Der Urs run des Motett's.116 Wilhelm Meyer, L. Et dixit qui sodebat in throno, V.in superna...

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Aus den Nachrichten der K. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-historische Klasse. 1898. Heft 2. Der Urs p run g des Mot ett's. VorHiufige Bemerkungen von Wilhclnl Jlcycr aus Speyer. Vorgelegt am 14. April 1898. Zu den dunkeln Gebieten der Musikgeschiohto gehört der mehr- stimmige Gesang des Mittelalters. Ein wichtiger Theil jener mehr- stimmigen Gesänge waren die Motette. Das Merkmal eines Motett's ist der sogenannte Tenor: eine Stimme sang eine Melodie, welcher in den Handschriften einzelne Silben, 'Wörter oder kurze Phrasen (Go Ta Adiutorium Aedificabo Ad nutum Et gaudebit) unterge- schrieben sind ; gleichzeitig wurde entweder ein Liedtext von 1 oder von 2 oder von 3 Stimmen in 1 oder 2 oder 3 verschiedenen Melodieen gesungen, oder es wurden gleichzeitig zu jenem Tenor noch 2 oder 3 verschiedene Liedtexte von 2 oder 3 verschiedenen Stimmen und nach verschiedenen Melodieen gesungen, so daß also die verschiedenen Texte nur von je einer Stimme gesungen wurden. Von den verschiedenen Arten der mehrstimmigen Gesänge des Mittelalters ist das I1Iotett am meisten erforscht (vgl, Cousse- maker's L'Art harmonique aux xrr' et xnr' siscles 1865), und dennoch ist in Wahrheit auch über das Motett unser Wissen noch sehr unsicher. Nicht einmal, woher der_Tenor kommt und was er ist, steht fest, geschweige das Uebrige. Bei der Untersuchung der Formen der lateinischen Dichtung des l\Iittelalters haben die lateinischen Motettentexte mir solche Schwierigkeiten bereitet, daß ich vor ihnen Halt machte und auf die Hilfe eines Andern hoffte (Ludus de Antichristo in Münchner Sitzungsber. 1882 S. 181). Jetzt hat die Bamberger Motettenhand- schrift mich nicht nur zu den palaeographischen Untersuchungen veranlaßt , welche ich in der Abhandlung 'Die Buchstabenverbin- Kgl. Gee. d. W. Nachrichten. Philolog.-hiolor. Kl.....e 1808. DC!.2. 8

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Aus den Nachrichten der K. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen.Philologisch-historische Klasse. 1898. Heft 2.

Der Urs p run g des Mot e tt's.

VorHiufige Bemerkungenvon

Wilhclnl Jlcycr aus Speyer.

Vorgelegt am 14. April 1898.

Zu den dunkeln Gebieten der Musikgeschiohto gehört der mehr-stimmige Gesang des Mittelalters. Ein wichtiger Theil jener mehr-stimmigen Gesänge waren die Motette. Das Merkmal eines Motett'sist der sogenannte Tenor: eine Stimme sang eine Melodie, welcherin den Handschriften einzelne Silben, 'Wörter oder kurze Phrasen(Go Ta Adiutorium Aedificabo Ad nutum Et gaudebit) unterge-schrieben sind ; gleichzeitig wurde entweder ein Liedtext von 1oder von 2 oder von 3 Stimmen in 1 oder 2 oder 3 verschiedenenMelodieen gesungen, oder es wurden gleichzeitig zu jenem Tenornoch 2 oder 3 verschiedene Liedtexte von 2 oder 3 verschiedenenStimmen und nach verschiedenen Melodieen gesungen, so daß alsodie verschiedenen Texte nur von je einer Stimme gesungen wurden.Von den verschiedenen Arten der mehrstimmigen Gesänge desMittelalters ist das I1Iotett am meisten erforscht (vgl, Cousse-maker's L'Art harmonique aux xrr' et xnr' siscles 1865), unddennoch ist in Wahrheit auch über das Motett unser Wissen nochsehr unsicher. Nicht einmal, woher der_Tenor kommt und waser ist, steht fest, geschweige das Uebrige.

Bei der Untersuchung der Formen der lateinischen Dichtungdes l\Iittelalters haben die lateinischen Motettentexte mir solcheSchwierigkeiten bereitet, daß ich vor ihnen Halt machte und aufdie Hilfe eines Andern hoffte (Ludus de Antichristo in MünchnerSitzungsber. 1882 S. 181). Jetzt hat die Bamberger Motettenhand-schrift mich nicht nur zu den palaeographischen Untersuchungenveranlaßt , welche ich in der Abhandlung 'Die Buchstabenverbin-Kgl. Gee. d. W. Nachrichten. Philolog.-hiolor. Kl.....e 1808. DC!. 2. 8

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114 W iI hel ID Me y e t,

dungen der sogenannten gothischen Schrift' (Göttinger Gesellschaftder Wissenschaften 18(7) veröffentlicht habe, sondern sie hat michgezwungen, die Aufgabe, deren Lösung ich von Andorn gehoffthatte, selbst anzufassen. _Die Mühen der Untersuchung waren fürmich, der ich zwar gern singen höre, aber selbst von MusikNichts verstehe, ungewöhnlich groß; doch glaube ich, die Auf-gabe im Wesentlichen gelöst und den Ursprung und das Wesendes mittelalterlichen l\lotett's erkannt zu haben. Die Sachverstän-digen werden vielleicht von hier aus die umliegenden Gebiete dermittelalterlichen Musik besser erkennen können. Jedenfalls aberwerden neue Räume des Wunderbaues der mittelalterlichen Kunst-formen erhellt und zwar gerade jene wichtigen, in welchenSänger und Dichter gemeinsam unübertroffene Kunstwerke ge-schaffen haben.

Es scheint mir ntitzlich , zunächst ohne Besprechung der bis-herigen Ansichten die Grundziige meiner Ansichten schon jetztzu veröffentlichen, mit dem Vorbehalt sie später im Einzelnen aus-zuführen , zuzusetzen oder wegzunehmen, und mit der Bitte, daßvon Handschriften einschlägigen Inhalts, besonders von mehrstim-mig componirten Antiphonen und ähnlichen liturgischen Stücken,mir l\Iittheilung gegeben werde.

Der Gottesdienst der byzantinischen Kirche im 9. und 10. Jahr-hundert war sehr umfangreich und entfaltete eine überwältigendePracht und Schönheit. Priesen die Himmelskörper und die un-zähligen Engelsehnaren his herab zum Gethier dieser Erde lautden Ruhm Gottes, so fühlten auch die Menschen sich verpflichtet,nach besten Kräften mitzuthun, Dasselbe Streben erfaßte im9. Jahrhundert die lateinische Kirche. Da die überlieferte lateini-sche Liturgie nur bescheidenen Raum bot, so ging in der latei-nischen Kirche des Abendlandes, besonders Deutschlands, dannnoch mehr Frankreichs, ein mächtiger Zug dahin, die got t e s-dienstlichen Fa rm en zu erwei tel' n und zu vers c h ö-ne r n. Schon in der griechischen Kirche spielten hiebei Dicht-kunst und Gesang die Hauptrolle, ja diese kirchlichen Gesängefüllen, wie ich schon früher bemerkt habe, eine Lücke in unsererKenntniß der byzantinischen Literatur: sie ersetzten den Byzan-tinern die lyrische Poesie.

Auch der lateinische Gottesdienst wurde hauptsächlich durch-Zusätze des Gesanges u~d der Dichtkunst erweitert. ReichenStoff für die <Erkenntniß dieser Sache bietet Lean Gautier , Hi-stoire de la poesie liturgique an moyen age, I 1886. Schon früh

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der Ursprung des Mctett's. 115

wurde z. B. der einfache Psalmvers (8, 3) Ex ore infantium, dens,et lactentium perfecisti laudem propter inimicos tuos entwederdurch hochrhetorische Zusätze durchbrochen, wie: Ex ore infan-tium, dens, fecisti luudare 1l0mCII tuum et Iactentium perfecisti lau-dem. Triumpliautcs de Loste cipcreo florem aetcruac virginitatis cos incoelcsii glorie, susecpisti propter inimicos tUOSj oder er wurdedurch eingeschaltete Verse über den Kindermord ver ziert, WIe

Pangitc iam, pueri, Laudes etpromite Christo.Ex ore infantium, deus,

Naic dci clcmens, parconnn suscipe Laudes.Et lactentium perfecisti laudem,

Qui tibi iani uaii certoruni sanquine PUI'O.Propter inimicos tuos.

So wurden später die Lectionen aus der Bibel, ja sogar die Ge-bete, wie Pater noster, Credo u. s. w. mit gesungenen rhetori-schen Phrasen oder Verszeilen durchbrechen. Eine Handschriftaus dem Ende des 12. Jahrhunderts bietet mir gerade folgendenText, welcher, mit Ausnahme der Ueberschrift IN DEDICATIONE,durchaus mit Nenmen versehen ist:Ad decus ccclesic recitatur hodieLectio libri Apocalipsis Iolunmis aposioli (lectio = 21,2-5).V(ersus) Cui reoelata sunt secreta cclcstia.In diebus illis V(f'I'SllS) Talis diciuitus ostcnsa est cisio.Villi civitatem sanctum Ierusalern novam,l~ que cousirultur in cdis eicis ex lapidibus.L(eetio) Descendentem de celo, Y. nuptiali tlutlamo.L. Adeo paratarn sicnt sponsam ornatam viro suo

V. super soleni splendidum,L. Et audivi vocem magnam, V. nuntiantem nova gal/dia.L. De throno dicentem : V. Yelli ostendtun tibi.L. Ecce tabernaculum dei cum hominibus.V. Et all Cl/m cenicnt onnics gentes et dicent : Gloria tibi domine,L. Et habitavit cum eis V. 1!l111e ct ill evuIJI.L. Et ipsi populus eius eruntV. olllncs dei gratia, quos amortc ,'cdemit IJCrpetua.L. Et ipse deus cum eis erit corum deus,V. qui moderatur clwcta creata.L. Et absterget deus omnem lacrimam ab oculis eorum,TZ quohlm ,/On sol [UlW, SttZ CM·isllls vera est lucerna.L. Et mors ultra non erit,' V. 'lvi cum beatis gloriamur,L. neque luctus neque clamor, V. sed celi IJrcmia lJcrpetua;L. neque dolor erit ultra, que prima abierunt. V. I11Sti {lorcvunt.

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116 Wilhelm Meyer,

L. Et dixit qui sodebat in throno, V. in superna maiestutis arce:L. Ecce nova facio omnia.V. Divilla procidentia

per sacnt 1JI,1/steriaIn einer Handschrift des

soncti spiritus gratiarenovantur omnia.

13. Jahrhunderts lese ich eben:Pater noster: Audi domino lnnnnun: et oraiionem. tciuct coucint n-tium. Qui es in celis: In oltissimis. super celorum. Sancti-ficetur: Glorificetur in nohi». ad te suspirantibus. Nomen tuum:(Juoniam nomen iibi. novum quocl os domini nominaoii, Adveniat :Veloeuer. et prestolasnur cernui. Regnum tuum: In quo assiduc[elices leianiur, cum exultatione portantes, ·1I1anipulos suos u. s. w.Oder Credo in deum: Confessione [undatus. Confessione uet'e fidei.Patrem omnipotentem: Celum ierramque reqentem .. potenti virtute.Creator em celi et terre: Qui solo SC1"1Jlonefecit omnia. Et inle sum Christum: Quem propheie predicaoeruni, agnum esse ventu-rum u. s. w.

