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Der Essay als Form Bestimmt, Erleuchtetes zu sehen, nicht das Licht Goethe, Pandora Daß der Essay in Deutschland als Mischprodukt verrufen ist; daß es an überzeugender Tradition der Form gebricht; daß man ihrem nachdrücklichen Anspruch nur intermittierend genügte wurde oft genug festgestellt und gerügt. »Die Form des Essays hat bis jetzt noch immer nicht den Weg des Selbständigwerdens zurückgelegt, den ihre Schwester, die Dichtung, schon längst durchlaufen hat: den der Entwicklung aus einer primitiven undifferenzierten Einheit mit Wissenschaft, Moral und Kunst.« 1 Aber weder das Unbehagen an diesem Zustand noch das an der Gesinnung, die darauf reagiert, indem sie Kunst als Reservat von Irrationalität einhegt, Erkenntnis der organisierten Wissen- schaft gleichsetzt und was jener Antithese nicht sich fügt als un- rein ausscheiden möchte, hat am landesüblichen Vorurteil etwas geändert. Noch heute reicht das Lob des écrivain hin, den, dem man es spendet, akademisch draußen zu halten. Trotz aller be- lasteten Einsicht, die Simmel und der junge Lukács, Kassner und Benjamin dem Essay, der Spekulation über spezifische, kul- turell bereits vorgeformte Gegenstände 2 anvertraut haben, dul- det die Zunft als Philosophie nur, was sich mit der Würde des Allgemeinen, Bleibenden, heutzutage womöglich Ursprüngliche bekleidet und mit dem besonderen geistigen Gebilde nur inso- 1 Georg von Lukács, Die Seele und die Formen, Berlin 1911, S. 29. 2 Vgl. Lukács, a. a. O., S. 23: »Der Essay spricht immer von etwas bereits Geformtem, oder bestenfalls von etwas schon einmal Dagewesenem, es gehört also zu seinem Wesen, daß er nicht neue Dinge aus einem leeren Nichts heraushebt, sondern bloß solche, die schon irgendwann lebendig waren, aufs neue ordnet. Und weil er sie nur aufs neue ordnet, nicht aus dem Formlosen etwas Neues formt, ist er auch an sie gebunden, muß er immer ‚die Wahrheit’ über sie aussprechen. Ausdruck für ihr Wesen finden.«

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Der Essay als Form

Bestimmt, Erleuchtetes zu sehen, nicht das LichtGoethe, Pandora

Daß der Essay in Deutschland als Mischprodukt verrufen ist;daß es an überzeugender Tradition der Form gebricht; daß manihrem nachdrücklichen Anspruch nur intermittierend genügtewurde oft genug festgestellt und gerügt. »Die Form des Essayshat bis jetzt noch immer nicht den Weg des Selbständigwerdenszurückgelegt, den ihre Schwester, die Dichtung, schon längstdurchlaufen hat: den der Entwicklung aus einer primitivenundifferenzierten Einheit mit Wissenschaft, Moral und Kunst.«1

Aber weder das Unbehagen an diesem Zustand noch das an derGesinnung, die darauf reagiert, indem sie Kunst als Reservatvon Irrationalität einhegt, Erkenntnis der organisierten Wissen-schaft gleichsetzt und was jener Antithese nicht sich fügt als un-rein ausscheiden möchte, hat am landesüblichen Vorurteil etwasgeändert. Noch heute reicht das Lob des écrivain hin, den, demman es spendet, akademisch draußen zu halten. Trotz aller be-lasteten Einsicht, die Simmel und der junge Lukács, Kassnerund Benjamin dem Essay, der Spekulation über spezifische, kul-turell bereits vorgeformte Gegenstände2 anvertraut haben, dul-det die Zunft als Philosophie nur, was sich mit der Würde desAllgemeinen, Bleibenden, heutzutage womöglich Ursprünglichebekleidet und mit dem besonderen geistigen Gebilde nur inso-

1 Georg von Lukács, Die Seele und die Formen, Berlin 1911, S. 29.2 Vgl. Lukács, a. a. O., S. 23: »Der Essay spricht immer von etwas bereitsGeformtem, oder bestenfalls von etwas schon einmal Dagewesenem, esgehört also zu seinem Wesen, daß er nicht neue Dinge aus einem leerenNichts heraushebt, sondern bloß solche, die schon irgendwann lebendigwaren, aufs neue ordnet. Und weil er sie nur aufs neue ordnet, nicht aus demFormlosen etwas Neues formt, ist er auch an sie gebunden, muß er immer‚die Wahrheit’ über sie aussprechen. Ausdruck für ihr Wesen finden.«

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weit sich einläßt, wie daran die allgemeinen Kategorien zuexemplifizieren sind; wie wenigstens das Besondere auf jenedurchsichtig wird. Die Hartnäckigkeit, mit der dies Schemaüberllebt, wäre so rätselhaft wie seine affektive Besetztheit,speisten es nicht Motive, die stärker sind als die peinlicheErinnerung daran, was einer Kultur an Kultiviertheit mangelt,die historisch den homme de lettres kaum kennt. In Deutschlandreizt der Essay zur Abwehr, weil er an die Freiheit des Geistesmahnt, die, seit dem Mißlingen einer seit Leibnizischen Tagennur lauen Aufklärung, bis heute, auch unter den Bedingungenformaler Freiheit, nicht recht sich entfaltete, sondern stets bereitwar, die Unterordnung unter irgendwelche Instanzen als ihreigentliches Anliegen zu verkünden. Der Essay aber läßt sichsein Ressort nicht vorschreiben. Anstatt wissenschaftlich etwaszu leisten oder künstlerisch etwas zu schaffen, spiegelt nochseine Anstrengung die Muße des Kindlichen wider, der ohneSkrupel sich entflammt an dem, was andere schon getan haben.Er reflektiert das Geliebte und Gehaßte, anstatt den Geist nachdem Modell unbegrenzter Arbeitsmoral als Schöpfung aus demNichts vorzustellen. Glück und Spiel sind ihm wesentlich. Erfängt nicht mit Adam und Eva an sondern mit dem, worüber erreden will; er sagt, was ihm daran aufgeht, bricht ab, wo erselber am Ende sich fühlt und nicht dort, wo kein Rest mehrbliebe: so rangiert er unter den Allotria. Weder sind seineBegriffe von einem Ersten her konstruiert noch runden sie sichzu einem Letzten. Seine Interpretationen sind nicht philologischerhärtet und besonnen, sondern prinzipiell Überinterpretationen,nach dem automatisierten Verdikt jenes wachsamen Verstandes,der sich als Büttel an die Dummheit gegen den Geist verdingt.Die Anstrengung des Subjekts, zu durchdringen, was alsObjektivität hinter der Fassade sich versteckt, wird als müßiggebrandmarkt: aus Angst vor Negativität überhaupt. Alles seiviel einfacher. Dem, der deutet, anstatt hinzunehmen undeinzuordnen, wird der gelbe Fleck dessen angeheftet, derkraftlos, mit fehlgeleiteter Intelligenz spintisiere und hineinlege,wo es nichts auszulegen gibt. Tatsachenmensch oderLuftmensch, das ist die Alternative. Hat man aber einmal sichterrorisieren lassen vom Verbot, mehr zu meinen als an Ort undStelle gemeint war, so willfahrt man

