kleine

Stichprobe, die hier eine Aussage zulässt, nämlich die unter Quarantäne stehenden

Passagiere der Diamond Princess (3711 Personen, 705 Infizierte während der 17 Tage

dauernden Quarantäne im Hafen von Yokohama, 10 Todesfälle; NZZ 15.3.2020). Da aber

die Verhältnisse auf einem Kreuzfahrtschiff nicht als repräsentativ bezeichnet werden

können, kann man diese Zahlen nicht auf die Situation in Deutschland übertragen.

2. Es ist nicht klar, inwieweit die beobachtete Letalität auf die Infektion mit SARS-

CoV-2 zurückzuführen ist. Die Letalität von Covid-19 weist eine deutliche

Altersabhängigkeit und eine ebenso deutliche Abhängigkeit von der Komorbidität bzw. der

Zahl der Komorbiditäten auf. Dieses Bild gilt aber auch für die SARS-CoV-2/Covid-19-

unabhängige Krankenhaussterblichkeit. Da in näherer Zukunft die Sterblichkeit für die

medizinisch-pflegerische und öffentliche Diskussion eine erhebliche Rolle spielen wird, ist

die Tatsache von Bedeutung, dass die in der Literatur verwendeten Definitionen der

Covid-bedingten Sterblichkeit lediglich die Kriterien

Covid-19 Nachweis und

Tod des Patienten

verwendet werden (Onder et al. 2020). Dies bedeutet, dass keine Kriterien vorhanden

sind, mittels derer die unkorrigierte crude mortality von der zurechenbaren Sterblichkeit

(attributable mortality) unterschieden werden kann – mit anderen Worten und vielleicht

etwas pointiert ausgedrückt: wir wissen nicht, ob der Patient an Covid-19 verstorben ist

oder mit Covid-19. Auch auf der Webseite des RKI ist keine Definition der Covid-19

bedingten Sterblichkeit vorzufinden (wohl aber eine Definition der COVID-19-Erkrankung;

Stand 05.04.2020).

Abhilfe könnte, analog zur Falldefinition, durch die Einbeziehung charakteristischer

krankheitsspezifischer Kriterien geschaffen werden, wie z.B. das Vorliegen einer

(interstitiellen) Pneumonie als drittes Kriterium. Das Fehlen einer Definition der COVID-

19-assoziierten Letalität ist um so schwerwiegender, als dass die Definition in der

derzeitigen Praxis eine erhebliche Rolle spielen dürfte, denn wenn ein älterer Patient mit

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mehreren Vorerkrankungen akut einen Schlaganfall erleidet und stationär

behandlungsbedürftig wird, man bei Aufnahme jedoch feststellt, dass er gleichzeitig

asymptomatischer SARS-CoV-2-Träger ist, dann muss er im Krankenhaus wie ein Covid-

19 Patient behandelt werden, nicht zuletzt weil er ein Übertragungsrisiko für andere

Patienten und Mitarbeiter darstellt. Wenn der Patient nach 24 Stunden an seinem

Schlaganfall versterben sollte, ist es nicht unwahrscheinlich, dass er in der Statistik als

Covid-19-Sterbefall geführt wird. In der italienischen Untersuchung (Onder et al. 2020)

wird daher eine Re-Analyse der italienischen Sterbefälle dringend angemahnt.

Für die nähere Zukunft ist es daher unumgänglich, zu einer Definition der attributable

mortality zu kommen, die folgende Elemente enthalten sollte:

Covid-19 Nachweis und

Tod des Patienten

spezifisches Krankheitsbild.

In Bezug auf den dritten Punkt „spezifisches Krankheitsbild“ könnte man z.B. so

vorgehen, dass man Hauptkriterien definiert, von denen z.B. eines erfüllt sein muss (z.B.

interstitielle Pneumonie), und Nebenkriterien, von denen z.B. zwei für die Diagnose

hinreichen. So ist man z.B. auch bei AIDS vorgegangen, bevor man den Erreger

nachweisen konnte.

3. Es gibt keine Erkenntnisse über die excess-mortality im Vergleich zu einer

Alters-, Komorbiditäts- und Jahreszeit-gematchten Population über mehrere Jahre.

Eine Kernfrage in der derzeitigen Situation und in der Wertung der Dringlichkeit von

Maßnahmen zur Prävention besteht darin, ob es tatsächlich durch SARS-CoV-2/Covid-19

zu einer zusätzlichen, über das „normale Maß“ hinausgehenden Morbidität (z.B.

