Des Lesers Selbstverständnis

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MARTIN WALSER DES LESERS SELBSTVERSTÄNDNIS EIN BERICHT UND EINE BEHAUPTUNG PARERGA 12

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MARTIN WALSER

DES LESERSSELBSTVERSTÄNDNIS

EIN BERICHT UNDEINE BEHAUPTUNG

PARERGA 12

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Walser • Des Lesers Selbstverständnis

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MARTIN WALSER

DES LESERSSELBSTVERSTÄNDNIS

EIN BERICHT UNDEINE BEHAUPTUNG

PARERGA 12

EDITION ISELE

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Als ich, um meine Mutter nicht zu enttäuschen, eine Dissertation schreiben sollte, blieb nichts anderes übrig, als über den Autor zu schreiben, der mich während meiner Studentenjahre gehindert hatte, an- dere Autoren wirklich zu lesen: Franz Kafka. Aber als ich über ihn etwas schreiben wollte, stellte sich heraus, daß ich ihn nicht verstanden hatte. Obwohl ich die drei Romane und die Erzählungen zwei-, drei-, vier- mal gelesen hatte, hätte ich nicht aufschreiben kön- nen, was die »Strafkolonie« bedeute. Die »Verwand- lung« interpretieren, das hieß für mich damals, aussa- gen, ja beweisen, was ein Literaturwerk unter allen Umständen bedeutet. Man war erzogen worden zum Glauben, in einem Literaturwerk sei eine Bedeutung sozusagen verborgen. Die müsse man herausbringen. Inzwischen bin ich Adressat von Schülerpost und erfahre so, daß im Deutschunterricht Schülerinnen und Schüler darin geübt werden, die Bedeutung von Büchern zu entdecken, die ich geschrieben habe. Der Lehrer weiß offenbar die Bedeutung, darf sie aber den Schülern nicht sagen. Ich weiß, meinen die Schüler, die Bedeutung. Findige Schülerinnen oder Schüler rufen mich abends an oder schreiben mir und fragen: Wie haben Sie das und das gemeint? Stimmt es wirklich, wie der Lehrer sagt, daß der Name Klaus Buch ein sprechender Name ist, in dem sich die Bedeutung Klau’ das Buch verbirgt und so weiter. Ich

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antworte dann, daß es nach meiner Erfahrung im Umgang mit Literatur keine privilegierte Bedeutungs- schöpfung gebe, daß vielmehr jede Leserin und jeder Leser ein Naturrecht auf die eigene Empfindung und Leseerfahrung habe. Lehrern gegenüber füge ich hin- zu: Noten könne man ja nicht nur danach geben, wie nah der Schüler der vom Lehrer gehüteten Bedeutung komme, sondern auch danach, wie eine Schülerin und ein Schüler ihre eigene Leseerfahrung zu vermitteln imstande seien. Auch daß Schülerinnen und Schüler mit einem Text gar nichts anfangen können, sage ich dann dazu, sei darstellens- und begründenswert und trainiere mindestens so sehr wie das Suchen und Finden und Darstellen der offenbar ostereihaft ver- steckten Bedeutung. Ich habe als Student die Erfahrung machen müssen, daß mein gewissermaßen naturwüchsiges Lesen nicht bedeutungsorientiert ist, ja für Bedeutungsfindung oder -schöpfung nichts bringt. Ich habe Kafka nicht anders gelesen als Karl May. Ich kann überhaupt nicht auf zweierlei Art lesen. Die Sätze, die ich lese, leben davon, daß sie in mir beantwortet werden. Beantwor- tet durch Erfahrungen, die von diesen gelesenen Sät- zen geweckt, mobilisiert, bewußt gemacht werden. Alles, was ich je erlebt, gesehen, gedacht, gefühlt, geliebt, gehaßt, gefürchtet habe, kann da aufgerufen werden. Vorausgesetzt, ich kann mit dem Buch, das

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ich lese, etwas anfangen. Jeder Leser beantwortet jeden Satz, der da schwarzweiß und dimensionslos auf Pa- pier steht, mit sich selber. Er inszeniert diesen Satz ganz von selber in seiner Vorstellung. Was da in einem vor sich geht, ist auch mit dem Traum vergleichbar. Lesend reproduziert man ja nicht einfach Gehabtes, Erfahrenes, sondern produziert aus eigenem Bedürf- nis mit Hilfe eines Textes eine Welt, die es tatsächlich nicht gibt. Was uns in der wirklichen Welt fehlt, stattet uns als Leser aus, macht uns als Leser potent. Was uns fehlt, macht uns schöpferisch. Nicht das Zuvielhaben macht schöpferisch, sondern das Zuwe- nighaben, also der Mangel. Novalis: »Der Roman ist aus dem Mangel der Geschichte entstanden.« Novalis macht in seiner Passage über den Roman, der aus dem »Mangel der Geschichte« entstanden ist, keinen Un- terschied zwischen Lesen und Schreiben, er fährt nämlich fort: »Er (der Roman) setzt für den Dichter und Leser divinatorischen, oder historischen Sinn und Lust voraus.« Dichter und Leser sind also gleich gesonnen. Wenn der Welt, in der man lebt, nicht ernsthaft etwas fehlte, würde man nicht lesen. Und wenn uns nichts fehlte, würden wir auch nicht schrei- ben. Man liest also aus den Gründen, aus denen man schreibt. Wir können überlegen, was uns, als wir acht Jahre alt waren, fehlte und uns so zu Karl May-Lesern werden

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ließ. Es heißt, man verschlinge Karl May. Das ist ein unvollkommenes Bild. Man produziert die Not, die Gefahr, die Treue, den Verrat, die Gemeinheit, den Edelmut, die Rettung. Man produziert zu den Huf- spuren, die schon ein bißchen abbröckeln, also älter als drei Tage sind, Angst und Hoffnung; man erlebt in sich das Anrecht auf Rettung aus der immerwäh- renden Gefahr. Ein Kind, das sich sicher fühlt, liest nicht Karl May. Nichts ist diesem Lesen so fremd wie die Frage nach der Bedeutung. Bei Kafka und Karl May. Es gibt aber die Frage, ob jemand ein Buch verstanden habe. Das klingt, als sei ein Buch etwas ganz Bestimmtes. Verstehe man es nicht als dieses ganz Bestimmte, habe man es falsch verstanden oder mißverstanden. Ich glaube eher, daß es einem Buch gegenüber kein Mißverständnis gibt, da jeder Leser, wenn er ein Buch liest, mit diesem Buch immer nur sich versteht, nicht das Buch. Das Buch ist, hat Proust gesagt, eine Art optischen Instruments, mit dessen Hilfe der Leser in seinem eigenen Leben lesen könne. Das halte ich für eine sehr zurückhaltende Beschrei- bung dessen, was beim Lesen passiert. Sogar das deut- lich empfundene und erlebte Nichtverstehen eines Buches muß überhaupt nicht die Lese-Intensität min- dern. Ich habe Kafka wirklich nicht verstanden, aber ich hätte antworten können, wie die Wirtstochter Maritornes im »Don Quixote« dem Pfarrer antwortet,

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als der sie fragt, was sie von den Rittergeschichten halte: »Ich weiß es selbst nicht, hochwürdiger Herr, … ich höre auch mit zu, und wenn ich es nicht verste- he, so gefällt es mir doch.« Ich habe nicht gewußt, was das heißen soll, daß Josef K. verhaftet wird und darf doch weiterhin in die Bank gehen und arbeiten; er hat mich ganz beansprucht, weil er Hilfe sucht, wie nur der Hilfe sucht, der keine Aussicht auf Hilfe hat. Den »Prozeß«-Leser möchte ich sehen, der sich, wenn er die zahnräderhaft ineinandergreifenden Kapitel die- ses Romans liest, noch fragt, was das alles bedeute. Das weiß man, ohne es zu wissen. In dem Augenblick, in dem man liest, wie Josef K. zu Titorelli kommt, erinnert man sich doch daran, daß man oft genug bei Titorelli war, man kennt den Verschlag, die alles vereitelnden Störungen. Man war oft genug gezwun- gen, Hilfe zu suchen, Hilfe zu erwarten, und hat die Erfahrung gemacht, daß jedes Hilfesuchen, jede Hil- fe-Erwartung eine diesem Suchen und Erwarten ganz genau entsprechende Ablehnung provoziert, ja gera- dezu produziert. Also uns muß niemand etwas über Titorelli oder den Domgeistlichen mit seiner eitel zugespitzten Türhüterparabel erzählen. Jede Fakultät schüttelt uns auf ihre Art ab. Mit diesen Erfahrungen und den daraus entstandenen Ängsten und Hoffnun- gen inszenieren wir als Leser diesen Roman, jeden Roman. Immer vorausgesetzt, wir können mit einem