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bereits der falschen Intention, wie sie Menschen und Dinge vonsich selber hegen. Verstehen ist dann nichts als dasHerausschälen dessen, was der Autor jeweils habe sagen wollen,oder allenfalls der einzelmenschlichen psychologischenRegungen, die das Phänomen indiziert. Aber wie kaum sichausmachen läßt, was einer sich da und dort gedacht, was ergefühlt hat, so wäre durch derlei Einsichten nichts Wesentlicheszu gewinnen. Die Regungen der Autoren erlöschen in demobjektiven Gehalt, den sie ergreifen. Die objektive Fülle vonBedeutungen jedoch, die in jedem geistigen Phänomenverkapselt sind, verlangt vom Empfangenden, um sich zuenthüllen, eben jene Spontaneität subjektiver Phantasie, die imNamen objektiver Disziplin geahndet wird. Nichts läßt sichherausinterpretieren, was nicht zugleich hineininterpretiert wäre.Kriterien dafür sind die Vereinbarkeit der Interpretation mit demText und mit sich selber, und ihre Kraft, die Elemente desGegenstandes mitsammen zum Sprechen zu bringen. Durchdiese ähnelt der Essay einer ästhetischen Selbständigkeit, dieleicht als der Kunst bloß entlehnt angeklagt wird, von der ergleichwohl durch sein Medium, die Begriffe, sich unterscheidetund durch seinen Anspruch auf Wahrheit bar des ästhetischenScheins. Das hat Lucács verkannt, als er in dem Brief an LeoPopper, der die ‚Seele und die Formen’ einleitet, den Essay eineKunstform nannte3. Nicht überlegen aber ist dem diepositivistische Maxime, was über Kunst geschrieben würde,dürfe selbst in nichts künstlerische Darstellung, also Autonomieder Form beanspruchen. Die positivistische Gesamttendenz, diejeden möglichen Gegenstand als einen von Forschung starr demSubjekt entgegensetzt, bleibt wie in allen anderen Momenten soauch in diesem bei der bloßen Trennung von Form und Inhaltstehen: wie denn Oberhaupt von Ästhetischem unästhetisch, baraller Ähnlichkeit mit der Sache kaum sich reden ließe, ohne daßman der Banausie verfiele und a priori von jener Sache abglitte.Der Inhalt, einmal nach dem Urbild des Protokollsatzes fixiert,soll nach positivistischem Brauch gegen seine Darstellungindifferent, diese konventionell, nicht von der Sache gefordertsein, und jede Regung des Ausdrucks in der Darstellunggefährdet für den Instinkt des wissenschaftli-

3 Vgl. Lukács, a. a. O., S. 5 und passim.

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chen Purismus eine Objektivität, die nach Abzug des Subjektsherausspränge, und damit die Gediegenheit der Sache, die um sobesser sich bewähre, je weniger sie sich auf die Unterstützungdurch die Form verläßt, obwohl doch diese ihre Norm selbergenau daran hat, die Sache rein und ohne Zutat zu geben. In derAllergie gegen die Formen als bloße Akzidenzien nähert sichder szientifische Geist dem stur dogmatischen. Das unver-antwortlich geschluderte Wort wähnt, die Verantwortlichkeit inder Sache zu belegen, und die Reflexion über Geistiges wirdzum Privileg des Geistlosen.All diese Ausgeburten der Rancune sind nicht nur die Unwahr-heit. Verschmäht es der Essay, kulturelle Gebilde zuvor abzu-leiten aus einem ihnen Zugrundeliegenden, so embrouilliert ersich allzu beflissen mit dem Kulturbetrieb von Prominenz, Er-folg und Prestige marktmäßiger Erzeugnisse. Die Romanbio-graphien und was an verwandter Prämissen-Schriftstellerei andiese sich anhängt, sind keine bloße Ausartung sondern diepermanente Versuchung einer Form, deren Verdacht gegen diefalsche Tiefe durch nichts gefeit ist vor dem Umschlag inversierte Oberflächlichkeit. Schon in Sainte-Beuve, von dem dieGattung des jüngeren Essays wohl sich herleitet, zeichnet dassich ab und hat mit Produkten wie den Schattenrissen vonHerbert Eulenberg, dem deutschen Urbild einer Flut kulturellerSchundliteratur, bis zu den Filmen über Rembrandt, Toulouse-Lautrec und die Heilige Schrift die Neutralisierung geistigerGebilde zu Gütern weiterbefördert, die ohnehin das, was imOstbereich schmählich das Erbe heißt, in der jüngerenGeistesgeschichte unwiderstehlich ergreift. Am sinnfälligstenvielleicht ist der Prozeß bei Stefan Zweig, dem in seiner Jugendeinige differenzierte Essays gelangen und der schließlich inseinem Balzacbuch herunterkam auf die Psychologie desschöpferischen Menschen. Solches Schrifttum kritisiert nicht dieabstrakten Grundbegriffe, begriffslosen Daten, eingeschliffenenClichés, sondern setzt allesamt implizit, aber destoeinverstandener voraus. Der Abhub verstehender Psychologiewird fusioniert mit gängigen Kategorien aus derWeltanschauung des Bildungsphilisters, wie der Persönlichkeitund dem Irrationalen. Dergleichen Essays verwechseln sichselber mit jenem Feuilleton, mit dem die Feinde

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der Form diese verwechseln. Losgerissen von der Disziplin aka-demischer Unfreiheit, wird geistige Freiheit selber unfrei, will-fahrt dem gesellschaftlich präformierten Bedürfnis der Kunden-schaft. Das Unverantwortliche, an sich Moment jeglicher Wahr-heit, die sich nicht in der Verantwortung gegenüber dem Be-stehenden verbraucht, verantwortet sich dann vor den Bedürf-nissen des etablierten Bewußtseins; die schlechten Essays sindnicht weniger konformistisch als die schlechten Dissertationen.Verantwortung aber respektiert nicht nur Autoritäten und Gre-mien sondern auch die Sache.Daran jedoch, daß der schlechte Essay von Personen erzählt,anstatt die Sache aufzuschließen, ist die Form nicht unschuldig.Die Trennung von Wissenschaft und Kunst ist irreversibel.Bloß die Naivetät des Literaturfabrikanten nimmt von ihr keineNotiz, der sich wenigstens für ein Organisationsgenie hält undgute Kunstwerke zu schlechten verschrottet. Mit derVergegenständlichung der Welt im Verlauf fortschreitenderEntmythologisierung haben Wissenschaft und Kunst sichgeschieden; ein Bewußtsein, dem Anschauung und Begriff, Bildund Zeichen eins wären, ist, wenn anders es je existierte, mitkeinem Zauberschlag wiederherstellbar, und seine Restitutionfiele zurück ins Chaotische. Nur als Vollendung desvermittelnden Prozesses wäre solches Bewußtsein zu denken,als Utopie, wie sie die idealistischen Philosophen seit Kant mitdem Namen der intellektuellen Anschauung bedachten, dieversagte, wann immer aktuelle Erkenntnis auf sie sich berief.Wo Philosophie durch Anleihe bei der Dichtung dasvergegenständlichende Denken und seine Geschichte, nachgewohnter Terminologie die Antithese von Subjekt und Objekt,meint abschaffen zu können und gar hofft, es spreche in eineraus Parmenides und Jungnickel montierten Poesie Sein selber,nähert sie eben damit sich dem ausgelaugten Kulturgeschwätz.Sie weigert sich mit als Urtümlichkeit zurechtgestutzterBauernschläue, die Verpflichtung des begrifflichen Denkens zuhonorieren, die sie doch unterschrieben hat, sobald sie Begriffein Satz und Urteil verwandte, während ihr ästhetisches Elementeines aus zweiter Hand, verdünnte Bildungsreminiszenz anHölderlin oder den Expressionismus bleibt oder womöglich anden Jugendstil, weil kein Denken so schrankenlos und blind

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der Sprache sich anvertrauen kann, wie die Idee urtümlichenSagens es vorgaukelt. Der Gewalttat, die dabei Bild und Begriffwechselseitig aneinander verüben, entspringt der Jargon derEigentlichkeit, in dem Worte vor Ergriffenheit tremolieren,während sie verschweigen, worüber sie ergriffen sind. Die ambi-tiöse Transzendenz der Sprache über den Sinn hinaus mündet ineine Sinnleere, welche vom Positivismus spielend dingfestgemacht werden kann, dem man sich überlegen meint und demman doch eben durch jene Sinnleere in die Hände arbeitet, die erkritisiert und die man mit seinen Spielmarken teilt. UntermBann solcher Entwicklungen nähert Sprache, wo sie in Wissen-schaften überhaupt noch sich zu regen wagt, dem Kunstgewerbesich an, und der Forscher bewährt, negativ, am ehesten ästheti-sche Treue, der gegen Sprache überhaupt sich sträubt und,anstatt das Wort zur bloßen Umschreibung seiner Zahlen zuerniedrigen, die Tabelle vorzieht, welche die Verdinglichung desBewußtseins ohne Rückhalt einbekennt und damit für sie etwaswie Form findet ohne apologetische Anleihe bei der Kunst.Wohl war diese in die vorherrschende Tendenz der Aufklärungvon je so verflochten, daß sie seit der Antike in ihrer Technikwissenschaftliche Funde verwertete. Aber die Quantität schlägtum in die Qualität. Wird Technik im Kunstwerk verabsolutiert;wird Konstruktion total und tilgt sie ihr Motivierendes undEntgegengesetztes, den Ausdruck; prätendiert also Kunst, un-mittelbar Wissenschaft, richtig nach deren Maß zu sein, so sank-tioniert sie die vorkünstlerische Stoffhuberei, sinnfremd wie nurdas Seyn aus philosophischen Seminaren, und verbrüdert sichmit der Verdinglichung, gegen die wie immer auch stumm undselber dinghaft Einspruch zu erheben bis zum heutigen Tag dieFunktion des Funktionslosen, der Kunst, war.Aber wie Kunst und Wissenschaft in Geschichte sich schieden,so ist ihr Gegensatz auch nicht zu hypostasieren. Der Abscheuvor der anachronistischen Vermischung heiligt nicht eine nachSparten organisierte Kultur. In all ihrer Notwendigkeitbeglaubigen jene Sparten institutionell doch auch den Verzichtauf die ganze Wahrheit. Die Ideale des Reinlichen undSäuberlichen, die dem Betrieb einer veritabeln, aufEwigkeitswerte geeichten Philosophie, einer hieb- undstichfesten, lückenlos durchorganisierten