Diese 'versiculi ante, inter vel post ecclesiasticos cantns ap-positi' und ähnliche Neuerungen beschäftigten die kühnen undkunstreichen Sänger und Dichter seit dem 9. Jahrhundert. DasLob Gottesbei Tag und Nacht zu verkiinden, war die höchsteAufgabe der Menschen; so wurden die Sänger außerordentlichgeübt und Theorie wie Praxis des Gesanges und der Musik ent-wickelten sich rasch. Allen andern europäischen Orten gingin diesem kühnen, neuartigen Schaffen S t. Gall en voran, dessenRuf als Sänger- und Dichtersitz deßhalb bald Europa erfiillte.Dort hat Tutilo sehr früh, vielleicht als Erster den Tropi, dengesungenen Erweiterungen der Liturgie, besondern Eifer gewid-met, dort hat sein Freund N otker jene Neuerung geschaffen, welchenach meiner Ansicht nicht nur die Formen', sondern auch denGeist der mittelalterlichen Dichtung von Grund aus verändert unddiese auf jene 'Vege geführt hat, auf denen sie die Höhen derSchönheit erreicht hat. Die Erweiterung Notker's bestand darin,daß er den langen und schwer zu behaltenden Coloraturen einzelnerSilben des Alleluia Texte unterlegte, begeisterte Loblieder in hoch-rhetorischer Sprache zum Preis dessen, an dessen Fest die be-treffende'Melodie gesungen wurde. Diese Texte wurden den Colo-raturen des Alleluia angeschmiegt, so daß jede Note eine Silbeerhielt .. Jene Coloraturen aber.waren frei musikalische Schöpfungenneuerer Zeiten; mit dcmAlterthum und den altlateinischen Klas-sikern hatten sie Nichts ~u thun. Hatte die ganze Bildung derKarolingerzeit <an den altenlateinischen .Vorbildern geklebt, solernten jetzt die Dichter zunächst, daß sie schöne Lieder schaffen

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könnten in Formen, von denen die berühmten Alten keine Ahnunggehabt hatten. Sie übten die neue Kunst mit frommer Freude,und dem Wagen in den Formen folgte' bald auch das Wagen imGeiste. Dieser neue '\Vagemuth strömte bald nach Frankreich underfüllte dort die Menschen mit l\Iacht. Fortan bis ins 14. Jahr-hundert wetteiferten Deutsche und Franzosen in der Pflege desGesangs und der Dichtung. Die Völker aber, welche die Sequenzen-dichtung gering achteten, blieben Jahrhunderte lang in Musikund Dichtkunst zurück.

Die Franzosen hatten die Sequenzendichtung mit Beecisteruneb , 0

aufgenommen, ja bald dieselbe eifriger gepflegt als die Deutschen.Ihnen scheint auch der Ruhm zu gebühren, eine andere Erwei-terung und Verschönerung des Gottesdienstes, den mehrstimmigenGesang, erfunden und längere Zeit allein gepflegt und ausgebildetzu haben.

C!lIehrstimmig componirte Antiphonen). In Frank-reich und insbesondere in Paris ist im 12. Jahrhundert eine grö-ßere Zahl von kurzen kirchlichen Gesängen, ich nenne sie Anti-phonen, mehrstimmig componirt worden. Zuerst wird meistensder Anfang des vorangehenden Satzes notirt , dann folgt der Ge-sang selbst und oft ist noch der Anfang des folgenden Gesangesbeigegeben. Die Sammlung war so geordnet, daß die wenigen 4 stim-migen Compositionen zuerst standen, wie 'Viderunt omnes. N otumfecit dominus salutare suum. ante conspectum gentium revelavit.Viderunt omnes' oder 'Sederunt. Adiuva me domine deus meus.salvum me fac propter misericordiam. Sederunt'; dann folgtenzahlreiche 3 stimmige Compositionen wie 'Alleluia. Dies sanctifi-cat us illuxit nobis. venite gentes et aderate dominum, quia hodiedescendit lux magna', oder 'Exiit sermo. Sed sic volo eum ma-nere donee veniarn'; endlich sehr zahlreiche 2 stimmige, wie 'Iu-dea et Ierusalem. Constantes estote. videbitis auxilium dominisuper vos. Gloria patri et filio et spiritui sancto' oder 'Descen-dit de celis. Tanquam sponsus dominus procedens de thalamo suo.Gloria patri et filio et spiritui sancto'.

Die seit alten Zeiten überlieferte Melodie dieser Antiphonen(die Unterstimme oder die erste Stimme möchte ich sie nennen)war ebenfalls schon in alter Zeit durch Coloraturen auf einzelnenSilben verschönert worden; vgl. besonders Paleographie musicaleBand I und IV, in deren Einleitungen, besonders unter Repons-Graduels, diese Gesänge verzeichnet sind. Zu dieser alten Melodiefügten die Componisten des 12. Jahrhunderts zunächst eine 2.Stimme,oder eine 2. und eine 3. Stimme oder, freilich selten, eine

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118 Wilbelm Meyer,

2. und 3. und 4. Stimme. In Mensuralnoten war je. eine Stimmeauf je 5 Linien (mitunter auf 4 oder 6 Linien) geschrieben; ich.möchte diese neu zugesetzten Stimmen von der untersten altenaufwärts gehend als 2., 3. und 4. zählen und sie die Oberstimmennennen. Diese Oberstimmen sind kunstreicher als die alte Unter-stimme , und zählen also mehr Noten; doch folgen sie natürlichganz der alten l\Ielodie und folgen ihr durchaus auch in den Co-Ioraturen, welche sie oft noch reicher gestalten.

Diese Bereicherung des Gottesdienstes, d. h. der mehrstimmigeGesang jener Antiphonen, gefiel in Frankreich außerordentlich,und jene Antiphonen wurden von den Vorständen der französi-schen Kirchenchöre um die Wette mit kunstreichen Oberstimmenversehen, Wenn nun z. B. fill' Hec dies. Confdemini domino quo-niani bonus quoniam in seculum. Hec dies 10 verschiedene Compo-sitionen zu 2 oder 3 oder 4 Stimmen vorhanden waren, wie sollteman dann die sämmtlichen Compositionen von den mehreren Hun-dort Antiphonen zum Gebrauch der Chorvorstände zusammen-schreiben? Wollte man jede componirte Antiphone so oft ganzschreiben als verschiedene Compositionen vorhanden waren, so gmgder Umfang der Sammlung ins Ungeheuerliche.

(D i e Ton ar i end erA n tip h 0 n en c 0 I 0 rat ure n). Diemittelalterlichen Praktiker fanden einen einfachen Weg. Die Ver-schiedenheit und der Werth der verschiedenen Compositionen lagnicht in den einfach dahin laufenden Theilen derselben, wo mei-stens auf eine Silbe nur eine Note fiel, sondern in jenen Ver-zierungen, wo auf einen Vokal vielleicht 60 und mehr Noten ent-fielen. Diese Coloraturen waren die Glanzpunkte, die Bravour-stellen der verschiedenen Compositionen ; ja, mir ist wahrschein-lieh, daß in der Zeit der eifrigsten Kunstübung viele Componistenüberhaupt nur diese 2-4 Glanzpunkte der einzelnen Antiphonenneu componirten, die übrigen Theile aber bei Seite ließen.

Deßhalb begniigte man sich damit, nur diese Coloraturen inihren verschiedenen Compositionen aufzuzeichnen. Dazu hätte esgcniigt, nur den Vokal a oder e oder i oder 0 oder u mit densämmtlichen Noten der verschiedenen Stimmen aufzuzeichnen:allein dan~ wäre eine heillose Verwirrung entstanden. Denn jeneColoraturen gehen in die Hunderte, die Vokale sind aber nur 5.Deßhalb schrieb man in jenen Verzeichnissen unter die Coloraturennicht nur den colorirten- Vokal, sondern mindestens eineganze

I

Silbe wie Go Ta, meistens ein Wort wie Ileqna! Descemlcntilms,oft eine Phrase' wie Hec dieS, Domino quoniam , In seculum, So

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der Ursprung des Motett's. 119fand man in jenen Tonarien rasch sich zurecht und konnte leichtmerken, zu welcher Antiphon jede Coloratur gehörte.'

Dazu kam noch eine andere Hilfe. In den wenigen mir bisjetzt bekannten Handschriften dieser Sammlung stehen zuerst dieTexte der Antiphonen, jede Antiphon einmal in vollständigemTexte mit einer vollständigen Composition, selten zweimal alsomit 2 verschiedenen vollständigen Compositionen, geschrieben.Hinter dieser :nrasse der Antiphonentexte folgt der Tonarius flirdieselbe Stimmenzahl. Hier stehen (bis zu 10) verschiedene Corn-positionen von einzelnen Silben oder 'Wörtern; diese ausgeschnit-tenen Coloraburen folgen sich in derselben Ordnung wie vorher dieAntiphonentexte selbst. Wenn man da hinter einander Compo-sitionen liest von Le LlI Deus Tum Captivam d« Ta, so ist mannur so lange in Unsicherheit, aus welchen Antiphonen diese Colo-raturen ausgeschnitten sind, bis man die Antiphon findet 'Allcluya.Ascenriens Christus in altulIl eaptiuam duxit captivilatem dedit dona.Alleluya'. Ebenso klar ist die Zugehörigkeit, wenn man solchesich folgenden ausgeschuittenen Coloratursilben vorn in Antiphonenfindet, welche in derselben Reihenfolge stehen. So kann manz. B. selbst von den Silben Ta TaM Tafem Te Tcbor Tes Tim TiriTor;' Tos Tunt Tus die Zugehörigkeit zu dieser oder jener Anti-phon bestimmen. Der mittelalterliche Chordirigent fand also indiesem Tonar für häufig gebrauchte Antiphonen oft 10 und mehrverschiedene mehrstimmige Compositionen der darin vorkommen-den Coloraturen und konnte nun nach Bedürfniß und Personalver-hältnissen diese oder jene wählen.

Diese mehrstimmigen Compositionen waren das Erzeugniß derreinsten Freude am Gesang, und. die Componisten besaßen eineganz ungewöhnliche Uebung .. Demnach dürfen wir, bis zu siche-rem Beweise des Gegentheils, annehmen, daß der Formensinn desl\Iittelalters, wie in der Dichtung, so auch in diesen mehrstim-migen Gesängen sich bewährt hat und daß diese Gesänge wohlzusammen geklungen haben. Soweit haben hier die Sänger ge-holfen.

(Der Ursprung des 1\Iotett's). Die Antiphonen, welchedie französischen Sänger des 12. Jahrhunderts mehrstimmig setzten,enthielten wenige Worte, und doch war ihr Vortrag ziemlich aus-gedehnt, da in jeder Antiphon 2 bis 4 Vokale mit langen Colora-turen belegt waren. Aus der Liturgie des Ostersonntags, welchewir in der Paläographie musicale I S. 76 und IV S. 207 aus2 Handschriften in St. Gallen photographirt sehen, sind in dieSammlung der mehrstimmig componirten Liturgie aufgenommen

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120 Wilhelm Meyer,

die Sätze: Hec dies. Confitemini domino quoniam bonus quoniamin seculum. Hec dies. Alleluya. Pascha nostrum immolatus est.Allelnya. Alleluya. Epulemur in azimis sinceritatis. Allein schonin dem kleinen Mittelsatze Pascha nostrum immolaius est findenwir sowohl in der einstimmigen alten Composition der St. GallenerHandschriften wie in unserer mehrstimmigen Composition die Silbestrullt und noch mehr die Silbe la reich figurirt und im Tonal'finden wir für Nostrum manche, für Latus viele mehrstimmigenCompositionen verzeichnet.

Da kam ein Franzose des 12. Jahrhunderts auf den Gedanken,das Lob Gottes könne reicher gepriesen werden, wenn man diesemehrstimmigen Coloraturen über den Vokalen u oder a so ver-wcrthc , daß zwar die Unterstimme ihre alte Weise mit steter'Wiederholung des Vokals u oder a sänge, daß aber inzwischendie Oberstimmen zu ihren neu geschaffenen Tonweisen statt deseinzigen u oder a verschiedene andere Silben, d. h. einen vollstän-digen neu gedichtetenLiedtext sängen. Zu den bereits vorhan-denen mehrstimmig eomponirten Oberstimmen dieser Coloraturenwurden also nachträglich Texte gedichtet, und so wurde das 1\1a-t e t t eine Form der Dichtkunst.' Bald geschah der weitereSchritt: waren die neu zugesetzten Oberstimmen 2 oder 3, sowurde oft für jede derselben ein besonderer Text gedichtet undgesungen. In den Handschriften sind die verschiedenen Motetten-texte mit ihren Melodien entweder in verschiedenen Spalten pa-rallel neben einander oder einer nach dem andern geschrieben;im ersten Falle stehen die parallelen Stücke des Tenor in derdurchlaufenden untersten Reihe der Spalten, im zweiten Fallestehen die sämmtlichen Noten des Tenor am Schlusse aller Texte;bei den Noten des Tenor steht die Silbe oder das 'Vart, welchessie kenntlich macht.