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Buch etwas anfangen. Nicht verstehen muß man Bücher, man muß mit ihnen etwas anfangen können. Es gab Leute, die schrieben über den »Prozeß«-Roman Bücher im psychoanalytischen Vokabular, im marxi- stischen oder im existenzialistischen Vokabular oder in germanistisch gestützten Vokabularen. Einige Jahr- zehnte später zog der Literaturwissenschaftler Horst Steinmetz Bilanz: »Die unzähligen, ja unzählbaren Deutungen, Interpretationen, Analysen, die in den letzten fünfzig Jahren Kafka gewidmet worden sind, haben unsere Kenntnisse über diesen Autor und sein Oeuvre unendlich vermehrt; und doch ist es, als ob die Werke daraus gleichsam unberührt hervorgegan- gen seien, als ob wir dem Kern ihres Wesens nicht nähergekommen seien. Auf jeden Fall haben wir ihn nicht in den Griff bekommen … Die Interpretations- anstrengungen haben innerhalb des relativ kurzen Zeitraums von fünfzig Jahren alle methodischen und inhaltlichen Möglichkeiten ge- und benutzt, die Theologie, Psychologie, Kulturwissenschaft, Soziolo- gie, Philosophie, Semiotik, aber auch Stilistik, Text- linguistik oder Kommunikationswissenschaft zu bie- ten haben. Trotzdem: Unser Drang, Kafkas Texte zu deuten, Wege zu ihrem Verständnis zu finden, ist noch immer nicht befriedigt. Es ist, als ob die Texte noch immer auf ihre erste und grundsätzliche Deu- tung warten. ... Offenbar verfügen Kafkas Texte über

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eine besondere Resistenz gegenüber allen Deutungs- versuchen.« Er empfiehlt dann »ein Moratorium der uns beinahe zur Gewohnheit gewordenen Kafka-Aus- legung.« Allen »hermeneutischen Aktivitäten« liege als Zielvorstellung »die Enthüllung einer im Text irgendwo angesiedelten semantischen Einheitlich- keit« zugrunde, »der Nachweis« einer »inneren Sinn- gestalt«. Da aber darüber im Fall Kafka kein »Konsens« habe erreicht werden können, fragt Steinmetz, ob wir bei Kafka oder überhaupt jetzt gezwungen sein könn- ten, auf »semantische oder sonstwie beschreibbare Positivität« zu verzichten. Das wäre »der Typ eines Kunstwerks«, sagt Steinmetz, »das sich in seiner Funk- tion als Sinn- und Bedeutungsganzes nur im Akt individueller oder subjektiver Sinn- und Bedeutungs- zuerkennung erfüllt«. Dank sei Kafka, daß er die Literaturwissenschaft einmal dazu gebracht hat, dem Konsens abzuschwören und das Lesen und Verstehen als »subjektive Sinn- und Bedeutungszuerkennung« zuzulassen. In deutscher Normalsprache: etwas in einen Text hineinzulesen ist wichtiger als etwas aus ihm herauszulesen. Und das nicht nur beim Kunst- werktypus Kafka plus 20. Jahrhundert, sondern über- haupt. Man hätte das ohne Rezeptionstheorien schon aus älteren Schriften lernen können. Lichtenberg, zum Beispiel: »Es gibt eine Art von Lektüre, wobei der Geist gar nichts gewinnt, und viel mehr verliert, es ist

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das Lesen ohne Vergleichung mit seinem eigenen Vorrat und ohne Vereinigung mit seinem Meinungs- System.« Wenn wir, was wohl erlaubt ist, unter »Mei- nungs-System« nicht den flotten Vorrat des zum Ab- ruf Angelesenen, sondern das Bewußtsein verstehen, dann ist das unser Satz: was wir lesen, vergleichen und vereinigen wir mit unserem Bewußtsein. Dazu brau- chen wir keine Vokabulare, sondern die allmählich deutlich werdende Erfahrung, daß geschrieben wird aus den Gründen, aus denen gelesen wird. Als ich, um meine Mutter nicht zu enttäuschen, etwas Literaturwissenschaftliches schreiben wollte, war ei- nes ganz sicher: meine eigene Leseerfahrung war nicht gefragt. Ich muß allerdings zugeben, daß ich wahr- scheinlich nicht imstande gewesen wäre, meine Le- seerfahrung zu formulieren. Von eigener Erfahrung Gebrauch zu machen in einer wissenschaftlich sein wollenden Sache –, das hätte ich nicht gewagt. Nach- träglich kann ich halbwegs ermessen, daß Lesen eine Lebensart ist. Man kann, um sich zu begegnen, in den Spiegel schauen, auf alte und neuere Fotos, aber auch in ein Buch. Man begegnet sich da. Lesen ist nicht etwas wie Musikhören, sondern wie Musizieren. Das Instrument ist man selbst. Man spielt sich, spielt sich auf nach Noten Gogols, Dostojewskis, Nietzsches, Hölderlins. Auszudrücken, was dabei in einem pas- siert, setzt Ausdrucksfähigkeiten voraus, die man

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nicht entwickelt hat, weil sie nicht gefragt waren. Egal ob jemand etwas von sich aus oder in Erfüllung einer Pflicht liest, wenn er etwas über seine Leseerfahrung aussagen soll, begibt er sich – so will es der Brauch – zuerst einmal aus sich hinaus, sucht Hilfe bei Tradi- tionen des Verstehens, bei Jargons, Vokabularen, Me- thoden. Daß er aber der Wichtigste ist, daß es auf ihn oder auf sie mehr ankommt als auf alle Hilfsmittel, das wissen Leserin und Leser gar nicht mehr. Sie gehen zu Titorelli, zum Domgeistlichen und erfahren, daß es genau die Hilfe nicht gibt, die sie suchen. Oder sie lassen sich täuschen. Sie arbeiten mit an ihrer Täu- schung und tun so, als seien die angebotenen Ver- ständnisweisen auch ihre eigenen. Ich konnte also über die Bedeutung kafkaischer Texte nichts sagen. Meine Leseerfahrung war eine unüber- schaubare Folge von Details und Stimmungen. So- bald ich diese Frequenz des Konkreten verließ und meine Leseerfahrung in einer allgemeineren Mittei- lungsform addieren wollte, war alles zerstört. Meine Leseerfahrung, mein jahrelanges Zusammenleben mit Kafka kam in der begrifflichen, literaturwissenschaft- lich tendierenden Mitteilung nicht mehr vor. Ich wich aus. Sozusagen instinktiv. Ich fing einfach an, die Machart zu beschreiben und nannte die Dissertation dann: Beschreibung einer Form. Keine Interpretation, reine Inventarisierung. Runde zwanzig Jahre später

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interessierte ich mich, nicht ganz freiwillig, für Ironie. Da mußte Kafka neu gelesen werden. Und um ihn und Robert Walser vom Humoristen Thomas Mann gebührend zu unterscheiden, war es nötig, sich auch der Sprachfrequenz zu stellen, auf der Bedeutungen anzutreffen sind. Das Ergebnis: (1972 ff.): der »Pro- zeß«-Roman hat sich mir dargestellt als eine Selbst- mordgeschichte, die in Gang gesetzt wird durch ein Legitimationsdefizit. Wer, um leben zu können, Rechtfertigung braucht, findet keine. Er ist verloren. Auch die »Verwandlung« entpuppte sich jetzt als Selbstmordgeschichte; angestoßen diesmal durch den Verlust der Fähigkeit, Geld zu verdienen; mit dem Verlust der Fähigkeit, Geld zu verdienen, geht die menschliche Zurechnungsfähigkeit und damit die Menschenähnlichkeit überhaupt verloren. Gregor bringt sich um. Und den K. des »Schloß«-Romans mußte ich jetzt dem exemplarischen deutschen Ent- wicklungsromanhelden Wilhelm Meister vergleichen. Hier und dort eine Schloßgesellschaft. Aber bei Goe- the eine Schloßgesellschaft, die souverän pädagogisch alle Irrungen des Helden auffängt und zu seinem Besten lenkt. Bei Kafka eine Schloßgesellschaft, die so konstruiert ist, daß jeder Behauptungsversuch des Helden zu dessen Aufhebung, also Vereitelung führt, was in der Folge in einer vollkommenen Erschöpfung enden muß.