Krankenhausaufnahmen alter multimorbider Patienten, Auftreten (interstitieller)

Pneumonien etc.) und insbesondere zu einer erhöhten Mortalität der vulnerablen Covid-

19-Risikogruppen kommt oder gekommen ist. Der Vergleich muss mit gematchten

Populationen vorgenommen werden, die in gleichen Zeiträumen in den letzten Jahren

behandelt worden sind, als ein Test auf SARS-CoV-2/Covid-19 noch nicht verfügbar war

und z.B. eine Quarantäne von Krankenhaus- oder Pflegepersonal deswegen nicht

durchführbar war.

1.3. SARS-CoV-2 wird nosokomiale Infektion

Die Rolle der Pflege-, Betreuungs- und Krankenhausinstitutionen für die Verbreitung von

Covid-19 rückt erst langsam in den Mittelpunkt der Diskussion (Nacoti et al. 2020). Es

wird zwar viel von den teilweise unhaltbaren Zuständen in den Institutionen (vor allem

unter dem Aspekt der fehlenden Schutzausrüstung) und auch von Übertragungen

zwischen Patienten und von Mitarbeitern berichtet, aber es fehlt die letztlich definitive

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Aussage, dass es sich bei dieser Pandemie um eine zumindest in Teilen nosokomiale

Infektion handelt, bei der den Institutionen des Gesundheits- und Pflegesystems eine

zentrale Bedeutung in Ausbreitung und Dynamik zukommt.

Natürlich bleibt der Risikofaktor des Kontaktes zu bekannt-Infizierten bestehen, trotzdem

muss die Rolle der Institutionen in der Ausarbeitung spezifischer Präventionsstrategien

zentrale Beachtung finden (s.u.). Historisch ist dies kein Einzelfall (Pest, Cholera, Ebola),

bei der HIV-Infektion stand die Übertragung im institutionellen Rahmen zwar nicht so sehr

im Vordergrund, fand aber durch die Infektion durch Transfusionen und Blutprodukte statt.

Die Rolle der Betreuungs- und Versorgungsinstitutionen ist wesentlich für die Etablierung

von Zielgruppen-spezifischen Präventionsstrategien (s.u.). Fehlendes Personal, fehlende

Schutzmaterialien und unzureichende Testungsmöglichkeiten erschweren maßgeblich die

Aufrechterhaltung einer adäquaten Sorgfalt im Versorgungsprozess.

Isolierungsmaßnahmen in Pflegeheimen im Kontext mangelhafter Schutzmaterialien und

bei zu geringer personeller Besetzungen sind kritisch zu bewerten und Maßnahmen zur

Unterstützung nicht zu vernachlässigen. Im ambulanten Pflegebereich gilt dies

gleichermaßen. In engem Zusammenhang mit der nosokomialen Problematik steht das

nicht vorhersehbare Auftreten im Rahmen lokaler Herde (Cluster, s.u.). Der Aufenthalt in

Risikogebieten wird an Bedeutung verlieren, vor allem wegen der Einschränkungen der

Freizügigkeit.

1.4. SARS-CoV-2/Covid-19 als lokales Herdgeschehen

Epidemien sind komplexe Ereignisse und rufen durch ihr sprunghaftes, unvorhersehbares

Auftreten bei allen Beteiligten größte Befürchtungen hervor (Heinsberg, Würzburg,

Wolfsburg ...). Dieses Auftreten von völlig neuartigen, paradox erscheinenden und nicht

vorherzusehenden Ereignissen, die sozusagen „aus dem Nichts heraus“ auftreten,

bezeichnet man als Emergenz (Schrappe 2018, S. 171ff) und muss in die Analyse der

aktuellen Situation mit einbezogen werden. Es wird in der gegenwärtigen SARS-CoV-

2/Covid-19-Epidemie immer wieder zu unerwarteten, mitunter katastrophal anmutenden

Einzelentwicklungen kommen (Auftreten von sog. Clustern), die in der Ausrichtung der

Präventionsstrategien (s.u.) berücksichtigt werden müssen.

Weiterhin darf man bei der Evaluation der Präventionsstrategien nicht von einem linearen

Wirkungsprinzip ausgehen und sich der Illusion hingeben, solche komplexen Ereignisse

seien in einer einfachen actio-reactio-Logik positiv zu beeinflussen. Stattdessen lehrt die

Komplexitätstheorie, dass eindimensionale Interventionen eher unvorhersehbare

paradoxe Konsequenzen zur Folge haben. In der jüngeren Vergangenheit war dieser

Umstand bereits bei dem Versuch der italienischen Regierung erkennbar, über ein

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Flugverbot aus China zu einer Verminderung der importierten Covid-19-Fälle zu kommen;

die Konsequenz war, dass die Passagiere über Frankfurt und Amsterdam umbuchten und

für Kontrollen (z.B. Temperaturmessung) nicht mehr erreichbar waren.

Außerdem sind Interventionen in komplexen Systemen hochgradig Kontext-sensibel, so

dass Interventionen, die in einem Zusammenhang funktionieren, in einem anderen

Zusammenhang zu Fehlschlägen führen.

