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Plenarprotokoll 16/47 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 47. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 Inhalt: Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung): a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die Feststellung des Bundes- haushaltsplans für das Haushaltsjahr 2007 (Haushaltsgesetz 2007) (Drucksache 16/2300) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Finanzplan des Bundes 2006 bis 2010 (Drucksache 16/2301) . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelplan 11 Bundesministerium für Arbeit und So- ziales Franz Müntefering, Bundesminister BMAS Dr. Claudia Winterstein (FDP) . . . . . . . . . . . . Ronald Pofalla (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Helmut Holter, Minister (Mecklenburg-Vorpommern) . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Waltraud Lehn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Brandner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) . . . . . Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU) . . . . . . . . Einzelplan 17 Bundesministerium für Familie, Senio- ren, Frauen und Jugend Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ilse Falk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Spanier (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Elke Reinke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Singhammer (CDU/CSU) . . . . . . . Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4591 A 4592 A 4592 B 4592 B 4592 C 4596 B 4597 D 4600 C 4603 C 4605 A 4606 D 4608 C 4609 C 4610 D 4611 D 4613 A 4614 B 4615 C 4617 A 4618 D 4619 C 4620 C 4621 A 4622 B 4623 D 4626 A 4627 D 4628 D 4630 B 4631 C 4632 D 4633 D 4635 A 4635 C

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Plenarprotokoll 16/47

Deutscher BundestagStenografischer Bericht

47. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006

I n h a l t :

Erweiterung und Abwicklung der Tagesord-nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . .

Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung):

a) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes über die Feststellung des Bundes-haushaltsplans für das Haushaltsjahr2007 (Haushaltsgesetz 2007)(Drucksache 16/2300) . . . . . . . . . . . . . . . .

b) Unterrichtung durch die Bundesregierung:Finanzplan des Bundes 2006 bis 2010(Drucksache 16/2301) . . . . . . . . . . . . . . . .

Einzelplan 11

Bundesministerium für Arbeit und So-ziales

Franz Müntefering, Bundesminister BMAS

Dr. Claudia Winterstein (FDP) . . . . . . . . . . . .

Ronald Pofalla (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Helmut Holter, Minister (Mecklenburg-Vorpommern) . . . . . . . . . . .

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Waltraud Lehn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Klaus Brandner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . .

Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) . . . . .

Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU) . . . . . . . .

Einzelplan 17

Bundesministerium für Familie, Senio-ren, Frauen und Jugend

Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . .

Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ilse Falk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Spanier (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Elke Reinke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . .

Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Johannes Singhammer (CDU/CSU) . . . . . . .

Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Ole Schröder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Kerstin Griese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 2:

a) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Einführung des Elterngeldes (Drucksache 16/2454) . . . . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten AngelikaBrunkhorst, Michael Kauch, HorstMeierhofer, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der FDP: Exportaktivitätendeutscher Unternehmen im Technolo-giebereich erneuerbarer Energien sach-gerecht unterstützen(Drucksache 16/1565) . . . . . . . . . . . . . . . .

c) Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm,Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktionder LINKEN: Generelle Altschuldenent-lastung auf dauerhaft leer stehendeWohnungen(Drucksache 16/2078) . . . . . . . . . . . . . . . .

d) Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm,Dr. Barbara Höll, Dr. Gesine Lötzsch, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion derLINKEN: Grunderwerbsteuerbefrei-ung bei Fusionen von Wohnungsunter-nehmen und Wohnungsgenossenschaf-ten in den neuen Ländern(Drucksache 16/2079) . . . . . . . . . . . . . . . .

e) Unterrichtung durch die Bundesregierung:Bericht über die aktualisierten Stabili-täts- und Konvergenzprogramme 2005der EU-Mitgliedstaaten(Drucksache 16/1218) . . . . . . . . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 1:

a) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Errichtung einer „Bundesstif-tung Baukultur“(Drucksachen 16/1945, 16/1990) . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten WolfgangGehrcke, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr.Diether Dehm, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der LINKEN: Dauergeneh-migungen für Militärflüge aufheben(Drucksache 16/857) . . . . . . . . . . . . . . . . .