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Ich erwähne diese Entwicklung zu einer Art Kafkaver- ständnis nur, weil ich gestehen muß, daß Kafka, seit ich ihn verstehe, nicht mehr zu den Autoren gehört, die ich immer wieder lese. Am wenigsten verstehe ich noch immer das »Schloß«. Das kann ich immer noch lesen. Aber der »Prozeß« bringt nichts mehr. Irgend- wann habe ich festgestellt, daß ich, wenn ich jetzt diesen Roman aufschlage, die aufgeschlagene Stelle sofort als die und die Station auf der Selbstmordstrek- ke identifiziere; die Bedeutung der Stelle ist sofort präsent; wie von Meßinstrumenten geliefert; ablesbar auf dem Interpretations-Armaturenbrett. Bedeutung erkannt. Weiterlesen. Das heißt, das Lesen wurde zu einer fast mechanischen Repetition von Bedeutungs- signalen. Früher, vor der ausgearbeiteten Deutung, war jede Lektüre anders verlaufen. Zwar waren auch da schon Leseerfahrungen gespeichert gewesen, aber man war eben längst nicht mehr der, der man bei der ersten oder der, der man bei der zweiten Lektüre gewesen war. Oder man war eben im Augenblick nicht der. Jetzt kommt es auf meinen momentanen Zustand gar nicht mehr an, weil mir eben jede Prozeßpassage jetzt gleich ihre Funktion auf der Selbstmordstrecke, also ihre Bedeutung, ihren Sinn anbietet. Ich weiß nicht, ob das Deuten und das Bedeutungfinden zu solchen Fixierungen führen müssen. Ich jedenfalls habe zu berichten, daß die von mir erarbeiteten Kaf-

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ka-Interpretationen weitere Leseerfahrungen mit die- sem Autor verhindert haben. Wenn man so Bestimm- tes herausgelesen hat aus dem Werk, lassen Lust und Kraft, etwas hineinzulesen, nach. Ich hoffe, es gehe anderen anders. Ein Satz E.T.A. Hoffmanns kommt mir dazu sehr einschlägig vor: »Das Beschauen eines Gemäldes kann nur sehr kurz dauern; denn das Inter- esse ist ja doch verloren, sobald man erraten kann, was es vorstellen soll«. Ich erkläre mir den interesseschädigenden Einfluß des Wissens auf den Lesenden so: Wenn man als Leser auf das Gelesene hauptsächlich mit Meinungen rea- giert, macht man keine Erfahrungen mehr. Je mehr Meinung, desto weniger Erfahrung. Meinungen, glau- be ich, können erfahrungsabweisend wirken. Für jene Daseinssteigerung, die durch Lesen bewirkt werden kann, scheinen Meinungen geradezu Giftcharakter zu haben. Soll man also einem Text oder einem Autor gegenüber auf Meinungen verzichten? Das ließe sich ohnehin nur wünschen, aber kaum realisieren. Mei- nungen sind eben die kürzestmögliche Aufbewah- rungs- und Verkehrsform für alles, was im Erlebnisau- genblick viel mehr und etwas ganz anderes ist als eine Meinung. Ganze Berufsfelder unserer Kultur wären ohne das Verkehrsmittel Meinung gar nicht mehr zu organisieren. Ich weiß nur, daß das Ergebnishafte, das Meinungen an sich haben, das Gegenteil dessen ist,

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was beim Lesen erfahren wird. Meinung tendiert zum Urteil; das klingt nach: Es reicht. Nach: Bescheidwis- sen. Zum Glück habe ich als Leser auch die Erfahrung gemacht, daß Verstehenwollen oder -müssen nicht zu einer Meinung ÜBER den Text fuhren muß. Zwei Beispiele: Goethe, »Wilhelm Meister«; Robert Wal- ser, »Jakob von Gunten«. »Wilhelm Meister« las ich als Student pflichtgemäß und konnte mit diesem Buch nichts anfangen. Ich fand es edel lackiert, elfen- beinern, eine von schönen Redensarten tönende Klas- sik-Öde. Mir ist allerdings der Versuch, durch dieses Buch durchzukommen, schon wegen des dazu nöti- gen Willensaufwands in Erinnerung geblieben. Weil ich merkte, daß ich auf dieser Klassikglätte andauernd nur folgenlos ausrutschte, schrieb ich beim Lesen Sätze heraus. Zitate. Auf Zettel. Fast keine Seite blieb ohne Zettel. Ich wollte mir das glatte Klassikgelände verfügbar, durchdringbar, abrufbar, brauchbar ma- chen. Es kam kein bißchen zu jener Daseinssteige- rung, die mir Old Shatterhand, Robinson, Hyperion, Raskolnikow und Josef K. beschert hatten. Zwanzig Jahre später las ich den »Wilhelm Meister« wieder. Wieder mit dem Kugelschreiber in der Hand. Ich durchsuchte das Buch diesmal wie ein verdächti- ges Quartier nach Indizien. Dieses Buch war schließ- lich geschrieben worden in den Jahren des Ausbruchs

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der französischen Revolution. Und was stand drin? Daß ein Bürger zur Zeit nur auf der Bühne eine Art Selbstverwirklichung erfahren und betreiben könne. Was dem Adeligen möglich sei, nämlich alles an ihm und in ihm zu entfalten, gehe dem Bürger, der immer nur an seiner Leistung gemessen werde, verloren. Nur eben in der Kunst nicht. Auf dem Theater nicht. Dieser so programmierende Wilhelm merkt rechtzei- tig, daß auch die Künstlerkarriere das harmonische Selbstbewußtsein nur auf Widerruf gewährt. Gelten, ohne beweisen zu müssen, daß man auch ist, was man gelten will, kann man eben doch nur als Adeliger. Also wird die theatralische Sendung überwunden, Wilhelm entwickelt sich unter der geheim bleibenden Leitung der nichts als favorisierenden Adelsgesellschaft zum Schwager des ökonomisch fortschrittlichsten Adeli- gen und darf am Schluß entscheiden, ob er als Invest- mentmakler für die Adelsgesellschaft lieber in Ruß- land oder in Amerika Geld anlegen will. In Europa, das sieht Goethe, von den französischen Vorgängen erschreckt, viel zu pessimistisch, in Europa, meint er, sei das Kapital durch weitere politische Umwälzungen nur noch gefährdet. Aber nichts als realistisch und zukunftssicher ist Goethes Erzählerentscheidung, den bürgerlichen Helden nicht in einem Künstlerroman zu verdampfen, sondern ihn in einer privilegierten und tatsächlich auch progressiven, nahezu demokra-

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tisch tendierenden Ökonomie landen zu lassen. Daß es aber Selbstbewußtsein für den Bürger nur gibt, wenn er zum Adel desertiert, habe ich von 1970 bis 75 diesem Buch und seinem Verfasser verübelt. Aber ich las das Buch da schon viel unangestrengter, gieri- ger als in den Fünfzigerjahren. Ich wollte Meinungen nähren mit meiner Lektüre. Ich las gleich noch die einschlägig wichtigen Bücher jener Neunzigerjahre mit. Die unwillkürlichen Gegen- und die Parallel- schriften: Jean Pauls »Hesperus«, Fichtes »Wissen- schaftslehre«, Forsters Berichte aus Paris, Friedrich Schlegels Flunkereien vor und nach 1800 und die Genauigkeit stiftenden Anmerkungen des Novalis. Und natürlich las ich, wie Thomas Mann die von ihm gedrechselte Goethepuppe jahrzehntelang zur Behe- bung eigener Rechtfertigungsnöte eingesetzt hat. Das war ein reines Meinungsgewoge. Ich las nur, um eigene Legitimationsdefizite zu beheben. Ich las, um rechtzuhaben. Das kann, gebe ich zu, auch spannend sein. Ich wollte einen Beitrag liefern zur Klärung des nach meiner MEINUNG unter Germanisten arg belie- big gebrauchten Ironiebegriffs. Dazu war eben das Wort Selbstbewußtsein nötig. Dazu mußten die repu- blikanisch-demokratischen Beiträge Fichtes und Jean Pauls und die Beiträge des späteren Metternich-Agen- ten Friedrich Schlegel ausgewertet werden. Es teilte sich die Welt in links und rechts. Links Forster, Jean

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Paul, Fichte. Rechts Goethe, Friedrich Schlegel, Adam Müller, Thomas Mann. Aber wie Newton hatte auch ich mich, um viel zu sehen, auf die Schultern eines Riesen gestellt. Zweier Riesen sogar: Hegel und Kier- kegaard. Und dadurch endete die Selbstbewußtseins- klärung dann doch nicht in der Sackgasse, in der es vor lauter Lichtlosigkeit nur noch den Tastsinn für links und rechts gibt: ich erklomm allmählich die dritte Stufe der »Wilhelm Meister«-Lektüre, konnte wieder meinungsfrei lesen, und zum ersten Mal wurde der Text Leseerfahrung. Der Roman erzählte mir jetzt, wie einer zu Selbstbewußtsein kam, dem an nichts soviel liegt wie an dieser Selbstbewußtseinsausbil- dung; aber Wilhelm Meisters Selbstbewußtsein bleibt eben trotz des Adelsprädikats problematisch, prekär; das hatte ich vorher, als ich nur Indizien gegen den bürgerlichen Deserteur sammelte, eifrig überlesen. Ich hatte mir eine Art Parteilichkeit gegenüber Goethe angemaßt, die nur einem Zeitengenossen gegenüber sinnvoll oder verständlich sein kann. Ich habe Goethe sozusagen haftbar gemacht für das, was Thomas Mann mit ihm angestellt hat. Das ist eifriger als nötig. So war ich eine Zeitlang unempfindlich geworden für Wilhelms erhaltene Leidensfähigkeit. Und hätte doch bei Schiller alles Nötige lesen und lernen können. Schiller hat sich auch Sorgen gemacht um Goethes Ebenbild Wilhelm. Schiller war auch nicht begeistert