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Wissenschaft und einer begriffslos anschaulichen Kunst gemeinsind, tragen die Spur repressiver Ordnung. Dem Geist wird eineZuständigkeitsbescheinigung abverlangt, damit er nicht mit denkulturell bestätigten Grenzlinien die offizielle Kultur selberüberschreite. Vorausgesetzt wird dabei, daß alle Erkenntnispotentiell in Wissenschaft sich umsetzen lasse. Die Erkenntnis-theorien, welche das vorwissenschaftliche vom wissenschaft-lichen Bewußtsein unterschieden, haben denn auch durchwegden Unterschied lediglich graduell aufgefaßt. Daß es aber beider bloßen Versicherung jener Umsetzbarkeit blieb, ohne daß jeim Ernst lebendiges Bewußtsein in wissenschaftlichesverwandelt worden wäre, verweist auf das Prekäre desÜbergangs selber, eine qualitative Differenz. Die einfachsteBesinnung aufs Bewußtseinsleben könnte darüber belehren, wiewenig Erkenntnisse, die keineswegs unverbindliche Ahnungensind, allesamt vom szientifischen Netz sich einfangen lassen.Das Werk Marcel Prousts, dem es so wenig wie Bergson amwissenschaflich-positivistischen Element mangelt, ist eineinziger Versuch, notwendige und zwingende Erkenntnisse überMenschen und soziale Zusammenhänge auszusprechen, dienicht ohne weiteres von der Wissenschaft eingeholt werdenkönnen, während doch ihr Anspruch auf Objektivität wedergemindert noch der vagen Plausibilität ausgeliefert würde. DasMaß solcher Objektivität ist nicht die Verifizierung behaupteterThesen durch ihre wiederholende Prüfung, sondern die inHoffnung und Desi l lus ion zusammengehal teneeinzelmenschliche Erfahrung. Sie verleiht ihren Beobachtungenerinnernd durch Bestätigung oder Widerlegung Relief. Aber ihreindividuell zusammengeschlossene Einheit, in der doch dasGanze erscheint, wäre nicht aufzuteilen und wieder zu ordnenunter die getrennten Personen und Apparaturen etwa vonPsychologie und Soziologie. Proust hat, unter dem Druck desszientifischen Geistes und seiner auch dem Künstler latentallgegenwärtigen Desiderate, getrachtet, in einer selbst denWissenschaften nachgebildeten Technik, einer Art von Ver-suchsanordnung, sei's zu retten, sei's wiederherzustellen, was inden Tagen des bürgerlichen Individualismus, da das individuelleBewußtsein noch sich selbst vertraute und nicht vorweg unterorganisatorischer Zensur sich ängstigte, als Erkennt-

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nisse eines erfahrenen Mannes vom Typ jenes ausgestorbenenhomme de lettres galt, den Proust als höchster Fall des Dilettan-ten nochmals beschwört. Keinem jedoch wäre es beigekommen,die Mitteilungen eines Erfahrenen, weil sie nur die seinen sindund nicht ohne weiteres wissenschaftlich sich generalisieren las-sen, als unbeträchtlich, zufällig und irrational abzutun. Was abervon seinen Funden durch die wissenschaftlichen Maschenschlüpft, entgeht ganz gewiß der Wissenschaft selber. AlsGeisteswissenschaft versagt sie, was sie dem Geist verspricht:dessen Gebilde von innen aufzuschließen. Der jungeSchriftsteller, der auf Hochschulen lernen will, was einKunstwerk, was Sprachgestalt, was ästhetische Qualität, ja auchästhetische Technik sei, wird meist bloß desultorisch etwasdavon vernehmen, allenfalls Auskünfte erhalten, die von derjeweils zirkulierenden Philosophie fertig bezogen und demGehalt der in Rede stehenden Gebilde mehr oder minderwillkürlich aufgeklatscht sind. Wendet er sich aber an diephilosophische Ästhetik, so werden ihm Sätze einesAbstraktionsniveaus aufgedrängt, die weder mit den Gebilden,die er verstehen will, vermittelt sind, noch in Wahrheit eins mitdem Gehalt, nach dem er tastet. Für all das aber ist nicht dieArbeitsteilung des kosmos noetikos nach Kunst undWissenschaft allein verantwortlich; nicht sind deren Demar-kationslinien durch guten Willen und übergreifende Planung zubeseitigen. Sondern der unwiderruflich nach dem Muster vonNaturbeherrschung und materieller Produktion gemodelte Geistbegibt sich der Erinnerung an jenes überwundene Stadium, dieein zukünftiges verspricht, der Transzendenz gegenüber denverhärteten Produktionsverhältnissen, und das lähmt sein spe-zialistisches Verfahren gerade seinen spezifischen Gegenständengegenüber.Im Verhältnis zur wissenschaftlichen Prozedur und ihrer philo-sophischen Grundlegung als Methode zieht der Essay, der Ideenach, die volle Konsequenz aus der Kritik am System. Selbst dieempiristischen Lehren, welche der unabschließbaren, nichtantezipierbaren Erfahrung den Vorrang vor der festen begriff-lichen Ordnung zumessen, bleiben insofern systematisch, als siemehr oder minder konstant vorgestellte Bedingungen von Er-kenntnis erörtern und diese in möglichst bruchlosemZusammen-

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hang entwickeln. Empirismus nicht weniger als Rationalismuswar seit Bacon - selbst einem Essayisten - »Methode«. DerZweifel an deren unbedingtem Recht ward in der Verfahrens-weise des Denkens selber fast nur vom Essay realisiert. Er trägtdem Bewußtsein der Nichtidentität Rechnung, ohne es auch nurauszusprechen; radikal im Nichtradikalismus, in der Enthaltungvon aller Reduktion auf ein Prinzip, im Akzentuieren des Par-tiellen gegenüber der Totale, m Stückhaften. »Vielleicht hat dergroße Sieur de Montaigne etwas Ähnliches empfunden, als erseinen Schriften die wunderbar schöne und treffendeBezeichnung ‚Essais’ gab. Denn eine hochmütige Courtoisie istdie einfache Bescheidenheit dieses Wortes. Der Essayist winktden eigenen, stolzen Hoffnungen, die manchmal dem Letztennahe gekommen zu sein wähnen, ab - es sind ja nur Erklärungender Gedichte anderer, die er bieten kann und bestenfalls die dereigenen Begriffe. Aber ironisch fügt er sich in diese Kleinheitein, in die ewige Kleinheit der tiefsten Gedankenarbeit demLeben gegenüber und mit ironischer Bescheidenheitunterstreicht er sie noch.«4 Der Essay pariert nicht der Spielregelorganisierter Wissenschaft und Theorie, es sei, nach dem Satzdes Spinoza, die Ordnung der Dinge die gleiche wie die derIdeen. Weil die lückenlose Ordnung der Begriffe nicht eins istmit dem Selenden, zielt er nicht auf geschlossenen, deduktivenoder induktiven Aufbau. Er revoltiert zumal gegen die seitPlaton eingewurzelte Doktrin, das Wechselnde, Ephemere seider Philosophie unwürdig; gegen jenes alte Unrecht amVergänglichen, wodurch es im Begriff nochmals verdammtwird. Er schreckt zurück vor dem Gewaltsamen des Dogmas:dem Resultat der Abstraktion, dem gegenüber dem darunterbefaßten individuellen zeitlich invarianten Begriff, gebühreontologische Dignität. Der Trug, der ordo idearum wäre derordo rerum, gründet in der Unterstellung eines Vermittelten alsunmittelbar. So wenig ein bloß Faktisches ohne den Begriffgedacht werden kann, weil es denken immer schon es begreifenheißt, so wenig ist noch der reinste Begriff zu denken ohne allenBezug auf Faktizität. Selbst die vermeintlich von Raum und Zeitbefreiten Gebilde der Phantasie verweisen, wie immer auchabgeleitet, auf individuelles Dasein. Darum läßt

