Deutsche Zeitschrift für Philosophie Volume 56 issue 3 2008 [doi 10.1524%2Fdzph.2008.0026] Honneth,...

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DZPh, Berlin 56 (2008) 3, 327–341 Arbeit und Anerkennung Versuch einer Neubestimmung * Von AXEL HONNETH (Frankfurt/M.) Noch nie in den letzten zweihundert Jahren hat es um Bemühungen, einen emanzipatorischen, humanen Begriff der Arbeit zu verteidigen, so schlecht gestanden wie heute. Die faktische Entwicklung in der Organisation von Industrie- und Dienstleistungsarbeit scheint allen Ver- suchen, die Qualität der Arbeit zu verbessern, den Boden entzogen zu haben: Ein wachsender Teil der Bevölkerung kämpft überhaupt nur noch um den Zugang zu Chancen subsistenz- sichernder Beschäftigung, ein anderer Teil vollzieht Tätigkeiten unter rechtlich kaum mehr geschützten, stark deregulierten Verhältnissen, ein dritter Teil schließlich erfährt im Augen- blick die rapide Entberuflichung und Entbetrieblichung ihrer vormals noch statusmäßig gesi- cherten Arbeitsplätze. Kaum jemand wird daher wohl der Diagnose von Robert Castel wider- sprechen, nach der wir im Augenblick kurz davorstehen, das Ende der kurzen Phase eines sozialstaatlich gesicherten Status der Lohnarbeit zu erleben. 1 Was sich in der faktischen Organisation der Arbeit vollzieht, die Tendenz zur Rückkehr einer sozial ungeschützten Leih-, Teil- und Heimarbeit, spiegelt sich in verquerer Weise auch in der Verschiebung von intellektuellen Aufmerksamkeiten und gesellschaftstheoretischen Interessen: Enttäuscht haben diejenigen, die noch vor vierzig Jahren alle Hoffnung auf die Humanisierung oder Emanzipierung der Arbeit setzten, der Arbeitswelt den Rücken gekehrt, um sich ganz anderen, produktionsferneren Themen zuzuwenden. Die kritische Gesellschafts- theorie scheint sich unter den gewandelten Bedingungen vorzüglich mit Fragen der politischen Integration und der staatsbürgerlichen Rechte zu beschäftigen, ohne auf die gefährdeten Errun- genschaften in der Produktionssphäre noch einen Blick zu werfen; und selbst die Soziologie, das wissenschaftliche Kind der kapitalistischen Industrialisierung, hat sich weitgehend von ihrem einstigen Kerngebiet abgewandt und macht verstärkt kulturelle Transformationspro- zesse zu ihrem Gegenstand. Den Tendenzen eines intellektuellen Rückzugs aus der Arbeitswelt entspricht freilich in keiner Weise die Stimmung in der Bevölkerung. Trotz aller gegenteiligen Prognosen, in denen von einem Ende der Arbeitsgesellschaft gesprochen wurde, ist es nicht zu einem Rele- * Ein Auszug aus diesem Aufsatz ist bereits erschienen in: polar, Heft 4/2008, 13–20. 1 R. Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage, Konstanz 2000; vgl. meine Besprechung in: Literaturen, 02/01, 58 f.; zu dieser Thematik auch: E. Senghaas-Knobloch, Wohin driftet die Arbeits- welt?, Wiesbaden 2008, Teil I.

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DZPh, Berlin 56 (2008) 3, 327–341

Arbeit und Anerkennung

Versuch einer Neubestimmung*

Von Axel HonnetH (Frankfurt/M.)

Noch nie in den letzten zweihundert Jahren hat es um Bemühungen, einen emanzipatorischen, humanen Begriff der Arbeit zu verteidigen, so schlecht gestanden wie heute. Die faktische Entwicklung in der Organisation von Industrie- und Dienstleistungsarbeit scheint allen Ver-suchen, die Qualität der Arbeit zu verbessern, den Boden entzogen zu haben: Ein wachsender Teil der Bevölkerung kämpft überhaupt nur noch um den Zugang zu Chancen subsistenz-sichernder Beschäftigung, ein anderer Teil vollzieht Tätigkeiten unter rechtlich kaum mehr geschützten, stark deregulierten Verhältnissen, ein dritter Teil schließlich erfährt im Augen-blick die rapide Entberuflichung und Entbetrieblichung ihrer vormals noch statusmäßig gesi-cherten Arbeitsplätze. Kaum jemand wird daher wohl der Diagnose von Robert Castel wider-sprechen, nach der wir im Augenblick kurz davorstehen, das Ende der kurzen Phase eines sozialstaatlich gesicherten Status der Lohnarbeit zu erleben.1

Was sich in der faktischen Organisation der Arbeit vollzieht, die Tendenz zur Rückkehr einer sozial ungeschützten Leih-, Teil- und Heimarbeit, spiegelt sich in verquerer Weise auch in der Verschiebung von intellektuellen Aufmerksamkeiten und gesellschaftstheoretischen Interessen: Enttäuscht haben diejenigen, die noch vor vierzig Jahren alle Hoffnung auf die Humanisierung oder Emanzipierung der Arbeit setzten, der Arbeitswelt den Rücken gekehrt, um sich ganz anderen, produktionsferneren Themen zuzuwenden. Die kritische Gesellschafts-theorie scheint sich unter den gewandelten Bedingungen vorzüglich mit Fragen der politischen Integration und der staatsbürgerlichen Rechte zu beschäftigen, ohne auf die gefährdeten Errun-genschaften in der Produktionssphäre noch einen Blick zu werfen; und selbst die Soziologie, das wissenschaftliche Kind der kapitalistischen Industrialisierung, hat sich weitgehend von ihrem einstigen Kerngebiet abgewandt und macht verstärkt kulturelle Transformationspro-zesse zu ihrem Gegenstand. Den Tendenzen eines intellektuellen Rückzugs aus der Arbeitswelt entspricht freilich in keiner Weise die Stimmung in der Bevölkerung. Trotz aller gegenteiligen Prognosen, in denen von einem Ende der Arbeitsgesellschaft gesprochen wurde, ist es nicht zu einem Rele-

* Ein Auszug aus diesem Aufsatz ist bereits erschienen in: polar, Heft 4/2008, 13–20.1 R. Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage, Konstanz 2000; vgl. meine Besprechung in:

Literaturen, 02/01, 58 f.; zu dieser Thematik auch: E. Senghaas-Knobloch, Wohin driftet die Arbeits-welt?, Wiesbaden 2008, Teil I.

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vanzverlust der Arbeit in der gesellschaftlichen Lebenswelt gekommen: Nach wie vor macht die Mehrheit der Bevölkerung die eigene soziale Identität primär von der Rolle im organi-sierten Arbeitsprozess abhängig, ja, dieser Anteil dürfte sogar noch erheblich zugenommen haben, nachdem sich der Arbeitsmarkt in einem bislang nicht gekannten Maße für Frauen geöffnet hat. Von einem Bedeutungsverlust der Arbeit kann aber nicht nur in einem lebens-weltlichen Sinn, sondern auch in einem normativen Sinn nicht die Rede sein: Arbeitslosigkeit wird weiterhin als ein soziales Stigma und ein individueller Makel erfahren, prekäre Beschäf-tigungsverhältnisse werden als belastend empfunden, die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes stößt in weiten Kreisen der Bevölkerung auf Reserve und Unbehagen.2 Die Sehnsucht nach einem nicht nur subsistenzsichernden, sondern auch individuell befriedigenden Arbeitsplatz ist keinesfalls verschwunden, nur bestimmt sie nicht mehr die öffentlichen Diskussionen und die Arenen der politischen Auseinandersetzung; aber aus der eigentümlichen, beklemmenden Sprachlosigkeit zu schließen, dass Forderungen nach einer Umgestaltung der Arbeitsverhält-nisse endgültig der Geschichte angehören, wäre empirisch falsch und nahezu zynisch. Wahr-scheinlich war der Abstand zwischen den Erfahrungen der sozialen Lebenswelt und den The-men der gesellschaftstheoretischen Dauerreflexion noch nie so groß wie heute: Während hier der Begriff der gesellschaftlichen Arbeit kaum mehr von allgemeiner Bedeutung ist, kreisen dort um ihn stärker als je zuvor die Nöte, Ängste und Hoffnungen der Betroffenen. Die Abkehr der Gesellschaftstheorie vom Problemfeld der Arbeit hat freilich mehr als nur opportunistische Gründe. Es wäre überaus kurzsichtig, im Schweigen der Intellektuellen und soziologischen Theoretiker nur den Ausdruck eines Unwillens zu vermuten, sich mit den realen Nöten der Bevölkerung noch weiter zu beschäftigen. In der Entproblematisierung der Arbeitssphäre kommt vielmehr auch die Einsicht zum Tragen, dass angesichts der fak-tisch gegebenen Produktionsverhältnisse alle Vorschläge zur durchgreifenden Verbesserung der Arbeitsgestaltung schnell den Charakter bloßer Sollensforderungen erhalten: Die Kluft zwischen dem gesellschaftlichen Sein und den arbeitsutopischen Erwartungen ist inzwischen so tief, der Abstand zwischen den realen Arbeitsverhältnissen und den Emanzipationsbestre-bungen so groß geworden, dass die Gesellschaftstheorie sich die vorläufige Vergeblichkeit all ihrer theoretischen Bemühungen eingestehen musste.3 Nicht opportunistisch oder gar trium-phalistisch, sondern zähneknirschend und verbittert haben sich die intellektuellen Repräsen-tanten der Sozialbewegungen von der Sphäre der gesellschaftlichen Arbeit abgewendet: Weil sich die Idee einer Befreiung der Arbeit von Fremdbestimmung und Entfremdung an der Wirklichkeit blamiert hat, soll die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse von nun an den sich globalisierenden Kräften des kapitalistischen Arbeitsmarktes überlassen werden. Mit dieser Weichenstellung, grundbegrifflich wohl am deutlichsten markiert durch die Habermassche Rede von der „normfreien“ Selbstregulation des Wirtschaftssystems4, ist jener Situation der Weg bereitet worden, vor der wir heute ernüchtert stehen: dass die Nöte all derjenigen, die nicht nur um ihren Arbeitsplatz, sondern auch um die Qualität ihrer Arbeit fürchten, im Voka-bularium einer kritischen Gesellschaftstheorie keine Resonanz mehr finden.

