Deutsche Finanzgeschichte des 20. Jahrhunderts

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1 Deutsche Finanzgeschichte des 20. Jahrhunderts Lehrbeauftragter am Institut für Öffentliche Finanzen der Leibniz Universität Hannover im WS 2013/14

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Vorlesungsskript von Dr. Marc Hansmann, Lehrbeauftragter am Institut für Öffentliche Finanzen der Leibniz Universität Hannover im WS 2013/14. Deutsche Finanzgeschichte des 20. Jahrhunderts. Übersicht (I): Deutsche Finanzgeschichte des 20. Jahrhunderts. Seite. - PowerPoint PPT Presentation

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Deutsche Finanzgeschichte

des 20. Jahrhunderts

Vorlesungsskript von Dr. Marc Hansmann, Lehrbeauftragter am Institut für Öffentliche Finanzen der Leibniz Universität Hannover im WS 2013/14

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Übersicht (I): Deutsche Finanzgeschichte des 20. Jahrhunderts

1. Freitag, 01.11.13, 14.30 - 16.00 Uhr: Einführung

4

2. Freitag, 01.11.13, 16.15 - 17.45 Uhr: Strukturproblem der Staatsverschuldung

13

3. Freitag, 22.11.13, 14.30 - 16.00 Uhr: Strukturproblem der Finanzverfassung

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4. Freitag, 22.11.13, 16.15 - 17.45 Uhr: Strukturproblem des Steuerrechts

44

5. Freitag, 29.11.13, 14.30 - 16.00 Uhr: Strukturproblem der Finanzverwaltung

58

6. Freitag, 29.11.13, 16.15 - 17.45 Uhr: "Fiscal agony" des Kaiserreichs

79

7. Freitag, 06.12.13, 14.30 - 16.00 Uhr: Fiskalschock des 1. Weltkriegs

91

8. Freitag, 06.12.13, 16.15 - 17.45 Uhr: Zäsur der Weimarer Republik

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Übersicht (II): Deutsche Finanzgeschichte des 20. Jahrhunderts

9. Freitag, 13.12.14, 14.30 - 16.00 Uhr: Brünings Deflationspolitik

118

10. Freitag, 13.02.14, 16.15 - 17.45 Uhr: NS-Rüstungskeynesianismus

135

11. Freitag, 10.01.14, 14.30 - 16.00 Uhr: Die fetten Jahre der Bonner Republik

148

12. Freitag, 10.01.14, 16.15 - 17.45 Uhr: Konjunkturpolitik der 70er Jahre

166

13. Freitag, 24.01.14, 14.30 - 15.30 Uhr: Konsolidierungspolitik der 80er Jahre

179

14. Freitag, 24.01.14, 15.30 - 16.30 Uhr: Fiskalschock der Deutschen Einheit

192

15. Freitag, 24.01.14, 16.45 - 17.45 Uhr: Das Schreiben einer Hausarbeit

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Freitag, 01.11.13, 14.30 - 16.00 Uhr

1. Einführung

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1.1 Erkenntnisleitende Fragestellungen

Besteht ein Zusammenhang zwischen der hohen Staats-verschuldung und der Steuerpolitik bzw. dem Steuerrecht?

Welche Rolle spielt die Finanzverfassung für die Höhe der Staatsverschuldung?

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Warum ist die Staatsverschuldung so hoch?1

Vermag die Public-choice-Theorie die hohe Staats-verschuldung zu erklären?

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1.2 Erklärungsansatz der Finanzgeschichte

Aufzeigen und Analyse empirischer Daten der Geschichte

„Die Finanzen sind einer der besten Angriffspunkte der Untersuchung des sozialen Getriebes, besonders, aber nicht ausschließlich, des politischen. Namentlich an jenen Wendepunkten – oder besser Wendeepochen –, in denen Vorhandenes abzusterben und in Neues überzugehen beginnt und die auch stets finanziell Krisen der jeweils alten Methoden sind, zeigt sich die ganze Fruchtbarkeit dieses Gesichtspunkts: Sowohl in der ursächlichen Bedeutung – insofern als staatsfinanzielle Vorgänge ein wichtiges Element des Ursachenkomplexes jeder Veränderung sind – als auch in ihrer symptomatischen Bedeutung – insofern als alles, was geschieht, sich in der Finanzwirtschaft abdrückt.“

Joseph A. Schumpeter 1918

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1.3 Was spricht gegen eine Staatsverschuldung?

Öffentliche Investitionen sind betriebswirtschaftlich in der Regel nicht rentierlich. Da die kreditfinanzierten Investitionen nicht zu Mehreinnahmen führen, verkleinern Zinsen und Tilgung die finanziellen Spielräume oder müssen mit Abgabenerhöhungen oder weiterer Kreditaufnahme finanziert werden.

Crowding-out-Effekte: Verdrängung privater Nachfrage auf dem Geld- und Kapitalmarkt durch steigendes Zinsniveau infolge hoher staatlicher Nachfrage.

Wirtschaftswachstum schwächer, wenn Schuldenquote größer als 90 Prozent *

Intergenerative Gerechtigkeit (kann allerdings auch als Argument für Staatsverschuldung benutzt werden).

* Siehe Carmen M. Reinhart, Kenneth S. Rogoff, Growth in Time of Debt, Draft vom 31.12.2009.

Inflationsgefahren, wenn Staatsverschuldung zu hoch und über die Notenbank finanziert wird

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1.4 Währung und Staatsverschuldung

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1913 1918 1924 1932 1938 1944 1950 1959 1969 1982 1990 2000 2010

Schuldenquotev.H. NSP/BSP/BIP

Mark Reichsmark Deutschmark (DM) Euro

bis 1971/73 Dollar-Goldstandard, danach Floatingbis 1914 Goldstandard Goldstandard, ab 1931 Devisenzwangswirtschaft

Währungsreformvon 1948

Hyperinflationvon 1923

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1.5 Größere Handlungsspielräume durch Staatsverschuldung?

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1965 1975 1985 1995 2005

Netto-Neuverschuldung sämtlicher Gebietskörperschaften

Zinsausgaben sämtlicher Gebietskörperschaften

Mrd. Euro

Quelle: Stefan Bajohr, Grundriss Staatliche Finanzpolitik. Eine praktische Einführung, Wiesbaden 2. Auflage 2007, 211 (Abbildung 24).

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1.6 Wege aus dem Schuldenstaat

Rechtliche Begrenzungen

(u.a. Schuldenbremse)

Insolvenz Inflation

Nachhaltige Finanzpolitik

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1.7 Versuche zur Begrenzung der Kreditaufnahme

Versuche zur Begrenzung der Kreditaufnahme

1. Höhe der Investitionen = max. erlaubte Höhe der Neuverschuldung (Art. 115 GG)

2. Bis 1969 Kreditaufnahme nur für „außerordentlichen“ Bedarf, insbesondere für „werbende“ Zwecke (rentierliche Investitionen), erlaubt

3. Historische Grundregel des Verbots der Schuldenaufnahme für laufende Ausgaben (nur Kassenkredite zur kurzfristigen Liquiditätssicherung)

4. Euro-Kriterien als Grenze der Kreditaufnahme

5. Fast völliges Verbot staatlicher Schuldenaufnahme durch die „Schuldenbremse“

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1.8 Weiterführende Literatur zur Einführung in die Finanzgeschichte

• Marc Hansmann, Vor dem dritten Staatsbankrott? Der deutsche Schuldenstaat in historischer und internationaler Perspektive, München 2. Aufl. 2012.

• Ders., Wege in den Schuldenstaat. Die strukturellen Probleme der deutschen Finanzpolitik als Resultat historischer Entwicklungen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55 (3/2007), 425-461.

• Karl Häuser, Abriß der geschichtlichen Entwicklung der öffentlichen Finanzwirtschaft, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, hg. v. Fritz Neumark unter Mitwirkung v. Norbert Andel, Heinz Haller, Bd. 1, Tübingen 3. Aufl. 1977, 1-51.

• Friedrich-Wilhelm Henning, Staatsfinanzen in historischer Perspektive, in: Klaus-Dirk Henke (Hg.), Zur Zukunft der Staatsfinanzierung, Baden-Baden 1999, 35-71.

• Carmen M. Reinhart, Kenneth S. Rogoff, This Time Is Different. Eight Centuries of Financial Folly, Princeton, Oxford 2009.

• Eckart Schremmer (Hg.), Steuern, Abgaben und Dienste vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart 1994. • Uwe Schultz (Hg.), Mit dem Zehnten fing es an. Eine Kulturgeschichte der Steuer, München 1986.• Hans-Peter Ullmann, Der deutsche Steuerstaat. Eine Geschichte der öffentlichen Finanzen, München 2005. Währungen und Finanzgeschichte:• Peter Bernholz, Monetary Regimes and Inflation. History, Economic and Political Relationships,

Cheltenham/Northampton 2003.• Deutsche Bundesbank (Hg.), Währung und Wirtschaft in Deutschland 1876–1975, Frankfurt a.M. 1976.• Barry Eichengreen, Vom Goldstandard zum Euro. Die Geschichte des internationalen Währungssystems,

Berlin 2000.• Stefan Homburg, Erinnerungen an die deutschen Währungsreformen, in: ifo Schnelldienst 64 (19/2011), 17-

22.

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Freitag, 01.11.13, 16.15 - 17.45 Uhr

2. Strukturproblem der Staatsverschuldung

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2.1 Staatsbankrott als häufiges historisches Phänomen

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2.2 Entwicklung der deutschen Staatsverschuldung im 20. Jahrhundert

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1900 1913 1924/25 1932 1938 1950 1959/60 1969/70 1980/82 1990 2000 2010

Steuerquote Abgabenquote Staatsquote Schuldenquote

v.H. NSP/BSP/BIP

Als Folge der Finanzierung der beiden Weltkriege und ihrer Folgen sowie des frühen Beginns und des dauernden Aus-baus des Sozialstaats liegt die Staatsquote bei knapp 50 %. Da Steuer- und Abgabenquote deutlich unter der Staats-quote liegen, hat der Staat eine erhebliche jährliche Deckungslücke, die mittels Neuverschuldung geschlossen wird.

Fiskalschock 1. Weltkrieg(Schuldenquote 1918: 300 %)

Fiskalschock 2. Weltkrieg(Schuldenquote 1944: 400 %)

FiskalschockDeutsche Einheit

Konjunktur-politik 70er Jahre

2. Staats-bankrott1. Staats-

bankrott

Finanz- und Bankenkrise

Quelle: Hansmann (2012), 15, 54; Daten für 2010: BMF-Monatsbericht August 2012, 72 (Tab. 9), 73 (Tab.10) und 80 (Tab. 14).

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2.3 Entwicklung der amerikanischen Staatsverschuldung seit 1792

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2.4 Entwicklung der britischen Staatsverschuldung seit 1688

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UK Schuldenquote

v.H. BIP

Quelle: Bis 1970: Albrecht Ritschl, Sustainability of High Public Debt: What the Historical Record Shows, London 1996(= CEPR Discussion Papers 1357), 21 (Table 1); ab 1980: BMF-Monatsbericht August 2012, 80 (Tab. 14).

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2.5 Entwicklung der Schulden von Bund, Ländern und Kommunen seit 1950

Quelle: Statistisches Bundesamt (Hg.), Finanzen und Steuern, Fachserie 14, Reihe 5: Schulden der öffentlichen Haushalte 2011, Wiesbaden 2012, 22 (Tabelle 1.1.1); Erläuterung: Schulden einschließlich Kassenkredite.

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1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010

Bund Länder Kommunen

Mrd. Euro

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2.7 Ursachen der Staatsverschuldung

Kriege

Ausweitung der Staatsausgaben, insbes. im Sozialbereich

Fehlanreize im Föderalismus

Politikversagen: Budgetmaximierung und Desinteresse an solider Finanzpolitik

Verfehlte Steuerpolitik (Steuern durch Steuern und Steuersenkungen)

Anspruchsinflation der Bürger/innen

Bankenkrisen

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2.8 Entwicklung der Ausgabenstrukturen des Reichs-/Bundeshaushalts im 20. Jahrhundert

Soziales9%

Zinsen15%

Verteidigung10%

Arbeitsmarkt14%

Übrige Ausgaben

23%Renten

29%

2007

Soziales16%

Zinsen2%

Verteidigung35%

Renten13%Übrige

Ausgaben34%

1963

Soziales16%

Zinsen11%Verteidigung

19%

Renten14%

Übrige Ausgaben

36%

Arbeitsmarkt4%

1983

Soziales3%

Militär79%

Zinsen9%

Übrige Ausgaben

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1913

Quelle: Für das Jahr 1913: Ullmann (2005), 62; für die restlichen Jahre: Bundeshaushalte der entsprechenden Jahre.

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2.9 Säkulare Tendenzen in der Entwicklung der Ausgabenstrukturen

Die Ausgabenstrukturen des nationalen Haushalts spiegeln drei säkulare Tendenzen wider:

1. Sinkender Anteil der Militärausgaben: Militarisierung bis 1945 und nachfolgende Entmilitarisierung; „Friedendividende nach Ende des Kaltes Krieges“; Ausblick: Zusätzlicher Ausgabenbedarf aufgrund Neuausrichtung der Bundeswehr

2. Deutlicher Anstieg der Renten-, Arbeitsmarkt- und Sozialausgaben: Ausbau des Sozialstaats, den sämtliche Staatsformen (Kaiserreich, Weimarer Republik, NS-Staat, Bonner und Berliner Republik) betrieben haben; Ausblick: Hohes Haushaltsrisiko aufgrund der demographischen und ökonomische Entwicklung

3. Anstieg der Zinsausgaben: Starke Kreditfinanzierung der Ausgaben; Staatsschulden zwei Mal (1923 und 1949) durch Inflation bzw. Währungsreform weitgehend reduziert; Ausblick: Ende der historischen Niedrigzinsphase als Haushaltsrisiko

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2.10 Entwicklung der Staats- und Sozialleistungsquote im 20. Jahrhundert

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Staatsquote Sozialleistungsquote

v.H. NSP/BSP/BIP

Quelle Sozialleistungsquote: Für das Jahr 1913: Johannes Frerich, Martin Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Bd. 1: Von der vorindustriellen Zeit bis zum Ende des Dritten Reiches, München, Wien 1993, 175; für die rest-lichen Jahre bis 1950: Heinz Lamper, Jörg Althammer; Lehrbuch der Sozialpolitik, Berlin 8. Aufl. 2007, 510 (Tab. 18.1.); für die Jahre ab 1960: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.), Sozialbericht 2009, Bonn 2009, Tab. I-1 und 256 (Jahr 2010).

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2.11 Warum wurde der Sozialstaat in Deutschland so früh und so stark ausgebaut?

• Besonderheit der deutschen Geschichte (These von Bernd Weisbrod): Frühe Gründung einer sozialdemokratischen Partei (1863), die seit 1890 stärkste oder zumindest zweitstärkste Partei ist und folgende (finanzpolitische) Ziele der SPD verfolgt:- stark progressive Einkommensteuer als einzige Steuer (explizit gegen Mehrwertsteuer)- weitgehende Umverteilung, insbesondere durch Einkommensteuer und Sozialstaat- einheitliche Lebensverhältnisse und Unitarismus

• Konservative Reaktion auf den Erfolg der SPD: Frühe Einführung und der Ausbau des Sozialstaats:- Einführung der Renten- und Krankenversicherung durch Bismarck- Einführung der Arbeitslosenversicherung durch eine konservativ geführte Reichsregierung (1927)- Einführung der dynamischen Rente 1957 durch Adenauer und des Kindergeldes durch Erhard (1964)- Einführung der Pflegeversicherung durch Kohl/Blüm- Einführung der preußischen Einkommensteuer durch den Nationalkonservativen Miquel- Durchsetzen einer stark progressiven Einkommensteuer und des Unitarismus durch Erzberger (Zentrum)- Nutzung der Einkommensteuer als Instrument der Umverteilung durch sämtliche Regierungen seit 1919- Konzeption und Einführung des horizontalen Finanzausgleichs durch den Nationalkonservativen Popitz- Einführung des Verbundsystems durch die Große Koalition im Jahre 1969

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2.12 Weiterführende Literatur zur Geschichte der Staatsverschuldung

• Werner Abelshauser, Wege aus der Staatsverschuldung. Eine Skizze, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 98 (3/2011), 300-306.

• Alberto Alesina, The end of large public debts, in: Francesco Giavazzi, Luigi Spaventa (Hg.), High Public Debt. The Italian Experience, Cambridge 1989, 35-89.

• Hanno Beck, Aloys Prinz, Staatsverschuldung. Ursachen, Folgen, Auswege, München 2011.• Rolf Caesar, Öffentliche Verschuldung in Deutschland seit der Weltwirtschaftskrise: Wandlungen in Politik und

Theorie, in: Dietmar Petzina (Hg.), Probleme der Finanzgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Berlin 1989, 9-55. • Carl-Ludwig Holtfrerich, Bewältigung der deutschen Staatsbankrotte 1918 und 1945, in: Erhard Kantzenbach (Hg.),

Staatsüberschuldung, Göttingen 1996, 27-57. • Alfred Manes, Staatsbankrotte. Wirtschaftliche und rechtliche Betrachtungen, Berlin 2. Aufl. 1919.• Horst Claus Recktenwald, Umfang und Struktur der öffentlichen Ausgaben in säkularer Entwicklung, in: Handbuch

der Finanzwissenschaft, hg. v. Fritz Neumark, Bd. 1, Tübingen 3. Aufl. 1977, 713-752. • Carmen M. Reinhart, M. Belen Sbrancia, The Liquidation of Government Debt, Cambridge, Mass. 2011 (= NBER

Working Paper 16893).• Moritz Schularick, Public Debt and Financial Crises in the Twentieth Century, Berlin 2012 (= Discussion Paper

School of Business & Economics Freie Universität Berlin 2012/1)• Vito Tanzi, Ludger Schuknecht, Public Spending in the 20th Century. A Global Perspective, Cambridge 2000. • Uwe Wagschal, Staatsverschuldung. Ursachen im internationalen Vergleich, Opladen 1996.• Michael Waibel, Staateninsolvenzen in historischer Perspektive, in: Georg E. Kodek, August Reinisch (Hg.),

Staateninsolvenz, Wien 2011, 55-94.Sozialstaat und Staatsverschuldung:• Hans Günter Hockerts, Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011.• Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 3. Aufl. 2010.• Manfred G. Schmidt, Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Wiesbaden

3. Aufl. 2005.

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Freitag, 22.11.13, 14.30 - 16.00 Uhr

3. Strukturproblem der Finanzverfassung

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3.1 Trenn- versus Mischsystem

Trennsystem

Strikte Trennung der Ein-nahmen und Aufgaben der Gebietskörperschaften

Verbundsystem

Beteiligung jeder Gebiets-körperschaften an sämt-lichen Steuern; Misch-finanzierung der Aufgaben

Wettbewerbsföderalismus Konkordanzföderalismus

nicht vorhanden oder schwach ausgeprägt

stark ausgebaut

Subsidiarität Unitarismus

In der Geschichte des 20. Jahrhunderst gibt es meistens ein Mischsystem, in dem jedoch entweder die Elemente des Trenn- oder des Verbundsystems überwiegt.

Beschreibung

Charakter

Horizontaler Finanzausgleichs

Leitbild

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3.2 Entwicklung des Finanzausgleichs im 20. Jahrhundert

• Entwicklung des vertikalen Finanzausgleichs als Ausdruck des traditionell starken Föderalismus- 1871: Gründung des deutschen Nationalstaats als „Bund deutscher Fürsten“ - Trennsystem im Kaiserreich: Reich als Kostgänger der Länder- Miquelsche Finanzreform von 1891/93: Stärkung der Kommunalfinanzen- Zäsur der Erzbergerschen Finanzreform von 1919/20: Entstehung des unitarischen Bundesstaats- „Permanent vorläufiger Finanzausgleich“ in der Weimarer Republik- Ausschaltung der Länder in der NS-Zeit- Alliierten erzwingen 1949 ein Trennsystem, das aber nicht Verfassungswirklichkeit wird- Große Finanzreform von 1969: Verbundsystem/Unitarismus mit Bundesrat als Korrektiv (später als

Blockadeinstrument benutzt)• Entwicklung des horizontalen Finanzausgleichs mit dem Ziel einheitlicher Lebensverhältnisse

- Forderungen bereits im Kaiserreich (insbesondere Finanzausgleich zwischen armen und reichen Städten)- Anfänge in der Weimarer Republik- Gutachten von Popitz, Der künftige Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemeinden (1932)- Ausbau in der Bundesrepublik, insbesondere ab 1969 (Leitbild des kooperativen Föderalismus)- „unsichtbarer“ Finanzausgleich über die Sozialversicherungen

In Finanzgeschichte des 20. Jahrhunderts ist das Problem des Finanzausgleichs nie zufriedenstellend gelöst worden.