4 Lukács, a. a. O., S. 21.

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sich der Essay von dem depravierten Tiefsinn nicht einschüch-tern, Wahrheit und Geschichte stünden unvereinbar einandergegenüber. Hat Wahrheit in der Tat einen Zeltkern, so wird dervolle geschichtliche Gehalt zu ihrem integralen Moment; dasAposteriori wird konkret zum Apriori, wie Fichte und seineNachfolger nur generell es forderten. Die Beziehung auf Erfah-ung - und ihr verleiht der Essay soviel Substanz wie die her-kömmliche Theorie den bloßen Kategorien - ist die auf dieganze Geschichte; die bloß individuelle Erfahrung, mit welcherdas Bewußtsein als mit dem ihr nächsten anhebt, ist selber ver-mittelt durch die übergreifende der historischen Menschheit; daßstattdessen diese mittelbar und das je Eigene das Unmittelbaresei, bloße Selbsttäuschung der individualistischen Gesellschaftund Ideologie. Die Geringschätzung des geschichtlichProduzierten als eines Gegenstandes der Theorie wird dahervom Essay revidiert. Die Unterscheidung einer ersten von einerbloßen Kulturphilosophie, welche jene voraussetze und auf ihrweiterbaue, mit der das Tabu über den Essay theoretisch sichrationalisiert, ist nicht zu retten. Eine Verfahrensweise desGeistes verliert ihre Autorität, welche die Scheidung von Zeit-lichem und Zeitlosem als Kanon ehrt. Höhere Abstraktionsni-veaus investieren den Gedanken weder mit höherer Weihe nochmit metaphysischem Gehalt; eher verflüchtigt sich dieser mitdem Fortgang der Abstraktion, und etwas davon möchte derEssay wiedergutmachen. Der geläufige Einwand gegen ihn, ersei stückhaft und zufällig, postuliert selber die Gegebenheit vonTotalität, damit aber Identität von Subjekt und Objekt, undgebärdet sich, als wäre man des Ganzen mächtig. Der Essayaber will nicht das Ewige im Vergänglichen aufsuchen und ab-destillieren, sondern eher das Vergängliche verewigen. SeineSchwäche zeugt von der Nichtidentität selber, die er auszudrük-ken hat; vom Überschuß der Intention über die Sache und damitjener Utopie, welche in der Gliederung der Welt nach Ewigemund Vergänglichem abgewehrt ist. Im emphatischen Essayentledigt sich der Gedanke der traditionellen Idee von derWahrheit.Damit suspendiert er zugleich den traditionellen Begriff vonMethode. Der Gedanke hat seine Tiefe danach, wie tief er in

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die Sache dringt, nicht danach, wie tief er sie auf ein andereszurückführt. Das wendet der Essay polemisch, indem erbehandelt, was nach den Spielregeln für abgeleitet gilt, ohnedessen endgültige Ableitung selber zu verfolgen. In Freiheitdenkt er zusammen, was sich zusammenfindet in dem freigewählten Gegenstand. Nicht kapriziert er sich auf ein jenseitsder Vermittlungen - und das sind die geschichtlichen, in denendie ganze Gesellschaft sedimentiert ist - sondern sucht dieWahrheitsgehalte als selber geschichtliche. Er fragt nach keinerUrgegebenheit, zum Tort der vergesellschafteten Gesellschaft,die, eben weil sie nichts duldet, was von ihr nicht geprägt ward,am letzten dulden kann, was an ihre eigene Allgegenwarterinnert, und notwendig als ideologisches Komplement jeneNatur herbeizitiert, von der ihre Praxis nichts übrig läßt. DerEssay kündigt wortlos die Illusion, der Gedanke vermöchte ausdem, was thesei, Kultur ist, ausbrechen in das, was physei, vonNatur sei. Gebannt vom Fixierten, eingestandenermaßenAbgeleiteten, von Gebilden, ehrt er die Natur, indem erbestätigt, daß sie den Menschen nicht mehr ist. SeinAlexandrinismus antwortet darauf, daß noch Flieder undNachtigall, wo das universale Netz ihnen zu überleben etwagestattet, durch ihre bloße Existenz glauben machen, das Lebenlebte noch. Er verläßt die Heerstraße zu den Ursprüngen, diebloß zu dem Abgeleitetesten, dem Sein führt, der verdoppelndenIdeologie dessen, was ohnehin ist, ohne daß doch die Idee vonUnmittelbarkeit ganz verschwände, die der Sinn vonVermittlung selbst postuliert. Alle Stufen des Vermittelten sinddem Essay unmittelbar, ehe er zu reflektieren sich anschickt.Wie er Urgegebenheiten verweigert, so verweigert er die De-finition seiner Begriffe. Deren volle Kritik ist von der Philoso-phie unter den divergentesten Aspekten erreicht worden; beiKant, bei Hegel, bei Nietzsche. Aber die Wissenschaft hatsolche Kritik niemals sich zugeeignet. Während die mit Kantanhebende Bewegung, als eine gegen die scholastischenResiduen im modernen Denken, anstelle der Verbaldefinitionendas Begreifen der Begriffe aus dem Prozeß rückt, in dem siegezeitigt werden, verharren die Einzelwissenschaften, um derungestörten Sicherheit ihres Operierens willen, bei dervorkritischen Ver-

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pflichtung zu definieren; darin stimmen die Neopositivisten,denen die wissenschaftliche Methode Philosophie heißt, mit derScholastik überein. Der Essay dafür nimmt den antisystemati-schen Impuls ins eigene Verfahren auf und führt Begriffe um-standslos, »unmittelbar« so ein, wie er sie empfängt. Präzisiertwerden sie erst durch ihr Verhältnis zueinander. Dabei jedochhat er eine Stütze an den Begriffen selber. Denn es ist bloßerAberglaube der aufbereitenden Wissenschaft, die Begriffe wärenan sich unbestimmt, würden bestimmt erst durch ihre Definition.Der Vorstellung des Begriffs als einer tabula rasa bedarf dieWissenschaft, um ihren Herrschaftsanspruch zu festigen; als dender Macht, welche einzig den Tisch besetzt. In Wahrheit sindalle Begriffe implizit schon konkretisiert durch die Sprache, inder sie stehen. Mit solchen Bedeutungen hebt der Essay an undtreibt sie, selbst wesentlich Sprache, weiter; er möchte dieser inihrem Verhältnis zu den Begriffen helfen, sie reflektierend sonehmen, wie sie bewußtlos in der Sprache schon genannt sind.Das ahnt das Verfahren der Bedeutungsanalyse in der Phäno-menologie, nur daß es die Beziehung der Begriffe auf dieSprache zum Fetisch macht. Dazu steht der Essay ebensoskeptisch wie zu ihrer Definition. Er zieht ohne Apologie denEinwand auf sich, man wisse nicht über allem Zweifel, was manunter den Begriffen sich vorzustellen habe. Denn erdurchschaut, daß das Verlangen nach strikten Definitionenlängst dazu herhält, durch festsetzende Manipulationen derBegriffsbedeutungen das Irritierende und Gefährliche derSachen wegzuschaffen, die in den Begriffen leben. Dabei jedochkommt er weder ohne allgemeine Begriffe aus, - auch dieSprache, die den Begriff nicht fetischisiert, kann seiner nichtentraten - noch geht er mit ihnen nach Belieben um. DieDarstellung nimmt er darum schwerer als die Methode undSache sondernden, der Darstellung ihres vergegenständlichtenInhalts gegenüber gleichgültigen Verfahrensweisen. Das Wiedes Ausdrucks soll an Präzision erretten, was der Verzicht aufsUmreißen opfert, ohne doch die gemeinte Sache an die Willküreinmal dekretierter Begriffsbedeutungen zu verraten. Darin warBenjamin der unerreichte Meister. Solche Präzision kann jedochnicht atomistisch bleiben. Weniger nicht, sondern mehr als dasdefinitorische Verfahren urgiert der