2 Ich verweise hier nur exemplarisch auf: Ch. Morgenroth, Arbeitsidentität und Arbeitslosigkeit – ein depressiver Zirkel, in: Das Parlament. Aus Politik und Zeitgeschichte, Bd. 6–7, 2003, 17–24; W. J. Wilson, When Work Disappears: The World of the New Urban Poor, New York 1996.

3 J. Habermas, Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien, in: ders., Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/M. 1985, 141–163.

4 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1981, Bd. 2, 455 ff. Bedenken gegen diese Entnormativierung der Wirtschaftssphäre habe ich schon angemeldet in: A. Honneth, Kritik der Macht, Frankfurt/M. 1986, Kap. 9.

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Ich will im Folgenden prüfen, ob die damit umrissene Entwicklung begrifflich noch ein-mal umzukehren ist. Wie müsste die Kategorie der gesellschaftlichen Arbeit in den Rahmen einer Gesellschaftstheorie einbezogen werden, so soll gefragt werden, damit er in ihr eine nicht bloß utopische Perspektive auf qualitative Verbesserungen eröffnet? Um dieses kom-plexe Problem angehen zu können, will ich in einem ersten, eher methodologischen Schritt vorschlagen, die Unterscheidung von externer und immanenter Kritik auch auf die Absicht einer Kritik der existierenden Arbeitsverhältnisse anzuwenden: Von einer immanenten Kritik, in der die normativen Forderungen keinen bloßen Sollenscharakter mehr besitzen, können wir hier nur dann sprechen, wenn die Idee einer sinnvollen, gesicherten Arbeit als Vernunft-anspruch in die Strukturen der gesellschaftlichen Reproduktion selbst eingebaut ist (I). In einem zweiten Schritt soll anschließend gezeigt werden, dass die gesellschaftliche Arbeit nur dann diese Rolle einer immanenten Norm übernehmen kann, wenn sie an die Anerken-nungsbedingungen im modernen Leistungsaustausch gebunden wird: Für jede Arbeit, die die Schwelle des bloß privaten, autonomen Tätigseins überschritten hat, muss gelten, dass sie in einer bestimmten Weise organisiert und strukturiert sein muss, um die gesellschaftlich in Aus-sicht gestellte Anerkennungswürdigkeit zu besitzen (II). Schließlich möchte ich im letzten Schritt entwickeln, welche immanenten Forderungen mit dieser strukturellen Verkoppelung von Arbeit und Anerkennung in Hinblick auf die Gestaltung der modernen Arbeitswelt ver-knüpft sind; hier soll deutlich werden, dass die letztlich auf Durkheim zurückgehende Idee einer gerechten Organisation der Arbeitsteilung mehr an normativer Stoßkraft enthält, als es auf den ersten Blick erscheinen mag (III).

I.

Seit dem Beginn der industriellen Revolution hat es an utopischen Entwürfen einer Neu-gestaltung der gesellschaftlichen Arbeit nicht gemangelt. Weil die Form der von nun an kapitalistisch verwerteten, betriebsförmig organisierten Erwerbsarbeit eine derart prägende, alle Lebensbereiche durchdringende Kraft entfaltet hatte, machten sich die normativen Erwartungen des Zeitgeistes zunächst und vor allem an der Sphäre der Produktion fest. Als Triebkraft dieser emanzipatorischen Vorstellungen wirkte zu Beginn maßgeblich die Wahr-nehmung der noch immer anschaulich gegebenen Tätigkeitsweisen im Handwerk: Während hier der Vollzug der Arbeit vollständig in den Händen der arbeitenden Person lag, die die gesamte Ausführung im Vertrautsein mit dem Material schöpferisch gestalten und im fer-tigen Produkt schließlich wie in einem Spiegel eine Objektivation der eigenen Fertigkeiten erblicken konnte, waren dem Arbeiter in der Fabrik solche ganzheitlichen Erfahrungen rest-los verschlossen, weil seine Tätigkeit fremdbestimmt, zerrissen und initiativlos war. Je nach weltanschaulicher Orientierung wurden an dem Modell der Handwerkstätigkeit entweder die Züge einer freiwilligen, selbstgesteuerten Kooperation oder die Elemente einer individuellen Selbstobjektivation stark gemacht: Im ersten Fall erschien die neue, kapitalistische Form der Erwerbsarbeit deswegen als verdammenswert, weil sie das schöpferische Zusammenwirken der Arbeitssubjekte außer Kraft setzte, im zweiten Fall hingegen, weil sie den organischen Prozess der Vergegenständlichung eigener Fähigkeiten zerstückelte und in einzelne, für sich bedeutungslose Segmente aufteilte. Zusätzlichen Zündstoff erhielt diese Kritik an der kapita-listischen Organisationsform der Arbeit, sobald auch ästhetische Modelle der Produktion in die Vision einer unentfremdeten, eigeninitiativen Tätigkeit einbezogen wurden: Vor allem bei den sozialistisch orientierten Erben der deutschen Frühromantik machte sich die Vorstellung

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breit, dass alle menschliche Arbeit Züge jener selbstzweckhaften Kreativität besitzen sollte, die exemplarisch in der Verfertigung eines Kunstwerks zum Tragen kommen.5

