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KAPITEL II DIE RȠCKKEHR DER GȔTTER UND DIE KRISE DER EUROPƐISCHEN MODERNE EINE SOZIOLOGISCHE EINLEITUNG Das im vorangegangenen Kapitel eingefɒhrte Thema des ei- genen Gottes kann nicht isoliert im luftleeren Raum behan- delt werden. Denn es handelt sich nur um einen von vielen FȨden im kaum zu entwirrenden KnȨuel religiçser Trends und Gegentrends, deren RealitȨtsgehalt und Bedeutsamkeit begriffliche KlȨrungen, empirische Befunde und theoretische Verortungen voraussetzen. Insofern soll in diesem soziologi- schen Einleitungskapitel die Individualisierung der Religion in Beziehung gesetzt werden zur Rɒckkehr der Religionen am Beginn des 21. Jahrhunderts und einer mçglichen Krise des europȨischen VerstȨndnisses und Monopols der sȨkularen Moderne. 1 . die differenz der religionen und die zivilisierung der weltgesellschaft 1.1 Abschied von der SȨkularisierung? Die Rɒckkehr der Religionen am Beginn des 21. Jahrhunderts bricht mit der conventional wisdom, die ɒber etwa 200 Jahre bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts galt: 1 Die Auf- 1 Im folgenden fasse ich die Ergebnisse der Kritik und Revision der SȨkularisierungstheorie zusammen; siehe dazu: Berger (1969, 1979); Casanova (2006, 2007); Martin (1978, 2005); Hervieu-LȖger (1990, 2006); Bourdieu (1992); Davie (1994, 2000, 2006); Beck- ford/Levasseur (1986); Beckford (2003); McLeod (2000); Riese- 34

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KAP ITEL I IDIE RÜCKKEHR DER GÖT TER UND DIE KR I SE

DER EUROP¾ I SCHEN MODERNEEINE SOZIOLOGI SCHE EINLEITUNG

Das im vorangegangenen Kapitel eingeführte Thema des ei-genen Gottes kann nicht isoliert im luftleeren Raum behan-delt werden. Denn es handelt sich nur um einen von vielenFäden im kaum zu entwirrenden Knäuel religiçser Trendsund Gegentrends, deren Realitätsgehalt und Bedeutsamkeitbegriffliche Klärungen, empirische Befunde und theoretischeVerortungen voraussetzen. Insofern soll in diesem soziologi-schen Einleitungskapitel die Individualisierung der Religionin Beziehung gesetzt werden zur Rückkehr der Religionenam Beginn des 21. Jahrhunderts und einer mçglichen Krisedes europäischen Verständnisses und Monopols der säkularenModerne.

1. d i e d i f fe r enz de r r e l i g i onen und d i e

z i v i l i s i e r ung de r we lt g e se l l schaf t

1.1 Abschied von der Säkular isierung?

Die Rückkehr der Religionen am Beginn des 21. Jahrhundertsbricht mit der conventional wisdom, die über etwa 200 Jahre bisin die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts galt:1 Die Auf-

1 Im folgenden fasse ich die Ergebnisse der Kritik und Revisionder Säkularisierungstheorie zusammen; siehe dazu: Berger (1969,1979); Casanova (2006, 2007); Martin (1978, 2005); Hervieu-LØger(1990, 2006); Bourdieu (1992); Davie (1994, 2000, 2006); Beck-ford/Levasseur (1986); Beckford (2003); McLeod (2000); Riese-

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klärung hat den Menschen von Gott befreit und ihm zur Au-tonomie in allen Bereichen verholfen. Religiçser Glaube istatavistisch, ein Produkt des schlechten Gewissens. Der Euro-päer blickt auf diejenigen, die immer noch oder schon wiederreligiçs sind, mit Verachtung herab. Zum Bild des modernen,aufgeklärten Europäers gehçrt es, den vormodernen Aber-glauben überwunden zu haben. Europa aber ist der Schlüsselzur Moderne.

Je weiter und schneller die Modernisierung voranschrei-tet – je klarer also die wissenschaftliche und technische Ratio-nalität triumphiert und jene Strukturen zusammenbrechen,welche die Plausibilität des religiçsen Glaubens begründen –,desto deutlicher tritt die Entmachtung der Gçtter hervor. Re-ligion galt also 200 Jahre lang als ein nicht-ursprünglicher,zweitrangiger Aspekt, der in dem Maße verschwindet oderan Bedeutung verliert, in dem seine Ursachen beseitigt wer-den. Wenn einmal eklatante Armut überwunden und Ausbil-dung universal ist, soziale Ungleichheit abgebaut und politi-sche Unterdrückung eine Sache der Vergangenheit ist, dannwird Religion den Rang eines persçnlichen Hobbys einneh-men. Die Religiosität ist, sofern vorhanden, zur Privatangele-genheit geworden. Der religiçse Glaube bleibt als Option be-stehen, er bindet das persçnliche Gewissen der Gläubigen,hat jedoch seine bestimmende Rolle bei der individuellenund kollektiven Identitätsbildung verloren.

Die Säkularisierungstheorie tritt das Erbe der historischenReligionskritik der europäischen Aufklärung an, wie sie einFeuerbach, ein Marx, ein Nietzsche oder ein Freud artikulierthat.2 Die säkularistische Genealogie wurde auf diese Weise als

brodt (2000, 2007); Norris/Inglehart (2006); Bruce (2006); Heelas(2006); Asad (2006); Roy (2006); Gçle (2006); Jakelic (2006); Haber-mas (2007a, b).

2 Demgegenüber hatte die amerikanische Aufklärung eigentlich kei-ne anti-religiçse Komponente. Selbst die Trennung von Kircheund Staat, die in der Verfassung in der First Amendment festge-schrieben wurde, hat mindestens ebenso den Sinn, die freie Aus-übung der Religion vor staatlichen Übergriffen zu schützen wie

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eine triumphale Emanzipation der Rationalität und der Frei-heit von den weltlichen Anmaßungen und Bornierungender Religionen konstruiert. Und jede »progressive« soziale Re-volution und Bewegung in Europa und den USA, von derFranzçsischen Revolution bis zur çkologischen Revolutionin der Gegenwart (in der weltweit nach »gerechten« Antwor-ten auf die antizipierten Klimakatastrophen gesucht wird),wurde und wird von säkularistischen Akteuren betrieben,die für das Heil im Diesseits streiten.

Die Säkularisierungstheorie beruht auf zwei Annahmen:erstens, daß Modernisierung, wie sie im europäischen Kon-text entstand (»okzidentale Rationalität« nannte dies Max We-ber vor einem Jahrhundert), ein universaler Prozeß ist, der zuähnlichen Ausprägungen überall auf der Welt führt; unddaß zweitens Säkularisierung untrennbar verbunden ist mitModernisierung, also wie sie unaufhaltsam voranschreitet. VonAnfang an ist diese Form der Säkularisierungstheorie einKernelement der im übrigen durchaus verschiedenen Moder-nisierungstheorien (von Durkheim, Comte, Marx usw.). DerNiedergang der Religion im Zuge der »Entzauberung derWelt«, erklärte Max Weber, ist eine der nicht-intendiertenKonsequenzen der protestantischen Reformation und konsti-tutiv für den allgemeinen Prozeß der Moderne.

den Staat vor religiçser Indienstnahme. Auch sollte man nicht ver-gessen, daß die amerikanische Erfahrung wirklich eine Ausnahmeist. Es gibt keine so moderne Gesellschaft, deren Bevçlkerung sogläubig ist, aber auch gleichzeitig an die Trennung zwischen Staatund Kirche glaubt. Die politische Rhetorik ist immer messiani-stisch, aber die Legitimation der Institutionen ist nie in Gefahr.Das zeigt sich nicht zuletzt im Präsidentenwahlkampf im Jahre2008. Paradoxerweise hat der religiçse Messianismus der Bush-Ad-ministration – sowieso gänzlich unintendiert – etwas noch vorkurzem vçllig Undenkbares ausgelçst: eine Gegenwelle der »Libe-ralisierung« (lange Zeit ein amerikanisches Schimpfwort) der US-Politik. Das ist eine Ausnahme. Und das, obwohl beispielsweiseauch Japan und Indien die Teilung von Staat und Religion durch-lebt haben.

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Der Zusammenbruch der Säkularisierungstheorie ist daherweit bedeutsamer als beispielsweise der Zerfall der Sowjet-union und des Ostblocks. Trifft er doch nicht »nur« einzelnegeopolitische Imperien, sondern gefährdet das Gefüge derGrundannahmen und Basisinstitutionen und damit letztlichdie Zukunft der europäischen Moderne. Säkularisierung gilt(galt?) als konstitutive Voraussetzung für Demokratie undModernität. Es ist zweifellos das Verdienst von Jürgen Haber-mas (2005, 2007b), diese tabubeladene Frage aufgeworfen zuhaben. Was heißt dann eine »post-säkulare« Moderne in Eu-ropa? Letztlich geht es darum, Moderne und Verwestlichungzu entkoppeln und demWesten das Monopol der Moderne zuentziehen.Was hat die Religionssoziologie seit den siebziger Jahren

des 20. Jahrhunderts an Evidenzen aufgehäuft, die zum Ein-sturz der Säkularisierungstheorie führen kçnnten oder bereitsgeführt haben? In der verbreiteten Rede von der »Wieder-kehr« der Religionen ist nicht ganz klar, inwieweit es sichum einen Realitätswandel oder einen Aufmerksamkeitswan-del (oder beides) handelt. Vier Fragestelungen und Argumen-tationslinien sollen hier herausgearbeitet werden: (1) Ist Säku-larisierung ein europäischer Sonderweg? (2) Das Paradox derSäkularisierung. (3) Der Kern der »Wiederbelebung« der Reli-giosität in Europa ist die Entkoppelung von (institutioneller)Religion und (subjektivem) Glauben. (4) Die prinzipielle Au-torität des wiederbelebten Glaubens ist das souveräne Selbst.

Säkularisierung – Ein europäischer Sonderweg?