Man muss also die Entscheidungsträger auf das Auftreten von emergenten, lokalen

Einzelereignissen und auf unerwartete (paradoxe) Wirkungen vorbereiten und sie vor

voreiligem Optimismus aber auch Pessimismus warnen. SARS-CoV-2/Covid-19 wird in

seiner Entwicklung eine hochgradig lokale und sprunghafte Charakteristik annehmen,

mancherorts zu schweren Problemen führen, aber andere Orte weitgehend in Ruhe

lassen. Die Kunst der Implementierung von Präventionsmaßnahmen wird darin bestehen,

hier angepasste Lösungen zu implementieren.

Zusammenfassend kann zur Epidemiologie von SARS-CoV-2/Covid-19 folgende These

formuliert werden, die aus vier Unterthesen zusammengesetzt ist:

These 1: Die zur Verfügung stehenden epidemiologischen Daten (gemeldete

Infektionen, Letalität) sind nicht hinreichend, das die Ausbreitung und das

Ausbreitungsmuster der SARS-CoV-2/Covid-19-Pandemie zu beschreiben,

und können daher nur eingeschränkt zur Absicherung weitreichender

Entscheidungen dienen.

These 1.1.: Die Zahl der gemeldeten Infektionen hat nur eine geringe

Aussagekraft, da kein populationsbezogener Ansatz gewählt wurde, die Messung

auf einen zurückliegenden Zeitpunkt verweist und eine hohe Rate nicht getesteter

(v.a. asymptomatischer) Infizierter anzunehmen ist.

These 1.2.: Die Zahlen zur Sterblichkeit (Case Fatality Rate) überschätzen derzeit

das Problem und können nicht valide interpretiert werden: mangelnde Abgrenzung

der Grundgesamtheit, fehlende Berücksichtigung der zurechenbaren Letalität

(attributable mortality), fehlender Periodenvergleich über mehrere Jahre in gleichen

Patientenkollektiven mit Pneumonie.

These 1.3.: SARS-CoV-2 kann als nosokomiale Infektion in Krankenhäusern und

Pflege- bzw. Betreuungseinrichtungen auf andere Patienten und Mitarbeiter

übertragen werden.

These 1.4.: SARS-CoV-2/Covid-19 stellt ein lokales Herdgeschehen (Cluster) mit

nicht vorhersehbarem Muster des Auftretens dar.

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2. Präventionsstrategien

2.1. Allgemeine und spezifische Präventionsstrategien

Das vorliegende Thesenpapier geht von der Tatsache aus, dass eine Therapie und eine

Impfung frühestens im Verlauf des Jahres 2021 vorliegen wird. Weiterhin wird

vorausgesetzt, dass wirksame Präventionsstrategien nur selten auf eindimensionale

Interventionen setzen, sondern aus mehreren Teilstrategien zusammengesetzt sind, die

auf unterschiedlichen Ebenen angreifen. Zu unterscheiden sind dabei

allgemeine Interventionen, die sich an alle exponierten Personen richten (hier: die

gesamte Bevölkerung ohne die bereits Immunen),

und solche Interventionen, die sich auf spezielle Risikogruppen beziehen.

Am historischen Beispiel der HIV-Infektion (vor der Verfügbarkeit wirksamer

antiretroviraler Therapien) lässt sich dies gut verdeutlichen: die allgemeine Intervention

richtete sich an Vorsichtsmaßnahmen und das Sexualverhalten der gesamten

Bevölkerung („AIDS geht alle an“), die spezifischen Interventionen richteten sich an die

Risikogruppen z.B. der homosexuellen Männer (Akzeptanz der AIDS-Hilfen, spezifische

Programme zur Verhaltensänderung) oder der intravenös Drogenabhängigen (z.B.

Substitutionsprogramme). Erst das Zusammenspiel der allgemeinen und spezifischen

Interventionen konnte die Situation soweit stabilisieren, dass medikamentöse Ansätze

erprobt und wirksam werden konnten.

2.2. Allgemeine Präventionsstrategien

In fast allen Ländern, in denen SARS-CoV-2/Covid-19 aufgetreten ist, werden allgemeine,

bevölkerungsbezogene Präventionsstrategien angewandt. Sie gehen auf die Annahme

zurück, dass durch Testung auf SARS-CoV-2 und die Nachverfolgung der Kontakte nur

ein Bruchteil der Infizierten identifiziert werden kann und man daher die Weiterverbreitung

des Virus durch allgemeine Maßnahmen hemmen muss. Hierbei wird v.a. auf die

Kontaktunterbrechung und die Identifikation von Infizierten gesetzt. Eine Ausnahme

scheinen Südkorea, Taiwan und Singapur darzustellen, wo man z.B. durch intensives

Tracking die Virusausbreitung auf niedrigem Niveau soweit hemmen konnte, dass man

auf einen allgemeinen shutdown verzichten konnte.