So anschaulich und packend all diese Ideen einer Befreiung der Arbeit aber auch waren, so folgenlos sind sie am Ende doch für die tatsächliche Geschichte der Organisationsform gesellschaftlicher Arbeit geblieben. Das romantisch verklärte Modell der Handwerkstätigkeit und das ästhetische Ideal der künstlerischen Produktion enthielten zwar genügend Schubkraft, um unsere Vorstellungen eines guten, gelingenden Lebens nachhaltig zu verändern; aber auf die Kämpfe der Arbeiterbewegung, auf die sozialistischen Bestrebungen, die Arbeitsbedin-gungen zu verbessern und nach Möglichkeit den Interessen der Produzenten zu überantwor-ten, haben sie so gut wie keinen Einfluss nehmen können. Die zwiespältige Wirkung, die von den Arbeitsutopien des 19. Jahrhunderts ausging, erklärt sich aus dem Umstand, dass sie mit den Anforderungen der wirtschaftlich organisierten Arbeit zu wenig vermittelt waren: Die Tätigkeitsweisen, die sie auszeichneten und zum paradigmatischen Vorbild erkoren, waren gewissermaßen zu extravagant, als dass sie als Gestaltungsmodell für all die Vorrichtungen dienen konnten, die für die Reproduktion der Gesellschaft erforderlich waren. Dieser gra-vierende Nachteil wurde freilich in jenen klassischen Arbeitsutopien dadurch aufgewogen, dass sie am Beispiel des Handwerks oder der Kunst Strukturen einer Tätigkeitsweise hervor-kehrten, die auf Grund ihres durchsichtigen Vergegenständlichungscharakters bald schon als notwendiger Bestandteil eines guten Lebens gedacht werden konnten: Weil wir als mensch-liche Wesen der Erfahrung bedürfen, unsere erlernten Fähigkeiten am Material zu erproben und gewissermaßen zu vergegenständlichen, wird bis heute eine solche vollbringende Tätig-keit als Element eines gelingenden Lebensvollzugs begriffen.6 Aber der Umstand, dass Arbeiten vom Typ des handwerklichen Tuns oder der künstle-rischen Produktion zum guten Leben gehören, besagt eben noch nichts in Hinblick auf die Frage, welche normativen Standards die gesellschaftlich organisierte Arbeit erfüllen können muss; denn hier, im Bereich der ökonomischen Sphäre, unterliegen die individuell vollzo-genen Tätigkeiten besonderen Anforderungen, die sich aus der Notwendigkeit ihres Einbrin-gens in den gesellschaftlichen Leistungsaustausch ergeben. Ich will daher alle Versuche, die gegebenen, kapitalistischen Arbeitsverhältnisse im Lichte von Modellen des organischen, allein selbstgesteuerten Produzierens zu kritisieren, als Formen einer externen Kritik bezeich-nen: Sie berufen sich normativ auf Tätigkeitsweisen, die dem kritisierten Gegenstand inso-fern bloß äußerlich bleiben, als sie Vollzugsstrukturen aufweisen, die nicht für alle in der Wirtschaftssphäre erforderlichen Arbeiten gleichermaßen konstitutiv sein können. Was für das gute Leben des Einzelnen an Arbeitserfahrungen notwendig sein mag, so ließe sich auch sagen, darf nicht zugleich als Maßstab an die Beurteilung der gesellschaftlich organisierten Produktionssphäre herangetragen werden; denn hier herrschen Zwänge und Bedingungen, die es auch bei einer denkbar weiten Auslegung erforderlich machen, Tätigkeiten von einem ganz anderen Charakter als dem des Handwerks oder der Kunst auszuführen. Gewiss, die Arbeitsutopien des 19. Jahrhunderts haben unsere soziale Phantasie beflü-gelt und der Moderne ganz neue Vorstellungsräume eröffnet; ihnen verdanken wir Bilder der individuellen Erfüllung und der gelingenden Kooperation, ohne die das Archiv unserer Träume eines besseren Lebens wesentlich ärmer wäre. Die Ethik hat von solchen Utopien des

5 Einen guten Überblick über diese handwerklichen oder ästhetischen Arbeitsutopien verschafft das Kapitel 36 aus Blochs Prinzip Hoffnung: E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. 1959, 3 Bde., Bd. 2, 547–728; zu den romantischen Unterströmungen des Sozialismus vgl. auch G. Licht-heim, Ursprünge des Sozialismus, Gütersloh 1969.

6 Vgl. M. Seel, Versuch über die Form des Glücks, Frankfurt/M. 1995, 142–150.

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handwerklichen oder künstlerischen Vollbringens den Anstoß erhalten, den herkömmlichen Begriff des „Guten“ um Tätigkeiten des Arbeitens zu erweitern; seither können wir uns das Gelingen unseres Lebens kaum mehr ohne das Element vergegenständlichenden Tuns vorstel-len. Aber keine dieser Errungenschaften hat etwas daran ändern können, dass eine im Namen des Handwerksideals durchgeführte Kritik der kapitalistischen Arbeitsorganisation stets mit dem Makel des bloß äußerlichen Standpunkts behaftet bleibt7: Was sich innerhalb dieser ökonomischen Sphäre an sozialen Kämpfen um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen abspielt hat, musste sich auf ganz andere Normen berufen, als sie im Bild einer ganzheit-lichen Tätigkeit utopisch festgehalten worden waren. Die Schwelle zu einer immanenten Kri-tik der existierenden Organisation von gesellschaftlicher Arbeit wird erst in dem Augenblick überschritten, in dem moralische Normen herangezogen werden, die dem gesellschaftlichen Leistungstausch selbst als Vernunftanspruch innewohnen; mit der institutionalisierten Idee, die eigene Arbeit als Beitrag zur sozialen Arbeitsteilung zu verstehen, sind nämlich normative Ansprüche verknüpft, die bis auf die Ebene der Gestaltung der Arbeitsplätze durchschlagen.8 Bevor ich aber zu den Bedingungen einer solchen immanenten Kritik übergehe, will ich kurz einen Versuch überprüfen, dem Ideal der ganzheitlichen, handwerklichen Tätigkeit selbst noch einen immanenten Sinn zu unterschieben. Als die Schwäche einer Kritik im Namen des Handwerkerideals hatte sich erwiesen, dass sie eine Form der Tätigkeit normativ auszeichnet, die sich nicht als ein irgendwie verbürgter Anspruch in den Strukturen der gesellschaftlichen Reproduktion auffinden lässt; selbst, wenn sich einige Segmente der gesellschaftlich notwendigen Arbeiten diesem Ideal annähern lie-ßen, würde sich daraus noch kein Argument ergeben, warum alle erforderlichen Tätigkeiten dieselbe ideale Gestalt annehmen müssten. Es könnte nun allerdings so scheinen, dass sich an dieser Argumentationslage etwas nachhaltig ändern würde, wenn sich zeigen ließe, dass jedem Vollzug einer gesellschaftlichen Arbeit von sich aus eine gewisse Tendenz zur orga-nischen Abschließung, zur autonomen Selbstkontrolle und damit zur quasi-handwerklichen Gestaltung innewohnen würde; egal, um welche Art von Tätigkeit es sich handelt, ihr bloßer Charakter als eine individuell zweckgerichtete Handlung würde es verlangen, dass sie in der möglichst weitgehenden Kontrolle des ausführenden Subjekts bleibt. Ein Argument solchen Typs habe ich selbst einmal entwickeln wollen, als ich unter Verwendung industriesoziolo-gischer Untersuchungen zu zeigen versucht habe, dass die Arbeiter durch ihre alltäglichen Widerstandspraktiken den Wunsch nach einer autonomen Gestaltung ihrer Tätigkeit zu erken-nen geben: Allein die Tatsache, so war ich damals überzeugt, dass die Beschäftigten ständig subversive Vorstöße unternehmen, um die Kontrolle über ihre Arbeitsvollzüge an sich zu reißen, liefert schon genügend Beweismaterial, um Forderungen nach einer Selbstkontrolle am Arbeitsplatz zu rechtfertigen.9 Zurückbezogen auf die Unterscheidungen, mit denen ich bislang operiert habe, sollte es das Ziel dieser Argumentation sein, das Handwerksideal nicht als externen, sondern als immanenten Maßstab an die kapitalistische Organisation der Arbeit heranzutragen: Wenn die beschäftigten Subjekte auf Grund der Struktur ihrer Tätigkeit selbst

7 Das gilt natürlich umso stärker für Versuche, heute noch einmal das Ideal der handwerklichen, ganz-heitlichen Tätigkeit zu beschwören: vgl. etwa R. Sennett, Handwerk, Berlin 2008.

8 Den ersten Anstoß, mich statt auf die normative Dimension der Arbeit auf diejenige des gesellschaft-lichen Leistungsaustauschs zu beziehen, habe ich durch einen Aufsatz von Friedrich Kambartel erhalten: ders., Arbeit und Praxis, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 41 (1993) 2, 239 ff.; vgl. auch F. Kambartel, Philosophie und Politische Ökonomie, Göttingen 1998.

9 A. Honneth, Arbeit und instrumentales Handeln, in: ders. u. U. Jaeggi (Hg.), Arbeit, Handlung, Normativität, Frankfurt/M. 1980, 185–233.