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3.3 Kompetenzverteilung auf die Gebietskörperschaften im Kaiserreich

Kaiserreich Gesetzgebungshoheit Ertragshoheit Verwaltungshoheit

Reich • für indirekte Steuern• Erhebung von Matrikular-

beiträgen, „solange Reichsteuern nicht eingeführt sind“ (Art. 70 der Reichsverfassung; Zusatz 1909 gestrichen)

• de facto keine Gesetz-gebungshoheit für die Einkommensteuer

• Erhebung von Matrikular-beiträgen von den Ländern

• Zolleinnahmen des Reichs durch Franckensteinsche Klausel gekappt

• keine

Länder (= Einzel-staaten)

• für direkte Steuern (de facto)• Zustimmung des Bundes-

rates für sämtliche Gesetze erforderlich

• Basissatz der Einkommen-steuer (in Preußen)

• Beteiligung an Zollein-nahmen (Francken-steinsche Klausel)

• Zoll- und Steuerverwaltung bei den Einzelstaaten

Kommunen • keine • Zuschlagsrecht auf die Einkommensteuer (in Preußen)

• Realsteuern (in Preußen)

• keine

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3.4 Kompetenzverteilung auf die Gebietskörperschaften in der Weimarer Republik

Weimarer Republik

Gesetzgebungshoheit Ertragshoheit Verwaltungshoheit

Reich • Gesetzgebungshoheit über Einkommen- und Umsatzsteuer

• ständige Änderung der Anteile („permanent vorläufiger Finanz-ausgleich“)

• Reichszoll- und finanzverwaltung

Länder • Beteiligung über Reichsrat • Beteiligung an Einkommen- und Umsatzsteuer (in Form von „Reichsüberweisungs-steuern“)

• ab 1929 Plafondierung

• keine

Kommunen • keine • hohe Beteiligung an Einkommen- und Umsatzsteuer

• Realsteuern

• keine

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3.5 Kompetenzverteilung auf die Gebietskörperschaften im NS-Staat

NS-Staat Gesetzgebungshoheit Ertragshoheit Verwaltungshoheit

Reich • Gesetzgebungshoheit über (fast) sämtliche Steuern

• vollständige Ertragshoheit • Reichszoll- und finanzverwaltung

Länder • keine • Mittelzuweisung vom Reich • keine

Kommunen • keine • Mittelzuweisung vom Reich sowie horizontaler Finanzausgleich

• Realsteuern

• keine

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3.6 Kompetenzverteilung auf die Gebietskörperschaften in der Bundesrepublik

Bundes-republik

Gesetzgebungshoheit Ertragshoheit Verwaltungshoheit

Bund • (konkurrierende) Gesetz-gebungshoheit über Einkommen- und Umsatzsteuer

• auf Druck der Sieger-mächte: Trennsystem, das sofort durch „Inanspruch-nahmegesetze“ (Beteiligung des Bundes an der Einkommensteuer) durchbrochen wird

• seit 1969 Verbundsystem

• Zollverwaltung

Länder • Zustimmung des Bundesrats in der Regel erforderlich

• Beteiligung an der Umsatzsteuer seit 1969

• Finanzverwaltung• Verwaltungsvereinbarung

von 1970 zur Zusammenar-beit von Bund und Ländern

Kommunen • keine • Beteiligung an der Einkommensteuer seit 1969 und an der Umsatzsteuer seit 1998

• Realsteuern

• keine

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3.7 Ertragshoheit über die Einkommensteuer im 20. Jahrhundert

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Reich/Bund Länder Kommunen

Die Ertragshoheit über die Einkommensteuer entwickelt sich im 20. Jahrhundert eindeutig in Richtung der nationalen Ebene, und zwar vor allem auf Kosten der Kommunen. Diese besitzen bis zum Ersten Weltkrieg durch das Zuschlagsrecht den größten Aufkommensanteil und werden in den 50/60er Jahren überhaupt nicht an der Einkommensteuer beteiligt.

Quelle: Hansmann (2000), passim.

v.H.

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3.8 Ertragshoheit über die Umsatzsteuer im 20. Jahrhundert

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1916 1920 1923 1924 1925 1926 1944-1969

1970 1980 1990 2000 2010

Reich/Bund Länder Kommunen

Als indirekte Steuer gehört die Umsatzsteuer traditionell zur nationalen Ebene. Im Rahmen des 1969 eingeführten bzw. ausgebauten Verbundsystems werden die Länder mit zunächst 30 % beteiligt. Seitdem steigt der Länderanteil deutlich an (u.a. 1995/96 wegen der Einbeziehung der neuen Bundesländer in den FAG sowie der Neuregelung des Familienleistungsausgleichs).Quelle: Für die Jahre bis 1969: Hansmann (2000), passim; für die Jahre ab 1970: BMF, Finanzplan des Bundes 2004 bis 2008, 77 (Schaubild 17) und Finanzplan des Bundes 2012 bis 2016, 72 (Schaubild 16) .

v.H.

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3.9 Anteil der einzelnen Gebietskörperschaften am gesamten Steueraufkommen

Das Popitzsche Gesetz von der Anziehungskraft des zentralen Etats lässt sich eher bezüglich der Länder- als der Bundeseinnahmen bestätigen. Die Länder weiten ihre Steuereinnahmen 1920/25 und vor allem 1950 auf Kosten der Kommunen aus. Seit 1990 verschieben sich die Gewichte zwischen Bund und Ländern zugunsten der letzteren.

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Reich/Bund Länder Kommunen Sonstige

Quelle: Für die Jahre bis 1990: Hansmann (2007), 453; für die Jahre ab 2000: BMF, Finanzplan des Bundes 2012 bis 2016, 70 (Schaubild 15) .

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3.10 Anteil der einzelnen Gebietskörperschaften an den gesamten Staatsausgaben

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60%

70%

80%

90%

100%

1913 1925 1937 1950 1959 1970 1980 1990 2000 2010

Reich/Bund Länder Kommunen

Auf der Ausgabenseite wird die wichtige Stellung der Kommunen deutlich. Zwar werden sie im Laufe des 20. Jahrhundert zur Gebietskörperschaft mit den geringsten Ausgaben, doch ihr Ausgabenanteil reduziert sich nur um 9 Prozentpunkte (Steueranteil im Vergleich um 24 Prozentpunkte).

Quelle: Für die Jahre bis 2000: Hansmann (2007), 454; für das Jahr 2010: BMF-Monatsbericht Dezember 2012, Tab. 7, eigene Berechnung.

Page 36: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

36

3.11 Strukturprobleme der Länderfinanzen am Beispiel von Niedersachsen

Strukturprobleme• Keine Einnahmenautonomie• Hohe Fixkosten• Schlechte Ausgabenqualität• Hohes strukturelles Defizit• Hoher Schuldenstand (Gefahr der Schuldenfalle)

Page 37: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

37

3.12 Steuereinnahmen des Landes Niedersachsen seit 1990

Quelle: Niedersächsisches Finanzministerium, Niedersächsische Haushalts- und Finanzpolitik, S. 9.

Mit Ausnahme der Grunderwerbsteuer kann das Land seine Einnahmen kaum beeinflussen.

Page 38: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

38

3.13 Ausgabenstruktur des Landes Niedersachsen (Haushalt 2011)

Investitionen6%

Sach-ausgaben

5%

Zinsen9%

Zuweisungen und Zuschüsse

41%

Personal-ausgaben

39%

Von den rd. 10 Mrd. € Zuweisungen und

Zuschüsse erhalten die Kommunen 6,5 Mrd. €.

Quelle: www.mf.niedersachsen.de und Niedersächsisches Finanzministerium, Niedersächsische Haushalts- und Finanzpolitik, S. 28, eigene Darstellung.

Page 39: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

39

3.14 Anteil der Versorgungs- und Zinsausgaben an den Gesamtausgaben des Landes Niedersachsen

20 %

Quelle: Niedersächsisches Finanzministerium, Niedersächsische Haushalts- und Finanzpolitik, S. 29.

Page 40: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

40

3.15 Nettokreditaufnahme und Kreditfinanzierungsquote des Landes Niedersachsen seit 1950

0

500

1000

1500

2000

2500

3000

3500

0

2

4

6

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16

18

20

Nettokreditaufnahme Kreditfinanzierungsquote

Mio

. E

uro

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Pro

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te)

Quelle: MF Niedersachsen

Page 41: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

41

3.16 Verschuldung des Landes Niedersachsen seit 1990

Quelle: www.mf.niedersachsen.de

Page 42: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

42

3.17 Summierte Nettokreditaufnahme und Zinsausgaben 2000 bis 2010

0

5000

10000

15000

20000

25000

Nettokreditaufnahme Zinsausgaben

Quelle: Niedersächsisches Finanzministerium, eigene Berechnungen.

Die Zinsausgaben übersteigen im Zeitraum von 2000 bis 2010 insgesamt die entsprechende

Nettokreditaufnahme.

Mio. €

Page 43: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

43

3.18 Weiterführende Literatur zur Geschichte der Finanzverfassung

• Charles B. Blankart, Föderalismus in Deutschland und Europa, Baden-Baden 2007.• Marc Hansmann, Kommunalfinanzen im 20. Jahrhundert. Zäsuren und Kontinuitäten: Das Beispiel

Hannover, Hannover 2000. • Karl-Heinrich Hansmeyer, Manfred Kops, Die wechselnde Bedeutung der Länder in der deutschen

Finanzverfassung seit 1871, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 125 (1989), 63-85. • Carsten Hefeker, The agony of central power: Fiscal federalism in the German Reich, in: European

Review of Economic History 5 (2001), 119-142. • Jürgen W. Hidien, Der bundesstaatliche Finanzausgleich in Deutschland. Geschichtliche und

staatsrechtliche Grundlagen, Habil. Kiel 1998, Baden-Baden 1999.• Dietmar Petzina, Veränderte Staatlichkeit und kommunale Handlungsspielräume – historische

Erfahrungen in Deutschland im Bereich der Finanzpolitik, in: Dieter Grimm (Hg.), Staatsaufgaben, Baden-Baden 1994, 233-260.

• Wolfgang Renzsch, Finanzverfassung und Finanzausgleich. Die Auseinandersetzungen um ihre politische Gestaltung in der Bundesrepublik Deutschland zwischen Währungsreform und deutscher Vereinigung (1948-1990), Habil. Göttingen 1991, Bonn 1991.

• Peter-Christian Witt, Ders., Finanzen und Politik im Bundesstaat Deutschland 1871-1933, in: Jochen Huhn, Peter-Christian Witt (Hg.), Föderalismus in Deutschland. Traditionen und gegenwärtige Probleme, Baden-Baden 1992, 75-99.

Page 44: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

44

Freitag, 22.11.13, 16.15 - 17.45 Uhr

4. Strukturproblem des Steuerrechts

Page 45: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

45

4.1 Vom Domänen- zum Steuerstaat

Domänenstaat Steuerstaat

Ertragsteuern

Einkommensteuer

Umsatzsteuer

1650 1700 1750 1800 1850 1950 1900

Page 46: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

46

4.2 Liberale versus „linke“ Steuerpolitik

Liberaler Ansatz

• „Die Untertanen jeden Staates sollten zur Unterstützung der Regierung soweit wie möglich im Verhältnis zu ihren jeweiligen Fähigkeiten beitragen; das heißt im Verhältnis zu den Einkünften, derer sie sich jeweils unter dem Schutz des Staates erfreuen.“ (Adam Smith)

• „Ich werfe also dem jetzigen Zustande vor, dass er viel zu viel von den direkten Steuern verlangt, zu wenig von den indirekten, und ich strebe danach, direkte Steuern abzuschaffen und [...] durch indirekte Steuern zu ersetzen.“ (Bismarck 1879)

• Einkommensteuer allenfalls in Form einer „flat tax“ oder eines Stufentarifs

„Linker“ Ansatz

• „Bürger, deren Einkommen das nicht über-steigen, was für ihre elementaren Bedürf-nisse notwendig ist, sollen von Leistungen für öffentlichen Ausgaben freigestellt werden; die anderen sollen diese gemäß ihrem Vermögen ansteigend unterstützen.“ (Maximilien de Robespierre)

• „Starke Progressivsteuer“ (Karl Marx, Kommunistisches Manifest von 1848)

• „Eine einzige progressive Einkommensteuer für Staat und Gemeinde, anstatt aller bestehenden, insbesondere der das Volk belastenden indirekten Steuern.“ (Gothaer Programm der SPD von 1875)

Page 47: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

47

4.3 Traditionelle Ertragsteuern (z.B. Württemberg 1821)

• Liberaler Ansatz, die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger unbedingt zu schützen. Das persönliche Einkommen ist Privatsache. Das schließt Selbstdeklaration und staatliche Überprüfungen aus. Steuerveranlagung daher nur anhand äußerlicher Merkmale, wie z.B. Anzahl der Fenster oder Beschäftigten, die sichtbare Kapitalausstattung, Durchschnitterträge. Anfang des 18. Jh. wird es als gerecht empfunden, dass der derjenige, der schlecht wirtschaftet, genauso viele Steuern (z.B. gemessen anhand eines durchschnittlichen Bodenertrags) zahlt, wie ein „Tüchtiger“.

• Ideale Umsetzung durch Ertragsteuern = Steuern auf Objekte, also Gebäude, Grund und Boden, Gewerbebetriebe, und zwar in Höhe des im Durchschnitt erzielbaren, geschätzten (Rein-) Ertrags (Rohertrag abzüglich Produktionskosten).

• Problem der schwierigen Erhebung: umfassendes Kataster für den geschätzten Ertragswert von jedem Gebäude, jeder Parzelle und jedem Gewerbebetrieb nötig einschließlich dessen Pflege.

• Im Zuge der Industrialisierung steigt der Ertragswert der Betriebe erheblich, ohne dass dies laufend angepasst werden kann: Daher überproportionale Belastung der Landwirtschaft im 19. Jh. und (anfänglich) unintendierte Förderung des Strukturwandels.

• Keine dynamische Einnahmequelle, da Steuern nicht konjunkturreagibel sind und in Form von Umlagen erhoben werden. Steuern haben eine feste Summe zu bringen, die vom Haushaltsplan bestimmt wird. Diese Summe wird zunächst anteilig verteilt auf die Objektarten (also Gebäude, Grund und Boden, Gewerbebetriebe) und dann gemäß des Katasteranschlags auf das einzelne Objekt verteilt.

Page 48: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

48

4.4 Entstehung der Einkommensteuer

• Anstelle der gemeindeüblichen durchschnittlich-möglichen Erträge einzelner Objekte soll bei der Einkommensteuer das tatsächlich erzielte gesamte Einkommen einer Person besteuert werden. Die Steuerlast entspricht der Leistungsfähigkeit. Der „Tüchtige“ zahlt also mehr als der „Unfähige“ oder „Faule“.

• Das „unfundierte“ Einkommen aus Arbeit und Kapital wird erstmals vollständig besteuert.• Einkommensteuer ist aufkommensstärker und leichter zu erheben (Selbstdeklaration) als die

traditionellen Ertragsteuern.• Grundproblem: Wie wird das zu versteuernde Einkommen (Bemessungsgrundlage) definiert?• erste moderne deutsche Einkommensteuer in Sachsen 1874/88• Einführung durch Miquel in Preußen 1891 (erst nach Ende der „Ära Bismarck“ möglich)• Fortentwicklung durch Erzberger/Popitz (1919/25), u.a. Ergänzung durch Körperschaftsteuer• Das preußische Steuergesetz ist bis heute die Grundlage der Einkommenssteuer.• Einkommensteuer kann als Mittel zur Umverteilung eingesetzt werden. Daher fordert die SPD eine

Einkommensteuer seit ihrer Gründung im Jahre 1863 und herrscht ein hoher Widerstand gegen ihre Einführung in Preußen.

Page 49: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

49

4.5 Die Pflicht zur Einkommensteuererklärung

Die Bürger müssen zum ersten Mal in der Geschichte dem Staat ihr vollständiges Einkommen offen legen. Dagegen gibt es erheblichen Widerstand:

„Ganz verwerflich als eine Ausgeburt verkehrtester Finanzpolitik ist der sogenannte Fassion. Dieselbe besteht darin, dass der Steuerpflichtige den betreffenden Staatsbeamten sein Einkommen summarisch, am liebsten haarklein darlegt. … Die Methode ist freilich practiziert worden u.a. im Königreich Sachsen. Die Folge ist aber allerwege, dass dem Staat eine schwere Last von Lügen aufgebürdet wird, deren Schuld ganz allein auf ihn fällt. Denn das gestellte Verlangen ist eine Thorheit und ein Rechtsüberschreitung… Die Fanatiker der Fassion, welche Theils pedantische Ausläufer der Bureaukratie theils Kinder eines unreifen Idealismus sind, … diese Fanatiker haben zuweilen terroristische Maßregeln vorgeschlagen, um die Wirksamkeit der Fassion zu sichern, z.B. … inquisitorische Befugnisse der Behörden. Die Folge wird stets sein, dass man vieles Vermögen aus dem Lande scheucht, anderem [Vermögen] Verbergungskünste aufdrängt… Es ist sehr schlimm, wenn es ein Gebiet gibt, wo beinahe jedermann lügt, wo jeder vom anderen weiß, dass er lügt, und doch der Schein der Wahrheit immerfort erheuchelt werden muss. Der Staat hat nach dem Einkommen gar nichts zu fragen.“

Prof. Rößer 1873 in einem Gutachten für den Verein für Socialpolitik

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50

4.6 Die erste deutschen Einkommensteuer in Sachsen 1874/78

• Hintergrund: Frühe Industrialisierung und Gründung der SPD in Sachsen

• Selbstangabe des Einkommens auf einem vorgeschriebenen Deklarationsformular erforderlich

• Tarif setzte mit 1/6 % bei einem Einkommen von 301 Mark ein und endete bei 3 % ab einem Einkommen von über 5400 Mark.

• Weitgehende Definition des Einkommens: Einkommen sind – ohne Rücksicht auf die Quelle – alle in Geld oder Geldeswert bestehenden Einnahmen, mit Einschluss des Mietwerts der Wohnung im eigenen Haus oder sonstiger freier Wohnung sowie des Werts der verbrauchten Erzeugnisse aus eigener Landwirtschaft und eigenem Gewerbebetrieb.

• Einführung eines „Verbrauchseinkommens“ (= Verbrauchsaufwand) zur Lösung des Problems, wenn ein hoher Lebensstandard nicht mit dem niedrig deklarierten Einkommen übereinstimmt: „Ist das Einkommen einer Person … geringer als die Summe, welche sie zur Bestreitung des Unterhalts für sich und die von ihr unterhaltenen Personen … aufwendet, so kann diese Summe … als Betrag des Einkommens angenommen werden.“ (§ 15) Die Veranlagung erfolgte durch eine Einschätzungs-kommission mit Fragerecht.

• Heranziehung der Vorschriften des ab 1869 geltenden Allgemeinen Handelsgesetzbuches (AHGB) zur Lösung des Problems der Bemessungsgrundlage bei der Unternehmensbesteuerung

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51

4.7 Das preußische Einkommensteuergesetzes von 1891

• synthetische Einkommensteuer

• vier Einkunftsarten: Einkommen aus „Kapitalvermögen, Grundvermögen, Pachtungen und Miethen, [...] Handel und Gewerbe, Gewinn bringender Arbeit“

• steuerfreies Existenzminimum bis zu einem Betrag von 900 Reichsmark

• für heutige Verhältnisse mäßige, damals aber umstrittene Progression bzw. Degression, fallend von einem Höchstsatz von knapp 4 Prozent für Einkommen über 100.000 Mark

• Mindestsatz von durchschnittlich 0,62 Prozent für Einkommen von 901 bis 1.050 Reichsmark

• Kinderfreibetrag

• Abzugsmöglichkeit von Werbungskosten, Schuldzinsen und Abschreibungen sowie Beiträge zu den Sozialversicherungen

• Einführung der Steuererklärungspflicht (Selbstdeklaration) für alle Einkommen über 3.000 Mark

• Abschaffung des unzulänglichen Einschätzungsverfahrens nach äußeren Merkmalen, in dem Steuer-pflichtige grob nach ihrem Besitz bzw. ihrem Beruf in bestimmte Klassen eingeteilt worden waren

• Wohnortprinzip

Page 52: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

52

4.8 Entwicklung der Anteile der Steuern vom Einkommen und Umsatz am Gesamtsteueraufkommen

Die Bedeutung der Umsatzsteuer nimmt seit ihrer Einführung 1916/18 stetig zu. Der säkulare Trend der Einkommensteuer als mit Abstand aufkommensstärkste Steuer scheint beendet zu sein.

0

5

10

15

20

25

30

35

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45

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1913 1925 1932 1936 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2009

Steuern vom Einkommen (einschl. Körperschaftsteuer und Solidaritätszuschlag)

Steuern vom Umsatz

v.H.

Quelle: für die Jahre 1913 bis 1936: Volker Hentschel (1985), 273; für die Jahre ab 1950: http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_4158/DE/Wirtschaft__und__Verwaltung/Steuern/Steuerschaetzung__einnahmen/Steuereinnahmen/0601011a6002.html, eigene Berechnungen.

Page 53: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

53

0

10

20

30

40

50

60

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90

100

1913 1920 1925 1939 1946 1953 1958 1970 1975 1990 2000 2001 2004 2005 2007

v.H.

4.9 Entwicklung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer seit 1913

Seit 1920 sind die Spitzensteuersätze der Einkommensteuer nominal hoch, jedoch ist die reale Belastung aufgrund der steuerlichen Subventionen/Abzugsmöglichkeiten deutlich niedriger.

Kriegs-zuschläge

Steuersätze derSiegermächte

Popitz

Erzberger

Eichel

Finanz-reformen

Quelle: Hansmann (2007), 441.

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54

4.10 „Verluderung“ der Bemessungsgrundlage durch Steuerpolitik

• Die synthetische Einkommensteuer impliziert, dass alle Einkunftsarten gleich hoch belastet werden. Grundproblem der praktischen Umsetzung ist jedoch die Ermittlung der Bemessungsgrundlage, und zwar insbesondere bei den Unternehmens- und Kapitaleinkünften. Die Möglichkeiten zur Steuergestaltung sind während des gesamten 20. Jh. durch die Politik gezielt vergrößert worden.

• „Der Finanzminister ist der beste Sozialisierungsminister.“ (Erzberger 1919)• Der NS-Staat führte eine Reihe von Steuersubventionen ein, u.a. die Steuerfreiheit für

Nachtzuschläge, um die Zustimmung zum Regime zu festigen. • In der gesamten Geschichte der Bundesrepublik wurden Anzahl und Umfang der

Steuersubventionen erhöht. Der erste Bundesfinanzminister Schäffer machte aus der Not, also den hohen, von den Siegermächten auferlegten Steuersätzen, eine Tugend und förderte massiv die „Selbstfinanzierung“ der Unternehmen. Großzügige Abschreibungsregelungen und niedrige Steuern für einbehaltene Gewinne schufen starke Investitionsanreize. Die Unternehmen wurden letztlich vor die Wahl „Investition oder Finanzamt“ gestellt. „Von diesem Strukturfehler überhöhter Steuersätze und löchriger Bemessungsgrundlagen hat sich das deutsche Steuerrecht bis heute nicht erholt.“ (Paul Kirchhof).

• Die ab 1967 durchgeführten Versuche, durch Steuern zu steuern, führten zu zusätzlichen Steuersubventionen bzw. Abzugsmöglichkeiten. Die Bemessungsgrundlage „verluderte“ (Klaus Tipke) zunehmend. Sämtliche bereits seit den fünfziger Jahren unternommenen Versuche, diese Entwicklung zu stoppen und das Steuerrecht grundlegend zu reformieren, scheiterten.

• abnehmende Halbwertszeit der Steuerreformen, zentraler Konflikt im Bundestagswahlkampf 2005

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55

4.11 Entwicklung der Lohn- und Körperschaftsteuer von 1950 bis 2010

0

25

50

75

100

125

150

1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010

Lohnsteuer Körperschaftsteuer

in Mrd. €

Quelle: http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_4158/DE/Wirtschaft__und__Verwaltung/Steuern/Steuerschaetzung__einnahmen/Steuereinnahmen/0601011a6002.html.

