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    Zwei Bilder haben in den vergan-genen Tagen die Welt bewegtund Europa erschüttert: der weißeKühllaster, führerlos abgestellt an einer Autobahn in Österreich, im Laderaum die Leichen von 71 Flücht-lingen; und das Foto eines kleinenJungen am Mittelmeerstrand von Bodrum, drei Jahre alt, ertrunkenbei dem Versuch, das rettende Uferzu erreichen. Ein Team von -

    Redakteuren, unter anderen Christoph Scheurmann und Ralf Hoppe, hat in Ungarnund Österreich, in Bulgarien und der Türkei recherchiert, wie das Geschäft der

    Schleuser und Schlepper funktioniert. Ob man das Foto des toten Jungen abbildendarf, wurde in der Redaktion lange diskutiert. Der hat sich entschieden,das Bild zu zeigen. Mitunter, beim Foto des nackten, fliehenden Mädchens aus Vietnam etwa oder bei dem des Paares, das sich in den Trümmern einer Textilfabrikin Bangladesch im Tode umarmt hält, hat nur die Wahrheit die Macht, unerträglicheVerhältnisse zu verändern. Was sich im Innern des Lastwagens abgespielt hat, weißniemand. Um einen Eindruck zu vermitteln, was es bedeutet, wenn 71 Menschenauf der Ladefläche eines Lkw Platz finden müssen, hat der den 3-D-Illus-trator Mirko Ilić gebeten, für das Cover ein Scannerbild anzufertigen. Seite

    Bevor -Redakteurin UlrikeKnöfel den Unternehmer undSammler Reinhold Würth während seines Urlaubs in Salzburg traf, machtesie einen Umweg über Würths Heimatim Hohenloher Land. Der Milliardär,der sein Geld hauptsächlich mit demVerkauf von Schrauben verdient, be-sitzt am Firmenstammsitz in Künzels-au und im nahen Schwäbisch Hall ein eigenes Museum, zwei Kunsthallen – undeinen eigenen Flughafen. Würth, 80, bekannt als leidenschaftlicher Kunstsammler,war lange auch ebenso leidenschaftlicher Pilot. Würth empfing die Redakteurinhöflich, aber mit spürbarer Skepsis. Der hatte im Jahr 2008 aufgedeckt,dass ein Steuerverfahren gegen den Unternehmer lief, tatsächlich mündete esin einem Strafbefehl. Seite

    In der Wissenschaft spannende Gesprächs-partner zu finden ist nicht leicht. Viele For-

    scher tun sich schwer damit, ihre Kenntnissezu vermitteln. Andere erzählen fesselnd,doch es fehlt an Tiefgang. Einer, der Gelehr-samkeit mit Erzählfreude verband, war derkürzlich verstorbene Autor und NeurologeOliver Sacks. Ihn in New York zu besuchenwar für die Redakteure jedes Mal eine span-

    nende Exkursion ins Reich der Absonderlichkeiten des Geistes. Umgekehrt schätzteSacks den , zumal er wusste, dass er in Deutschland viele Fans hatte.Dreimal traf er sich zum -Gespräch, sechs Redakteure lernten ihn kennen.„Wenn es immer dieselben Redakteure gewesen wären, hätte Sacks es ohne hinnicht gemerkt“, sagt Johann Grolle, -Korrespondent in Boston. „Er littunter

    Prosopagnosie, der Unfähigkeit, Gesichtszüge wiederzuerkennen.“ Seite

    5DER SPIEGEL /

    Betr.: Titel, Würth-Gespräch, Oliver Sacks

    Das deutsche Nachrichten-Magazin

    Hausmitteilung

    Das deutsche Nachrichten-Magazin

    Scheuermann, Hoppe in Traiskirchen bei Wien

    Knöfel, Würth in Salzburg

    Grolle, Sacks in New York 2001

    F O T O S : G E R R I T S I E V E R T ( U

    . ) ; S A M M Y H A R T / D E R S P I E G E L ( M

    . ) ; H E I N Z S T E P H A N T E S A R E K / D E R S P I E G E L ( O

    . )

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    6/1406 Titelbild: Illustration Mirko IliĆ für den ; Foto Umklapper: J.H. Darchinger / Friedrich-Ebert-Stiftung

    Polizisten, Flüchtlinge an der ungarisch-serbischen Grenze bei Röszke

    Der Nächste, bitteBundespräsidenten Joachim Gauck strebt wahrscheinlich keinezweite Amtszeit an. SPD-Chef Sigmar Gabriel sieht darindie Chance, einen Sozialdemokraten ins höchste Staatsamt zu befördern. Sein Favorit ist Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Der ziert sich – noch. Seite

    „Lieber KollegeStrauß“Jubiläum -GründerRudolf Augstein und CSU-Übervater Franz Josef Straußwaren schonungslose Kon -trahenten. Doch ihr Briefwech-sel, den der zum100. Geburtstag von Straußveröffentlicht, ist verblüffendfreundlich. Seite

    Wirtschaftskrimibei SAPUnternehmen Ein frühererMitarbeiter aus der internenRevision erhebt heftige Vor-würfe: SAP soll geistiges Eigentum von Wettbewerberngeraubt haben. Der Konzernspricht von Erpressung, kün-digte seinem ehemaligen Prü-fer und zeigte ihn an. Seite

    Das Geschäft mit der FluchtMigration Mit den dramatischen Bildern ausBudapest eskaliert der Streit über die Flüchtlings-quoten in der EU. Profiteure der Krise sind dieSchlepperbanden. Sie bringen täglich TausendeMenschen nach Europa, vor allem über den West-balkan – und scheuen kein Risiko. Seiten bis

    F O T O S V L N

    R :

    A K O S S T I L L E R / D E R S P I E G E L ; A L B E R T O P I Z Z O L I / A F P ; K A T H A R I N A B E H L I N G ; F R A N K Z A U R I T Z ; D I G N E M E L L E R - M

    A R C O V I C Z ; W E R N

    E R S C H

    Ü R I N G / D E R S P I E G E L ; A N D R E W M A T H E S O N / S A P

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    In diesem Heft

    7DER SPIEGEL /

    TitelMigration Internationale Banden organisierendas Geschäft mit der Flucht – sie sinddie Profiteure eines europäischen VersagensFlüchtlingspolitik Die Krise treibt die EUauseinanderBeschäftigung SozialministerinAndrea Nahles will Öffnung des Arbeits-markts für Migranten vom Balkan

    Regierung Finanzminister Wolfgang Schäubleplant einen Flüchtlingsfonds

    DeutschlandLeitartikel Warum Fremdenhass eineKrankheit istBundesregierung unterstützt freieWLAN-Netze / Beschränkungen für Asyl -bewerber / Elterngeld belastet Bundes -haushalt / Kolumne: Der schwarze Kanal Bundespräsidenten SPD-Chef Sigmar Gabrielwill Außenminister Frank-Walter Steinmeierins höchste Staatsamt bugsierenKatholiken Kardinal Reinhard Marxwarnt im -Gespräch vor rechtemMitläufertum und erklärt,warum die Kirche sich wandeln mussParteien Europas Sozialdemokratenplanen Pakt gegen Angela MerkelNachrichtendienste Der BND hat offenbarauch der CIA Zugriff auf deutscheTelekommunikationsdaten ermöglichtBündnisse Die Furcht der Union voreinem Aufstieg der FDPHessens Ministerpräsident Volker Bouffierüber die Vorzüge einer schwarz-grünenKoalitionBrandstifter Die Hintergründe desAnschlags auf Flüchtlingsunterkunftin SalzhemmendorfUmwelt Deutsche Autohersteller tricksenbei den AbgaswertenStrafjustiz Wie die RechtspsychologieFehlurteile verhindertJubiläum Der erstaunlicheBriefwechsel zwischen Rudolf Augsteinund Franz Josef StraußKommunen Die Pannenstadt Kölnscheitert an der OberbürgermeisterwahlFaktencheck Sind unsere Wahlenrepräsentativ?

    SerieTeil VI: Flüchtlinge Die Länder schiebenmehr abgelehnte Asylbewerber ab – dochwen es trifft, entscheidet oft der Zufall

    Gesellschaft

    Sechserpack: Wo Kinder in Uniformen stecken – und wo nicht / Von der Kunst,im Supermarkt richtig anzustehenEine Meldung und ihre Geschichte Ein öster-reichischer Arzt findet 70 Jahre nach Kriegs -ende die Brieftasche eines US-Veteranenund schickt sie an den Besitzer zurückEssay Ist Deutschland in den letzten20 Jahren fremdenfreundlicheroder fremdenfeindlicher geworden?Homestory Was ein Europäer erlebt,der mit einem großen Hund in Peking lebt

    WirtschaftMuss Baden-Württemberg für Atomkonzernhaften? / Neue Führungsstruktur bei Lufthansa / Frosta legt Herkunft seiner Zutaten offen

    Unternehmen SAP wird von einem ehemaligenPrüfer des Ideenklaus verdächtigt, das Unternehmen wirft ihm Erpressung vorLuftfahrt Eine EU-Richtlinie verhindertdie Flucht per FlugzeugKonzerne Wie Ferdinand Piëch bei VWimmer noch Strippen ziehtUnterhaltung YouTube will das bessereFernsehen sein – kann es aber nichtTextilien Goretex-Jacken hinterlassen giftigeRückstände

    AuslandDer „Islamische Staat“ setzt in NordsyrienSenfgas ein / Dramatisch sinkende Umfrage-werte für Syriza-Politiker Alexis TsiprasItalien Wie steht es um die Pläne von PremierMatteo Renzi, sein Land umzubauen?Libanon Die große Müllkrise ist ein Sinnbildfür den Zustand des LandesÄgypten Sicherheitskräfte lassen jungeAktivisten verschwindenGlobal Village Gentrifizierung erreichtdas Hafenviertel von Belgrad

    SportVerschmutzte Gewässer im olympischen Segelrevier von Rio? / Die Millionenschlacht auf dem Fußball-TransfermarktBasketball Schriftsteller ThomasPletzinger über das Idol Dirk NowitzkiMedien Mehmet Scholl wäreeigentlich lieber wieder Fußballtrainerstatt Fußball-TV-Experte

    WissenschaftEin syrischer Archäologe über die unerträg -liche Zerstörung von Weltkulturerbe /Weltweit schwinden die Wälder / Segwayendgültig entlarvt: als E-Rollator für OpaElektrizität Wind weht, Sonne scheint – manch-mal. Wie lässt sich Ökostrom speichern?Medizin -Gespräch mit dem britischenKardiologen Peter Wilmshurst über die schmutzigen Tricks der PharmaindustrieGeschichte Wie Programmiererinnen demHeimcomputer zum Durchbruch verhalfenNachruf Oliver Sacks (1933 bis 2015)

    Kultur„Knight of Cups“ im Kino / Shakespeare in der

    App / Kolumne: Besser weiß ich es nicht Sammler -Gespräch mit dem Milliardär Reinhold Würth über Kunst als Geschäft und das teuerste Gemäldedes Landes, das nun in Berlin gezeigt wirdZeitgeschichte War Hitler ein Junkie?Eine neue Studie vertritt verwegene Thesenüber Drogen im NationalsozialismusLiteratur Jenny Erpenbecks Flüchtlings-roman „Gehen, ging, gegangen“Pop The Libertines – das Comeback der letztengroßen Skandalband GroßbritanniensSerienkritik Ein Hacker gegen dasSystem: „Mr. Robot“

    BestsellerImpressum, LeserserviceNachrufePersonalienBriefeHohlspiegel /Rückspiegel

    Matteo RenziEr war als Modernisierer angetreten, um Italien vonGrund auf zu verändern.Nun aber droht ihm ein heißer Herbst. Denn Rebel-len in der eigenen Partei begehren gegen seine Ver-fassungsreform auf. Seite

    Jenny ErpenbeckMit literarischen Mitteln auf

    der Höhe der Zeit: Im Ro-man „Gehen, ging, gegangen“ behandelt die BerlinerSchriftstellerin das Themader Flüchtlingsnot – und beschreibt, wie unser Landdamit umgeht. Seite

    Dirk NowitzkiSeit Jahren gehört er zu denStars der NBA, jetzt spielt derstille Franke bei der Basket-ball-EM für Deutschland. DerSchriftsteller Thomas Pletzin-ger hat Nowitzki begleitetund die Hommage an ein Idolgeschrieben. Seite Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ

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    Im Kampf gegen eine schwere Krankheit gibt es zwei Ansätze. Auf der einen Seite wird man versuchen, alles,was krank macht, zu begrenzen oder zu beseitigen. Alles,was gesund ist, wird man dagegen stärken, um es vor derKrankheit zu schützen. Für diesen zweiten Ansatz gibt esden schönen Begriff Salutogenese, zu Deutsch: Gesundheits-entstehung.