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über den Deserteur Wilhelm. Schiller hat in einem Brief an Goethe im Juli 1796 fabelhaft schön und genau formuliert, daß Wilhelm ja trotz seiner Karriere kein Adeliger werde. Er, Schiller, könne »sich einer gewissen Sorge um ihn (Wilhelm Meister) nicht er- wehren«, er befürchte, daß Wilhelm in der Adelsum- gebung für immer in »Inferiorität« gefangen bleiben werde. Auf jeden Fall, das Selbstbewußtseinsprojekt des Deserteurs Goethe und die Projekte der Kleinbür- ger Jean Paul und Fichte, die alle auch Reaktionen auf die französische Revolution waren und die auch im Jahr 1794 zu erscheinen begannen, diese Projekte »Wilhelm Meister«, »Hesperus« und »Wissenschafts- lehre« sind einander, wie mir allmählich aufging, nä- her als es mir zuerst lieb gewesen wäre. Wilhelm Meisters Variationen über »So ist denn alles nichts« sind den Gegenkarrieren der Jean Paul-Helden im »Hesperus« verwandt: der Kleinbürger ist in Wirklich- keit ein Adelssohn, und der Adelige ist der Kleinbür- ger. Später, in der »Ästhetischen Vorschule«, formu- liert Jean Paul das fabelhafte Projekt der Epoche, das bei Hegel in EINEM Wort »Sichselbstwerden« heißt, in einer dröhnenden Tautologie: Wir, sagt er, »drin- gen mit mehr Selbstbewußtsein auf mehr Selbstbe- wußtsein«. Fichte, der andere große Kämpfer an der Selbstwerdungsfront: »Das höchste Interesse und der Grund alles übrigen Interesses ist das für uns selbst«.

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Der Satz, in dem Jean Paul mit Hilfe von mehr Selbstbewußtsein mehr Selbstbewußtsein schaffen will, beginnt aber mit einem Hinweis auf ein Datum: »Doch seit Klopstock … dringen wir mit mehr Selbst- bewußtsein …« usw. Also: in Deutschland bleibt das Menschenrecht, das in Frankreich per Revolution formuliert wird, Literatur. Und ich traue mich nicht mehr zu sagen: es bleibe nur Literatur. Ohne jede Bezugnahme auf etwas Gesellschaftliches zwar hat der Leinwebersohn Fichte sein Selbstbewußtseinsprojekt betrieben. Nach Art der Geometrie, verspricht er in seiner »Wissenschaftslehre«, werde er Selbstbewußt- sein ableiten. Er konnte es nur deduzieren, praktizie- ren nicht. Die Antwort auf den Mangel behebt ihn also überhaupt nicht. Sie macht ihn aber anschauba- rer. Und während der Arbeit an der Antwort auf den Mangel wird man stärker, als man ist. Die Beantwor- tung des Mangels ist eine Art zu existieren. Da zu sein. In altehrwürdigen Wörtern: man ist nicht mehr nur Objekt, sondern spielt sich auf, fühlt sich als Subjekt. Es ist ein Unterschied, ob man sich etwas gefallen läßt oder sich wehrt. Nicht das Ergebnis ist wichtig, sondern die Erfahrung des Sichwehrens. Aus dem schreibenden Sichwehren kann eine Lebensart werden. Genauso kann das Lesen als Sichwehren zur Lebensart werden. Wir, die Nachgeborenen und immer noch nicht Sta- bilisierten, nicht Legitimierten, nicht Geretteten, wir

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können mit den Sätzen Goethes, Jean Pauls, Fichtes unsere eigenen Mangelerfahrungen durchmusizieren. Lesend geht es einem genau wie es dem Schreibenden gegangen sein mag. Fichte, Jean Paul, Goethe waren, nachdem sie geschrieben hatten, wieder anfechtbar, das Selbstbewußtsein blieb prekär. Aber so lange sie schrieben, waren sie offenbar gut dran. Geschrieben zu haben, gelesen zu haben nützt nichts. Nur schrei- ben hilft. Lesen hilft. Aber unterschlage ich da nicht doch die Hauptsache, den Ertrag, das Ergebnis? Die Bibliotheken, in denen die Bedeutung gerettet, der Sinn, der gestiftete, gehor- tet ist? Da scheiden sich vorübergehend die Wege. Hier der Weiterleser, dort der Sinngewinner. Der Weiterleser antwortet in jeder Lesesekunde mit seiner ganzen Erfahrung auf die Antwort, die der Autor seinen Mangelerfahrungen gegeben hat. Der Weiter- leser kam, soweit es um mich geht, zu Kierkegaard, also zu den Texten, die entstanden sind gegen jede Positivität. Kierkegaards ausschlaggebende Mangeler- fahrung: Wir haben zuviel zu wissen gekriegt und fangen zu wenig damit an. Kierkegaard schreibt, be- ziehungsweise ist gegen den »direkten Ausdruck«, ge- gen alle Positivität. Die »Gegensätzlichkeitsform« nennt Kierkegaard seine Form der Mitteilung. »Ge- genfrost der Sprache« nannte es Jean Paul. Der Aus- druck kann dem, was ausgedrückt werden soll, nicht

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direkt entsprechen. Innenwelt und Außenwelt blei- ben inkommensurabel. Ein Innenleben, in dem Un- endlichkeit Platz hätte, soll sich einrichten in der brutalen Endlichkeit der menschlichen Kondition. Diese Erfahrung führt immer zu genau so viel Pathos wie Komik. Wenn davon überhaupt eine Mitteilung an andere zu machen ist, dann eine indirekte, eben durch die »Gegensätzlichkeitsform«. Kierkegaard hat das am Ausdruck für religiöse Erfahrung durchexer- ziert. Da heißt es dann: »… die Gewißheit des Glau- bens ist ja kenntlich an der Ungewißheit …«. Die Religiosität läßt Kierkegaard aufhören, »sobald die Ungewißheit die Form der Gewißheit ist.« Es sage niemand, die für den literarischen Ausdruck ursächli- che Erfahrung sei eine andere als die für den religiö- sen. Der Roman, der die Geschichte des nicht gelin- gen könnenden Selbstbewußtseins erzählt, verliert doch seine Qualität, wenn er schon beim Lesen oder nach dem Lesen dazu dienen soll, eine Lehre zu liefern für dies oder das, eine Lehre, die dann zu jenem Vorrat von zuviel Wissen gehört, mit dem wir zu wenig anfangen. Dagegen kann, behaupte ich, das Lesen, das nicht auf Ertrag scharf ist, unwillkürlich effektiv sein. Solange man liest, erfährt man sich als einen, der man zwar, wenn man nicht mehr liest, nicht mehr ist, aber die Erinnerung an den, der man lesend war, ist eine Erinnerung an einen tätigen Geist, an

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einen, der komischer und pathetischer existiert als der, der nur seinem Paßbild gleichsieht. Das Selbstver- ständnis des Lesers beim Lesen kommt keine Sekunde lang zur Ruhe. Dem Leser ist es, solange er liest, zumute, wie es dem Bibelgott während der Schöp- fungstage zumute gewesen sein muß. Der hat die Welt ja auch nur geschaffen, weil er sie brauchte, um sich selbst zu verstehen. Einen anderen Weltschöpfungs- grund kann es schlechterdings nicht geben. Am wenigsten ist dieser Gefahr, im Positiven zu en- den, sich Erträge einzubilden, Lehren zu ziehen, auf dem Papier bleibenden Sinn einzuheimsen, am we- nigsten ist dieser Gefahr der Leser des »Jakob von Gunten« ausgesetzt. Ich glaube, deshalb ist dieser unrettbar negative Roman unter den groß zu nennen- den Romanen in deutscher Sprache der unbekannte- ste geblieben. Wer rasch zu Sinn kommen muß und ohne andauernden Meinungsgewinn nicht weiterle- sen kann, der kann mit diesem Buch nichts anfangen. Es gibt Literaturbetriebsgrößen, die können diese Er- fahrung nicht machen, ohne das Buch, mit dem sie nichts anfangen konnten, zu schmähen. Als wäre das Buch daran schuld, daß sie mit ihm nichts anfangen können. Vielleicht ist es aber auch eine Wirkung der Thomas Mann-Lektüre, daß man Robert Walser nicht lesen kann; der reizvolle rhetorische Flirt mit der Negativi-