Die allgemeinen Präventionsstrategien werden in unterschiedlichen Ländern in

abgestufter Form angewandt. Die Maßnahmen reichen von Empfehlungen (zu Hause

bleiben, Versammlungen meiden) über Einschränkungen der Freizügigkeit und der

Berufsausübung, über einen vollständigen shutdown mit fast völligem Erliegen des Sozial-

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und Wirtschaftslebens (z.B. Italien, Spanien) bis hin zu einem vollständigen shutdown

kombiniert mit einer Totalüberwachung auf der Ebene der individuellen Bürger (z.B.

China).

Folgende drei Punkte müssen herausgehoben werden:

1. Wirksamkeit der allgemeinen Präventionsmaßnahmen (containment): Die Situation

und die Wirksamkeit der Maßnahmen in China ist aufgrund der Politisierung des

Epidemie-Geschehens und der stark eingeschränkten Pressefreiheit kaum zu bewerten.

In den europäischen Staaten mit strengen Regelungen bzgl. des shutdowns ist jedoch

auch nach mehrwöchigem Einsatz wie z.B. in Italien (seit 8.3.2020) keine eingreifende

Verbesserung der Situation in Sicht (wenn man von einer leichten Abflachung absieht),

weder gemessen an den gemeldeten Infektionszahlen noch gemessen an der Mortalität.

Einschränkend ist natürlich festzuhalten, dass es keine Vergleichsgruppe gibt, d.h. man

weiß nicht, welchen Verlauf die Infektionszahlen genommen hätten, wenn man keine

Maßnahmen ergriffen hätte. Es bleibt jedoch die wichtige Beobachtung bestehen, dass

sich weder im Verlauf der Infektionszahlen noch in der Letalität zwischen den Ländern ein

großer Unterschied zeigt, der auf die unterschiedlichen Ausprägungen der

Ausgangsbeschränkungen und der Einschränkungen der Berufsausübung zurückzuführen

wäre. So lässt sich insbesondere nicht ablesen, dass es mit stärkerer Einschränkung bis

hin zum shutdown zu einer deutlicher verzögerten Ausbreitung käme, als wenn man „nur“

niedriggradigere Empfehlungen z.B. zum social distancing gibt. Insbesondere der Schutz

der Risikogruppen (v.a. hohes Alter und Multimorbidität) wird durch die allgemeinen,

unspezifischen Präventionsmaßnahmen nicht verwirklicht, sondern im Gegenteil ist eine

Gefährdung dieser Gruppen durch die eingeschränkte Wirksamkeit dieser Maßnahmen

nicht ausgeschlossen. Es muss daher auf die Einschätzung des Deutschen Ethikrates

hingewiesen werden, dass für den Fall, dass eine Strategie „... innerhalb eines gesetzten

Zeitraums nicht zu dem gewünschten Erfolg der Vermeidung einer Überlastung des

Gesundheitssystems ...“ führt oder „... andere gesundheitliche, wirtschaftliche und

psychosoziale Schäden ...“ überwiegen, „... die Legitimität der Strategie [endet]“

(Deutscher Ethikrat 2020).

2. Paradoxie in der Zeitachse: Falls man jedoch trotz der o.g. Einschränkungen von

einer Wirksamkeit der verschiedenen containment-Strategien ausgeht, treten große

Schwierigkeiten dahingehend auf, dass man das entsprechende Vorgehen zeitlich nicht

zu limitieren weiß. Um so wirksamer das „Abflachen der Kurve“ ist, um so

wahrscheinlicher ist das Auftreten neuer Wellen nach Lockerung der Maßnahmen, weil in

der vorangegangenen Welle eine relevante Immunität der Bevölkerung nicht erreicht

werden konnte. In Abhängigkeit von der Saisonalität der Infektion wird insbesondere der

Winter 2020/21 bedeutsam werden, vor allem wenn zusätzliche negative Einflüsse durch

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die Verschlechterung der sozialen Lage und der Ernährungssituation nicht

auszuschließen sind.