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den Wunsch haben, die Kontrolle über ihre Arbeit zu besitzen, dann handelt es sich dabei um einen moralischen Anspruch, der in historisch gegebenen Arbeitsverhältnissen immanent eingelassen ist und ihnen nicht von außen als ein Ideal entgegengehalten werden muss. Nur kurze Zeit später wurde mir von Jürgen Habermas dann entgegengehalten, dass ich mit einem solchen Beweisgang einem „genetischen Fehlschluss“ erläge, weil ich aus der puren Tatsache bestimmter Wünsche und Forderungen auf deren moralische Rechtfertigbarkeit schließe: Nicht die präsumtiven Ansprüche der Betroffenen, sondern nur praktische Diskurse könnten Entscheidungen darüber moralisch begründen, welche Normen in einer gegebenen Arbeitsorganisation herrschen sollten.10 Es hat Jahre gedauert, bis ich mir habe klar machen können, dass dieser Einwand in der richtigen und angemessenen Kritik zugleich den Schlüs-sel für eine weitaus bessere Lösung des hier behandelten Problems enthält. Zweifellos ist es richtig, dass der Sinn einer immanenten Kritik nicht darin bestehen darf, bloß Ansprüche und Forderungen geltend zu machen, die in der jeweiligen Gegenwart von bestimmten Gruppen angesichts ihrer sozialen Lage oder Arbeitssituation erhoben werden; zwar besitzen derartige Klagen tatsächlich einen immanenten Charakter, weil sie aus dem Inneren der Gesellschaft heraus gegen existierende Regelungen vorgebracht werden, aber zugleich fehlt ihnen doch jedes Element an nachweisbarer Vernünftigkeit, das sie erst zu gerechtfertigten Maßstäben einer immanenten Kritik machen würde. Damals habe ich diesen rationalen Zusatz dadurch beibringen wollen, dass ich von den subversiven Forderungen der Beschäftigten zeigen zu können glaubte, sie entsprächen jener autonomen Struktur, die in den Vollzug allen Arbeits-handelns „anthropologisch“ eingebaut ist; aber ganz abgesehen davon, ob sich tatsächlich solche Widerstandspraktiken bei allen Arbeitenden empirisch nachweisen lassen, scheint es mir inzwischen doch sehr weit hergeholt, der Zwecktätigkeit als solcher eine handwerkliche Verfasstheit zu unterstellen. Von den meisten Tätigkeiten, die heute etwa im Dienstleistungs-bereich erbracht werden, wüssten wir noch nicht einmal, was es heißen soll, dass sie von sich aus nach einer autonomen, rein sachbezogenen und vergegenständlichenden Ausführung ver-langen: Es wird kein Produkt erstellt, in dem sich erworbene Fertigkeiten spiegeln könnten, sondern nur möglichst initiativreich auf die persönlichen oder anonymen Anforderungen derer reagiert, in deren Dienst die entsprechende Leistung ausgeführt wird. Mit anderen Wor-ten, es ist äußerst abwegig, von allen gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten behaupten zu wollen, dass sie aus sich heraus auf eine vollbringende, organische Gestalt nach Art des handwerklichen Tuns angelegt sind. Etwas anderes wäre es hingegen, wenn wir mit Habermas unseren Blick weg von der Struktur der Arbeitstätigkeit auf die Normen der Arbeitsorganisation wandern lassen. Es ist ja nicht nur überraschend, dass der Autor der Theorie des kommunikativen Handelns hier plötzlich von „Normen“ spricht, die die Organisation der gesellschaftlichen Arbeit durchzie-hen sollen, während doch ansonsten bei ihm nur von einem „normfreien System“ des Funk-tionsbereichs der Wirtschaft die Rede ist; an der Habermasschen Formulierung ist vielmehr von ebenso großer Bedeutung, dass sie mit der Perspektivverschiebung die Frage entstehen lässt, ob nicht der modernen, kapitalistischen Organisation von Arbeit moralische Normen zu Grunde liegen, die für deren Funktionsfähigkeit genauso unverzichtbar sind wie die Nor-men der Verständigung für das Funktionieren einer modernen Lebenswelt. Nicht, dass das etwa der Blickwinkel sein soll, unter dem Habermas solche Normen der Arbeitsorganisation ins Spiel bringen würde; für ihn scheint vielmehr außer Frage zu stehen, dass diese Nor-men relativ beliebig sind und nur dem Ausgang des Konflikts zwischen Kapital und Arbeit

10 J. Habermas, Replik auf Einwände [1980], in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1984, 475–570, hier: 485, Fn. 14.

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unterstehen. Der Unterschied zwischen dem „System“ und der „Lebenswelt“ besteht doch für Habermas gerade darin, dass die Handlungskoordinierung dort nur über die Vermittlung von zweckrationalen, strategischen Einstellungen erfolgt, während sie hier an die Voraussetzung von moralischen Einstellungen gebunden ist; und daher kann Habermas der kapitalistischen Wirtschaftssphäre selbst dann nicht irgendeine moralische Infrastruktur unterstellen, wenn er gelegentlich einräumt, dass die moderne Arbeitsorganisation von gewissen Normen geprägt ist.11 Ganz anders stünde es um diese Verhältnisse freilich, wenn sich zeigen ließe, dass auch die Funktionsfähigkeit des kapitalistischen Arbeitsmarktes an die Voraussetzung eines ganzen Kranzes von moralischen Normen gebunden ist; dann nämlich entfiele nicht nur die katego­riale Entgegensetzung von „System“ und „Lebenswelt“, sondern es würde zugleich auch möglich, gegenüber den faktischen Arbeitsverhältnissen eine Perspektive der immanenten Kritik einzunehmen. Im Unterschied zur externen Kritik setzt eine immanente Form der Kritik voraus, so hat-te ich gesagt, dass sich ein Maßstab finden lässt, der den kritisierten Verhältnissen selbst als ein gerechtfertigter, vernünftiger Anspruch innewohnt. Die Alternativen, die ich bislang geprüft habe, um ein solches Kriterium für die existierende Verfassung der Arbeitswelt zu gewinnen, haben sich in der ein oder anderen Hinsicht als untauglich erwiesen: Den stummen Protesten der Beschäftigten, die gegen die Fremdbestimmung ihrer Tätigkeit aufbegehren, fehlt als solchen jener Zusatz an nachweisbarer Verallgemeinerbarkeit, der sie erst zu gerecht-fertigten Maßstäben einer immanenten Kritik machen würde; und von der Arbeitstätigkeit selbst behaupten zu wollen, dass sie auf Grund ihrer autochthonen, internen Struktur nach einer bestimmten Organisationsform verlange, scheint angesichts der Vielfalt gesellschaftlich notwendiger Verrichtungen ein unmögliches und abwegiges Unterfangen. Wenn diese theo-retischen Wege aber versperrt sind, weil es ihnen daran mangelt, einen zugleich notwendigen und vernünftigen Anspruch zu begründen, dann bleibt aus meiner Sicht nur die Alternative, in der bestehenden Organisationsform der Arbeit selbst nach den Wurzeln eines solchen Ver-nunftanspruchs zu suchen. Allerdings macht es die damit angedeutete Argumentation erfor-derlich, den kapitalistischen Arbeitsmarkt nicht nur unter der funktionalistischen Perspektive der Steigerung von ökonomischer Effizienz zu betrachten; wenn wir uns auf diesen einen Blickwinkel beschränken, tritt an den Strukturen der modernen Arbeitsorganisation nämlich tatsächlich nur jene dünne Schicht von strategischen Regelungen zu Tage, auf die Habermas in seiner systemtheoretischen Konstruktion abgehoben hatte. Wird hingegen in die Betrach-tung darüber hinaus die Perspektive einbezogen, dass der kapitalistische Arbeitsmarkt auch die Funktion der sozialen Integration zu erbringen hat, so ändert sich das Bild vollständig: Wir stoßen auf eine Reihe von moralischen Normen, die der modernen Arbeitswelt in der-selben Weise zu Grunde liegen wie die Normen des verständigungsorientierten Handelns der sozialen Lebenswelt. Ich will im Folgenden im Rückgriff auf eine heute weitgehend verschüttete Tradition ver-suchen, diese normative Basis der modernen Arbeitsorganisation freizulegen; auf dem damit beschrittenen Weg hoffe ich, die Möglichkeit einer immanenten Kritik der existierenden Arbeitsverhältnisse zurückzugewinnen.

11 Vgl. dazu R. Münch, Zahlung und Achtung. Die Interpenetration von Ökonomie und Moral, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 23/1995, Heft 5, 388–411.

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II.