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tät, den Thomas Mann so virtuos betreibt, verhält sich zur Negativität des Jakob von Gunten wie das Parfüm zu der Blume, nach der es heißt. Kierkegaard sagt einmal, um die Methode des Sokra- tes verständlich zu machen: wenn jemand in Athen Zeuge eines sokratischen Dialogs geworden sei und dann irgendwo anders erzählt hätte, was er da gehört hatte, dann hätte er nichts von dem mitgeteilt, was in diesem Dialog passiert ist. Man kann von der Ironie, von der Negativität dieser Methode, nichts in direkter Mitteilung berichten. Es geht das verloren, worauf es ankommt: die Versuchung, das Negative mitzuma- chen, zu teilen, sich anzueignen; die Versuchung, praktisch zu werden. Man kann zwar die vielen kurzen Abschnitte, aus denen der »Jakob von Gunten« be- steht, nacherzählen, aber man hat damit nichts von dem mitgeteilt, was wirklich in diesen Abschnitten passiert. Zur Verdeutlichung: Thomas Mann teilt an- dauernd direkt mit, was gerade passiert. Er teilt es auch mit, wenn man das, was er jetzt gerade erzählt, nicht direkt verstehen dürfe, es handle sich nämlich um Ironie, und zwar um eine von der und der Sorte. Er sagt, warum etwas negativ oder positiv verstanden werden soll. Er teilt direkt mit. Alles. Daß er das dann sprachlich verbrämt und stilistisch verklausuliert, zeigt vielleicht, daß ihm die plane Direktheit seiner schlichten Mitteilung unerträglich gewesen wäre. An-

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dererseits hat seine kommentierlustige Kontaktfreu- digkeit Thomas Mann zum Lieblingsautor aller Leser gemacht, die Freude daran haben, in jedem Augen- blick zu wissen, warum sie das lesen, was sie gerade lesen. Germanisten, Kritiker, Fachleute jeder Art las- sen sich von diesem Autor die Stichworte zurufen, die sie dann zu meinungsgesättigten Betrachtungen an- schwellen lassen können. Für Leute, die auch gern mal was schreiben, sich deshalb aber nicht gleich in exi- stenzielle Kosten stürzen wollen, ist Thomas Mann einfach ein Segen. Diese Leute wollen den Roman als verbrämte Geschichtsphilosophie, sie verlangen von jeder Seite den Mehrwert an Sinn sozusagen bar. »Jakob von Gunten« dagegen ist ein Übungsbuch; man muß beim Lesen der vielen Kurzkapitel die Textbewegung probeweise mitmachen, sonst kann man das gar nicht lesen. Eingeübt soll werden, daß die einzige Würde die Nichtswürdigkeit sei. Das als Be- wußtsein, Gefühl, Lebensstimmung, Daseinspraxis. Jakob macht es uns vor als Zögling der Schule Benja- menta. Die nur für Selbstbewußtseinstraining kon- struierte Dienerschule Benjamenta gibt sich von der ersten Seite an preis. Sofort wird mitgeteilt, daß man hier nur das Selbstbewußtsein, eine Null zu sein, erwerben kann. Und trotzdem glaubt man natürlich nicht, was dann in jedem der vielen kurzen Kapitel in immer neuen Spiegelungen und Schärfen und Un-

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schärfen durchgespielt wird. Eine Folge von Selbst- bewußtseinsvernichtungen zum Erwerb des einzigen verläßlichen Selbstbewußtseins: das ist das Selbstbe- wußtsein der Null. Nur der sich seiner Nichtswürdig- keit andauernd Bewußte ist gegen gefährliche Erschüt- terung geschützt. Diese radikale Negativpädagogik turnt man lesend mit, speist sie mit eigener Erfahrung. Keine Meinung ist möglich. Nur das Weitermachen. Die Einübung im Nichts. Diese Art Text könnte man Vollzugstext nennen. Dank der vollkommenen Ironie des Autors läßt sich nichts Positives absondern, kein Sinn gewinnen. So wenig wie etwa aus dem Schmer- zensreichen Rosenkranz. Das ist auch ein Text, den man nachbeten muß, wenn man etwas davon haben will. Vollzugstext eben. Deshalb kann man den Jakob so oft lesen und wird auf diese Einladung, Nichtswür- digkeit in sich durchzusetzen, jedesmal anders reagie- ren. Man kann auf eine seriöse Versuchung nicht zweimal gleich reagieren. Für eine Art Textwunder halte ich es, daß die Kraft dieser Prosavorgänge beim wiederholten Lesen wächst. Das hat diese Prosa mit Hölderlingedichten gemeinsam. Ich habe bisher die 160 Seiten des »Jakob von Gunten« wie ein 1600-Sei- tenbuch gelesen, in dem der Text zehnmal enthalten ist. Und ich kann immer noch weiterlesen. Wahr- scheinlich wird es ein 3200-Seitenbuch werden. Man hat von diesem Buch nur etwas, so lange man es liest.

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Das ist wie beim Musizieren. Musizierthaben ist nicht Musizieren. Gesungenhaben ist nicht Singen. Gelebt- haben ist nicht Leben. Gelesenhaben ist nicht Lesen. Weil die, die mit Robert Walser nichts anfangen können, ihm am liebsten Geschwätzigkeit vorwerfen, möchte ich seine Methode mit einem Licht beleuch- ten, das Novalis geliefert hat. »Monolog« heißt die kurze Prosastudie, in der die Methode des »Jakob von Gunten« sowohl beschrieben als auch vorgeführt wird. Ich zitiere die wichtigsten Sätze dieses Vorgangs: »… das Eigentümliche der Sprache, daß sie sich blos um sich selbst bekümmert…« »ein … fruchtbares Ge- heimnis, – daß wenn einer blos spricht, um zu spre- chen, er gerade die herrlichsten … Wahrheiten aus- spricht. Will er aber von etwas Bestimmtem sprechen, so läßt ihn die launige Sprache das lächerlichste und verkehrteste Zeug sagen.« »… so manche ernsthafte Leute … merken … nicht, daß das verächtliche Schwat- zen die unendlich ernsthafte Seite der Sprache ist.« »… wer in sich das zarte Wirken ihrer innern Natur vernimmt, und danach seine Zunge oder seine Hand bewegt, der wird ein Prophet sein, dagegen wer es wohl weiß, aber nicht Ohr und Sinn genug für sie hat, Wahrheiten wie diese schreiben, aber von der Sprache selbst zum Besten gehalten …« »Wenn ich damit das Wesen und Amt der Poesie auf das deutlichste ange- geben zu haben glaube, so weiß ich doch, daß es kein

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Mensch verstehen kann, und ich ganz was albernes gesagt habe, weil ich es habe sagen wollen, und so keine Poesie zu Stande kommt.« Ich habe nur die Teile zitiert, die das Dilemma des Wollens beschreiben, der Sprache gegenüber: die Nutzlosigkeit der Absicht beim Reden und Schreiben; die Ohnmacht der Vernunft beim Ausdrucksvorgang. Der Text beschreibt die Methode, indem er sie anwen- det. Auf sich selbst. Der Inhalt des Textes ist seine Form. Das Dilemma des Wollens der Sprache gegen- über wird uns nicht nur durch die Gedankenfolge mitgeteilt, sondern die Gedankenfolge produziert selbst als ihre Form dieses Dilemma. Weil Novalis etwas Bestimmtes hat sagen wollen, ist keine herrliche Wahrheit, also nichts ausdrücklich Sprachliches ent- standen. Als man noch gefragt wurde: Wollen Sie mit dem, was Sie schreiben, die Welt verändern? – heute, zwanzig Jahre später klingt die Frage so grotesk wie sie ist –, habe ich mit eher schlechtem Gewissen klarzu- machen versucht, daß man schreibend nichts wollen kann, da die Sprache sich nicht kommandieren läßt; daß man die Sätze, die entstehen, zwar ablehnen, nicht aber beliebig Sätze herbefehlen kann. Zur Er- weiterung des Novalis-Textes könnte man sagen, daß man auch als Leser nichts wollen kann, sondern allen- falls reagieren kann »auf« das Wirken jener »inneren Natur« der Sprache, die man liest. Man erlebt dabei

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nicht nur den Text, sondern sich als Vollzieher dieses Textes, sich als Antwort auf das, was man liest. Im Text begegnet man sich. Unwillkürlich. Wenn ich zum x-ten Male lese:

Reif sind, in Feuer getaucht gekocht Die Frucht und auf der Erde geprüfet und

ein Gesetz ist, Daß alles hineingeht, Schlangen gleich, Prophetisch, träumend auf den Hügeln des Himmels.

Wenn ich diesen Text wieder lese, entwickelt er sich jedesmal anders; manchmal komme ich gar nicht hinein, dann bleibt er mächtig verschwommener Or- gelklang, wie wenn man außen an der Kirche vorbei- geht; aber manchmal entfalten die Wörter in mir eine Bilderfolge für die Schwere der Erinnerung; der Leser wird zum Hallraum für die großen Wörter. Aber ich kann das Gedicht nicht interpretieren, ich kann es nur lesen. Und zwar immer wieder. Zurück zum Roman, zu dem der Geschwätzigkeit geziehenen »Jakob von Gunten«, dessen Sprache sich, wie Novalis vorschreibt, »blos um sich selbst beküm- mert«, der, wie Novalis vorschreibt, »blos spricht, um zu sprechen«, und der deshalb, wie Novalis sagt, »gerade die herrlichsten … Wahrheiten ausspricht«.