3. Mangelnde Effizienz: Auch bei Präventionsmaßnahmen, vor allem wenn sie in das

soziale und politische Leben einer Gesellschaft tief eingreifen, muss der zu erwartende

Nutzen gegen die möglichen negativen Folgen abgewogen werden (s. Stellungnahme des

deutschen Ethikrates, 2020). Es gibt zahlreiche Stimmen, die darauf hinweisen, dass die

Wahrscheinlichkeit nicht gering ist, dass die Kollateralfolgen einen größeren negativen

Einfluss auf die Bevölkerung haben als sie von der eigentlichen Pandemie ausgehen

(Abele-Brehm et al. 2020, Konrad und Thum 2020, Straubhaar 2020). Der

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat in

seinem aktuellen Sondergutachten darauf hingewiesen, dass es einen deutlichen

Zusammenhang zwischen Fortdauer der Einschränkungen der Freizügigkeit und

Berufsausübung und den zu erwartenden wirtschaftlichen Folgen gibt (SVR 2020). Es

besteht außerdem Einigkeit darüber, dass auch von der Beschränkung sozialer Kontakte

und von Arbeitslosigkeit ein relevantes Morbiditätsrisiko ausgeht. Zusätzlich zur

biologischen Ansteckung darf nicht noch eine soziale und emotionale Ansteckung durch

Ängste auftreten, die zu unerwünschten sozialen Folgen führen könnte (z.B. Anschwärzen

der Nachbarn; Anpöbeln alter Menschen in Discount-Läden; Stigmatisierung). Die

Überprüfung der Verhältnismäßigkeit muss daher fortlaufend erfolgen und kann nicht

einmalig für einen unbestimmten Zeitraum getroffen werden. Weiterhin sind normative

Grenzen in der rechtsstaatlichen Verfasstheit zu beachten.

2.3. Spezifische Präventionsstrategien

1. Mangelnde theoretische Absicherung des derzeitigen Vorgehens: Das derzeitige

Vorgehen ist als isolierte Maßnahme theoretisch nicht ausreichend begründet, denn es

handelt sich, wie im Abschnitt zur Epidemiologie ausgeführt, bei Covid-19 nicht um eine

Epidemie, die alle Bevölkerungsteile gleichermaßen betrifft, sondern um eine Epidemie

mit relativ genau benennbaren Risikogruppen

hohes Alter,

Komorbidität,

nosokomiales Risiko und

Kontakt zu lokalen Clustern.

Aufgrund ihrer Komplexität erscheint es nicht zielführend, auf eine einzige Form der

Maßnahmen zu setzen, nämlich die unterschiedslose Beschränkung der persönlichen

Kontakte. So ist es – anders als z.B. bei einer Influenza-Epidemie, wo in der älteren

Bevölkerung durch die vorangegangenen Infektionswellen eine (unvollständige) Immunität

existiert – nicht nachvollziehbar, warum sich Kinder und Personen jüngeren Alters nicht

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frei bewegen können, zumindest solange sie ältere Personen oder solche mit

Prädispositionen nicht kontaktieren. Dies gilt umso mehr, als dass sich diese Gruppe im

Verlauf der Epidemie aller Wahrscheinlichkeit nach in jedem Fall anstecken wird (aber

nicht bzw. nur selten erkrankt). Vor allem aber ist der Punkt hervorzuheben, dass

komplexe Systeme auf eine eindimensionale Maßnahme bzw. eine Maßnahme, die nur

auf einer Ebene eingreift, nicht reagieren. Stattdessen muss man zu Interventionen

greifen, die gut durchdacht auf mehreren Ebenen gleichzeitig ansetzen und mehrere

Zugangsmöglichkeiten nutzen (z.B. administrative Anweisungen plus soziale Prozesse

plus technische Hilfsmittel plus institutionelle Ansatzpunkte etc.). Es gibt hierfür sehr gute

wissenschaftliche Evidenz, so waren anhaltende Verbesserungen auf dem Gebiet der

nosokomialen Infektionen auf Intensivstationen, die ebenfalls als hoch-komplexe Systeme

aufzufassen sind, nur durch Mehrfachinterventionen zu beherrschen (Pronovost et al.

2006).

2. Zielgruppen-spezifische Präventionsstrategien favorisieren: Die unter Punkt 1

genannten Risikogruppen (hohes Alter, Multimorbidität, nosokomiales Risiko, Kontakt zu

Clustern) müssen durch zielgerichtete Präventionsstrategien adressiert werden und sich

auf den Schutz dieser vulnerablen Gruppen konzentrieren.

hohes Alter: größtmöglicher Schutz der älteren Bevölkerung vor Ansteckung,

Hilfen bei der Versorgung, ärztliche und pflegerische Versorgung vor Ort mit

Schutzmaßnahmen, als weiteres Beispiel vormittags spezieller Slot von 2 Stunden

zum Einkaufen mit selektiver Zurückhaltung der jüngeren Bevölkerung;

Komorbidität: Stratifizierung der Isolierung und Unterstützung nach Maßgabe der

individuellen Komorbidität;

nosokomialer Kontakt: Konzentration auf die Einrichtungen von

Krankenversorgung und Pflege durch Übertragung der Kenntnisse und Strategien

aus dem infection control-Bereich, Richtlinien für Mindeststandards beim Vorgehen,