Wenn man als Indikator für Säkularisierung den Kirchgangwählt, dann nimmt der Rückgang der regelmäßigen Religions-ausübung in Westeuropa seit dem Ende des Ersten Weltkrie-ges in einigen Ländern das Ausmaß eines wahrhaften Zu-sammenbruchs an, während er anderenorts eine Entwicklungjüngeren Datums ist. »Nur in drei europäischen Ländern (Ir-land, Polen, Schweiz) geht die Mehrheit der Bevçlkerung re-

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gelmäßig zur Kirche. In den meisten europäischen Ländernsind es weniger als 20 Prozent, und in Ostdeutschland undSkandinavien liegen die Werte im einstelligen Bereich. Umge-kehrt gehen in Polen, Irland, der Schweiz und Portugal weni-ger als 10 Prozent nie zur Kirche, während es – in aufsteigen-der Reihenfolge – mehr als 50 Prozent sind in Frankreich,Großbritannien, den Niederlanden und Ostdeutschland.«(JosØ Casanova 2007: 326)Während sich also im westeuropäischen Raum (obwohl mit

großen Unterschieden) die christlichen Kirchen gespenstischleeren (was für die Säkularisierungstheorie spricht), zeigt sichin kosmopolitischer Perspektive das entgegengesetzte Bild,nämlich die Vitalität der Religionen, insbesondere des Chri-stentums im außereuropäischen Raum. Hier sind wir gegen-wärtig Augenzeugen einer der intensivsten Ausbreitungspha-sen des Christentums in seiner Geschichte.

»Erstaunlicherweise wird von manchen (beispielsweise Sa-muel Huntington) der demographische Faktor praktisch nurauf den globalen Islam, aber nicht auf das globale Christen-tum bezogen. Dabei sind viele der am schnellsten wachsen-den Nationen ganz oder stark christlich geprägt. Man denkenur an Brasilien, Uganda oder die Philippinen, deren Bevçlke-rung sich seit 1974 fast verdoppelt hat. Einige dieser Länderwerden 2050 erneut eine Verdoppelung oder mehr erfahren,was die Rangfolge der Staaten auf der Welt hinsichtlich dieserBevçlkerungszahl vçllig verändern wird. Dabei ist die Demo-graphie nicht die einzige Ursache für die rapide Ausbreitungdes Christentums in der Welt. Entgegen den Erwartungender Kritiker des Kolonialismus, die das Christentum als Im-plantat des Westens ohne Zukunft in fremder Umwelt be-trachteten, begann eine rapide Ausbreitung des Christentumsin Afrika, auch durch massenhafte Konversionen erst rechtnach Ende der Kolonialherrschaft. Schätzungen besagen,daß gegenwärtig in Afrika pro Tag 23000 Menschen zur Zahlder Christen hinzukommen – durch Geburt, aber auch zumehr als einem Sechstel durch Konversion. Der christlicheAnteil an der afrikanischen Bevçlkerung ist von 1965 bis 2001

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von 25 auf 46 Prozent gestiegen. Sicher sind Religionsstatisti-ken nicht extrem zuverlässig; aber zumindest die Trendaussa-gen scheinen unbestreitbar. Auch in Asien gibt es erstaunlicheErfolgsgeschichten des Christentums, am spektakulärstenwohl in Südkorea . . . In Lateinamerika ist der Siegeszug derPfingstbewegung und der protestantischen Sekten offensicht-lich mehr als ein kurzlebiges Phänomen. Diese spielen geradeauch für Frauen eine so große Rolle, weil sie sich von ihneneine ›Reformation des Machismo‹ versprechen.« (Joas 2007:983)

Nicht das Christentum stirbt aus, sondern das europäischeChristentum ist in einigen seiner nationalen Hochburgen,auch in Deutschland, mit einer rapiden Entleerung der Kir-chen konfrontiert. Was die Säkularisierungstheorie zur Spra-che bringt ist, generell verstanden, falsch, läuft, regional ver-standen, auf die Enteuropäisierung des Chr istentums hinaus. Dasaußereuropäische Christentum blüht auf, das europäische ver-welkt (obwohl es auch hier »neue Knospen« gibt; dazu spä-ter).

Dieser Befund verweist auf eine erkenntnistheoretischePointe: Wer nicht den Wechsel vom nationalen zum kosmo-politischen Blick vollzieht, verkennt die Realität. Das religiç-se Feld und die Akteure und Handlungsmçglichkeiten in ihmsind kein nationales Feld. »Wenn eine Weltreligion angebotenwird, muß auf ethnische, vçlkische oder regionale Abstützun-gen verzichtet werden . . . Es soll Jedermann angesprochenwerden, der als Mensch erkennbar ist . . . Weltreligionen sindein wichtiger, vielleicht der wichtigste Beitrag zur Ausdif-ferenzierung eines Religionssystems. Sie nehmen gleichsamdie Weltgesellschaft vorweg.« (Luhmann 2000: 267, 157) WennReligionsbewegungen und Religionswandel übernationale Er-eignisse bilden, dann brauchen wir einen grenzenüberschrei-tenden, den kosmopolitischen Blick, um zu sehen, daß das,was sich im nationalen Rahmen zeigt, nur ein Mosaikstein-chen im Puzzle der globalen Religionsbewegungen ist.

Ein wichtiger Befund des kosmopolitischen Blicks ist »derUmstand, daß im Rahmen der bestehenden Religionsgemein-

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schaften und Kirchen orthodoxe und jedenfalls konservativeGruppen überall auf dem Vormarsch sind. Das gilt für Hin-duismus und Buddhismus ebenso wie für die drei monothei-stischen Religionen. Auffällig ist vor allem die regionale Aus-breitung dieser etablierten Religionen in Afrika und in denLändern Ost- und Südostasiens. Der Missionserfolg hängt of-fenbar auch von der Beweglichkeit der Organisationsformenab. Die multikulturelle Weltkirche des rçmischen Katholizis-mus paßt sich den Globalisierungstrends besser an als die na-tionalstaatlich verfaßten protestantischen Kirchen, die diegroßen Verlierer sind. Am dynamischsten entfalten sich diedezentralisierten Netzwerke des Islam (vor allem in Afrikaunterhalb der Sahara) und der Evangelikalen (vor allem in La-teinamerika). Sie zeichnen sich durch eine ekstatische, voneinzelnen charismatischen Figuren entfachte Religiosität aus.Die am schnellsten wachsenden religiçsen Bewegungen wiedie Pfingstler und die radikalen Muslime lassen sich am ehe-sten als ›fundamentalistisch‹ beschreiben. In ihrem Kultusverbinden sich Spiritualismus und Naherwartung mit rigidenMoralvorstellungen und wçrtlichem Bibelglauben.« (Haber-mas 2007b: 2f.; Martin 2002; 2005)

Das Paradox der Säkularisierung

In der einschlägigen Literatur wird Säkularisierung gleichge-setzt mit Entmachtung und Bedeutungsverlust der Religionund Religionsorganisationen. Ungestellt bleibt damit dieFrage, inwieweit Säkularisierung nicht genau umgekehrt alsgroßer Gewinn für die Religion angesehen werden kann undmuß.3 Um diesen Blickwechsel, diesen »Gestaltswitch« zuvollziehen, ist es nçtig, das Paradox der Säkular isierung zu ver-stehen.

Greifen wir die europäische Debatte heraus. Im Anschluß

3 Diesen Gedanken verdanke ich einem Gespräch mit Ulrich Wen-genroth.

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an die Religionskriege wird in der Frühen Neuzeit der Zerfallder weltlichen Macht der Kirche teils betrauert, teils gefeiertals Triumph der säkularen Rationalität der Wissenschaft undder irdischen Selbstbegründung politischer Herrschaft, zweiSchlüsselakteure der Modernisierung, die sich aus dem Banndes Aberglaubens und der Machtanmaßung des Papsttumsbefreit haben. Aber gilt das nicht ebenso für die christlicheReligion selbst? Ist nicht auch das Christentum vom Aber-glauben und der schweren Bürde der Herrschaftslegitimationbefreit worden? Dient nicht gerade das, was vielen Kirchen-vätern als Grund für die Entfremdung und den Niedergangder Religion erscheint – die Trennung von Religion und Wis-senschaft sowie die Trennung von Religion und Staat –, derEmanzipation der Religion, die sich, befreit vom Ballast uner-füllbarer Aufgaben, von nun an ihrem eigentlichen Geschäft:der Spiritualität widmen kann? Ist also die aufgezwungeneSäkularisierung, deren Klagelied den Sieg der Moderne bisheute begleitet, nicht geradezu ein Geschenk Gottes, dasletztlich sogar dem Aufschwung der Religiosität im 21. Jahr-hundert, der spirituellen Wiederverzauberung, die nun plçtz-lich überall mit großer Verwunderung, Bewunderung und Be-fremdung zur Kenntnis genommen wird, den Weg bereitethat?

Säkularisierung entmachtet und ermächtigt Religion zu-gleich. Entthront und aus der gesellschaftlichen Mitte gewor-fen, ist der Religion zweierlei gelungen (wozu die Verkünderund Akteure des christlichen Heils freiwillig wohl niemals inder Lage gewesen wären): erstens den »Schwarzen Peter« ih-rer Zuständigkeit für rationale Erkenntnis und Wissen an dieWissenschaft bzw. den Staat weiterzureichen. Nun muß dieWissenschaft ihre irdischen Entdeckungen als transzendenteWahrheit verkünden und inszenieren; und die Politik mußin Gestalt von »Nation« und »Staat« die irdische Transzen-denz der Souveränität des politischen Gemeinwesens heili-gen.