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56

4.12 Vergleich internationaler Steuer- und Abgabenquoten im Jahr 2008

10

15

20

25

30

35

40

45

50

Deutschland Frankreich Schweden Großbritannien USA Japan

Steuerquote Abgabenquote

v.H.

Quelle: BMF-Monatsbericht Juli 2010, 125 (Tab. 15), 126 (Tab. 16).

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57

4.13 Weiterführende Literatur zur Geschichte des Steuerrechts

• Peter Bareis, Die Reform der Einkommensteuer vor dem Hintergrund der Tarifentwicklung seit 1934, in: Paul Kirchhof, Wolfgang Jakob, Albert Bermann (Hrsg.), Festschrift für Klaus Offerhaus zum 65. Geburtstag, Köln 1999, S. 1053-1069.

• Giacomo Corneo, The Rise and Likely Fall of the German Income Tax, 1958-2005, in: CESifo Economic Studies 51 (2005), 159-186.

• Dieter Dziadkowski, 50 Jahre Reformansätze bei der Einkommensteuer. Anmerkungen zu den Reformschritten seit der „Großen Steuerreform 1955“, in: Ifo-Schnelldienst 58 (2005), S. 23-29.

• Volker Hentschel, Steuersystem und Steuerpolitik in Deutschland 1890-1970, in: Werner Conze, M. Rainer Lepsius (Hg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Stuttgart, 2. Aufl., 1985, 256-295.

• Stefan Homburg, Allgemeine Steuerlehre, München 6. Aufl. 2010.• Paul Kirchhof, Der sanfte Verlust der Freiheit. Für ein neues Steuerrecht – klar, verständlich, gerecht,

München, Wien 2004. • Fritz Neumark, Der Aufstieg der Einkommensteuer. Entstehung und Entwicklung der direkten Besteuerung,

in: Uwe Schultz (Hg.), Mit dem Zehnten fing es an. Eine Kulturgeschichte der Steuer, München 1986, 232-244.

• Eckart Schremmer, Einfach und gerecht? Die erste deutsche Einkommensteuer von 1874/78 in Sachsen als Lösung eines Reformstaus in dem frühindustrialisierten Lande, in: Scripta Mercaturae 35/2 (2001), 38-64.

• Ders., Warum die württembergischen Ertragsteuern von 1821 und die sächsischen Einkommensteuer von 1874/78 so interessant sind, Stuttgart, Leipzig 2002.

• Uwe Wagschal, Steuerpolitik und Steuerreformen im internationalen Vergleich. Eine Analyse der Ursachen und Blockaden, Münster 2005

• Klaus Tipke, Ein Ende dem Einkommensteuerwirrwarr!? Rechtsreform statt Stimmenfangpolitik, Köln 2006.

Page 58: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

58

Freitag, 29.11.13, 14.30 - 16.00 Uhr

5. Strukturproblem der Finanzverwaltung

Page 59: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

59

5.1 „Institutions do matter“: Strukturprobleme des Finanzministeriums und ihre Folgen

Eigeninteresse des Finanzministeriums

Inhaltliches Interesse des Finanz-ministeriums

Strukturprobleme des Finanzministeriums

Ausweitung der eigenen Kompe-tenzen (in Form neuer Aufgaben sowie zu Lasten anderer Ressorts und der Länder)

• Durchsetzen einer soliden Finanzpolitik

• Perfektionierung der Gesetze (insbe-sondere im Steuer-bereich)

• Funktionierende Finanzverfassung

• stete Vergrößerung und Diversifizierung (siehe steigende Anzahl der Abteilungen, Referate, Beschäftigen und Staatssekretäre)

• extreme Arbeitsteilung und Zuständigkeitsdenken• ausgeprägte Hierarchieebenen• großer Overhead• geringe organisationsübergreifende Zusammenarbeit• Orientierung am Detail, kein ganzheitlicher Ansatz• Perfektionismus und Regelorientierung, geringe Zielorientierung• Problem „Führung und Steuerung“• Prinzipal-Agent-Problem (Max Weber: „Experten-Laien-Dilemma“)

„Es bestand und besteht ein krasses Missverständnis zwischen akribischen haushaltspolitischen Bemühungen im Bereich der unmittelbaren Bundesausgaben und einer eher sorglosen Nichtbeachtung der großen Struktur-probleme in der Sozialversicherung.“ (Thilo Sarrazin 1983, S. 382)„... gerade der Perfektionismus des Reichsfinanzministeriums [war in den 20er Jahren, M.H.] eine der wesent-lichen Ursachen für die finanziellen Mißerfolge und die soziale Unausgewogenheit der Steuerpolitik “ (Peter-Christian Witt 1975, S. 69)Darüber hinaus dürfte in der strikten, von Anfang an bestehenden organisatorischen Trennung zwischen Haushalt und Steuern ein weiterer Grund für die Etatprobleme liegen.

Page 60: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

60

5.2.1 Entwicklung der Organisation vom Reichsschatzamt zum Bundesfinanzministerium

Reichsfinanzministerium der Provisorischen Zentralgewalt

1848/49

Reichsfinanzministerium1919-1945

Bundesfinanzministerium

seit 1949

Finanzbüro/Finanzabteilung in der Reichskanzlei1871-1878

Gemeinsamer Deutscher Finanzrat Verwaltung für Finanzen (der Bizone)

1946-1949

Reichsschatzamt1879-1918

1919-1923: Reichsschatzministerium (zusätzlich)1957-1969: Bundesschatzministerium (zusätzlich)(bis 1961: Bundesministerium für den wirtschaftlichen

Besitz des Bundes)1971-1972: Fusion zum Bundesministerium für

Wirtschaft und Finanzen

Page 61: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

61

5.2.2 Aufbau und Aufgaben des Reichsschatzamts 1879 und 1912

Reichsschatzamt 1912

Abteilung I Etat-, Kassen- und Rechnungswesen

Abteilung II Indirekte Steuern und Zölle

Abteilung II A Verkehr- und Besitzsteuern

Zusätzlich (seit 1908)

Volkswirtschaftliches Büro (Kernaufgabe: Presse- und Öffentlichkeitsarbeit)

Referate Anzahl nicht bekannt

Beschäftigte 95 (im Jahr 1913)

Reichsschatzamt 1879 (Gründung)

Abteilung I Finanzverwaltung (Etat-, Kassen- und Rechnungswesen)

Abteilung II Zölle und Steuern

Referate Anzahl nicht bekannt

Beschäftigte 55

Haushalt sowie Steuern und Zölle sind bis heute die Kernaufgaben des Finanzministeriums.

Page 62: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

62

5.2.3 Aufbau und Aufgaben des Reichsfinanzministeriums 1919/20 und 1927

Reichsfinanzministerium 1927

Abteilung Z Personalien des Ministeriums

Abteilung I Haushaltsfragen

Abteilung II Zölle und Verbrauchabgaben

Abteilung III Besitz- und Verkehrsteuern

Abteilung IV Reparationen, Finanzausgleich, Rechtsangelegenheiten

Referate 80

Beschäftigte 668 (im Jahr 1929)

Reichsfinanzministerium 1919/20

Abteilung Z(„Zentralbüro“)

Personalien des Ministeriums

Abteilung I Allgemeines Etat-, Kassen- und Rechnungs- und Besoldungswesen

Abteilung I a Haushalt der Verkehrsverwaltungen

Abteilung II Zollwesen und Verbrauchsabgaben

Abteilung III Besitz- und Verkehrsteuern

Abteilung IV Organisation der Reichsfinanzverwaltung und laufende Personalverwaltung

Abteilung V Währungs-, Münz- und Bankwesen, An-leihen, Ausführung des Friedensvertrags, finanzielle Beziehungen zum Ausland

zusätzlich Ministerbüro und „Nachrichtenstelle“ (= Pressestelle)

Referate Anzahl nicht bekannt

Beschäftigte 193 (1919), 758 (1920)

Zusätzliche Aufgaben seit 1919: 1. Organisation der Reichsfinanzverwaltung2. Kriegsfolgen/Reparationen3. FinanzausgleichSeit 1919/20 gibt es zudem eine separate Zentralabteilung, ein Ministerbüro und eine Pressestelle

Page 63: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

63

5.2.4 Aufbau und Aufgaben des Reichsfinanzministeriums 1944

Reichsfinanzministerium 1944

Abteilung I Reichshaushalt und Finanzwesen der Gebietskörperschaften

Abteilung I A Finanzwesen der Ländern, der Reichsgaue, der Gemeinden und sonstigen Gebietskörperschaften, Reichsreform, Finanzausgleich

Abteilung II Zölle und Verbrauchsteuern

Abteilung III Besitz- und Verkehrsteuern

Abteilung IV Besoldungs-, Beamten- und Versorgungsangelegenheiten, Angestellten- und Arbeiterfragen, Liegenschaften

Abteilung V Zwischenstaatliche Finanzfragen, allgemeine Wirtschafts- und Rechtsfragen

Abteilung VI Personal und Verwaltung

Abteilung VII Reichsbauverwaltung

zusätzlich Statistisches Büro (Anfänge einer „Grundsatzabteilung“)

Referate 115

Beschäftigte 1.547 (im Jahr 1943)

Neue Zuständigkeiten im NS-Staat: 1. Zuständigkeit für Dienst- und Tarifrecht2. Reichsbauverwaltung3. Anfänge einer „Grundsatzabteilung“

Page 64: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

64

5.2.5 Aufbau und Aufgaben des Bundesfinanzministeriums 1950 und 1960

Bundesfinanzministerium 1950

Abteilung I Organisation, Personalien, Allgemeine Verwaltung, Beamten-, Versorgungs-, Besoldungs- und Tarifrecht

Abteilung II Allgemeine Finanzpolitik und öffentliche Finanzwirtschaft (mit Volkswirtschaftlicher Gruppe, Bundeshaushalt, Bundesvermögen, Bund und Länder, Bundesbauangelegenheiten)

Abteilung III Zölle und Verbrauchsteuern

Abteilung IV Besitz- und Verkehrsteuern

Abteilung V Banken, internationale Finanzierungsfragen, Devisen, öffentliches Versicherungswesen

Abteilung VI Rechtsangelegenheiten, Liquidation des Krieges

Sonderab-teilung

Besatzungslastenverwaltung

Sondergruppe Lastenausgleich

Referate 82

Beschäftigte 780

Bundesfinanzministerium 1960

Abteilung I Organisation und Personalien, Allgemeine Verwaltung

Abteilung II Bundeshaushalt

Abteilung III Zölle, Verbrauchsteuern, Monopole

Abteilung IV Besitz- und Verkehrsteuern

Abteilung V Schuldenwesen, allgemeine und interna-tionale Finanzierungsfragen, Finanzbe-ziehungen zu den Ländern, Wirtschafts-förderung,

Abteilung VI Liquidation des Krieges, Verteidigungs-lasten, Rechtsangelegenheiten

zusätzlich Finanzpolitische und Volkswirtschaftliche Gruppe

Referate 101

Beschäftigte 1.278

Zusätzliche Aufgaben seit 1950: 1. Kriegsfolgen und Lastenausgleich2. Volkswirtschaftliche Gruppe

Page 65: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

65

5.2.6 Aufbau und Aufgaben des Bundesfinanzministeriums 1969 und 1970

Bundesfinanzministerium 1970

Abteilung Z Organisation und Personalien, Allgemeine Verwaltung

Abteilung I Grundsatzfragen der Finanzpolitik, Finanzbeziehungen zu den Ländern und Gemeinden, Finanzreform

Abteilung II Bundeshaushalt

Abteilung III Zölle, Verbrauchsteuern, Monopole

Abteilung IV Besitz- und Verkehrsteuern

Abteilung V Schuldenwesen, allgemeine und internationale Finanzierungsfragen, Wirtschaftsförderung

Abteilung VI Liquidation des Krieges, Verteidigungs-lasten, Rechtsangelegenheiten

Abteilung VII Bauwesen

Abteilung VIII Industrielles Bundesvermögen

Referate 153

Beschäftigte 1.766

Bundesfinanzministerium 1969

Abteilung Z Organisation und Personalien, Allgemeine Verwaltung

Abteilung I Grundsatzfragen der Finanzpolitik, Finanzbeziehungen zu den Ländern und Gemeinden, Finanzreform

Abteilung II Bundeshaushalt

Abteilung III Zölle, Verbrauchsteuern, Monopole

Abteilung IV Besitz- und Verkehrsteuern

Abteilung V Schuldenwesen, allgemeine und internationale Finanzierungsfragen, Wirtschaftsförderung

Abteilung VI Liquidation des Krieges, Verteidigungs-lasten, Rechtsangelegenheiten

Referate 119

Beschäftigte 1.387

1970: Eingliederung des Schatzministeriums

Page 66: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

66

5.2.7 Aufbau und Aufgaben des Bundesministeriums für Wirtschaft und Finanzen 1971

Bundesministerium für Wirtschaft und Finanzen 1971

Abteilung W/Z Zentralabteilung Abteilung F/Z Organisation und Personalien, Allgemeine Verwaltung

Abteilung W/E Europaabteilung Abteilung F/I Grundsatzfragen der Finanzpolitik, Finanzbe-ziehungen zu den Ländern und Gemeinden, Finanzreform

Abteilung W/I Wirtschaftspolitik Abteilung F/II Bundeshaushalt

Abteilung W/II Strukturpolitik für kleine und mittlere Unternehmen, Handwerk

Abteilung F/III Zölle, Verbrauchsteuern, Monopole

Abteilung W/III Energiepolitik und Grundstoffe Abteilung F/IV Besitz- und Verkehrsteuern

Abteilung W/IV Gewerbliche Wirtschaft Abteilung F/V Schuldenwesen, allgemeine und internationale Finanzierungsfragen, Wirtschaftsförderung

Abteilung W/V Außenwirtschaft und Entwicklungshilfe Abteilung F/VI Liquidation des Krieges, Verteidigungslasten, Rechtsangelegenheiten

Abteilung W/VI Geld und Kredit Abteilung F/VII Bauwesen

Abteilung F/VIII Industrielles Bundesvermögen

Referate 268

Beschäftigte 3.176

Page 67: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

67

5.2.8 Aufbau und Aufgaben des Bundesfinanzministeriums 1989

Bundesfinanzministerium 1989

Abteilung Z Zentralabteilung (Organisation und Personalien, Allgemeine Verwaltung)

Abteilung I Grundsatzfragen der Finanzpolitik, finanzpolitische Fragen einzelner Bereiche, industrielles Bundesvermögen

Abteilung II Bundeshaushalt

Abteilung III Zölle, Verbrauchsteuern, Branntweinmonopol

Abteilung IV Besitz- und Verkehrsteuern

Abteilung V Finanzbeziehungen zu der EG, den Ländern und Gemeinden, internationale Finanzfragen, Staatsrecht

Abteilung VI Rechtsangelegenheiten, Abwicklung der finanziellen Folgen des Krieges, Verteidigungslasten, Bundesliegenschaften

Abteilung VII Geld und Kredit

Referate 140

Beschäftigte 1.649

Aus der kurzen Episode der Zusammenlegung mit dem Wirtschafts-ministerium bleibt dem BMF die Abteilung „Geld und Kredit“.

Page 68: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

68

5.2.9 Aufbau und Aufgaben des Bundesfinanzministeriums 1993

Bundesfinanzministerium 1993

Abteilung Z Zentralabteilung (Organisation und Personalien, Allgemeine Verwaltung)

Abteilung I Grundsatzfragen der Finanzpolitik, finanzpolitische Fragen einzelner Bereiche

Abteilung II Bundeshaushalt

Abteilung III Zölle, Verbrauchsteuern, Branntweinmonopol

Abteilung IV Besitz- und Verkehrsteuern

Abteilung V Finanzbeziehungen zu den Ländern und Gemeinden, Rechtsangelegenheiten, Abwicklung der finanziellen Folgen des Krieges, offene Vermögensfragen

Abteilung VI Liegenschaftsangelegenheiten der ausländischen Streitkräfte, Bundesliegenschaften, bewegliches Bundesvermögen

Abteilung VII Geld und Kredit

Abteilung VIII Bundesbeteiligungen, Treuhandanstalt

Abteilung IX Internationale Währungs- und Finanzbeziehungen, Finanzbeziehungen zu der EU

Referate 173

Beschäftigte 2.189

Nach der Deutschen Einheit erhält das BMF die Regelung offener Vermögensfragen sowie die Rechts- und Fachaufsicht über die Treuhandanstalt als zusätzliche Aufgaben. Zudem ist im organisatorischen Aufbau erkennbar, dass insbesondere europäische Themen bedeutsamer werden (Abt. IX).

Page 69: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

69

5.2.10 Aufbau und Aufgaben des Bundesfinanzministeriums 2005

Bundesfinanzministerium 2005

Abteilung Z Zentralabteilung (Organisation und Personalien, Allgemeine Verwaltung)

Abteilung I Grundsatzfragen der Finanzpolitik, finanzpolitische Fragen einzelner Bereiche, Wirtschaftsförderung

Abteilung II Bundeshaushalt

Abteilung III Zölle, Verbrauchsteuern, Branntweinmonopol

Abteilung IV Besitz- und Verkehrsteuern, Umweltbezogene Steuer- und Abgabenpolitik

Abteilung V Finanzbeziehungen zu den Ländern und Gemeinden, Rechtsangelegenheiten, Abwicklung der finanziellen Folgen des Krieges, offene Vermögensfragen

Abteilung VII Nationale und internationale Finanzmarkt- und Währungspolitik

Abteilung VIII Privatisierungs- und Beteiligungspolitik, Bundesimmobilien, Treuhandnachfolgeaufgaben

Abteilung E Europapolitik

Referate 153

Beschäftigte 2.050

Auf Druck des neuen Finanzministers Lafontaine übernimmt das BMF 1998 vom Wirtschafts-ministerium die Kompetenz, die deutsche Europapolitik (die gesamte „Nichtaußenpolitik“) zu koordinieren. Jedoch hat sich die Aufbauorganisation (Gliederung in Abteilungen) mit den klassischen Schwerpunkten Haushalt, Steuern und Zölle seit 1879 wenig verändert.

Page 70: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

70

5.3.1 Vergrößerung des Apparats: Anzahl der Abteilungen und Referate

0

2

4

6

8

10

12

14

16

18

1879 1912 1920 1923 1927 1944 1950 1960 1969 1970 1971 1989 1993 2005

Abteilungen

0

50

100

150

200

250

300

1879 1912 1920 1923 1927 1944 1950 1960 1969 1970 1971 1989 1993 2005

Referate

Analog zu den zunehmenden Aufgaben und der wachsenden Diversifizierung steigt die Anzahl der Referate (= Arbeitseinheiten).Kausalität mit zunehmender Regelungsdichte und die Detailorientierung?

Die Verkleinerung des Apparats durch die durchsetzungsstarken Staatsekretäre Popitz (1925-1929) und Hartmann (1949-1957) ist im NS-Staat und den 70er Jahren rückgängig gemacht worden. In absehbarer Zukunft wird das Finanzministerium wieder die Größe von der Zeit vor der Deutschen Einheit erreichen.

Page 71: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

71

5.3.2 Vergrößerung des Apparats: Anzahl der Beschäftigten und (Unter-)Staatssekretäre

0

500

1000

1500

2000

2500

3000

3500

1879 1913 1920 1923 1929 1944 1950 1960 1969 1970 1971 1980 1989 1993 2005

Beschäftigte

0

1

2

3

4

5

6

1879 1913 1920 1923 1929 1944 1950 1960 1969 1970 1971 1980 1989 1993 2005

Staatssekretäre

Seit 1968 gibt es die (problema-tische) Trennung zwischen Steuer- und Haushaltsstaatssekretär, was Popitz und Hartmann vorher verhin-dert hatten. Die Trennung besteht auch auf der Ebene der in der ersten Großen Koalition eingeführten Parlamentarischen Staatssekretäre.

Analog zum Anwachsen der Staatsaufgaben bzw. -ausgaben nimmt die Anzahl der Beschäf-tigten im Finanzministerium zu.Allerdings dürfen auch umge-kehrte Kausalitätsbeziehungen vermutet werden.

Page 72: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

72

5.4 Ansatz des Public choice: Finanzministerium und Finanzminister im Interessengeflecht

Machtgruppe Eigeninteresse Inhaltliches Interesse

Finanzministerium Ausweitung der eigenen Kompetenzen insbe-sondere durch Vergrößerung des Apparats

Durchsetzen einer soliden Finanz-politik; Perfektionierung der Gesetze

Finanzminister Machterhalt; Erweiterung der Machtstellung gegenüber Fachressorts und Parlament

Durchsetzen einer soliden Finanz-politik

Parteien und Fraktionen Machterhalt durch Stimmenmaximierung; Erweiterung der Machtstellung im Parlament; Kampf für Rechte der Legislative

Erreichen der politischen Ziele

Kanzler Machterhalt durch Stimmenmaximierung; Sicherung der Machtstellung in der Regierung und im Parlament

Reibungsloses Funktionieren der Regierung; Erreichen der politischen Ziele

Fachressorts Machterhalt; Erweiterung der Machtstellung Erreichen der fachlichen Ziele

Länder Machterhalt im eigenen Land; Erweiterung der Machtstellung auf der nationalen Ebene

Erreichen der politischen Ziele

Sonstige Machtgruppen (Verbände/Tarifparteien)

Rechtfertigung ihres Daseins durch effektive Klientelpolitik

Subventionierung ihrer jeweiligen Klientel

Mit Ausnahme des Finanzministers und der Finanzverwaltung haben sämtliche Machtgruppen allenfalls ein partielles Interesse an einer soliden Finanzpolitik.

Page 73: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

73

5.5 Stellung des Finanzministers als weiteres Strukturproblem der Organisation

gegenüber anderen Ressorts bzw. innerhalb der Regierung

gegenüber den Ländern

gegenüber Politik (Parteien und Parlament/ Fraktionen)

Stellung desFinanzministers

gegenüber Interessenvertretungen und Verbänden(schwer messbar, daher im folgenden nicht analysiert)

Wenn nur der Finanzminister ein genuines Interesse an einer soliden Finanzpolitik hat, ist für die Durchsetzung dieses Interesses entscheidend, wie stark seine Stellung gegenüber den anderen Machtgruppen ist. Diese Stellung wird für die einzelnen Zeitphasen nachfolgend aufgezeigt.

Page 74: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

74

5.6 Stellung des Finanzministers von 1879 bis 1918

Zeit Stellung gegenüber anderen Ressorts bzw. innerhalb der Regierung

Stellung gegenüber Politik (Parteien und Parlament/ Fraktionen)

Stellung gegenüber den Ländern

1900-1918 Schwach• Keine Kontrolle über

Militärhaushalt• Schwache Position bei

Haushaltsaufstellung gegenüber Ressorts und Bundesrat

Schwach• Keine Minister- bzw.