Schutzmaßnahmen für Mitarbeiter priorisieren, Vorgehen bei Infektion von

Mitarbeitern vereinheitlichen, gepooltes Testen der Gesamtheit der Mitarbeiter einer

Einrichtung, vorausgreifende Einrichtung von getrennten Versorgungsbereichen,

Erarbeitung von Richtlinien für den Einsatz von Personal, das die Infektion

durchgemacht hat, unbürokratische finanzielle Hilfen, Unterstützung durch die

Hochrisiko-Task Force;

Auftreten von Clustern: da Cluster (wie oben dargestellt) auch mittel- und

langfristig immer wieder auftreten werden, und zwar nach einem nicht

vorhersehbaren Muster, ist es für die Klärung solcher lokalen Krisensituationen (z.B.

aktuell in Würzburg oder Wolfsburg) von entscheidender Bedeutung, praktisch ohne

Zeitverzug mit Experten-Teams vor Ort zu sein, um bei den anstehenden

Maßnahmen Unterstützung zu leisten. Diese Einsätze müssen durch gesetzliche

Maßnahmen legitimiert sein und dürfen nicht durch Kompetenzüberschneidungen

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gehemmt werden. In der Kommunikation muss klar hervorgehoben werden, dass

solche Cluster kein Maßstab für die allgemeine, bevölkerungsbezogene Entwicklung

darstellen, sondern ausschließlich lokale Bedeutung haben, weil sonst durch die auf

die lokalen Herde bezogene Berichterstattung zum Eindruck einer allgemeinen

Katastrophe führen.

Bei der Entwicklung dieser spezifischen Präventionsstrategien ist besonders die

Pflegeprofession, die an allen Stellen explizit an und mit Patienten arbeitet, umfassend

einzubeziehen. Ihr Aktionsradius ist maßgeblich abhängig von geschaffenen und zur

Verfügung stehenden Rahmenbedingungen.

3. Gruppen-spezifische Lockerung der allgemeinen Präventionsmaßnahmen: Unter

der Voraussetzung, dass die in Punkt 5 genannten spezifischen Präventionsmaßnahmen

implementiert sind, kann eine gezielte Öffnung der allgemeinen, unspezifischen

Präventionsmaßnahmen erfolgen. Obwohl das Infektions- und Morbiditätsrisiko der

jüngeren Bevölkerungsanteile nicht zu vernachlässigen ist, darf und muss in der

gegenwärtigen Situation dieses Risiko gegenüber dem mit den jetzigen Maßnahmen nicht

herstellbaren Schutz der älteren Bevölkerung mit ihrem weitaus höheren Morbiditäts- und

Mortalitätsrisiko und den massiven gesellschaftlichen Folgewirkungen abgewogen

werden.

Zusammenfassend kann hier folgende These 2 formuliert werden:

These 2: Die allgemeinen Präventionsmaßnahmen (z.B. social distancing) sind

theoretisch schlecht abgesichert, ihre Wirksamkeit ist beschränkt und zudem

paradox (je wirksamer, desto größer ist die Gefahr einer „zweiten Welle“) und

sie sind hinsichtlich ihrer Kollateralschäden nicht effizient. Analog zu anderen

Epidemien (z.B. HIV) müssen sie daher ergänzt und allmählich ersetzt werden

durch Zielgruppen-orientierte Maßnahmen, die sich auf die vier Risikogruppen

hohes Alter, Multimorbidität, institutioneller Kontakt und Zugehörigkeit zu

einem lokalen Cluster beziehen.

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3. Gesellschaftspolitische Implikationen

In der Geschichte haben Epidemien regelmäßig eine wichtige Rolle in der Ausprägung

staatlicher Strukturen in Abstimmung mit anderen gesellschaftlichen Entwicklungen

eingenommen (aus der umfangreichen Literatur s. Slack 2015, Göckenjan 1988). In der

Krise wird ein „starker Staat“ gefordert, das Instrument der „Seuchenpolizei“ und der

direkte Durchgriff erscheinen alternativlos, und es werden gesellschaftliche Entwicklungen

angestoßen, die zuvor undenkbar erschienen. So auch jetzt: Die FAZ vom 31.3.2020

zitiert unter dem Titel „Berlin plant elektronische Nachverfolgung“ einen Sprecher des

Bundesministeriums mit der ergänzenden Aussage, diese Maßnahme sei „eine

Voraussetzung für Lockerungsmaßnahmen“. Man kann trefflich darüber diskutieren, ob

die angestrebte Digitalisierung des Gesundheitswesens mit ihrem individuellen

Steuerungsansatz ethischen, normativen oder politischen Grundsätzen genügt oder

lediglich einen Ansatz zur Ökonomisierung einer der letzten verbliebenen Privatsphären

darstellt, allerdings ist das angedeutete Junktim zwischen dem Akzeptieren einer

Handyüberwachung der Bevölkerung und der Lockerung der „Kontaktsperre“ ein Vorgang,

der völlig unabhängig vom epidemiologischen Szenario und dessen Beurteilung (s. Kap.