Zum zweiten wird Religion auf diese Weise dazu gezwun-gen, nichts als Religion zu werden; also die unaufhebbare Spiri-

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tualität des Menschseins, das Transzendenzbedürfnis und -be-wußtsein der menschlichen Existenz zu wecken, zu kultivie-ren, zu praktizieren, zu zelebrieren, zu reflektieren und aufdiese Weise subjektiv und çffentlich zur Geltung zu bringen.Die Religion, die durch die Feuertaufe der Säkularisierung ge-gangen ist, weiß um die Grenzen der Religion, also um dieNotwendigkeit der Selbstbegrenzung. Die Gesetze des Him-mels und der Erde mit den Mitteln der Religion zu ergründenund zu verkünden: das geht nicht! Umgekehrt ist die Vorstel-lungswelt eines »irdischen Heils«, das heißt: eine Gesellschaftkçnnte sich so organisieren, daß sie mit sich selbst zufriedenist, die Überhebung des Säkularismus, die zum Scheitern ver-urteilt ist. Die Kirche ist nun nicht mehr für alles zuständig,nur noch für Spiritualität und Religiosität. In der Falle derAllzuständigkeit hingegen zappeln Wissenschaft und Staat.

Mit anderen Worten: Die erzwungene Säkularisierung derReligion legt den Grund für die Revitalisierung der Religio-sität und Spiritualität im 21. Jahrhundert. Womit für die Kir-chenreligionen allerdings zugleich die Gefahr verbunden ist,durch die Bewegungen, die Konkurrenz des »eigenen Got-tes« entleert, ja profan zu werden.

Kern der »Wiederbelebung« der Religiositätin Europa ist die Entkoppelung von (institutioneller)

Religion und (subjektivem) Glauben

Früh, bereits in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts,erkannten Religionssoziologen, daß der Besuch des Gottes-dienstes nicht das ein und alles der Religionsausübung undschon gar nicht die einzige Ausdrucksform von Glaubenund religiçser Zugehçrigkeit ist. Man suchte nach Indikato-ren, die enthüllen, was sich hinter der Kirchenmitgliedschaftverbirgt und was sich jenseits der Kirchentore tut und den-noch das Wort »religiçs« verdient. Gerade in Bereichen, in de-nen man es am wenigsten vermutet hatte, konnten in Italien,Frankreich, Belgien usw. religiçse Praktiken nachgewiesen

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werden: bei Pilgerfahrten, Heilungsritualen, lokalen Heiligen-kulten usw.

Diese fanden »im Modernisierungsfieber der ›GoldenenSechziger‹ paradoxerweise sogar eine unerwartete Anzie-hungskraft und Erneuerungsfähigkeit. Spätere Studien überneue Formen der Durchführung religiçser Feste haben denNutzen dieser bahnbrechenden Beobachtungen eindrucks-voll bestätigt. Sie ergaben, daß anläßlich solcher Feste die kol-lektive religiçse Erinnerung in Form ›geweihter Orte‹ und›bewegender Momente‹ auf gesamteuropäischer Ebene sozia-le Wirkung erzielt. Es dauerte jedoch bis zum Beginn der1970er Jahre, ehe die Dogmen der Säkularisierung, welchedie Forschungspraxis der Religionssoziologie beherrschten,durch diese Reflexionen ins Wanken zu geraten begannen.«(Hervieu-LØger 2004: 138f.)

Öffnete man den Blick auf das, was sich zwischen den Na-tionen und zwischen den Religionen tut, dann traten die so-genannten »Neuen Religiçsen Bewegungen« ins Blickfeld.Thomas Luckmann taufte sie »unsichtbare oder implizite Reli-gionen« (1967). Inzwischen ist es fast schon zur Platitüde ge-worden, darauf hinzuweisen, daß es sich hierbei um eine neuespirituelle Kultur handelt, die sich, über die Grenzen von Na-tionen und Religionen hinwegsetzend, ihre religiçsen Inhalteund Praktiken nach Belieben den verschiedenen religiçs-spi-rituellen Traditionen von Orient und Okzident entlehnte, umsie, angereichert mit wechselnden psychologischenModeprak-tiken, zu Formen des »eigenen Gottes« zusammenzubasteln.Diese Bewegungen stellen die individuelle Suche nach Vollen-dung und persçnlicher Entwicklung, die mit einer »Bereiche-rung der Seele« einhergeht, in den Vordergrund.

Dabei ist zweierlei bemerkenswert: Zum einen verweistdas Etikett »Neue« in »Neue Religiçse Bewegungen« wieder-um auf einen Eurozentrismus. Denn in einer nicht-westlichenPerspektive, insbesondere jener der asiatischenpantheistischenreligiçsen Traditionen, entpuppt sich diese »postmoderne«Religiosität als eine ziemlich altvertraute Sache. Individuali-stischer Mystizismus ist als Option in allen großen religiçsen

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Traditionen bekannt, galt dort aber als »Abweichung« oderblieb Eliten und religiçsen Virtuosen vorbehalten (innerhalbder hinduistischen, buddhistischen und taoistischen Traditio-nen).4

4 Wie wenig die Paradoxien des eigenen Gottes eine Eigenart des Ju-dentums oder des Christentums sind, macht Navid Kermani deut-lich, wenn er sich mit dem »Buch der Leiden« des muslimischenDichters Fariduddin Attar auseinandersetzt, der Ende des 11. An-fang des 12. Jahrhunderts in Nischapur lebte, einer Stadt im Nord-osten des heutigen Irans. »Wohl auch weil auf den Gott, den Attarportraitiert, kein Verlaß ist, berühren viele seiner Verse durch eineHaltung, die auf den heutigen Leser hier aufklärerisch, dort exi-stentialistisch wirkt: Da wird fortwährend die Eigenverantwort-lichkeit des Individuums betont und mehr als in jedem anderenklassisch-persischen Werk der psychologische Schçpfungsprozeßdes Schreibens zur Sprache gebracht; da gibt es ein eigenes Kapitelgegen den Fanatismus und dutzendweise Plädoyers für Barmher-zigkeit, Nachsicht, Nächstenliebe und so neumodisch geltendenPhänomenen wie den religiçsen Pluralismus, der mehr als nurakzeptiert, vielmehr als Reichtum gepriesen wird. Es dürfte füreinen Dichter des 12., 13. Jahrhunderts durchaus bemerkenswert,vielleicht sogar einzigartig sein, wie entschieden er die Verantwor-tung des Individuums betont, die Wirklichkeit des Schçpfers ei-genständig zu erfahren und Seine Gebote nicht blind, sondern auf-grund eigenen Wollens zu befolgen. Das Nachahmen – taqlid – istAttar ein beinahe ebensolches Schimpfwort wie der Dogmatismus,ta’assob. Eselskinder seien nun einmal nicht für den Weg derScharia geschaffen, sagt er; wenn sie ihn dennoch gingen, wüßteman, daß sie blind ihrer Mutter folgten. Weil das religiçse Gesetzden Menschen nicht als Natur mitgegeben sei, kçnne kein Zwangihm die Entscheidung abnehmen, es zu befolgen. Solche Positio-nen und insgesamt die Individualität des Schreibens, der Wahrneh-mung und der Überzeugung wirken wie Vorboten der Moderne.Daß sie so explizit und wiederholt in einen Text des 12. und 13.Jahrhunderts hineingefunden haben, deutet jedoch zunächst aufdie Ausbreitung und sufische Aneignung jenes Humanismus, dersich bereits zwei Jahrhunderte früher unter den Buyidin in Bagdadherausgebildet hatte – ein Humanismus allerdings, den Attar alsgefährdet ansah, sonst hätte er ihn kaum so zornig vertreten. Spä-

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Neu allerdings ist, und ein Merkmal der kosmopolitischenKonstellation, die gleichzeitige Gegenwart und Verfügbarkeitaller (Welt-)Religionen und kulturell-spiritueller Symbolwel-ten, von den »primitivsten« zu den »modernsten«, meistensaus ihrem zeitlichen und räumlichen Kontext herausgelçst,offenstehend für alle mçglichen, sogar terroristischen Aneig-nungen überall auf der Welt. Im Begriff der impliziten oderunsichtbaren Religion vermischen sich also die Prozesse derIndividualisierung und die Kosmopolitisierung der Religio-nen (dazu später S. 87ff.).

Zum anderen zeigen religionssoziologischeUntersuchungen,daß das Rekrutierungsfeld der außerkirchlichen, religiçsen Er-neuerungsbewegungen nicht etwa die noch nicht moderni-sierten, sondern die hochmodernisierten, sozialen Milieussind, die sich vollständig in die kulturelle und çkonomischeModerne integriert haben.Anhand der verfügbaren empirischen Untersuchungen ver-

deutlichte Beckford (1986), daß es sich bei den Anhängern der›Neuen Religiçsen Bewegung‹ in Europa wie in den USAzumeist um junge Erwachsene im Alter zwischen 25 und 40Jahren handelt, die ihre Ausbildung beendet und oft ein Uni-versitätsstudium abgeschlossen haben. Sie stammen aus Fami-lien, die über ein ausreichendes Maß an materiellem Komfortund çkonomischer Sicherheit verfügen. Sie haben im allge-meinen gute berufliche Perspektiven, sowohl hinsichtlich desAufgabengebietes als auch hinsichtlich des Einkommens. »Siegehçren zu den kulturell und çkonomisch Bessergestellten,deren Erfahrungsradius durch regelmäßige Auslandsreisenerweitert wird. Kurz gesagt, ihre Chancen im Leben sindüberdurchschnittlich gut, und sie stehen diesbezüglich nichtrepräsentativ für ihre Altersgenossen. Ihr soziales Profil un-

testens mit dem Einfall der Mongolen, der die Städte und mit ih-nen die Kulturen des islamischen Ostens dem Erdboden gleich-machte, bestätigten sich Attars Befürchtungen. Nie hat sich die is-lamische Kultur von diesem Sturm wirklich erholt. Attar lebte inder Endzeit seiner eigenen Lebenswelt.« (Kermani 2004)

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terscheidet sich laut Beckford deutlich von jenem der Anhän-ger früherer Sekten. Und vielleicht hat nicht zuletzt ihre Zu-gehçrigkeit zur kulturellen Intelligenz dazu beigetragen, daßihre religiçsen Motive und Abenteuer çffentliche Resonanzerzeugen.« (Beckford; Levasseur 1986: 29-54; zit. nach Her-vieu-LØger 1999, S.141f.; Barker 1989)

Die prinzipielle Autorität des wiederbelebten Glaubensist das souveräne Selbst

Säkularisierung bezeichnet nicht den Untergang von Religionund Glauben, sondern die Herausbildung und massive Ver-breitung einer Religiosität, die zunehmend auf Individualisie-rung verweist. Dieser Prozeß ist Teil einer umfassenderenTendenz zur Wiederbelebung des Glaubens in einer Gesell-schaft, in der die Einflußzonen der Religionen sich über-schneiden, durchdringen und deren Grundbedingungen diehergestellte Ungewißheit einer ihre eigenen Prämissen verän-dernden Modernisierung sind (»reflexive Modernisierung«,siehe später S. 91ff.).