Schon Hegel hat in seiner Rechtsphilosophie den Versuch unternommen, in den sich vor seinen Augen herausbildenden Strukturen der kapitalistischen Wirtschaftsorganisation die Elemente einer neuen Form der Sozialintegration zu entdecken. Für ihn stand es von Beginn an außer Frage, dass sich die Leistungen des nunmehr marktvermittelten Systems der Bedarfsdeckung nicht allein in Kategorien der ökonomischen Effizienz messen lassen dürfen; zwar steigert auch aus seiner Sicht die neue Institution des Marktes die Produktivi-tät des wirtschaftlichen Handelns beträchtlich, aber ihre Funktion darf sich nicht auf diese eine, bloß äußerliche Leistung beschränken, weil sie ansonsten ohne jede sittliche Veranke-rung in der Gesellschaft, also ohne die erforderliche moralische Legitimation bleiben würde. Daher versucht Hegel zu zeigen, dass das ganze System eines marktvermittelten Austauschs von eigener Arbeit gegen Mittel der Bedürfnisbefriedigung nur dann auf Zustimmung stoßen kann, wenn es bestimmte normative Bedingungen erfüllt. Die erste integrative Leistung der neuen Wirtschaftsform besteht für ihn darin, dass sie die „subjektive Selbstsucht“ des Ein-zelnen in die individuelle Bereitschaft verwandelt, „zur Befriedigung der Bedürfnisse aller anderen“ tätig zu sein12; in dem Augenblick, in dem der ökonomische Bedarf der Bevölkerung durch Transaktionen auf einem anonymen Markt gedeckt werden soll, muss jedes (männliche) Gesellschaftsmitglied dazu bereit sein, persönliche Neigungen des Müßiggangs abzustreifen und durch eigene Arbeit zum allgemeinen Wohl beizutragen. Diese generalisierte Verpflich-tung zur Leistungserbringung beinhaltet für Hegel, die eigenen Fähigkeiten und Begabungen nach Möglichkeit so zu entwickeln, dass sie der Vermehrung des „allgemeinen, bleibenden Vermögens“13 zu Gute kommen können. Allerdings ist die Bereitschaft, auf solche Weise zum gesellschaftlichen Wohl beizutragen, nun umgekehrt an die Voraussetzung einer entsprechenden Gegenleistung geknüpft: Jeder Teilnehmer an dem marktvermittelten Leistungsaustausch hat „das Recht“, „sein Brot zu ver-dienen“14, also sich und seine Familie auf dem kulturell gegebenen Niveau zu ernähren. Inso-fern erblickt Hegel die zweite normative Errungenschaft der neuen Wirtschaftsform darin, ein System der wechselseitigen Abhängigkeit zu schaffen, das die ökonomische Subsistenz aller seiner Mitglieder sichern muss; in der Sprache, die wir heute verwenden, ist die Erwartung der Leistungserbringung an die Bedingung der Gewährung eines Mindestlohns geknüpft, der die finanziellen Mittel zur ökonomischen Selbstständigkeit zu enthalten hat.15 Um den moralischen Stellenwert dieser internen Voraussetzungen zu betonen, bedient sich Hegel der von ihm geprägten Terminologie der Anerkennung: Im System des marktvermittelten Aus-tauschsverhältnisses erkennen sich die Subjekte wechselseitig als privatautonome Wesen an, die füreinander tätig sind und auf diese Weise durch ihre sozialen Arbeitsbeiträge ihr Leben erhalten.16

Nun ist Hegel freilich schon hellsichtig genug, um auch die Entwicklungen der kapitalis-tischen Marktwirtschaft voraussehen zu können, die mit deren normativen Anerkennungs-

12 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt/M. 1970, Theorie-Werkausgabe, Bd. 7, § 199.

13 Ebd.14 Ebd., § 236, Zusatz.15 Vgl. H.-Ch. Schmidt am Busch, Hegels Begriff der Arbeit, Berlin 2002, 151. Dieser vorzüglichen

Monographie verdanke ich eine Reihe von Anregungen für die folgende Argumentation.16 Ebd., 59–65.

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bedingungen in einen Widerspruch zu geraten drohen. Solange sich die gewinnorientierte Güterproduktion „in ungehinderter Wirksamkeit befindet“, erzeugt sie über kurz oder lang das Problem, dass sich auf der einen Seite die „Reichtümer“ in den Händen Weniger zu kon-zentrieren beginnen, während auf der anderen Seite bei der „großen Masse“ „die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit“ zunimmt und damit „Abhängigkeit und Not“ ent-steht.17 Im „Pöbel“ findet sich ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung vereinigt, der bar jeder Chance der marktvermittelten Anerkennung von Arbeitsleistungen ist und daher unter dem Mangel an „bürgerlicher Ehre“ leidet. Hegel hält es aus Gründen, die mit seiner Einsicht in die normativen Bedingungen der neuen Wirtschaftsform zusammenhängen, für falsch, diese verarmten Schichten durch wohltätige Aufwendungen der Reichen „auf dem Stande“ „einer ordentlichen Lebensweise zu erhalten“: Solche sozialstaatlichen Transferleistungen hätten nämlich zur Folge, dass „die Subsistenz der Bedürftigen gesichert“ würde, „ohne durch die Arbeit vermittelt zu sein, was gegen das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft und des Gefühls ihrer Individuen von ihrer Selbstständigkeit und Ehre wäre“.18 Stattdessen schlägt Hegel bekanntlich vor, der kapitalistischen Marktwirtschaft zwei Organisationen zur Seite zu stellen, deren Aufgabe es ist, die normativen Bestandsvoraussetzungen der wechselseitigen Anerkennung und der „bürgerlichen Ehre“ zu schützen: Während die „Polizey“ die Funktion wahrnimmt, in den Wirtschaftsprozess einzugreifen, um zum Schutz der Betroffenen für ein ausgeglichenes Verhältnis von Angebot und Nachfrage zu sorgen, sollen sich die „Korpora-tionen“ wie „berufsständische Genossenschaften“ (Schmidt am Busch) dauerhaft dafür ein-setzen, dass die Geschicklichkeiten und Fähigkeiten ihrer Mitglieder in „Ehre“ gehalten wer-den und deren ökonomische Grundversorgung gesichert bleibt. Es sind aber nicht diese institutionellen Lösungen im Einzelnen, die an der Hegelschen Darstellung der kapitalistischen Arbeitsorganisation für uns von Interesse sein können; sowohl das, was er „Polizey“ nennt, als auch die „Korporationen“ sind organisatorische Gebilde, die in ihrem Zuschnitt und in ihrer Aufgabenstellung viel zu sehr der frühen Phase der kapitalistischen Industrialisierung angehören, als dass sie heute noch eine Vorbildfunktion übernehmen könnten. Für das hier verfolgte Ziel ist vielmehr von Bedeutung, dass Hegel die Anweisungen und das Design für diese korrektiven Institutionen nicht aus einem irgendwie äußerlichen Gesichtspunkt gewinnt, sondern den normativen Prinzipien des zu korrigierenden Wirtschaftssystems selbst entnimmt. Nach der Überzeugung Hegels gehört es zu den mora-lischen Bedingungen der kapitalistischen Arbeitsorganisation, dass die Arbeitsleistungen der Einzelnen nicht nur durch ein subsistenzsicherndes Einkommen entlohnt werden, sondern auch ihrer Gestalt nach eine Form bewahren, die sie als in Geschicklichkeiten begründete Beiträge zum allgemeinen Wohl erkennbar sein lässt; die ganze Idee des wechselseitigen Austauschs von Leistungen verlangt es, dass die einzelnen Tätigkeiten eine hinreichend kom-plexe, Fertigkeiten demonstrierende Struktur behalten, um sich der allgemeinen Anerkennung als würdig zu erweisen, die mit der „bürgerlichen Ehre“ verknüpft ist. Daher müssen nach Hegel die „Korporationen“ in den Augenblicken, in denen die Arbeitsvollzüge auf Grund von wirtschaftlichen Entwicklungen unter ein gewisses Niveau der erforderlichen Geschick-lichkeiten und Selbstständigkeit sinken, eine Funktion wahrnehmen, die doch eigentlich die kapitalistische Marktwirtschaft von sich aus erfüllen müsste: Diese berufsständischen Orga-nisationen haben nach innen und nach außen hin sicherzustellen, dass die Tüchtigkeiten ihrer Mitglieder genügend Pflege und öffentliche Aufmerksamkeit erhalten, um sich auch zukünf-

17 Die zitierten Formulierungen dieses Satzes stammen aus: G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philoso-phie des Rechts, a. a. O., § 243 u. § 244.