    Fremdenfeindlichkeit ist eine Krankheit. Sie kann einzelneMenschen befallen, aber auch eine ganze Gesellschaft. Sieist eine Plage, sie breitet sich aus, sie ist ansteckend. Und siekommt – wie es scheint – immer wieder zum Ausbruch. WennMenschen jegliche Selbstbeherrschung verlieren, sobald vonAusländern, Flüchtlingen, Asylbewerbern die Rede ist, möch-te ich eher Ärzte zu Hilfe rufen als Polizisten.

    So wie ein Mensch heil undkrank zugleich sein kann, sogibt es in diesem Land Men-schen mit gesundem Herzen,mit offenen Ohren und helfen-den Händen. Und es gibt Men-schen, die offenbar irgendwanndie Fähigkeit, sich selbst zu lie-ben, verloren haben und nunandere beschuldigen, um ihreUnzufriedenheit loszuwerden.

    Schon im Alten Testamentfindet sich die Geschichte vomZiegenbock, dem alles Übelsymbolisch aufgeladen wird. Erwurde dann in die Wüste ge -trieben. Die Geschichte derMenschheit ist eine Geschichteder Suche nach Sündenböcken,der Abgrenzung und Ausgren-zung anderer. Es wird nie mög-lich sein, alle von Enttäuschungzerfressenen Menschen davonabzuhalten, andere zu hassen.Es gibt solche Menschen in den Niederlanden, in Frankreich,in den USA, im Osten und im Westen Deutschlands. Und esgibt in Deutschland auch Ausländer, die andere Ausländeroder Deutsche hassen.

    Wenn ich im Zug durch Brandenburg fahre und in die Au-gen mancher Menschen schaue, sehe ich Wut und Angst. Ichhöre, wie sie über die Ausländer sprechen, was die hier allewollen, was denen alles hinten und vorn ... Und: Wer denktnoch an uns Deutsche?

    In den Flüchtlingsgesprächen von Bertolt Brecht steht derSatz: „Ein Ernst, der nicht blutig ist, ist keiner.“ Genau dasist meine Befürchtung. Es ist ihnen sehr ernst. Die Gesichterlaufen rot an, die Hände zittern. Unglückliche Menschen ver-breiten Unglück.

    Es wäre das Leichteste, Menschen, die so rüde reden undso böse blicken, einfach abzutun. Dann muss man sich keineGedanken mehr machen, warum sie so geworden sind, wie

    sie sind. Warum sich friedliche, freundliche Leute plötzlichin Menschenfeinde verwandeln.

    Mir fällt nicht ein, diese Menschen „Pack“ zu nennen. KeinMensch ist „illegal“, und niemand ist „Pack“.

    Aber wie verringert man die Ansteckungsgefahr? Wie ver-liert einer die Furcht vor dem Fremden? Und wie stärkt mandie Menschen mit den gesunden Herzen? Sicherlich nicht, in-dem man ihnen, die es besonders schwer haben, erklärt, siewürden ohnehin in der Düsternis leben, in Dunkeldeutschland.

    Und auch nicht, indem man gegen den Rechtsextremismusdie Mathematik zum Einsatz bringt wie manche Politiker, dievermutlich das Übel an der Wurzel packen wollen. Wurzelziehen, das ist ja Mathematik. Allerlei Berechnungen werdenangestellt, um herauszufinden, wo mehr oder weniger rechts-

    extreme Straftaten begangenwerden. Als läge ein Trost darin,dass die Quote an einem Ortniedriger ist als am anderen.Gäbe es denn eine Quote, dieakzeptabel wäre, vielleicht 10rechtsextreme Straftaten auf100000 Einwohner pro Jahr?

    Natürlich gibt es im Osten,aus dem ich komme, ein beson-deres Problem und eine beson-

    dere Geschichte. Aber auchMenschen, die in die Demokra-tie geboren wurden und seit ihrer Kindheit mit Migrantenzusammenleben, stecken Häu-ser an und grölen Parolen. Imso viel besseren Land wurdenicht jeder ein guter Menschund im schlechteren Land nicht

    jeder böse. Die Rechtsextremenfreuen sich sicher, wenn wir un-sere Zeit mit Mathematik ver-plempern.

    In der Zeitung geht es jetzt viel um die Gefahr für denWirtschaftsstandort Deutschland, um den Imageschaden, dender Fremdenhass bedeutet. Es ist ein merkwürdiges Argument.Wäre es denn erlaubt, Menschen anzubrüllen und Häuser an-zuzünden, wenn die Wirtschaft davon profitieren würde,wenn es gut wäre für Deutschlands Image?

    In den Zeitungen gibt es mehr Bilder, die Mut machen, alsBilder, die Angst machen. Aus München, aber auch aus Bran-denburg. Es gibt überraschende Anzeichen einer neuen poli-tischen Kultur, die das Heilende stärkt. Der Zynismus, diesewestdeutsche Schlaumeier-Attitüde, scheint auf dem Rückzug.Manchmal findet man die Ermutigung dort, wo man sie nichterwartet. Am Zeitungskiosk etwa, wo neuerdings in großenBuchstaben für Hilfe für Flüchtlinge geworben wird.

    Wenn ich im Zug lese, halte ich eine dieser Zeitungen so,dass jeder sie sehen kann. Bislang bin ich immer heil ange-kommen. Stefan Berg

    8 DER SPIEGEL /

    Was heiltEs hilft nicht, wenn der Westen dem Osten vorrechnet, wie fremdenfeindlich er ist.

    T A A / T T Y A

    Leitartikel

    Das deutsche Nachrichten-Magazin

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    Ein Autonarr sei er, sagt seine Mutter,ein Bastler und Schrauber. SeineEhefrau und seine Töchter sehen inihm den guten Ehemann und Vater, der al-lerdings selten zu Hause war. Für den RestEuropas ist Metodi G., Spitzname Mitko,der Mann, der vermutlich in eine Katastro-phe mit 71 toten Flüchtlingen verstrickt ist.

    Mitko, der Schleuser.Fünf Tage nachdem auf der A4 in Öster-

    reich ein Kühlwagen mit 71 Toten gefun-den wurde, bittet Mitkos Mutter in ihrWohnzimmer in Lom, im Nordwesten Bul-gariens. Ihr Sohn sitzt seit einigen Tagenzusammen mit vier weiteren Verdächtigen

    in Untersuchungshaft. Er beteuert seineUnschuld, aber es sieht nicht gut aus.

    Die Mutter stellt Kaffee auf den Tischund sagt, niemals hätte Mitko gewollt, dassMenschen sterben. Ihren Sohn habe sieschon länger nicht gesehen, aber sie weißnatürlich, dass viele Männer aus der Ge-gend im lukrativen Geschäft mit Flüchtlin-gen tätig sind. Es sei kein Wunder, sagtsie, dass arme Bulgaren Flüchtlinge überdie Grenze bringen. Vor allem die Syrerseien wohlhabende Menschen. „Sie habenGeld, um solche Reisen zu bezahlen.“

    71 Menschen, die dem Krieg und demLeid entfliehen wollten und kurz vor dem

    Ziel umkamen. 59 Männer, acht Frauen,drei Jungen und ein Mädchen, etwa an-derthalb Jahre alt, qualvoll erstickt. Siestarben nicht irgendwo im Mittelmeer, son-dern im Herzen Europas. Gefunden wur-den sie an der A4 bei Parndorf, 50 Kilo-meter vor Wien.

    Die verwesenden Leichen lagen in ei-nem ausgemusterten Volvo-Kühllaster, indem zuvor gefrorenes Hühnerfleisch trans-portiert worden war. Es war am Donners-tag voriger Woche, als ein Mitarbeiter desösterreichischen Autobahnbetreibers As -finag den Lkw an einer Haltebucht ent-deckte. Abgestellt wie ein Pannenfahrzeug.

    10 DER SPIEGEL /

    Logistiker des SchattensMigration Tausende Menschen vertrauen sich jeden Tag Schleppern an, um nach Europazu gelangen. So wie es die 71 Menschen taten, die in einem Kühllaster starben.Schleuser sind die Profiteure eines politischen Versagens – und sie scheuen kein Risiko.

    Titel

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    11/14011DER SPIEGEL /

    Flüchtlinge im ungarisch-serbischen Grenzgebiet bei Röszke

    Gier und Risikobereitschaft derer, denensie sich anvertrauen. Vieles deutet daraufhin, dass der Tod der 71 im Kühllaster keingeplantes Verbrechen war, sondern einVersehen der Schleuser, womöglich verur-sacht durch Unachtsamkeit, Dummheit. Eskönnte jederzeit wieder geschehen, das istdie alarmierende Botschaft dieses Falls.Wenn sich nicht endlich etwas ändert.

    Denn Hunderte, Tausende überquerenTag für Tag die Grenzen nach Europa. Al-lein in den ersten acht Monaten dieses Jah-res reiste fast eine viertel Million Men-schen über den Seeweg nach Griechenland.Darunter sind junge Männer, Familien,

    300 oder 400 Euro für die Tour von Buda-pest nach Wien in einem überfüllten Trans-porter oder Kleinlaster verlangen, obwohlein Zugticket keine 50 Euro kostet.

    Flüchtlinge sterben, weil Europa versagt.Doch das Drama geht weiter. Eine Wochenach der Katastrophe an der A4 in Öster-reich, an diesem Mittwoch, erschienen wie-der unfassbare Fotos, diesmal eines syri-schen Jungen, der tot an einem Strandliegt. Er ertrank während der Überfahrtzur griechischen Insel Kos, auch seine Fa-milie hatte sich Schleusern anvertraut.

    All das zeigt, wie groß die Verzweiflungder Flüchtlinge ist und wie unbändig die

    Für Europa wurde die Haltebucht an derA4 zum Ground Zero in der Flüchtlings-katastrophe. Das Grauen war plötzlich nahund plastisch, und wenn dieses schreckli-che Ereignis überhaupt etwas bewirkenkann, dann das: dass Europa endlich auf-wacht aus seiner Erstarrung.

    Jeden Tag sterben Menschen durch denUmstand, dass sie erst nach Europa kom-men müssen, um den Antrag auf Asyl zustellen. Und durch die Tatsache, dass siein dem EU-Land bleiben müssen, in demsie diesen Antrag ausgefüllt haben, undnicht weiterreisen dürfen. Davon profitie-ren Schleuser, deshalb können Kriminelle

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    Titel

    Schwangere, Kinder, sie stammen aus Sy-rien, dem Irak, Ägypten, Eritrea, aus demSudan. Viele flohen vor Bomben und Ter-ror, sie sind bereit, ihr letztes Geld in dieFahrt zu investieren und ihr Leben Män-nern anzuvertrauen, die sie nicht kennen.

    Und am Ende stehen sie, wie in dieserWoche, am Ostbahnhof von Budapest undkommen nicht weiter. Die Gleise zu denFernzügen sind mal für kurze Zeit offen,mal versperrt. Einige Flüchtlinge habenSchilder gebastelt, „We love to go to Ger-many“ steht darauf, irgendwann fängt je-mand an, den Namen der deutschen Kanz-lerin zu rufen, leise erst, dann lauter: „An-gela, Angela“. Diejenigen, die den Hilferufbesonders aufmerksam wahrnehmen, war-ten in der Nähe mit Taxis und Kleinbussen,sie sind die wahren Profiteure des Dramas.

    Eine Reise von Syrien nach Deutschlandkostet derzeit mindestens 2500 Euro proPerson. Der Markt für Schleuser dürfte einVolumen von vielen Hundert Millionen imJahr haben. Die Organisation The Mi-grant’s Files schätzt, dass Migranten seitder Jahrtausendwende rund 16 MilliardenEuro an Schleuser zahlten, es ist ein erbar-mungsloses Geschäft mit der Verzweiflung.Daran verdienen Anwerber, Fahrer, Skip-per, Mittelsmänner, Vermieter illegalerWohnungen, Auskundschafter, Geldhänd-ler, große und kleine Fische, Männer wieMetodi G. aus Bulgarien. Sie sind die Lo-gistiker des Schattens, sie finden Wege, wokeine Wege sein dürften.

    Der Aufstieg des Schleusers zur zentra-

    len Figur im Flüchtlingsdrama ist auf dasVersagen Europas zurückzuführen. Nochimmer haben die europäischen Staaten kei-nen Plan, keine Strategie, wie sie mit densteigenden Flüchtlingszahlen umgehen sol-len. Stattdessen geben sie sich gegenseitigdie Schuld an dem humanitären Desaster,das von den Rändern Europas in das Zen-trum rückt (siehe Seite 19).

    Das politische Chaos spielt den Schleu-sern in die Hände, denn im Gegensatz zuden Regierungschefs haben sie einen Plan.Auf drei Hauptrouten transportieren sieihre Kunden: über das Mittelmeer vonNordafrika nach Italien oder Spanien; überdie östliche Landroute von der Türkei überBulgarien; sowie über den Westbalkan vonGriechenland über Mazedonien, Serbienund Ungarn. Im Moment ist diese Routedie beliebteste, weil die Grenzen in Maze-donien und Serbien porös und die Behör-den überfordert sind. Zwar ist sie im Ver-gleich zur östlichen Strecke teurer, aberder Weg über Bulgarien weniger attraktiv,seit die Regierung 1500 Polizisten an dieGrenze zur Türkei geschickt hat. Die Ge-schichte von Metodi G. zeigt, wie ver-lockend es für junge Männer ist, in demChaos des Balkans Geld zu machen.