Ressortstellung (zumindest de jure)

• Keine parteipolitische Bindung

• Prekäre Mehrheiten der Reichsregierungen im Parlament (keine sichere Budgetmehrheit)

• Budgetrecht des Parlaments als Instrument der innenpolitischen Auseinandersetzung

Schwach• Insbesondere wenn nicht

gleichzeitig preußischer Staatsminister

• De facto nur schwache Gesetzgebungskompetenz, da starke Stellung des Bundesrates mit einem dominierenden Preußen

• Zoll- und Steuerverwaltung bei Ländern

Page 75: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

75

5.7 Stellung des Finanzministers von 1919 bis 1945

Zeit Stellung gegenüber anderen Ressorts bzw. innerhalb der Regierung

Stellung gegenüber Politik (Parteien und Parlament/ Fraktionen)

Stellung gegenüber den Ländern

1919-1932 Stark (zumindest de jure)• Starke Position bei

Haushaltsaufstellung • Starke Position durch

Reichshaushaltsordnung vom 31.12.1922

• Schaffung von General-referenten für den Haushalt in den Ressorts (heute Be-auftragte für den Haushalt)

• Aber: De facto abhängig von der Unterstützung durch den Reichskanzler

Mittel• Minister- bzw.

Ressortstellung• In der Regel

parteipolitische Bindung• Prekäre Mehrheiten der

Reichsregierung im Parlament (keine sichere Budgetmehrheit)

Sehr stark• Umfassende (Steuer-)

Gesetzgebungskompetenz• Reichszoll- und

steuerverwaltung• Durchweg konstruktives

Verhalten Preußens

1933-1945 Sehr schwach• Finanzierung der Aufrüstung

außerhalb des Haushalts• Weitgehender Funktions-

verlust der Ministerien

Sehr schwach• Schwache Stellung

innerhalb der NS-Polykratie

Nicht definierbar• Völliger Funktionsverlust der

Länder

Page 76: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

76

5.8 Stellung des Finanzministers von 1949 bis 2000

Zeit Stellung gegenüber anderen Ressorts bzw. innerhalb der Regierung

Stellung gegenüber Politik (Parteien und Parlament/ Fraktionen)

Stellung gegenüber den Ländern

1949-2000 Stark (zumindest de jure)• Starke Position bei

Haushaltsaufstellung• Ausgabenbewilligungsrecht

nach Art. 112 GG• Aber: De facto abhängig von

der Unterstützung durch den Bundeskanzler

Stark • Minister- bzw.

Ressortstellung• Starke parteipolitische

Bindung• Stabile Mehrheiten der

Bundesregierung im Parlament (sichere Budgetmehrheit)

• Aber: Häufig Ansehens- und damit Machtverlust im Laufe der Amtszeit

Mittel • Umfassende (Steuer-)

Gesetzgebungskompetenz, aber Zustimmung des Bundesrats erforderlich

• Verhalten des Bundesrates zunehmend parteipolitisch geprägt

• Bundeszollverwaltung• Steuerverwaltung der

Länder

Page 77: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

77

5.9 „Schwäche des Finanzministers“

„In der Schwäche des Reichsfinanzministers spiegelte sich also nur die Führungsschwäche der gesamten Regierung wieder, die außerstande war, die Leistungserwartungen der Bürger nach Prioritäten zu ordnen bzw. Kompromisse darüber zu schließen, welche dieser Leistungserwartungen sofort, welche später und welche angesichts der Finanzlage des Reiches überhaupt nicht befriedigt werden konnten, und daher lieben allen Ansprüchen – und damit letzten Endes auch kaum einem der berechtigten – entsprechen wollte. Manches spricht dafür, daß dieses Verhalten als typisch für eine Regierung angesehen wurde, die von einer prinzipiell reformwilligen Partei, der Sozialdemokratie, geführt wurde, die aber über ihren Reformwillen das Augenmaß für das Machbare, für die finanzielle Leistungsfähigkeit der öffentlichen Hände verloren hatte. Man meinte, daß sich diese Führungsschwäche der Regierung – denn um nichts anderes handelte es sich ja – aber beheben lassen würde, wenn wieder eine Parteienkoalition mit stärker konservativem Interessenhintergrund die Regierung übernahm.Genau diese Annahme erwies sich aber als Irrtum...“

Peter-Christian Witt 1975, S. 34f.

Die Stellung des Finanzministers gegenüber den verschiedenen Machtgruppen ist in den einzelnen Phasen der Finanzgeschichte in der Regel zu schwach gewesen, um den Schuldenanstieg wirkungsvoll zu begrenzen.

Page 78: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

78

5.10 Weiterführende Literatur zur Geschichte der Finanzverwaltung

• Bundesministerium der Finanzen (Hg.), Von der Reichsschatzkammer zum Bundesfinanzministerium. Geschichte, Leistungen und Aufgaben eines zentralen Staatsorgans, mit einem Geleitwort von Franz Josef Strauß, Bonn 1969.

• Dass. (Hg.), 40 Jahre Verantwortung für die Finanzen des Bundes. Das Bundesministerium der Finanzen. Geschichte, Aufgaben, Leistungen, München 1989.

• Marc Hansmann, Management und Controlling in der Ministerialverwaltung, Sternenfels u.a. 2004.• Kurt Bienert, Rolf Caesar, Karl-Heinrich Hansmeyer, Das Ausgabenbewilligungsrecht des

Bundesfinanzministers nach Art. 112 GG. Historische Entwicklung, praktische Handhabung und finanzwirtschaftliche Bedeutung, Berlin 1982.

• Stefan Mehl, Das Reichsfinanzministerium und die Verfolgung der deutschen Juden 1933-1943, Berlin 1990 (= Berliner Arbeitshefte und Berichte zur sozialwissenschaftlichen Forschung Nr. 38).

• Peter-Christian Witt, Reichsfinanzminister und Reichsfinanzverwaltung. Zum Problem des Verhältnisses von politischer Führung und bürokratischer Herrschaft in den Anfangsjahren der Weimarer Republik (1918/19-1924), in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 25 (1975), 1-61.

Page 79: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

79

Freitag, 29.11.13, 16.15 - 17.45 Uhr

6. "Fiscal agony" des Kaiserreichs

Page 80: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

80

6.1 Das Reich als „lästiger Kostgänger der Einzelstaaten“ (Bismarck)

Gesetzgebungshoheit Ertragshoheit Verwaltungshoheit

Reich (1871 gegründet als „Bund deutscher Fürsten“)

• für indirekte Steuern• Erhebung von Matrikular-

beiträgen, „solange Reichsteuern nicht eingeführt sind“ (Art. 70 der Reichsverfassung; Zusatz 1909 gestrichen)

• de facto keine Gesetz-gebungshoheit für die Einkommensteuer

• abhängig von Matrikular-beiträgen der Länder, also Kostgängergängersituation

• Zolleinnahmen des Reichs durch Franckensteinsche Klausel von 1879 gekappt (übersteigen die jährlichen Einnahmen des Reiches aus den Zöllen und der Tabaksteuer 130 Mio. RM, ist der Überschuss an die Länder abzuführen)

• keine

Länder (= Einzel-staaten)

• für direkte Steuern (de facto)• Zustimmung des Bundes-

rates für sämtliche Gesetze erforderlich

• Basissatz der Einkommen-steuer (in Preußen)

• Beteiligung an Zollein-nahmen (1879-1904)

• Zoll- und Steuerverwaltung bei den Einzelstaaten

Kommunen • keine • Zuschlagsrecht auf die Einkommensteuer

• Realsteuern

• keine

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81

6.2 Problem der steigenden Verschuldung des Kaiserreichs

0

1000

2000

3000

4000

5000

6000

1877 1890 1892 1894 1896 1898 1900 1902 1904 1906 1908 1910 1912

Reichsschulden (fundiert und unfundiert)

WermuthSydow

Stengel

Thielmann

Mio. Mark

Quelle: Peter-Christian Witt (1970), 386.

Page 82: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

82

6.3 Versuche zur Finanzreform/Erschließung neuer Einnahmen 1900-1909

Name und Amtszeit Ergebnisse

Max Freiherr von Thielmann(18.08.1897-20.08.1903)

• 2. Flottengesetz von 1900 • Einführung einer Schaumweinsteuer im Jahre 1902• neuer Zolltarif von 1902 (Lex Trimborn: Mehreinnahmen aus den

landwirtschaftlichen Zöllen fließen für Witwen- und Waisenversicherung)• Scheitern des Reichswirtschaftsgesetzes von 1902 („Reichshaushaltsordnung“)• Reichshaushalt defizitär

Herrmann Freiherr von Stengel(21.08.1903-20.02.1908)

• Lex Stengel von 1904: Vereinfachung des Finanzausgleichs zwischen Reich und den Einzelstaaten (Abschaffung der Franckensteinschen Klausel)

• Scheitern der Versuche, eine bessere Planung und Kontrolle des Reichshaushalts gegenüber den Ressorts und den Einzelstaaten durchzusetzen

• Finanzreform von 1905/06: Erhöhung zahlreicher Steuern und Einführung erster direkter Steuern für das Reich (Tantiemesteuer und Erbanfallsteuer)

• Rücktritt wegen schwieriger Haushaltslage

Reinhold Sydow(21.02.1908-14.07.1909)

• Große Finanzreform von 1908/09: Steuererhöhung und Einführung einer „Talonsteuer“ auf Dividenden und Zinsen sowie Erhöhung des Reichsanteils an der Erbschaftsteuer

• zusammen mit Reichskanzler Bülow Rücktritt wegen der aus ihrer Sicht gescheiterten Finanzreform

Page 83: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

83

6.4 Versuche zur Finanzreform/Erschließung neuer Einnahmen 1909-1913

Name und Amtszeit Ergebnisse

Adolf Wermuth(15.07.1909-16.03.1912)

• Haushaltskonsolidierung von 1909 bis 1911 durch Deckelung der Militärausgaben• Scheitern des Reichshaushaltsgesetzes• Rücktritt wegen unzureichender Deckung der Flotten- und Heeresvorlage von

1912

Hermann Kühn (16.03.1912-31.01.1915)

• „Militarisierung der Reichsfinanzpolitik“ (Peter-Christian Witt)• Erhebung einer einmaligen Vermögensabgabe („Wehrbeitrag“) im Jahre 1913• Einführung einer Vermögenszuwachsteuer 1913

Page 84: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

84

6.5 Schwache Stellung des Staatssekretärs im Reichschatzamt

Zeit Stellung gegenüber anderen Ressorts bzw. innerhalb der Regierung

Stellung gegenüber Politik (Parteien und Parlament/ Fraktionen)

Stellung gegenüber den Ländern

1900-1918 Schwach• Keine Kontrolle über

Militärhaushalt• Schwache Position bei

Haushaltsaufstellung gegenüber Ressorts und Bundesrat

Schwach• Keine Minister- bzw.

Ressortstellung (zumindest de jure)

• Keine parteipolitische Bindung

• Prekäre Mehrheiten der Reichsregierungen im Parlament (keine sichere Budgetmehrheit)

• Budgetrecht des Parlaments als Instrument der innenpolitischen Auseinandersetzung

Schwach• Insbesondere wenn nicht

gleichzeitig preußischer Staatsminister

• De facto nur schwache Gesetzgebungskompetenz, da starke Stellung des Bundesrates mit einem dominierenden Preußen

• Zoll- und Steuerverwaltung bei Ländern

Page 85: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

85

6.6 Political economy des Kaiserreichs: Fiscal agony

Verfassungspolitik/ParlamentarisierungReichstagsmehrheit kämpft um das Budgetrecht

und für direkte Steuern

Parteipolitikerstarkende SPD

und sich abzeichnende„Weimarer Koalition“

gegen schwächer werdendeRegierungsfraktionen

Reich/LänderReich als Kost-

gänger der Länder;Finanzausgleich als

Machtkampf

Exekutivezunehmende Abhängigkeit der Reichsregierung vom Reichstag;schwache Stellung des Finanzstaatssekretärs in der Regierung

Finanzpolitikals Instrument

der Machtpolitik

Blockade der Reichsfinanzen durch den starken Föderalismus und den Kampf um Parlamentarisierung/Demokratisierung

Page 86: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

86

6.7 Johannes von Miquel: Bedeutendster Finanzminister des 19. Jahrhunderts

Leistungen

• Miquelsche Finanzreform von 1891/93• Einführung der Einkommensteuer in Preußen• Stärkung der Kommunalfinanzen (3-Säulen-Modell: Gewerbesteuer, Grundsteuer

und Einkommensteuerzuschlag), die den Aufbau der kommunalen Leistungsverwaltung und Infrastruktur ermöglicht

Johannes von Miquel(preußischer Finanzminister 1890-1901)

Weiterführende Literatur: Thorsten Kassner, Der Steuerreformer Johannes von Miquel. Leben und Werk. Zum 100. Geburtstag des preußischen Finanzministers. Ein Beitrag zur Entwicklung des Steuerrechts, Osnabrück 2001.

Page 87: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

87

6.8 Die starke Stellung der Kommunen im Kaiserreich

Hohe Einnahmen durch Miquelsche Finanzreform von 1891/93 und durch die Gewinne der Kommunal-unternehmen

„Alles bar bezahlt, Majestät!“ Stadtdirektor Tramm zu Kaiser Wilhelm II. bei der Einweihung des Neuen Rathauses im Jahre 1913

Forderungen zum horizontalen Finanzausgleich zwischen armen und reichen Städten (insbesondere zur Verteilung der Schullasten)

Page 88: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

88

6.9 Quelle: „Gesetz der wachsenden Ausdehnung der Staatsthätigkeit“

„Wir bedürfen einer gesicherten Rechtsordnung im Innern und nach Aussen. … Wir bedürfen nicht minder zahlloser fördernder öffentlicher Thätigkeiten im Interesse der Volkswirthschaft und Cultur. Die Privatthätigkeit reicht auch hier immer weniger aus. … Ich erinnere nur an drei grosse Gebiete, die gegenwärtig in unseren Culturstaaten überall im Vordergrund stehen: an das Unterrichtswesen mit seinen immer grösseren und feineren Bedürfnissen, an das Verkehrswesen, die Wege und Verkehrsanstalten, Post, Telegraphen, Eisenbahnen usw., und an speciell städtische Bedürfnisse, der Reinlichkeit, Gesundheitspflege, Bequemlichkeit, der Versorgung mit Lebensmitteln usw., daher Anstalten der Wasserleitung, Canalisirung, Gasbeleuchtung - vielleicht bald electrische Beleuchtung -, öffentliche Gärten, Markthallen, Viehhöfe usw. Ueberall hat hier bereits und wird immer mehr die öffentliche Thätigkeit des Staats, Kreises, der Gemeinde Platz greifen, - was nichts anderes heisst, als Steigerung der Gemeinwirthschaft, mithin des Finanzbedarfs, wobei man freilich öfters die speciellen Nutzniesser zu Kostenbeiträgen heranziehen kann und soll.“

Adolph Wagner, Ueber die schwebenden deutschen Finanzfragen, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 35 (1879), 76-78.

Page 89: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

89

6.10 Quelle: Sociale Frage und Steuerreform

„Dem Reiche aber, dem Hort und Schutz der Nation, welches nach Innen und Aussen den Vermögenserwerb sichert, würde in einer solchen Erbschaftssteuer eine angemessene Gabe zu Theil werden. Es ist auch politisch nicht richtig, den Hauptaufwand des Reichs, denjenigen für die Kriegsmacht, allein durch Verbrauchssteuern zu decken, welche doch zumeist von der Masse des Volkes getragen werden. Eine solche Erbschaftssteuer, welche die besitzenden Classen für diesen Aufwand mit heran zieht, würde der Polemik gegen Militarismus und Steuerdruck der unteren Stände eine Waffe entziehen.So in grossen Zügen, denke ich mir eine tiefergreifende Steuerreform, welche neben den finanziellen namentlich die politischen und socialen Momente gebührend berücksichtigt. So denke ich mir eine „Lösung der schwebenden deutschen Finanzfragen“. Opfer werden uns Allen zugemuthet. Das ist unvermeidlich. Worauf es aber ankommt, das ist, die Opfer soweit es uns möglich, gleichmässig zu vertheilen. Dazu müssen auch die wohlhabenden, die gebildeten Classen mitwirken. Die Zeit ist ernst, hüten wir uns vor Allem, was den ärmeren Classen einen mehr oder weniger begründeten Vorwand geben kann, über Verletzung der Gerechtigkeit zu klagen. Justititia regnorum fundamentum, das sei auch in der Steuerpolitik unsere Parole.“

Adolph Wagner, Ueber die schwebenden deutschen Finanzfragen, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 35 (1879), 76-78.

Page 90: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

90

6.11 Weiterführende Literatur zur Finanzgeschichte des Kaiserreichs

• Julia Cholet, Der Etat des Deutschen Reiches in der Bismarckzeit, Berlin 2012.• Wilhelm Gerloff, Die Finanz- und Zollpolitik des Deutschen Reiches nebst ihren Beziehungen zu Landes-

und Gemeindefinanzen von der Gründung des Norddeutschen Bundes bis zur Gegenwart, Jena 1913. • Mark Hallerberg, The political economy of taxation in Prussia, 1871-1914, in: Jahrbuch für Wirtschafts-

geschichte 2002/2, 11-33. • Carsten Hefeker, The agony of central power: Fiscal federalism in the German Reich, in: European Review

of Economic History 5 (2001), 119-142. • Rudolf Kroboth, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches während der Reichskanzlerschaft Bethmann

Hollwegs und die Geld- und Kapitalmarktverhältnisse (1909-1913/14), Frankfurt a.M. u.a. 1986.• Jürgen Baron Kruedener, The Franckenstein Paradox in the Intergovernmental Fiscal Relations of Imperial

Germany, in: Peter-Christian Witt (Hg.), Wealth and Taxation in Central Europe. The History and Sociology of Public Finance, Leamington Spa u.a. 1987, 111-123.

• Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte1866-1918, Bd. II: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992.• Eckart Schremmer, Steuern und Staatsfinanzen während der Industrialisierung Europas. England,

Frankreich, Preußen und das Deutsche Reich 1800 bis 1914, Berlin u.a. 1994. • Mark Spoerer, Steuerlast, Steuerinzidenz und Steuerwettbewerb. Verteilungswirkungen der Besteuerung in

Preußen und Württemberg (1815-1913), Berlin 2004.• Ders., The Evolution of Public Finances in Nineteenth-Century Germany, in: José Luís Cardoso, Pedro Lains

(Hg.), Paying for the Liberal State. The Rise of Public Finance in Nineteenth Century Europe, Cambridge u.a. 2010, 103-131.

• Hans-Peter Ullmann, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Frankfurt a.M. 1995.• Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: 1849-1914, München 1995.• Peter-Christian Witt, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches von 1903 bis 1913. Eine Studie zur

Innenpolitik de Wilhelminischen Deutschland, Lübeck, Hamburg 1970.

Page 91: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

91

Freitag, 06.12.13, 14.30 - 16.00 Uhr

7. Fiskalschock des Ersten Weltkriegs

Page 92: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

92

7.1 Die Kriegsschuldfrage

Ansicht des britischen Premiers David Lloyd George, die Völker Europas seien „in den Weltkrieg hineingeschlittert“. In den 1960er-Jahren stellte der Hamburger Historiker Fritz Fischer dieses Geschichtsbild in Frage. Er löste einen ersten, jahrelangen Historikerstreit aus, vor allem mit seinem Buch „Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18“. Er vertrat die These, Deutschland habe bewusst auf einen Krieg hingearbeitet und die eigene Überlegenheit genutzt, bevor der Gegner mächtiger würde. Mittlerweile hat sich eine vermittelnde Position durchgesetzt: Die deutsche Führung strebte nicht nach der Weltmacht, kalkulierte aber einen großen Krieg ein.

These von Niall Ferguson (1994): Reich drohte aufgrund seiner chronischen Unter-finanzierung den Rüstungswettlauf zu verlieren und forcierte daher den 1. Weltkrieg.

Page 93: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

93

7.2 Finanzpolitische Belege für eine aggressives Kaiserreich?

Großbritannien, Frankreich und Russland geben für die Aufrüstung 1913 prozentual weniger im jeweiligen nationalen Haushalt aus.

Ist das ein Beleg für ein besonders aggressives Kaiserreich?

Ausgabenstruktur des Reichshaushalts im Jahre 1913

Soziales3%

Militär79%

Übrige Ausgaben

9%

Zinsen9%

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94

7.3 Finanzpolitische Mobilmachung der europäischen Mächte

Anteil der Rüstungsausgaben am NSP im Jahr 1914

Deutsches Reich 3,9 %

Großbritannien 3,2 %

Frankreich 4,8 %

Russland 5,1 %

Österreich-Ungarn 2,0 %

Italien 5,1 %

Quelle: Niall Ferguson (2002), 145.

Es werden oftmals nur der Anteil der Kriegsausgaben am nationalen Haushalt oder die Steuer-/Ausgabenquote der nationalen Ebene angegeben. Aufgrund der föderalen Struktur erscheint dann das Kaiserreich als militarisierter und unseriöser in seiner Finanzpolitik als die anderen europäischen Staaten.

Page 95: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

95

7.4 Finanzpolitik im 1. Weltkrieg

Name und Amtszeit Maßnahmen

Hermann Kühn (16.03.1912-31.01.1915)

• „Militarisierung der Reichsfinanzpolitik“ (Peter-Christian Witt)• Erhebung einer einmaligen Vermögensabgabe („Wehrbeitrag“) im Jahre 1913• Einführung einer Vermögenszuwachsteuer 1913

Karl Helfferich(31.01.1915-22.05.1916)

• Finanzierung des Kriegs weitgehend über Anleihen• 1. Kriegsteuerreform von 1916• Einführung einer Kriegsgewinnabgabe• Einführung einer allgemeinen Umsatzsteuer als Stempelsteuer in Höhe von einem

Prozent auf Zahlungen für Warenlieferungen• erbitterte Auseinandersetzung mit Erzberger/dem Reichstag und Rücktritt

Siegfried Graf von Roedern (22.05.1916-14.11.1918)

• 2. und 3. Kriegsteuerreform von 1917 und 1918• weitere Kriegsgewinnabgabe• Ersatz der Stempelsteuer durch eine Bruttoallphasenumsatzsteuer in Höhe von

0,5 Prozent im Jahre 1918

Eugen Schiffer(14.11.1918-12.02.1919)

• Erarbeitung eines umfassenden Finanzprogramms

Page 96: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

96

7.5 Entwicklung des ordentlichen Reichshaushalts 1914-1919

0

2.000

4.000

6.000

8.000

10.000

12.000

14.000

1914 1915 1916 1917 1918 1919

Ordentliche Einnahmen Ordentliche Ausgaben

Mio. Mark

Quelle: Konrad Roesler (1967), 196 (Übersicht 2) und 197 (Übersicht 3).