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0000 A4637 B

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c) Antrag der Abgeordneten Volker Beck(Köln), Irmingard Schewe-Gerigk,Marieluise Beck (Bremen), weiterer Ab-geordneter und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Mei-nungs- und Versammlungsfreiheit fürLesben und Schwule in ganz Europadurchsetzen(Drucksache 16/1667) . . . . . . . . . . . . . . .

d) Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,Sevim Dagdelen, Monika Knoche, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion derLINKEN: Flüchtlingen aus NahostSchutz bieten(Drucksache 16/2341) . . . . . . . . . . . . . . .

e) Antrag der Abgeordneten Dr. LukreziaJochimsen, Katja Kipping, Dr. Petra Sitte,weiterer Abgeordneter und der Fraktionder LINKEN: Bundespolitik soll imStreit um die Waldschlösschenbrückevermitteln(Drucksache 16/2499) . . . . . . . . . . . . . . .

f) Antrag der Abgeordneten Dr. GesineLötzsch, Petra Pau, Dr. Hakki Keskin, Dr.Gregor Gysi und der Fraktion der LIN-KEN: Fertigstellung des Mauerparks imBereich der ehemaligen innerstädti-schen Grenze in Berlin(Drucksache 16/2508) . . . . . . . . . . . . . . .

g) Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken,Rainder Steenblock, Matthias Berninger,weiterer Abgeordneter und der Fraktiondes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:Forderung der EU nach Transparenzbei Subventionen im Agrarbereich voll-ständig umsetzen und die Neuausrich-tung der Förderung vorbereiten(Drucksache 16/2518) . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 3:

a) Beschlussempfehlung und Bericht desHaushaltsausschusses

– zu dem Antrag des Bundesministeri-ums der Finanzen: Entlastung derBundesregierung für das Haushalts-jahr 2004 – Vorlage der Haushalts-und Vermögensrechnung des Bun-des (Jahresrechnung 2004) –

– Unterrichtung durch den Bundesrech-nungshof: Bemerkungen des Bundes-rechnungshofes 2005 zur Haus-halts- und Wirtschaftsführung desBundes (einschließlich der Feststel-lungen zur Jahresrechnung 2004)

(Drucksachen 15/5206, 16/820 Nr. 28,16/160, 16/413 Nr. 1.3, 16/2025) . . . . . . .

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4643 B

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4643 C

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 III

b) Beschlussempfehlung und Bericht desHaushaltsausschusses

– zu dem Antrag des Präsidenten desBundesrechnungshofes: Rechnung desBundesrechnungshofes für das Haus-haltsjahr 2004 – Einzelplan 20 –

– zu dem Antrag des Präsidenten desBundesrechnungshofes: Rechnung desBundesrechnungshofes für das Haus-haltsjahr 2005 – Einzelplan 20 –

(Drucksachen 15/5005, 16/820 Nr. 27,16/500, 16/2026) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Einzelplan 15

Bundesministerium für Gesundheit Ulla Schmidt, Bundesministerin BMG . . . . .Dr. Claudia Winterstein (FDP) . . . . . . . . . . . .Wolfgang Zöller (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .Dr. Heidi Knake-Werner, Senatorin (Berlin)

Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/

DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Dr. Carola Reimann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .Daniel Bahr (Münster) (FDP) . . . . . . . . . . . . .Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU) . . . . . .Ewald Schurer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU) . . . . . . . .Jella Teuchner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Einzelplan 30

Bundesministerium für Bildung undForschung

Dr. Annette Schavan, Bundesministerin BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ulrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Klaus Hagemann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Volker Kröning (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Jörg Tauss (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/

DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Ilse Aigner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . .Cornelia Pieper (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .Nicolette Kressl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ulrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .Jörg Tauss (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4644 A

4644 B4647 A4648 C4650 D4652 B

4653 C4656 B4658 A4660 A4662 A4663 D4664 D4665 D

4667 C4669 B4671 A4672 B4674 A4675 A

4676 D4678 B4680 B4681 D4682 B4682 C

Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Volker Kröning (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . .

Einzelplan 16

Bundesministerium für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit

Sigmar Gabriel, Bundesminister BMU . . . . .Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .Katherina Reiche (Potsdam) (CDU/CSU) . . .Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . .Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/

DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Petra Hinz (Essen) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .Ulrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .Lutz Heilmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Ulrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .Bernhard Schulte-Drüggelte (CDU/CSU) . . .