Dies zeigt sich selbst dort, wo manche es vielleicht am we-nigsten vermuten, nämlich bei den Juden in Amerika, wie Ste-ven M. Cohen und Arnold M. Eisen (2000) zeigen: »Amerika-nische Juden sehen und erfahren ihr Judentum am Ende desJahrhunderts in einer ganz anderen Weise als ihre Eltern odersie selbst nur zwei oder drei Jahrzehnte zuvor. Heutige Juden,wie ihre Altersgenossen in anderen religiçsen Traditionen, ha-ben bei der Suche nach Sinn eine Wende nach innen vollzo-gen. Sie haben sich von den Organisationen, Institutionenund Gründen gelçst, die Identität begründeten und das Ver-halten prägten . . . Die grundlegende Autorität für heutigeamerikanische Juden . . . bildet das souveräne Selbst. Jede Per-son muß nun ihr eigenes Selbst gestalten, indem sie die Ele-mente, die aus verschiedenen jüdischen und nicht-jüdischenSymbolrepertoires stammen, zusammenfügt, anstatt einfachden mit ihrer Geburt vorgegebenen, ›unentrinnbaren Rah-

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men‹ der Identität . . . zu übernehmen . . . Amerikanische Ju-den sprechen über ihr Leben und über ihren jüdischen Glau-ben und ihr Bekenntnis in Begriffen und Bildern des Unter-wegsseins und des ständigen Fragens und der unablässigenEntwicklung. Sie vermeiden die Sprache des Angekommen-seins. Es gibt keine letzten Antworten, keine unwiderruflichenÜberzeugungen und Bekenntnisse . . . Die ›erste Sprache‹, dervon uns Befragten, ist die eines elementaren Individualis-mus . . . Gemeinschaft – obwohl ein wichtiges Wort in unse-ren Interviews, ein Bedürfnis, sogar eine reale Notwendigkeitfür einige – ist eine ›zweite Sprache‹, der ersten untergeord-net . . . Die Engagierteren und Aktivsten in unserem Sampleerzählten uns immer wieder, daß sie Woche für Woche, Jahrfür Jahr entscheiden, welche Rituale sie einhalten und wiesie sie einhalten . . . Der ›heilige Baldachin‹ (Peter Bergersberühmte Formel) überwçlbt die Existenz nicht mehr, undfolglich ist die Notwendigkeit, die Identität zu wählen undwiederzuwählen (was Berger den ›häretischen Imperativ‹ ge-nannt hat) unumgänglich geworden. Nirgendwo sind dieseProzesse evidenter als unter Juden.« (2000: 2, 7)

Die Befunde und Interpretationen dieser Studie laufen aufein Weder-Noch hinaus: Weder bestätigen sie die moderneErzählung von Aufklärung und Säkularisierung, in der derRückgang der Religion verkündet bzw. vorhergesagt wird,noch bestätigen sie die Erwartung einer vorgegebenen, kol-lektiven, weitgehend ungebrochenen jüdischen Traditionund Identität. Die Stimmen, die in dieser Studie zur Sprachekommen, versuchen, Individualisierung und Jüdischsein zuverbinden, indem sie aus neuen wie überlieferten Praktikenund Texten auswählen und nach Kombinationen suchen,die ihren eigenen Vorstellungen von Authentizität gerechtwerden. Um noch einmal die Autoren der Studie zu zitieren:»Fast alle unsere Befragten, einschließlich der stärksten jüdi-schen Aktivisten artikulierten, gewollt oder ungewollt, ihreAmbivalenz gegenüber den Organisationen, Institutionen,Verpflichtungen und Normen, die jüdisches Leben ausma-chen: Ursprung der Familien, Synagogen, Verbände, Gott.«(Ebd.: 9)

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1.2 Pluralisierung durch das Erstarkennicht-chr istlicher Religionen

Die Rede von der »Wiederkehr« der Religionen besitzt nocheine weitere Bedeutungsschicht: An die Stelle der linearenSäkularisierung ist im Alltag der Menschen, aber auch in al-len Bereichen von Gesellschaft und Politik, die Pluralisierungder Religionen getreten. Dies ist vor allem ein Ergebnis dergroßen Migrationen nach dem Zweiten Weltkrieg, in derenVerlauf für das westeuropäische säkular-christliche Selbstver-ständnis das Widerspruchswesen »europäische Muslime« ge-schlüpft ist. Dies ist in den selbst noch in ihrem Atheismuschristlich geprägten, großen Nationen Europas in mehrfa-cher Millionenstärke geschehen – wie die Geburtenzahlenbelegen; an der Religiosität Europas wächst also der Anteilder Muslime schnell.

Um einen Schlüsselindikator herauszugreifen: Allein inDeutschland werden zur Zeit mehr als 160 Moscheen geplantoder gebaut – unter lebhaftester Anteilnahme der kommuna-len und nationalen Öffentlichkeiten (um es verharmlosendauszudrücken). Diesen Veränderungen der von ihren christ-lichen Kirchen, deren Präsenz und Pracht geprägten Stadt-landschaften in Deutschland kommt hohe symbolische Be-deutung zu, weil sie mit der dramatischen »Entkirchlichung«einhergeht, wie sie exemplarisch der Würzburger Domkapitu-lar Jürgen Lenssen für seine Diçzese in einer nüchtern-kata-strophalen Bilanz »Zukunft der Kirchen und Kirchenbautenin den kommenden Jahrzehnten« (2007) festhält:

»Zum einen beobachten wir ein Fortschreiten des gesell-schaftlichen Säkularisierungsprozesses mit der Folge einer ra-dikalen Abnahme an Gottesdienstfeiernden in jüngeren undmittleren Alterschichten und ein fast gänzliches Ausbleibender Kinder. Der Rückgang der Gottesdienstgemeinde auf10 Prozent ist nicht auf wenige Orte beschränkt, und jeder To-desfall reißt eine Lücke, die kaum noch gefüllt wird, da dieGottesdienstabstinenz auch die Gruppe der Senioren ein-

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schließt. Zum anderen zeigt sich – aber fast nur auf das städ-tische Milieu begrenzt – die Zunahmen einer diffusen Reli-giosität fernab jeglicher Christenheit. Der Klerus hat einenbis dahin ungekannten Überhang an ¾lteren über 60 Lebens-jahre. Der Anteil der zur Zeit noch etwa 400 aktiven Priester(inklusive der Emeriti) wird sich in den nächsten 5 Jahren auf250 verringern und für die Zeit nach 2020 richten wir uns aufetwa 150 Priester ein. Daß 2008 nur noch ein Diakon zumPriester geweiht werden wird, ist hierfür ein klares Indiz.Die ca. 600 Pfarreien werden zu 180 Pfarreigemeinschaftenverbunden, für die wir aber letztlich nicht mehr die Priesterhaben, die ihnen vorstehen wollen und werden, so daß in denPfarrkirchen keine allwçchentlich gefeierten sonntäglichenMessen mehr gewährleistet sind« – und so weiter und so fort.(2f.)

Das schçne Wort von der »religiçsen Pluralisierung« ver-harmlost die Lage. In dem Anspruch der Migranten der zwei-ten und dritten Generation, »deutsche Muslime« oder »musli-mischeEuropäer« zu sein oder zuwerden,wird im allgemeinenBewußtsein nicht weniger als ein grundsätzlich mçgliches alterna-tives Leben präsentiert, das die herrschenden Grundannahmendes christlich-atheistischen nationalen Europäers in Fragestellt und entsprechende ¾ngste hervorruft. Für das europäi-sche Bewußtsein sind, wie gesagt, Säkularisierung und Moder-nisierung kausal verknüpft. Mit der Türkei, die die Mitglied-schaft in der Europäischen Union anstrebt, sehen sich dieWesteuropäer mit der verwirrenden Realität einer umgekehr-ten Kausalität konfrontiert: Je »moderner« oder zumindestdemokratischer die türkische Politik wird, desto stärker wirdsie muslimisch und weniger säkularistisch. Der Anspruch derTürkei, ein zugleich muslimisches, modernes und europäi-sches Land zu sein, wirbelt den europäischen Kulturessentia-lismus durcheinander.Was bedeutet z. B. die vielgepriesene und geforderte »Inte-

gration« der Muslime in Deutschland institutionell – also ineinem Land, in dem es immer noch eine (wie es treffendheißt) »hinkende« Trennung von Kirche und Staat gibt? Wer-

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den nun neben ein »hinkendes« Staatschristentum und ein»hinkendes« Staatsjudentum (Zentralkomitee der Juden inDeutschland) bald auch »hinkende Staatsmuslime« (Kirchen-steuer, Rundfunkrat usw.) in Deutschland treten? Werden diedeutschen Muslime, anders formuliert, einer »organisatori-schen Assimilation« unterworfen, die ihrer Religion gänzlichfremd ist? Oder werden umgekehrt die christlichen Kirchensich nun bald (wie in den USA) jenseits einer verordneten Kir-chensteuerfreiheit wiederfinden und neu orientieren müs-sen?5

In dieser Perspektive ist es vielleicht gar nicht mehr soüberraschend, wie heterogen die große Koalition der Gegen-sätze ist, die in Europa eine »Islamophobie« schürt: Die Stim-men aus dem Lager der im Aufwind befindlichen Fremden-feindlichkeit, die sich gegen Immigranten ganz allgemeinwenden, die konservativen Verteidiger der christlichen Kul-tur und Zivilisation, die Stimmen eines säkularen Fundamen-talismus sowie die Warnungen vor islamistischen Terrornetz-werken verschmelzen in ganz Europa zu einem einheitlichen,anti-muslimischen Diskurs.