Page 97: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

97

7.6 Entwicklung des außerordentlichen Reichshaushalts 1914-1919

0

5.000

10.000

15.000

20.000

25.000

30.000

35.000

40.000

45.000

50.000

1914 1915 1916 1917 1918 1919

Außerordentliche Einnahmen Außerordentliche Ausgaben

Mio. Mark

Quelle: Konrad Roesler (1967), 199 (Übersicht 5).

Page 98: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

98

7.7 Die „finanzielle Wehrpflicht“ (Helfferich)

Kriegsanleihe Nennbetrag der Zeichnung

Ausstehende Schatzanweisungen

Saldo

I. Sept. 1914 4.460 2.632 +1.832

II. März 1915 9.060 7.209 +1.851

III. Sept. 1915 12.101 9.691 +2.410

IV. März 1916 10.712 10.388 +324

V. Sept. 1916 10.652 12.766 -2.114

VI. März 1917 13.122 14.855 -1.733

VII. Sept. 1917 12.626 27.204 -14.578

VIII. März 1918 15.001 38.971 -23.970

IX. Sept. 1918 10.443 49.414 -38.971

Erläuterung: jeweils in Mio. MarkQuelle: Konrad Roesler (1967), 79. Roesler bezieht sich auf die Angaben von Helfferich.

Page 99: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

99

7.8 Entwicklung der schwebenden Schuld im 1. Weltkrieg

1914

1915

19161917

1918

55,2

28,6

12,6

5,7

2,90

10

20

30

40

50

60

Schwebende Schuld (jeweils zumJahresende)

Mrd. Mark

Quelle: Carl-Ludwig Holtfrerich, Die deutsche Inflation 1914-1923. Ursachen und Folgen in internationaler Perspektive, Berlin, New York 1980, 65.

Page 100: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

100

7.9 Political economy des 1. Weltkriegs

Verfassungspolitik/ParlamentarisierungReichsregierung wird immer abhängiger vom Parlament, Kreditbewilligung als Druckmittel

Parteipolitiknach Burgfrieden formt sich eine Große Koalition, die auf

Frieden und Reformen drängt; Radikalisierung an den Rändern

Reich/LänderKonflikt tritt

in den Hintergrund

Exekutivezunehmend schwächer werdende Stellung der Reichsregierung;

de facto-Militärdiktatur von Ludendorff und Hindenburg

Finanzpolitikals Instrument

der Machtpolitik

Reichsregierung verliert völlig die Kontrolle über die Finanzpolitik.

Page 101: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

101

7.10 Quelle: Rede von Staatssekretär Helfferich im August 1915

„Wir wollen während des Krieges die gewaltigen Lasten, die unser Volk trägt, nicht durch Steuern erhöhen, solange hierfür keine zwingende Notwendigkeit vorliegt.

Meine Herren, wie die Dinge liegen, bleibt also vorläufig nur der Weg, die endgültige Regelung der Kriegskosten durch das Mittel des Kredits auf die Zukunft zu verschieben, auf den Friedensschluss und auf die Friedenszeit. Und dabei möchte ich auch heute wieder betonen: Wenn Gott uns den Sieg verleiht und damit die Möglichkeit, den Frieden nach unseren Bedürfnissen und nach unseren Lebensnotwendigkeiten zu gestalten, dann wollen und dürfen wir neben allem anderen auch die Kostenfrage nicht vergessen;“ (lebhafte Zustimmung) „das sind wir der Zukunft unseres Volkes schuldig.

Die ganze künftige Lebenshaltung unseres Volkes muss, soweit es irgend möglich ist, von der ungeheuren Bürde befreit bleiben und entlastet werden, die der Krieg anwachsen lässt.

Das Bleigewicht der Milliarden haben die Anstifter dieses Krieges verdient; sie mögen es durch die Jahrzehnte schleppen, nicht wir.“

Karl Helfferich in seiner Reichstagsrede am 20. August 1915

Page 102: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

102

7.11 Weiterführende Literatur zur Finanzgeschichte des 1. Weltkriegs

• Theodore Balderston, War finance and inflation in Britain and Germany, 1914-1918, in: Economic History Review 42 (1989), 222-244.

• C. Edmund Clingan, Finance from Kaiser to Führer. Budget politics in Germany 1912-1934, Westport (Connecticut) und London 2001.

• Niall Ferguson, Public finance and national security: The domestic origins of the First World War revisited, in: Past and Present 142 (1994), 141-168.

• Ders., Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, München, 2. Aufl., 2002.• Carl-Ludwig Holtfrerich, Bewältigung der deutschen Staatsbankrotte 1918 und 1945, in: Erhard

Kantzenbach (Hg.), Staatsüberschuldung, Göttingen 1996, 27-57. • Wolfgang J. Mommsen, Die Urkatastrophe Deutschlands. Der Erste Weltkrieg 1914-1918, Stuttgart 2002

(= Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, 10. Aufl., Bd. 17).• Konrad Roesler, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg. Berlin 1967. • Hew Strachan, Financing The First World War, New York 2004 (ND 2007).• Manfred Zeidler, Die deutsche Kriegsfinanzierung 1914 bis 1918 und ihre Folgen, in: Wolfgang Michalka

(Hg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München, Zürich 1994, 415-433.

Page 103: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

103

Freitag, 06.12.13, 16.15 - 17.45 Uhr

8. Zäsur der Weimarer Republik

Page 104: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

104

8.1 Staatsbankrott als Resultat der Finanzierung des 1. Weltkriegs

Während anfänglich die Inflation die Finanzierung der zusätzlichen staatlichen Aufgaben erleichtert, kommt es mit der Hyperinflation zum 1. Staatsbankrott. Infolge der Verwüstung des Kapitalmarktes ist das Zinsniveau nach-folgend sehr hoch und die öffentliche Hand hat insbesondere während der Weltwirtschaftskrise Schwierigkeiten, überhaupt an Kredite zu kommen.

Dollarnotierung von 1914 bis 1923

Juli 1914Januar 1919

Juli 1919 Januar 1920

Juli 1920 Januar 1921

Juli 1921 Januar 1922

Juli 1922 Januar 1923

Juli 1923 August 1923

September 1923 Oktober 1923

20. November 1923

4,2 Mark 8,9 Mark

14,0 Mark 64,8 Mark 39,5 Mark 64,9 Mark 76,7 Mark

191,8 Mark 493,2 Mark

17.972,0 Mark353.412,0 Mark

4.620.455,0 Mark 98.860.000,0 Mark

25.260.208.000,0 Mark 4.200.000.000.000,0 Mark

Page 105: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

105

8.2 Der Versailler Vertrag von 1919

• Inhalt: Alleinschuld Deutschlands, 13 % Gebietsabtretungen, 10 % Bevölkerungsverlust, Aufgabe der Kolonien, Berufsarmee mit max. 100.000 Mann, hohe Reparationen in unbestimmter Gesamthöhe

• Problem der Finanzierung der Reparationszahlungen durchzieht die gesamte Weimarer Republik: • 1919: Höhe der Reparationen: zunächst 20 Milliarden Goldmark (GM) bis 1921• 1921: Forderung über 132 Mrd. GM (ungefähr 47.000 Tonnen Gold = 700 Milliarden €)• 1923: Ruhrgebietsbesetzung, um Reparationszahlungen zu erzwingen → Hyperinflation• 1924: Dawes-Plan: geringere Jahreszahlungen + amerikanische Anleihe• 1930: Reduzierung der Gesamtschuld , zahlbar bis 1988 + amerikanische Anleihe• 1931: Hoover-Moratorium• 1932: Konferenz von Lausanne: Streichung der Reparationen + Restzahlung von 3 Mrd. GM• 1933: Keine Restzahlung und Einstellung des Schuldendienstes insbes. der Dawes- und

Young-Anleihen• Folgen: „Weimarer Revisionssyndrom“: Vergiftung der innenpolitischen Lage durch

Dolchstoßlegende (Ermoderung mehrerer „Erfüllungspolitiker“ wie Finanzminister Erzberger und Außenminister Rathenau); zentrales Wahlkampfthema für die extreme Rechte

• John Maynard Keynes als Kritiker: The Economic Consequences of the Peace• Vergleich: Frieden im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und von Brest-Litowsk mit Russland

1918 von Deutschland mit noch größerer Härte diktiert

• Literatur: - Eberhard Kolb: Der Frieden von Versailles. München 2005.- Max Hantke, Mark Spoerer, The imposed gift of Versailles: the fiscal effects of restricting the size of Germany's armed forces, 1924–9,in: The Economic History Review 63/4 (2010), S. 849-864.

Page 106: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

106

8.3 Doppelter Displacement-Effekt am Anfang „des kurzen 20. Jahrhunderts“ (I)

16,5

25,2

10

15

20

25

30

1913 1925

Staatsquote

Niveauverschiebung zu einer höheren Staatsquote, insbesondere wegen der Konstituierung der Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat

v.H. NSP/BSP

Page 107: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

107

8.4 Doppelter Displacement-Effekt am Anfang „des kurzen 20. Jahrhunderts“ (II)

40 42

23 26

37 32

0

20

40

60

80

100

1913 1925

Reich Einzelstaaten Kommunen

Niveauverschiebung zugunsten des Staates (zu Lasten der Kommunen), insbesondere wegen der Zäsur der Erzbergerschen Finanzreform

v.H. des gesamtes Steueraufkommens

Page 108: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

108

8.5 Kompetenzverteilung auf die Gebietskörperschaften in der Weimarer Republik

Weimarer Republik

Gesetzgebungshoheit Ertragshoheit Verwaltungshoheit

Reich • Gesetzgebungshoheit über Einkommen- und Umsatzsteuer

• ständige Änderung der Anteile („permanent vorläufiger Finanz-ausgleich“)

• Reichszoll- und finanzverwaltung

Länder • Beteiligung über Reichsrat • Beteiligung an Einkommen- und Umsatzsteuer (in Form von „Reichsüberweisungs-steuern“)

• ab 1929 Plafondierung

• keine

Kommunen • keine • Verlust des Zuschlags-rechts auf die Einkommen-steuer, aber hohe Beteiligung an Einkommen- und Umsatzsteuer

• Realsteuern

• keine

Page 109: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

109

8.6 Der permanent vorläufige Finanzausgleich bei der Einkommensteuer

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

1913 1920 1923 1924 1925 1926

Reich/Bund Einzelstaaten Kommunen

v.H.

Page 110: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

110

8.7 Der permanent vorläufige Finanzausgleich bei der Umsatzsteuer

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

1916 1920 1923 1924 1925 1926

Reich/Bund Einzelstaaten Kommunen

v.H.

Page 111: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

111

8.8 Matthias Erzberger: Bedeutendster Finanzminister des 20. Jahrhunderts

Ergebnisse während der Amtszeit

• Nur kurze Amtzeit (21.06.1919-17.03.1920), aber grundlegende Weichenstellungen:

• Zäsur der Erzbergerschen Finanzreform: Reich als „Steuersouverän“

• Landessteuergesetz zur Regelung des Finanzausgleichs

• Modernisierung und drastische Erhöhung der Einkommensteuer

• Einführung der Körperschaftsteuer

• Modernisierung und Ausbau der im Krieg eingeführten Umsatzsteuer

• Einführung der Reichsabgabenordnung

• Schaffung der Reichsfinanzverwaltung

• Gescheiterter Versuch, die Inflation zu stoppen

Page 112: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

112

8.9 Reichsfinanzminister 1920-1925

Name und Amtszeit Ergebnisse während der Amtszeit

Josef Wirth (Zentrum)(27.03.1920-22.10.1921)

• drastische Steuererhöhungen zur Finanzierung der „Erfüllungspolitik“• Durchsetzung einer starken Stellung des Finanzministers (u.a. wesentliche

Stärkung des Finanzministers, der nur vom Kanzler und einer Kabinettsmehrheit überstimmt werden kann)

Andreas Hermes (Zentrum)(26.10.1921-13.08.1923)

• kein finanzpolitisches Programm• (gescheiterter) Versuch, die Steuereinnahmen der galoppierenden Inflation

anzupassen• Reichshaushaltsordnung vom 31.12.1922

Rudolf Hilferding (SPD)(13.08.1923-04.10.1923)(29.06.1928-21.12.1929)

• Entscheidung zur Einführung der Rentenmark• Sparpolitik in der beginnenden Weltwirtschaftskrise• Rücktritt wegen Differenzen mit Reichsbankpräsident Schacht

Hans Luther (parteilos)(06.10.1923-15.01.1925)(26.10.1925-05.12.1925)

• Stabilisierung der Währung• drei Steuernotverordnungen• harte Sparpolitik (u.a. deutliche Verkleinerung der Verwaltung)

Page 113: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

113

8.10 Reichsfinanzminister 1925-1930

Name und Amtszeit Ergebnisse während der Amtszeit

Otto von Schlieben (DNVP)(19.01.1925-26.10.1925)

• umfassende („Popitzsche“) Steuerreform, die Erzbergers Steuergesetze auf sicheres juristisches und finanzwissenschaftliches Fundament stellt

Peter Reinhold (DDP)(20.01.1926-29.01.1927)

• erstmals Anwendung einer antizyklischen Finanzpolitik, um die Rezession von 1926 zu überwinden

Heinrich Köhler (Zentrum)(29.01.1927-29.06.1928)

• Finanzpolitik „hart am Rande des Defizits“ • Reform der Beamtenbesoldung, die zu erheblichen Personalmehrausgaben führt

Paul Moldenhauer (DVP)(23.12.1929-20.06.1930)

• Bruch der Großen Koalition wegen Finanzierung der Arbeitslosenversicherung• weitgehende Übereinstimmung mit den finanz- und wirtschaftspolitischen

Vorstellungen Brünings• Rücktritt infolge von Differenzen mit der eigenen Partei

Page 114: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

114

8.11 Entwicklung des Finanzierungssaldos 1925-1930

-0,4

-1,1

0

0,2

-0,9

-0,2

-1,5

-1

-0,5

0

0,5

1925 1926 1927 1928 1929 1930

Finanzierungssaldo des Reichshaushalts

v.H. BSP

Quelle: Ritschl (2002), Tabelle A.11.

Page 115: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

115

8.12 Political economy der Weimarer Republik

Verfassungspolitik/Sozialstaatnach anfänglichem „Stinnes-Legien-Abkommen“: Erbitterte Tarifkonflikte, die vom Staat geschlichtet werden müssen

Parteipolitikgroße Fragmentierung

Finanzpolitik als ständiger Streitpunkt

Reich/Länder ständige Reibereien;

Länder jetzt Kostgängerdes Reichs

ExekutiveRegierungen ohne keine sichere Parlamentsmehrheit

allenfalls geringe finanzpolitische Verteilungsspielräume

Finanzpolitikals Instrument

der Machtpolitik

Die Weimarer Republik war auch bezüglich der political economy ein „Probelauf der Moderne“ (Peukert).

Page 116: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

116

8.13 Quelle: Rede von Matthias Erzberger 1919

„Der Krieg ist der Verwüster der Finanzen. …Ein Reichsbankrott wäre ein wahrer Volksbankrott, wie in Weltgeschichte hierfür keinen Vorgang kennt. Eherne Pflicht der Reichsfinanzverwaltung ist es, die ganzen Kräfte dafür einzusetzen, daß der Zinsendienst der Kriegsanleihe geleistet werden kann. …Ein guter Finanzminister ist der beste Sozialisierungsminister. … Schon vor dem Kriege war der Unterschied in Deutschland zwischen den Besitzenden und Nichtbesitzenden zu groß und damit zur sozialen Ungerechtigkeit und zu einer Krankheit am Wirtschaftskörper geworden. …Der damalige Vizekanzler und leichtfertigste aller Finanzminister, Staatsminister Helfferich…In den Trümmern des Krieges muß nach Neuland gesucht werden. So vieles, fast alles ist anders geworden. ... Wo ist hier Neuland für die Reichsfinanzen zu gewinnen? Der große Steuersouverän der Zukunft kann nur das einige Deutsche Reich sein ... Dieses kostbare Gut unserer Väter, der deutsche Nationalstaat, ... muß leben und sich entwickeln können. Dazu braucht das Reich nicht nur Geld, sondern auch ein neues System der Steuerordnung.... Die Steuerlast wird eine geradezu entsetzliche Höhe erreichen. …Die mangelhafte Ausstattung des alten Reichs mit Steuern war vielleicht der schwächste Punkt unserer alten Reichsverfassung.“

Matthias Erzberger, Reden zur Neuordnung des deutschen Finanzwesens, Berlin 1919, S. 3- 10, 111.

Page 117: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

117

8.14 Weiterführende Literatur zur Finanzgeschichte der Weimarer Republik

• Theodore Balderston, Economics and Politics in the Weimar Republic, Cambridge 2002.• Fritz Blaich, Die Wirtschaftskrise 1925/26 und die Reichsregierung. Von der Erwerbslosenfürsorge zur

Konjunkturpolitik, Kallmünz 1977. • Klaus Epstein, Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, Frankfurt a.M. 1976.• Gerald D. Feldman, The Great Disorder. Politics, Economics, and Society in the German Inflation, 1914-

1924, New York und Oxford 1993. • Niall Ferguson, Constraints and room for manoeuvre in the German inflation of the early 1920s, in:

Economic History Review 49 (1996), 635-666. • Dieter Hertz-Eichenrode, Wirtschaftskrise und Arbeitsbeschaffung. Konjunkturpolitik 1925/26 und die

Grundlagen der Krisenpolitik Brünings, Frankfurt a.M., New York 1982. • Carl-Ludwig Holtfrerich, Rüstung, Reparationen und Sozialstaat. Die Modernisierung des Steuersystems

im Ersten Weltkrieg und in der großen Inflation, in: Uwe Schultz (Hg.), Mit dem Zehnten fing es an. Eine Kulturgeschichte der Steuer, München 1986, 200-208.

• Klaus Karsten, Die Reichssteuerpolitik in der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 17 (1995), 60-90.

• Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a.M. 1987. • Jürgen Baron Kruedener, Die Überforderung der Weimarer Republik als Sozialstaat, in: Geschichte und

Gesellschaft 11 (1985), 358-376. • Ilse Maurer, Reichsfinanzen und Große Koalition. Zur Geschichte des Reichskabinetts Müller (1928-

1930), Bern u.a. 1973. • Fritz Terhalle, Zur Reichsfinanzreform von 1925, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 80

(1926), 289-340.

Page 118: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

118

Freitag, 13.12.13, 14.30 - 16.00 Uhr

9. Brünings Deflationspolitik

Page 119: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

119

9.1 Das Ausmaß der Weltwirtschaftskrise

NIP in Mrd. RM(nominal)

NIP in Mrd. RM

(real)

Preise(1913/14 = 100)

Arbeits-losigkeit

in Mio.

1929 79,5 78,9 154 1,8

1930 71,8 76,1 148 3,1

1931 58,5 67,9 136 4,5

1932 50,8 66,2 121 5,6

Quelle: Raymond L. Cohn, Fiscal Policy in Germany during the Great Depression, in: Explorations in Economic History 29 (1992), 318-342, hier 320 (Tabelle 1).

Page 120: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

120

9.2 Entwicklung der Nettoinvestitionen des Unternehmenssektors 1925-1935

-4000

-2000

0

2000

4000

6000

8000

10000

12000

14000

1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

Private Nettoinvestitionen

Mio. RM

Quelle: Ritschl (2002), Tabelle B.3.

Page 121: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

121

9.3 Die Borchardt-Kontroverse: „Krise ohne Alternative?“

Knut Borchardt Carl-Ludwig Holtfrerich

Historikerstreit in der Wirtschaftsgeschichte; neoklassische Interpretation/Revision der Deflationspolitik Brüning aus dem Jahr 1979

klassische keynesianische Kritik an der Deflationspolitik Brünings

„Krise vor der Krise“: „kranke“ Wirtschaft in den 20er Jahren; Überforderung der Wirtschaft durch den Weimarer Sozial- und Umverteilungsstaat

Nicht zu hohe Löhne und zu hohe staatliche Leistungen als Grundproblem, sondern zu hohe Zinsen

Keine rechtzeitige Gegensteuerung möglich, da erst mit Bankenkrise von 1931 das Ausmaß der Krise deutlich

Konjunkturpolitik ab Sommer 1931 möglich, hohe psychologische Bedeutung eines New Deals

Keine Gegensteuerung sinnvoll, da Dosierung auf jeden Fall zu gering gewesen wäre (Kreditknappheit und „golden fetters“ des Goldstandards)

Betonung des Multiplikatoreffektes und negativen Wirkung der Beschleunigung der debt-deflation, Kre-ditschöpfung nach Devisenbewirtschaftung möglich

Keine Träger einer antizyklischen Politik Verweis u.a. auf Finanzstaatssekretär Schäffer und WTB-Plan der Gewerkschaften

Rationale Zielsetzung: der „Bereinigung der Situation“ und der Streichung der Reparationen

Falsche „Prioritätenskala“ Brünings

Page 122: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

122

9.4 Entwicklung der Aktienrenditen 1886-1939: Beleg für Profit-squeeze der 20er Jahre?

Quelle: Mark Spoerer, Von Scheingewinnen zum Rüstungsboom. Die Eigenkapitalrentabilität der deutschen Industriegesellschaften 1925-1941, Stuttgart 1996.

7,37,9

6,9 7,1

3,5

-3,1

4

-4

-2

0

2

4

6

8

1886-1894 1895-1900 1902-1908 1909-1913 1924-1929 1930-1932 1933-1939

Handelsbilanzielle Aktienrenditen

v.H.

Page 123: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

123

9.5 Entwicklung der Eigenkapitalrendite 1925-1938: Beleg für Profit-squeeze der 20er Jahre?

Quelle: Mark Spoerer (1996).

0,22,2

4 3,2 3,3

-4,1

-8,3-6,2

0,34,5

9,6

15,814,1

13

-10

-5

0

5

10

15

20

1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

Steuerbilanzielle Eigenkapitalrenditeder deutschen Aktiengesellschaften

v.H.