Zusatztagesordnungspunkt 2:

Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Ersten Geset-zes zur Änderung des Erneuerbare-Ener-gien-Gesetzes(Drucksache 16/2455) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 3:

Antrag der Abgeordneten Peter Bleser, UrsulaHeinen, Klaus Brähmig, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der CDU/CSU sowie derAbgeordneten Mechthild Rawert, WaltraudWolff (Wolmirstedt), Ulrich Kelber, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD: Dieweltweit letzten 100 westpazifischen Grau-wale schützen(Drucksache 16/2510) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Einzelplan 12

Bundesministerium für Verkehr, Bauund Stadtentwicklung

Wolfgang Tiefensee, Bundesminister BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4684 A4685 B4686 A4687 C

4689 D4692 A4693 C4696 A

4697 B4698 C4700 B4701 D4703 A4704 A4705 C4707 D4708 A4708 B4708 D

4710 C

4710 C

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IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006

Jan Mücke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dorothée Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Uwe Beckmeyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Joachim Günther (Plauen) (FDP) . . . . . . . . . .

Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU) . . . . . .

Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Klaas Hübner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ingo Schmitt (Berlin) (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Petra Weis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . .

Anlage 2

Erklärung des Abgeordneten Jörg van Essen(FDP) zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung zu dem Antrag: Entlastung derBundesregierung für das Haushaltsjahr 2004– Vorlage der Haushalts- und Vermögensrech-nung des Bundes (Jahresrechnung 2004) –(Tagesordnungspunkt 3 a) . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 3

Erklärung nach § 31 GO der AbgeordnetenUte Koczy, Undine Kurth (Quedlinburg),Cornelia Behm, Sylvia Kotting-Uhl, BärbelHöhn, Winfried Hermann, Dr. AntonHofreiter, Peter Hettlich und Ulrike Höfken(alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Ab-stimmung über den Antrag: Die weltweit letz-ten 100 westpazifischen Grauwale schützen(Zusatztagesordnungspunkt 3) . . . . . . . . . . . .

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4591

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47. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Sitzung ist eröffnet.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-führten Punkte zu erweitern:

1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-

ten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer„Bundesstiftung Baukultur“– Drucksachen 16/1945, 16/1990 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Innenausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Gehr-cke, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Diether Dehm, weitererAbgeordneter und der Fraktion der LINKENDauergenehmigungen für Militärflüge aufheben– Drucksache 16/857 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)Innenausschuss Verteidigungsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck(Köln), Irmingard Schewe-Gerigk, Marieluise Beck (Bre-men), weiterer Abgeordneter und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENMeinungs- und Versammlungsfreiheit für Lesben undSchwule in ganz Europa durchsetzen– Drucksache 16/1667 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)InnenausschussAuswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Se-vim Dagdelen, Monika Knoche, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der LINKENFlüchtlingen aus Nahost Schutz bieten– Drucksache 16/2341 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. LukreziaJochimsen, Katja Kipping, Dr. Petra Sitte, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der LINKENBundespolitik soll im Streit um die Waldschlösschen-brücke vermitteln– Drucksache 16/2499 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien (f)Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. GesineLötzsch, Petra Pau, Dr. Hakki Keskin, Dr. Gregor Gysiund der Fraktion der LINKENFertigstellung des Mauerparks im Bereich der ehema-ligen innerstädtischen Grenze in Berlin– Drucksache 16/2508 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Höfken,Rainder Steenblock, Matthias Berninger, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNENForderung der EU nach Transparenz bei Subventio-nen im Agrarbereich vollständig umsetzen und dieNeuausrichtung der Förderung vorbereiten– Drucksache 16/2518 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

2 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachtenEntwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Erneu-erbare-Energien-Gesetzes– Drucksache 16/2455 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Redetext

4592 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006

(A) (C)

(B) (D)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Bleser, UrsulaHeinen, Klaus Brähmig, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Mechthild Ra-wert, Waltraud Wolff (Wolmirstedt), Ulrich Kelber, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDDie weltweit letzten 100 westpazifischen Grauwale schüt-zen– Drucksache 16/2510 –

Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweiterforderlich, abgewichen werden.

Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Aus-schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-merksam:

Der in der 43. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlichdem Finanzausschuss (7. Ausschuss) zur Mitberatungüberwiesen werden.

Zweites Gesetz der Bundesregierung zurÄnderung des Gesetzes zur Verbesserung derpersonellen Struktur beim Bundeseisenbahn-vermögen und in den Unternehmen der Deut-schen Bundespost

– Drucksache 16/1938 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales

Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann ist das so beschlossen.