(Eigenthümlichkeiten _der Motetten). Die Fran-zosen folgten in diesen Erweiterungen und Verschönerungen desgottesdienstlichen Gesangs dem Vorbild Notker's. Natürlich riefendie ähnlichen Verhältnisse der Entstehung auch ähnliche Eigen-schaften der Sequenzen und der l\Iotette hervor.

Da die den Sequenzen unterlegten Texte das Auswendiglernende~ Melodie erleichtern sollten, so hatte Notker's Lehrer, Iso,mit Recht verlangt, daß in den Sequenzen nicht wiederum neue,wenn auch kleinere, Colorat~ren vorkommen sollten, sondern daßauf jede Note eine Silbe fiele.; Im 12. Jahrhundert war allerdingsdie Kunst dosBingens mehr/entwickelt und, wenn von mehrerenunter sich verschieden modulirten Oberstimmen nur ein gemein-

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der Ursprung des Motett's. 121samer Text gesungen wurde, so war unvermeidlich, daß bisweilennoch kleine Coloraturen vorkamen, allein im Großen und Ganzensehen wir auch in der Composition der Motetten, besonders wennauf jede Stimme ein besonderer Text fiel, Color a tu ren m ö g-Iich s t ver m i e den.

Dann ergeben sich aus dem Ursprunge der Motetten wichtigeFolgerungen für die Motettentexte , vor Allem für die For men,in welchen diese Texte verfaßt sind. Die 'Wörter sind ja nichtnach dem Gehör uud Gefühl des Dichters frei gefiigt, sondern siemiissen mühsam einer gegebenen Melodie angeschmiegt werden.Diese Melodie kann freilich für die öftere Anwendung der gleichenZeilen, wie zu 7 u-, 8 - u oder 8 u- oder 10 u-, ja sie kann sogarhie und da für die 'Wiederholung der gleichen Zellengruppe d. h.für Strophenbildung günstig sein, allein öfter wird sie das nichtsein und wird für ihre nach rein musikalischen Wohlklangsge-setzen erfundenen Tonfolgen meistens solche Silbengruppen ver-langen, daß die Anwendung der jeweiligen Modeformen der Dicht-kunst oder gar die Durchführung regelmäßiger Strophen unmög-lich wird. Es entstehen d i thy ram bi s eh e For men, welcheden sonstigen Modeformen der Zeit fern stehen. Wie das einstbei den Sequenzen Notker's der Fall war, so später bei vielenMotetten, So habe' ich endlich eine mich befriedigende Lösungdes Räthsels gefunden, das mich lange beunruhigt hatte.

(Gleicher Reim aller Zeilen). Da diese Dichtungenvon den Oberstimmen gesungen wurden, während die Unterstimme(Tenor) immer ein und denselben Vokal erschallen ließ, so kamenviele dieser Dichter, welchen die Consonantia ja heilig war, leichtdazu, alle Schlüsse ihrer Kurzzeilen, welche mit den Pausen derMelodie zusammenfielen, mit demselben Vokal austönen zu lassen,welchen inzwischen der Tenor unaufhörlich wiederholte. Soschlossen ja auch manche der alten Sequenzen alle ihre Sätze mitdem Vokal des Alleluia (besonders mit a), dessen Modulationensie unterlegt wurden. Allein für die Motettendichter hattediese Rücksicht Verwicklungen zur Folge. In ihrer Zeit (seitetwa 1130) "mußte nemlich jeder anständige lateinische Dichter(und die Motettendichter gehörten zu den feinen und geistreichen)zweisilbigen Reim gebrauchen. Da aber zweisilbiger gleicherReim aller Schlüsse zu übel geklungen hätte, so suchten sie beidenRücksichten auf andere Weise gerecht zu werden. Wie, das magein Beispiel lehren. Von den 3 Gedichten, welche zum TenorDoce-e-e-bit gedichtet sind, bei Dreves, Analeeta hymnica XXIS. 197 und 198, reimt -no. XIX Doceas hac die' viam patrie und

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122 Wilhelm Meyer,

no. XXI Doce nos optime in allen Gliedern die letzte Silbe aufe. Die Reime selbst sind in no. XIX: 4 ie, 2 ane, ere ege egeere, 2 uce, 2 ere, 2 ite, ere, 7 unde , 2 ore; in no. XXI: 3 ime,2 ite, 6 ue, 2 ie, 4 ue. So ist auch der zweisilbige Reim gewahrt.

Endlich ist auch der Inhalt der Motette durch ihre Ent-stehung bedingt. 'Wie am Auferstehungstage keine Weihnachts-sequenzen gesungen wurden, so mußten auch die Motetten zu demTage passen, an dem sie gesungen wurden. Ja, sie sind nochfester verkettet. Die Motette zieren ihre Antiphon, wie dieThi.irme und. Kuppeln den Dom, aus dessen Nasse sie emporragen.Wie aber die Thiirme und Kuppeln in Steinmaterial und Bauartzum übrigen Bau passen, so passen die :l\Iotette zur Antiphon imInhalte; ja sehr oft werden einzelne 'Wörter der Antiphon ingeistreicher Weise in den Motettentext verflochten.

Ein möglichst kurzes Beispiel mag meine Ansicht verdaut-lichen. In dem oben ausgeschriebenen Stiicke der Osterliturgiesangen 3 Stimmen die Silben Pascha 110. Dann sang eine Stimmedie Silbe strum in der altüberlieferten Coloratur, welche vielleichtfür die darüber neu componirten Oberstimmen mehrmals hinter-einander wiederholt wurde (Scriptores ed. Coussemaker I 358:Dicitur Onines secundum quod extrahitur a Viderunt OIllI1CS - Anti-pho.ne - et sic per repetitionem bis vel ter vel pluries - bis zu10 Mal - sufficit quoad tenorem). "\Vährend also die Unterstimme(Tenor) stets den Vokal u sang, sangen die beiden Oberstimmenentweder ein und denselben Text oder jede einen verschiedenen, z. B.

Nostrum est impletum gaudium;per azimum sit animum (fit omnium?) pascha letum.

Leto Ietum est deletum; exulat exilium.Post triduum cessat vacuum tuum mars 'decretum.Amplexatur parvulum, dat osculum,dat anulum pater et vitulum.

o quam dulce ferculum in ara crucis torridum.A quo fluit sapidum cruor (in?) poculum nostrum.

In der Silbe siruni vereinigen sich die 3 Stimmen und singendann alle 3 weiter die Silbeu inuno, Dann singt wieder die eineStimme die Silbe la in der alten Coloratur (Scriptores ell. Cousse-maker I 328: latus quod accipitur in antiphone Lnunolatus est Chri-stus), ein Mal oder mehrere.Hale, während die beiden Oberstimmenentweder zusammen-einen' Text singen oder jede einen besondern,wie z. B.

Homo quam sit puramihi de te cnra

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der Ursprung des Motett's, 123prout (probe ?Dre1:es) probaut plura:Dolor et pressura,verberum tritura,lancee fixura;

Vinctus in cat enanulla victus penapotns in lagenamyrrha felle plena.

Cesa gena omnis venasanguine cruenta.Stupens hec tormenta

condolet natura iveli fit scissura,solis lux obscura;

patent monumenta,dum sum immolatus.

Die Endsilben latus est singen wieder die 3 Stimmen gemein-sam, dann noch Christus. Damit ist die Antiphone zu Ende.

Reim und Inhalt passen hier gut zusammen. Die \V 0 r t eseI b s t treffen in vielen andcm Fällen enger zusammen. Z. B.wurde in der Antiphon 'Iustus germinabit sicut lilium et fiorebitin aeternum' zu der Culoratur der Silbe re von den 2 andernStimmen gesungen:Ecclesie vox hodie

subsidiaFidelium

virtutibussollempnia

et laudibusius t us (iusti?) recenseat.

obtineat.sicut !ilium devotio ge r m in et,

se proprio scrutinio examinet,Spem caritas nutriat,

quam firmitas fidei muniat.sollemnitas domino sic placeat,

floreat in aeternum.(D i e \Ve i t ere n t w i c k lu n g des 1\10 t e tt's). Dies ist

nach meiner Ansicht der Ursprung des l\lotett's gewesen. 1\Ianblieb nicht bei diesen Anfängen stehen. Einst waren kaum 100Jahre verflossen, seitdem Notker mit schweren frommen Textendie ersten Sequenzen zu bauen versucht hatte, da wurden schon

. am Hofe der Ottone und ihrer nächsten Nachfolger Damen undHerrn mit fein gebauten Sequenzen unterhalten, in welchen histo-rische Stoffe, Schnurren und Liigenmärchen, wie das Schneekind,dargestellt waren. Die Franzosen des 12. Jahrhunderts warenvon ganz anderem Kunsteifer erfiillt und nutzten eine solcheNeuerung, wie die l\Iotettenform war, eifrig aus.

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124 Wilhelm Meyer,

Die Gelegenheit war ja zu verlockend. Dichten war die.höchste Freude jener Zeit; aber ein Lied ohne Melodie wirktenicht viel, ein Lied mit feiner kunstreicher Form und 1\Ielodiegalt sehr viel. Die oben genannten Ton a r i en enthielten eineFülle kunstreicher Melodien ohne Worte. Ein begeisterter Dichterdurfte nur dahinein sehen und konnte leicht eine passende mehr-stimmige oder einstimmige Melodie finden, welcher er die ihn ge-rade erfüllenden Gefühle in Worten anschmiegen konnte. Hattedas Lied keinen Zusammenhang mit der Antiphon, aus welcherdie Coloratur ausgeschnitten war, so fand sich, wenn der Inhaltkirchlich war, im Gottesdienst leicht eine Stelle, wo es wie soviele andere eingeschoben werden konnte; war der Inhalt welt-lich, so bot sich außerhalb der Kirche in dem sangesfreudigenTreiben jener Zeit leicht eine passende Verwendung.

Das oben gedruckte 1\lotett Ilonio quam sit }Jura ist als 1\10-tett zur Osterantiphone gedichtet und paßt dazu. Offenbar istnach der Melodie derselben Oberstimme das folgende Weilmachts-lied gedichtet, das bei Dreves Analeeta hymnica XX 185 mitschlechtem Text und verquickt mit einem ganz andern Liede ge-druckt ist:

Stupeat naturafracta sua iura

virgine fecunda.Omnis creaturasua pro mensurahac in genitura

iubili iocundavota placitura

lingua det facundalaude non obscura.

Psallat plebs gratulabundacommuni censura.Sit hec nobis curalenis et non dura

voce letabunda.nam sine iacturaparit parens pura

virgo manens munda.Also durchaus derselbe Bau: 17 Zeilen zu 6 -u und nach der 10.Zeile eine. ~~ile zu 8 - ':1-- dem Tenor La-n-a-tus entsprechendreimt jede' Zeile auf a, daneben aber reimen noch die vorletztenßHben. Aber der Inhalt von Mariae unbefleckter Empfängniß

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der Ursprung des Moteu's, 125paßt durchaus nicht zur Osterantiphon. Es ist eiu selbständigesLied, das an Weihnachten oder an einem Marientag gesungenwerden konnte.

Rasch bemächtigten sich der neuen Liedform die altfranzösi-schen Dichter. Hunderte von l\Iotetten in alt fr an z ö si s ch e rSprache sind uns in verschiedenen Handschriften ~ besonders. inder berühmten Handschrift H 196 in· Montpellier erhalten, undGaston Raynaud's Recueil de Motets Francais des xn8 et xnr'sieeles (Bibliotheque Francalse du moyen age, 2 Bände H~83) istnoch lange nicht vollständig.