1) zeitnah intensiv diskutiert werden muss. Natürlich sind die zur Kontrolle vorgesehenen

Handy-Apps noch freiwillig, doch geht die Vorstellung, dass der nächste Schritt in der

Anordnung liegen könnte, das Betreten eines Supermarktes nur noch mit eingeschalteter

Bluetooth-Funktion zu erlauben, weit über demokratische Grundrechte hinaus.

Dieses Erstarken autoritären Gedankengutes würde nicht nur historischen Parallelen

folgen, sondern ist gegenwärtig in vielen Ländern der Erde zu beobachten. Den

Regierenden werden z.T. absolutistische Vollmachten zugesprochen, diktatorische

Regime werden ausgebaut, die Zensur wird verschärft (auch hinsichtlich der Diskussion

zur gegenwärtigen SARS-CoV-2/Covid-19-Krise). Immer wieder wird versprochen, diese

Maßnahmen seien nur vorübergehender Natur, aber dass die Exekutive die in Zeiten der

Krise verliehenen Vollmachten freiwillig wieder „zurückgeben“ wird, ist eher

unwahrscheinlich.

Die beschriebene Tendenz soll hier jedoch nur begleitend Erwähnung finden und die

Erwartung zum Ausdruck gebracht werden, dass die deutsche Gesellschaft stabil genug

ist, die genannten Tendenzen wieder einzufangen: wir wollen unser Land nach Covid-19

noch wiedererkennen. Es muss jedoch in aller Deutlichkeit gesagt werden: Anleihen an

totalitäre Systeme (z.B. China) oder autoritäre Systeme z.B. mit ausgebautem

Sozialkreditsystem wie Singapur sind aus Sicht der Autoren mit dieser

Wiederkennungserwartung nicht kompatibel.

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1. Soziale Ungleichheit und psychosoziale Implikationen: Auch wenn immer gesagt

wird, „vor der Seuche sind alle gleich“, ist davon nicht auszugehen. Weder die

ökonomischen Lasten (Verdienstausfall) noch die psychosozialen Einschränkungen

(faktische Ausgangssperre für Familien in kleinen Wohnungen vs. Einfamilienhaus mit

Garten, Problematik der innerfamiliären Gewalt etc.) oder die Fähigkeit, die Kinder über

einen längeren Zeitraum selbst zu unterrichten (bildungsferne vs. bildungsorientierte

Familien) sind gleich verteilt. Die Chancen von Behinderten oder betreuungspflichtigen

alten Menschen sind deutlich stärker eingeschränkt als dies für andere

Bevölkerungsgruppen der Fall ist. Durch die Gefahr einer langdauernden ökonomischen

Krise steht zu erwarten, dass sich die genannten Konflikte mittelfristig weiter verschärfen.

Die Einbeziehung von Experten für die Beherrschung der daraus entstehenden

Problemlagen ist daher dringend anzuraten (Abele-Brehm et al. 2020, Krott und Böcher

2020). Die Sensitivität gegenüber sozialen Faktoren ist eines der stärksten Argumente für

die Entwicklung von Zielgruppen-spezifischen Programmen, die auf die Bedürfnisse

dieser Gruppen genauer eingehen und sie dadurch besser schützen können.

2. Zu den normativen und juristischen Grundlagen: In Zeiten einer Epidemie sind die

rechtlichen Grundlagen der Gesellschaft nicht außer Kraft gesetzt, sondern können

lediglich eine dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit entsprechende, zeitlich begrenzte

Relativierung erfahren (Papier 2020). Die Auseinandersetzung um die Novellierung des

Infektionsschutzgesetzes mit Schwerpunkt §5 hat jedoch gezeigt, dass dieser Aspekt

derzeit nicht adäquat gewichtet wird, denn hier wird dem Bundesgesundheitsminister eine

fast uneingeschränkte Verfügungsgewalt über staatliche Organe und die

Einschränkungen der Bürgerrechte zugesprochen, die auf dem Verordnungswege

ausgeübt werden kann (Kingreen 2020, Straubhaar 2020). Eine parlamentarische

Kontrolle ist abgesehen von der Feststellung der Pandemie nicht (mehr) vorgesehen.