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Essay die Wechselwirkung seiner Begriffe im Prozeß geistigerErfahrung. In ihr bilden jene kein Kontinuum der Operationen,der Gedanke schreitet nicht einsinnig fort, sondern die Momenteverflechten sich teppichhaft. Von der Dichte dieser Verflechtunghängt die Fruchtbarkeit von Gedanken ab. Eigentlich denkt derDenkende gar nicht, sondern macht sich zum Schauplatz geisti-ger Erfahrung, ohne sie aufzudröseln. Während aus ihr auchdem traditionellen Denken seine Impulse zuwachsen, eliminiertes seiner Form nach die Erinnerung daran. Der Essay aber wähltsie als Vorbild, ohne sie, als reflektierte Form, einfach nachzu-ahmen; er vermittelt sie durch seine eigene begriffliche Organi-sation; er verfährt, wenn man will, methodisch unmethodisch.Wie der Essay die Begriffe sich zueignet, wäre am ehesten ver-gleichbar dem Verhalten von einem, der in fremdem Land ge-zwungen ist, dessen Sprache zu sprechen, anstatt schulgerechtaus Elementen sie zusammenzustümpern. Er wird ohneDiktionär lesen. Hat er das gleiche Wort, in stets wechselndemZusammenhang, dreißigmal erblickt, so hat er seines Sinnesbesser sich versichert, als wenn er die aufgezählten Bedeutungennachgeschlagen hätte, die meist zu eng sind gegenüber demWechsel je nach dem Kontext, und zu vag gegenüber denunverwechselbaren Nuancen, die der Kontext in jedemeinzelnen Fall stiftet. Wie freilich solches Lernen dem Irrtumexportiert bleibt, so auch der Essay als Form; für seine Affinitätzur offenen geistigen Erfahrung hat er mit dem Mangel an jenerSicherheit zu zahlen, welchen die Norm des etablierten Denkenswie den Tod fürchtet. Nicht sowohl vernachlässigt der Essay diezweifelsfreie Gewißheit, als daß er ihr Ideal kündigt. Wahr wirder in seinem Fortgang, der ihn über sich hinaustreibt, nicht inschatzgräberischer Obsession mit Fundamenten. Seine Begriffeempfangen ihr Licht von einem ihm selbst verborgenen terminusad quem nicht von einem offenbaren terminus a quo, und darindrückt seine Methode selber die utopische Intention aus. Alleseine Begriffe sind so darzustellen, daß sie einander tragen, daßein jeglicher sich artikuliert je nach den Konfigurationen mitanderen. In ihm treten diskret gegeneinander abgesetzteElemente zu einem Lesbaren zusammen; er erstellt kein Gerüstund keinen Bau. Als Konfiguration aber kristallisieren sich dieElemente durch ihre

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Bewegung. Jene ist ein Kraftfeld, so wie unterm Blick desEssays jedes geistige Gebilde in ein Kraftfeld sich verwandelnmuß.

Der Essay fordert das Ideal der clara et distincta perceptio undder zweifelsfreien Gewißheit sanft heraus. Insgesamt wäre er zuinterpretieren als Einspruch gegen die vier Regeln, dieDescartes' Discours de la méthode am Anfang der neuerenabendländischen Wissenschaft und ihrer Theorie aufrichtet. Diezweite jener Regeln, die Zerlegung des Objekts in »so vieleTeile ... als nur möglich und als erforderlich sein würde, um siein der besten Weise aufzulösen«5, entwirft jeneElementaranalyse, in deren Zeichen die traditionelle Theorie diebegrifflichen Ordnungsschemata und die Struktur des Seinseinander gleichsetzt. Der Gegenstand des Essays aber, dieArtefakte, versagen sich der Elementaranalyse und sind einzigaus ihrer spezifischen Idee zu konstruieren; nicht umsonst hatdarin Kant Kunstwerke und Organismen analog behandelt,obwohl er sie zugleich so unbestechlich wider allenromantischen Obskurantismus unterschied. Ebensowenig ist dieGanzheit als Erstes zu hypostasieren wie das Produkt derAnalyse, die Elemente. Beidem gegenüber orientiert sich derEssay an der Idee jener Wechselwirkung, welche streng dieFrage nach Elementen so wenig duldet wie die nach demElementaren. Weder sind die Momente rein aus dem Ganzen zuentwickeln noch umgekehrt. Es ist Monade, und doch keine;seine Momente, als solche begrifflicher Art, weisen über denspezifischen Gegenstand hinaus, in dem sie sich versammeln.Aber der Essay verfolgt sie nicht dorthin, wo sie sich jenseitsdes spezifischen Gegenstandes legitimierten: sonst geriete er inschlechte Unendlichkeit. Sondern er rückt dem hic et nunc desGegenstandes so nah, bis er in die Momente sich dissoziiert, indenen er sein Leben hat, anstatt bloß Gegenstand zu sein.Die dritte Cartesianische Regel, »der Ordnung nach meine Ge-danken zu leiten, also bei den einfachsten und am leichtesten zuerkennenden Gegenständen zu beginnen, um nach und nachsozusagen gradweise bis zur Erkenntnis derzusammengesetztesten aufzusteigen«, widerspricht schroff derEssayform insofern, als diese vom Komplexesten ausgeht, nichtvom Einfachsten, alle

5 Descartes, Philosophische Werke, ed. Buchenau, Leipzig 1922, Bd. I, S. 15.

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mal vorweg Gewohnten. Sie läßt sich nicht beirren im Verhaltendessen, der Philosophie zu studieren beginnt und dem dabei ihreIdee irgend schon vor Augen steht. Er wird kaum zuerst diesimpelsten Schriftsteller lesen, deren common sense meistdahinplätschert, wo zu verweilen wäre, sondern eher nach denangeblich schwierigen greifen, die dann ihr Licht rückwärts aufsEinfache werfen und es erhellen als eine »Stellung desGedankens zur Objektivität«. Die Naivetät des Studenten, demdas Schwierige und Formidable gerade gut genug dünkt, istweiser als die erwachsene Pedanterie, die mit drohendem Fingerden Gedanken ermahnt, er solle das Einfache kapieren, ehe er anjenes Komplexe sich wage, das doch allein ihn reizt. SolcheVertagung der Erkenntnis verhindert sie bloß. Dem convenu derVerständlichkeit, der Vorstellung von der Wahrheit als einemWirkungszusammenhang gegenüber, nötigt der Essay dazu, dieSache mit dem ersten Schritt so vielschichtig zu denken, wie sieist, Korrektiv jener versteckten Primitivität, die der gängigenratio allemal sich gesellt. Wenn die Wissenschaft dasSchwierige und Komplexe einer antagonistischen undmonadologisch aufgespaltenen Realität nach ihrer Sittefälschend auf vereinfachende Modelle bringt und diese dannnachträglich, durch vorgebliches Material, differenziert, soschüttelt der Essay die Illusion einer einfachen, im Grundeselber logischen Welt ab, die zur Verteidigung des bloßSeienden so gut sich schickt. Seine Differenziertheit ist keinZusatz sondern sein Medium. Gern rechnet das etablierteDenken sie der bloßen Psychologie der Erkennenden zu undmeint dadurch ihr Verpflichtendes abzufertigen. Diewissenschaftlichen Brusttöne gegen Übergescheitheit gelten inWahrheit nicht der vorwitzig unzuverlässigen Methode, sonderndem Befremdenden an der Sache, das sie erscheinen läßt.Unverändert kehrt die vierte Cartesianische Regel, man »solleüberall so vollzählige Aufzählungen und so allgemeine Über-sichten anstellen«, daß man »sicher wäre, nichts auszulassen«,das eigentlich systematische Prinzip, wieder noch in Kants Pole-mik gegen das »rhapsodistische« Denken des Aristoteles. Sieentspricht dem Vorwurf gegen den Essay, er sei, nach der Rededer Schulmeister, nicht erschöpfend, während jeder Gegenstand,und gewiß der geistige, unendlich viele Aspekte in sich schließt,