Hiebei tritt eine merkwürdige Beschränkung des Inhalts her-vor. Die lateinischen Motettentexte sind zumeist fromm kirch-liehe; sonst greifen sie in ernsten Worten die verdorbenen Sitten,insbesondere der Geistlichkeit, an; historische oder gar heitereStoffe habe ich bis jetzt in lateinischen Motetten noch nicht be-handelt gefunden. Dagegen die Motette in altfranzösischer Sprachebehandeln so gut wie nie ernste Gegenstände; sie besingen nursinnliche Freuden und fast immer die Freuden und Leiden derLiebe, oft in sehr derben Ausdrücken. Betrachten wir diese Ent-wicklung, so ist zunächst erfreulich, daß bei diesem KunstwerkeComponist und Dichter get ren n t e Per son e n waren. Hätteein Componist auch so schwierige Texte, ein Dichter auch sokunstvolle Compositionen schaffen sollen, so wäre in der Regelder eine Theil zu kurz gekommen. So aber konnte in Jedemdas Beste geleistet werden, und zwar zuerst vom Componisten,dann vom Dichter. Für den Musiker war kein Unterschiedzwischen den Coloraturen der Antiphon und dem l\lotett. Eswaren dieselben Melodien; das eine Mal hörte er in der Antiphon'Christus resurgens ex mortuis iam non moritur; mors illi ultra'. etc. in mors den Vokal 0 von 4 Stimmen in verschiedenen langenModulationen gesungen; das andere Mal hörte er genau dieselbenModulationen, nur andere Vokale: die eine Stimme sang stets 0,

die 3 andern sangen verschiedene Texte; der 1. begann 1I10rs mOI'SU,

der 2. Blors que siinuilo , der 3. Mors a primi parentis. Hattedieser 4 stimmige Gesang früher ohne Worte wohl zusammen ge-klungen, so mußte er jetzt mit Worten es auch thun.

Wollte man behaupten, bei dem gleichzeitigen Vor-t rag von 3 oder, den Tenorvokal mitgerechnet, von 4 Textensei ein Verständniß der einzelnen Texte fast unmöglich oder sehrschwierig gewesen, so könnte ich aus dem Sinne des l\littelaltersantworten, wie der ganze Gottesdienst, so sei auch dieser 1\10-tettengesang eben nicht für die Menschen, sondern für Gott be-

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12ß . Wilhelm Ml'yer,

stimmt gewesen; wenn der allgegenwärtige und allweise Gottgleichzeitig die Musik der Sphaeren, die Loblieder der unzähligenEngelsehaaren und aller Geschöpfe I wenn er die Gebete und Ge-sänge aus Tausenden von Kirchen vernehmen und würdigen konnte,so brauchte auch ein Sängerchor sich nicht zu sorgen, ob Gott 3und mehr gleichzeitig gesungene Texte vernähme; ihr Verdienstwar um so höher, je schöner und kunstreicher , ja je mühevollerihr eigener Gesang war. Doch solche Erwägungen braucht esnicht j was manche neuern Componisten thun durften, das durftendie mittelalterlichen auch.

Aber allerdings ist damit ein Hau p tm e r k ID a 1 des Motettsberübrt. Abgesehen von verwandten, unbedeutenden Arten wiedem Rondell (Rädel), gab es keine andere Art von Gedichten, beideren Vortrag mehrere Texte (denn auch der Vokal des Tenorkann als ein Text gelten) zu gleicher Zeit gesungen wurden.Das andere Hauptmerkmal dieser Motettentexte bestand darin,daß, ob nun 1 Text von einer oder von mehreren Stimmen ge-sungen wurde oder mehrere Texte von verschiedenen Stimmen,stets ein Ten 0 r seinen lang gezogenen Vokal dazu ertönen ließwie eine begleitende Orgel.

Diese 2 Merkmale schieden die Motetten im Vortrag scharfvon allen andern Arten von Gedichten. Sollte vielleicht deßhalhihr· Vortrag nur auf bestimmte Fälle beschränkt gewesen sein?,und sollte damit vielleicht die Beschränkung des Inhaltes in dennicht kirchlichen lateinischen wie französischen Motetten zusammenhängen? Diese Eigenschaften der 1\Iotette sind aber durch andereUmstände bewirkt, nicht durch die Mehrstimmigkeit der Compo-sition. Denn es gab auch mehrstimmig componirte Texte ohneTenor.

(Andere me hrs timmige Comp 0 s itio n en). Wirhaben bis jetzt nur ein enges Gebiet von mehrstimmigen Compo-sitionen kennen gelernt: die kirchlichen Antiphonen und dieihnen nachgebildeten Motetten; hier ist zu der alten überlieferteneinstimmigen Melodie der .Antiphone von den französischen Mei-stern des 12. und 13. Jahrhunderts eine 2. oder eine 2. und 3.oder eine 2. und 3. und 4. Stimme gefiigt worden. Sollten diesekühnen, zu Neuerungen so/geneigten Meister die mehrstimmigeComposition nicht weiter-verwendet haben? Es wurden ja schonin der Kirch% so viele /andere Liedarten gesungen, Hymnen, Se-quenzen, Leiche. \Vie einfach war es, über deren überlieferterMelodie eine 2. oder 3. und 4. Stimme aufzubauen. Und warum

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der Ursprung des Motett's. 127

sollten sie nicht gewagt haben, einen noch nicht componirten Textmit mehrstimmigen l\Ielodien zu versehen? Oder sollte ein mehr-stimmiger Gesang ohne den Halt eines Tenor oder eines denTenor vertretenden Instrumentes ihnen unmöglich geschienen haben?

Die Antwort lautet: ja, sie haben das gewagt. Allein dieEinzelheiten sind noch sehr wenig erforscht und sehr dunkel.

Wenig lehren die mittelalterlichen 1\1 u s i k the 0 r e ti k er.Die für nns wichtigsten sind bei Coussemaker, Scriptores de mu-sica medii aevi, 4 Bände 1864-1876, zu finden. Hauptsächlich einAbschnitt kommt hier in Betracht. Er rührt wohl von Francoher (Scriptores I 130 mid 132; s. H. Bellermann in Festschrift.. des Grauen Klosters, Berlin 1874, S. 401), findet sich aber beiSimon Tunstede (Script. IV 294) in etwas klarerer und gut über-lieferter Fassung, während bei Johannes de Muris (Script. Ir 395).nnr ein Stück (nach Franco) und bei dem Anonymus (Script, HI361) derselbe Text wie bei Tunstede, aber in schlechter Ueber-lieferung steht.

Es handelt sich hier zunächst um den oder die Texte (litera,literae) bei mehrstimmiger Composition (discantus). Aut discan-tus fit cum litera aut sin e. Si cum litera, hoc dupliciter: autcum ea dem litera discantus fit, ut in cantilenis rondellis et incantu aliquo ecclesiastico; aut cum d i vers is literis fit discantus,ut in motetis qui habent triplum cum tenore, in qui bus tenoraequipollet litere (unklar; Franco: qui babent triplum vel teno-rem, quia tenor cuidam literae aequipollet; vielleicht ist vel du-pluiu quiet zu schreiben). Cum litera quippe et sin e litera fitdiscantus, ut (ut fehlt bei Eranco) in conductis et in discantu ali-quo ecclesiastico, qui proprie (improprie Franco lind Jolt, de JJluris)organum appellatur.

Et nota quod in his omnibus idem est modus operandi (d. It.bei der mehrstim1lligen COlJljJosition), excepto in conductis: Quia inomnibus aliis primo accipitur cantus aliquis prius factus (secun-dum aliquem modorum mensuratus setzen Tunsiede und der Anol/Y-11WS ZIl), qui tenor dicitur , eo quod discantum tenet, et ab ipsotenore ortum habet discantus. 'In eo n d u et i s vero non sic, sedfiunt ab eodem (d. h. discautore : Tunsiede "at n 111' eo) cantus etdiscantus. Unde aliter operandum est in illis quam in aliis canti-lenis. Qui igitur vult conductum face re , prime cantum inveniredebet pulchriorem quam poterit, deinde uti debet illo pro tenore,super quem fiet discantus. '

Diese Lehre bietet manche Aufklärung, aber auch mancheSchwierigkeit. Es werden 2 Gattungen mehrstimmiger Compo-

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128 Wilhelm Meyer,

sitionen geschieden. Bei der ersten Gattung liegt eine vorhervon einem Andern geschaffene Melodie vor (T e nor), zu welcherder moderne Künstler eine 2. oder noch mehr Oberstimmen füzt :o ,der Art sind unsere mehrstimmig componirten Antiphonen unddie zu ihnen gehörigen Motetten , deren Unterstimme die uralteAntiphonenmelodie bildet; dann die cantilenae, d. h. wohl, be-kannte Lieder, zu deren alt- und allbekannter einstimmiger Me~lodie die modernen Meister Oberstimmen gefügt haben. Für diemehrstimmige Composition der andern Gattung liegt keinerleiHaltmelodie vor, sondern die sämmtlichen 2 oder mehr Stimmenmüssen erst erfunden werden." .

Ein anderer Unterschied wird gemacht in Hinsicht auf dieTex te (literae). Cum diversis literis sind die Motette, auch dieduplices, welche nur aus dem Tenor und einer Stimme mit Textbestehen, da der stets wiederholte Tenorvokal als Text gezähltwird. Nur einen Text (eandem literam) haben die mehrstimmigencantilenae, rondelli und cantus aliquis ecclesiasticus: das sind alsounsere mehrstimmig componirten Antiphonen und die älteren"Lieder, cantilenae, zu deren alter Melodie eine oder mehrere neueStimmen gefügt sind.

Was aber soll es hei~en, daß von den Conducti gesagt wird,sie seien cum litera et sine litera? "Wenn z. B. über einemTexte 2 verschiedene Stimmen standen und die Unterstimme wareine altbekannte l\Ielodie, so hieß das Ganze cantilena, wenn aberauch die Unterstimme neu erfunden war, conductus, Was will dader Ausdruck, der Conductus sei 'cum litera et sine litera', be-sagen? Was ist aber überhaupt ein Conductus sine litera, wennsogar die bloße Wiederholung desselben Vokals im Tenor als li-tera, als ein Text, gezählt wird? Als Genosse des Conductuswird genannt 'disoantus aliquis ecclesiasticus, qui improprie (soFranco und Joluunies de Bluris , proprie Tunstede und der Anony-mus) organum appellatur' : allein auch das Wesen dieses Organumbleibt dunkel (vg!. Script. I 354).

Sollte hinter 'sine litera' die InstrUI~entalstimme stecken?, soll-ten die Praktiker in Handschriften, welche für die Sänger bestimmtwaren,' diese anders klingende Stimme nicht eingeschrieben unddie Theoretiker bei ihren Bezeichnungen duplex, triplex, quadru-plex zwar den Tenor als Stimme mitgezählt haben, aber" nicht dieInstrumentalstimme ? -..----Dann hätte es zunächst einen Sinn, daßunter den mehrstimmigen Compositionen conducti simplices vor-kommen (1- Gesangstimme/ und Instrumentalstimme ); ferner wärebegreiflich, daß zwar sonst oft von motetus quadruplex die Rede"

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der Ursprung des Motett's. 129ist, daß aber der Anonymus Script. I 350 die triplices und du-plices conducti ohne Anstand erwähnt, dagegen die quadruplicesmit dem zweifelnden Zusatz 'si fuerint': es hätte dann mit den 4Singstimmen im Ganzen eigentlich 5 Stimmen gegeben, eine Zahl,die in der alten Zeit gemieden wurde. Ist wirklich hinter 'sinelitera' eine Instrumentalstimme versteckt, dann ergäben sich fol-gende Gattungen mehrstimmiger Compositionen: 1) sine littera et cumlittera, entweder conducti = Instrumentalstimme + 1 Singstimme(simplex), + 2 Singstimmen (duplex), + 3 Singstimmen (triplex),+ 4 Singstimmen (quadruplex; es gibt einige), oder jener discan-tus ecclesiasticus, qui organum appellatur, 2) cum littera, wobei. die Unterstimme stets eine ältere, jetzt als Tenor benützte Melo-die ist; diese Gattung zerfällt in mehrere Arten: a) cumeadem littera, mit einem alten Text: wobei zur alten Melodie ent-weder 1 neue Singstimme gefügt ist (duplex), oder 2 neue Sing-stimmen (triplex), oder 3 (quadruplex}; die Texte' und alten 1\ie-lodien sind entweder die kirchlichen Antiphonen (cantus aliquisecclesiasticus) oder alte Lieder (cantilenae); b) cum diversisliteris, mit mehreren Texten: die Motetten, deren Unterstimme dieNoten der alten Antiphoncoloratur mit einem stets wiederholtenVokal enthält, während darüber entweder 1 Text mit 1 Stimme(duplex) oder mit 2 Stimmen (triplex) zugefügt ist oder 2 Textemit 2 Stimmen (triplex) oder 3 Texte mit 3 Stimmen (quadruplex).Darnach freilich hätte es keine Lieder gegeben, welche nur von2, 3 oder 4 neu componirten Gesangsstimmen , ohne eine frühereMelodie in der Unterstimme oder ohne Instrumentalbegleitung, vor-getragen wurden. .