18 Ebd., § 245; vgl. dazu auch H.-Ch. Schmidt am Busch, Hegels Begriff der Arbeit, a. a. O., 146.

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tig allgemeiner Wertschätzung erfreuen zu können. Hegel lässt die Korporationen mithin eine Aufgabe übernehmen, die in den Bestandsvoraussetzungen der neuen Organisationsform gesellschaftlicher Arbeit selbst als ein normativer Anspruch verankert ist. Mit einer solchen normativen Aufladung der kapitalistischen Arbeitsorganisation setzt sich Hegel freilich einer Auffassung entgegen, die in der Entwicklung der neuen Wirtschaftsform genau den umgekehrten Prozess am Werk sieht: Statt zu einer Transformation der moralischen Verhältnisse soll nach dieser alternativen Deutung die Entwicklung der kapitalistischen Öko-nomie zu einer Loslösung von aller lebensweltlichen Sittlichkeit führen. Schon zu Lebzei-ten Hegels vertraten viele Theoretiker eine derartige These, aber erst von Karl Polanyi wird sie mehr als einhundert Jahre später auf den Begriff gebracht: Nach seiner Auffassung stellt die Entwicklung der kapitalistischen Marktwirtschaft einen Prozess dar, in dem der Bereich des wirtschaftlichen Handelns in dem Sinn „entbettet“ wird, dass er von allen traditionalen Bräuchen und Moralvorschriften abgetrennt und damit vollkommen verselbstständigt wird.19 Im Gegensatz zu Hegel ist Polanyi der Überzeugung, dass mit der Durchsetzung eines allge-meinen Marktes für Arbeit und Güter ein „selbstregulativer Mechanismus“ geschaffen wird, der überhaupt keine Form der moralischen Beschränkung duldet; hier herrscht aus seiner Sicht allein das Gesetz von Angebot und Nachfrage, sodass auch die gesellschaftliche Arbeit stets nur in der Weise organisiert und in dem Maße entlohnt wird, wie es für die momentan profitable Absetzung von Gütern gerade erforderlich ist. Es bedarf keiner großen gedank-lichen Anstrengung, um sich klar zu machen, dass mit der Richtigkeit einer solchen These die hier verfolgte Strategie hinfällig würde: Wenn es nämlich so wäre, wie Polanyi behauptet, dass mit der Herausbildung der kapitalistischen Wirtschaft auch die Organisation der Arbeit vollständig den Marktgesetzen unterworfen würde, dann ließe sich von einer irgendwie gear-teten Normativität dieses neuen Vergesellschaftungsmodus der Arbeit nicht mehr reden – und damit wäre natürlich auch keine Chance mehr gegeben, eine Kritik der existierenden Arbeits-verhältnisse in den moralischen Prinzipien der kapitalistischen Arbeitsorganisation selbst zu verankern. Nun ist allerdings in den letzten Jahren die Entbettungsthese von Polanyi, die zunächst mit großer Selbstverständlichkeit akzeptiert worden war, zunehmend wieder in Zweifel gezogen worden. Die Kritik nimmt ihren Ausgang von der wirtschaftssoziologischen Beobachtung, dass die Koordinierung sozialen Handelns durch Märkte mit einer Reihe von Problemen konfrontiert ist, die sich letztlich nur durch die Vorschaltung institutioneller und normativer Regelungen lösen lassen: Die Marktakteure wüssten gar nicht, an welche Parameter sie sich bei ihren angeblich rein zweckrationalen Erwägungen halten sollten, wenn es nicht vorweg zwischen den Beteiligten ein gewisses Einverständnis in Hinblick auf den Wert bestimmter Güter, die Regeln eines fairen Austauschs und die Zuverlässigkeit der Erwartungserfüllung gäbe.20 Diese „soziale Ordnung“ von Märkten, wie es in der neueren Terminologie heißt, umfasst mithin nicht nur positiv-rechtliche Vorschriften und Grundsätze, die die Bedingungen der Vertragsfreiheit und des wirtschaftlichen Austauschs festlegen; vielmehr gehören dazu auch eine Reihe von ungeschriebenen, nicht ausdrücklich formulierten Normen und Regeln, die vor jeder marktvermittelten Transaktion implizit bestimmen, wie der Wert bestimmter Güter einzuschätzen und worauf bei deren Austausch legitimerweise zu achten ist. Wahr-scheinlich ist es am sinnvollsten, diese wechselseitigen Unterstellungen als normative Handlungsgewissheiten zu verstehen, die die Akteure überhaupt erst dazu motivieren, ein

19 K. Polanyi, The Great Transformation, Frankfurt/M. 1978, vor allem zweiter Teil, Kap. 5.20 Vgl. exemplarisch J. Beckert, Die soziale Ordnung von Märkten, in: ders. u. a. (Hg.), Märkte als

soziale Strukturen, Frankfurt/M. 2007, 43–62.

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bestimmtes Tauschgeschäft in Angriff zu nehmen; nicht immer müssen solche Erwartungen dann faktisch auch erfüllt werden, nicht immer werden sie sich im Vollzug der Transaktion als enttäuschungsfest erweisen, gleichwohl bilden sie zusammengenommen den kulturellen und normativen Interpretationsrahmen, in dem das Marktgeschehen zwangsläufig eingebettet ist. Im Lichte einer solchen These, die der Auffassung von Karl Polanyi beinah diametral entgegengesetzt ist21, lässt sich die Hegelsche Bestimmung der kapitalistischen Arbeits-organisation nun in einer etwas genaueren, wirtschaftssoziologisch geläuterten Form wieder-geben: Die Strukturen eines kapitalistischen Arbeitsmarktes haben sich zunächst nur unter der höchst anspruchsvollen, moralischen Voraussetzung herausbilden können, dass die von ihnen erfassten Schichten die legitime Erwartung einer subsistenzsichernden Entlohnung und einer anerkennungswürdigen Arbeit hegen konnten. Das neue System des Marktes, so möchte Hegel sagen, kann nur unter den zwei Bedingungen normative Zustimmung von den Betroffenen beanspruchen, dass es erstens die erwerbsmäßig erbrachte Arbeit mit einem Min-destlohn ausstattet und zweitens den vollzogenen Tätigkeiten eine Gestalt gibt, die sie als Beiträge zum allgemeinen Wohl erkennbar sein lässt. Die größte Schwierigkeit beim Verständnis des Status dieser normativen Präsuppositionen bereitet wohl der Umstand, dass sie einerseits auf die faktische Wirtschaftsentwicklung nur geringen Einfluss genommen haben und andererseits in ihr doch von allgemeiner Geltung sein sollen. Was soll es heißen, dass die kapitalistische Arbeitsorganisation in einen Hori-zont von legitimitätssichernden moralischen Normen eingebettet ist, wenn diese doch auch aus der Hegelschen Sicht eine Verselbstständigung der bloß gewinnorientierten Produktion kaum haben verhindern können? Eine Auflösung des damit umrissenen Widerspruchs kann nach dem bislang Gesagten nur darin bestehen, die besagten Normen als eine kontrafaktische Geltungsgrundlage der kapitalistischen Organisation der Arbeit zu verstehen: Weil alle Betei-ligten nur dann eine Chance haben, den Sinn der neuen Wirtschaftsform zu verstehen und als im „allgemeinen Wohl“ zu betrachten, wenn sie dabei gedanklich die beiden von Hegel freigelegten Normen voraussetzen, ruht die marktvermittelte Organisation der Arbeit auf nor-mativen Bedingungen auf, die auch bei faktischer Außerkraftsetzung ihre Geltung nicht ver-lieren. Hier von einer „Einbettung“ zu reden, bedeutet also, das Funktionieren des kapitalis-tischen Arbeitsmarktes von normativen Bedingungen abhängig zu machen, die er selbst nicht zwangsläufig erfüllen können muss: Das Geschehen auf dem weitgehend undurchsichtigen Markt des Austauschs von Arbeit vollzieht sich unter der Voraussetzung von moralischen Normen, die auch dann in Geltung bleiben, wenn die historische Entwicklung gegen sie ver-stößt. Zugleich bilden diese normativen Hintergrundgewissheiten aber auch die moralische Ressource, auf die die Akteure zurückgreifen können, wenn sie die existierenden Regelungen der kapitalistischen Arbeitsorganisation in Frage stellen wollen: Es bedarf dann nicht der Berufung auf ein Reich jenseitiger Werte oder universalistischer Prinzipien, sondern nur einer Mobilisierung jener impliziten Normen, die als Verstehens- und Akzeptanzbedingung in die Verfassung des modernen Arbeitsmarktes eingelassen sind. Alle sozialen Bewegungen, die

21 Einen guten Überblick über diese Debatte verschafft: Ch. Deutschmann, Unsicherheit und soziale Einbettung: konzeptuelle Probleme der Wirtschaftssoziologie, in: J. Beckert (Hg.), Märkte als soziale Strukturen, a. a. O., 79–93. In Zusammenhang mit dieser Debatte ist natürlich auch Talcott Par-sons zu nennen, der ebenfalls von einer Reihe normativer Voraussetzungen des Marktgeschehens ausgeht: ders., Die Motivierung des wirtschaftlichen Handelns, in: ders., Soziologische Theorie, Neuwied am Rhein 1964, 136–159. Im Übrigen verwendet Parsons hier schon an zentraler Stelle den Begriff der „Anerkennung“ (ebd., 146 f.), weil jene normativen Bedingungen aus seiner Sicht sicherstellen müssen, dass die Erwerbstätigen sich wechselseitig in der Erfüllung ihrer Arbeits-rollen anerkennen und damit zur notwendigen „Selbstachtung“ gelangen.