    Metodi wuchs im Roma-Viertel von Lomauf, einer trostlosen bulgarischen Stadt

    von 24000 Menschen. Am Rand der sandi-gen Straße, die zum Haus seiner Familieführt, rosten Autos, Wohnwagen undKleintransporter. Müll liegt auf den Stra-ßen, Männer schlachten ein Schwein. Esist eine der ärmsten Regionen der EU, hierrekrutieren Schleuser ihren Nachwuchs,hierher kommen viele Fahrer für die Stre-cken in Serbien oder Ungarn. Mindestensdrei der fünf Verdächtigen, die im Zusam-menhang mit dem Tod der 71 in Haft sit-zen, kommen aus der Gegend: aus Lom,Archar und Brusartsi, ländlichen, verfal-lenden Orten am Rand Europas.

    Metodi war ein ruhiger Junge, so be-schreibt ihn seine Familie. Nach der zehn-ten Klasse ging er von der Schule, kauftealte Autos, schraubte daran herum undverkaufte sie wieder. „Wie das hier allemachen“, sagt Goranka, die Mutter, auf

    ihrem Sofa. Mitko, 29 Jahre alt, ist derErstgeborene ihrer drei Söhne. „Er denktgut und ist großzügig. Er war nur immeretwas faul.“ Ihr Mann arbeitet auf demBau, die beiden jüngeren Söhne ebenso,im Monat hat die Familie 500 Euro zurVerfügung.

    Goranka zeigt Fotos von Ausflügen undFeiern: die Söhne mit einem Kuchen, ei-nem Dreirad. Mitko sei schüchtern gewe-sen, sagt sie, aber offenbar wie geschaffenfür das Transportgeschäft. Er saß am Steu-er, sobald er den Führerschein hatte, einFluchtreflex vielleicht. Zunächst fuhr erArbeiter von Bulgarien nach Italien oderDeutschland, für 100 Euro pro Kopf. Er aßund schlief im Auto, wenn er fuhr, drückteer aufs Pedal. In Bulgarien war er bald we-gen zu hoher Geschwindigkeit aufgefallen,hatte Strafen nicht gezahlt und verlor den

    12 DER SPIEGEL /

    Mutter des Verdächtigen G. im bulgarischen Lom: „Er denkt gut und ist großzügig“

    Verdächtiger Metodi G. im ungarischen Kecskemét: Wie geschaffen fürs Transportgeschäft

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    Führerschein. Als ihm eine achtmonatigeHaft drohte, erzählt seine Ehefrau Velich-ka T., habe er sich aus Lom abgesetzt.

    Er fiel auch in Deutschland auf. Vorsechs Jahren soll er in Bochum eine Tank-stelle überfallen haben, die Beute betrug1000 Euro. Zweimal wurde er von der Poli-zei in Bayern aufgehalten, weil er ohneFührerschein unterwegs war. Später stieger wohl ins Schleppergeschäft ein. Am25. Juli dieses Jahres soll er an Bord einesLieferwagens mit 38 Flüchtlingen gewesensein, der ebenfalls in Bayern angehaltenwurde. Metodi floh, seither ermittelt dieStaatsanwaltschaft Deggendorf gegen ihn.

    Ein Kleinkrimineller, das ja, aber es istschwer vorstellbar, dass Metodi G. eineführende Rolle im Schleuserbusiness ein-genommen hat. Die Köpfe der Bande wa-ren andere, vermuten die Ermittler. Seine

    Mutter sagt, sie wisse nichts von alldem.Vorigen Freitag teilte ihr Sohn telefonischmit, er sei festgenommen worden und sitzein Budapest in Haft. Seine Mutter hattelängst aufgehört zu fragen, womit er seinGeld verdient. Mitkos Ehefrau sagt, siehabe gelesen, dass es in Syrien Diamantengebe.

    Zu den weiteren Verdächtigen zähltSamsooryamal L., genannt Samsoor, einAfghane aus Jalalabad, der in Budapestwohnt. Er soll der Kopf der Schleuserban-de sein, auch er sitzt inzwischen in Haft.Samsoor ist ebenfalls bei deutschen Behör-den bekannt, die Bremer Polizei erfassteseine Daten, weil er sich ohne Erlaubnisim Land aufhielt. L. ist mit einer Ungarinverheiratet, ihr verdankt er wohl seine Auf-enthaltsgenehmigung in Ungarn. Auch erbeteuert seine Unschuld.

    Allzu konspirativ trat Samsoor nicht auf,der mutmaßliche Boss. Auf Facebook hater Dutzende Fotos hochgeladen. Sie zeigeneinen schlanken Mann, 28 Jahre alt, mitgepflegtem Bart, der mit Freunden vor ei-ner BMW-Limousine oder auf der Marga-reteninsel in Budapest posiert.

    Ebenfalls festgenommen wurde KassimS., 50 Jahre alt, ein Bulgare mit libanesi-schen Wurzeln. Auf ihn wurde der Kühl-laster zugelassen, er ist in den Fahrzeug-papieren als Halter vermerkt. Bei Face-book und Badoo posiert S. mit seiner Enkelin, er trägt ein blaues Hemd, lächeltin die Kamera und gibt an, aus der libane-sischen Stadt Tyros zu stammen.

    Ende dieser Woche durchsuchten Ermitt-ler eine Wohnung im vierten Stock einesAltbaus im Budapester Regierungsviertel.Nachbarn erkennen Kassim S. auf Fotos,er sei vor einigen Monaten eingezogenund aufgefallen, weil er sehr laut telefo-niert habe. Auch Samsoor L. soll bis zu-letzt in dem Privathaus verkehrt haben.

    Kassim S. war im Autohandel tätig. Voneinem Gewerbehof in Linz aus kaufte undverkaufte er Gebrauchtwagen. Den Kühl-laster, in dem die Menschen starben, mel-dete er am 25. August in Ungarn an. Aufdem Lkw prangte immer noch das Logoder Geflügelfirma Hyza, auf der rechtenHecktür sagt ein Huhn in einer Sprechbla-se auf Slowakisch: „Ich schmecke gut, weilich so gut gefüttert werde.“

    Die Ermittler gehen davon aus, dass dieTodesfahrt der erste Einsatz des Lkw war.

    Darüber hinaus konnten sie der Bandeacht weitere Kleinlaster zuschreiben, diedie Tätergruppe angekauft haben soll. Of-fenbar wollten die Schleuser eine Flottevon Wagen auf der Strecke Buda -pest–Wien einsetzen. Inzwischen meldetensich in Österreich angekommene Flüchtlin-ge bei der Polizei, sie sagten aus, wenigeTage zuvor ebenfalls in einem Kühltrans-porter mit der Aufschrift „Hyza“ nachÖsterreich gefahren worden zu sein. Einigeder Insassen gaben an, auf der Fahrt ohn-mächtig geworden zu sein, auch in diesemKühllaster war die Luftzufuhr unzurei-chend. Zum Glück passierte den Flüchtlin-gen nichts Schlimmeres. Die Polizei fahn-det nun nach den übrigen Fahrzeugen.

    Auch Kassim S. ist bei den deutschenBehörden bekannt, sein Name taucht inmehreren laufenden Schleuserverfahrenauf. Die Ermittler nehmen an, dass er mitder Organisation der Fluchtautos betrautwar. Auch er sagt, er sei unschuldig.

    Mindestens einen Schuldigen muss esaber geben, einen, der vorige Woche diebeiden Türen hinter 71 Männern, Frauenund Kindern verschlossen hat. Der Lasterwar ausgerüstet mit einem Carrier-Kühl-aggregat, das die Temperatur bis minus20 Grad senkt und nur dann in Betrieb ist,wenn der Motor läuft. Die niedrigen Tem-

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    F O T O S : B O R Y A N A K A T S A R O V A / D E R S P I E G E L ( U

    . ) ; C H R I S T I A N W E R N E R / D E R

    S P I E G E L ( O

    . )

    Forensiker beim Tat-Lkw in Nickelsdorf: Einen Schuldigen muss es geben

    Nachbar im Wohnviertel von G. in Lom: Eine der ärmsten Regionen Europas

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    peraturen werden erreicht, weil der Lade-raum hermetisch abgeschlossen ist, die At-mosphäre im Innern wird nur umgewälzt.

    Sobald die Hecktüren verschlossen wa-ren, schrumpfte die Welt der 71 auf etwa15 Quadratmeter, genug Platz, um stehen,aber nicht genug, um sich bewegen zu können. Sie standen Schulter an Schulter,Bauch an Bauch, als die Fahrt begann, Vo-lumen: etwa 45 Kubikmeter. Eine Möglich-keit, die Türen von innen zu öffnen, gabes nicht. Offenbar war der Lkw zusätzlichaußen von einem Draht umschlossen. EinErwachsener verbraucht pro Minute unge-fähr sechs Liter Atemluft, die 71 Menschenhinten im Laderaum hatten eine Stunde,vielleicht etwas mehr.

    Man weiß noch nicht viel über die Opfer.Die Zahnprofile der Toten lassen daraufschließen, dass es sich um Menschen ausguten Verhältnissen handelte, so glaubendie Ermittler. Ein Dutzend der Opfer hattesyrische Papiere bei sich, zumindest einTeil stammte aus dem Kriegsland. Wenn

    man verstehen will, welche Strapazen die-se Menschen bis zu der Haltebucht hintersich brachten, muss man sich auf den Wegzu denen machen, die sie transportierten.

    Die Reise von Syrien nach Westeuropaführt über Ebenen, durch Wälder, Städte,Dörfer, es ist eine 3000, 4000 Kilometerlange Tortur in Booten, Bussen, Zügen, zuFuß, unter Stacheldraht hindurch, überMauern, durch das Meer. Das Schlepper-wesen auf der Balkanstrecke lässt sich alsNetzwerk aus Reisebüros beschreiben,vom gut organisierten Konzern über kleineAgenturen bis zum Einzelanbieter. Sie ver-kaufen All-inclusive-Pakete mit Erholungs-nächten im Hotel für die Wohlhabendenoder verlangen das Honorar etappenweisefür die Preisbewussten. Für etliche Flücht-linge beginnt die Reise in Istanbul, womög-lich bei einem Mann namens Yasin.

    Yasin, 29, stammt aus Damaskus undspricht erstaunlich offen über seinen Job.Er sitzt in einer Teestube im Stadtteil Ak-saray, einem Arbeiterviertel, wo Schutz-

    suchende oft zum ersten Mal auf Schmugg-ler treffen. Yasins Aufgabe ist es, Kundenzu werben, Landsleute vor allem, auf derStraße, in Internetcafés oder syrischen Lo-kalen. Er erhält dafür eine Kommissionvon etwa 20 Dollar pro Kontakt. Hat einFlüchtling Vertrauen gefasst, unterbreiteter ihm ein Angebot.Yasin kam vor eineinhalb Jahren selbstals Flüchtling in die Türkei, in Syrien arbei-tete er als Informatiker. Er trägt ein Fener-bahçe-Trikot, kurze schwarze Haare undDreitagebart. Anfangs spülte er in IstanbulGeschirr, über einen Freund fand er Arbeitim Schleuserring eines Türken. YasinsNetzwerk bietet sowohl die West- als auchdie Ostbalkanroute an. Für die Überque-rung der türkisch-bulgarischen Grenze ineinem Kleinlaster verlangen seine Chefs500 Dollar pro Person. Die Fahrt über dieÄgäis nach Griechenland im Schlauchbootkostet 1000 Dollar, in einer Jacht 3000. Werweiterreisen will, etwa nach Deutschland,zahlt noch einmal 4000. Ein Flugticket mitgefälschten Papieren nach Frankfurt ist für15000 Dollar zu haben.

    Die Schleuser buhlen nicht nur auf derStraße, sondern auch in sozialen Netzwer-ken um Kundschaft und betreiben Face-book-Seiten wie „Schmuggel nach Europa“oder „Als Illegaler nach Schweden“. EinMann mit dem Decknamen „Abu Ali“schreibt auf Arabisch: „Billiger gelangt ihrnicht nach Europa“. Ein anderer preist die„sichere Überfahrt“ von Ägypten nach Ita-lien für 2500 Euro an. Einige hinterlassen

    Handynummern.Yasin hat die Männer, die in der Hierar-chie über ihm stehen, noch nie getroffen.Sein Arbeitgeber beschäftigt Dutzende An-werber, Treuhänder, Fahrer, Wachleute,nicht nur in der Türkei, sondern auch inGriechenland und anderen Balkanländern.Ein türkischer Polizist, der seit Jahren indem Milieu ermittelt, sagt, das Geschäftin der Türkei werde von einigen wenigenBanden kontrolliert. Die Hintermänner sei-en Türken und Kurden, die für die schmut-zigen Arbeiten Flüchtlinge wie Yasin an-heuerten.