Diese Annahme bat manches Bedenkliche. Aber das ist sicher,daB die Conducti eine wichtige Gattung der mebrstimmigenCompositionen waren. Um so unangenehmer ist, daß die Theore-tiker sonst nur \Veniges und Unklares darüber sagen: Script. I247 Waltor Odington : Conducti sunt compositi ex plicabilibus can-ticis decoris cognitis vel inventis et in diversis modis ac punctisiteratis in eodem tono vel' in diversis ; Script. I 115 Iohannes deGarlandia: In florificatione vocis fit color ut commixtio in conduc-tis simplicibus. .

(S a mml u ngen von me h rstimmigen Composi t ionen).Die angeführten Sätze der alten Theoretiker lehren Manches,Vieles lassen sie dunkel. Wenden wir uns von der Theorie zurPr a xis, so gibt es Viel zu lernen. Die Untersuchung überdie mehrstimmige Musik ist leider vom verkehrten Ende ausge-gangen. Coussemaker hatte zuerst hauptsächlich etliche mehr-KgI. Gee. d. Wies. Na~hricht.Jn. PhiloIog.-histor. Klasse 1898. Het.2. 9

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130 Wilhelm Me y e r,

stimmig eomponirten Lieder untersucht; dann fand er die be-rühmte Handschrift in lIIontpellier H 196, welche fast nur 2, 3oder 4 stimmige Motetten mit lateinischen oder altfranzösischenTexten, also hauptsächlich die Ausläufer der alten Kunst, enthält.Wiederum reizten ihn die französischen Lieder mehr als die latei-nischen; die wenigen Reste der mehrstimmig eomponirten liturgi-schen Texte ließ er hier, wie sonst, bei Seite. Nicht bessermachten es seine Nachfolger.

Aber wer im l\1ittelalter klar sehen will, muß stets von Ia-t e in is ch e n und kirchlichen Texten und Einrichtungen aus-gehen. Das ist auch hier der Fall. Der über die Geschichtedes mehrstimmigen Gesangs vortrefflich unterrichtete und weitblickende Anonymus bei Coussemaker Script. I 327-364 berichtetuns (besonders S. 342 und S. 3GO) von einem s t a I'ken Ban d emehrstimmiger Compositionen, welcher lange im Chorvon Notre-Dame in Paris gehraucht wurde. Der Grundstock, einmagnus lib er organi (d. h. wohl dupla) de gradali et antiphonario,war von dem alten Meister Leo ni n us zur Erweiterung undVerschönerung des Gottesdienstes (pro servitio divino multipli-cando) geschaffen. Aber das Hauptverdienst hatte der berühmteMeister Per r o, tin u s (magnus); er hatte des Leoninus lib er or-gani gekürzt und verbessert, dann prächtige quadrupla wie Vide-nod und Sederunt und tripla wie Allelui« Posui udiutoriuiu , alsoAntiphonen, hinzugefiigt; ebenso hatte er hinzu componirt Con-ducti triplices wie Salcatoris kodic, Conducti duplices wie Dum si-gilt/lIn suumii patris und Conducti simplices wie Bcatu risccra, Diesegroße Sammlung war lange im Gebrauch in choro Ilcate Virginiamaioris ecclesie Parisiensis (Script. I 342).

An der andern Stelle (Script. I 3GO) spricht der gelehrteAnonymus von multiplex numerus voluminum , beschreibt den In-halt von 6 Volumina und deutet den Inhalt anderer an. Die Vo-lumina sind ebenfalls hauptsächlich nach der Zahl der Stimmen ge-ordnet und zweifellos beschreibt der Anonymus hier dieselbe Samm-lung, von der er S; 342 gesprochen hat und welche schon Johan-nes de Garlandia als magnum volumen bezeichnet hatte (Script. I116). Zuerst kommen 2 "olumina mit Quadrupla und Tripla,also Ant iph 0 n en, mit ~(}/viel Tonverzierungen und Schönheitender Melodie, daß 'siquis haberet servitium divinum sub tali forma,haberet optimum volumen istius artis', Dann kommen 2 voluminamit Con d :; c t i, triplices'" und duplices, mit Schlußfiguren (cumcaudis ; diese caudae können nicht, wie sonst meistens, die cau-dae d~r einzelnen Mensuralnoten bedeuten). Diese 4 volumina

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der Ursprung des Motett's. 131gehen wohl in der Hauptsache auf Per rot i n zurück. Das5. Volumen enthielt quadruplices, triplices uud duplices sine cauda,also kunstlosere Compositionen, deren sich hauptsächlich die unge-iibteren Sänger (minores cantores) bedienten. Es waren wohl Anti-phonen 1), nicht Conducti, schon weil unser Anonymus 4 stimmigeConducti nicht kennt. Ob und in wieweit Perrotin an diesenschlichten Compositionen Antheil hatte, ist nicht gesagt. Das6. Volumen enthielt Compositionen deo r g an 0 in du plo ut'Iudea et Ierusalem', also wohl hauptsächlich jenes von Perrotingekürzte und verbesserte magnus Iiber organi de gradali et anti-phonario des Leoninus, d. h. zweistimmig componirte Antiphonen 2).Unter den plura alia volumina werden simplices con duc tu s ge-nannt, wie deren viele auch Perrotin componirt hatte.

Wenn es sich nun um eine Grundlage für Forschungen über·den mehrstimmigen Gesang handelt, welche ist werthvoller, dieseim Centrum des mehrstimmigen Gesangs, in Paris, von dem be-rühmten l\Ieister Perrotin zuerst begründete und im. Chor derpariser Kathedrale lang gebrauchte umfangreiche und mannig-faltige Sammlung, oder die in Montpellier und sonst erhaltenenl\Iotetten? Die Antwort ist selbstverständlich.

Diese werthvollste Sammlung mehrstimmiger Compositionenist nicht verloren, wie man meint, sondern sie ist z i e m lie h v 0 l l-s t ä n dig er haI ten. Ziemlich vollständig glaube ich sie gefundenzu haben in dem sogenannten Antiphonarium l\iediceum, der hilb-sehen im 13. -Iahrhunderb geschriebenen Handschrift der Laurenzianain Elorenz (Plut. 29, 1), dann wenigstens größere Bruchstücke in2 Handschriften in Wolfcnbüttel, besonders in Helmstedt no. 628 ikleinere Stücke sind in dieser und jener Handschrift zu finden .

. Die F'I o r e n t.i n e r Handschrift hatte ich schon 1874untersucht und mir ein Verzeichniß der Liederanfänge angefertigt,

1) Ich dachte daran, oh biemit die Motetten oder ihre im Tonar zusammcu-. gestellten Melodieschablonen gerneint sein könnten. Sie haben natürlich keinecauda: allein gerade die feinsten Sänger mußten sich ihrer beim Absingen derganzen Antiphon am meisten bedienen.

2) Das organum de gradali et anriphonario , organum in duplo wird beiFranco (Scriptt. I lIS) genannt organum proprie sumptum, organum duplum,quod purum organumappellatur; es besteht aus Tenor und einer Stimme mitText. In der Vita Ludwig des Frommen ist also die naturgemäße Entwicklung ein-gehalten 'il fit chanter la messe et tout le service a chant (einstimmig) et a de-chant a orgue [duplum = Jen einstimmigen Tenor, cantus , + eine 2. Stimmediscautus) et a treble (triplum , Tenor + 2 Discantstimmen) , während Perrotiuseine Yolumina so geordnet hat, daß er mit dem Schwierigsten anfing.

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i32 Wilbelm Meyer,

wobei ich fehlende Seitenzahlen in der Handschrift einschrieb. Beimeinen Untersuchungen über die rythmischen lateinischen Dich-Fungsformen hatte ich nur den Text der Gedichte beriicksichtigtund die Handschrift mit ähnlichen zusammengestellt (1882 Ludusde .Antichristo S.181). Dann hat L. Del i sie 1885 (im Annuaire-Bulletin de la Societe de l'Histoire de France) ein Verzeichnißder Liederanfänge gegeben und die historischen Texte abgedrucktund erläutert. 1895 hat D rev es im 20. und 21. Bande seinerAnaleeta hymnica die meisten Lieder abgedruckt, leichtsinnig wieimmer, und die Handschrift beschrieben; während er sonst gernseine Kenntnisse der alten :Musik zeigt, hat er von dem \Verthedieser Handschrift fiir die Geschichte des mehrstimmigen Gesangskeine Ahnung gehabt.

Als ieh 1897 bei Einsicht der \Volfenbiittler HandschriftHelmstedt 628 zuerst die oben dargelegten Ansichten über denUrsprung des Motett's gefaßt hatte, reiste ich nach Florenz unddie abermalige Einsicht der Handschrift überzeugte mich, daß ichnicht irr gegangen war. Da es sehr wichtig wäre, weitere Ab-schriften dieser Sammlung zu finden, deren gewiß noch mancheunter den Namen Antiphonar , Graduale, Missale, Rituale oderähnlichen versteckt sind, und weil die Beschreibung der. Hand-schrift die dunklen Gegenstände dieser Untersuchung etwas klärt,will ich den Inhaltder florentiner Handschrift mit derBeschreibung des Anonymus vergleichen.

Der Hauptunterschied der florentiner Sammlung von jener,welche der Anonymus beschrieben hat, besteht darin, daß in derflorentiner Handschrift zuerst die liturgischen Compositionen bei-sammen steheriBl. 1-184, dann die Lieder (BI. 201-477), unddaß die Lieder sine cauda von den Liedern cum cauda nicht ge-schieden und nicht in ein besonderes Buch geschoben sind.

Auf dem Vorsetzblatt zeigt eine Miniatur in 3 Streifen dieMusica coelestis, humana, instrumentalis.

Bl.1-10 vicrstimmigeCompositionen: Zuerst die 2 Anti-phonen Viderunt und Sederunt, Compositionen des Perrotinus(Script: I 116, 342 und 360), deren colores und pulchritudines derAnonymus rühmt, Sie standen auch im 1. Volumen des Anony-mus und auch Johannes d~Garlandia sah sie in principio magnivoluminis. Hier folgt/noch die 4 stimmige Coloratur 1I101's und3 vierstimmige Lieder Deus miscrtus , 1I11Uldus rCl'gCIlS und Vetusobit, DieseS'Lieder sind/gegen das Ordnungsprinzip hier einge-.schoben, weil es zu wenige sind als daß es sich lohnte, vor BI.201 ein .besonderes Buch daraus zu bilden. Außerdem sind sie

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der Ursprung des Motett's. 133wohl spät zugesetzt j denn es sind Conducti quadruplices: aber derAnonymus (Script. I 350) nennt die conducti quadruplices mitdem Zusatze 'si fuerint', . und in seinen Volumina erwähnt er nurtriplices, duplices, simplices.