Wir setzen die Haushaltsberatungen – Tagesord-nungspunkt 1 – fort:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieFeststellung des Bundeshaushaltsplans für dasHaushaltsjahr 2007(Haushaltsgesetz 2007)

– Drucksache 16/2300 –

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierung

Finanzplan des Bundes 2006 bis 2010

– Drucksache 16/2301 –

Ich erinnere daran, dass wir am Dienstag für die heu-tige Aussprache insgesamt elf Stunden beschlossen ha-ben.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wahnsinn!)

Wir beginnen die heutigen Haushaltsberatungen mitdem Geschäftsbereich des Bundesministeriums fürArbeit und Soziales, Einzelplan 11. Zur Eröffnung er-teile ich das Wort dem Herrn Bundesminister Müntefe-ring.

Herr Müntefering, wenn Sie wegen Ihrer gegenwärti-gen Geh- und Stehbehinderung vom Platz aus redenmöchten, dann ist es Ihnen unbenommen. – Bitte schön.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit undSoziales:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbedanke mich für die Möglichkeit, von meinem Platzaus zu sprechen. Gott sei Dank bin ich auf den Fuß undnicht auf den Kopf gefallen.

(Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU)

Das Reden werde ich schon hinbekommen.

(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das werden wir gleich sehen!)

In den letzten Tagen haben die Bundeskanzlerin undder Finanzminister die großen Linien der Politik erläu-tert. Es bleibt dabei: Wir wollen den Haushalt konsoli-dieren. Dazu muss auch dieser Einzelplan seinen Teilbeitragen. Wir wollen, dass Arbeitslosigkeit reduziertwird; da sind wir auf einem guten Weg. Wir wollen, dassunsere Sozialsysteme stabilisiert werden. Wir sind 2006dabei, ein gutes Stück voranzukommen. Der Haushalts-entwurf für das Jahr 2007 eröffnet die Möglichkeit, die-sen Weg im Jahr 2007 weiterzugehen.

Im Jahr 2006 – das wurde schon gesagt – ist die Zahlder Arbeitslosen zurückgegangen. Die Beitragseinnah-men der Arbeitslosenversicherung und übrigens auch derRentenversicherung sind gestiegen. Das ist ein Zeichendafür, dass sich am Arbeitsmarkt einiges tut. Nicht nurim Bereich des Arbeitslosengeldes I, sondern auch imBereich des Arbeitslosengeldes II sind die ersten positi-ven Signale vorhanden. Die Tatarenmeldungen von voracht bis zwölf Wochen über die Kosten im Bereich desArbeitslosengeldes II werden sich nicht so erfüllen, wiees damals von manchen befürchtet worden ist. Dies isteine gute Tendenz. Diesen Weg wollen wir auch imnächsten Jahr weitergehen.

Es gibt eine Sorge, die wir alle miteinander haben,nämlich die, ob es für die jungen Menschen in unseremLand im Herbst hinreichend viele Ausbildungsplätzegibt. Wir haben in den letzten Wochen gemeinsam mitder Wirtschaft, mit großen und kleinen Unternehmen so-wie mit dem Handwerk, versucht, zusätzliche Ausbil-dungsplätze zu schaffen. Die Situation ist noch nicht be-friedigend. Deshalb müssen wir Druck machen und allenklar machen – das ist ganz wichtig –, dass die jungenMenschen, wenn sie aus der Schule kommen, eineChance haben müssen, einen Ausbildungsplatz zu fin-den.

Die Bundesagentur für Arbeit sorgt im Moment dafür,dass es für 5 000 junge Menschen aus Familien mit Mi-grationshintergrund zusätzliche außerbetriebliche Aus-bildungsplätze gibt. Denn diese haben es besondersschwer am Arbeitsmarkt. Möglicherweise werden esmehr als 5 000 sein, die hier in besonderer Weise geför-dert werden. 14 000 Ausbildungsplätze für Ostdeutsch-

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land werden vom Ministerium der Kollegin Schavan fi-nanziert.