Page 124: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

124

9.6 Finanzpolitik Heinrich Brünings

Ergebnisse während der Amtszeit

• Strenge Sparpolitik (Kürzungen der Sozialleistungen, der Beamtengehälter und Investitionen; Militär und Landwirtschaft allerdings weitgehend ausgenommen)

• Erhöhung der Steuersätze und Einführung neuer Steuern (u.a. Bürgersteuer, Krisensteuer, Reichsfluchtsteuer)

• Haushaltsausgleich und Ende der Reparationszahlungen als zentrale Ziele (trotz Weltwirtschaftskrise)

• Folgen der Massenarbeitslosigkeit insbesondere durch Kommunen zu tragen

• Notverordnungspraxis (anfänglich toleriert von der SPD)

• „Zwangslagen“ (Knut Borchardt): Kein Zugang zum Kapitalmarkt und „Krise vor der Krise“

Page 125: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

125

9.7 Entwicklung des Finanzierungssaldos 1929-1933

-0,9

-0,2

0,5

0,2

-1,4

-1,5

-1

-0,5

0

0,5

1929 1930 1931 1932 1933

Finanzierungssaldo des Reichshaushalts

Quelle: Ritschl (2002), Tabelle A.9.

v.H. BSP

Page 126: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

126

9.8 Entwicklung der Nettoneuverschuldung des Reichs 1924-1933

768

-295

-785

11 150

-768

-161

356

134

-796-800

-600

-400

-200

0

200

400

600

800

1924 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933

Nettoneuverschuldung (-) des Reiches

Mio. RM

Quelle: Ritschl (2002), Tabelle A.9.

Page 127: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

127

9.9 Entwicklung der öffentlichen Investitionen 1925-1938

0

1000

2000

3000

4000

5000

6000

7000

8000

9000

1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

Öffentliche Investitionen

Mio. RM

Quelle: Ritschl (2002), Tabelle A.12.

Page 128: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

128

9.10 Entwicklung der Reparationszahlungen 1925-1935

0

500

1000

1500

2000

2500

1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935

Reparationen

Mio. RM

Quelle: Ritschl (2002), Tabelle A.11.

Page 129: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

129

0

2

4

6

8

10

12

14

1929 1930 1931 1932

Gewerbesteuer Grundsteuer Einkommensteuer Körperschaftsteuer Umsatzsteuer Bürgersteuer

9.11 Kommunen als am meisten belastete Gebietskörperschaft: Wegbrechende Steuern

Mio. RM

Erläuterung: Daten beziehen sich auf die Hauptstadt Hannover.

Quelle: Marc Hansmann (2000), 93 (Tabelle 39) und 96 (Tabelle 42).

Page 130: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

130

9.12 Kommunen als am meisten belastete Gebietskörperschaft: Explodierende Sozialausgaben

Erläuterung: Daten beziehen sich auf die Hauptstadt Hannover.

Quelle: Marc Hansmann (2000), 103 (Tabelle 52).

20

25

30

35

40

45

1929 1930 1931 1932

Anteil der Wohlfahrtsausgaben an den Gesamtausgaben

v.H.

Page 131: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

131

9.13 Bewusste Aushöhlung der kommunalen Selbstverwaltung

Notverordnung vom 5. Juni 1931: Bei einer defizitären Haushaltsentwicklung können Staatskommissare in diejenigen Kommunen geschickt werden, die die Ausgaben nicht weitestgehend senken oder die Einnahmen voll ausschöpfen.

In Hannover kommen im Verlaufe der Weltwirtschaftskrise zwei Mal Staats-kommissare.

Page 132: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

132

9.14 Political economy in der Weltwirtschaftskrise

Verfassungspolitik/SozialstaatBewusstes Downsizing des Sozialstaats;Beschränkung der Gewerkschaftsmacht

ParteipolitikKPD und NSDAP in der Mehrheit;

Tolerierung Brünings durch die SPD

Reich/Länder gescheiterterVersuch der

Reichsreform

ExekutiveRegierung ohne sichere Parlamentsmehrheit

Revisionspolitik als Priorität

Finanzpolitikals Instrument

der Machtpolitik

Die Weimarer Republik scheitert nicht zuletzt an dem Versuch, die Finanzpolitik zu instrumentalisieren.

Page 133: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

133

9.15 Quelle: Regierungserklärung von Heinrich Brüning 1931

„Kein Staat kann auf die Dauer einen wirklichen Vorteil aus der Not der anderen Länder erwarten. (Erneute lebhafte Zustimmung) Die verderblichen Folgen politischer Zahlungen ohne wirtschaftliche Gegenleistungen haben die gesamte Weit ohne Ausnahme in heute noch unabsehbare Bedrängnis geführt. (Sehr wahr! -- Lachen bei den Kommunisten) … Deutschland fordert bei aller verständnis-vollen Rücksichtnahme auf die Lebensnotwendigkeiten der Nachbarn die Verwirklichung des Grundsatzes der Gerechtigkeit und Gleichberechtigung unter den Völkern. (Bravo! in der Mitte) …

Die Reichsregierung nimmt es für sich als einen Erfolg in Anspruch, daß sie rechtzeitig und als erste im Kreise der großen Nationen mit entscheidenden Sparmaßnahmen in den öffentlichen Ausgaben und mit möglichstes Senkung der Erzeugungskosten begonnen hat. (Sehr gut! im Zentrum - Zurufe von den Kommunisten)

… in kurzer Frist [wird] ein Wirtschaftsprogramm für die nächsten Monate ausgearbeitet. Dieses Programm hat als erste Voraussetzung (Zuruf von den Kommunisten: Hungerprogramm!) die Aufrecht-erhaltung der Stabilität unserer Währung, an der unter keinen Umständen gerüttelt werden kann. (Lebhafte Zustimmung in der Mitte und bei der Deutschen Arbeiterpartei. Zuruf: Dann werden die anderen rütteln) Von entscheidender Wichtigkeit ist die Durchführung eines ausgearbeiteten Planes zur Tilgung der kurzfristigen Schulden und ebenso eine endgültige Klärung der Reparationsfrage.“

Heinrich Brüning, Regierungserklärung vom 13. Oktober 1931

Page 134: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

134

9.16 Weiterführende Literatur zur Finanzgeschichte in der Weltwirtschaftskrise

• Knut Borchardt, Wachstum, Krisen und Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik. Studien zur Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 1982.

• Ursula Büttner, Politische Alternativen zum Brüningschen Deflationskurs. Ein Beitrag zur Diskussion über "ökonomische Zwangslagen" in der Endphase von Weimar, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 37 (1989), 209-251.

• Barry Eichengreen, Peter Temin, The Gold Standard and the Great Depression, in: Contemporary European History 9 (2000), 183-207.

• Carl-Ludwig Holtfrerich, Alternativen zu Brünings Wirtschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise?, in: Historische Zeitschrift 235 (1982), 605-631.

• Ders., Zu hohe Löhne in Weimar?, in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), 122-141. • Herbert Hömig, Brüning. Kanzler in der Krise der Republik. Eine Weimarer Biographie, Paderborn u.a.

2000. • Harold James, The German Slump. Politics and Economics 1924-1936, Oxford 1986 . • Jürgen Baron Kruedener (Hg.), Economic Crisis and Political Collapse. The Weimar Republic 1924-1933,

New York u.a. 1990.• Florian Pressler, Die erste Weltwirtschaftskrise. Eine kleine Geschichte der großen Depression, München

2013.• Albrecht Ritschl, Deutschlands Krise und Konjunktur 1924-1934. Binnenkonjunktur, Auslandsverschuldung

und Reparationsproblem zwischen Dawes-Plan und Transfersperre, Berlin 2002. • Ders., War 2008 das neue 1931?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 20/2009, 27-32.• Bernd Weisbrod, Die Befreiung von den "Tariffesseln". Deflationspolitik als Krisenstrategie der Unternehmer

in der Ära Brüning, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), 295-325. • Peter-Christian Witt, Finanzpolitik als Verfassungs- und Gesellschaftspolitik. Überlegungen zur Finanzpolitik

des Deutschen Reiches in den Jahren 1930 bis 1932, in: Geschichte und Gesellschaft 8 (1982), 386-414.

Page 135: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

135

Freitag, 13.12.13, 16.15 - 17.45 Uhr

10. NS-Rüstungskeynesianismus

Page 136: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

136

10.1 Ein NS-Wirtschaftswunder?

50

75

100

125

150

175

1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944

Industrieproduktion (1929 = 0)

Quelle: Tooze (2007), 913 (Tabelle A.2) und Overy (1982), 11 (Tab. II).

1938 (1913 = 0) BSP Produktivität Reallöhne

USA 172 208 153

Großbritannien 147 167 133

Deutschland 136 137 109

v.H.

Page 137: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

137

10.2 Johann Ludwig Schwerin von Krosigk, Finanzminister von 1932 bis 1945

Ergebnisse während der Amtszeit

• Konfiszierung des jüdischen Eigentums sowie Ausbeutung der besetzten Länder durch Reichsfinanzverwaltung

• Verankerung der nationalsozialistischen Weltanschauung im Steuerrecht und ideologische Schulung der Steuerbeamten durch Staatssekretär Fritz Reinhardt (überzeugter Nationalsozialist)

• Finanzierung der Arbeitsbeschaffung („Reinhardt-Programme“)

• Finanzierung der Aufrüstung/Wehrmacht außerhalb des Reichshaushalts

• Eingliederung des preußischen Finanzministeriums in das Reichsfinanzministerium

• direkte Finanzbeziehungen des Reichs mit den Kommunen und Einführung eines horizontalen kommunalen Finanzausgleichs

Page 138: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

138

10.3 Entwicklung des Finanzierungssaldos 1930-1938

-10

-8

-6

-4

-2

0

2

1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

Finanzierungssaldo des Reichshaushalts

Quelle: Ritschl (2002), Tabelle A.9.

v.H. BSP

Page 139: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

139

10.4 Entwicklung der Nettoneuverschuldung des Reichs 1930-1938

-10000

-9000

-8000

-7000

-6000

-5000

-4000

-3000

-2000

-1000

0

1000

1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

Nettoneuverschuldung (-) des Reiches

Quelle: Ritschl (2002), Tabelle A.9.

Mio. RM

Page 140: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

140

10.5 Entwicklung der Rüstungsausgaben 1928-1938

0

2000

4000

6000

8000

10000

12000

14000

16000

18000

1928 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

Rüstungsausgaben

Mio. RM

Quelle: René Erbe, Die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik 1933-1939 im Lichte der modernen Theorie, Zürich 1958, 26, 109.

Page 141: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

141

10.6 Die Aly-These von der „Gefälligkeitsdiktatur“

• Laut Götz Aly war das »Dritte Reich« eine »Gefälligkeitsdiktatur«; Hitler und die Männer seiner Entourage agierten als »klassische Stimmungspolitiker«, die geradezu peinlich darauf bedacht waren, die Masse der Bevölkerung bei Laune zu halten. Zu diesem Zwecke gossen sie das Füllhorn sozialpolitischer Wohltaten aus: Familienlastenausgleich, Ehestandsdarlehen, Kindergeld, Erhöhung des steuerfreien Grundbetrags, et cetera [u.a. Steuerfreiheit für Nachtzuschläge]. Gleichzeitig sorgte das Regime nach dem Motto »Mehr Chancengleichheit wagen« für eine kräftige soziale Aufwärtsmobilität.

• „Aly sieht in der großen Mehrzahl der Deutschen angepasste Mitläufer, die sich nach der Devise »Geld ist geil« der Mitnahmemöglichkeiten, die das Regime ihnen bot, dankbar erfreuten, sich ansonsten aber in passiver Loyalität übten, was indes für die Funktionsfähigkeit der Diktatur vollkommen ausgereicht habe. Das gläubige Vertrauen auf den charismatischen »Führer«, das Verfallensein an den Hitler-Mythos, das Ian Kershaw und jüngst Hans-Ulrich Wehler als stärkstes Bindemittel des Regimes beschrieben haben – es taucht nicht einmal mehr auf.“Volker Ullrich, Hitlers zufriedene Räuber, in: Die Zeit 11/2005.

• Götz Aly: "Wer von den vielen Vorteilen für Millionen einfacher Deutscher nicht reden will, der sollte vom Nationalsozialismus und vom Holocaust schweigen."

• Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a.M. 2005.

Page 142: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

142

10.7 Kompetenzverteilung auf die Gebietskörperschaften im NS-Staat

NS-Staat Gesetzgebungshoheit Ertragshoheit Verwaltungshoheit

Reich • Gesetzgebungshoheit über (fast) sämtliche Steuern

• vollständige Ertragshoheit • Reichszoll- und finanzverwaltung

Länder • keine • Mittelzuweisung vom Reich • keine

Kommunen • keine • Mittelzuweisung vom Reich sowie horizontaler Finanzausgleich

• Realsteuern

• keine

Page 143: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

143

10.8 Bedeutung der Länder auf dem historischen Tiefpunkt

35

65

45

32

1134

3324 21

0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

80%

90%

100%

1913 1937 1950

Reich/Bund Länder Kommunen

v.H. der Gesamtausgaben

Page 144: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

144

10.9 Johannes Popitz

Lebenslauf und Leistungen

• Staatssekretär im Reichsfinanzministerium (1925-1929)

• Preußischer Finanzminister 1932-1944

• Popitzsche Steuerreform von 1925, die Erzbergers Steuergesetze auf ein sicheres juristisches und finanzwissenschaftliches Fundament stellen

• Schöpfer des modernen (kommunalen) Finanzausgleichs: Johannes Popitz, Der künftige Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemeinden. Gutachten erstattet der Studiengesellschaft für den Finanzausgleich, Berlin 1932.

• Popitzsches Gesetz von der Anziehungskraft des zentralen Etats

• von den Nationalsozialisten 1944 hingerichtet

Page 145: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

145

10.10 Political economy in der NS-Zeit

Verfassungspolitik/SozialstaatSicherung der Vollbeschäftigung und partieller

Ausbau des Sozialstaats zur Herrschaftssicherung

ParteipolitikDualismus Partei/Staat;sich radikalisierende

NS-Bewegung;Fraktionen in NS-Polykratie

Reich/Länder Ausschaltung

der Länder

Exekutivepartieller Funktionsverlust der Ministerialverwaltung, insbes. des Finanzministeriums;

Finanzpolitik als Mittel zur Finanzierung des Angriffskrieges

Finanzpolitikals Instrument

der Machtpolitik

Die Finanzpolitik des NS-Regimes dient vorrangig einem Zweck: Der Vorbereitung und Durchführung des 2. Weltkriegs.

Page 146: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

146

10.11 Quellen: Johann Ludwig Schwerin von Krosigk und John Maynard Keynes

„Ein Volk, das auf Zunahme verzichtet, und ein Volk, das auf seine Wehrkraft verzichtet, ist tot. Daß in diesen beiden entscheidenden Fragen durch Adolf Hitler die große Wendung in unserem nationalen Leben eingetreten ist, das allein schon wird ihm für alle Zeiten den Ehrenplatz in der Geschichte unseres Volkes einbringen.

Wenn man an die aktive Finanz- und Wirtschaftspolitik des Frühjahrs 1933 zurückdenkt, dann wird sie immer wieder in erster Linie gekennzeichnet sein durch die Arbeitsbeschaffungspolitik, nämlich die, daß damals diese Arbeitsbeschaffung auf Kredit genommen worden ist. Hier ist in einer beispielhaften Form der Weg gegangen worden, daß ein finanziell und wirtschaftlich am Boden liegender Staat das Letzte eingeworfen hat, über das er verfügte, nämlich den Kredit des Staates.

Die Arbeitsbeschaffung in der Form des Frühjahrs 1933 ist jetzt abgeschlossen, und an ihre Stelle ist etwas anderes getreten, nämlich die Ausgaben für die Wehrmachung unseres Volkes.“

Lutz Graf Schwerin von Krosigk, Nationalsozialistische Finanzpolitik, Jena 1936 (= Kieler Vorträge, Nr. 41).

„Nevertheless the theory of output as a whole, which is what the following book purports to provide, is much more easily adapted to the conditions of a totalitarian state …“

John Maynard Keynes, The General Theory of Employment, Interest and Money, Cambridge 1936 (ND 1993) (= The Collected Writings of John Maynard Keynes Bd. 7), XXVI (Preface to the German Edition).

Page 147: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

147

10.12 Weiterführende Literatur zur Finanzgeschichte der NS-Zeit

• Willi A. Boelcke, Die Kosten von Hitlers Krieg. Kriegsfinanzierung und finanzielles Kriegserbe in Deutschland 1933-1948, Paderborn 1985

• Ders. Die Finanzpolitik des Dritten Reiches. Eine Darstellung in Grundzügen, in: Karl Dietrich Bracher, Manfred Funke, Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.), Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 1992, S. 95-117.

• Friedrich-Wilhelm Henning, Die nationalsozialistische Steuerpolitik. Programm, Ziele und Wirklichkeit, in: Eckhart Schremmer (Hg.), Steuern, Abgaben und Dienste vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart 1994, 197-211.

• Friedrich-Wilhelm Henning, Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Teil II: 1933-1945, hg. v. Markus A. Denzel, Paderborn u.a. 2013.

• Christiane Kuller, Bürokratie und Verbrechen. Antisemitische Finanzpolitik und Verwaltungspraxis im nationalsozialistischen Deutschland, München 2013 (= Das Reichsfinanzministerium im Nationalsozialismus Bd. 1).

• Richard J. Overy, The Nazi Economic Recovery 1932-1938, London 1982.• Ders., Die Wurzeln des Sieges. Warum die Alliierten den Zweiten Weltkrieg gewannen, Hamburg 2002.• Lutz Graf Schwerin von Krosigk, Staatsbankrott. Die Geschichte der Finanzpolitik des Deutschen Reiches

von 1920 bis 1945, Göttingen u.a.1974. • Mark Spoerer, Demontage eines Mythos? Zu der Kontroverse über das nationalsozialistische

„Wirtschaftswunder“, in: Geschichte und Gesellschaft 31 (2005), 415-438.• J. Adam Tooze, Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München

2007. • Reimer Voß, Steuern im Dritten Reich. Vom Recht zum Unrecht unter der Herrschaft des

Nationalsozialismus, München 1995.

Page 148: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

148

Freitag, 20.01.14, 14.30 - 16.00 Uhr

11. Die fetten Jahre der Bonner Republik

Page 149: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

149

11.1 Entwicklung des Finanzierungssaldos des Bundeshaushalts 1950-1969

-1,5

-1

-0,5

0

0,5

1

1,5

2

1950 1952 1954 1956 1958 1960 1962 1964 1966 1968

Finanzierungssaldo des Bundeshaushalts

v.H. BSP

Quelle: Für die Jahre bis 1959: Bundesministerium der Finanzen (Hg.), Haushaltsreden. Die Ära Schäffer, bearb. v. Kurt-Dieter Wagner u.a., Bonn 1992, 428 und 437; für die Jahre ab 1960: Bundesministerium der Finanzen (Hg.), Haushalts-reden. Starke, Dahlgrün, Schmücker, bearb. v. Kurt-Dieter Wagner u.a., Bonn 1995, 308f, jeweils eigene Berechnungen.

Page 150: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

150

11.2 Ausgabenstruktur des Bundeshaushalts von 1963

Soziales16%

Zinsen2%

Verteidigung35%

Renten13%Übrige

Ausgaben34%

1963• hohe Sozialausgaben durch Wiedereinführung des

Kindergelds (1954) und Versorgung der Kriegsopfer

• Einführung der dynamischen Rente im Jahr 1957: „Teuerstes Wahlgeschenk aller Zeiten.“

• Zinsanteil niedrig, da Entschuldung aufgrund Inflation und einer sparsamen Haushaltspolitik in den 50er Jahren

• hoher Anteil der Verteidigungsausgaben durch kostenintensiven Aufbau der Bundeswehr

Page 151: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

151

11.3 Der erste Bundesfinanzminister: Fritz Schäffer (1949-1957)

Ergebnisse während der Amtszeit

• Investitionsförderung mittels der Steuerpolitik („Investition oder Finanzamt“)

• sparsame Haushaltspolitik ( „Politik der geschlossenen Hand“), die zu Haushaltsüberschüssen (Juliusturm) führt

• Finanzierung des Lastenausgleichs und der Wiederaufrüstung

• gegen die Einführung der dynamischen Rente durch Adenauer

• Regelung der Altschulden im Londoner Schuldenabkommen von 1953

• Opfer des so genannten Kuchenausschusses

Page 152: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

152

11.4 Entwicklung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer 1946-1970

Der erste Bundesfinanzminister Schäffer machte aus der Not, also den hohen, von den Siegermächten auferlegten Steuersätzen, eine Tugend und förderte massiv die „Selbstfinanzierung“ der Unternehmen. Großzügige Abschreibungsregelungen und niedrige Steuern für einbehaltene Gewinne schufen starke Investitionsanreize. Die Unternehmen wurden letztlich vor die Wahl „Investition oder Finanzamt“ gestellt. „Von diesem Strukturfehler überhöhter Steuersätze und löchriger Bemessungsgrundlagen hat sich das deutsche Steuerrecht bis heute nicht erholt.“ (Paul Kirchhof)

0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

80%

90%

100%

1913 1920 1925 1939 1946 1953 1958 1970 1975 1990 2000 2004

Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer

Steuersätze derSiegermächte

Finanz-reformen

Page 153: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

153

11.5 Der Lastenausgleich von 1952

• Ziele des Gesetzes über den Lastenausgleich von 1952: Solidarischer Ausgleich der Kriegsschäden und finanzielle Entschädigung für die 14 Mio. Vertriebenen, Flüchtlinge und Spätaussiedler

• Inhalt: Umverteilung über Lastenausgleichsfonds • Umverteilungsvolumen: 115 Mrd. DM (insbes. 43 Mrd. DM Hauptentschädigung für

Vermögensschäden, 10 Mrd. DM Hausratsentschädigung, 53 Mrd. DM Renten)• Finanzierung: 42 Mrd. DM Vermögensabgabe (50 % des Vermögenswertes zum Stichtag 21. Juni

1948, zahlbar innerhalb von max. 30 Jahren), 9 Mrd. DM Hypothekengewinnabgabe, 2 Mrd. DM Kreditgewinnabgabe, 61 Mrd. DM Zuschüsse aus den öffentlichen Haushalten)

• Belastungswirkung: 1,67 % p.a., wg. langen Zahlungszeitraumes, hoher Einkommenssteigerungen und Inflation relativ leicht leistbar, also faktisch kein Verlust an Vermögenssubstanz

• Wertung: erfolgreiches Instrument zur Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge

• Vorläufer in der Weimarer Republik, aber keine Wirkung wg. Hyperinflation; später Hauszinssteuer als Belastung für Inflationsgewinne im Immobilienbereich

• Diskussion über einen erneuten Lastenausgleich nach der Deutschen Einheit• Aktuelle Diskussion im Rahmen der europäischen Staatsschuldenkrise

• Literatur: Stefan Bach, Gert G. Wagner, Steuergerechtigkeit als Zukunftsinvestition,in: Wirtschaftsdienst 92 (9/2012), 594-598; Richard Hauser, Zwei deutsche Lasten-ausgleiche - Eine kritische Würdigung, in: Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 80 (2011), 103-122; Lutz Wiegand, Der Lastenausgleich in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 1985, Frankfurt am Main 1992.