    In Izmir wird die Szene angeblich voneinem Deutschtürken dominiert, einemMann mittleren Alters, den seine Unterge-benen den „Wal“ nennen. Der „Wal“ han-delte in Deutschland illegal mit Autos undsaß deswegen einige Jahre im Gefängnis.Nach seiner Rückkehr in die Türkei stieger ins Schlepperbusiness ein. Das Netz-werk des „Wals“ reicht inzwischen bisnach Deutschland. In Izmir besitzt er Restaurants, Bürogebäude, Hotels.

    Yasins Job ist beendet, sobald ein Dealperfekt ist. Dann reicht er die Kunden anTreuhänder weiter, die den Geldtransferüber das sogenannte Hawala-Finanzsys-tem abwickeln. Der Vorteil bei diesen in-formellen Überweisungen ist, dass keine

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    Migranten vor der Metrostation Aksaray in Istanbul: Lieber West- oder Ostbalkanroute?

    Flüchtlinge vor dem Hotel Mr. President in Belgrad: Inoffizielle Zentrale für die Weiterreise

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    Kos

    Istanbul

    Budapest

    Belgrad

    Wien

    Parndorf

    Bodrum

    Passau

    Subotica

    Röszke

    Athen

    Mitte lmeer

    TÜRKEI

    MAZEDONIEN

    ALBANIEN

    MONTE-NEGRO KOSOVO

    SERBIEN

    UNGARN

    ÖSTERREICH

    SLOWENIENITALIEN

    RUMÄNIEN

    KROATIEN

    BOSNIEN-HERZEGOWINA

    DEUTSCH-LAND

    SLOWAKEI

    BULGARIEN

    GRIECHEN-LAND

    Europäische Union

    Nicht-EU-Staaten

    Schlepperroute

    Hoffnung EuropaDie wichtigste Schlepperrouteüber den Westbalkan

    175 KilometerbefestigteGrenzanlage

    30 KilometerbefestigteGrenzanlage

    Die Erkenntnisse der italienischen Er-mittler erlauben erstmals einen detaillier-ten Einblick in einen Logistikkonzern,der von Krieg und Vertreibung profi-tiert. Ghermays Spezialität waren All- inclusive-Reisen, die Kosten betrugenpro Person und Etappe zwischen 2000 und2500 Dollar, zahlbar vor Antritt des jeweiligen Abschnitts. Rund zwei Jahrelang hat die sizilianische Staatsanwalt-schaft ermittelt, Telefonate wurden abge-hört, Mittelsleute observiert. Knapp zweiDutzend Helfer wurden verhaftet, nur derBoss sitzt bis heute unbehelligt in Tripolis,vermutlich abgeschirmt von libyschen Milizen.

    Echte Paten wie im internationalen Dro-genhandel, die seit Jahrzehnten im Ge-schäft sind, sucht man in der Schleuser-szene vergebens. Deutsche Sicherheitsbe-hörden gehen davon aus, dass viele Schlep-per und deren Helfer Landsleute sind, dieauf der Flucht irgendwo hängen gebliebensind, sowie lokale Kriminelle, zu denensie Kontakte aufbauen. Zwar bringen dieFlüchtlinge Geld, es muss aber auf vieleHände verteilt werden. Sofern die Kom-munikation zwischen Schleusern abgehörtund ausgewertet wurde, ließ sie auf keineausgeprägten Netzwerke schließen. Wie

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    leere Wasserflaschen, Hinweise auf dieNacht, in der Flüchtlinge barfuß auf dieSchlauchboote stiegen und losfuhren.

    Ins Ungewisse, nach Europa.Man sieht am Strand von Bodrum, in Is-

    tanbul, Belgrad und Budapest, wie großder Wirtschaftszweig der Schlepper inzwi-schen geworden ist. Mit der steigendenZahl der Kunden verändert sich aber auchdas Geschäftsmodell der Schlepper, die aufimmer größere Boote und Lkw umsteigenund immer mehr riskieren, um ihre Kun-den zu transportieren.

    Bislang lockt das Geschäft in der Türkeiund auf dem Balkan vor allem Kleinkrimi-nelle, die Zahl der straff organisiertenNetzwerke ist gering, aber es gibt auch sie.Wer mit Armut, Furcht und Krieg richtigreich werden will, muss auf mehreren Kon-tinenten vernetzt sein, exakt planen, mussintelligent sein, skrupellos, ehrgeizig. Sowie mutmaßlich Ermias Ghermay.

    Ghermay stammt aus Äthiopien, einMann mittleren Alters, der fließend Ara-bisch, Englisch, Französisch und Italienischspricht. Er lebt in Tripolis, der HauptstadtLibyens, Staatsanwälte im sizilianischenPalermo vermuten, dass er einer der gro-ßen Fische im Mittelmeergeschäft ist. Gher-may soll von Libyen aus die Überfahrt vonFlüchtlingen im großen Stil organisiert ha-ben, bis zu 15000 Menschen hat er angeb-lich mit Partnern und Helfern durch Afrika,über Italien nach Europa geschleust. SeinUnternehmen macht Jahresumsätze inMillionenhöhe.

    Bank, keine Finanzaufsicht davon erfährt.Die Schleuserbanden unterhalten in Ak-saray mindestens drei solcher Treuhänder-büros, außerdem in Städten wie Izmir, Bo-drum und Mersin. Die Büros sind in derRegel Wechselstuben, manchmal Juweliereoder Telefoncenter. Sie tragen muslimischeNamen wie „Al Rasheed“.

    Das System basiert auf Vertrauen. DieFlüchtlinge hinterlegen bei einem derBüros gegen eine Kommission von etwa20 Dollar den vereinbarten Betrag für dieReise nach Europa. Im Gegenzug bekom-men sie ein Stück Papier mit einem Zahlen-code, den sie ihren Schleppern nach der An-kunft am Zielort mitteilen. Auf diese Weisesoll verhindert werden, dass einzelne Ak-teure nach einer Etappe Flüchtlinge prellenoder, noch schlimmer, den Boss bestehlen.

    Von Istanbul reisen viele nach Bodrum,

    eine türkische Stadt an der Ägäis. Bodrumist zum Umschlagplatz für Schlepper undFlüchtlinge geworden. Die griechische In-sel Kos liegt wenige Seemeilen entfernt,auf türkischer Seite haben vor allem kleineSchleuser das Geschäft übernommen. Für500 bis 1000 Euro setzen sie ihre Kundenin Schlauchboote, damit sie selbst nachEuropa paddeln können, auch wenn dieBoote fünf Meter lang sind und 70 Passa-giere transportieren. Bodrum ist das Torzur Westbalkanroute.

    Die türkische Polizei kontrolliert denKüstenabschnitt zwar jede Nacht von derKüste und vom Wasser aus, aber mit wenigErfolg. Die Kleinschlepper von Bodrumhaben ein System entwickelt, um der Ent-deckung zu entgehen: Allein und unauf-fällig laufen sie die Strände ab, zwischenSonnenliegen und Schirmen hindurch, stel-len sich auf Bootsstege, prüfen die Lage.Sie telefonieren entlang der Küste mit -einander, und sobald die Luft rein ist, set-zen sich auf einen Schlag bis zu 15 Bootegleichzeitig in Bewegung, Richtung Kos.Das erhöht die Chance, dass es viele schaf-fen, es ist die Wucht der Masse. Alleinvergangene Woche rettete die Küsten -wache 2160 Menschen aus dem Wasser.

    Im Morgengrauen liegen an den Strän-den zurückgelassene Schuhe, Socken und

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    es aussieht, ist Ermias Ghermay eher dieAusnahme als die Regel.

    Von Griechenland geht es für die meis-ten Flüchtlinge weiter über Mazedonien,oft mit dem Bus oder mit dem Zug, manch-mal zu Fuß. Viele von ihnen haben eine

    lange Liste mit Telefonnummern vonSchleusern bei sich, mit Kontakten in je-dem Land. Auch die Toten von Parndorfhatten solche Listen in ihren Taschen.

    Die Westbalkanroute führt nach Norden,nach Belgrad hinein, in die Hauptstadt Ser-biens, ein Moloch aus angegrauten Häu-sern und Beton. Gleich am Hauptbahnhof,nicht weit von der Donau entfernt, stehtein Haus, das zur inoffiziellen Zentraledes Flüchtlingsstroms geworden ist: dasViersternehotel Mr. President.

    Viele Flüchtlinge schlafen im Mr. Presi-dent, vor allem die Wohlhabenden unterihnen, bevor es weitergeht nach Österreich,Deutschland, Belgien oder in die Nieder-lande. Sie übernachten in Räumen, in de-nen Ölporträts von Wladimir Putin überdem Bett hängen, von Lenin und RonaldReagan, 61 Zimmer auf sieben Etagen,überall Porträts der Mächtigen der Welt.

    Die wirklich mächtigen Männer sitzenaber vor dem Eingang auf Stühlen und te-lefonieren, sie tragen offene Hawaiihem-den und Bauchtaschen. Jeder hat dreiHandys bei sich, Kopfhörer im Ohr undeine mobile Ladestation auf dem Tisch.Das Hotel Mr. President ist ihre Zentrale,ihr Büro, mit kostenlosem WLAN, das bisauf die Straße reicht. Hier wird Arabischgesprochen. Bis zu 1500 Euro zahlen

    Flüchtlinge, um von hier zu einem Wald-stück an der ungarischen Grenze zu kom-men, knapp 200 Kilometer entfernt.

    Vor wenigen Wochen noch soll die Reisevon Belgrad an die Grenze maximal300 Euro gekostet haben, aber gerade sind

    die Preise explodiert. Es gibt nicht genugAutos, es gibt zu viele Flüchtlinge, auchdas ist ein Problem der Logistiker.

    An diesem Mittwochabend warten wie-der ungefähr 60 Flüchtlinge mit Rucksä-cken vor dem Hotel. Kurz bevor es losgeht,fahren die Chefs der Schlepper vor, im Por-sche Cayenne und einem weinrotenPanamera. Setzen sich auf die Stühle desHotelcafés, zufrieden mit dem Ablauf ihrerGeschäfte. Am Mr. President treffen sichdie reichen und die armen Flüchtlinge, oftlanden sie im selben Lkw.

    Zwei Syrer erzählen, jeder Flüchtlingwisse, dass man vom Mr. President in dieEU komme. Helfer der Schleuser sprechendie Neuankömmlinge häufig schon an derersten Raststätte hinter der mazedonischenGrenze an und sagen ihnen, dass sie sienach Belgrad und danach weiter nachBudapest bringen könnten.

    Ein Pfiff zischt durch die Luft. Er kommtvon einem der Bauchtaschen-Kerle. 60 jun-ge Männer erheben sich und folgen ihmgeschlossen durch den Belgrader Haupt-bahnhof. Auf der Rückseite warten Klein-laster und Transporter. Die Männer steigenein, die Wagen verschwinden.

    Der Balkan endet zwischen Maisfeldern,dann beginnt die EU. Genau hier, an der un-garisch-serbischen Grenze, möchte die Re-

    gierung Ungarns den Menschenstrom auf-halten. All die Laster und Kleintransporter,die vom Mr. President kommen. Wochen-lang rollten Grenzschützer Nato-Draht aus,drei Lagen übereinander, 175 Kilometer lang.Ein Bollwerk gegen den Ansturm aus dem

    Süden, so war es geplant. Demnächst willdie Regierung einen stabileren, vier Meterhohen Zaun davor errichten, bis dahin mussder Stacheldraht genügen. Tut er aber nicht.

    Schon bei Röszke, einem Grenzdorf aufungarischer Seite, hat der Zaun eine Lücke,durch die die Gleise der Bahnlinie Szeged–Su-botica führen. Von Belgrad bis hier sind eszwei Stunden mit dem Auto, die Flüchtlingekommen, wenn es dunkel wird. Sie laufenüber die Grenze zwischen Serbien und Un-garn, als ob es keine gäbe, junge Männer mitRucksäcken, Alte, Familien mit Kindern, aus-gezehrte Gestalten, die meisten Syrer.

    Am vergangenen Samstag überquerten3080 Flüchtlinge die Grenze, am Sonntag2890, am Montag 1797. Niemand hält sieauf, es sind längst zu viele. Die Schleuserin Röszke erkennt man an ihren Codewör-tern. „Arabic, Arabic?“, rufen sie aus demSchutz der Dunkelheit.

    An einem OMV-Rasthof stehen zweiFrauen in weißem Tanktop, die Ausschaunach der Polizei halten, es könnte eineSzene in einem Guy-Ritchie-Film sein. Tie-fergelegte Audis mit verdunkelten Schei-ben kommen und fahren. Dazwischen ste-hen glatzköpfige Roma-Männer und wartenauf Anwerber. Einer der Schleuser sagt,die Fahrer würden die Flüchtlinge nur nachBudapest bringen. Die Fahrt koste zwi-

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    Mutmaßliche Schlepper an einer Tankstelle im ungarischen Röszke nahe der Grenze zu Serbien: „Arabic, Arabic?“

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    schen 200 und 300 Euro, pro Tag könneman damit mehrere Tausend Euro machen.