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in der Vergangenheit gegen unzumutbare Lohnbedingungen oder die Dequalifizierung der Arbeit aufbegehrt haben, müssten zu diesem Zweck im Prinzip nur das moralische Voka-bular benutzen, das in der Hegelschen Analyse schon rudimentär angelegt war: Es ging um Ziele wie die Verteidigung von hinreichend komplexen, nicht vollkommen fremdbestimmten Arbeitsplätzen oder die Erkämpfung subsistenzsichernder Einkommen, also durchweg nor-mativen Ansprüchen, die Hegel im Begriff der „bürgerlichen Ehre“ zusammengefasst hatte. Allerdings reichen die von ihm entwickelten Bestimmungen nun sicherlich noch nicht aus, um tatsächlich alle historisch umkämpften Missstände an der kapitalistischen Arbeitswelt normativ zu erfassen; sein Blick ist zwar auf die neuen Formen der Anerkennung gerichtet, die der kapitalistische Markt allen männlichen Erwachsenen bieten soll, aber der Rückgriff auf das kompensatorische Heilmittel der „Korporationen“ lässt ihn doch schnell aus den Augen verlieren, dass für die Masse der Beschäftigen die zentrale Erfahrung bald schon die Entleerung der Erwerbsarbeit von allen qualitativen Inhalten sein sollte. Einen energischen Versuch, auch Forderungen nach einer qualitativ sinnvollen Arbeit als immanente Ansprüche der neuen Wirtschaftsform zu begreifen, unternimmt erst achtzig Jahre später Emile Durkheim.22 Wie Hegel untersucht auch Durkheim die Strukturen der kapitalis-tischen Arbeitsorganisation primär unter dem Gesichtspunkt, welchen Beitrag sie zur sozialen Integration moderner Gesellschaften leisten können; und nicht anders als sein Vorgänger stößt er dabei auf eine Reihe von normativen Bedingungen, die den marktvermittelten Austausch-beziehungen in der eigentümlichen Form von kontrafaktischen Unterstellungen und Idealen zu Grunde liegen sollen.23 Durkheim lässt sich in seiner Studie Über die Teilung der sozialen Arbeit von der Frage leiten, ob die Gesellschaften der Moderne mit ihrer stetig wachsenden, zunehmend marktförmig organisierten Arbeitsteilung noch dazu in der Lage sind, unter ihren Mitgliedern ein Gefühl der Solidarität, der sozialen Zusammengehörigkeit zu schaffen; wie der Autor der Rechtsphilosophie ist er nämlich der Überzeugung, dass die bloße Aussicht auf ökonomisches Wachstum und wirtschaftliche Effizienz nicht ausreicht, um die neue Wirt-schaftsform mit der Art von moralischer Legitimation auszustatten, die für die soziale Integra-tion erforderlich ist. In seiner Argumentation verfolgt Durkheim nun nicht etwa die Strategie, nach Quellen der Solidarität außerhalb jener sozialen Wirtschaftsorganisation zu suchen, die den Bezugspunkt seiner Analyse bildet; nichts liegt ihm ferner, als eine moderne Form der Zivilreligion oder des Kollektivethos zu umreißen, um damit den drohenden Mangel an sozia-len Bindungskräften zu beheben. Stattdessen macht Durkheim sich an den Versuch, in den Strukturen der neuen, kapitalistischen Arbeitsorganisation selbst die Bedingungen zu identifi-zieren, die zu einem veränderten Bewusstsein sozialer Zusammengehörigkeit führen könnten: Die Solidarität, die nötig ist, um auch moderne Gesellschaften sozial zu integrieren, soll nicht aus Quellen der moralischen oder religiösen Tradition, sondern der ökonomischen Wirklich-keit fließen. Nun verlangt aber ein solches Vorgehen dieselbe Art von methodischer Operation, zu der schon Hegel sich veranlasst gesehen hat, als er die ökonomischen Strukturen der „bürger-lichen Gesellschaft“ analysierten wollte: Die kapitalistische Organisation der Arbeit darf nicht in ihrer zufälligen, empirisch gegebenen Gestalt präsentiert, sondern muss in den nor-mativen Zügen zur Darstellung gebracht werden, die ihre öffentliche Rechtfertigkeit ausma-

22 E. Durkheim, Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt/M. 1977.23 Ich gehe hier auf die verschiedenen Schwierigkeiten, die Durkheims Analyse aufweist, nicht näher

ein. Hilfreiche Überblicke geben: St. Lukes, Emile Durkheim, London 1973, Kap. 7; H.-P. Müller, Die Moralökonomie moderner Gesellschaften, in: E. Durkheim, Physik der Sitten und des Rechts, Frankfurt/M. 1999, 307–341.

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chen; würde es nämlich nur beim Ersten bleiben, also der bloß empirischen Wiedergabe, so ließe sich nicht einsichtig machen, warum die neue Wirtschaftsform eine Quelle der sittlichen Integration oder der Solidarität sein sollte. Aus diesem Grund unternimmt Durkheim in sei-ner stilisierten Analyse der modernen Arbeitsteilung über weite Strecken nichts anderes, als was auch Hegel in seiner dialektischen Darstellung der wirtschaftsliberalen Verhältnisse des sich durchsetzenden Kapitalismus geleistet hatte24: Es wird vorgeführt, dass unter den neu-en ökonomischen Bedingungen jedes erwachsene Mitglied der Gesellschaft einen Anspruch darauf hat, einen arbeitsteiligen Beitrag zum allgemeinen Wohlstand zu leisten, für den ihm im Gegenzug ein angemessenes, mindestens subsistenzsicherndes Einkommen zusteht. Zwar verwendet Durkheim nicht die Sprache der Anerkennung, aber der Kern seines Arguments lässt sich ohne weiteres mit ihrer Hilfe wiedergeben: Mit der marktvermittelten Arbeitsteilung entstehen soziale Verhältnisse, in denen die Gesellschaftsmitglieder deswegen eine besondere, „organisch“ genannte Form der Solidarität ausbilden können, weil sie sich in der wechsel-seitigen Anerkennung ihrer jeweiligen Beiträge zum gemeinsamen Wohlstand aufeinander bezogen wissen. Während Hegel in seiner Analyse freilich vor allem auf die ökonomische Selbstständigkeit der Marktteilnehmer abgehoben hatte, die er durch subsistenzsichernde Einkommen gewahrt sehen wollte, legt Durkheim besonderes Gewicht auf die Fairness und Transparenz der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Nach seiner Überzeugung kann die neue Wirtschaftsform die Funktion der sozialen Integration nur dann übernehmen, wenn sie zwei moralische Bedingungen erfüllt, die als kontrafaktische Unterstellungen in allen Austausch-beziehungen des Arbeitsmarktes wirksam sind; damit die Beschäftigten den Arbeitsverträgen tatsächlich aus freien Stücken zustimmen können, muss erstens ständig dafür gesorgt sein, dass gleiche Ausgangsbedingungen bei dem Erwerb der notwendigen Qualifikationen herr-schen und alle sozialen Beiträge gemäß ihres realen Werts für die Gemeinschaft entlohnt werden.25 Gerechtigkeit und Fairness sind somit für Durkheim keine normativen Ideale, die von außen an die kapitalistische Arbeitsorganisation herangetragen würden, sondern bilden innerhalb ihres Rahmens funktional notwendige Unterstellungen, ohne deren Inkraftsetzung ein Bewusstsein sozialer Zusammengehörigkeit nicht entstehen könnte. Genauso bestellt ist es um die zweite normative Bestimmung, die Durkheim bei seinem Versuch ins Spiel bringt, einen Überblick über die moralischen Bestandsvoraussetzungen der neuen Wirtschaftsform zu gewinnen: Die marktvermittelten Arbeitsverhältnisse müssen, um die Funktion der sozia-len Integration erfüllen zu können, nicht nur gerecht und fair organisiert sein, sondern auch der Forderung genügen, die einzelnen Tätigkeiten möglichst transparent und übersichtlich aufeinander zu beziehen. Es ist diese Stelle, an der Durkheim einen entscheidenden Schritt über Hegel hinausgeht, indem er in seiner Analyse zugleich ein Kriterium für die erforderliche Gestaltung der indi-viduellen Tätigkeiten liefert. Der Gedankengang, mit dem Durkheim seine These begrün-det, setzt wieder bei dem Befund an, dass die neuen Arbeitsverhältnisse nur dann „orga-nische“ Formen der Solidarität erzeugen können, wenn sie von allen Beschäftigten als eine gemeinsame, kooperative Anstrengung zum allgemeinen Wohl erfahren werden: Um diesem Umstand Genüge leisten zu können, so argumentiert Durkheim nun weiter, ist es aber erfor-derlich, dass von jedem einzelnen Arbeitsplatz aus überblickt werden kann, in welchem koo-perativen Zusammenhang die eigene Tätigkeit mit der aller anderen Beschäftigen steht; das

24 Auf die Nähe zu Hegel macht Steven Lukes indirekt aufmerksam, indem er verschiedentlich auf die Parallele zwischen Durkheims Analyse und derjenigen des britischen Neohegelianers T. H. Green verweist: S. Lukes, Emile Durkheim, a. a. O., 265, 271, 300.