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über deren Auswahl nichts anderes entscheidet als die Intentiondes Erkennenden. Nur dann wäre die »allgemeine Übersicht«möglich, wenn vorweg feststünde, daß der zu behandelnde Ge-genstand in den Begriffen seiner Behandlung aufgeht; daß nichtsübrig bleibt, was von diesen her nicht zu antezipieren wäre. DieRegel von der Vollständigkeit der einzelnen Glieder aber prä-tendiert, im Gefolge jener ersten Annahme, daß der Gegenstandin lückenlosem Deduktionszusammenhang sich darstellen lasse:eine identitätsphilosophische Supposition. Wie in der Forderungvon Definition hat die Cartesianische Regel, als denkpraktischeAnweisung, das nationalistische Theorem überlebt, auf dem sieberuhte; umfassende Übersicht und Kontinuität der Darstellungwird auch der empirisch offenen Wissenschaft zugemutet.Dadurch verwandelt sich, was bei Descartes als intellektuellesGewissen über die Notwendigkeit der Erkenntnis wachen will,in Willkür, die eines »frame of reference«, einer Axiomatik, diezur Befriedigung des methodischen Bedürfnisses und um derPlausibilität des Ganzen an den Anfang gestellt werden soll,ohne daß sie selbst ihre Gültigkeit oder Evidenz mehr dartunkönnte, oder, in der deutschen Version, eines »Entwurfs-, dermit dem Pathos, aufs Sein selber zu gehen, seine subjektivenBedingungen bloß unterschlägt. Die Forderung der Kontinuitätder Gedankenführung präjudiziert tendenziell schon dieStimmigkeit im Gegenstand, dessen eigene Harmonie.Kontinuierliche Darstellung widerspräche einer antagonistischenSache, solange sie nicht die Kontinuität zugleich alsDiskontinuität bestimmte. Unbewußt und theoriefern meldet imEssay als Form das Bedürfnis sich an, die theoretisch überholtenAnsprüche der Vollständigkeit und Kontinuität auch in derkonkreten Verfahrungsweise des Geistes zu annullieren. Sträubter sich ästhetisch gegen die engherzige Methode, die nur janichts auslassen will, so gehorcht er einem erkenntniskritischenMotiv. Die romantische Konzeption des Fragments als einesnicht vollständigen sondern durch Selbstreflexion ins Un-endliche weiterschreitenden Gebildes verficht dies antiideali-stische Motiv inmitten des Idealismus. Auch in der Art des Vor-trags darf der Essay nicht so tun, als hätte er den Gegenstandabgeleitet, und von diesem bliebe nichts mehr zu sagen. Seiner

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Form ist deren eigene Relativierung immanent: er muß so sichfügen, als ob er immer und stets abbrechen könnte. Er denkt inBrücken, so wie die Realität brüchig ist, und findet seine Einheitdurch die Brüche hindurch, nicht indem er sie glättet. Einstim-migkeit der logischen Ordnung täuscht über das antagonistischeWesen dessen, dem sie aufgestülpt ward. Diskontinuität ist demEssay wesentlich, seine Sache stets ein stillgestellter Konflikt.Während er die Begriffe aufeinander abstimmt vermöge ihrerFunktion im Kräfteparallelogramm der Sachen, scheut er zurückvor dem Obergriff, dem sie gemeinsam unterzuordnen wären;was dieser zu leisten bloß vortäuscht, weiß seine Methode alsunlösbar und sucht es gleichwohl zu leisten. Das Wort Versuch,in dem die Utopie des Gedankens, ins Schwarze zu treffen, mitdem Bewußtsein der eigenen Fehlbarkeit und Vorläufigkeit sichvermählt, erteilt, wie meist geschichtlich überdauerndeTerminologien, einen Bescheid über die Form, der um soschwerer wiegt, als er nicht programmatisch sondern alsCharakteristik der tastenden Intention erfolgt. Der Essay muß aneinem ausgewählten oder getroffenen partiellen Zug dieTotalität aufleuchten lassen, ohne daß diese als gegenwärtigbehauptet würde. Er korrigiert das Zufällige und Vereinzelteseiner Einsichten, indem sie, sei es in seinem eigenen Fortgang,sei es im mosaikhaften Verhältnis zu anderen Essays, sich ver-vielfachen, bestätigen, einschränken; nicht durch Abstraktionauf die aus ihnen abgezogenen Merkmaleinheiten. »Sounterscheidet sich also ein Essay von einer Abhandlung.Essayistisch schreibt, wer experimentierend verfaßt, wer alsoseinen Gegenstand hin und her wälzt, befragt, betastet, prüft,durchreflektiert, wer von verschiedenen Seiten auf ihn losgehtund in seinem Geistesblick sammelt, was er sieht, und verwertet,was der Gegenstand unter den im Schreiben geschaffenenBedingungen sehen läßt.«6 Das Unbehagen an dieser Prozedur;das Gefühl, es könne nach Belieben so weiter gehen, hat seineWahrheit und seine Unwahrheit. Seine Wahrheit, weil der Essayin der Tat nicht schließt und das Unvermögen dazu als Parodieseines eigenen Apriori hervorkehrt; als Schuld wird ihm danndas aufgebürdet, was eigentlich jene Formen verschulden,welche die Spur

6 Max Bense, Über den Essay und seine Prosa, in: Merkur 1 (1947), S. 418.

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der Beliebigkeit verwischen. Unwahr aber ist jenes Unbehagen,weil die Konstellation des Essays doch nicht derart beliebig ist,wie es einem philosophischen Subjektivismus dünkt, der denZwang der Sache in den der begrifflichen Ordnung verlegt. Ihndeterminiert die Einheit seines Gegenstandes samt der vonTheorie und Erfahrung, die in den Gegenstand eingewandertsind. Seine Offenheit ist keine vage von Gefühl und Stimmung,sondern wird konturiert durch seinen Gehalt. Er sträubt sich ge-gen die Idee des Hauptwerks, welche selber die von Schöpfungund Totalität widerspiegelt. Seine Form kommt dem kritischenGedanken nach, daß der Mensch kein Schöpfer, daß nichtsMenschliches Schöpfung sei. Weder tritt der Essay selbst, stetsbezogen auf schon Geschaffenes, als solche auf, noch begehrt erein Allumfassendes, dessen Totalität der der Schöpfung gliche.Seine Totalität, die Einheit einer in sich auskonstruierten Form,ist die des nicht Totalen, eine, die auch als Form nicht die Theseder Identität von Gedanken und Sache behauptet, die sie in-haltlich verwirft. Die Befreiung vom Identitätszwang schenktdem Essay zuweilen, was dem offiziellen Denken entgleitet, dasMoment des Unauslöschlichen, der untilgbaren Farbe. GewisseFremdwörter bei Simmel - Cachet, Attitude - verraten dieseIntention, ohne daß sie selber theoretisch behandelt würde.Er ist offener und geschlossener zugleich, als dem traditionellenDenken gefällt. Offener insofern, als er Systematik durch seineAnlage negiert und sich selbst um so besser genügt, je strengerer es damit hält; systematische Residuen in Essays, etwa dieInfiltration literarischer Studien mit fertig bezogenen,verbreiteten Philosophemen, durch die sie sich respektabelmachen wollen, taugen nicht mehr als psychologischeTrivialitäten. Geschlossener aber ist der Essay, weil er an derForm der Darstellung emphatisch arbeitet. Das Bewußtsein derNichtidentität von Darstellung und Sache nötigt jene zurunbeschränkten Anstrengung. Das allein ist das Kunstähnlichedes Essays; sonst ist er vermöge der in ihm vorkommendenBegriffe, die ja selber von draußen nicht nur ihre Bedeutungsondern auch ihren theoretischen Bezug mitbringen, notwendigder Theorie verwandt. Freilich verhält er zu ihr sich sovorsichtig wie zum Begriff. Weder leitet er sich bündig aus ihrab - der Kardinalfehler aller