    Die Fahrt der Flüchtlinge geht von hieraus schnell in Richtung Norden, über gutausgebaute Straßen und die Autobahn M5.Vorbei an Mohnfeldern und vertrockneten

    Sonnenblumen, an Rasthöfen mit Acht-Euro-Betten, an Windrädern, der PuffketteParadiso und an Grenzschildern mit demEU-Sternenkreis in Gold. Von Röszke biszur Haltebucht bei Parndorf sind es fast400 Kilometer.

    Eine Dreiviertelstunde von Parndorf ent-fernt, im zweiten Stock des österreichischenBundeskriminalamts in Wien, sitzt GeraldTatzgern. Er leitet die Taskforce Menschen-handel und Schlepperei beim österrei-chischen Bundeskriminalamt, er ist derwichtigste Ermittler des Landes im Kampfgegen kleine und große Schleuser. Auf sei-nem Schreibtisch landen die harten Fälle,die Strecke nach Serbien kennt der Oberstsehr genau. Das Hotel Mr. President in Bel-grad ebenfalls. Tatzgern ist 47, Vater vondrei Kindern, Polizist von der Pike auf, erspricht schnell, präzise, freundlich.

    Er und seine Leute versuchen, denschlimmsten Auswüchsen das Handwerkzu legen, wie in der Tragödie an der A4.Vor zwei Stunden, sagt er, hätten sie einenweiteren Verdächtigen festgenommen, esist Anfang dieser Woche. Tatzgern kenntdie Schlepperszene auf dem Westbalkanbestens, er beschreibt sie als wildes Biotopvon Kleinkriminellen, regionalen Bandenund wenigen organisierten Netzwerkenmit bis zu 200 Mitarbeitern. Die Gewinn-

    spannen? „Absolut vergleichbar mit demDrogengeschäft.“

    Er spricht von einem Netzwerk, das erund seine Leute schon 1994 in der Türkeilokalisiert hätten – damals starben fünf Tamilen. Obwohl er den Verantwortlichen

    kenne, sei der Mann immer noch auf frei-em Fuß und aktiv in der Schleuserszeneseines Landes. Er unterhalte Kontakte zurPKK und sei vernetzt in der Politik undWirtschaft seines Landes.

    Tatzgern ist Pragmatiker, er sieht dieWelt, wie sie ist, nicht, wie sie sein könnte.Paradoxerweise sei es für die Flüchtlingesogar besser, sicherer, sich einer organi-sierten Schleppergruppe anzuvertrauen,sagt er. „Bei der Mafia gibt es wenigstensmehr Know-how und nicht diese brutaleSorglosigkeit, die am Ende auf grausameArt Menschenleben fordert.“

    Der Polizist weiß auch, dass die Halte-bucht bei Parndorf überall sein könnte, dieKatastrophe könnte sich täglich wieder -holen. Denn das Flüchtlingsdrama, das sichvor den Augen Europas abspielt, setzt sichzusammen aus unendlich vielen Momen-ten der Angst, Szenen am Rande des To-des. In Unterkünften und provisorischenLagern trifft man unzählige Menschen, diesolche Geschichten erzählen.

    Dazu gehören drei junge Syrer, die ineiner Gruppe von 50 Flüchtlingen in einenKleintransporter eingesperrt waren, ähn-lich wie die 71 von vergangener Woche.Nur mithilfe eines Messers konnten sie einLoch in das Dach des Wagens schneidenund entkommen. Die drei jungen Männer

    berichten darüber, auf grünen Feldbettenhockend, in einer provisorischen Unter-kunft am Grenzübergang Nickelsdorf inÖsterreich. Der Lkw mit dem Hyza-Logo,in dem die Toten lagen, steht nicht weitentfernt. Die Ermittler bergen daraus

    Handys, Pässe, Fotos und Rucksäcke. DerTod ist nahe, immer und überall.Oder die Geschichte von Reza Golshir

    und Majid Khan, einem Iraner und einemPakistaner, die ebenfalls nur mit Not dieFlucht überlebten. Ihren Schlepper hattensie in Belgrad getroffen, einen Türken.Sein Versprechen: 300 Dollar für die Fahrtbis Wien in einem Mercedes mit fünf Pas-sagieren, mehr nicht. Am Ende pferchtendie Schleuser 30 Männer, Frauen und eini-ge Kinder in einen Kleinlaster, der innenmit Kunststoffwänden ausgekleidet war.Mithilfe eines Schraubenziehers, den sieim Laderaum fanden, befreiten sie sichschließlich. Am nächsten Tag standen siewieder in Belgrad. Um 300 Dollar ärmer,aber wenigstens am Leben.

    Die Tage auf dem Balkan sind voller sol-cher Momente, nicht alle Menschen kom-men mit dem Schrecken davon. In denFlüchtlingslagern entlang der Route liegenVersehrte mit Brüchen, eitrigen Entzün-dungen, Schnittwunden. Sie werden weiterversuchen, nach Europa zu gelangen, nichtnach Bulgarien oder Ungarn, sondern nachÖsterreich, Deutschland, Schweden, Groß-britannien. Wer aus dem Bombenhagelvon Aleppo kommt, aus dem Sudan, So-malia oder Afghanistan; wer das Mittel-meer überquert und Mazedonien zu Fuß

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    Gestrandete Migranten in Budapester Bahnhof: „We love to go to Germany“

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    Titel

    durchlaufen hat, den halten ein paar Rol-len Stacheldraht nicht auf.

    Die Hoffnung treibt sie weiter, die Ver-zweiflung, und natürlich werden die Flüch-tenden auf ihrer Reise Unterstützung brau-chen. Und selbst wenn Ungarn die Gren-zen abriegelt, haben die Schleuser einenPlan. Sie werden einfach auf andereRouten ausweichen, über Kroatien undSlowenien womöglich. Oder wieder stär-ker das Mittelmeer anbieten. SolangeKrieg herrscht in Syrien und im Irak, so-lange es Armut und Konflikte an EuropasAußengrenzen gibt, wird es Schleuser geben, das ist die Gegenwart, das ist dereuropäische Albtraum.

    Der Schleuser ist eine unbeliebte Figur,aber das stört ihn nicht. Er wird derzeitfür die große europäische Katastrophe ver-antwortlich gemacht, in diesem Sinn ist erauch eine bequeme Figur. Politiker rufenderzeit einen Krieg gegen Schlepper aus,weil sie nicht untätig erscheinen wollen,aber auch das juckt die Männer auf demBalkan kaum. Denn der Krieg gegenSchleuser wird wie der Kampf gegen Dro-gendealer vor allem eine Folge haben: stei-gende Preise für die Kunden.

    In Bayern endet die Balkanroute vor-erst. 734 mutmaßliche Schleuser befindensich im Freistaat zurzeit in U-Haft, fast je-den Tag greift die Polizei neue Verdächtigeauf. Die Justiz ist überlastet, die Gefäng-nisse sind voll. Der Rumäne Viorel C. isteiner von 28 mutmaßlichen Schleppern,die in der JVA Würzburg einsitzen. C. wird

    vorgeworfen, neun Syrer in einem VW-Bus von Budapest nach Passau gefahrenzu haben, auch er ein kleiner Fisch.

    500 Euro für den Transport der Men-schen hätten ihm die Hintermänner zuge-sagt, erzählt C. in seiner Zelle. Er habenur Geld verdienen wollen. „Aber statt-dessen habe ich alles verloren.“ Wenn erGlück hat, kommt er mit einer Bewäh-rungsstrafe davon. Erst ab 20 Geschleustenmüssten die Fahrer mit einer Freiheitsstra-fe rechnen, sagt sein Verteidiger, das zeigedie momentane Praxis vor Gericht.

    Männer wie C. werden in Ungarn rekru-tiert und erhalten strikte Anweisungen:nicht anhalten, in der ersten Stadt nachder deutschen Grenze die Insassen raus-lassen und dann sofort zurück nach Buda-pest. Der Fahrer- und Fahrzeugschwundwird einkalkuliert. Verlust gibt es immer.Wenn C. im Knast sitzt, übernimmt denJob eben ein anderer. Es gibt viele wie ihn.

    Maik Baumgärtner, Sven Becker,Rafael Buschmann, Uwe Buse, Jörg Diehl, Fiona

    Ehlers, Özlem Gezer, Ralf Hoppe, Katrin Kuntz, Maximilian Popp, Jan Puhl, Anna Reuß, Christoph

    Scheuermann, Andreas Ulrich, Andreas Wassermann

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    Video:Auf den Spuren der Schlepper

    spiegel.de/sp372015schlepperoder in der App DER SPIEGEL

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    Für Jean-Claude Juncker ist Politik einHandwerk, das vollen Körpereinsatzerfordert. Wenn die Kameras der Foto-grafen surren, busselt und drückt der EU-Kommissionspräsident gern seine Gesprächs-partner. Je nach Belieben herzt er sie auchoder versetzt ihnen eine kleine Ohrfeige.Vor allem aber nutzt Juncker die vier Spra-chen, die er fließend beherrscht, um seineBotschaften unters Volk zu bringen. VomFranzösischen wechselt er übergangslos insEnglische, und wenn der Kommissionschefdie Deutschen umschmeicheln will, streuter als Überleitung Sätze ein wie: „Und nunweiter in der Sprache des Weltmeisters.“

    Manchmal aber verwendet der Luxem-burger das Idiom des großen Nachbarlan-des im Osten auch, um seinem Gemüts -zustand Ausdruck zu verleihen. Neulichkam er im kleinen Kreis auf die heftigenVorwürfe zu sprechen, die seiner Behördein der Flüchtlingsfrage vor allem ausDeutschland gemacht werden. „Das ist“,sagte er auf Deutsch, „zum Kotzen.“

    Die menschliche Tragödie, deren Brenn-punkte sich in den vergangenen Wochenvon den Stränden des Mittelmeers auf dieVerkehrsknotenpunkte und Binnengren-

    zen des Kontinents verlagerten, ist zurSchicksalsfrage für die EU geworden, fürihren Präsidenten genauso wie für die Staa-tengemeinschaft insgesamt. Der Uniondroht die Spaltung: Der Süden will dieFlüchtlinge loswerden, der Osten keineaufnehmen, und die Kernländer Deutsch-land und Frankreich weigern sich, die Lastallein zu tragen. Hunderttausende suchenin Europa Sicherheit vor Verfolgung undBürgerkrieg, so wie es ihnen die europäi-schen Verträge versprechen. Stattdessenlanden sie im zynischen Verschiebebahn-hof eines europäischen Asylrechts, das sei-nen Namen nicht verdient.

    Im Lissabon-Vertrag feiert die EU sich als„Raum der Freiheit, der Sicherheit und desRechts“. Doch in diesen Tagen verlieren alldie hehren Begriffe im Zeitraffer ihre Be-deutung. In Budapest stürmen Flüchtlingeaus Syrien Züge nach Deutschland. In Öster-reich ersticken 71 Menschen qualvoll in ei-nem Lkw, darunter 4 Kinder. In den Vor-städten Roms leben Flüchtlinge in Slum-Siedlungen ohne Strom und Wasser. In Ca-lais vegetieren Tausende unter Zeltplanen.

    Fassungslos müssen die Europäer täglichneue Horrornachrichten aus der Parallel-welt der Flüchtlinge zur Kenntnis nehmen,zuletzt ging das Bild des ertrunkenenFlüchtlingsjungen Aylan um die Welt. Doch

    statt in der Krise solidarisch zusammenzu-stehen, flüchtet sich die europäische Politikin jene Routine, die viele Kritiker nicht zuUnrecht als organisierte Verantwortungs-losigkeit bezeichnen. Die Mitgliedsländer desgrößten Wirtschaftsraums der Welt wärenverpflichtet, die Not der Flüchtlinge zu lin-dern. Stattdessen wachsen an Europas Au-ßengrenzen immer neue Zäune in den Him-mel, und im Inneren herrscht Misstrauen.

    Italien und Griechenland lassen Asyl-bewerber weiterreisen, obwohl sie nach

    den europäischen Regeln eigentlich für siezuständig wären. Die Regierungschefs Ost-europas schließen sich zusammen, um dasAnsinnen der Kommission nach einer bes-seren Verteilung der Flüchtlinge möglichstwirkungsvoll zu torpedieren. Und auch diedeutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU)hat die Flüchtlingsfrage erst dann zur Chef-sache erklärt, als daheim Asylbewerber-unterkünfte brannten.

    Jetzt stellt sie wortreich jene Regeln in-frage, die Deutschland einst selbst zur Ab-

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    F O T O S : O L I V I E R H O S L E T / D P A ( U

    . ) ; H

    . S C H A C H T / A C T I O N P R E S S ( O

    . )

    Der hilflose KontinentFlüchtlingspolitik Europa findet kein Rezept gegen die Krise, Tausende Asylsuchende irren vonGrenze zu Grenze. Bringt ein neuer Vorschlag von Kommissionschef Juncker die Wende?