Die Bundesagentur hat eine Förderquote von42 000 bis 43 000 außerbetrieblichen Ausbildungsplät-zen und die Argen haben eine solche von 3 000 bis4 000. Das Unterteilen des Arbeitsmarktes in die Berei-che Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II hat auchdazu geführt, dass in dem Bereich der Argen die Zahlder Ausbildungsplätze und die Zahl der Vermittlungengegenüber dem früheren Engagement der BA abgenom-men haben. Deshalb müssen wir an dieser Stelle nocheinmal Druck machen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ich möchte Sie heute darüber informieren, dass ichveranlasse, dass die Zahl der Plätze im Bereich EQJ– das ist die Einstiegsqualifizierung für Jugendliche –zum 1. Oktober von 25 000 auf 40 000 angehoben wird.Das sind noch einmal 15 000 Jugendliche mehr, die eineChance bekommen, in diesem Jahr in diese Qualifizie-rung hineinzukommen. Das, finde ich, ist eine richtigeund wichtige Entscheidung.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Das gibt unser Haushalt her. Das hat auch etwas mit derEntwicklung des Jahres zu tun. Die Kosten kommen ab1. Oktober auf uns zu. Wir werden das Angebot der40 000 EQJ-Plätze bis zum Jahre 2007 weiterführen,möglichst auch darüber hinaus, damit die Jugendlichensich auch darauf einstellen können.

Diese Plätze richten sich besonders an solche Jugend-liche, die es schwer haben, aufgenommen zu werden. Siemachen eine Art Praktikum und bekommen dafür knapp200 Euro Bundesmittel, gewissermaßen als Ausbil-dungsvergütung, und wir zahlen Sozialversicherungsbei-träge für diese jungen Menschen.

60 Prozent von ihnen sind im letzten Jahr nach einemhalben Jahr in eine ordentliche Ausbildung übernommenworden. Das ist eine gute Quote. Den Weg wollen wirweitergehen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Diese 40 000 sind meiner Meinung nach eine gute Zahlfür den Ausbildungsmarkt insgesamt.

Ich möchte hier ankündigen, dass wir uns neben derNotwendigkeit, dass wir uns Gedanken über die jungenMenschen machen, die aus der Hauptschule kommen,auch Gedanken darüber machen müssen, was mit denje-nigen passiert, die beispielsweise von der Hochschulekommen. Ich sehe mit großer Sorge – das wird zurzeitrecherchiert –, dass eine Art Praktikamethode um sichgreift, die nicht toleriert werden kann. Darum müssenwir uns kümmern.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Praktika im klassischen Sinne des Wortes sind sinn-voll, wenn junge Menschen für kurze Zeit die Chancehaben, sich in einen Beruf hineinzulernen und hineinzu-denken. Wenn aber manche Unternehmen – längst nicht

alle, Gott sei Dank! –, diese Möglichkeit nutzen, umVollzeitarbeit, die es bei ihnen gibt, von Menschen erle-digen zu lassen, die man Hospitanten, Volontäre oderPraktikanten nennt, und ihnen kein Geld dafür gibt, dannist das nicht in Ordnung. Das müssen wir nötigenfallsnoch etwas nachdrücklicher erklären, als es bisher in un-seren Gesetzen steht.

(Beifall im ganzen Hause)

Es gibt erfreulicherweise einen Zusammenschluss von300 namhaften Firmen in Deutschland, die das erkanntund zugesagt haben, dass sie das ganz fair handhabenwollen. Mit denen zusammen möchten wir eine Organi-sation schaffen, damit klar wird, dass diese Entwicklungbei den Praktika, die nicht richtig ist, aufhört und dasswir da zu ordentlichen Ergebnissen kommen. Die jungenLeute, die von der Hochschule kommen, dürfen an derStelle nicht „missbraucht“ werden, sondern müssen eineehrliche Chance bekommen. Unternehmen, die Arbeithaben, sollen die Leute einstellen, ihnen Geld bezahlen– einen ordentlichen Lohn geben – und sollen sie nichtmissbrauchen auf so genannten Praktikaplätzen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In den vergangenen Tagen haben wir es schon gehört:Wir wollen dadurch noch einmal Druck machen, dasswir einen Teil der Mittel aus dem 25-Milliarden-Pro-gramm für die energetische Gebäudesanierung vorzie-hen. Die Anträge für das Jahr 2006 sind längst gestelltund genehmigt. Nun wollen wir dafür sorgen, dass es dakeinen Abbruch gibt. Die energetische Gebäudesanie-rung bleibt auch angesichts der Energiekosten, die wirhaben, hoch interessant.

Ich würde es sehr begrüßen, wenn Bund, Länder undGemeinden sich noch einmal zusammensetzen und auchdie öffentlichen Gebäude in eine solche Aktion einbezie-hen würden. Das wäre eine wirklich gute Sache für Endedieses Jahres, Anfang nächsten Jahres.