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Aber – und daran muß erinnert werden – sie sind nicht positiv, sie sind eine seriöse Versuchung, endlich negativ zu operieren. Wenn wir diesen Text lesen beziehungsweise nachbeten, sind wir in Versuchung, ernst zu machen mit solchen Jakobsätzen: »Ich re- spektiere ja mein Ich gar nicht, ich sehe es bloß, und es läßt mich kalt.« Oder: »Wie glücklich bin ich, daß ich in mir nichts Achtens- und Sehenswertes zu erblik- ken vermag.« Das ist das absolute Gegenprogramm zum Repräsentanten plus Märtyrer-Programm aus Lü- beck. Und es ist ein Programm, das ich lesend nicht mit Meinungen beantworte, sondern eben mit Selbst- bewußtseinsbewegungen. Es gibt dieses Jakobpro- gramm nur ein einziges Mal, nur in diesem Buch. Es nützt überhaupt nichts, über dieses Buch zu sprechen. Wer es nicht liest, hat nichts davon. Wer es liest, hat auch nicht etwas davon, sondern allenfalls sich. Sein Selbstverständnis auf eine bewegungsreichere Art; auf eine anarchische Art. In seiner Passage über den Ro- man hat Novalis auch gesagt, der Roman sei »gleich- sam die freye Geschichte.« Und: »Er bezieht sich auf keinen Zweck und ist absolut eigenthümlich.« Ich halte die Jakobübungen zur Einübung eines uner- schütterlichen Nichtswürdigkeitsbewußtseins für »keinen Zweck«, sie sind wahrhaft zwecklos. Diese Einübung im Nichts kann nicht gelingen. Keinem. Das ist einfach das Gegenprogramm gegen eine Welt,

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in der jeder Horizont von Repräsentanten verfinstert wird. Man kann auf diesen Jakob nicht mit Meinun- gen antworten, weil er die Sprachfrequenz der Mei- nungen nicht intoniert. Es drückt sich in ihm keine Meinung aus. Noch einmal zur Verdeutlichung Tho- mas Mann. Seine Figuren treten nicht für sich auf, sondern immer für etwas, dessen Funktionär oder dessen Ausdruck sie sind. Tonio Kröger ist weniger Tonio Kröger als Künstler. Und als er Künstler erlebt, die noch reiner Künstler sind als er, sieht er, daß er auch Bürger ist. Dann ist er deutlicher Bürger als Tonio Kröger. Die Frage, ob er jenseits der Entwick- lung zum Künstler als Bürger und Bürger als Künstler noch etwas sei, stellt sich ihm nicht. Es wäre unfair gegen den Autor, diese Frage zu stellen. Sein Leser weiß immer, warum er das liest, weil über das, was er durch das Lesen erfährt, kein Zweifel bestehen kann. Zweifelhaftes wird so behaglich als Zweifelhaftes vor- geführt, daß an der Zweifelhaftigkeit kein Zweifel bestehen kann. Es handelt sich immer um eine ausge- zeichnete Zweifelhaftigkeit. Der Leser weiß, was er davon zu halten hat. Und er weiß es vom Autor. Man stimmt zu oder lehnt ab. Und es ist in diesem Zusam- menhang nicht wichtig, ob man zustimmt oder ab- lehnt, wichtig ist, daß man nur zustimmen oder ab- lehnen kann. Die Selbstentdeckung Tonio Krögers als Bürgerkünstler, das sorgfältig beherrschte beziehungs-

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weise stilisierte Todesverhältnis Hans Castorps, die ins Unbelangbare gebastelte Goethefigur in »Lotte in Weimar« –, man muß diese Figuren, die immer für etwas stehen, die uns ihre historische Zusammenge- setztheit als ihr Problemprofil präsentieren, man muß sie mit Meinungen beantworten. Ich muß. Ich kann sie nicht lesen wie ich Raskolnikow, Myschkin, Tschit- schikow und Jakob von Gunten erfahre. Statt Perso- nen weiter und weiter zu erzählen, wiederholt Tho- mas Mann lieber deren inneres und äußeres Signale- ment. Das, wofür sie stehen, bleibt jeweils das gleiche; also muß der Autor nur die als Leitmotivkunst gefei- erte Steckbriefdeutlichkeit wieder herstellen, dann kann die Figur die von ihr zu exekutierende Funktion wieder ausüben. So kommt allmählich eine gravitäti- sche Cartoon-Manier zustande, die bei jedem Figu- renauftritt stilistisch bekennt, wie stolz sie darauf ist, daß ihr wieder einmal Vorstellbarkeit gelungen ist. Und Sinnstiftung noch und noch. Und Meinungsge- winn ohne Ende. Jeder darf sich eingeladen fühlen zur direkten Fortschreibung. Wie schwer machen es ei- nem dagegen Bücher, die die Meinungsfrequenz der Sprache kaum oder gar nicht nutzen! Kann ich dann von meinem Lesen in der Sprachart berichten, die in dieser Literatur gar nicht vorkommt? Muß ich Mei- nungsbeute und Sinngewinn vorweisen? Wenn der »direkte Ausdruck« der Daseinsschwierigkeit am we-

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nigsten gerecht wird, muß ich als Leser, als Verstehen- der, dann nachträglich so tun, als sei nur der Autor an der Front, der Leser aber immer in der Etappe? Muß ich positiver werden als der Autor? Bedeutung und Sinn … mir wäre es lieber, wenn das nicht das wäre, was man aus den literarischen Sachen gewinnen kann erstens durch Eindampfen des Konkreten und dann durch Konstruktion raffinierter Niederschlagskondi- tionen zur Gewinnung flüssigen Sinns. Was ich lesend erlebe bei Gogol, Dostojewski, Flaubert und Robert Walser, ist nicht die Bedeutung des Textes und nicht dessen Sinn; mich erlebe ich als jemanden, der vom Text nicht per Bedeutung, sondern sozusagen mate- riell bewegt wird. Was ich da so zäh und hilflos auszudrücken versuche, ist nichts anderes als die Angst, das, was im Autor zur Literatur wird, könnte bei der Lektüre, die der Sinn- und Bedeutungssuche dient, schlicht verlorengehen. Ich möchte lieber glau- ben, daß im Lesenden auch dann Sinn produziert wird, wenn er ihn nicht direkt in jedem Satz abschöp- fen kann. Wenn ich mich wochenlang dem Fürsten Myschkin überlasse, erlebe ich unter anderem, wie in mir eine Beschämung wächst. Ich möchte Myschkin sein. Bin es aber nicht. Aber wieviel lieber lasse ich mich durch Fürst Myschkin beschämen als durch Jesus Christus! Andererseits verhalte ich mich Na- stassja Filippowna gegenüber eher wie Rogoshin. Da-

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her die Scham. Aber Dostojewski und Myschkin las- sen Rogoshin doch ganz und gar gelten. Die Scham, ein Rogoshin zu sein, liest man in das Buch hinein. Ein Buch voller Elend und Niedertracht, und kein Hauch von Verurteilung. Nichts als Pathos und Ko- mik. Jeder Leser möchte natürlich Myschkin sein, möchte diesen Grad des Menschseins erreichen. Aber dann bist du für alle anderen der Idiot … Das ist Lesen. Du stehst auf dem Spiel. Es gelingt keine Distanz. Stürmisch erlebst du den Zugewinn an Innenlicht und Innenraum, also an Selbstgefühl, und sei’s durch Be- schämung. Du bist noch zu beschämen. Und wie. Das rechnest du dir hoch an. Das spürst du sogar als eine Art Kraft. Du bist eben, solange du liest, stärker als du bist. Wenn sich das halten könnte, dieses durchs Lesen gesteigerte Selbstverständnis! Man könnte es eine Lust nennen. Wenn man die wenigstens anderen mitteilen könnte! Man kann aber offenbar nicht lesen für andere. Oder gar nur für andere. Als Lese-Profi. Der Lese-Profi als Textvermesser, Urteilsinstanz und Sinnverteiler. Und zwar schlechthin und hauptsäch- lich für andere. Wäre das nicht doch ein bißchen bedauerlich: die erhaltene Leidensfähigkeit von Wil- helm Meister bis Jakob von Gunten wird in einer positiven Erkenntnisbeute als transportabler Sinn re- gelmäßig an Studierende verteilt? Wie soll man sich also überhaupt nachträglich Re-

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chenschaft geben über das, was einem beim Lesen unwillkürlich passiert ist? Sicher ist, daß der Versuch, sich nachträglich über die Leseerfahrung Rechen- schaft zu geben, die Leseerfahrung so sehr verändern kann wie die Niederschrift des Traums den Traum. Ich glaube, daß der Leseerfahrung bei ihrer Nieder- schrift regelmäßig Gewalt angetan wird. Der Segen der unwillkürlichen Erfahrung wird ins Licht der Mei- nung gezerrt und dabei geht das Ausschlaggebende verloren oder wird doch durch die Ansprüche der Meinungsrationalität deformiert; es muß ja etwas Be- weisbares zustande- beziehungsweise herauskommen. Man muß recht haben. Und nichts ist dem Leser beim Lesen weniger wichtig als das Rechthabenmüssen. Aber nachträglich soll sich seine Leseerfahrung in Konkurrenz mit anderen Leseerfahrungen behaupten. Aber als Leser war er gerade das nicht: ein konkurrie- rendes Individuum. Aber als konkurrierendes Indivi- duum benutzt er Vokabulare wie Waffen. Her mit Freud! Da steht dann in der wissenschaftlichen Zeit- schrift, daß zwischen »Verwandlung« und »Strafkolo- nie« eine Entwicklung stattfinde »von der anal maso- chistischen homosexuellen Libidoorganisation zur oral aggressiven«. Vielleicht ist es schon fatal, ein Buch nur zu lesen, um es zu interpretieren oder zu beurtei- len. Man bringt das Buch in eine Verhörsituation. Ich glaube, ein Verhörender macht keine Erfahrung. Er