    Kanzlerin Merkel: Heftige Vorwürfe aus Deutschland

    Ungarns Premier Orbán, Parlamentspräsident Schulz: „Nachhaltiger Schaden“

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    schreckung von Einwanderern durch-gesetzt hat. Kein Wunder, dass viele Re-gierungschefs der Kanzlerin seither vor-werfen, sie in der Asylfrage ähnlich bevor-munden zu wollen wie zuvor schon beider Griechenlandrettung.

    Auch Kommissionschef Juncker ist esbisher nicht gelungen, die streitenden Re-gierungen auf eine gemeinsame Linie zubringen. Nächste Woche will er ein neuesKonzept vorlegen, mit denen Zehntausen-den Flüchtlingen eine vorübergehende Hei-

    mat zugewiesen und Europas Asylrechtgrundsätzlich neu geordnet werden soll.Doch ob er bei den zaudernden Mit-

    gliedstaaten diesmal bessere Chancen hatals bei seinen gescheiterten Anläufen dervergangenen Monate, ist zweifelhaft.

    „Wenn wir jetzt nicht zu Lösungen kom-men, gerät mehr ins Rutschen als die Re-geln von Schengen und Dublin, da dürfenwir uns keine Illusionen machen“, warntder Präsident des Europäischen Parla-ments Martin Schulz (SPD). „Europa fußtauf dem Versprechen, dass man auf derGrundlage eines fairen Miteinanders ge-meinsame Probleme löst. Wenn uns dasin dieser Situation nicht gelingen sollte,nimmt diese Idee – die die einzige ChanceEuropas im 21. Jahrhundert ist – nachhal-tigen Schaden.“

    Einer, dem die europäische Idee nochetwas bedeutet, ist Hussain al-Ali. Am ver-gangenen Mittwoch steht er am BahnhofKeleti in Budapest, aktuell einem derBrennpunkte der europäischen Katastro-phe. Ali will in den Zug nach München,aber die Polizei hat den Bahnhof gerademal wieder gesperrt.

    Sirenen heulen über den Vorplatz. AmAbend fährt schließlich ein Lautsprecher-wagen vor, umringt von Polizisten. EineFrauenstimme fordert die „illegalen Migran-

    ten“ in arabischer Sprache auf, sich in Ungarn registrieren zu lassen. Ihre Stimmegeht im Lärm der Demonstranten unter,nach ein paar Minuten rufen sie „Lügner,Lügner“, und wenden sich ab.

    Hussain al-Ali beobachtet die Szene mitetwas Abstand. Der Mann ist um die drei-ßig und trägt eine randlose Brille, er hat inDamaskus Germanistik studiert. Jetztschläft er mit einem Dutzend anderer Syrerim Untergeschoss des Ostbahnhofs, zwi-schen Hunderten anderen Verzweifelten.

    Er will weiter nach Deutschland, „wa-rum halten uns die Ungarn auf?“, fragt er.„Sie wollen uns doch gar nicht haben.“

    Die Frage ist berechtigt. Sie zielt auf einen Kern des Problems, auf Europas zen-trales Prinzip des Asyl- und Flüchtlings-rechts, das die Regierungen im sogenann-ten Dublin-Verfahren verankert haben.Das Regelwerk sieht vor, dass der Staatfür die Flüchtlinge zuständig ist, in demdiese zum ersten Mal den Boden der EUbetreten.

    Ali müsste also in einem Land bleiben,in das er nicht will und das auch nicht vor-hat, ihn aufzunehmen. Denn die europäi-schen Regeln sind längst brüchig ge-worden. Wie Italien und Griechenlandschickt auch Ungarn die Flüchtlinge ofteinfach weiter. Und weil auch in Wien amvergangenen Montag zwischenzeitlich dieKontrollen eingestellt worden waren, fuh-ren mehrere Tausend Flüchtlinge nach Rosenheim und zum Münchner Haupt-bahnhof durch.

    Ein Regelbruch, sicherlich. Aber einermit Ansage. Denn die deutschen Behördenhatten die Flüchtlinge zuvor mit wider-sprüchlichen Stellungnahmen zur Weiter-reise geradezu ermutigt. Auch die Transit-länder fühlten sich ermutigt, ihre Kontrol-len weitgehend einzustellen.

    Schließlich hatte es sich Deutschland mitdem Dublin-Verfahren bequem gemacht;andere, vor allem die EU-Staaten mit Au-ßengrenzen, trugen die Hauptlast. AlleVorstöße der EU-Kommission und des Eu-ropäischen Parlaments, das Regelwerk desKontinents zu verbessern, sind in den ver-gangenen Jahren nicht zuletzt auch amWiderstand der Deutschen gescheitert.

    Dabei war es nie ein Geheimnis, dassdas gemeinsame europäische Asylsystembislang nur auf dem Papier existiert. Auf

    welche Leistungen Flüchtlinge Anspruchhaben, wie sie versorgt und untergebrachtwerden. Das alles unterscheidet sich vonLand zu Land erheblich.

    Die EU-Mitgliedstaaten können sichnoch nicht einmal darauf verständigen,wer als Flüchtling zu gelten hat. So wurden2014 in Finnland beispielsweise 43 Prozentder Asylanträge von Kosovaren anerkannt,in Deutschland lediglich 1,1 Prozent.

    Egal, ob in armen Ländern wie Bulgarienoder in reichen wie Italien, die Mindest-standards für den Umgang mit Asylbewer-bern sind europaweit nie konsequent um-gesetzt worden. In Deutschland erhaltenanerkannte Flüchtlinge Sozialleistungen,Sprachkurse, eine Wohnung. In Italien, im-merhin die viertstärkste Volkswirtschaftder EU, bekommen sie von alledem nichts.

    Stattdessen biwakieren in Rom TausendeMigranten in Parks oder in Behausungenwie dem „Palazzo Salam“, einem ehema -ligen Universitätsgebäude am Stadtrand.Noch schlimmer ist die Lage in Griechen-land, das nach der jahrelangen Wirtschafts-krise mit der Versorgung der Schutzsuchen-den überfordert ist. Auf der Insel Kos wuss-te sich der Bürgermeister nicht anders zuhelfen, als die Neuankömmlinge fast ohneEssen und Trinken über Stunden und Tagein ein Stadion zu sperren.

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    Toter Junge Aylan: Horrornachrichten aus der Parallelwelt der Flüchtlinge

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    LUX.

    BELGIEN

    NIEDERLANDE

    DEUTSCHLAND

    POLEN

    UNGARN

    SLOWAKEI

    KROATIEN

    SLOWENIEN

    TSCHECHIEN

    SCHWEIZ

    SPANIEN

    ITALIENBULGARIEN

    RUMÄNIEN

    MALTA

    GRIECHENLAND

    ZYPER

    PORTUGAL

    FRANKREICH

    DÄNEMARK

    ÖSTERREICH

    SCHWEDEN

    FINNLAND

    ESTLAND

    LETTLAND

    LITAUEN

    GROSSBRITANNIENIRLAND

    19945

    4570

    3465

    4369

    3510

    10003

    1980

    2930

    20927

    12970

    19745

    27228

    6692

    32586

    97640

    14840

    39295

    13425

    60254116

    42360

    6715

    Polen, Ungarn, Tschechien

    die Slowakei lehnen eine Qtenregelung für FlüchtlingeAm Wochenende wollen digierungschefs dieser Ländeeine gemeinsame Handlungposition festlegen.

    Die Briten, Iren und Dänen sindlaut EU-Verträgen von der gemein-samen EU-Asylpolitik ausgenom-men. Sie sind bei dem von der EU-Kommission vorgeschlagenenSchlüssel nicht berücksichtigt.

    Ende der GemeinsamkeitDie Flüchtlingspolitikder Europäischen Union

    SCHENGEN-ABKOMMEN, seit 1995 in Kraft:keine Grenzkontrollen mehr innerhalbdes Schengen-Raums*, strenge Kontrolleder Einreise über die Außengrenzen.Realität: An den Außengrenzen lässt sichder Zustrom von Flüchtlingen kaum mehrkontrollieren.

    DUBLIN-VERFAHREN,seit 1997 in Kraft:Flüchtlinge müssen in dem Land Asyl bean-tragen, über das sie in die EU eingereist sind.Realität: Angesichts der hohen Zahlenlassen einige Länder Flüchtlinge ohne Kontrollein EU-Nachbarländer weiterreisen.

    QUOTENREGELUNG FÜR KRISENZEITENDie EU-Kommission hat eine Quote zurAufnahme von Flüchtlingen vorgeschlagen.Sie orientiert sich an der Bevölkerungs-zahl, Wirtschaftskraft, Arbeitslosen-quote und der Zahl der bereitsaufgenommenen Flüchtlinge.Die Quote scheint angesichts derAblehnung in vielen Ländern kaumdurchsetzbar.

    *Alle EU-Länder außer Großbritannien und Irland sowie die Nicht-Mitgliedstaaten Norwegen, Island, die Schweizund Liechtenstein. Die EU-Mitglieder Bulgarien, Rumänien, Zypern und Kroatien wenden bisher nur Teile des Schengen-Rechts an.

    der vorgeschlagenen Quote

    Zahl der Asylbewerber,die nach der von der EUvorgeschlagenenQuote zugeteilt würden

    über unter

    Asylerstanträge von Januar bis April 2015

    Quelle: Eurostat, EU-Kommission,eigene Berechnung

    Berichte wie diese erzeugen im RestEuropas nicht überall Solidarität. Im Ge-genteil: Vor allem der Osten wendet sichab, für viele Menschen dort scheint derGedanke, Tausende Flüchtlinge aufzuneh-men, eine Zumutung. Zwar haben die Ost-europäer in den vergangenen Jahren einenwirtschaftlichen Aufschwung erlebt, dochkonzentriert sich der auf die Städte; dieländlichen Gegenden im Osten Ungarns,Polens oder der Slowakei ähneln mit ihrerArbeitslosigkeit und miserablen Infrastruk-tur jenen Entwicklungsländern, aus denenviele Flüchtlinge kommen. Statt für Afri-kaner zu sorgen, müssen wir erst mal un-seren eigenen Leuten helfen, das ist dieHaltung vieler Osteuropäer.

    Zudem fühlen sich mindestens die Polenals Frontstaat im Konflikt mit Russland.Seit im Nachbarland Ukraine gekämpftwird, so glauben offenbar viele, könneman sich nicht noch mit Notleidenden ausanderen Weltgegenden belasten.

    Es sind deshalb nicht nur Rechtspopu-listen wie Ungarns nationalkonservativerRegierungschef Viktor Orbán, die sich ge-

    gen die Flüchtlingspolitik aus Berlin undBrüssel wenden. Viele Osteuropäer sindder Meinung, dass sich Deutschland mithohen Standards und langwierigen Asyl-verfahren vielen Flüchtlingen als Ziellandgeradezu andiene. Auch die widersprüch-lichen Botschaften Berlins zum Dublin-Ver-fahren riefen auf dem Rest des KontinentsKopfschütteln hervor. „Das ist menschlichverständlich, aber der Effekt ist, dass überdie Balkanroute noch mehr Menschen nachDeutschland wollen“, sagt selbst ein zu-rückhaltender Diplomat wie LuxemburgsAußenminister Jean Asselborn.

    Luxemburg hat derzeit die Ratspräsi-dentschaft inne und Asselborn die wenigdankbare Aufgabe, in der Flüchtlingsfragezu vermitteln. „Wenn es uns gelingt, dasssich am Ende nicht der Süden Europas unddie klassischen Länder gegen den Ostenstellen, haben wir viel erreicht“, sagt er.

    Noch ist davon wenig zu sehen. Um diewiderstrebenden Ostländer zum Einlenken

    zu bewegen, bringen Politiker aus aufnah-mewilligen EU-Ländern bereits Sanktio-nen ins Spiel. „Die Europäische Union soll-te Projekte in jenen Ländern, die derzeitkaum Asylwerber aufnehmen, nur nochdann mitfinanzieren, wenn es dort endlicheine Bereitschaft zur ausreichenden Auf-nahme gibt“, sagt der österreichische Bun-deskanzler Werner Faymann.

    Die Idee hat auch Anhänger in der Bun-desregierung. EntwicklungshilfeministerGerd Müller (CSU) und die sozialdemo-kratische Umweltministerin Barbara Hen-dricks etwa haben sich im kleinen Kreisbereits ähnlich geäußert.

    Der Streit belastet die EU inzwischenauch dort, wo die Flüchtlingsfrage garnicht auf der Tagesordnung steht. So trafensich vor der Sommerpause die Ständigen

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    Titel

    Vertreter der EU-Mitgliedstaaten,um über den Haushalt für das Jahr2016 zu beraten, eine Routine-sache. Der deutsche Spitzendiplo-mat Reinhard Silberberg konntees sich dennoch nicht verkneifen,die Osteuropäer wegen ihres un-solidarischen Verhaltens in derFlüchtlingsfrage zu triezen.