Tatsächlich bedeutet das Prinzip der Verhältnismäßigkeit jedoch dem Grundsatz nach,

dass Präventionsmaßnahmen (a) hinsichtlich ihrer zeitlichen Begrenzung einer

kontinuierlichen Überprüfung unterworfen sein müssen, (b) hinsichtlich ihrer

Zielorientierung jederzeit diskutierbar sein müssen (Volkmann 2020) und (c) vor allem auf

diejenigen Personen konzentriert werden, die eines Schutzes tatsächlich bedürfen. Ein

untergeordneter, in Zukunft aber immer wichtiger werdender Aspekt wird die

Einschränkung der Grundrechte von SARS-CoV-2/Covid-19-immunen Personen

darstellen, bei denen es weder zum Schutz der eigenen Person noch zum Schutz der

Gemeinschaft eine Begründung für entsprechende Maßnahmen gibt.

3. Gesundheitsversorgung und Demokratie: Wenngleich eine Einschränkung von

Grundrechten unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit nach Punkt (a) und (b) des

vorangegangenen Abschnitts im Einzelfall statthaft sein kann, darf die Priorität des

Prinzips von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie nicht in Frage gestellt werden. Dies gilt

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zum einen, weil diese Situation sonst ein Präjudiz für anderweitige Situationen darstellen

würde, und zum anderen, weil ein Verzicht auf Rechtsstaatlichkeit und demokratischen

Verfasstheit die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft beeinträchtigen würde. Gerade

bezüglich des wichtigen Themas der Gesundheitsversorgung würde der Verzicht auf den

demokratischen Diskurs zu suboptimalen Lösungen führen und somit eine wesentliche

Basis für die Gesundheit der Bevölkerung beeinträchtigt werden. So werden die

angeblichen Erfolge autoritärer Systeme bei der Bewältigung der SARS-CoV-2/Covid-19-

Krise zwar derzeit hoch gepriesen, es ist aber höchst wahrscheinlich, dass diese

„Performance“ einen artifiziellen Effekt darstellt, der z.B. durch staatliche

Zwangsmaßnahmen, Zensur und Umstellungen des Meldeverfahrens bedingt ist. Zu

Beginn der SARS-CoV-2/Covid-19-Pandemie wurde wertvolle Zeit verloren, weil

Transparenz nicht erwünscht war (zum Zeitablauf s. Artikel in der SZ vom 4.4.2020).

Autoritäre Systeme unterdrücken letztendlich die Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft,

weil sie zu viele Ressourcen in die Aufrechterhaltung des Systems investieren müssen

(Habermas 2020, S. 19). Für die europäischen Demokratien muss daher der nicht

verhandelbare Grundsatz gelten, dass die demokratische Gesellschaftsform nicht gegen

Gesundheit ausgespielt werden darf.

4. Von der wissenschaftlichen Expertise zu Perspektiven und Lösungen. Die

Autoren dieses Thesenpapiers begrüßen aufgrund ihrer wissenschaftlich-fachlichen

Ausrichtung die Einbeziehung wissenschaftlicher Expertise bei der Bewältigung der

gegenwärtigen Krise durch die SARS-CoV-2/Covid-19-Infektion. Sie weisen jedoch auf

zwei Gefahren hin: zum einen darf der Bezug auf wissenschaftliche Erkenntnisse nicht

den politischen Charakter konfliktärer Entscheidungssituationen und die Verantwortung

für ihre demokratischen Absicherung abschwächen oder in Frage stellen. Eine solche

Entwicklung wäre geeignet, einer Verschärfung der in der gegenwärtigen politischen

Diskussion immer wieder benannten Legitimationskrise der Demokratie Vorschub zu

leisten (Kritik an der „Expertokratie“). Zum anderen kann, insbesondere bei selektiver oder

auf Bestätigung ausgerichteter Beratungsnachfrage, die Wissenschaft ihr auf

Multidimensionalität beruhendes Gleichgewicht verlieren und insofern Schaden nehmen.

Mit diesem Argument sei der Bogen zum Beginn dieses Thesenpapiers geschlagen.

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Zusammenfassend wird hier folgende These formuliert:

These 3: Entstehung und Bekämpfung einer Pandemie sind in

gesellschaftliche Prozesse eingebettet. Die derzeitig angewandte allgemeine

Präventionsstrategie (partieller shutdown) kann anfangs in einer

unübersichtlichen Situation das richtige Mittel gewesen sein, birgt aber die

Gefahr, die soziale Ungleichheit und andere Konflikte zu verstärken. Es

besteht weiterhin das Risiko eines Konfliktes mit den normativen und

juristischen Grundlagen der Gesellschaft. Demokratische Grundsätze dürfen

nicht gegen Gesundheit und Bürgerrechte ausgespielt werden. Die

Einbeziehung von Experten aus Wissenschaft und Praxis muss in einer Breite

erfolgen, die einer solchen Entwicklung entgegenwirkt.

Literatur

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Leonhard, M., Lohse, A.W., Lohse, M.J., Mansky, T., Peichl, A., Schmid, R.M., Wess, G.,

Woopen, C.: Die Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie tragfähig gestalten.

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