Page 154: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

154

11.6 Das Londoner Schuldenabkommen von 1953

• Vorgeschichte: 1931 Moratorium für die deutschen Auslands- bzw. Reparationsschulden; seit 1933 faktischer Staatsbankrott, da die Nationalsozialisten den Schuldendienst einseitig einstellen → Bundesrepublik daher kreditunwürdig.

• Höhe der Schulden: Altschulden: 13,5 Mrd. DM (u.a. Dawes- und Young-Anleihe), aufgelaufende Zinszahlungen seit 1934: 14 Mrd. DM, Nachkriegsschulden (u.a. Zahlungen aus dem Marshall-Plan): 15 Mrd. DM

• Inhalt: Großzügiger Schuldenerlass: 14 Mrd. DM, zahlbar bis 1988• Reparationen: Bis zum Abschluss eines Friedensvertrags zurückgestellt. Um diese Problematik zu

umgehen, wurde 1990 nur ein Zwei-plus-Vier-Vertrag unterzeichnet.• Hintergrund: USA brauchen Bundesrepublik im Kalten Krieg und wollen nicht die Fehler des

Versailler Vertrags wiederholen.• Folgen: Bundesrepublik wird kreditwürdig und kann die Konvertibilität der Mark einleiten.• Aktuelle Diskussion: Historisches Vorbild für Griechenland?

• Literatur: - Christoph Buchheim: Das Londoner Schuldenabkommen, in: Ludolf Herbst (Hrsg.): Westdeutschland 1945–1955. Unterwerfung, Kontrolle, Integration, München 1986, S. 219–229.- Ursula Rombeck-Jaschinski: Das Londoner Schuldenabkommen. Die Regelung der deutschen Auslandsschulden nach dem Zweiten Weltkrieg. München 2005.- 27. Februar 2003 – 50 Jahre Londoner Schuldenabkommen, in: BMF-Monatsbericht 02/2003, S. 91-95.

Hermann Josef Abs, der deutsche Verhandlungs-führer, bei der Unterschrift

Page 155: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

155

11.7 Bundesfinanzminister 1957-1966

Name und Amtszeit Ergebnisse während der Amtszeit

Franz Etzel (CDU)(29.10.1957-14.11.1961)

• Steuerreform von 1958 (Körperschaftsteuer und Einkommensteuer)• Sparprämiengesetz von 1959• Haushaltspolitik „am Rande des Defizits“ (Abbau des Juliusturms)• Beginn der Konjunkturpolitik

Heinz Starke (FDP)(14.11.1961-19.11.1962)

• kompromisslose Ablehnung gegenüber Ausgabewünschen der Fachminister und der Regierungsfraktionen

Rolf Dahlgrün (FDP)(13.12.1962-28.10.1966)

• starker Anstieg der Ausgaben und - dank der Konjunktur - auch der Einnahmen• Haushaltsdefizit in der Rezession von 1966/67• Initiative zur Umformung der Umsatzsteuer zur Mehrwertsteuer• Rücktritt sämtlicher FDP-Minister wegen Ablehnung von Steuererhöhungen

Page 156: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

156

11.8 Franz Josef Strauß als Bundesfinanzminister (1966-69): Der erste Keynesianer

Ergebnisse während der Amtszeit

• „Plisch und Plum“ mit Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) in der ersten Großen Koalition

• erfolgreiche Überwindung der ersten Nachkriegsrezession durch eine keynesianische Finanzpolitik

• Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967

• „Mit Steuern steuern“

• Umsatzsteuerreform (Umstellung von Brutto-Allphasen auf Mehrwertsteuer)

• Grundlegende Haushaltsreform

• Große Finanzreform von 1969

Page 157: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

157

11.9 Die schwierige Geburt der bundesdeutschen Finanzverfassung

Parlamentarischer Rat

Unitarischer Grundzug mitVerbundmasse aus den großen Steuern

Besatzungsmächte

Förderaler Grundzug mit striktem Trennsystem

Bundesfinanzverwaltung Finanzverwaltung der Länder

1. Konfliktpunkt

2. Konfliktpunkt

Die Besatzungsmächte setzen sich durch. Eine Bundesfinanzverwaltung wird untersagt. Der Bund erhält die Umsatzsteuer zu 100 %, kann aber über den Weg eines zustimmungspflichtigen Gesetzes auch am Aufkommen der Einkommen- und Körperschaftsteuer partizipieren, falls der Haushalt anderweitig nicht auszugleichen ist. Dies machte der Bund umgehend über sogenannte Inanspruchnahmegesetze. 1955 wird dann seine direkte Beteiligung an der Einkommensteuer im Grundgesetz verankert. Mit der ersten größeren Finanzreform wird also die Finanzverfassung grundlegend reformiert.

Page 158: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

158

11.10 Kompetenzverteilung auf die Gebietskörperschaften in der Bundesrepublik

Bundes-republik

Gesetzgebungshoheit Ertragshoheit Verwaltungshoheit

Bund • (konkurrierende) Gesetz-gebungshoheit über Einkommen- und Umsatzsteuer

• auf Druck der Sieger-mächte: Trennsystem, das sofort durch „Inanspruch-nahmegesetze“ (Beteiligung des Bundes an der Einkommensteuer) durchbrochen wird

• seit 1969 Verbundsystem

• Zollverwaltung

Länder • Zustimmung des Bundesrats in der Regel erforderlich

• Beteiligung an der Umsatzsteuer seit 1969

• Finanzverwaltung• Verwaltungsvereinbarung

von 1970 zur Zusammenar-beit von Bund und Ländern

Kommunen • keine • Beteiligung an der Einkommensteuer seit 1969

• Realsteuern

• keine

Page 159: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

159

11.11 Die Gemeindefinanzreform von 1969

Gemeindefinanz-reform von 1969

Einführung der kommu-nalen Beteili-gung an der Einkommen-steuer (14 %)

Bebehaltung des kommu-nalen Hebe-satzrechts an der Gewerbe-

steuer

Beibehaltung des kommu-nalen Hebe-satzrechts an

der Grund-steuer

dafür Gewerbe-steuerumlage an

Bund/Land

Page 160: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

160

11.12 Ertragshoheit über die Einkommensteuer 1944-1970

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

1944 1951 1952 1953 1955 1958 1967 1970

Bund Länder Kommunen

v.H.

Page 161: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

161

11.13 Ertragshoheit über die Umsatzsteuer 1944-1970

Im Rahmen des 1969 eingeführten bzw. ausgebauten Verbundsystems werden die Länder mit zunächst 30 % beteiligt.

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

1944-1969 1970

Bund Länder Kommunen

v.H.

Page 162: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

162

11.14 Political economy der Bonner Republik bis 1969

Verfassungspolitik/SozialstaatAusbau des Sozialstaats zur Sicherung der Demokratie

Parteipolitik zunehmende Instrumentali-

sierung für Wahlkampf;Bruch der CDU-/FDP-Koalition

wegen Finanzpolitik

Bund/Länder de facto

Unitarisierung

ExekutiveKonflikte zwischen Finanzministerium und Kanzleramt/Fachministerien

Finanzpolitikals Instrument

der Machtpolitik

Page 163: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

163

11.15 Quelle: Rede von Fritz Schäffer aus dem Jahre 1950

„Die Bundesregierung selbst ist aufgerufen, den Damm gegen jede inflatorische Politik zu bilden, und sie muss für diese Entwicklung die persönliche Verantwortung übernehmen. Sie muss und kann diese persönliche Verantwortung selbstverständlich nur im Rahmen dessen übernehmen, was die Verfassung selbst vorschreibt, also insbesondere im Rahmen des Art. 110 des Grundgesetzes, in dem die Abgleichung in Einnahmen und Ausgaben vorgesehen ist.

Damit die Bundesregierung diesem Zwang nicht ausweichen kann, hat der Gesetzgeber des Grundgesetzes in Art 115 auch den Weg für eine leichtfertige Schuldenpolitik verbaut. Er hat vorgeschrieben, dass zur Aufnahme jeden Kredites und zur Gewährung jeder Bürgschaft und aller Sicherheitsleistungen, deren Wirkung über das laufende Haushaltsjahr hinausgehen, ein besonderes Bundesgesetz erforderlich ist. Die Bundesregierung ist hier also an die Beschluss-fassung der beiden gesetzgebenden Körperschaften, Bundesrat und Bundestag, gebunden. Durch diese Bestimmungen suchte der Gesetzgeber des Grundgesetzes zunächst einen Schutz gegen jene inflatorische Entwicklung in der deutschen Finanzpolitik zu schaffen. Um ein modernes Wort zu gebrauchen: „deficit spending“ ist durch das Grundgesetz in der deutschen Finanzpolitik untersagt.“

Rede zur Einbringung des Haushalts von Fritz Schäffer vom 09.11.1950, in: Bundesministerium der Finanzen (Hg.), Haushaltsreden. Die Ära Schäffer. 1949 bis 1957, bearbeitet von Kurt-Dieter Wagner u.a., Bonn 1992 (= Schriftenreihe zur Finanzgeschichte Bd. 1), 81.

Page 164: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

164

11.16 Quelle: „3 Jahre neuer Finanzpolitik“

„Öffentliche Schulden – gut oder schlecht?

Die „klassische“ Rechtfertigung der Kreditfinanzierung öffentlicher Ausgaben – nach der im Grunde nur solche Investitionen des Staates mit Kredit finanziert werden dürfen, die ihren Zinsendienst selbst zu tragen vermögen oder an deren Nutzung auch noch spätere Generationen teilhaben – muss als überholt angesehen werden. Die öffentliche Schuldenpolitik („debt management“) wird heute als ein legitimes Mittel einer modernen Finanz- und Wirtschaftspolitik – insbesondere zur Dämpfung von Konjunkturschwankungen und zur Sicherung eines angemessenen Wirtschaftswachstums – angesehen. In der Stagnation der vergangenen Jahre hat sie sich als ein wirksames konjunkturpolitisches Instrument bewährt. Als in der Phase der wirtschaftlichen Abschwächung ein Rückgang der privaten Investitionstätigkeit zu beobachten war, erhöhte der Staat die Nachfrage durch eigene Investitionen und führte brachliegende Liquidität über den Weg der Kreditaufnahme in den Wirtschaftskreislauf zurück. Auf diese Weise wurde die Volkswirtschaft vor Wachstumsverlusten bewahrt, die gleichbedeutend sind mit Einkommensverlusten der Arbeitnehmer, der Wirtschaft und des Staates.

Ihre antizyklische Funktion erfüllt die öffentliche Kreditpolitik, wenn im Aufschwung öffentliche Schulden beschleunigt abgebaut werden, falls sich die Gefahr einer Überforderung der Volkswirtschaft abzeichnet.“

Bundesministerium der Finanzen (Hg.) mit einem Vorwort von Franz Josef Strauß, Drei Jahre neuer Finanzpolitik, Bonn 1969, 21.

Page 165: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

165

11.17 Weiterführende Literatur zur Finanzgeschichte von 1946-1969

• Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2. Aufl. 2011. • Nikolaus Adami, Die Haushaltspolitik des Bundes von 1955 bis 1965, Bonn 1970. • Gerold Ambrosius, Staatsausgaben und Staatsquoten in der Bundesrepublik in den 50er Jahren. Ihre

Einflußnahme im internationalen Vergleich, in: Dietmar Petzina (Hg.), Ordnungspolitische Weichen-stellungen nach dem Zweiten Weltkrieg, Berlin 1991, 31-53.

• Bundesministerium der Finanzen (Hg.), Chronologie zur Finanzgeschichte. 1945-1969, bearbeitet von Kurt-Dieter Wagner u.a., Bonn 1993.

• Klaus Franzen, Die Steuergesetzgebung der Nachkriegszeit in Westdeutschland (1945-1961), Bremen 1994. • Dieter Grosser, Die Rolle Fritz Schäffers als Finanzminister in den ersten beiden Kabinetten Konrad

Adenauers, in: Wolfgang Mückl (Hg.), Föderalismus und Finanzpolitik. Gedenkschrift für Fritz Schäffer, Paderborn u.a. 1990, 67-81.

• Wolfgang Kitterer, Öffentliche Finanzen und Notenbank, in: Deutsche Bundesbank (Hg.), Fünfzig Jahre Deutsche Bank. Notenbank und Währung in Deutschland seit 1948, München 1998, 199-256, insbes. 202-218.

• Jutta Muscheid, Die Steuerpolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1949 - 1982, Berlin 1986. • Wolfgang Renzsch, Finanzverfassung und Finanzausgleich. Die Auseinandersetzungen um ihre politische

Gestaltung in der Bundesrepublik Deutschland zwischen Währungsreform und deutscher Vereinigung (1948-1990), Habil. Göttingen 1991, Bonn 1991.

• Franz Josef Strauß, Finanzpolitik. Theorie und Wirklichkeit, Berlin 1969.• Dietrich Yorck, Franz Etzel als Finanzpolitiker, in: Historisch-politische Mitteilungen 2 (1995), 173-187.

Page 166: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

166

Freitag, 10.01.14, 16.15 - 17.45 Uhr

12. Konjunkturpolitik der 70er Jahre

Page 167: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

167

12.1 Stagflation der 70er Jahre

-2

-1

0

1

2

3

4

5

6

7

8

1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982

Wachstumsrate reales BSP Inflationsrate Arbeitslosenquote

v.H.

Quelle: Scherf (1986), 8f.

Page 168: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

168

12.2 Fiskalschock der Konjunkturpolitik der 70er Jahre

23 23,8

34,839,638,5

46,9

18

38

0

10

20

30

40

50

60

1970 1980/82

Steuerquote Abgabenquote Staatsquote Schuldenquote

v.H. NSP/BSP/BIP

Page 169: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

169

12.3 Entwicklung des Finanzierungssaldos des Staats 1970-1982

-6

-5

-4

-3

-2

-1

0

1

2

1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982

Finanzierungssaldo des Staats

v.H. BIP

Quelle: BMF-Monatsbericht Mai 2009, 100 (Tab. 12).

Page 170: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

170

12.4 Entwicklung des Finanzierungssaldos des Bundeshaushalts 1969-1982

-40

-35

-30

-25

-20

-15

-10

-5

0

5

1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982

Finanzierungssaldo des Bundeshaushalts

Quelle: Scherf (1986), 98.

Mrd. DM

Page 171: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

171

12.5 Entwicklung der Deckungsquote des Bundeshaushalts 1969-1982

75

80

85

90

95

100

1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982

Deckungsquote des Bundeshaushalts

Quelle: Scherf (1986), 92.

v.H.

Page 172: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

172

12.6 Anstieg der öffentlichen Ausgaben 1969-1982

0

2,5

5

7,5

10

12,5

15

1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982

Anstieg der öffentlichen Ausgaben gegenüber dem Vorjahr

Quelle: Scherf (1986), 92.

v.H.

Page 173: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

173

12.7 Entwicklung der Sozialleistungsquote 1969-1982

1969

1970

1971

1972

1973

1974

1975

1976

1977

1978

1979

1980

1981

1982

25

26

27

28

29

30

31

32

Sozialleistungsquote

v.H. BSP

Quelle: Scherf (1986), 87.

Page 174: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

174

12.8 Bundesfinanzminister 1969-1974

Name und Amtszeit Ergebnisse während der Amtszeit

Alex Möller (SPD)(21.10.1969-13.05.1971)

• starke Ausgabensteigerungen infolge der vor allem verteilungspolitisch motivierten Reformen der sozialliberalen Koalition

• Rücktritt infolge finanz- und währungspolitischer Turbulenzen

Karl Schiller (SPD)(13.05.1971-07.07.1972)

• Superminister für Wirtschaft und Finanzen• Keynesianischer Steuerungsoptimismus: „Konjunktur ist nicht unser Schicksal,

Konjunktur ist unser Wille.“ • Wegbereiter des Schuldenstaats (von ihm nicht intendiert)• Rücktritt wegen grundsätzlicher Differenzen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik

mit seiner Partei• Literatur: Torben Lütjen, Karl Schiller (1911-1994). „Superminister“ Willy Brandts,

Bonn 2007.

Helmut Schmidt (SPD)(07.07.1972-15.05.1974)

• Konjunkturprogramme als Reaktion auf die 1. Ölkrise• Freigabe der Wechselkurse (Ende von Bretton Woods)

Page 175: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

175

12.9 Bundesfinanzminister 1974-1982

Name und Amtszeit Ergebnisse während der Amtszeit

Hans Apel (SPD)(16.04.1974-16.02.1978)

• Steuerreform von 1975 mit Steuersenkungen • Zukunftsinvestitionsprogramm von 1977• Quelle: Hans Apel, Staat ohne Maß. Finanzpolitik in der Sackgasse, Düsseldorf 1997.

Hans Matthöfer (SPD) (16. 02.1978-28.04.1982)

• jährliche Steuerpakete• Sparpolitik und eher angebots- orientierte Politik seit 1980• Literatur: Werner Abelshauser, Nach dem Wirtschaftswunder. Der Gewerkschafter, Politiker und Unternehmer Hans Matthöfer, Bonn 2009.

Manfred Lahnstein (SPD)(28.04.1982-04.10.1982)

• Übergangsminister• Sparpolitik• „Die sozialliberale Koalition ist letztlich an der Finanzpolitik gescheitert.“ (Thilo Sarrazin 1983, S. 373)

Page 176: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

176

12.10 Political economy der 70er Jahre

Verfassungspolitik/Sozialstaatharte tarifpolitische Auseinandersetzungen

mit hohen Lohnabschlüssen

Parteipolitikscharfe

Auseinandersetzungen

Bund/Länder Bundesratsmehrheit

gegen Bundestagsmehrheit

ExekutivePlanungs- und Steuerungseuphorie der Ministerialverwaltung

Finanzpolitikals Instrument

der Machtpolitik

Die Finanzpolitik ist in den 70er Jahren ein zentrales Konfliktfeld im politischen Machtkampf.

Page 177: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

177

12.11 Quelle: Thilo Sarrazin aus dem Jahr 1983

„Es hätte von Anfang an entweder eine stärkere Zurückhaltung bei der Ausgabenentwicklung oder eine Absicherung des geplanten Ausgabenpfades durch dauerhafte Einnahmen geben müssen. So aber dominierten, vereinfacht ausgedrückt, auf der Ausgabenseite des Bundeshaushalts die Vorstellungen der SPD und auf der Einnahmenseite die Vorstellungen der FDP.“

„Es bestand und besteht ein krasses Missverständnis zwischen akribischen haushaltspolitischen Bemühungen im Bereich der unmittelbaren Bundesausgaben und einer eher sorglosen Nicht-beachtung der großen Strukturprobleme in der Sozialversicherung.“

Thilo Sarrazin, Die Finanzpolitik des Bundes 1970-1982 – Eine kritische Würdigung –, in: Finanzarchiv N.F. 41 (1983), 375 und 382.

Page 178: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

178

12.12 Weiterführende Literatur zur Finanzgeschichte der 70er Jahre

• Gérard Bökenkamp, Das Ende des Wirtschaftswunders: Geschichte der Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Bundesrepublik 1969 -1998, Stuttgart 2010.

• Alexandra Ehrlicher, Die Finanzpolitik 1967-1976 im Spannungsfeld zwischen konjunkturpolitischen Erfordernissen und Haushaltskonsolidierung, Berlin 1991.

• Jutta Muscheid, Die Steuerpolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1949 - 1982, Berlin 1986. • Claus-Martin Gaul, Konjunkturprogramme in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland: Einordnung

und Bewertung der Globalsteuerung von 1967 bis 1982, Berlin 2009 (= Info-Brief WD 5 - 3010 - 009/09 der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags).

• Monika Hanswillemenke, Bernd Rahmann, Zwischen Reformen und Verantwortung für Vollbeschäftigung. Die Finanz- und Haushaltspolitik der sozial-liberalen Koalition von 1969 bis 1982, Frankfurt a.M. 1997.

• Tim Schanetzky, Die große Ernüchterung: Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982, Berlin 2007.

• Thilo Sarrazin, Die Finanzpolitik des Bundes 1970-1982 – Eine kritische Würdigung –, in: Finanzarchiv N.F. 41 (1983), 373-387.

• Harald Scherf, Enttäuschte Hoffnungen – vergebene Chancen. Die Wirtschaftspolitik der Sozial-Liberalen Koalition 1969-1982, Göttingen 1986.

• Hans-Peter Ullmann, Im Strudel der „Maßlosigkeit“? Die „Erweiterung des Staatskorridors“ in der Bundesrepublik der sechziger bis achtziger Jahre, in: Ders., Staat und Schulden, Öffentlichen Finanzen in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, hg. v. Hartmut Berghoff und Till van Rahden, Göttingen 2009, 149-162.

Page 179: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

179

Freitag, 24.01.14, 14.30 - 15.30 Uhr

13. Konsolidierungspolitik der 80er Jahre

Page 180: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

180

13.1 Konsolidierungspolitik der 80er Jahre

23 23,8 21,6

34,839,6 37,338,5

46,943,6

18

3841,3

0

10

20

30

40

50

60

70

80

1970 1980/82 1990

Steuerquote Abgabenquote Staatsquote Schuldenquote

v.H. NSP/BSP/BIP

Page 181: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

181

13.2 Entwicklung des Finanzierungssaldos des Staats 1982-1989

-3,4

-2,9

-2

-1,1 -1,1

-1,8-2

0,1

-3,5

-3

-2,5

-2

-1,5

-1

-0,5

0

0,5

1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989

Finanzierungssaldo des Staats

v.H. BIP

Quelle: BMF-Monatsbericht Juli 2010, 122 (Tab. 12).

Page 182: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

182

13.3 Entwicklung des Finanzierungssaldos des Bundeshaushalts 1982-1988

-33,5

-26,3

-23

-17,4

-20,5

-27,3

-34,8-35

-30

-25

-20

-15

-10

-5

0

1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988

Finanzierungssaldo des Bundeshaushalts

Mrd. DM

Quelle: Suntum (1989), 6.

Page 183: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

183

13.4 Entwicklung der Gewinnüberweisung der Bundesbank 1982-1988

0

2

4

6

8

10

12

14

1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988

Gewinnüberweisung der Bundesbank

Mrd. DM

Quelle: Suntum (1989), 6.