    Die Polen hatten die ForderungJunckers nach einer verbindlichenVerteilungsquote für Flüchtlingeim Frühjahr mit ihrem Konzept der„freiwilligen Solidarität“ gekontert.Die Aufstellung des Haushalts, daswäre doch auch was für diese „frei-willige Solidarität“, sagte Silber-berg nun in dem elitären Zirkel.Einige seiner Kollegen wechseltenunsichere Blicke: Meint der dasernst, droht Deutschland wirklich,weniger Geld nach Brüssel zu über-weisen? Immerhin steuert die Bun-desrepublik den dicksten Batzenzum EU-Budget bei.

    Die Flüchtlingsdebatte rührt amKern der Union, niemand weiß dasbesser als Kommissionschef Jun-cker. Der Mann war fast 20 Jahre lang Premierminister in Luxemburg und in derFinanzkrise Chef der Euro-Gruppe, es gibtkeine europäische Weichenstellung in denvergangenen Jahrzehnten, die Juncker nichtmitgeprägt hätte. Bei seinem Amtsantrittvor zehn Monaten hatte er versprochen,dem bürokratischen Brüsseler Apparat ein

    politisches Gesicht zu geben. Doch nun hatdie Krise ein Gesicht, Zehntausende Gesich-ter, und Junckers Kommission wirkt wieeine Behörde grauer Beamter, die der Jahr-hundertaufgabe nicht gewachsen ist.

    Juncker weiß, dass er endlich einen Planvorlegen muss, der zugleich wirksam undmehrheitsfähig ist. Nächsten Mittwoch, beiseiner Rede zur Lage der Union vor demEuropaparlament, will er einen neuen An-lauf wagen. „Dann liegt es an den Mit-gliedstaaten, etwas daraus zu machen“,sagt Günther Oettinger, der deutsche EU-Kommissar.

    Junckers Plan sieht vor, dass die Kom-mission bereits in der kommenden Wocheeinen permanenten Notfallmechanismusfür die Verteilung von Flüchtlingen be-schließt. Künftig sollen sie nach vorher be-schlossenen Kriterien (Wirtschaftskraft,Einwohnerzahl, bisherige Belastung durchMigranten) auf die Mitgliedstaaten verteiltwerden. Mit diesem Notfallmechanismuswill Juncker das Verfahren von Dublin ret-ten, das Länder wie Italien, Griechenlandund Ungarn überfordert.

    Strittig ist derzeit, in welchen Situatio-nen die EU-Kommission diesen Notfall-mechanismus ausrufen kann. Junckerdrängt auf maximale Flexibilität für seineBehörde und möglichst wenig Einspruchs-

    rechte der Mitgliedstaaten. Eine Entschei-dung der Kommission, so seine Vorstel-lung, solle vom Rat nur mit qualifizierterMehrheit gestoppt werden können.

    Dem Vorhaben muss das Parlament zu-stimmen, doch hier ist ihm eine breiteMehrheit sicher. ParlamentspräsidentSchulz macht schon mal klar, dass das Vor-

    haben Priorität genießt. „Wenn wir überdie Bankenunion im Eilverfahren abstim-men können, muss dies im Fall der Flücht-linge erst recht möglich sein.“

    Flüchtlinge, die sich schon heute in derEU aufhalten, sollen zudem neu unter denMitgliedsländern aufgeteilt werden, so derzweite Punkt des Juncker-Plans. Bereits imSommer hatten sich die EU-Länder nachlangem Zaudern darauf geeinigt, 40000Flüchtlinge aus Griechenland und Italienfreiwillig aufzunehmen, doch bisher ist dasSoll nicht erfüllt. Trotzdem will Junckerdie Zahl noch mal aufstocken – und zwarum 120000 Flüchtlinge. Geht es nach ihm,sollen bereits die EU-Innenminister bei ih-rem Treffen Mitte September zustimmen.

    Nach den Streitigkeiten der vergange-nen Monate erscheint das optimistisch.Doch Juncker hofft, dass er sich dieses Mal,anders als beim EU-Gipfel Ende Juni, aufKanzlerin Merkel und Frankreichs Präsi-dent François Hollande verlassen kann.Damals hatten sich beide nicht sonderlichengagiert, der Gipfel endete als Desasterund mit dem zwischenzeitlich berühmt ge-wordenen Wutausbruch des italienischenRegierungschefs Matteo Renzi: „Entwederes gibt Solidarität – oder verschwendetnicht unsere Zeit“, schimpfte er damals.Inzwischen haben Merkel und Hollande

    den Ernst der Lage begriffen. AmDonnerstag teilten beide mit, dass siefür eine feste Quote eintreten wollen.

    Um die Osteuropäer zum Einlen-ken zu bewegen, will Juncker zudemMaßnahmen durchsetzen, mit der dieZahl der Asylanträge gedrückt wer-den soll. Künftig soll in der ganzenUnion die Regel gelten: Jedes Land,dem die EU den Status eines Beitritts-kandidaten verliehen hat, gilt als si-cherer Drittstaat. Asylverfahren etwafür Serben oder Albaner könnten soschneller abgewickelt werden. Dane-ben will Juncker die Rückführung ab-gelehnter Flüchtlinge beschleunigen.Entsprechende Abkommen mit afri-kanischen und anderen Ländern willdie EU nun zügig aushandeln.

    Zudem will Juncker den Mitglied-staaten ausnahmsweise sogar die Mög-lichkeit einräumen, sich der Verpflich-tung zu entledigen, Flüchtlinge aufzu-nehmen. Voraussetzung ist allerdings,dass das EU-Mitglied „vorübergehen-de, systemische Gründe“ vorweisenkann, die es ihm nicht erlauben, sofortbei der Verteilung mitzumachen. Ein-

    malig und höchstens zwölf Monate langsoll dieser Staat dann stattdessen wenigs-tens mit Geld bei der Bewältigung derFlüchtlingskrise helfen. Die Ausnahme-klausel soll sowohl bei der Verteilung der120000 Flüchtlinge wie später dann beimpermanenten Mechanismus gelten.

    Ob das die Zweifler überzeugt, ist frag-

    lich. Die polnische MinisterpräsidentinEwa Kopacz etwa kann Junckers Planschon deshalb kaum zustimmen, weil am25. Oktober Parlamentswahlen anstehen.Ihrer Partei, der Platforma Obywatelska,droht eine Niederlage, mit einer offenenFlüchtlingspolitik würden die Chancen gennull sinken.

    In den anderen Ländern Osteuropasdürfte die Akzeptanz ähnlich gering aus-fallen. „Quoten halten keine Migrantenauf“, sagt etwa der slowakische Außen -minister Miroslav Lajčák. „Sie verhindernnicht, dass rücksichtslose Schmuggler ihreschmutzigen Geschäfte mit dem mensch-lichen Leiden weitermachen.“Juncker fehlt es in der Flüchtlingsfragenicht an gutem Willen, das bescheinigenihm sogar seine Gegner. Doch ob er esschafft, den Mitgliedsländern die nötigenKompromisse abzuhandeln, ist ungewiss.Nicht zuletzt, weil das Problem beständiggrößer wird.

    Die für humanitäre Hilfe zuständige Ge-neraldirektion der Kommission präsentier-te unlängst eine neue Schätzung zur Ent-wicklung der Zahl der Syrien-Flüchtlinge.Erwartete Zunahme bis Ende des Jahres:ein bis zwei Millionen Menschen.

    Sven Becker, Ann-Katrin Müller, Peter Müller, Maximilian Popp, Jan Puhl, Christoph Schult

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    EU-Kommissionschef Juncker„Das ist zum Kotzen“

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    F O T O : C H R I S T I A N T H I E L

    SPIEGEL:Frau Nahles, in diesen Wochen hatsich die Bundeskanzlerin beim Besuch ei-nes Flüchtlingsheims fotografieren lassen,genauso der Wirtschaftsminister, der In-nenminister und der Gesundheitsminister.Warum haben Sie noch keines besucht?Nahles: Sie täuschen sich. Selbstverständ-lich habe ich schon vor Monaten ein Flücht-lingsheim besucht – und zwar das Aufnah-melager in Trier, in dem es so eng ist, dassdie Betten auf dem Gang standen. Nur hatdas kaum einen interessiert, weil alle ge-dacht haben, die Arbeitsministerin hättemit dem Thema nichts zu tun. Das ist na-türlich ein Irrtum, weil Flüchtlinge, wennihr Aufenthaltsstatus geklärt ist, bestmög-lich in den Arbeitsmarkt integriert werdenmüssen oder Hartz-IV-Leistungen erhalten.SPIEGEL:Mit ihren Besuchen wollten die Po-litiker ein Zeichen setzen gegen ausländer-feindliche Übergriffe, die es nicht zuletztin den neuen Bundesländern gab. HabenSie dafür eine Erklärung?Nahles: Es handelt sich zunehmend um or-ganisierten Fremdenhass. Das haben wirschon mit Pegida erlebt: Da fahren Men-schen in Bussen durchs Land und machenStunk. Das ist beschämend. Dagegen müs-

    sen wir klar Stellung beziehen. Es ist un-sere Pflicht und Schuldigkeit zu zeigen,dass Integration funktionieren kann.SPIEGEL:Das wird nicht leicht bei einem Zu-strom von voraussichtlich 800000 Flücht-lingen in diesem Jahr. Ist das zu schaffen?Nahles: Gleich, wie viele es am Ende genausein werden: Die Menschen, die sich oft ausBürgerkriegen und über große Distanzenzu uns gerettet haben, sind bei allen akutenProblemen auch ein großer Gewinn. Nichtzuletzt angesichts des demografischen Wan-dels ist die Zuwanderung ein Segen, auchwenn sie derzeit ungeplant verläuft.SPIEGEL:Vorausgesetzt, die Zuwanderer fin-den Arbeit. Wie viele der Flüchtlinge, diedauerhaft hier bleiben werden, haben dieChance auf einen Job?Nahles: Alle, die wollen. Aber das wird dau-ern, so realistisch muss man sein. VieleFlüchtlinge werden für längere Zeit aufdie Vermittler der Bundesagentur für Ar-beit und die Leistungen der Grundsiche-rung angewiesen sein. Mein Ziel ist es,möglichst viele von ihnen schnell in Lohnund Brot zu bringen. Das ist ein ehrgeizi-ges Ziel, das den Mitarbeitern der Agen-turen den Schweiß auf die Stirn treibt, aberes ist zu schaffen.SPIEGEL:Im Umkehrschluss bedeutet das,dass viele Zuwanderer erst einmal die Ar-

    beitslosenzahlen erhöhen dürften. Dasschmälert Ihre Bilanz als Ministerin.Nahles: Erstens wäre das angesichts der dra-matischen Lage eine sehr bösartige Bewer-tung, und zweitens wäre es mir egal. Hierkommen Menschen zu uns, die eine fürsie selbst und ihre Kinder lebensgefähr-liche Flucht hinter sich haben. Wenn ichnicht alles in meiner Macht Stehende tunwürde, um ihnen zu helfen, dann würdeich mich schämen. Es wird sich auf die Sta-tistik niederschlagen, das ist sicher, aberwir haben derzeit mit rund 600000 diehöchste Zahl an offenen Arbeitsstellen, diees jemals in Deutschland gab. Das ist schoneinmal eine sehr gute Ausgangslage.SPIEGEL:Lässt sich denn jeder Flüchtling soeinfach vermitteln?

    Nahles: Nahezu alle Flüchtlinge eint, dasssie motiviert, leistungswillig und voller Ta-tendrang sind. Wir wissen aber definitivzu wenig über ihren Bildungsstand. Nachden ersten Erfahrungen müssen wir sagen:Der vielbeschriebene syrische Arzt istnicht der Standardflüchtling. Viele habenin ihrer Heimat einen Beruf gelernt. Abersie besitzen keine formale Qualifikationmit dem Stempel einer deutschen Hand-werkskammer. Und viele haben nur einegeringe oder gar keine Ausbildung.SPIEGEL:Wie kann es gelingen, diese Men-schen in den Arbeitsmarkt zu integrieren?Nahles: Wir haben kürzlich eines unsererModellprojekte ausgewertet. Dabei hat sichgezeigt: Von 850 Flüchtlingen konnten wirlediglich 65 direkt ohne weitere Maßnah-men vermitteln, 13 davon in Ausbildung.Oft ist der Erwerb von Sprachkenntnissenerst mal das Wichtigste, und dann die Qua-lifikationsangebote. Das ist eine riesige Auf-gabe. Genau hier werden wir ansetzen. Wir

    Ministerin Nahles: „Das treibt den Mitarbeitern den Schweiß auf die Stirn“

    „Zuwanderung ist ein Segen“Beschäftigung Sozialministerin Andrea Nahles, 45, will den deutschen Arbeitsmarktfür Migranten vom Westbalkan öffnen.