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sammelt Punkte für ein Urteil. Das ist zwar eine sich besonders professionell vorkommende Art zu lesen. Mir kommt sie aber eher dürftig vor. Je weniger zielgierig man liest, je unwillkürlicher, desto eher stellt sich eine Erfahrung ein. Und wenn man sich dann auch nachträglich beim Reagieren auf das Gelesene nicht auf Meinungen und Rechthaben reduziert, son- dern wagt, sich dem unwillkürlich Erfahrenen zu überlassen, dann besteht die Chance, daß man etwas über sich erfahrt und ausdrücken kann, was man auf keine andere Art über sich erfahren und ausdrücken kann. Wie beim Schreiben. Das Schreiben kann ja auch nicht zielgierig und sinnsüchtig und bedeutungs- bezogen verlaufen. Man kann die Sprache nicht kom- mandieren. Siehe das Novalis-Beispiel. Und wer sich à la Lichtenberg lesend dem Autor vergleicht und mit ihm vereinigt, der wird auch nachträglich die Rechen- schaft über die Leseerfahrung nicht der Chancen be- rauben, die im Risiko der Unwillkürlichkeit liegen. Der Tiefstpunkt der Leseerfahrung ist erreicht, wenn das Lesen nur noch zu der Aussage führen soll, ein Buch sei gut oder schlecht. Wer auf ein Buch nur noch mit Lob oder Tadel reagieren kann, demonstriert damit nur, daß er unseligen Schulverhältnissen le- benslänglich zum Opfer fällt. Ich möchte, um Praxis anzudeuten, zur Illustration dessen, was für mich eine Leseerfahrung ist, hier eine

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Notiz einfügen, die meine Reaktion auf meine letzte Lektüre des Schloßromans wiedergibt. Mit wenig Inhalt wird ein einziges Unverhältnis ent- wickelt. Bewerber und Stelle sollen möglichst weit auseinanderklaffen. Jeder Schritt des Bewerbers in Richtung auf das Ziel wird durch Infinitesimalisierung auch noch der kleinsten Strecke in einen Stillstand verwandelt. Alles, was der Bewerber unternimmt, hat eine das Unternommene aufhebende Folge. Das Un- verhältnis ist nicht etwa kein Verhältnis. Aber die Folge ist ihrer Ursache von Mal zu Mal fremder. Die Folge wird immer mehr zu einer Verhöhnung der Ursache. Der Bewerber will lernen. Aber das einzige, was er lernen müßte, ist, daß er nichts lernen kann. Und eben das kann er, will er weiterleben, nicht lernen. Wenn er nichts mehr unternähme, würde er auch den Leerlauf seiner Bemühungen nicht mehr erleben müssen. Aber da es um seine Niederlassung, seine Aufnahme, seine Selbstverwirklichung geht, kann er nicht nichts tun. Aber wenn er etwas tut, provoziert er die Aufhebung seines Tuns. Natürlich zermürbt diese Erfahrung. Natürlich will er sich all- mählich so klein fühlen, wie er offenbar hier gesehen wird, so unwichtig, so überflüssig. Aber so klein er sich auch macht, er stört immer noch. Andere haben auch schon gestört, mit denen ist man auch fertig gewor- den. Das heißt, man hat sie sich selbst überlassen.

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Man kann sich darauf verlassen, daß jeder mit sich selbst fertig wird. In dem Bemühen, sich anzupassen, opfert er allmählich seine Persönlichkeit, sein Selbst, um dessentwillen er doch alles auf sich nimmt. Diese Anpassungs- und Unterwerfungsversuche haben kei- nen Effekt auf die Gegenseite. Es gibt dort keine Aufmerksamkeit, die irgendwann einmal sagte, es sei jetzt genug. Das nicht Greifende, das Leerlaufende aller Bemühung wird nicht im ganzen Buch sozusa- gen einmal durchgespielt, sondern in jedem seiner Elemente. Welchen Teil man auch herausnimmt, man hat das Muster des Ganzen. Man müßte das Buch, um es zu begreifen, nicht fertig lesen. Das Lesen wird zur Wiederholung des einen leerlaufenden Ver- suchs. Allerdings ist das immer Gleiche nicht immer dasselbe. Das Unverhältnis läßt sich nicht ausrech- nen. Der Leerlauf gehorcht keiner Formel. Du bist überflüssig. Besonders wenn du beweisen willst, daß du es nicht bist. Da zu sein, heißt überflüssig sein. Also hör endlich auf, da zu sein. Das ist die Botschaft. Das Buch verteidigt diese Botschaft. K. geht allen auf die Nerven. Bevor er da war, hat er nicht gestört. Er möchte lernen, nicht zu stören. Und gerade dadurch stört er schon wieder. Das produziert immer reinere ironische Verläufe. Alles was er für sich tut, wirkt sich gegen ihn aus. Je mehr er für sich tut, desto mehr tut er gegen sich. Amalia zeigt die einzige Alternative:

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Leben in vollkommener Isolation und Verachtung. Das ist keine Alternative. Das kann man nicht wählen. Man muß weitermachen. K. macht weiter. Der Leser kann nichts aus diesem Buch in seine Wirklichkeit übersetzen. Nichts im Buch heißt in Wirklichkeit das und das. Es gibt nur diesen Verlauf, dieses Muster. Das Muster ist rein ironisch. Gleichgültig, welche Erfah- rungen der Autor mit diesem Buch beantwortete, welche realen Partikel er zum Bau dieser Maschine verwendete, das Buch enthält nichts, was wir als sol- ches kennen. Das Buch enthält nicht mehr Wirklich- keit als ein Brettspiel. Das Brettspiel kann aus Holz sein, aus Kunststoff, das spielt keine Rolle. Alles Wirk- liche ist in einem Brettspiel auf Größen, Verhältnisse und Bewegungsregeln reduziert. Das Lesen ist also, weil es keinen Inhalt, keine Geschichte gibt, ein Spiel auf einem Brett. Das Lesen wird zum Existenzspiel. Der Text ist ein Exercitium. Die Spielregel heißt, daß es keine gibt. Die Regel, daß es keine gibt, kann man nicht lernen. Deshalb ist jede Runde interessant. Man lernt diese Regel nur dadurch kennen, daß man gegen sie verstößt. Dafür muß man büßen. Die Lektüre ist ein angenehmes Existenzspiel. Man macht zwar alles mit, was K. mitmacht, aber man bezahlt doch nur mit Spielgeld. Man glaubt keine Sekunde daran, daß es einem selber genauso gehen könnte. Trotzdem er- kennt man in K.’s Kampf den eigenen. Aber man hält

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sich für gewitzt usw. Allerdings, in Wirklichkeit ist alles viel trüber und mühseliger als auf dem literari- schen Brett. Frieda, Klamm, Barnabas und Bürgel sind in Wirklichkeit nicht so leicht zu verstehen wie im Buch. Im Buch ist alles, wo es hingehört, und sieht genau aus, wie es dann auch ist. Das Schloß-Spiel ist zwar ein Spiel, das man nur verlieren kann, aber auch das macht im Buch mehr Spaß als in Wirklichkeit. Vielleicht ist dem und jenem »Schloß«-Leser diese Notiz viel zu wenig Interpretation, zu sehr noch Nachbetung, überhaupt keine am pädagogischen Werktag in der Arbeitssituation anbietbare Bedeu- tung. Überhaupt, wie soll denn das praktiziert werden können: sich als Leser und als Berichterstatter der Leseerfahrung dem Risiko der Unwillkürlichkeit an- vertrauen, dem nicht kommandierbaren Sprachgeist, der unwillkürlichen Erfahrung des »Sichselbstwer- dens« durch Lesen und Schreiben, wie soll das denn bis zur stundenplanmäßig betreibbaren Aktivität ent- wickelt werden, wie überhaupt lehrbar? Ich überlasse die Beantwortung dieser Praxisfrage zuerst einmal Friedrich Nietzsche, der den Philosophen davor be- wahren wollte, im Gelehrten zu enden. Auch der Literaturwissenschaftler hat zwei Wege: den zum Schriftsteller und den zum Gelehrten. Und das sind nicht zuerst zwei Sprachwege; zuerst sind es eher zwei verschiedene Seinswege oder -weisen, die erst nach-