Dieser Diskurs verkennt, daß die »Wiederkehr« der Reli-

5 Eine ähnliche Frage muß man auch im Hinblick auf die Laizität inFrankreich – die strikte Trennung von Staat und Religion – stellen.Wenn man keine religiçse Person ist, erscheint das vielleicht wieein perfektes, vernünftiges Arrangement. Aber historisch betrach-tet ist Laizität das Resultat eines Kampfes zwischen atheistischenStaatsbeamten und der katholischen Kirche. »LaicitØ« ist nichtnur anti-muslimisch, es ist anti-katholisch. Es ist in Vergessenheitgeraten, daß im frühen 20. Jahrhundert die Katholiken die çffent-lichen Schulen verlassen haben. Als jetzt muslimische Einwande-rer das Konzept als feindselig empfanden, tat der franzçsischeStaat so, als wäre Laizität ein fairer Handel. Es ist ein Handel, abermit sehr hohen Kosten: Es gibt ein riesiges System katholischerPrivatschulen. Ist es wirklich sinnvoll, daß man die Muslime jetztzwingt, ebenfalls ein ähnliches System aufzubauen und die çffent-lichen Schulen zu verlassen? (Siehe dazu Kwame Anthony Appiah(2005).

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gion in Europa gerade keine »Wiederkehr« des traditionalenIslam darstellt, sondern daß diese Formen einer religiçsenRenaissance ihre neuen Wurzeln in der neuen Situation inner-halb Europas haben. Sie beruhen auf einer Trennung zwischender muslimischen Religion und der Herkunftskultur. Dasneue muslimische Selbstbewußtsein, das beispielsweise jungeFrauen durch das Tragen von Kopftüchern zum Ausdruckbringen, ebenso wie der religiçse Fundamentalismus unterMuslimen im Westen resultieren nicht aus dem Importiereneiner originalen territorialgebundenen muslimischen Her-kunftskultur in den Westen; vielmehr setzt der europäischeIslam eine »Dekulturalisierung des Islam« (Roy 2006: 129) vor-aus.

»Die zweiten und dritten Generationen wechseln zwischender Sprache des Gastlandes und des Herkunftslandes ihrerEltern, und sie sprechen oft besser franzçsisch als arabisch(wenn sie überhaupt arabisch sprechen . . . und sogar, wennauch sehr viel langsamer, eher deutsch als türkisch, wennsie überhaupt richtig türkisch und richtig hochdeutsch beherr-schen). Fastfood ist populärer als die traditionale Küche. Vorallem jedoch ist der Fundamentalismus selbst ein Geschçpfder Dekulturation . . . Gegenwärtiger Fundamentalismussetzt insofern die Trennung von religiçsen Symbolen und kul-turellen Inhalten und Normen voraus. ›Hallal‹ beispielsweisemeint gerade nicht mehr traditionale Speisen, sondern allemçglichen Speisen. Insofern erfreuen sich ›Hallal-Fastfood-Buden‹ gerade bei radikalen, wiedergeborenen Muslimen imWesten großer Beliebtheit und gerade nicht marokkanischeoder türkische Traditionsrestaurants. Diese Trennung bedeu-tet, daß es nicht etwa um einen clash of civilizations zwischendem Westen und dem Osten geht, sondern um die Umfor-mung des Glaubens in das, was als eine ›reine‹ Religion gese-hen wird, die auf aus ihrem sozialen Kontext herausgelçsten,religiçsen Zeichen und Symbolen beruht.« (Ebd.: 129)Wie verschiedene empirische Studien anschaulich belegen,

entstehen auf diese Weise in Deutschland, Frankreich usw.individualisierte Formen muslimischer Religiosität. Die mus-

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limische Religion wird aus ihren territorial gebundenen, na-tionalen (nordafrikanischen, türkischen, indischen) sozialenNormen und Zwängen herausgelçst und zu einer Religiositätumgeformt, die ausschließlich auf der Entscheidung der Indi-viduen beruht. ¾hnlich wie bei den amerikanischen Juden (s.oben S. 46f.) vollzieht sich auch bei den europäischen Musli-men eine Distanzierung von den heiligen Plätzen, Autoritä-ten und religiçsen Organisationen und eine Hinwendung zueiner neuen, von Suchen, Auswählen und Kombinieren ge-prägten Spiritualität, die auch den Islam unter den Primatdes individuellen Glaubens stellt. Die Individualisierung derreligiçsen Praxis wird folglich zu einem dominierenden Ele-ment der muslimischen Religiosität in Europa, die deterrito-rialisiert und mit Konstruktionen einer »imaginären Ummah«eine Vergemeinschaftung über Grenzen hinweg ermçglicht.(Tietze 2001, 2002; Schiffauer 2001; Beck-Gernsheim 2007)

Bezeichnend für diese islamische Religiosität ist, daß sie»nicht auf die Sozialisation in einer aus der muslimischenWelt stammenden Familie zurückzuführen ist. Im Gegenteil,sie ist das Ergebnis der Emanzipation des einzelnen von sei-ner Familie und deren çkonomischen und sozialen Lebensbe-dingungen . . . Deshalb läßt sich bei den jungen Leuten kaumnoch von einem ›Muslimisch-Sein‹ als stabilem Zustand spre-chen, sondern es handelt sich eher um muslimische Erfahrun-gen, die aus dem permanenten Bearbeiten der Elemente derreligiçsen Tradition und ihrer Verbindung mit sich ständig än-dernden gesellschaftlichen Herausforderungen hervorgehen.«(Tietze 2002: 230)Auffallend ist die unterschiedliche Lage und Zufriedenheit

der Muslime in den USA und in Europa. Eine neuere Studie(Marcia Pally 2007) hat festgestellt, daß die »europäischenMuslime deutlich ärmer sind als die allgemeine Bevçlkerung,daß sie über ihre wirtschaftlichen Mçglichkeiten frustriertund sozial isoliert sind«, während die meisten amerikanischenMuslime erklären, daß sie sich in den USA wohl fühlen, weilsie beides sein kçnnen: moderne Menschen und Muslime,ohne sich verstecken oder assimilieren zu müssen.

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Das macht den großen Unterschied zwischen Europa undAmerika aus: In Europa, insbesondere in Deutschland, müs-sen Muslime sich erst »integrieren«, um selbst dann, wennsie alle entsprechenden Kriterien erfüllen, kaum wirtschaft-liche und politische Entfaltungs- und Partizipationschancenzu haben. Die USA dagegen sind auf den Prinzipien des reli-giçsen Pluralismus gegründet. Die Vielfalt der Konfessionenist hier keine Schockerfahrung, sondern vertrauter Alltag, bei-spielsweise dadurch, daß derselbe Arbeitsplatz von Angehçri-gen verschiedener Glaubensgemeinschaften wahrgenommenwird. Hier kçnnen die Menschen çffentlich fromm sein undihre Unterschiede im Aussehen beibehalten und ihre Chancenin Wirtschaft und Gesellschaft nutzen, ohne sich zu assimilie-ren.

»Tendenziell schwinden die Vorurteile, sobald die Beteili-gung steigt. Sehr lange Zeit hatte niemand ein Interesse dar-an, diesen Pragmatismus nach dem Motto ›Leben und lebenlassen‹ zu stçren. Ein Ergebnis dieser stillen Vereinbarung istdie paradox klingende ›Vertrautheit mit der Andersartigkeit‹.Da die Einwanderer sich an Amerikas wirtschaftlichem undpolitischem Leben beteiligen, sind die Amerikaner verschie-dene Arten von Menschen gewohnt und unterscheiden daherzwischen Andersartigkeiten, die dem Land schaden kçnnten,und solchen, die ihm nicht schaden, sondern nutzen.

Europa dagegen fremdelt im Umgang mit religiçser An-dersheit, verlangt eine stärkere Assimilation und bietet eineweniger durchlässige Wirtschaft und Politik. Das bedeutetweniger Beteiligung und daher wiederum weniger Vertraut-heit mit der Andersheit der anderen seitens des Gastlandes.Auf der Seite der Einwanderer herrscht grçßerer Unmutgegenüber dem Gastgeber und Aufnahmeland, mehr Resi-gnation gegenüber Wirtschaft und Politik. Gewalttaten sindmçglich, und es wird unter Umständen darauf bestanden,symbolische Unterschiede beizubehalten (Kopftuchstreit) –ironischerweise in einer Gesellschaft, die diese gerade deshalbschlechter akzeptieren kann, weil Andersartigkeit in ihr grç-ßeres Unbehagen hervorruft.« (Ebd.)

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Anders gesagt: Amerika kennt die Unterscheidung Einhei-mische/Fremde letztlich nicht. Denn die USA sind eine Ein-wanderungsgesellschaft, die diese Unterscheidung nicht auf-rechterhalten kann, weil ja alle US-Amerikaner zugleichFremde und Einheimische sind. In Deutschland und Europadagegen gilt jeder Fremde automatisch als Nicht-Einheimi-scher, und zwar auch dann, wenn er oder sie perfekt Deutschspricht und einen deutschen Paß besitzt. Erst wenn man »ur-sprünglich« Fremde und Hiesige als »feindliche Teams« aus-einanderdividiert, dann stellt sich das sogenannte »Integra-tionsproblem«, das dann zugleich unlçsbar wird, weil die sichzum Beispiel am Aussehen und Namen festmachende Unter-scheidung Hiesige/Fremde vorgängig immer wieder einge-schärft und erneuert wird.