BI. 10b-47b enthalten dreistimmige Antiphonen und einigeColoraturen j BI. 47b bricht mit Bene I ab j es fehlen jetzt BI.48-64. Die Sammlung beginnt eigentlich mit BI. 14, dem erstenBlatt der 2. Lage. Nach einer Miniatur folgt Descendit de cells.Tamquam SPOIISIIS dominus procedcns de tluilamo SilO. Gloria, danndas 2. Stück Allclllya Dies sanctificalus. BI. 41-46 stehen einigeColoraturen, dann Iudea et Ier, Constantcs. Dies letztere ist wohlspäterer Zusatz j denn der Anonymus sagt S. 360 'Liulea et ler.et Constauies numquam fit in triple neque potest fieri': hier abersteht es in triplo. Hauptsächlich Nachträge zu dieser Abthei-lung sind die auf dem Schlusse des 1. Volumen BI. 10b-13 ein-getragenen dreistimmigen Coloraturen. Dies ist das 2. Volumendes Anonymus 'de triplicibus maioribus magnis, ut Allcluya Diessanclificetus' etc., wohl in der Hauptsache von Perrotinus compo-nirt, welcher 'fecit tripla nobilissima sicut Alleluya Posui adiuto-rillm, Naticitas etc.' (I 342). Auch an diesem Volumen rühmt derAnonymus die 'colores et pulcritudines cum abundantia', und wieer das Volumen der Quadrupla empfohlen hatte mit den 'rVorten'pro maiore parte totins artis huius habeatis ipsa in usu cumquibusdam similibus' , so empfiehlt er dies Volumen der Tripla 'siquis haberet servitium divinum sub tali forma, haberet optimumvolumen istius artis'. Unter den Antiphonen sind welche aufden h. Dionysius und auf den h. Germanus.

BI. 65 Lagenanfang, :l\Iiniatur: z we ist i m m i g e Antiphonenin 2 Sammlungen. 1) BI. 65 Iiulea et Icrusaleni. Consiauicsu. s. w. Darin enthalten BI. 86-ÜO verschiedene Bencdicamus du-miuo. BI. 92-ü8 sind leer. 2) BI. 99 Lagenanfang , Miniatur.'Vidcruut omncs Roll/m fecit': im Großen nach dem Kirchenjahr ge-ordnet. m. 145b und 146 sind leer.

BI. 147 Lagenanfang, Miniatur. Tonarius: nur Coloraturenmit den betreffenden Silben oder Wörtern, im Großen 2 Auslesen,in ähnlicher Reihenfolge wie die Antiphonen. BI. 184.b endetmitten im Text. Die Blätter 185--200 fehlen jetzt j im Anfangmögen sie eine Fortsetzung des Tonars enthalten haben, dannwar wohl viel Raum leer.

Die Blätter 65-145 (und 147-184*) entsprechen wohl dem6. Volumen des Anonymus 'de organo in duplo, ut Iudca et Ieru-salem et Constantes. Dies ist I wie ich glaube, das Script. I 342

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134 Wilhelm Meyer,

erwähnte 'magnus liber organi de gradali et antiphonario' desLeoninus; 'Perotinus abbreviavit eundem et fecit clausulas sivepuncta plurima meliora'. .

:Mit BI. 201 beginnen die Lie der. BI. 201 ist Lagenanfangund beginnt mit einer Miniatur. Es folgen d rei s tim mi g eLieder bis BI. 254 (BI. 229a ist bei Dreves Analeeta XX 260 fac-similirt); 255 und 256 sind ausgefallen; BIl. 257-262 sind leer.Sie beginnen mit Solootoris hodie und Rele.qentur ab area. Diesist des Anonymus 3. Volumen 'de conductis triplicibus caudas ha-bentibus, sicut Salvatoris hodie et Releqentur ab area, et similia, inquibus continentur puncta finalia organi in fine versuum et inquibusdam non, quos bonus organista perfecte scire tenetur, Vielewaren wohl von Perrotin componirt, der 'fecit triplices conductus,ut Saloatoris hodie', Jedoch scheinen bier auch viele Conductisine cauda eingeschoben zu sein.

BI. 263-374 (380) enthalten z we ist i mmi ge Lieder; dieBIl. 375-380 sind leer. BI. 263 Lagenanfang und Miniatur,dann Freude ceca, Hee est dies u. s. w. Die folgende große Lieder-masse ist 3Mal (BI. 299, 336 und 349) durch Miniaturen unter-brochen; allein dieselben stehen mitten in der Blätterlage undkein äußeres oder inneres Zeichen deutet auf Abtheilungen , undnachher werde ich beweisen, daß BI. 263-313 zusammen gehörenund Conducti enthalten müssen, Dies ist das 4. Volumen desAnonymus 'de duplicibus conductis habentibus caudas, ut At'e Mariaantiquum in duplo (Flor. 284) et Pater nosier commiserans (Flor.278) vel Hac in die rege nato (Flor. 332), in quo continentur nominaplurium conductorum, et similia. Auch von diesen Liedern wirdviele Perrotinus componirt haben, der 'fecit duplices conductussicut Dum sigilluln sununi patris' (steht im Flor. BI. 344 mit außer-ordentlich vielen Verzierungen). Jedoch zeigt schon die Massedieser Lieder, wie beliebt diese Form war: hier war also aucham meisten zuzusetzen. Außerdem scheinen in der florentinerHandschrift auch hier die Conducti sine cauda unter die Conducticum cauda geschoben zu sein.

BI.381 Lagenanfang und Miniatur, dann Adveniam per veniam,Formam hominis u. s. w. Dreistimmige Motetten , doch eine be-sondere Art. Denn die libel' dem Tenor stehenden 2 Stimmenwerden mit dem gleichen ,Text gesungen. BI. 398b endet mittenim Satze, es fehlt also mindestens eine Blätterlage. Solche Mo-tetten erwähnt der Anonynius nicht. .

BI. 399 Lagenanfang und Miniatur, Blen« fidem und Doce nosu. s. w./I?I. 414b bricht mitten im Satze ab, also fehlt mindestens

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der Ursprung des Motett's. 1351 Blätterlage. Es sind 2 stimmige Motetten: Tenor nnd 1 Stimme'mit Text. Der Anonymus erwähnt solche nicht. Es ist cha-rakteristisch, daß in der florentiner Handschrift die 3- und 2 stim-migen 1110 te t ten zwischen die Conducti zu 2 und zu 1 Stimmegestellt sind.

BI. 414 Lagenanfang, Miniatur, ein s tim m i g e Lieder: 1101110

natus all laborcm, Onniie in lacrimas u. s. w., bis BI. 451 oder 462(die Bll. 45P-462 sind leer) j die Seiten 43\.}bund 440a sind beiDelisIe photographirt. Diese reichhaltige Sammlung enthält ge-wiß Conducti simplices. Der Anonymus erwähnt unter pluraalia volumina auch simplices conductus, und Perrotinus 'fecit etiamsimplices conductus cum pluribus aliis sicut Beata viscera (stehtin der Florentiner Handschrift BI. 422).

BI. 463-471 (BI. 47P-476 sind leer): einstimmige Com-positionen. BI. 463 Lagenanfang und Miniatur , dann De paireprincipio , Fclix dies et grata u. s. w., höchst einfache Strophen,deren Melodie durch die Wiederholung der einzelnen Zeilenmelo-dien gebildet wird, z. B. (a) Novum ver oritur, (a) letemur igitur,(a) iam flos egreditur ; (b) cesset tristitia, (a) floralis gaudia (b) datepiphania. Der Anonymus erwähnt solche Lieder nicht besonders.

'Vas diese einstimmigen Compositionen auf den BI!. 415-471mit dem Discant zu thun haben, ist schwer einzusehen, wenn nicht,wie oben S. 128 vermutheb ist, die Angabe, die Conducti würdencum litera et sine litera vorgetragen, auf die Begleitung einerInstrumentalstimme hindeutet.

Von den 470 Blättern der Florentiner Handschrift entfallenalso 145 auf Antiphonen, gegen 40 auf den Tonarius zu den2 stimmigen Antiphonen, über 200 auf Con d u c ti: aber nur 16auf Mot et ten. Die Praxis zeigt also, welch bedeutende Rollein Frankreich 1) die Conducti (Conduis) spielten.

Ein hübscher Beweis für die Beliebtheit der Conducti ist auchder folgende. Der Anonymus beschreibt, wie S. 134 erwähnt, dasVolumen de duplicibus conductis habentibus caudas, ut Ave Moriaantiquum in duplo et Pater nosier conuniserans vel Hac in die regeuaio , in quo continentur nomina plurium conductorum et similia'.'Vas soll dies 'in quo' etc. heißen? Die Antwort ist überraschend.

1) Außcrhalb Frankreichs sind die Spuren selten und deßha Ib sorgfältig zusammeln. So verdient besondere Beachtung die Handschrift in Engelberg no. 314(14. Jahrhundert), in der auch liturgische Sätze, Muteti und Conducti in mehr-stimmigen Compositionen vorkommen .. Gerbcrt's Handschriften von St. Blasiensiud verbrannt j über mehrstimmige Lieder der Mondsee - Wiener Handschrift s.Acta Germanica IV S. 214. Für England vgI. Eady English Harmony, 1897.

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136 Wilhelm Meyer,

Jenes in der Florentiner Handschrift BI. 332 stehende und vonDreves Analeeta hymnica XX 123 gedruckte Lied besteht aus denAn fan g s ver sen einer Reihe anderer Lieder, welche innerhalbder Blätter 263-313 der florentiner Handschrift zu finden sind;also ist entweder nomina in principia , initia u. s. w. zu ändern,oder es hat denselben Sinn gehabt. Jetzt wird zunächst die roheForm jenes Liedes verständlich, dann wird sicher, daß die Blätter263-313 zu einer Abtheilung gehören und daß alle hier stehendenLieder Conducti zu nennen sind. Deutlich erhellt auch, wie be-liebt diese Conducti waren und wie verbreitet gerade diese Samm-lung derselben. Denn Lieder, welche man zu einem solchen lite-rarischen Potpourri verwendet, miisserl fast bis zur Uebersättigung .bekannt sein.

Schon der historische Inhalt vieler Conducti beweist, daß sieauch zu Festcantaten dienten. Sie waren also für die Dichterund noch mehr für die Componisten Bravourstücke, Unter denTex ten dieser Conducti sind ebenso feine zu finden, wie unterdenen der Motetten: es ist ja auch vielfach bezeugt, daß vielederselben von einem so feinen Kopfe wie Philipp de Greve her-rühren , dem 1237 gestorbenen Kanzler der pariser Universität.Allein die Conducti theilen mit der ganzen mittelalterlichen Lite- .ratur den Nachtheil und doch gröl3eren Vortheil, daß nicht alexan-drinische oder römische Schulgelehrte in langer Thätigkeit nurdas scheinbar Beste ausgeschieden haben, sondern daß uns Gutesund Schlechtes durcheinander über liefert ist; ja, da die Conductivielfach Gelegenheitspoesie und Gelegenheitsmusik waren, so sindgerade unter ihnen manche sachlich interessante, aber künstlerischminder werthvolle Stücke überliefert,

Die For men der Texte sind durchaus regelmäßig: es sinddie damals gewöhnlichen Zeilen und Strophenformen. Die Ver-suchung lag ja nah, von einer hübschen Antiphonencoloratur denTenor wegzulassen und die Oberstimmen der Coloratur als Stro-phenschablone zu gebrauchen und dieser Strophe nun noch weitere,gleich gebaute folgen zu lassen: allein es lassen sich nur wenigeTexte zugleich mit Tenor als Motett und ohne Tenor als Con-ductus nachweisen.

Wurden die Motettenmelodien zuerst geschaffen und nachhererst von beliebigen Dichtem". die Motettentexto , so gings bei denConducti umgekehrt zu, Dadurch entstanden aber Schwierigkeiten.Die Dichter. der/damaligen Zeit bauten ihre Gedichte meist aus glei-chen Zeilen" oder Strophen auf; ganz fremdartig waren ihnen Dithy-ramben ähnliche Formen, wo sich von Anfang bis zu Ende stets

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der Ursprung des Motett's, 137neue Zeilenformen, ohne Wiederholung in Strophen, mischten, eineForm, wie nur die MoteHenmelodien sie ihnen oft abzwangen. DenComponisten ist die Composition nur einer oft zu wiederholendenStrophenmelodie eine kleine Aufgabe: eine wiirdige und hohe Auf-gabe ist ihnen, wie der Inhalt des Gedichtes vom Anfang bis zumSchlusse sich entwickelt und stets neue Gedanken bietet, so auchin ihren Tönen sich nicht zu wiederholen , sondern ein einxiccso •sich entwickelndes Tongebäude mit stets neuen Einzelheiten zuschaffen.