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späteren essayistischen Arbeiten von Lukács - noch ist er Ab-schlagszahlung auf kommende Synthesen. Unheil droht der gei-stigen Erfahrung, je angestrengter sie zu Theorie sich verfestigtund gebärdet, als habe sie den Stein der Weisen in Händen.Gleichwohl strebt geistige Erfahrung selbst dem eigenen Sinnnach solcher Objektivierung zu. Diese Antinomie wird vomEssay gespiegelt. Wie er Begriffe und Erfahrungen von draußenabsorbiert, so auch Theorien. Nur ist sein Verhältnis zu ihnennicht das des Standpunkts. Ist die Standpunktlosigkeit desEssays nicht länger naiv und der Prominenz ihrer Gegenständehörig; nutzt er vielmehr die Beziehung auf seine Gegenständeals Mittel wider den Bann des Anfangs, so verwirklicht erparodisch gleichsam die sonst nur ohnmächtige Polemik desDenkens gegen bloße Standpunktphilosophie. Er zehrt die Theo-rien auf, die ihm nah sind; seine Tendenz ist stets die zurLiquidation der Meinung, auch der, mit der er selbst anhebt. Erist, was er von Beginn war, die kritische Form par excellence;und zwar, als immanente Kritik geistiger Gebilde, alsKonfrontation dessen, was sie sind, mit ihrem Begriff,Ideologiekritik. »Der Essay ist die Form der kritischenKategorie unseres Geistes. Denn wer kritisiert, der muß mitNotwendigkeit experimentieren, er muß Bedingungen schaffen,unter denen ein Gegenstand erneut sichtbar wird, noch andersals bei einem Autor, und vor allem muß jetzt die Hinfälligkeitdes Gegenstandes erprobt, versucht werden, und eben dies ist jader Sinn der geringen Variation, die ein Gegenstand durchseinen Kritiker erfährt.«7 Wird dem Essay, weil er keinenaußerhalb seiner selbst liegenden Standpunkt einbekennt,Standpunktlosigkeit und Relativismus vorgeworfen, so ist dabeieben jene Vorstellung von der Wahrheit als einem »Fertigen«,einer Hierarchie von Begriffen im Spiel, die Hegel zerstörte, derStandpunkte nicht mochte: darin berührt sich der Essay mitseinem Extrem, der Philosophie des absoluten Wissens. Ermöchte den Gedanken von seiner Willkür heilen, indem er siereflektierend ins eigene Verfahren hineinnimmt, anstatt sie alsUnmittelbarkeit zu maskieren. Jene Philosophie freilich bliebbehaftet mit der Inkonsequenz,

7 Bense, a. a. O., S. 420.

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daß sie zugleich den abstrakten Oberbegriff, das bloße »Resul-tat«, im Namen des in sich diskontinuierlichen Prozesses kriti-sierte und doch, nach idealistischer Sitte, von dialektischer Me-thode redete. Darum ist der Essay dialektischer als die Dialektikdort, wo sie selbst sich vorträgt. Er nimmt die Hegelsche Logikbeim Wort: weder darf unmittelbar die Wahrheit der Totalitätgegen die Einzelurteile ausgespielt noch die Wahrheit zumEinzelurteile verendlicht werden, sondern der Anspruch derSingularität auf Wahrheit wird buchstäblich genommen bis zurEvidenz ihrer Unwahrheit. Das Gewagte, Vorgreifende, nichtganz Eingelöste jedes essayistischen Details zieht als Negationandere herbei; die Unwahrheit, in die wissend der Essay sichverstrickt, ist das Element seiner Wahrheit. Unwahres liegt ge-wiß auch in seiner bloßen Form, der Beziehung auf kulturellVorgeformtes, Abgeleitetes, als wäre es an sich. Je energischerer aber den Begriff eines Ersten suspendiert und sich weigert,Kultur aus Natur herauszuspinnen, um so gründlicher erkennt erdas naturwüchsige Wesen von Kultur selber. Bis zum heutigenTag perpetuiert sich in ihr der blinde Naturzusammenhang, derMythos, und darauf gerade reflektiert der Essay: das Verhältnisvon Natur und Kultur ist sein eigentliches Thema. Nichtumsonst versenkt er, anstatt sie zu »reduzieren«, sich inKulturphänomene als in zweite Natur, zweite Unmittelbarkeit,um durch Beharrlichkeit deren Illusion aufzuheben. Er täuschtsich so wenig wie die Ursprungsphilosophie über die Differenzzwischen Kultur und darunter Liegendem. Aber ihm ist Kulturkein zu destruierendes Epiphänomen über dem Sein, sonderndas darunter Liegende selbst ist thesei, die falsche Gesellschaft.Darum gilt ihm der Ursprung nicht für mehr als der Überbau.Seine Freiheit in der Wahl der Gegenstände, seine Souveränitätgegenüber allen priorities von Faktum oder Theorie verdankt erdem, daß ihm gewissermaßen alle Objekte gleich nah zumZentrum sind: zu dem Prinzip, das alle verhext. Er glorifiziertnicht die Befassung mit Ursprünglichem als ursprünglicher denndie mit Vermitteltern, weil ihm die Ursprünglichkeit selberGegenstand der Reflexion, ein Negatives ist. Das entsprichteiner Situation, in der Ursprünglichkeit, als Standpunkt desGeistes inmitten der vergesellschafteten Welt, zur Lüge ward.Sie erstreckt sich von

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der Erhebung historischer Begriffe aus historischen Sprachen zuUrworten bis zum akademischen Unterricht in »creativewriting« und zu der gewerbsmäßig betriebenen Primitivität, zuBlockflöten und finger painting, in denen die pädagogische Notsich als metaphysische Tugend gerlert. Der Gedanke ist nichtverschont von Baudelaires Rebellion der Dichtung gegen Naturals gesellschaftliches Reservat. Auch die Paradiese desGedankens sind einzig noch die künstlichen, und in ihnen ergehtsich der Essay. Weil, nach Hegels Diktum, nichts zwischenHimmel und Erde ist, was nicht vermittelt wäre, hält derGedanke der Idee von Unmittelbarkeit Treue nur durchsVermittelte hindurch, während er dessen Beute wird, sobald erunvermittelt das Unvermittelte ergreift. Listig macht der Essaysich fest in die Texte, als wären sie schlechterdings da undhätten Autorität. So bekommt er, ohne den Trug des Ersten,einen wie immer auch dubiosen Boden unter die Füße,vergleichbar der einstigen theologischen Exegese von Schriften.Die Tendenz jedoch ist die entgegengesetzte, die kritische:durch Konfrontation der Texte mit ihrem eigenen emphatischenBegriff, mit der Wahrheit, die ein jeder meint, auch wenn er sienicht meinen will, den Anspruch von Kultur zu erschüttern undsie zum Eingedenken ihrer Unwahrheit zu bewegen, eben jenesideologischen Scheins, in dem Kultur als naturverfallen sichoffenbart. Unterm Blick des Essays wird die zweite Natur ihrerselbst inne als erste.Bewegt sieh die Wahrheit des Essays durch seine Unwahrheit,so ist sie nicht im bloßen Gegensatz zu seinem Unehrlichen undVerfemten aufzusuchen sondern in diesem selber, seiner Mobili-tät, seinem Mangel an jenem Soliden, dessen Forderung dieWissenschaft von Eigentumsverhältnissen auf den Geist trans-ferierte. Die den Geist glauben gegen Unsolidität verteidigen zumüssen, sind seine Feinde: Geist selber, einmal emanzipiert, istmobil. Sobald er mehr will als bloß die administrative Wie-derholung und Aufbereitung des je schon Seienden, hat er etwasUnentdecktes; die vom Spiel verlassene Wahrheit wäre nur nochTautologie. Historisch ist denn auch der Essay der Rhetorikverwandt, welcher die wissenschaftliche Gesinnung seitDescartes und Bacon den Garaus machen wollte, bis sie folge-recht im wissenschaftlichen Zeitalter zur Wissenschaft sui gene-