Die Islam-Frage in Europa ist eine doppelte: Zum einen,inwieweit gelingt es, das, was zur Zeit vermischt wird – Ter-rorismus und Islam –, zu entkoppeln; das heißt: gemäß demamerikanischen Vorbild den Islam in Europa als Teil eineskosmopolitischen Europas anzuerkennen (übrigens auch imAußenverhältnis zu islamischen Ländern wie ¾gypten und In-donesien). Der Lackmustest dafür ist die Aufnahme der Tür-kei in die EU. Zum anderen heißt Anerkennung des Islamauch: die Anerkennung einer islamischen Moderne, und zwar so-wohl in der Geschichte Europas in ihrem Wirken in Gestaltder »islamischen Aufklärung« (Johann Gottfried Herder) alsauch im Ringen um eine Verbindung von Islam und Modernein und außerhalb Europas in Gegenwart und Zukunft. DieAnerkennung verschiedener religiçs bestimmter Modernenauf dem Hintergrund der »Achsenzeit« (Jaspers, Eisenstadt)ist mit Blick auf die islamische Welt vielleicht sogar eine Sachevon Leben und Tod. Hängt doch, wie wir die Zukunft der Re-ligionen einschätzen, wesentlich davon ab, wie wir das Schick-sal der religiçs bestimmten, multiplen Moderne insgesamt be-urteilen.

Schließlich zeigt sich in denosteuropäischen, postkommuni-stischen Ländern eine weitere Variante der widersprüchlichen,pluralen Wiederbelebung der Religionen, die mit den westeu-

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ropäischen Säkularisierungserwartungen kollidiert. Zwar ist,wie entsprechende Daten zeigen, nach dem Zusammenbruchder Sowjetunion und ihrer kommunistischen Satellitenstaatenauch ein starker Rückgang im offenen Bekenntnis zur Kircheund bei zählbaren Teilnahmen an religiçsen Praktiken zu be-obachten, die fast mit demwesteuropäischen Säkularisierungs-trend vergleichbar sind. Zugleich manifestiert sich hier abereine neue tiefverhaftete, auf der Verschmelzung von Religionund Nation beruhende, kollektiv christliche »Identität«. »Umzu verstehen, daß kollektivistische Christlichkeit eine signifi-kante religiçse Macht ist, die in Europa auf vielfältige Weisezu beobachten ist, und um zu verstehen, was diese Christlich-keit für die Europäische Union bedeuten mag, muß man be-greifen, was belonging in diesem Kontext meint. Dieses belong-ing ist spezifisch, historisch eingebettet und çffentlich – alsoeine Besonderheit, die das Kollektivchristentum beispielswei-se mit dem Islam teilt. Auch wenn dieses belonging nicht mitbelieving zusammenfällt (wie Sozialwissenschaftler triumphalerklären), hat es einen vom westlich-europäischen Christen-tum klar zu unterscheidenden Charakter: Es ist gewiß nichtprivat, und es ist gewiß nicht deinstitutionalisiert.« (Jakelic2006: 137)

1.3 Massenmedialisierung von Religion:Das Benedikt-Phänomen

Wenn von der Wiederbelebung der Religionen in Europa dieRede ist, muß auch folgender Widerspruch ins Blickzentrumgerückt und entziffert werden: Auf der einen Seite vollziehtsich ein grundstürzender Zerfall der religiçsen Macht – im-mer weniger Menschen gehen in die Kirchen. Auf der ande-ren Seite vollzieht sich gleichzeitig eine geradezu explosiveMachterweiterung der Kirche durch die im wahrsten Sinnedes Wortes grenzensprengende Aufmerksamkeit für das mas-senmedialisierte Papsttum:

Rund um den Erdball nehmen Milliarden Menschen an

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dem halbçffentlichen Sterben von Papst Johannes Paul II. teil.Die Bilder, in denen seine Stimme aus der Zerbrechlichkeitseines Kçrpers kommt und in den Stunden des Todes be-kennt: er, der sterbende Papst, empfände angesichts der bal-digen Begegnung mit Gott Freude – diese Stimme und Bilderschlagen die Menschen weltweit in ihren Bann. Die existen-tielle Suche aller Menschen nach der Sinnhaftigkeit von Le-ben und Tod findet eine schlichte personale Antwort.Anders gesagt: Einerseits sind die Kirchen in Zentral- und

Westeuropa in schlechter Verfassung, egal ob protestantischoder katholisch und gleich welchen Indikator man zugrundelegt (Mitgliederschwund, Altersstruktur, finanzielle Lage, feh-lender Priesternachwuchs usw.). Andererseits entwickelt sichdas »Benedikt-Phänomen«:

»Wahl und Inthronisation von Papst Benedikt XVI. erfassenmit ihrer elementaren Symbolik die Sehnsucht der Menschen:Die Liturgie entwickelt eine elementare Wucht. Es sind dieeinfachen Zeichen – Brot, Wein, Licht, Farbe, gemeinsamesMahl –, die eine magnetische Kraft entfalten. Sie sind alsDeutungen unseres Daseins über Jahrtausende gewachsen,verdichtet, geformt. Es sind Bilder, die keiner Erklärung be-dürfen, um uns mystisch zu erfassen. Die Predigten des Pap-stes sind schlichte Erzählungen, nicht komplizierte Theorien.Da ist ein Mann aus Nazareth vor 2000 Jahren ausgezogen,hat Geschichten erzählt, symbolische Handlungen vollzogen.Das Erlebnis wird von da an von Generation zu Generationweiterberichtet. Diese vereinfachende Personalisierung ver-mittelt sich viel direkter als jede Schriftreligion. Das millio-nenfache Echo auf die Predigt ist der Beweis.« (Weidenfeld2005: 5)

Dieses »kosmopolitische Ereignis« füllt keine Kirchen, hältden Mitgliederschwund nicht auf. Aber es ist ein »kosmopoli-tisches Ereignis«, das die kulturell Anderen – Religiçse undNichtreligiçse, Getaufte und Nichtgetaufte, Häretiker, Athe-isten, Fundamentalisten usw. – einbezieht, und zwar nichtdurch Zwang, sondern freiwillig, aufgrund eines Bedürfnissesnach Spiritualität. Und es zeigt den Weg auf, der längst began-

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gen wird: Gott im Zeitalter seiner technischen Reproduzier-barkeit (um Walter Benjamin abzuwandeln). Die Weltkirche,massenmedial inszeniert und erfahrbar geworden, mobilisiertdie gesamte subjektive Fragezeichen-Kultur. »Wenn sich reli-giçse Gefühligkeit wie dichte Nebelschwaden über die kalteGesellschaft legt, dann muß es ernste Gründe geben. Offen-kundig leben wir heute in einer Art Zeitenwende des Religiç-sen.« (Ebd.) Der Katholizismus zelebriert eine Kultur desAuges. Deren massenmediale Globalisierung ermçglicht einweltumspannendes Anwesendsein, eine Anteilnahme ohneverpflichtende Mitgliedschaft, die die freiflukturierende Reli-giosität – wenigstens eine Weltsekunde lang – zu binden ver-mag. Dabei stellen sich auch die Fragen, die Benjamin aufge-worfen hat, neu; beispielsweise die Frage der Aura: Inwieweitzerstçrt der massenmediale, atomisierte Konsum die Aurader Liturgie, wie sie in der ritualisierten Interaktion der Gläu-bigen erfahrbar wird? Oder artikuliert sich da ein kulturkriti-scher Reflex, der die weltçffentliche Einbeziehung der Ande-ren nicht sehen will?

Ein anderswertiges Beispiel, das die »Potentialität« massen-medialisierter, also globalisierter religiçser Emotionen auf-deckt, liefert der sogenannte »Karikaturenstreit«: Ein Pro-vinzblatt in Dänemark verçffentlicht Zeichnungen, die denPropheten Mohammed karikieren. Zeitversetzt kommt es zuwütenden Protesten im Gazastreifen, in Libyen, Saudi-Ara-bien, ¾gypten, Jemen, Pakistan, Syrien und im Libanon, ja so-gar in Rußland; Abberufung von Botschaftern; Boykott dä-nischer Waren; Angriffe auf Europäer in Palästina. Weltweitwird lebhaft über Säkularismus, Freiheit, Kunst, Würde desreligiçsen Anderen, religiçsen Fanatismus, Toleranz usw. de-battiert. Alles dies belegt die Entflammbarkeit der religiçsenKonflikte in der massenmedial verdichteten Weltgesellschaft.Die politische und soziale Wirklichkeit mag immer nochmehr denn je Grenzen aufweisen. Dies macht beispielsweisedas Massensterben der Bootsflüchtlinge an den Grenzen derEU deutlich. In den medialisierten Kommunikationsweltenhat sich dagegen die soziale von der territorialen Nachbar-

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schaft gelçst. Die Erfahrung der Grenzenlosigkeit einer uni-versellen Nachbarschaft jedoch wird zur Quelle für beides:Haß, Gewalt (Karikaturenstreit) und kosmopolitisches Mitlei-den (massenmedialisiertes Papsttum).6

1.4 Multiple Moderne, multiple Säkular isierung

Zusammenfassend stellt sich also die Frage: Hat das Säkula-risierungstheorem (so mehrdeutig es ist) die Stellung der Re-ligion im fortschreitenden Modernisierungsprozeß total miß-interpretiert? Manche Autoren gehen so weit, anstelle derReligion die Säkularisierung zu beerdigen (Stark/Finke 2000).Zwischen dem Tod der Religion und der Gegenthese: demTod des Säkularen gibt es allerdings eine breite dritte Alter-native, die die religionssoziologische Forschung mehr undmehr bestimmt: Die Frage nach einer nicht-linearen Moder-nisierungs- und Säkularisierungstheorie, die multiple Ent-wicklungspfade, -phasen und -formen in Abhängigkeit vonhistorischen Kontexten ins Zentrum rückt (z. B. Norris/In-glehart 2006).