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träglich zu zwei verschiedenen Sprachgebräuchen führen. Führen können, nicht müssen. Die Einladung zur Existenzermäßigung, die im Wort Sekundärlitera- tur enthalten zu sein scheint, ist ablehnenswert. In seiner Schrift »Schopenhauer als Erzieher« be- schreibt Nietzsche die Gefahr der jederzeit ausübba- ren geistigen Tätigkeit. Und aus dieser kritischen Be- schreibung ergibt sich, glaube ich, eine Wegweisung zu einer anderen Art Tätigkeit; zu der eben, die ich in meinern Bericht ein wenig zu propagieren versuchte. Also, Nietzsche als Wegweiser: »Frage: kann sich ei- gentlich ein Philosoph mit gutem Gewissen verpflich- ten, täglich etwas zu haben, was er lehrt? … Muß er sich nicht den Anschein geben, mehr zu wissen, als er weiß? muß er nicht über Dinge vor einer unbekannten Zuhörerschaft reden, über welche er nur mit den nächsten Freunden ohne Gefahr reden dürfte? Und überhaupt: beraubt er sich nicht seiner herrlichsten Freiheit, seinem Genius zu folgen, wann dieser ruft und wohin dieser ruft? – dadurch, daß er zu bestimm- ten Stunden öffentlich über Vorher-Bestimmtes zu denken verpflichtet ist. … Wie wenn er nun gar eines Tages fühlte: heute kann ich nicht denken, es fällt mir nichts Gescheites ein – und trotzdem müßte er sich hinstellen und zu denken scheinen!« Also, in der schönen Vollmundigkeit des 19. Jahrhunderts: die »herrlichste Freiheit« sei die, daß einer »seinem Ge-

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nius« folge. Diesen Genius hat jeder. Der spricht sich aber nicht in Vokabularen aus, sondern nur in der einem jeden eigenen Sprache. Die hat auch jeder, solange er diese »herrlichste Freiheit« nicht einem Hilfe versprechenden Vokabular unterwirft. »Seinem Genius« folgen, das ist das, was Novalis nannte, »in sich das zarte Wirken der Sprache« zu vernehmen, also eben nicht bei den Vokabularen unterzuschlüp- fen. Man hat die Sprache nicht als kommandierbare. Sie ist das am wenigsten Verfügbare. Es sei denn, man sei Herr einer Manier. Sonst entsteht sie allenfalls und auf nicht beherrschbare Weise dadurch, daß man es riskiert, sich ihr anzuvertrauen. Damit ich zum Bei- spiel meine Leseerfahrung kennenlerne, faßbar ma- che. Faßbar für mich selbst. Mein Selbstverständnis zu fördern. Je unwillkürlicher ich dabei verfahre, desto ergiebiger für mein Selbstverständnis. Glaube ich. Allerdings, zu dieser erpresserisch dringlichen Emp- fehlung des riskanten Unwillkürlichen bin ich gekom- men durch emsig umsichtige Kalkulation und fleißige Willkür und immer wieder gebremstes Sichgehenlas- sen. Außer ein paar weitere eifervolle Empfindlichkei- ten über Thomas Mann habe ich mir so gut wie nichts erlaubt, was der kalkulierende Verstand nicht billigen könnte. Das heißt offenbar: die seligmachende Art läßt sich leichter empfehlen als praktizieren. Das min- dert meine Empfehlungslust allerdings überhaupt

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nicht. Ich bin in dieser paradoxen Schlußlage kein bißchen schlechter dran als meine zwei Hauptge- währs- oder Gewährshauptleute Novalis und Kierke- gaard. Novalis sagt am Schluß jenes zitierten »Mono- logs«, was er da gesagt habe, »sei ganz was albernes«, weil er es habe »sagen wollen, und so keine Poesie zustande kommt.« Errettet sich dann mit einer Frage: »Wie, wenn … mein Wille nur alles wollte, was ich müßte?« Zugegeben, als ich diesen Monolog zum ersten Mal las, kam mir diese Frage wie ein Trick vor. Da will, dachte ich, Novalis die Kurve kriegen. Inzwi- schen glaube ich, das sei der Ausdruck der allerwich- tigsten Schreiberfahrung, daß man nämlich schrei- bend nichts wollen könne beziehungsweise man kann zwar wollen, aber es nützt halt nichts. Die Sprache bleibt unser unkommandierbarer Reichtum. So hat, hoffe ich, meine emsig umsichtige Kalkulation und fleißige Willkür auch mehr dazu gedient, Unerfahre- nes, bloß Gedachtes abzuwehren und so Platz zu schaffen für das Diktat des unwillkürlich Erfahrenen. Und Kierkegaard: Nachdem er des langen und breiten entwickelt hat, daß nur die »Gegensätzlichkeitsform« zum Ausdruck des schlechthin Inkommensurablen tauge, nachdem er formuliert hat: »Durch direkte Mitteilung ließ es sich nicht machen, da sich diese immer nur zu einem Empfänger in Richtung aufsein Wissen, nicht wesentlich zu einem Existierenden ver-

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hält«, jetzt merkt er, daß er diese Erfahrung und Empfehlung ziemlich direkt und gar nicht in der »Gegensätzlichkeitsform« mitgeteilt hat, und er rettet sich so: »Was diese meine abweichende Auffassung über das Mitteilen angeht, so ist mir zuweilen einge- fallen, ob sich denn nicht dies – betreffs der indirekten Mitteilung – direkt mitteilen ließe.« Ich hoffe, das sei ein Trost für uns alle, wenn wir uns nicht ununterbrochen fähig fühlen, unsere »herrlich- ste Freiheit« zu gebrauchen, wenn wir also einmal »unserem Genius« einfach nicht zu folgen vermögen und dann unsere Mitteilung eben wieder einmal nicht in unwillkürlicher Genialität, sondern nur in kluger Willkür verfassen. Wenn nur die Wunschrichtung erhalten bleibt! Wichtiger als wozu wir uns fähig fühlen, ist tatsächlich die nicht so recht begründbare Hoffnung oder gar Zuversicht, daß wir durch die indirekte Mitteilung, die unwillkürliche, die, mit der man weniger zielen, weniger beabsichtigen, die man auch weniger dirigieren kann, daß wir durch die mehr über uns erfahren als durch jede andere. Wenn wir dann fürchten müssen, vor lauter Nichtanpassung der Mitteilung an irgendeinen Adressaten überhaupt kei- nem mehr außer uns selber verständlich zu sein, dann sind wir auf einem knospenreichen Weg. Kierkegaard hat diese unausdenkliche Disziplin auf der Klaviatur seiner Pseudonyme durchprobiert; als Johannes Cli-

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macus formuliert er das so: Selbst wenn er mit der indirekten Mitteilung keinen erreiche, so dürfe er dann doch von sich sagen, »sich nicht der geringsten Anpassung schuldig zu machen, um einen zu bekom- men, der ihn versteht«; sein Trost sei dann, daß er »mit aller Kraft vergeblich gearbeitet« habe, »es Gott über- lassend, ob es Bedeutung haben solle oder nicht.« Sehr viel tiefer sollte man, finde ich, die Ebene, auf der über Bedeutung entschieden, also interpretiert wird, nicht ansetzen. Wir alle arbeiten mit aller Kraft, wir alle, alle produzieren. Interpretieren soll uns Gott oder die Geschichte oder sonst etwas Langatmiges. Das wenigstens ist sicher: Wir sollen unsere Mittei- lung nicht ermäßigen, um noch einem anderen ver- ständlich zu sein. Im Gegenteil: je rücksichtsloser wir uns mitteilen, desto mehr erfahren wir über uns. Und nur darauf kommt es an. Auf unser Selbstverständnis. Das ist alles andere als eine Empfehlung zur Selbst- herrlichkeit und -isolierung. Im Gegenteil, je mehr wir uns bei unserer Mitteilung nach uns selbst richten, desto mehr erfährt auch ein anderer über uns. Wie Novalis sagt: »Wir kennen nur eigentlich, was sich selbst kennt.« Damit sind nun alle Bedenklichkeiten bedacht, es kann beginnen das Zeitalter der rücksichts- losen, also der vollkommenen Mitteilung. Das Zeital- ter, in dem Lesen und Schreiben ineinander überge- hen wie sonst nur noch Himmel und Meer.

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Martin Walser, 1927 in Wasser- burg geboren, lebt als Schriftstel- ler in Überlingen. Zahlreiche Buchveröffentlichungen (u.a. im selben Verlag »Nero läßt grü- ßen … / Alexander und Annette«) und Literaturpreise. Die Reihe PARERGA wird herausgegeben von Klaus Isele. Alle Rechte vor- behalten. © Edition Klaus Isele, Eggingen 1993. Gesetzt aus der Garamond. Gedruckt bei WB Druck, Rieden. Von diesem Band erscheint eine Vorzugsaus- gabe von 50 numerierten und sig- nierten Exemplaren als Halblei- nenband in Fadenheftung, die direkt über den Verlag erhältlich ist. ISBN 3-86142-008-2.

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