Page 184: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

184

13.5 Entwicklung der Sozialleistungsquote 1982-1988

Quelle: Suntum (1989), 6.

1982 19831984

19851986

19871988

29

30

31

32

Sozialleistungsquote

v.H. BSP

Page 185: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

185

13.6 Ausgabenstruktur des Bundeshaushalts von 1983

Soziales16%

Zinsen11%Verteidigung

19%

Renten14%

Übrige Ausgaben

36%

Arbeitsmarkt4%

1983• Steigende Renten-, Arbeitsmarkt- und Sozialausgaben

• Zinsanteil relativ hoch aufgrund starker Verschuldung in den 70er Jahren und hohem Zinsniveau

• relativ hoher Anteil der Verteidigungsausgaben wegen des Kalten Kriegs

Page 186: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

186

13.7 Steuerreformen der 80er Jahre

Unter der Leitung von Bundesfinanzminister Gerhard Stoltenberg wird eine dreistufige Steuerreform durchgesetzt, die die Steuerstruktur verbessert und die Steuern senkt, um dadurch die marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für private Initiativen günstiger zu gestalten: Die erste Stufe 1986 entlastet Familien und Bezieher geringerer Einkommen.Die zweite Stufe 1988 führt zu einer weiteren, deutlichen Abflachung der Steuerprogression und zur Verbesserung der Sonderabschreibungsmöglichkeit für kleine und mittlere Betriebe. Die dritte Stufe 1990 realisiert das wichtigste Element, die Einführung des linear-progressiven Einkommensteuertarifs mit einem jeweils um 3 Prozentpunkte abgesenkten Eingangs- und Höchststeuersatz. Mit der nachhaltigen Senkung der Steuersätze geht auch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage durch einen Abbau von steuerlichen Vergünstigungen und Sonderregelungen einher. Das Steuerentlastungsvolumen umfasst brutto fast 39 Mrd. DM bzw. netto rund 25 Mrd. DM.

Page 187: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

187

13.8 Gerhard Stoltenberg: Bundesfinanzminister 1982-1989

Ergebnisse während der Amtszeit

• Sparpolitik (insbesondere 1982-84)

• Erhöhung der Sozialabgaben

• dreistufige Steuerreform 1986/88/90 mit deutlichen Entlastungen

• Verkauf Bundesanteile u.a. von VW AG, VIAG, VEBA AG

• Angebotsorientierte Finanz- und Ordnungspolitik

Page 188: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

188

13.9 Kohl als deutsche Antwort auf Reagan und Thatcher?

Aspekte USA GB

Geistige Wegbereiter • F.A. von Hayek• Milton Friedman• J. Buchanan

• F.A. von Hayek (persönlicher Kontakt zu Thatcher)

• Anthony Fischer (Institute of Economic Affairs)

Politische Triebkräfte • Liberale Think Tanks• Ronald Reagan (Gouverneur von

Kalifornien, Präsident)

• Liberale Think Tanks• Margaret Thatcher (Oppositionsführerin,

Premierministerin)

Ökonomische Ausgangslage

• Stagflation• Keynesianische Wirtschaftspolitik seit

der Weltwirtschaftskrise

• Stagflation mit hoher Arbeitslosigkeit• „Englische Krankheit“ (mangelnde

Wettbewerbsfähigkeit)• Ausgebauter Wohlfahrtsstaat• Extrem mächtige Gewerkschaften

Politik • Reduzierung Staatswachstum • Reduzierung Steuern • Reduzierung Inflation durch

Geldmengenbegrenzung• Deregulierung• Hohe Militärausgaben

• Ende Mixed Economy • Privatisierungen• Ende Zusammenarbeit mit Gewerkschaften• Abbau Sozialstaat• Reduzierung Inflation• Inkaufnahme steigender Arbeitslosigkeit und

hoher sozialer Ungleichheiten

Quelle: Michael von Prollius, Deutsche Wirtschaftsgeschichte nach 1945, Göttingen 2006, 229f.

Page 189: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

189

13.10 Political economy der 80er Jahre

Verfassungspolitik/Sozialstaatmoderate Reduzierung des Sozialstaats

Parteipolitikstabile Koalitionsregierung

Bund/Länder relativ wenig Konflikte

ExekutiveKanzleramt als Machtzentrum

Finanzministerium relativ schwach

Finanzpolitikals Instrument

der Machtpolitik

Page 190: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

190

13.11 Quelle: Helmut Kohls erste Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982

„Die Ansprüche an den Staat und die Systeme der sozialen Sicherung wurden an der optimistischen Vorstellung eines ständigen und kräftigen Wachstums der Wirtschaft orientiert. Als diese hohen Wachstumsraten ausblieben, fehlte es an Einsicht und Kraft, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen und die notwendigen Korrekturen durchzusetzen.

Wir haben … ein haushaltspolitisches Dringlichkeitsprogramm beschlossen, das die zerrütteten Bundesfinanzen neu ordnen soll. Dabei wollen wir vorrangig die öffentliche Neuverschuldung durch eine strenge Haushaltsdisziplin wieder unter Kontrolle bringen. Nach den jetzt vorliegenden katastrophalen Ergebnissen der Bestandsaufnahme werden wir für 1982 unverzüglich einen weiteren Nachtragshaushalt einbringen.

Insgesamt stellen wir mit diesem Dringlichkeitsprogramm die Weichen zur Erneuerung: weg von mehr Staat, hin zu mehr Markt; weg von kollektiven Lasten, hin zur persönlichen Leistung; weg von verkrusteten Strukturen, hin zu mehr Beweglichkeit, Eigeninitiative und verstärkter Wettbewerbsfähigkeit.“

Helmut Kohl, Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982

Page 191: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

191

13.12 Weiterführende Literatur zur Finanzgeschichte der 80er Jahre

• Norbert Andel, Die Steuerreformen der 80er Jahre: Erreichtes und Aufgeschobenes, in: Diether Döring, Paul Bernd Spahn (Hg.), Steuerreform als gesellschaftliche Aufgabe der neunziger Jahre, Berlin 1991, 23-39.

• Gérard Bökenkamp, Das Ende des Wirtschaftswunders: Geschichte der Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Bundesrepublik 1969 -1998, Stuttgart 2010.

• Ulrich Johann, Die Steuergesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland von 1983 bis 1998: die Zeit der christlich-liberalen Koalition, Frankfurt a.M. u.a. 2006.

• Ulrich Suntum, Finanzpolitik in der Ära Stoltenberg, Bochum 1989 (= Diskussionsbeiträge der Ruhr-Universität Bochum, Seminar für Wirtschafts- und Finanzpolitik Nr. 8; auch veröffentlicht in: Kredit und Kapital 23 (1990), 251-276.

• Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5: Bundesrepublik und DDR. 1949-1990, München 2008.

• Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982 -1990, München 2006, 264-288.

• Klaus Zimmermann, Zur Realität von Kurswechseln, Wenden und ähnlichen Manövern aus budgetpolitischer Sicht, in: Der Gemeindehaushalt 9 (1984), 208-213.

• Reimut Zohlnhöfer, Die Wirtschaftspolitik der Ära Kohl. Eine Analyse der Schlüsselentscheidungen in den Politikfeldern Finanzen, Arbeit und Entstaatlichung, 1982-1998, Opladen 2001.

• Ders., Globalisierung der Wirtschaft und finanzpolitische Anpassungsreaktionen in Westeuropa, Baden-Baden 2009.

Page 192: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

192

Freitag, 24.01.14, 15.30 - 16.30 Uhr

14. Fiskalschock der Deutschen Einheit

Page 193: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

193

37,3 39,147,6 46,6

60,2

22,223,521,6

42,143,6

83

41,3

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

1990 2000 2010

Steuerquote Abgabenquote Staatsquote Schuldenquote

v.H. NSP/BSP/BIP

14.1 Fiskalschock der Deutschen Einheit und der zweiten Weltwirtschaftskrise

Quelle: BMF-Monatsbericht August 2012, 72 (Tab. 9), 73 (Tab.10) und 80 (Tab. 14).

Page 194: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

194

14.2 Auswirkungen der Finanz- und Bankenkrise auf den Schuldenstand

Quelle: BMF

60

65

70

75

80

85

2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016

Schuldenstandseffekte der Stabilisierungsmaßnahmen im Rahmen der Finanzmarktkrise und der europäischen Staatsschuldenkrise

Schuldenstandsquote- in % des BIP -

Maastricht-Schuldenstandohne Maßnahmen im Zusammenhang mit der Finanzmarktkriseohne Maßnahmen im Zusammenhang mit der Finanzmarkt- und der europäischen Staatsschuldenkrise

Page 195: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

195

14.3 Entwicklung des Finanzierungssaldos und des Wirtschaftswachstums 1989-2012

-6

-5

-4

-3

-2

-1

0

1

2

3

4

5

6

1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012

-6

-5

-4

-3

-2

-1

0

1

2

3

4

5

6

Finanzierungssaldo des Staats BIP-Wachstumsrate

v.H. BIP

Quelle: BMF-Monatsbericht August 2013, 115 (Tab. 14) und Statistisches Bundesamt.

Page 196: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

196

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2013

Frankreich Großbritannien Deutschland

v.H. BIP

14.4 Entwicklung der Schuldenquoten von Frankreich, Großbritannien und Deutschland, 1980-2010

Quelle: BMF-Monatsbericht August 2013, 117 (Tab. 16).

Page 197: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

197

0

20

40

60

80

100

120

1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2013

USA Irland Schweden

v.H. BIP

14.5 Entwicklung der Schuldenquoten der USA, Irland und Schweden, 1980-2010

Quelle: BMF-Monatsbericht August 2013, 117 (Tab. 16).

Page 198: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

198

0

50

100

150

200

250

1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2013

Japan Italien Belgien Griechenland

v.H. BIP

14.6 Entwicklung der Schuldenquoten von Japan, Italien, Belgien und Griechenland, 1980-2010

Quelle: BMF-Monatsbericht August 2013, 117 (Tab. 16).

Page 199: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

199

14.7 Ausgabenstrukturen des Bundeshaushalts von 2007

• Zuschuss an Rentenversicherung als mit Abstand größter Kostenblock

• hohe Arbeitsmarktausgaben wegen struktureller Arbeitslosigkeit

• Zinsanteil sehr hoch aufgrund der hohen Verschuldung

• Relativ niedriger Anteil der Verteidigungsausgaben („Friedensdividende“)

2007

Soziales9%

Zinsen15%

Verteidigung10%

Arbeitsmarkt14%

Übrige Ausgaben

23%Renten

29%

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200

14.8 Langfristig gebundene und politisch verfügbare Ausgaben im Bundeshaushalt 1970 - 2009

Politisch verfügbar

Schuldendienst

Sozialhilfe/ALG II

Zuschüsse zu denSozialversicherungen

Personal

Verteidigung

Kriegsfolgelasten

Quelle: Wolfgang Streeck, Daniel Mertens, Politik im Defizit: Austerität als fiskalpolitisches Regime, in: MPIfG Discussion Paper 10/5 (2010), 17 (Abbildung 3).

Page 201: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

201

14.9 Entwicklung des Primärsaldos des Bundeshaushalts

-15

0

15

1969 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2012

Primärsaldo (Zinsen abzüglich Netto-Kreditaufnahme) des Bundeshaushalts

Mrd. Euro

Quelle: BMF-Monatsbericht August 2013, 94f. (Tab. 5 und 6), eigene Berechnungen.

Page 202: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

202

14.10 Entwicklung der Zins-Steuer-Quote, Zins-Ausgaben-Quote und Kreditfinanzierungsquote des Bundeshaushalts, 1969-2010

Quelle: BMF-Monatsbericht August 2013, 94f. (Tab. 5 und 6), eigene Berechnungen.

0

2,5

5

7,5

10

12,5

15

17,5

20

1969 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2012

Zins-Steuer-Quote Zins-Ausgaben-Quote Kreditfinanzierungsquote

v.H.

Page 203: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

203

14.11 Umschichtung der Staatsfinanzierung von direkten zu indirekten Steuern seit 1989

Quelle: BMF-Monatsbericht Juli 2011, 99f. (Tab.8).

40

42

44

46

48

50

52

54

56

58

60

direkte Steuern indirekte Steuern

v.H. des gesamten Steueraufkommens

Page 204: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

204

14.12 Senkung der Einkommensteuer

Quelle: Peter Bofinger, Präsentation beim 5. Deutschen Kämmerertag.

0

10

20

30

40

50

601 8 15 22 29 36 43 50 57 64 71 78 85 92 99 10

6

113

120

127

Durchschnittssteuersatz 1975

Grenzsteuersatz 1975

Durchschnittssteuersatz 2008

Grenzsteuersatz 2008

EinkommenIn Tsd. Euro

%

Page 205: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

205

14.13 Senkung der Unternehmensteuern

0

5

10

15

20

25

1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010

Anteil der Gewerbe- und Körperschaftsteuer am gesamten Steueraufkommen

v.H.

Page 206: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

206

14.14 Erhöhung der Mehrwertsteuer

Page 207: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

207

14.15 Fiskalföderalismus in der Berliner Republik

0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

80%

90%

100%

1970 1980 1990 2000 2010

Bund Länder Kommunen Sonstige

• Sonderförderung der neuen Bundesländer bis 2019

• Keine wirkliche Entflechtung von Bundes- und Landes-aufgaben im Zuge der Föderalismusreform

• Weiterhin Konkordanzföderalismus

• Verbot der Schuldenaufnahme der Länder ab 2020

Page 208: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

208

14.16 Theo Waigel, Bundesfinanzminister 1989-1998

Ergebnisse während der Amtszeit

• Finanzierung der deutschen Einheit (über Kredite, Steuern und Sozialabgaben)

• Versuch einer großen Steuerreform 1998

• Privatisierung Post und Telekom

• Verhandlung über Euro und Maastricht-Kriterien

Page 209: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

209

14.17 Oskar Lafontaine, Bundesfinanzminister vom 27.10.1998 bis 18.03.1999

Ergebnisse während der Amtszeit

• ökologische Steuerreform

• „Der letzte Keynesianer“: Versuch einer keynesianischen Finanzpolitik

• Initiative zur Veränderung des Weltwährungssystems

• Rücktritt wegen Differenzen mit dem Bundeskanzler

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210

14.18 Hans Eichel, Bundesfinanzminister 1999-2005

Ergebnisse während der Amtszeit

• Sparpolitik (insbesondere 1999/2000)

• deutliche Senkung der Einkommensteuersätze in drei Stufen

• Unternehmensteuerreform

• Versuch einer Gemeindefinanzreform

• Nettoneuverschuldung-Null als Ziel

• Verletzung der Maastricht-Kriterien

Page 211: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

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14.19 Peer Steinbrück, Bundesfinanzminister 2005-2009

Ergebnisse während der Amtszeit

• Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19 %

• Kürzung von Steuersubventionen

• Unternehmensteuerreform

• Reform der Finanzverfassung

• Verankerung einer Schuldenbremse ins Grundgesetz

• Nettoneuverschuldung-Null in 2008 erstmals seit fast vier Jahrzehnten fast erreicht

• Konjunkturprogramme und Bankenrettung in der Wirtschafts- und Finanzkrise

• Massive Neuverschuldung in 2009

Page 212: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

212

14.20 Wolfgang Schäuble, Bundesfinanzminister seit 2009

Ergebnisse während der Amtszeit

• Schuldenkrise im Euro-Raum

• Abwehr von Steuersenkungswünschen

Page 213: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

213

14.21 Political economy seit 1990

Verfassungspolitik/SozialstaatHarte Auseinandersetzungen zw. Regierung und Gewerkschaften

aufgrund Schröders Agenda 2010

Parteipolitikrelative Instabilität im

Parteiensystem und wechselnde Regierungen

Bund/Länder Sonderproblem derIntegration der fünf

neuen Länder;Weiterhin Konkordial-

FöderalismusPolitisierung des

Bundesrats

Finanzpolitikals Instrument

der Machtpolitik

ExekutiveKanzleramt als Machtzentrum

Finanzministerium relativ schwach

Page 214: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

214

14.22 Quelle: Haushaltsstaatssekretär Manfred Overhaus im Jahr 2002

„Der generelle Verzicht auf eine öffentliche Neuverschuldung ist nicht nur ökonomisch, sondern auch fiskalisch vernünftig: Die Kredite, die der Bund von 1972 bis 2002 aufgenommen hat bzw. noch aufnimmt, reichen gerade aus, um die in diesem Zeitraum zu zahlenden Zinsen zu bezahlen: (Summe der Kredite: 569 Mrd. Euro, Summe der Zinsen: 538 Mrd. Euro, Differenz: 31 Mrd. Euro in 30 Jahren). Mit anderen Worten: Ohne die Neuverschuldung hätten wir uns in etwa die gleichen Ausgaben – also auch Investitionen – leisten können, nur hätten wir dann heute nicht die hohen Zinsverpflichtungen von rd. 20 v.H. unserer Steuereinnahmen.“

Haushaltsstaatssekretär Manfred Overhaus, Rede am 24.01.2002 an der Universität in Kiel

Page 215: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

215

14.23 Weiterführende Literatur zur Finanzgeschichte seit 1990

• Maximilian Grasl, Markus König, von außen getrieben. Die Finanzpolitik der Großen Koalition 2005-2009, in: Christoph Egle, Reimut Zohlnhöfer (Hg.), Das zweite Große Koalition. Eine Bilanz der Regierung Merkel 2005-2009, Wiesbaden 2010, 205-233.

• Heinz Grossekettler, Die ersten fünf Jahre. Ein Rückblick auf die gesamtdeutsche Finanzpolitik der Jahre 1990 bis 1995, in: Finanzarchiv N.F. 53 (1996), 194-303.

• Wolfgang Kitterer, Rechtfertigung und Risiken einer Finanzierung der deutschen Einheit durch Staatsverschuldung, in: Karl-Heinrich Hansmeyer (Hg.), Finanzierungsprobleme der deutschen Einheit, Bd. 1, Berlin 1993, 39-76.

• Walther Otremba, Finanzpolitik 1989-1998 - die Dämme haben gehalten, in: Wirtschaftsdienst 79 (1999), 18-26.• Wolfgang Renzsch, Die Finanzierung der deutschen Einheit und der finanzpolitische Reformstau, in: Wirtschaftsdienst 78

(1998), 348-356. • Gerhard A. Ritter, Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats, München 2. Aufl.

2007.• Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013.• Roland Sturm, Die Wende im Stolperschritt. Eine finanzpolitische Bilanz, in: Göttrik Wewer (Hg.), Bilanz der Ära Kohl.

Christlich-liberale Politik in Deutschland 1982-1998, Opladen 1998, 183-200.• Uwe Wagschal, Auf dem Weg zum Sanierungsfall? Die rot-grüne Finanzpolitik seit 2002, in: Christoph Egle, Reimut Zohln-

höfer (Hg.), Ende des rot-grünen Projekts: Eine Bilanz der Regierung Schröder 2002-2005, Wiesbaden 2007, 241-270.• Florian Zinsmeister, Die Finanzierung der deutschen Einheit – Zum Umgang mit den Schuldlasten der Wiedervereinigung,

in: Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 78 (2009), 146-160.• Reimut Zohlnhöfer, Die große Steuerreform 1998/99: Ein Lehrstück für Politikentwicklung bei Parteienwettbewerb im

Bundestag, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 30 (1999), 326-345. • Ders., Der lange Schatten der schönen Illusion: Finanzpolitik nach der deutschen Einheit, 1990-1998, in: Leviathan.

Zeitschrift für Sozialwissenschaft 28 (2000), 14-38. • Ders., Rot-grüne Finanzpolitik zwischen traditioneller Sozialdemokratie und neuer Mitte, in: Christoph Egle, Tobias

Ostheim, Reimut Zohlnhöfer (Hg.), Das rot-grüne Projekt. Eine Bilanz der Regierung Schröder 1998-2002, Wiesbaden 2003, 193-214.

Page 216: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

216

15. Checkliste zum Anfertigen einer Hausarbeit (I)

1. Themenwahl: Welches Thema interessiert mich?

2. Literaturrecherche und -beschaffung: Die Qualität der Hausarbeit hängt maßgeblich von der benutzten Literatur ab! Literaturrecherche und -beschaffung erfordern relativ viel Zeit.

3. Wissenschaftliche Belege: Prinzipiell muss jede (Kern-)Aussage über eine Fußnote belegt werden.

4. Erkenntnisinteresse: Die Hausarbeit muss eine oder mehrere Fragestellungen (oder Thesen) haben. Mittels der Fragestellung wird die Literaturfülle überblickt und die Hausarbeit gegliedert. Sie ist der rote Faden der Arbeit.

5. Gliederung: Je klarer die Gliederung ist, desto leichter schreibt und liest sich die Arbeit. Der rote Faden sollte unbedingt zu erkennen sein!

6. Einleitung: Die Einleitung sollte zuletzt geschrieben werden, damit sie zum Text passt. In ihr ist auf jeden Fall die Fragestellung und der Aufbau der Arbeit zu beschreiben. Sie sollte nicht zu lang sein (nicht mehr als eine Seite).

7. Hauptteil: Im Hauptteil sollten nicht zu viele Details aufgezeigt werden. Die Gefahr besteht darin, zu deskriptiv (beschreibend) und zu wenig analysierend zu arbeiten. Ein paar Eye-catcher (Graphiken, Tabellen, ggf. Fotos) können auflockern.

Page 217: Deutsche Finanzgeschichte  des 20. Jahrhunderts

217

15. Checkliste zum Anfertigen einer Hausarbeit (II)

8. Schluss: Der Schluss beantwortet die Fragestellung(en) der Hausarbeit. Er besteht aus einer (wertenden) Zusammenfassung und – wenn möglich – einem kurzen Ausblick. Der Schluss ist der vielleicht wichtigste Teil der Hausarbeit und sollte daher auch in zeitlicher Hinsicht angemessen bearbeitet werden.

9. Literaturverzeichnis: Lieber mehr Literatur als zu wenig! Viele Lexika und Internetquellen sind übrigens nicht zitierfähig.

10. Stil: Einfach und verständlich ausdrücken. Nicht zu lange Sätze formulieren. Nicht zu viele Füllwörter benutzen.

11. Korrekturlesen: Am besten wird die Arbeit von einer anderen Person Korrektur gelesen. Rechtschreib-, Grammatik- und Stilfehler können eine Arbeit ganz erheblich verschlechtern.

12. Umfang: ca. 15 Seiten

13. Ausführliche Hinweise (auch zur formalen Gestaltung): Manuel René Theisen, Wissenschaftliches Arbeiten, 13. Aufl., München 2006. (Preis: 13,00 €)