Ebenso wie es »multiple Modernen« gibt, gibt es »multipleSäkularisierungen« (Martin 2005). Die Säkularisierungstheo-rie ist nicht komplett falsch, sie manifestiert sich verschiedenin verschiedenen Kontexten – in Westeuropa anders als inOsteuropa, in Lateinamerika anders als in Asien, Afrika undin der Türkei oder im Iran. In den USA und Afrika erfaßtsie beispielsweise das Denken der Eliten, aber nicht die Mas-sen der Bevçlkerungen. Selbst in den USA gibt es ebenso wiein Westeuropa nicht eine, sondern multiple Säkularisierungen.Wie aber verhalten sich Säkularisierung und Individualisie-

rung zueinander? Während die Säkularisierungstheorie be-sagt: je mehr Modernisierung, desto weniger Religion, gehtdie These der religiçsen Individualisierung von der umge-

6 Andere Beispiele sind der Tod von Prinzessin Diana oder die ost-asiatische Tsunami-Katastrophe.

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kehrten Beziehung aus, nämlich daß mit zunehmender Mo-dernisierung nicht die Religionen verschwinden, sondernihr Gesicht verändern. Zwar lockern sich die Bindungen andie organisierten Religionsgemeinschaften ebenso, wie dieAutorität der Kirchenväter in existentiellen Fragen schwin-det. Jedoch darf dies keineswegs gleichgesetzt werden mitder Annahme, daß religiçse Erfahrungen und Fragen fürdie Individuen eine immer geringere Rolle spielen. »Im Ge-genteil – der Zerfall der etablierten religiçsen Institutionengeht Hand in Hand mit einer Zunahme individueller Religio-sität.« (Pollack/Pickel 2008: 604) Anders gesagt: Die Indivi-dualisierungstheorie unterscheidet zwischen (organisierter)Religion und (individualisiertem) Glauben, um sich von derSäkularisierungstheorie abzugrenzen (siehe später S. 69ff.).

Detlef Pollack und Gert Pickel haben die These der re-ligiçsen Individualisierung empirisch-quantitativ getestet –allerdings ausschließlich auf Deutschland (West und Ost) be-zogen. Sie kommen zu dem Schluß, daß der Zuwachs indivi-dueller, nicht-kirchlicher Religiosität nicht den dramatischenRückgang institutionalisierter Religion ausgleicht. »ReligiçseIndividualisierung ist nur eineKomponente des vorherrschen-den Säkularisierungsprozesses.« (Ebd.: 603; zur Kritik vgl.Wohlrab-Sahr/Krüggeler 2000) So interessant diese Studieist, die Autoren erwähnen nicht, daß, wenn sie von Religionsprechen, sie tatsächlich die in Deutschland dominierendenchristlichen Kirchen meinen. Die wachsende Zahl deutscherMuslime und muslimischer Deutscher blenden sie also vonder Anlage ihrer Untersuchung her aus. Gerade in Deutsch-land vollzieht sich die Wiederkehr der Religionen in die Öf-fentlichkeit nun aber vor dem Hintergrund, daß Moscheen ge-baut, Kirchen jedoch geschlossen werden; ähnliches gilt auchfür andere europäische Länder. Der Islam lçst in Mitteleu-ropa Schreckensvisionen aus, die in vielen Kreisen eine regel-rechte Islamphobie nach sich ziehen. Es ist daher kaum sinn-voll und mçglich, den Säkularisierungstrend in Deutschlandund Europa zu beschreiben, geschweige denn fortzuschrei-ben, wenn man die Lage der Muslime in Deutschland und Eu-

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ropa ausklammert. Das geht schon aus den unterschiedlichendemographischen Daten (Geburtenzahlen) für Christen undMuslime hervor. Insofern hätte man gerne erfahren, wie sichdie Aussagen über Säkularisierung und Individualisierungverändern, wenn die Autoren die für die deutsche Gesell-schaft und Politik (aber offenbar auch für einige deutsche Re-ligionssoziologen) immer noch ungewçhnliche Verbindungvon deutschem Paß und muslimischem Glauben zentral inder Untersuchung berücksichtigen.Wie dem auch sei, es stellt sich die Frage: Welche Konflikt-

potentiale und -dynamiken entstehen aus den plural säkulari-sieren Gesellschaften Europas inmitten einer religiçs mobili-sierten Weltgesellschaft?

2 . neu e formen de r koe x i st enz und de s

konf l i k t e s de r we lt r e l i g i onen :

d i e f r ag e nach de r z i v i l i s i e r ung de r

we lt r e l i g i ç sen konf l i k t e

Was ist das historisch Neue der religiçsen conditio humana amBeginn des 21. Jahrhunderts? Das eine ist die »kosmopolitischeKonstellation«, das heißt: die Berührung und Durchdringungder Weltreligionen und Neuen Religiçsen Bewegungen. Dieterritoriale Exklusivität der religiçsen imagined communitiesendet, und selbst dort, wo sie nach wie vor existiert, prallendie Stimmen der Religionen im kommunikativ entgrenztenRaum der Weltgesellschaft aufeinander.

Man kann es auch so ausdrücken: In der neuen Kommuni-kationsdichte der Welt endet die in der nationalen Territorial-ordnung begründete Unvergleichbarkeit der Religionen. Es istdieser zeithistorische Kontext einer gemeinsamen Gegenwartund universellen Nachbarschaft aller religiçsen Glaubens-und Symbolsysteme, in dem die Individualisierung – unddas bedeutet auch: die Wahl der entindividualisierten Bin-dung der Religion im Kontext weltreligiçser Pluralität – mçg-lich und notwendig wird, ja ihren Sinn erhält. Das spiegelt

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sich in der Zunahme transnationaler Lebensformen, in denender Vergleich der religiçsen Weltbilder in ihrer alltäglichenLebensrelevanz zum existentiellen Stimulus wird. Kiran De-sai (2006) beschreibt eine solche Szene des existentiellen Reli-gionsvergleichs in ihrem Buch The Inher itance of Loss.

»Sai belauschte, was Noni mit der Buchhändlerin überSchuld und Sühne sprach: ›Das Buch hat mich teils erstaunt, teilsverwirrt‹, sagte Noni, ›wegen dieser christlichen Vorstellungvon Geständnis und Verzeihung – sie laden dem Opfer dieLast des Verbrechens auf. Wenn die Missetat nicht ungesche-hen gemacht werden kann, wie kann die Sünde ungeschehengemacht werden?‹

Das ganze System scheint in der Tat den Kriminellen ge-genüber dem Rechtschaffenen zu bevorzugen. Man kann sichschlecht benehmen, sich dafür entschuldigen, wofür mandann noch belohnt wird und denselben Status wiedererlangtwie der, der nichts getan hat und der zusätzlich noch verzei-hen mußte, ohne irgendeinen Vorteil davon zu haben. Und na-türlich sündigt man leichter, wenn man weiß, daß ein solchesSicherheitsnetz besteht: Tut mir leid, wirklich, tut mir leid.Entschuldigung.

Unverbindlich wie sanfte Vçgel kçnnte man die Wçrter freifliegen lassen.

Die Buchhändlerin, eine Schwägerin unseres Arztes in Ka-limpong, sagte: ›Wir Hindus haben ein besseres System. Manbekommt bei uns, was man verdient, und man kann sich vonseinen Taten nicht lossagen. Und zu guter Letzt schauen un-sere Gçtter auch wie Gçtter aus, nicht wahr? Wie Raja Rani.Und nicht wie dieser Buddha, Jesus – alles Bettlergestalten.‹

Noni: ›Ja, aber auch wir winden uns aus bestimmten Sachenheraus! Nicht in diesem Leben, aber vielleicht in einem ande-ren.‹

Und Sai fügte hinzu: ›Am schlimmsten sind jene, die glau-ben, der Arme sollte hungern, denn seine Missetaten in denvorangegangenen Leben seien die Ursache seiner jetzigenProbleme . . .‹Tatsache war, daß niemand sich auf etwas stützen konnte.

61neue formen der koex i stenz

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Es existierte kein System, das die Ungerechtigkeit erträglichmachte. Gerechtigkeit war unerreichbar; sie kann den Hüh-nerdieb treffen, doch bei großen, nicht zuordenbaren Verbre-chen, kommt es nicht zur Anwendung, denn wenn ihr Verur-sacher identifiziert und hinter Gitter gebracht würde, dannwürde das die ganze Struktur der sogenannten Zivilisationzum Einsturz bringen.« (266f.)

Dieses »Zeitalter des Vergleichens« (Nietzsche) läßt sichanhand von drei Komponenten charakterisieren: (1) Die kos-mopolitische Konstellation: Sie erzeugt neue Formen und Bil-der – imagined communities – religiçs bestimmter Weltgesell-schaftlichkeit und (2) lçst den Schock der Nichtuniversalitätdes europäischen bzw. westlichen Modells nationalstaatlicherModernität aus, wodurch sie (3) die Frage nach der Zivilisie-rung der Weltreligionskonflikte erzwingt.

2.1 »Imagined communities« einer religiçs bestimmtenWeltgesellschaftlichkeit

Der Beitrag der Religionen zu den Gesellschaftsbildern derErsten, nationalstaatlichen Moderne liegt zum einen in derVerschmelzung von Nation und Religion, wie sie im »säkula-ren Nationalismus« oder in den nationalen »Zivilreligionen«zum Ausdruck kommen. Kein Zweifel, diese sind nach wievor prominente Träger religiçs geprägter kollektiver Identitä-ten. Aber in der Globalisierung bildet sich eine neue religiçsbestimmte Weltgesellschaftlichkeit heraus, in der transnatio-nale, religiçse imagined communities, in Ergänzung, Konkurrenzund Konflikt mit den institutionalisierten Formen von Natio-nalgesellschaften und Nationalinstitutionen, an Bedeutunggewinnen.

Das erinnert an Samuel Huntingtons These vom »clash ofcivilizations«. Dessen Schlußfolgerung ist voreilig. Huntingtondenkt die weltreligiçs bestimmten »Zivilisationen« als terr ito-r iale Einheiten, analog zu Nationalstaaten und imperialen Su-permächten, was ihn dazu verführt, zukünftige globale Kon-

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flikte entlang dieser religionszivilisatorischen Konfliktlinienvorherzusagen. Das Umgekehrte trifft zu: Die Auflçsung die-ser territorialen Einheit von Religion, Nation und Gesell-schaft ist es, die am Beginn des 21. Jahrhunderts zur Quellevon beidem – Chancen und Bedrohungen der Weltreligio-nen – wird. Globalisierung erçffnet nicht nur den alten Welt-religionen die Mçglichkeit, sich sich aus den territorialenZwängen des Nationalstaates herauszulçsen und die transna-tionale, transethnische Dimension, die in ihrer Geschichte be-gründet liegt und durch die nationalstaatliche Ordnung ver-schüttet wurde, zu entdecken und neu zu entfalten. Zugleichentsteht aber daraus auch insofern eine große Bedrohung,weil die Globalisierung eine Deterritorialisierung aller kultu-rellen Systeme voraussetzt und forciert, also die essentiellenBindungen von Traditionen, Vçlkern und Territorien auflçst,die die weltreligiçsen Zivilisationen (die Huntington vor Au-gen stehen) definiert haben.