    Animation:Die Akte Nahles

    spiegel.de/sp372015nahlesoder in der App DER SPIEGEL

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    wollen bis zum nächsten Januar dafür sorgen, dass die Mitarbeiter der Arbeits-agenturen bundesweit in die Erstaufnah-men gehen, um sich ein Bild vom Qualifi-kationsprofil der Flüchtlinge zu machen.Das sogenannte Early-Intervention-Pro-gramm läuft bereits in neun Städten, und

    jetzt werden wir es bundesweit ausrollen.SPIEGEL:Die Jobcenter sind doch schon heu-te überlastet, es fehlt an Geld, Personalund Räumen. Wie wollen Sie das schaffen?Nahles: Ich bin da nicht so skeptisch. SeitMonaten schult die Bundesagentur ihr Per-sonal, zugleich müssen wir zusätzliche Leu-te an Bord nehmen, vor allem erst malDolmetscher. Bei den berufsbezogenenSprachkursen rechne ich mit einer Ver-dopplung der Plätze für das kommendeJahr auf dann 100000. Dafür versuche ichgerade mehr Mittel zu bekommen.SPIEGEL:Dabei haben Sie ein Problem: Siesind auf Finanzminister Wolfgang Schäub-le angewiesen, der Ihnen ein paar Milliar-den Euro zusätzlich überweisen muss.Nahles: Nach den Gesprächen mit WolfgangSchäuble bin ich sicher, dass die erforder-lichen Mittel auch bereitgestellt werden.Ich rechne damit, dass wir im nächstenJahr etwa bis zu 3,3 Milliarden Euro zu-sätzlich für berufsbezogene Sprachkurse,Eingliederung und passive Leistungen be-nötigen. Das sind geschätzte Werte. Ichweiß nicht, wie viele Flüchtlinge schließ-lich anerkannt werden und wie viele Fa-milienmitglieder später nachziehen.

    rungsgesetz. Durch die Fülle der Regelun-gen blickt heute fast niemand mehr durch.Vor allem müssen wir deutlich machen,dass wir kein Gnadenrecht gewähren, son-dern dass Zuwanderung auch in unseremeigenen Interesse liegt.SPIEGEL:Die meisten Zuwanderer aus Dritt-staaten haben einen Asylantrag gestelltoder sind als Familienangehörige nach-gezogen. Eine große Zahl von ihnen suchtaber eine berufliche Perspektive. Wäre esnicht klüger, ihnen direkt eine Chance zugeben?Nahles: Wir diskutieren gerade, einige Län-der als sichere Drittstaaten zu deklarieren,um die Zahl der Asylbewerber aus diesenStaaten zu begrenzen. Das geht aber nur,wenn wir parallel legale Möglichkeiten zurArbeitsmigration schaffen.SPIEGEL:Was haben Sie vor?Nahles: Es kann nicht sein, dass wir mit Län-dern wie Bosnien-Herzegowina oder Mon-tenegro über die Anwartschaft zur EU-Mit-gliedschaft reden, aber die Menschen ausdiesen Staaten zugleich nur über das Asyl-recht nach Deutschland kommen. Das istder falsche Weg und belastet die Asylver-fahren. Wir müssen ein festes Kontingentvon Arbeitsbewilligungen für die Staats-angehörigen aller sechs Westbalkanstaatenschaffen. Für die Dauer von fünf Jahren soll-ten jährlich insgesamt 20000 Beschäftigtekommen können unabhängig von der Qua-lifikation, um hier zu arbeiten oder eine Aus-bildung aufzunehmen. Das wäre eine Mög-

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    SPIEGEL:Jeder Flüchtling, der Arbeit findet,entlastet den Sozialstaat. Aber er stößt oftauf Hindernisse wie die Vorrangprüfung.Eine Stelle darf er nur dann antreten,wenn sich für den Job kein Bewerber ausDeutschland oder einem anderen EU-Landfindet. Ist das noch zeitgemäß?Nahles: Ich bin nicht dafür, die Vorrangprü-fung grundsätzlich abzuschaffen. Sie hatGründe: Es gibt immer noch 240000 jungeLeute, die nicht ins Arbeitsleben finden,und eine Million Langzeitarbeitslose. Diedürfen wir nicht vergessen. Aber dort, wounnötige Hürden sind, sollten wir die Prü-fung aussetzen. Nach drei Monaten Auf-enthalt kann ich mir eine befristete Aus-setzung der Vorrangprüfung für die Dauervon drei Jahren gut vorstellen. Das setztauch Kapazitäten bei der Bundesagenturfrei für andere drängende Aufgaben.SPIEGEL:Die Vorrangprüfung stammt auseiner Zeit, in der man Zuwanderung be-grenzen wollte. Deutschland ist längst einEinwanderungsland. Ist es nicht Zeit, diePhilosophie der Abschottung zu beenden?Nahles: Ab Mitte der Achtzigerjahre durf-ten Asylbewerber fünf Jahre lang nicht ar-beiten. Das muss man sich mal vorstellen!Seitdem hat das Land Schritt für Schrittanerkannt, dass wir auf Zuwanderung an-gewiesen sind und Arbeit der beste Schlüs-sel für Integration ist. Inzwischen sind wirdas zweitbeliebteste Einwanderungslandder Welt, nach den USA. Wir brauchenein transparentes, logisches Einwande-

    Das Engagement der Deutschenfür die Flüchtlinge ist groß, des-halb mag derzeit kaum ein Politiker über Geld streiten. Doch dieKalkulationen der Finanzministerienvon Bund und Ländern zeigen: Die Ver-sorgung der bis zu 800000 Menschen,die dieses Jahr nach Deutschland kom-men, werden die öffentlichen Haushalteerheblich belasten.

    Konsequenz: Ein zentrales Projekt derUnion, die sogenannte schwarze Null,ist für 2016 gefährdet. In der Klausur -tagung der Unionsfraktionsspitze sprachAngela Merkel von künftigen jährlichenMehrkosten in zweistelliger Milliarden-höhe für die öffentlichen Kassen. Fürden Bund wird ein Großteil im Hausvon Sozialministerin Andrea Nahles an-fallen. Dort kalkuliert man für Kurse

    und Hartz-IV-Leistungen für anerkannteFlüchtlinge mit bis zu 3,3 MilliardenEuro zusätzlich im Jahr 2016.

    Teils entgehen dem Bund durch dieFlüchtlingskrise auch Einnahmen, etwawenn die bundeseigene Immobilien-anstalt Bima Gebäude für Flüchtlingebereitstellt, die sonst vermietet werdenkönnten. Sollte der Bund zudem, wievon den Ländern gefordert, einen Teilder Kosten für die Erstaufnahme derFlüchtlinge übernehmen, stünden weite-re Milliardenausgaben bevor. Damitdas Geld sicher ankommt, würde Berlinden Kommunen die Hilfen am liebstendirekt überweisen, ohne Umweg über dieLänderhaushalte. Dazu wäre eine Grund-gesetzänderung nötig, für die Bundes-innenminister Thomas de Maizièreschon Sympathie gezeigt hat. Doch ohne

    Zustimmung der Länder liefe hier nichts,und der erste Finanzminister kündigtschon Widerstand an: „Das wäre eineGrundgesetzänderung nach Gutsherren-art“, sagt NRW-Finanzminister NorbertWalter-Borjans (SPD), „eine Missach-tung des föderalen Aufbaus der Bundes-republik.“ Der Bund wolle „die Legendeweiterstricken“, dass die Länder dasGeld teilweise für sich behielten. Er sehe

    Bedrohte NullRegierung Die Kosten der Flüchtlingskrise stellen zentraleVorhaben der Union infrage.

    Minister de Maizière, Schäuble„Wir brauchen dann Haushaltsdisziplin“

  • 8/15/2019 Der Spiegel 2015 37

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    lichkeit, den Kreislauf von Einreise und Ab-schiebung zu durchbrechen, der für die Men-schen unterm Strich auch ein Verlustgeschäftist. Viele verkaufen zu Hause alles, kommenhierher und stellen dann erst fest, dass siekeine Chance auf Anerkennung haben.SPIEGEL:Wie wollen Sie sicherstellen, dassdiese Zuwanderer auch einen Job finden?Nahles: Die Bundesagentur für Arbeit muss

    jeweils zustimmen – und es muss ein kon-kreter Arbeits- oder Ausbildungsplatz zuortsüblichen Löhnen vorhanden sein. Dasist wichtig, denn ich habe keine Lust, dasshier ein sogenannter Arbeiterstrich ent-steht, auf dem Menschen ohne Rechte aus-gebeutet werden.SPIEGEL:20000 Arbeitserlaubnisse sind einTropfen auf den heißen Stein. In der erstenJahreshälfte haben fast 100000 Menschenaus dem Westbalkan Asylanträge gestellt.Nahles: Es geht um 20000 Beschäftigte proJahr. Da sind die Familienmitglieder nichteingerechnet, die oft nachziehen. Wennman diese Menschen mitzählt, wären dasbei dieser Kontingentlösung deutlich mehrMenschen, die aus dem Westbalkan zu unskommen könnten.SPIEGEL:Am Sonntag tagt der Koalitions-ausschuss. Bundesinnenminister Thomasde Maizière will Leistungen für Asylbe-werber künftig teilweise nicht mehr in bar,sondern per Gutschein auszahlen. Muss ermit Widerspruch der SPD rechnen?Nahles: Das ist derzeit nicht die dringends-te Frage. In einer zentralen Aufnahme -

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    einrichtung, wo Flüchtlinge in den ersten Monaten versorgt werden, kann ich mirdas vielleicht noch vorstellen. Aber sobaldsie in die Kommunen ziehen, ist das wederumsetzbar noch akzeptabel. Es ist eine Frage der Würde, dass diese Menschenein selbstbestimmtes Leben führen kön-nen. Außerdem gibt es im Detail immergroße Probleme: Man bekommt einLunchpaket, ist aber gegen Äpfel aller-gisch. Was dann?SPIEGEL:Kaum ein Thema bewegt die Men-schen derzeit so sehr wie die Flüchtlings-frage. Das gilt auch für die Politik. Hat IhrParteivorsitzender Sigmar Gabriel dabeibislang eine überzeugende Rolle gespielt?Nahles: Ja, die Regierung insgesamt hat bis-her gute Arbeit geleistet. Wir sollten ge-meinsam vor allem eine Botschaft ausstrah-len: Wir schaffen das! Das gelingt uns nur,wenn wir nicht darauf schauen, welcherMinister vielleicht schneller reagiert hatals der andere. Die Bürger haben eine Re-gierung verdient, die jetzt nicht anfängt,einen vorgezogenen Wahlkampf zu führen.

    Interview: Markus Dettmer, Cornelia Schmergal

    Lesen Sie weiter zum ThemaSeite 44: Die Hintergründe des Brandanschlags im niedersächsischen Salzhemmendorf Seite 52: Der Streit um die Abschiebung abgelehnter AsylbewerberSeite 58: SPIEGEL-Redakteur Juan Morenoüber die Deutschen und ihre Zuwanderer

    nicht ein, so Walter-Borjans, dass Län-der und Kommunen die Folgen internationaler Krisen wie in Syrien zutragen hätten, während sich „derBund seiner schwarzen Null im Haus-halt rühmt“.

    Damit ist das Problem benannt, dasin der Koalition bald zu Konflikten führen könnte: Die Flüchtlingskrise ge-fährdet den Sparkurs von Bundes -finanzminister Wolfgang Schäuble. Erwill auch 2016 einen ausgeglichenenHaushalt halten. Zwar sei die schwarzeNull nicht gefährdet, beteuert dieBundesregierung. Doch im CDU-Prä-sidium stellte Schäuble klar: Alle müssten wissen, „dass wir dann Haus-haltsdisziplin brauchen“.

    Was Schäuble darunter versteht,zeigte sich diese Woche. Der Ressort-chef will das Geld, das nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil zumBetreuungsgeld frei wird, teils fürdie anschwellenden Hartz-IV-Kostenverwenden. Familienministerin Ma-nuela Schwesig (SPD) will die Mittelaber in Kitas stecken. Noch schwimmtSchäuble zwar im Geld. Bis Jahresende

    rechnet er mit einem Überschuss von5,7 Milliarden Euro. Eigentlich müssteer damit Schulden tilgen, so schreibtes die Bundeshaushaltsordnung vor.Doch Schäuble trifft schon Vorkehrun-gen für den Fall, dass die Kosten derFlüchtlingskrise demnächst noch stär-ker steigen. Der Überschuss soll dannals Puffer dienen.

    Um die Gelder für 2016 nutzbar zumachen, will Schäuble sie in einen neuen Fonds einstellen oder eine Rück-lage bilden. Dafür ist ein Nachtrags-haushalt nötig. Diese Pläne deutete erbei der Haushaltsklausur der Fraktio-nen von Union und SPD Anfang derWoche an. Der Plan hat Folgen: DerBund könnte Ende 2015 anders als vor-gesehen seinen Schuldenberg nicht weiter abbauen. Damit wäre der Spiel-raum für Steuersenkungen dahin, heißtes im Ministerium.

    Mit anderen Worten: Die Pläne derUnion, die kalte Progression zu be -seitigen und den Solidaritätszuschlagzu senken, rücken in weite Ferne.

    Melanie Amann, Ralf Neukirch,Christian Reiermann

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