So verstehen wir manche Eigenthiimlichkeitcn dieser Co m-pos i t ion en. Hymnen und iilmliche Lieder, welche nnr aus glei-chen Strophen bestehen, haben sie oft auch so componirt, d. h.über der ersten Strophe steht die mehrstimmige Melodie gc-schrieben ; die folgenden Strophen sind ohne ~Ielo(lie an den Itan.lgeschrieben oder ganz weggelassen. Allein öfter suchen sic mehrAbwechslung der Composition zu gewinnen, als die Textformbietet. :Nicht nur wirkliche Sequenzen, sondern uuch aus gleichenStrophen bestehende Gedichte haben sie oft als Sequenzen corn-ponirt, d. h. sie haben über der 1., 3., 5. Strophe eine stets ver-schiedene Melodie geschrieben, haben dagegen die 2., 4., G. Stropheohne Molodie an den Rand geschrieben oder gam:. weggelassen,weil diese Strophen ja. mit der stets vorangehenden Strophe gh·iche:l\Ielodie hatten.

Aber oft hauen sie ein Lied, das ganz aus gleichen Strophenbesteht, durchcomponirt , so daß alle Strophen verschiedene 1\1010-dien haben und das Tonwerk sich stets weiter entwickelt. Viele'I'exte der Conducti sind deßhalb schon von den Dichtem daraufeingerichtet. '" cnn da auch die Modezellen in einfachen Verbin-dungen auftreten, so sind doch die einzelnen Strophen verschieden,und die Componisten sind schon auf diese Weise auf eine fort-schreitende und sich entwickelnde Composition gewiesen.

In diesen Puradestücken der Componisten sind natürlich mei-stens auch Zierrathon, wie kleinere und größere Coloraturon, ver-wendet, besonders im Anfang und noch mehr im Schluß der AI)-sätze. So entstehen ausgedehnte und kunstreiche Tonwerko, welcheeiner umfangreichen Antiphon sarnmt ihren Coloratnren sehr iihn-lieh sehen, und ich würde mich nicht wundern, wenn sieh einmaldie Stimmen eines Conductus als die Oberstimmen einer Antiphoneenthüllten.

Ein Bei s pie 1, wie vdllig gleiche Zeilen und Strophen durchdie Composition verschieden gemacht werden uIHI musikalisch einfortschreitendes Ganze bilden, können schon die Coloraturen des

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vom Meister Perrotirr componirten zweistimmigen Conductus Dumsi!Jillwu geben, welche ich nach Zeilen (Z)- oder Centimeter (c)-länge aus der florentiner Handschrift BI. 314 notire :Dum (1 Z.) sigillum summi pa(31:)tris sig(l/a Z.)natum(2c) ui(l/3 Z.)-

vi( lr)nitussigna(2c)tur humani(3c)tus,in puella frangiturdotrimcntum pati(2 Z.)tur.naca/" Z.)tu(lc)ram dW/3 Z.)-

vinitas,intacta virginitas.mi('/, Z.)ranua sunt (1 Z.) os-

cn(l Z.)la,que dant vires fecundandi sine carnis eopu(21j2Zcilcn)la.Von jenen Conducti, welche nicht aus gleichen Strophen bestehen,wo also schon der Text den Componistcn dazu anleitet, ein ein-ziges, furtlaufendes und sich entwickelndes Kunstwerk zu bilden,will ich 2 bescheidene Beispiele mittheilen, weil diese aus derPariser Handschrift 1513!) (einst St. Victor 813 i vg], CUUi:iSe-maker Histoire S. 25f)) entnommenen Texte vielleicht die Histo-riker interessiren. Sie sind zweistimmig componirt i wiihrend diegleichen Kurzzeilen oder die gleichen Zeilengruppen oft auftreten,sind die Melodien derselben, so viel ich sehe, stets verschieden.

Gau (1 Zeile .Notell)de(l Zeile Noten).Gaude, felix Francia,

speciaIi gaudio!Felix es militia,

felix es et studio (1 cm Notcll).Set preeeIlit omnia

tui regis unctio (1 cm),quam (1 cm) regnans in gloria.qui solus in SOliD

Cu('I" Z.)ius miseratioin misericordiaFeIix. regnum Francie,regibus rex. glorie,

qui tonat in nubibus."oleum letitie

pre suis consorti(1/3 Z.)bus jQuam (1/2'Z.) coronat hodiein misericordie

miseratio(l Z.)nibns.

138 Wilbelm Meyer,

in sigillo summe ma(~/GZ. )trisnee sigilIum castitatisnee sigillum deitatisDum (SI, Z.) humanam oseula(3/-l Z.)tur

ex contactu focundaturmi(li, Z.)ra vir(3c)tus osculan(3c)di,

tiLi donat,regni to(11/2 clIl)nat,

to coro(l/3 Z.)nat.cuius donat

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der Ursprung des Motett's. 139Das andere lautet:

Seys(l Zeile Nolen)ma mendacis Greeievexilla Christi descrunt

et ad fidelis Franciecastitatem se transferunt,

ubi sponsus ecclesiesumendum I) meditatur,

adversus quem non poteruntperfiderum insidie,

quin sponsam tuca(ll/~ Z.)tur.o e/. Z.), cuius imperio

paretur a superisterrenis et inferis,

quanto benificioFrancium proscqueris

pre regnis ceteris.lam ornatn regietobt splendct regie,

cum crueem cum lanccamcum eoronam seyrpcam 2),

que subtrahis Danais miser-is 3),ad ipsarn miseris quodam prcsagio,

arrna, quibus VICel'lS,

cum sub Pontio iudicatus fuc(ll/2 c)l'is.

Quiu sibi volunt talia,Franeorum rex eatholice,quod sis inunetus ecliee,

quod tc ditcnt insigniapassionis dominicc,

quod assnmis et alia?:cum a supremo iudicc

tua pulsantnr hostia,ne nesciat, ad quem refugiat,

exul ecclcsia, que sic opprimitur.En a summo pontifice

vocaris ad subsidia!

1) manendum? Dann Don potcrunt = DOli praevalebunt P, 1IacT, Matth,16, 18 portae inferi non praevalebunt adversus ram.

2) spineam ? Marc. 15,17 und Job. HI,5 coronarn spineaiu ; dazu Mutth.27,2!l uud Job. HI,7 corouam de spinis.

3) que subtrabis miseris Danais?

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140 Wilhelm Meyer,

11Iue confugitur,ubi Christus diligitur.Ex his tibi eonieitur

deberi monarchia ..Von diesen Gedichten ist das 2. wahrscheinlich Ende des Jahres

12-14gedichtet 1), das erste hängt jedenfalls eng damit zusammen:SIe stammen also aus verhältnißmäßig später Zeit.

I) Li benoiez Saint Lays avoit (1239) la eoronne d'espines nostrcseigneur Jhesu- Crist et (etwas später) grant partie de la sainte er 0 i z ou dieufu mis et la I a n c e, de laquele Ii costez nostre Seigneur fu percies .;, pour les-queles reliques il fist fere la Chapele a. Paris; so berichtet der Confesseur de laReine Marguerite in der Vie de S. Louis (vg!. noch WalloD, Saint Louis I 111).Der Anfang 'Vexilla Christi ad Fraueie castitatem se transferunt', ebenso dasPraesens in 'tua pulsantut hostia' und in 'a summo pontifice vocarls ad subsidia'führen sicher auf die Flucht Inuocenz des IV., der vor seinem Todfeind demKaiser Friedrich H. Ende 1214 aus Italien nach Lyon entwich. Uuter dem ersteumächtigen Eindruck dieses Ereignisses scheint dieser Conductus geschrieben zusein. Aus dieser Begeisterung heraus erklärt sich vielleicht der Schluß derkühnen letzten Strophe: 'Ex his tibi couicitur deberi mouarchlu', König warLud wig schon spit IS Jahren: monarchia kann also durchaus nicht regnum he-deuten. Es muß etwas Höheres bezeichuen. Entweder hat Iuaocenz IV. Ludwigdem Frommen die Krone des excommunicirten Friedrich H. angcboten , wovonfreilicü kein Historiker Nachricht gibt , oder unser Dichter hat im Sinne vielerbegeisterter Anhänger des Pabstes Ludwig dem Frommen die Kaiserkrone (mo-narchia = Imperium) gewünscht und prophezeit. So hat das Gedicht einen wür-digen und energischen Schluß. Merkwürdig bleibt, daß ein so scharfer Ausdruckpersönlicher Ansicht mit wichtiger politischer Tendenz von einem zweistimmigeuChore öffentlich dem Könige Ludwig IX. vorgetragen worden ist, welcher 4 Jahrevorher ühulichen Plänen Gregor's IX. in Bezug auf seinen Bruder Rohert ent-gegen getreten war (vgl, EHe Berger, Saint Louis et Inuoceut IV. 1893 S. 4).

. Die Worte quod sis in u net It s eelice deuten auf das er s t e Gedicht, wel-chos am Tage (hodie) der unetio und coronatio des französischen Königs gesungenworden ist. Da fcrner die beiden Gedichte .iu der Handschrift sich folgen, dabeide zweistimmig componirt sind, so möchte man folgern, daß sie nicht nur vondemselben Dichter gedichtet und von demselben Sänger gesetzt sind, sand cm auchdaß sie zeitlich zusammen gehören. Allein Ludwig IX. ist 1226 gesalbt und ge-krönt worden: IS Jahre müßten also zwischen den beiden Gedichten liegen. Unddoch bedenke man wiederum: der Schmerz um den todten König, das Mitgefühlmit dem 12jährigen Nachfolger und seiner Mutter erfüllten 1226 alle Herzen;wie nichtssagend ist da das l. Gedicht; aber das ist wiederum uubegrelflich, dader Dichter offenbar sehr redegewandtIst.

Aus dieser Verlegenheit-führt vielleicht ein Weg. Dr. Schwalm, wel~herdie Ordines für die Krönung der deutschen Kaiser und Könige bearbeitet, wies mich.zu Gcorg Waitz,Deutsche Verfassungsgeschichte VI. Band (2. Aufl. 1896 S.291),wo es heißt 'An den bohen Festen - namentlich Ostern und Pfingsten - oder ein-zeln bei andern besondern Gelegenheiten war es Sitte. daß der König öffentlichmit der Krone erscbien: sie ward ihm, wo er sich aufhielt, in der Kirche wäh-

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der Ursprung des Motett's. 141

Die gegebenen Beispiele von Motetten und Conducti ent-sprechen den Sätzen der mittelalterlichen Lehrschriften über diemehrstimmige Musik. Doch die Erforschung der überliefertenzahlreichen mehrstimmigen Gesänge, welche ja weit wichtiger ist,wird viele Fragen aufwerfen, auf welche jene Lehrschriften keineAntwort enthalten, viele Lehren geben, von denen jene schweigen.Wie natiirlich ist es z. R, verschiedene Theile eines größeren Ge-sanges von einer verschiedenen Stimmenzahl vortragen zulassen! Die mittelalterlichen Theoretiker schweigen gänzlich da-von: allein schon Meister Perrutin hat seinen Conductus 'Sal-vatoris hodie' und, wie es scheint, noch andere Conducti so ge-setzt, daß die erste Hälfte von 3, das Uebrige von 2 Stimmenvorgetragen wird. Ferner steht unter den dreistimmigen Con-ducti des Florentinus (BI. 250) folgender Text:

Beatis nos adhiüe!Jeans vita celiöe,rex celorum domine..ut summo cum agmiee

5 stolis albis candidl

caritate fervidimodulando cantieafide vocum mellicatibi benedicamus,

10 tibi laudis solvamus

rend der Messe von einem Geistlichen, WCllI\ ein Erzbischof zugegen war vondiesem, förmlich aufgesetzt, so in gewissem Sinne der Akt der Kr ö nun gwie cl e rho 1 t. Von Otto I. wird gerühmt, daß er stets vorher gefastet, vonHeinrich Ill., daß er gebeichtet und gebüßt habe, ehe er den Schmuck anlegte' j

dazu werden viele Belegstellen angeführt, unter andern, daß in England am Tage,qua prhnum coronatus est rex, ein besonderer Küuigsfriede herrschte. Dr.Schwalm erklärt auch so, daß solche Ordines in den Pontificalia von Bischöfensich finden, welche gewiß nie die erste Krönung vollziehen durften. Ob die fran-zösischen Historiker Aehnliches schon notirt haben, weiß ich nicht j aber ineinem so frommen Gebrauche blieb Ludwig IX. gewiß nicht zurück.