Öffentliche Investitionen können natürlich längstnicht alles, was man für die Konjunktur tun muss, leis-ten. Aber wir haben in Deutschland Arbeit. Wir leben anverschiedenen Stellen von der Substanz, auch was dieGebäude angeht. Wenn Bund, Länder und Gemeindengemeinsam darangehen, sehr schnell die energetischeGebäudesanierung und die Modernisierung von Kinder-gärten, Schulen, Hochschulen und öffentlichen Gebäu-den zu forcieren, dann ist das auch noch einmal ein zu-sätzliches Angebot für das Handwerk in Deutschlandund für die Schaffung von Arbeitsplätzen. Den Wegmüssen wir weitergehen. Es ist doppelt sinnvoll, dasswir das vorantreiben.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Im Januar werden die Arbeitslosenversicherungs-beiträge von 6,5 Prozent auf 4,5 Prozent sinken. Daswurde in den letzten Tagen intensiv diskutiert, vor allenDingen vor dem Hintergrund, dass die Bundesagenturuns einen erfreulichen Überschuss für dieses Jahr mel-det. Ich bin dafür, dass wir damit ganz nüchtern umge-hen. Wenn dauerhaft ein weiterer Überschuss bei der

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Agentur gesichert ist, dann bin ich dafür, dass man dieBeiträge weiter senkt.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Ich bitte aber, das Wort „wenn“ mitzuhören. Ich möchteeine mittelfristige Finanzplanung der BA bis zum Jahre2010 haben. Ich möchte nicht, dass wir im Verlauf derLegislaturperiode, im Jahre 2008 oder im Jahre 2009, ei-nen neuen Zuschuss des Bundes geben müssen, weildann kein Überschuss mehr da ist. Das will ich bitte ge-klärt haben, ehe wir mal schnell daran gehen, Geld aus-zugeben. Es ist auch, glaube ich, solide, dass wir das indieser Weise machen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ich habe erste Berechnungen dazu gesehen; da wardas keineswegs selbstverständlich. Man muss berück-sichtigen, dass 3,1 Milliarden Euro des Überschusses derAgentur aus dem Einmalvorgang der 13. Zahlung resul-tieren. Wir haben die Zahlung der Sozialversicherungs-beiträge vom 1. auf den 30. oder 31. eines Monats umge-stellt. Deshalb gibt es in diesem Jahr 13 Zahlungen.Dieser Überschuss wird im nächsten Jahr fehlen. Des-halb muss man im Umgang mit diesen Mitteln vorsichtigsein.

Aber: Da soll nichts weggenommen werden. Wenn-gleich diese etwas überhöhte Debatte der letzten Tagedarüber, wem das Geld eigentlich gehört, vielleicht dochnoch einmal vor folgendem Hintergrund gesehen werdenmuss: Seit 1988 – die Kanzlerin hat es gestern auch ge-sagt – hat die Agentur jedes Jahr einen Zuschuss ge-braucht.

(Dirk Niebel [FDP]: Das wundert mich gar nicht!)

– Herr Niebel, seit Sie weg sind, ist es etwas besser ge-worden.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Das bestätigen alle. Vielleicht hat es ja etwas mit Ihnenzu tun, dass der Überschuss jetzt aufgetreten ist.

In den letzten zehn Jahren hat die Agentur Zuschüssein Höhe von 38,8 Milliarden Euro gebraucht, im Schnittalso etwa 4 Milliarden Euro pro Jahr. In diesem Jahr hatsie keinen gebraucht. Jetzt macht man sich groß und for-dert: Dieses Geld muss sofort zurückgegeben werden.Dazu sage ich: Vorsicht, wir sollten an dieser Stelle ehr-lich miteinander umgehen.

Die Initiative „50 plus“ führen wir fort. In diesemHerbst werden wir auch im Parlament und in den Frak-tionen intensiv darüber sprechen. Ich glaube, dass wirauf diesem Gebiet eine gute Entwicklung haben. Ziel derKoalition ist es, dass im Jahre 2010 50 Prozent derer, die55 Jahre und älter sind, in Deutschland noch in Beschäf-tigung sind.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ihr Anteil liegt zurzeit bei 45,4 Prozent. Diese Zahl müs-sen wir langsam aber sicher erhöhen, und zwar nicht nur,weil das im Rahmen der Lissabonstrategie so beschlos-sen wurde, sondern auch, weil das sinnvoll ist und wirdiese Altersklasse in besonderer Weise brauchen.