25 E. Durkheim, Über die Teilung der sozialen Arbeit, a. a. O., 422–429.

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jedoch ist nach Durkheim wiederum nur möglich, wenn die verschiedenen Arbeitsvollzüge so komplex und anspruchsvoll sind, dass sie der Einzelne aus seiner Perspektive mit dem Rest der gesellschaftlich notwendigen Arbeiten in einen halbwegs sinnvollen Zusammenhang bringen kann. Insofern zögert Durkheim nicht, die Forderung nach einer qualitätsreichen, sinnvollen Arbeit als einen Anspruch zu begreifen, der in den normativen Bedingungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems selbst verankert ist: „Die Arbeitsteilung setzt voraus, daß der Arbeiter, statt über seine Aufgabe gebeugt zu bleiben, seine Mitarbeiter nicht aus den Augen verliert, auf sie einwirkt und von ihnen beeinflußt wird. Er ist also keine Maschine, die Bewegungen ausführt, deren Richtung er nicht kennt, sondern er weiß, daß sie irgendwohin tendieren, auf ein Ziel, das er mehr oder weniger deutlich begreift. Er fühlt, daß er zu etwas dient.“26 Es mag sein, dass auch Hegel solche Vorstellungen vor Augen hatte, als er von der „bürgerlichen Ehre“ als der Form von Anerkennung sprach, die jedem Mitglied der marktver-mittelten Arbeitsgesellschaft zusteht; aber erst Durkheim ist konsequent genug, die normati-ven Implikationen der neuen Vergesellschaftungsform soweit auszubuchstabieren, dass auch Ansprüche auf eine als sinnvoll erlebbare Arbeit darunter fallen.27

III.

Die heute existierenden, zunehmend deregulierten Arbeitsverhältnisse scheinen den Aus-führungen, die sich bei Hegel und Durkheim über die moralische Infrastruktur der kapitalis-tischen Wirtschaftsform finden lassen, Hohn zu sprechen: Die faktische Situation der gesell-schaftlichen Arbeit, sei es in den postfordistischen Produktionsregimen des demokratischen Westens oder in den Billiglohnländern der Zweiten und Dritten Welt, ist von derartig unzumut-baren, belastenden Bedingungen geprägt, dass jede Forderung nach einer nachhaltigen Ver-besserung wie die Berufung auf ein „abstraktes Sollen“ klingen muss. Von einer wirksamen, praktisch folgenreichen Kritik dieser Arbeitsverhältnisse sind wir heute, so hatte ich schon gleich zu Beginn gesagt, weiter entfernt als jemals zuvor in der Geschichte kapitalistischer Gesellschaften. Gleichwohl haben die Analysen von Hegel und Durkheim nicht etwa jede Bedeutung verloren; wenn wir die neueren Entwicklungen in der Wirtschaftssoziologie oder im ökonomischen Institutionalismus hinnehmen, so wird im Augenblick theoretisch sogar immer deutlicher, dass der kapitalistische Arbeitsmarkt von normativen Bedingungen abhän-gig ist, die nur hinter einem Schleier von Beschwörungen der „selbstregulativen Kräfte des Marktes“ verborgen sind. Allerdings ist nicht alles, was sich in der veränderten Perspektive dieser neueren Disziplinen an vorökonomischen Voraussetzungen des Marktes zeigt, zugleich auch von moralischer Natur; die Mehrzahl der Regelungen, die hier analysiert werden, um die Abhängigkeit des Marktes von ihm fremden Bedingungen zu beweisen, besitzt eher den Charakter von institutionellen Konventionen und sozialen Netzwerken.28 Auf die im engeren Sinn moralischen Normen stoßen wir hingegen erst, wenn wir mit Hegel und Durkheim die Überzeugung teilen, dass der kapitalistische Arbeitsmarkt nicht nur

26 Ebd., 415.27 Dass Durkheim sich all dieser normativen Implikationen seiner soziologischen Analyse durchaus

bewusst war, macht ein kurzer Text aus dem Jahr 1898 deutlich: E. Durkheim, L’individualisme et les intellectuels, dt. Übersetzung in: H. Bertram (Hg.), Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie, Frankfurt/M. 1986, 54–70.

28 M. Granovetter, Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness, in: American Journal of Sociology, Jg. 91/1985, Heft 3, 481–510.

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ein Mittel der ökonomischen Effizienzsteigerung, sondern auch ein Medium der Sozialinte-gration zu bilden hat; denn nur unter dieser einen, keinesfalls selbstverständlichen Prämisse tritt zu Tage, dass das Funktionieren jenes Marktes von der Erfüllung moralischer Versprechen abhängig ist, die mit Begriffen wie „bürgerliche Ehre“, „Leistungsgerechtigkeit“ und „sinn-volle Arbeit“ beschrieben werden müssen. Insofern hängt bei der Beantwortung der Frage, ob wir über immanente Kriterien der Kritik existierender Arbeitsverhältnisse verfügen, alles von der Entscheidung darüber ab, den kapitalistischen Markt entweder unter dem Blickwinkel der Systemintegration oder dem der Sozialintegration zu analysieren: Beschränken wir uns auf die erste Perspektive, so zeigen sich am Markt zwar vorökonomische Bedingungen und Rege-lungen, aber keine moralischen Prinzipien; lassen wir uns hingegen von der zweiten Perspek-tive leiten, so treten an demselben Markt all die moralischen Implikationen hervor, die nach Hegel und Durkheim seine normative Einbettung in die soziale Lebenswelt garantierten. Hier, an dieser einen Stelle, an der es um die Wahl zwischen zwei Perspektiven geht, kom-men die Stimmen der Betroffenen vielleicht doch noch einmal in legitimer Weise zum Tragen. Zwar hatte sich im Verlauf meiner Argumentation gezeigt, dass wir uns nicht einfach auf die Urteile der Beschäftigen stützen können, um eine Kritik der gegebenen Arbeitsverhältnisse zu rechtfertigen; einer solchen Form der Begründung würde es an jedem Argument dafür fehlen, warum den öffentlich vorgetragenen Klagen und Beschwerden überhaupt irgendeine Art der moralischen Geltung zukommen sollte. Aber vielleicht lässt sich das Unbehagen der Betroffenen auf einer höheren Stufe doch wieder ins Spiel bringen, dort nämlich, wo es nicht als normative Quelle der Kritik, sondern als Entscheidungshilfe bei der Wahl zwischen den beiden genannten Perspektiven genommen wird. Die Entscheidung darüber, ob angesichts des kapitalistischen Arbeitsmarktes eher der Blickwinkel der Systemintegration oder der der Sozialintegration vorzuziehen sei, kann ja nicht einfach der Willkür des einzelnen Theore-tikers überlassen sein; er muss seine Wahl vielmehr mit Blick darauf rechtfertigen, welche der beiden Perspektiven zur Erklärung des betreffenden Gegenstandsbereichs besser geeig-net ist. Solange aber die Beschäftigten gegen unzumutbare Arbeitsbedingungen aufbegehren, solange die Mehrzahl der Bevölkerung unter den existierenden Arbeitsverhältnissen leidet29, spricht wenig dafür, den kapitalistischen Arbeitsmarkt nur unter dem Gesichtspunkt der Effi-zienzsteigerung zu analysieren; zumindest die „Söhne (und Töchter) der bürgerlichen Gesell-schaft“ scheinen, um einen Satz Hegels abzuwandeln, der Überzeugung zu sein, dass der Markt „ebensosehr Ansprüche an [sie] hat, wie [sie] Rechte auf [ihn] haben“.30 Auf jeden Fall sind die Reaktionen derer, die die Arbeitsmärkte des gegenwärtigen Kapitalismus bevölkern, nur angemessen zu erklären, wenn anstatt der Perspektive der Systemintegration diejenige der Sozialintegration eingenommen wird; denn dass unter den existierenden Umständen gelitten wird und nicht vielmehr bloß Indifferenz herrscht, dass gekämpft und aufbegehrt und nicht bloß mit strategischer Apathie reagiert wird, lässt sich überhaupt nur dann verstehen, wenn der Markt weiterhin als Teil der sozialen Lebenswelt analysiert wird. Machen wir uns eine derartige Perspektive aber zu Eigen, so treten am kapitalistischen Arbeitsmarkt all die morali-schen Bedingungen zu Tage, die ich hier mit Hegel und Durkheim rekonstruiert habe; und es gibt wenig Gründe, heute unter dem Druck der Verhältnisse dieses Reservoir an moralischen Prinzipien der Arbeitswelt preiszugeben.

Prof. Dr. Axel Honneth, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Institut für Philosophie, Grüneburgplatz 1, 60629 Frankfurt/M.

29 P. Bourdieu u. a., Das Elend der Welt, Konstanz 1997.30 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., § 238.