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ris, der von den Kommunikationen, herabsank. Wohl warRhetorik stets schon der Gedanke in seiner Anpassung an diekommunikative Sprache. Er zielte auf die unmittelbare: dieErsatzbefriedigung der Hörer. Der Essay nun bewahrt gerade inder Autonomie der Darstellung, durch die er vonwissenschaftlicher Mitteilung sich unterscheidet, Spuren desKommunikativen, deren jene enträt. Die Befriedigungen, welcheRhetorik dem Hörer bereiten will, werden im Essay sublimiertzur Idee des Glücks einer Freiheit dem Gegenstand gegenüber,welche diesem mehr von dem seinen gibt, als wenn erunbarmherzig der Ordnung der Ideen eingegliedert würde. Dasszientifische Bewußtsein, gerichtet gegen jeglicheanthropomorphistische Vorstellung, war von je mit demRealitätsprinzip verbündet und glücksfeindlich gleich diesem.Während Glück der Zweck aller Naturbeherrschung sein soll,stellt es dieser zugleich immer als Regression in bloße Natursich dar. Das zeigt sich bis in die höchsten Philosophien, bis inKant und Hegel hinein. Die Vernunft, an deren absoluter Ideesie ihr Pathos haben, wird zugleich von ihnen als naseweis undrespektlos angeschwärzt, sobald sie Geltendes relativiert. Gegendiesen Hang errettet der Essay ein Moment der Sophistik.Spürbar ist die Glücksfeindschaft des offiziell kritischenGedankens zumal in Kants transzendentaler Dialektik, welchedie Grenze zwischen Verstand und Spekulation verewigenmöchte und, nach der charakteristischen Metapher, das»Ausschweifen in intelligible Welten« verhindern. Während dieVernunft, die sich selbst kritisiert, bei Kant mit beiden Füßenfest auf dem Boden stehen, sich selbst begründen soll, dichtetsie sich dem innersten Prinzip nach ab gegen jegliches Neue undgegen die auch von der Existentialontologie beschimpfteNeugier, das Lustprinzip des Gedankens. Was Kant inhaltlichals den Zweck der Vernunft einsieht, die Herstellung derMenschheit, die Utopie, wird von der Form, derErkenntnistheorie her verwehrt, welche der Vernunft es nichtgestattet, über den Bereich der Erfahrung hinauszugehen, der imMechanismus von bloßem Material und unveränderlicherKategorie zu dem zusammenschrumpft, was von je schon war.Gegenstand des Essays jedoch ist das Neue als Neues, nicht insAlte der bestehenden Formen Zurückübersetzbares. Indem erden

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Gegenstand gleichsam gewaltlos reflektiert, klagt er stumm dar-über, daß die Wahrheit das Glück verriet und mit ihm auch sichselbst; und diese Klage reizt zur Wut auf den Essay. Das über-redende der Kommunikation wird an ihm, analog dem Funk-tionswechsel mancher Züge in der autonomen Musik, seinem ur-sprünglichen Zweck entfremdet und zur reinen Bestimmung derDarstellung an sich, dem Bezwingenden ihrer Konstruktion, dienicht die Sache abbilden sondern aus ihren begrifflichenmembra disiecta wiederherstellen möchte. Die anstößigenÜbergänge der Rhetorik aber, in denen Assoziation,Mehrdeutigkeit der Worte, Nachlassen der logischen Synthesises dem Hörer leicht machten und den Geschwächten dem Willendes Redners unterjochten, werden im Essay mit demWahrheitsgehalt verschmolzen. Seine Übergänge desavouierendie bündige Ableitung zugunsten von Querverbindungen derElemente, für welche die diskursive Logik keinen Raum hat. Erbenutzt Äquivokationen nicht aus Schlamperei, nicht inUnkenntnis ihres szientifischen Verbots, sondern umheimzubringen, wozu die Äquivokationskritik, die bloßeTrennung der Bedeutungen selten gelangt: daß überall, wo einWort Verschiedenes deckt, das Verschiedene nicht ganzverschieden sei, sondern daß die Einheit des Worts an eine wiesehr auch verborgene in der Sache mahnt, ohne daß freilichdiese, nach dem Brauch gegenwärtiger restaurativer Philoso-phien, mit Sprachverwandtschaften verwechselt werden dürfte.Auch darin streift der Essay die musikalische Logik, die strin-gente und doch begriffslose Kunst des Übergangs, um derredenden Sprache etwas zuzueignen, was sie unter derHerrschaft der diskursiven Logik einbüßte, die sich doch nichtüberspringen, bloß in ihren eigenen Formen überlisten läßt kraftdes eindringenden subjektiven Ausdrucks. Denn der Essaybefindet sich nicht im einfachen Gegensatz zum diskursivenVerfahren. Er ist nicht unlogisch; gehorcht selber logischenKriterien insofern, als die Gesamtheit seiner Sätze sich stimmigzusammenfügen muß. Keine bloßen Widersprüche dürfenstehenbleiben, es sei denn, sie würden als solche der Sachebegründet. Nur entwickelt er die Gedanken anders als nach derdiskursiven Logik. Weder leitet er aus einem Prinzip ab nochfolgert er aus kohärenten Einzelbeobachtungen. Er koordiniertdie Elemente, anstatt sie zu sub-

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ordinieren; und erst der Inbegriff seines Gehalts, nicht die Artvon dessen Darstellung ist den logischen Kriterien kommen-surabel. Ist der Essay, im Vergleich zu den Formen, in denen einfertiger Inhalt indifferent mitgeteilt wird, vermöge der Spannungzwischen Darstellung und Dargestelltem, dynamischer als dastraditionelle Denken, so ist er zugleich, als konstruiertes Ne-beneinander, statischer. Darin allein beruht seine Affinität zumBild, nur daß jene Statik selber eine von gewissermaßen still-gestellten Spannungsverhältnissen ist. Die leise Nachgiebigkeitder Gedankenführung des Essayisten zwingt ihn zu größererIntensität als der des diskursiven Gedankens, weil der Essaynicht gleich diesem blind, automatisiert verfährt, sondern in je-dem Augenblick auf sich selber reflektieren muß. Diese Refle-xion freilich erstreckt sich nicht nur auf sein Verhältnis zumetablierten Denken sondern ebenso auch auf das zu Rhetorik undKommunikation. Sonst wird, was überwissenschaftlich sichdünkt, eitel vorwissenschaftlich.Die Aktualität des Essays ist die des Anachronistischen. DieStunde ist ihm ungünstiger als je. Er wird zerrieben zwischeneiner organisierten Wissenschaft, in der alle sich anmaßen, alleund alles zu kontrollieren, und die, was nicht auf den Consenszugeschnitten ist, mit dem scheinheiligen Lob des Intuitivenoder Anregenden aussperrt; und einer Philosophie, die mit demleeren und abstrakten Rest dessen vorlieb nimmt, was derWissenschaftsbetrieb noch nicht besetzte und was ihr ebendadurch Objekt von Betriebsamkeit zweiten Grades wird. DerEssay jedoch hat es mit dem Blinden an seinen Gegenständen zutun. Er möchte mit Begriffen aufsprengen, was in Begriffe nichteingeht oder was durch die Widersprüche, in welche diese sichverwickeln, verrät, das Netz ihrer Objektivität sei bloßsubjektive Veranstaltung. Er möchte das Opake polarisieren, diedarin latenten Kräfte entbinden. Er bemüht sich um dieKonkretion des in Raum und Zeit bestimmten Gehalts;konstruiert das Zusammengewachsensein der Begriffe derart,wie sie als im Gegenstand selbst zusammengewachsenvorgestellt werden. Er entschlüpft dem Diktat der Attribute,welche seit der Definition des Symposions den Ideenzugeschrieben werden, »ewig seiend und weder werdend nochvergehend, weder wechselnd noch ab-

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nehmend«; »ein um sich selbst für sich selbst ewig eingestalti-ges Sein«; und bleibt doch Idee, indem er vor der Last desSeienden nicht kapituliert, nicht dem sich beugt, was bloß ist.Aber er mißt es nicht an einem Ewigen, sondern eher an einementhusiastischen Fragment aus Nietzsches Spätzeit: »Gesetzt,wir sagen ja zu einem einzigen Augenblick, so haben wir damitnicht nur zu uns selbst, sondern zu allem Dasein ja gesagt.Denn es steht Nichts für sich, weder in uns selbst noch in denDingen: und wenn nur ein einziges Mal unsere Seele wie eineSaite vor Glück gezittert und getönt hat, so waren alleEwigkeiten nötig, um dies eine Geschehen zu bedingen - undalle Ewigkeit war in diesem einzigen Augenblick unseresJasagens gutgeheißen, erlöst, gerechtfertigt und bejaht.«8 Nurdaß der Essay noch solcher Rechtfertigung und Bejahungmißtraut. Für das Glück, das Nietzsche heilig war, weiß erkeinen anderen Namen als den negativen. Selbst die höchstenManifestationen des Geistes, die es ausdrücken, sind immerauch verstrickt in die Schuld, es zu hintertreiben, solange siebloßer Geist bleiben. Darum ist das innerste Formgesetz desEssays die Ketzerei. An der Sache wird durch Verstoß gegen dieOrthodoxie des Gedankens sichtbar, was unsichtbar zu halteninsgeheim deren objektiven Zweck ausmacht.

8 Friedrich Nietzsche, Werke, Bd. 10, Leipzig 1906, S. 206 (Der Wille zurMacht II, § 1032).