2.2 Der Schock der Nichtuniversalität des europäischen bzw.westlichen Modells der Modernität

In der Begegnung und Durchdringung der Weltreligionenund Neuen Religiçsen Bewegungen zerbricht der Universali-tätsanspruch der beiden großen Kulturen Europas, der Kul-tur des christlichen Glaubens wie derjenige der säkularen Ra-tionalität. Dies gilt auch für Universalitätsansprüche andererReligionen, beispielsweise den muslimischen Universalismus(»Ummah«). Konfliktträchtig sind also nicht nur die Differen-zen zwischen den Religionen, sondern das Implodieren derkontextuell geprägten Universalismen und damit der gesell-schaftlichen und moralischen Gewißheiten in der weltgesell-schaftlichen Enge.

Die Folgen sind in den sich herausbildenden weltgesell-schaftlichen Konflikten beobachtbar: Es gibt wenig Überein-stimmung über die Normierung der Sexualität, den Wert derindividuellen Freiheit und Autonomie gegenüber dem Wert

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der Gemeinschaft, die Rechte der Tiere oder den Wert der na-türlichen Umwelt, schon gar nicht über die Dringlichkeit desTerrorrisikos; selbst die Bedrohungen der menschengemach-tenKlimakatastrophe oder derWert desmenschlichen Lebensbleiben zwischen den Religionen umstritten. Wer befürchtete,es sei eine säkulare Monokultur im Entstehen begriffen, kannaufatmen. Eher droht die entgegengesetzte Gefahr, daß mitdem Ende des säkularen Universalismus die Rationalitäts-grundlagen zerbrechen, was allen Bemühungen, die weltreli-giçs-weltgesellschaftlichen Konfliktpotentiale zu zivilisieren,die Grundlage entzçge. Die Gefahr also, die mit dem Tod dersäkularen Hoffnung letztlich heraufbeschworen wird, ist dieWiedergeburt von Glaubenskriegern und Glaubenskriegen –nun allerdings im Milieu selbstmçrderischer Atom- und Gen-zeitalter! –, die man im Fortschreiten der säkularisierten Mo-derne überwunden glaubte.

2.3 Die Frage nach der Zivilisierungder Weltreligionskonflikte

Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist das Konflikt- und Gewalt-potential der Weltreligionen nicht mehr nur eine nationaleAngelegenheit, sondern ein Weltthema, für das bislang keineinstitutionellen Lçsungen existieren. Es geht heute in der Spä-ten Neuzeit nicht mehr wie in der Frühen Neuzeit um dieFrage: Wie kçnnen die Religionskriege innerhalb des Chri-stentums (Katholizismus und Protestantismus) verhindertwerden?, sondern um die Frage: Wie kçnnen die weltgesell-schaftlichen Konfliktpotentiale zwischen den monotheisti-schen Weltreligionen zivilisiert werden? Dafür bietet der na-tionale Rechtsstaat mit der Quarantäne Gottes vielleichtDenkanstçße, aber weil er Nationalstaat und nicht Weltstaatist, keine Antwort.

Man kann es im Vergleich zwischen den Klassenkonfliktenam Beginn der ersten, industriekapitalistischen Moderne undden Weltreligionskonflikten am Beginn der zweiten, globa-

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lisierten Moderne zeigen: Karl Marx hatte bekanntlich dieKlasse der Nation übergeordnet. Marx’ Gesellschaftstheoriemachte deutlich, daß das grçßte Problem für die Zukunftder Nationalgesellschaften darin bestand, von grenzüber-schreitenden Klassenkonflikten in Frage gestellt zu werden.Am politischen Horizont zeichnete sich eine internationaleArbeiterbewegung ab, die die Perspektive einer Weltrevolu-tion erçffnete. Seine Ideen versetzten den Nationalstaat in Pa-nik. Dessen Reaktion bestand darin, das Klassenproblem, dasbei der Umwälzung der Industrialisierung aufbrach, als inner-nationalstaatliches aufzugreifen. So wurde die transnationaleKlassendynamik in viele separate nationale »soziale Fragen«umgewandelt, und von da an stand die Integration des Prole-tariats in die nationalstaatlichen Gesellschaften im Vorder-grund der Politik. Diese Aufgabe besaß eine so hohe Priorität,daß unterschiedliche Konzepte, wie der Sozialismus, derWohlfahrtsstaat oder, in der Wissenschaft, die Klassensoziolo-gie unter stillschweigender Akzeptanz des nationalen Bezug-rahmens, sich an einer Lçsung versuchten. Am Ende war derErfolg so groß, daß die nationale Integration und Solidaritätals Voraussetzung der Klassenordnung und der Klassenkon-flikte zugleich wirklich und unkenntlich wurden.7

Die Weltreligionskonflikte zu Beginn des 21. Jahrhundertsverunmçglichen dagegen von vornherein eine Kleinarbeitungals nationalkirchliche, nationalstaatliche »soziale Fragen«.Hierversagen die wahlverwandtschaftlichen Utopien des nationa-len Kommunismus, der sozialen Demokratie und des Wohl-fahrtsstaatesmit vorweglaufender Aussichtslosigkeit. Das aberbedeutet: Es gibt keine staatlichen Dompteure der weltreli-giçsen Weltkonflikte und kein historisch-theoretisches Dreh-

7 Heute, wo angesichts sich radikalisierender globaler Ungleichhei-ten nationale Grenzen auch nicht mehr das leisten, was sie einmalversprachen, nämlich die Wahrnehmung und Solidarität am natio-nalen Gartenzaun enden zu lassen, droht auch die Hoffnung, dernationale Wohlfahrtsstaat zivilisiere die globale Exklusion der Ar-men und »Überflüssigen«, in sich zusammenzubrechen.

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buch, nach dem die Verzichte und Kosten der Zivilisierung inChancen für alle verwandelt und damit konsensfähig ge-macht werden kçnnten. Da aber externe – vor allem weltstaat-liche – Instanzen nicht zur Verfügung stehen, ja, mehr noch,gar nicht wünschbar sind, stellt sich die Frage, die diese Un-tersuchung anleitet: Wie wird in der neuen Dichte der Weltdie Selbst-Zivilisierung der sich weltmächtig widersprechen-den religiçsen Gewißheiten, der monotheistischen Weltkon-flikte, mçglich? Zwei Antworten, die in diesem Buch erprobtwerden, lauten: (a) durch die List der Nebenfolge der Indivi-dualisierung der Religionen; (b) durch einen Typus der Tole-ranz, dessen Ziel nicht Wahrheit, aber Frieden ist.

2.4 Die List der Nebenfolge der Individualisierungder Religionen

Diese Vermutung läßt sich im Anschluß an Max Webers Stu-die Die protestantische Ethik und der ›Geist‹ des Kapitalismus(1905) erläutern: Inwieweit entsteht – ähnlich wie in der Frü-hen Neuzeit der »Geist« des Kapitalismus als nicht-inten-dierte Nebenfolge aus der Bejahung des religiçsen Individua-lismus hervorgegangen ist – am Beginn des 21. Jahrhundertsaus der radikalen Bejahung der Individualisierung des Glau-bens der »kosmopolitische Geist« der Weltgesellschaft – undzwar als deren nicht-intendierte Nebenfolge. Und welche Be-deutung kommt dabei den bereits erwähnten religiçs-kosmo-politischen imagined communities zu?

2.5 Die Frage nach dem Typus der Toleranz,deren Ziel nicht Wahrheit, aber Fr ieden ist

Wenn die Hoffnung des Säkularismus, das Feuer der Religio-nen und damit auch der Religionskonflikte werde im Zugefortschreitender Modernisierung erlçschen, sich als falschherausstellt, dann heißt das nicht, daß die sich globalisieren-

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den Religionen und Neuen Religiçsen Bewegungen ein fürallemal von den Restriktionen freigesetzt sind, die eine zivili-sierte Koexistenz ermçglichen. Vielmehr geht es dann dar-um, einen Rahmen von Normen und (Verfahrens-)Regelnauszuarbeiten, der die Bedingungen des weltreligiçsen Zu-sammenlebens und Zusammenwirkens enthält, auch wenndieser nicht für alle Ewigkeit und für alle Kontexte gleicher-maßen gelten kann, wird und soll. Dies wirft ganz prinzipielldie Frage nach einem Typus von Toleranz auf, »dessen Zielnicht Wahrheit, aber Frieden ist« (John Gray 2007: 208).Wer Wahrheit als oberstes Ziel der Toleranz behauptet,

strebt zwar Konsens und Harmonie an, verurteilt, verdammtzugleich alle diejenigen, die sich dieser »Wahrheit« nicht beu-gen wollen. Wer dagegen einsieht, daß das Ziel von Konsensund Harmonie weder eine realistische Chance hat noch er-strebenswert ist, ist mit dem Problem konfrontiert: Wiewird – jenseits der Universalismen – eine »kosmopolitischeToleranz« mçglich? Und welche Beiträge kçnnen die weltreli-giçsen Akteure und Bewegungen selbst dazu leisten? Dieseweltreligiçse Selbstzivilisierung ist kein politisches Handelnund doch weltpolitisch hoch bedeutsam. »Das ist der einzigeHeilige Krieg, zu dem die Religion aufrufen darf und muß,der innere Kampf mit dem, was dem Frieden im Wege steht.«(Kamphaus 2007: 7)

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