Von diesem Gesichtspunkte aus sehen wir die beiden Gedichte im richtigenLichte. Nehmen wir an: knrz vor oder nach der schweren Krankheit Ludwigs(im Dezember 1244) an einem hohen Festtage, z. B. am Jahrestage (hoJie) derKrönung Ludwigs, dem 29. November, während man die Ankunft des Pabstes inLyon erwartete (am 2. Dezember traf er in Lyon ein, vgl, Berger S. 32), wurdeLudwig wiederum gesalbt und gekrönt. Währcnd diese Ceremonie in der Kirchean ihm vollzogen wurde, sang der zweistimmige Chor das erste Lied j dazu paßttrefflich der allgemein gehaltene Inhalt des Liedes nnd die darin für Ludwig ge-brauchte 3. Person. Dann ging es zu der feierlichen Tafel: dabei wurde daszweite Lied an den König gerichtet. Gans Frankreich war in Aufregung überdie Nachricht, daß der Pabst in Lyon Zuflucht suche: war der Dichter ei~ sobedeutender Mann wie der 7 Jahre vorher verstorbene Philipp do Greve , sokonnte er es wagen, Ludwig dem IX., dem ueueu Schirmherrn der Kirche, dieKaiserkrone in Aussicht zustellen.

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142 Wilhelm Meyer,

donn cantu placi-io,throne cuius fulgirloastat cum preeonioangelorum contio,

1ij in celesti soliolaudat cum tripudiocurentem principio.quorum nos collegiotua misoratio

20 iungat e vestigioin coli palatio,ne more dispendioseelerum collectionostra sit contritio

donas in convivioanulum cum palliopenitenti .filio

ßO paste in exilioporcorum cibario,pascat cum sollomniovultus tui visioin summo cenobio,

ß;) ubi pari gaudiocum leto consortioeffundamus variocarminis indiciopia sine termino

40 vota cordis intimi2::>in arcto iudicio. ac medullas animi

Sed qui more proprio domin«.Ueber diesem Texte stehen 2 Stimmen; darunter steht 1

Stimme, deren Textsilben gleich lauten mit jenen Silben des obe-ren Textes, welche fett gedruckt sind, und unter welchen siegeschrieben stehen. Das Ganze ist also ein 2 stimmiger, abergleichzeitig gesungener Tropus zum Benedicamus domino; auf dafallen 28· Zeilen, auf die anderen 7 Silben je 2 Zeilen: also liegtauf da eine lange Coloratur.

Mitten unter den Motettcn , welche außer dem Tenor nocheinen 'I'cxt, der von 2 Stimmen gesungen wird, umfassen, stellt inder Horentincr Handschrift folgender Text zu 2 Stimmen, unterdem eine einfachere 3. Stimme geschrieben ist mit einem Texte,dessen Silben ich hinter diejenigen Silben des oberen Textes setze,unter welchen sie in der Handschrift stehen, Man beachte auchhier die künstliche FUgung der Reime:

Ve(ve)ni, doctor previe, Per te fiant cognitespiritus scientie, veritatis semite,dono cuius gratie 15 Spes (spi) et dator premiilaudes sonant sobrie et veri consilii (l'i)

IJ Christo regi glorie, spiritus (illS).qui nutu potentie Re(re)ple sacro flamine (Jlle)clausas transit hodie congrcgatos, domine,portas matris fi1ie.. 20 sub illius nomine,Per hune u::tus adveni (lIi) qui natus de virgine

10 et nos semper preveni, homo fit pro homine,sanc(sane)te sanctis debite (fe) ut mundum a crimineclemens et paraclite. munuo mundet sanguine.

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der Ursprung des Motou's, 14325 Tu (tu) patri, tu filio

compar in imperio( 0),commune solatium,cuius ad auxilium (rum)vota pendent omnium,

30 cor(cor)da sana saueia (da),ut pari concordiasonet oris gloria.Fi(fi)uem da cum opere (de),ne sit vanum credere,

35 ex oliva fidei (li)ut fons fluat olei

fldelium (um).Et tui (1'/ ill) precipuimitis ac perpetui (i)

40 amo(llIIlo)ris vinculoet pacis osculoWenn in diesen 2 Gedichten die Unterstimme Bencdicamus

domino und Vcni sancte spiritus, reple tuerum corda [ulclium ct ante-ris flliilt cis ifJlli'1Il aceende eine alte bcknnntcHelodie hat, aufwelcher als auf einem Tenor die beiden oberen Stimmen mit ihremLiedtext aufgebaut sind, so paßt wenigstens das zweite Gedicht zuden es umgebenden Motetten] nur muß man annehmen, daß mandazu fortgeschritten war, den Tenor statt mit dem Vokal einereinzigen Silbe einer Antiphone auch mit den verschiedenen Silbeneines liingeren Satzes zu singen. Wenn aber die Unterstimmein diesen Compositionen eine neue, eben erst erfundene l\Ielodiehat, also von demselben gesetzt ist, welcher die beiden Über-stimmen dazu gesetzt hat, wenn also jede Art von überliefertemTenor fehlt, dann paßt einigermaßen das 1. Lied zur Reihe der3 stimmigen Conducti , an deren Schluß es steht: jedoch wider-spricht es insofern der Theorie, als diese Composition 2 Textehat, ein Conductus aber nur einen Text haben soll.

Doch gerade in Sachen der Dichtungsformen sind die antikenund mittelalter lichen Lehrschriften ganz besonders liickenhaft jheutzutage steht es freilich nicht besser: wer aus Lehrbücherndie heutige ars poetics der verschiedenen Nationen vom Zeilenbaubis hinauf zu dem Aufbau der Strophen und der ganzen Gedichtekennen lernen wollte, würde nicht weit kommen. Wenn also auchdie mittelalterlichen Theoretiker nichts davon sagen, weßhalbsollten die mittelalterlichen Tonkünstler, welche in den Motettenvon einem- Tenor begleitet sehr oft verschiedene Texte von ver-

astringe sedulo. clerum cum populo,ut tandem querulo

45 transacto scculosit in propatulo,quod mentis oculocernunt in spcculo,Et ne munusculo

50 torpescat emulovis amoris(ris),

in (in) eorum pectore,dum adhuc in corpore(e)brevi manent tempore

55 spc metu, que famulisalimenta sedulis (is),

ignem aceende.

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144 Wilhelm Meyer,

schiedenen Stimmen gleichzeitig singen ließen, nicht auch mehr-stimmige Conducti mit verschiedenen Texten oder, um es so aus-zudrücken, mehrstimmige Motetten ohne Tenor haben singen lassen,wo also 2 oder 3 jugendliche schöne Schwestermelodien, jede voneinem besondern jugendlichen Text begleitet, auftraten, ohne dieBegleitung der alten und wohlbekannten Tenor-Gardedame?

Die mittelalterlichen Künstler waren eben keine Pedanten,sondern so freudig und kühn im Erfinden, wie die Künstler irgend.einer sturmbewegten Zeit. Deßhalb müssen wir darauf gefaßtsein, daß auch bei der Erforschung der Motetten, bei denen nochVieles, und der Conducti, bei denen fast noch Alles zu erforschenist, viele neuen Formen und Eigenschaften entdeckt werden.

Dadurch wird die Geschichte des mittelalterlichen mehrstim-migen Gesanges, dem wir Vieles verdanken , bedeutend geklärtwerden, anderseits wird, und das liegt mir besonders am Herzen,ein sehr wichtiger Theil der herrlichen Kunstschöpfungen desMittelalters, welcher aus dem gemeinsamen Schaffen der Dichterund Sänger hervor gegangen ist, unserm Empfinden und Ver-stehen näher gebracht werden. Fiir solche gewinnreichen Unter-suchungen ist aber fast unentbehrlich die photograpbische Wieder-gabe der florentiner Handschrift oder einer ähnlichen bessern,falls eine solche gefunden werden kann.

Na c h t rag zu S. 122.

Wie der Motettentext in Inhalt und Klang der Antiphon unddem Tenor angepaßt wurde, zu denen er gehörte, so wurden auch'bei den Tripla oder Quadrupla die gleichzeitig gesungenen.2 oder 3 1\10 t e t ten tex t e mehr oder weniger unter sich selbstin U e be rei n s tim m u n g gebracht. Gleicher Inhalt derselbenwar natürlich j aus der ähulichen Melodie ergab sich die gleicheZahl' der Absätze und ein ähnlicher Umfang derselben j' hiezufUgten die Dichter oft noch die gleichen Reime. Hiefiir willich aus der Weihnachtsliturgie zwei Beispiele geben. Die erstenMotetten wurden beider/Antiphon Stirps Iesse. J'il'go dci gcnitrix;virg'J, est flos filillSdlls' Gloria palri de. über der Coloratur vonE-e-e-iu~_gesungen j dc_!/Dichter schwelgt in Wohlklang und manglaubt/' aus dem Klang der Worte den Gesang heraus zu hören.Das folgende Motettenpaar ist ein musikalisch - poetisches Kunst-stück. Jeder Text besteht aus 2 großen Absätzen zu 40 und 41/

Page 33: Der Urs run des Motett's.116 Wilhelm Meyer, L. Et dixit qui sodebat in throno, V.in superna maiestutis arce: L. Ecce nova facio omnia. V.Divilla procidentia per sacnt 1JI,1/steria

der Ursprung des Motett's. 145Silben; der 1. Theil jedes Gedichtes ist gleich dem 2. Theildes andern; Worte und Noten der Schlußzeilen sind gleich; ähn-lieh ist auch die Melodie der wieJerholten Zeile CUll! sit natus;die übrigen sich entsprechenden Zeilen haben wohl gleiche Silben-zahl, aber nicht gleiche Noten. Der ganze Gesang zerfällt alsoin 2 gleiche Theile (a + b und b +a): aber auch der Tenor licedies besteht aus der wiederholten gleichen Melodie (a und a).Eine engere Verkettung zweier verschiedenen Lieder ist kaummöglich.

3. Stimme:Nobili precinitur

vaticiniovirgo, cuius redditur

puerperioIiberatio

homini et rumpiturhostis eau tio.

o toto studio,o toto mentis gaudie

psalle, contio,quia solvitur

Abrahe promissioet homo reducitur

ab exilio!

2. Stimme:Flos de virga nascitur,

sol de radio;radius incenditur

sole previo.In misterio

virge virgo panditur,flos in filio.

o que cornpassio,o quanta miscratio !

pro remedionostro clauditui

fusus matris gremio,qui non circumscribitur

orbis spatio,1. Stimme (Tellor): Eius.

3. Stimme:Ut celesti possimns frni dulcedine,

serviamus illi, qui nos redemit sanguine (27 Silben);3lans et gloria sit regnanti sine fine! (13).

Gum sit natus hodie de cirqine (11)5 lumen de lumine, manens sine crimine (13),scrvi formam dominus sumii pro hominis solantinc (17).

2. Stimme:Cum sit natus hodie de oirqine (11)

Christus mnndi redemptor et lux de lumine (13),servi formam dominus sumit pro hontinis solauiine (17).4 Benigne verbum caro factum est, ut mundo sanguine

mnndnm mundet salvator a crimine (27) i6 Ia us et gloria sit regnan ti sine fine (13).

1. Stimme (Tenor): Hec dies.