Wir werden uns im nächsten Jahr um das Thema derzusätzlichen Altersvorsorge zu kümmern haben. HerrBrüderle hat mit dem, was er gestern dazu erzählt hat,seine völlige Unkenntnis zum Ausdruck gebracht.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist nichts Neues!)

Sie können ihm mitteilen: Bei der Altersvorsorgeläuft es gut. Die betriebliche Altersvorsorge und dieRiesterrente gewinnen. Hunderttausende kommen hinzu– im letzten Jahr 1,2 bis 1,5 Millionen Menschen –, diejetzt auch nach Riester sparen.

In Deutschland muss ein Bewusstsein dafür entste-hen, dass neben die gesetzliche Rente ein privates Ren-tensparen treten muss. Das muss selbstverständlich wer-den. Wir müssen das staatlicherseits unterstützen. DieRiesterrente unterstützen wir beispielsweise dadurch,dass wir einen erhöhten Kinderzuschlag in Höhe von300 Euro zahlen und das Bauen oder Kaufen vonWohneigentum in die Riesterrente einschließen; dennein Eigenheim bzw. eine Wohnung ist ein Gut, das manim Rahmen der Altersvorsorge gut gebrauchen kann. Al-tersvorsorge muss im Laufe dieser Legislaturperiode zueiner festen Größe in den Köpfen der Menschen werden.Wer in Deutschland in den Beruf geht, muss eigentlichgleichzeitig mit privater Altersvorsorge beginnen.

In diesem Zusammenhang appelliere ich an die Tarif-parteien, dafür zu sorgen, dass dieses Thema in die Tarif-verhandlungen einbezogen wird.

(Beifall bei der SPD)

Der letzte Metall-Tarifvertrag ist da sehr gut. Da habendie Unternehmen und die Arbeitnehmer Regelungen ge-funden, die alle Arbeitnehmer einschließen. Wenn unsdas flächendeckend gelingt, muss man nicht mehr da-rüber sprechen, ob die Riesterrente obligatorisch seinsollte. Wenn man das im Rahmen der Tarifverträge re-gelt, sind auch die niedrigen Einkommensgruppen ein-bezogen sowie diejenigen, die aus eigenem Impuls he-raus keinen Vertrag über eine Riesterrente abschließenwürden. Dieses Moment der privaten Altersvorsorgewird uns im nächsten Jahr noch intensiv beschäftigen.

In den nächsten Wochen werden wir im Rahmen derDebatte über die Rentenreform über die Anhebung desRenteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre sprechen.Das ist zu präzisieren. Wir müssen das Gesetz erarbei-ten. Anfang nächsten Jahres werden wir die entsprechen-den Beschlüsse zu fassen haben. Darüber wird es sichernoch hinlängliche Diskussionen geben. Ich bin aber si-cher, dass wir auf einem vernünftigen Weg sind. Bisherkonnte man in Deutschland zwischen 60 und 65 Jahrenin Rente gehen. Wenn man früher ging, musste man na-türlich einen Abschlag hinnehmen. Dieses Fenster wer-den wir auf das Alter zwischen 62 und 67 Jahren vergrö-ßern. Wer früher geht, muss weiterhin einen Abschlag

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hinnehmen. Angesichts der Tatsache, dass die Menschenlänger leben, und das relativ gesund, dass die jungenLeute später in die Jobs gehen als meine Generation, istes, so glaube ich, gerechtfertigt zu sagen, dass wir dieseVeränderung bei der gesetzlichen Altersrente Schritt fürSchritt bis zum Jahr 2029 durchsetzen wollen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

In den vergangenen Wochen ist darüber spekuliertworden, ob die Renten erhöht werden können. Auch beidiesem Thema empfehle ich Vorsicht. Die Höhe derRentenversicherungsbeiträge, die eingehen, sagt nichtsüber mögliche Rentenerhöhungen aus. Rentenerhöhun-gen sind an die Entwicklung der Löhne und Gehälter ge-bunden. Im Moment sind die Zahlen, die ich dazu be-komme, hochambivalent; anders kann man das nichtnennen. Denn ob es aufgrund der Arbeitsplätze, die es indiesem Jahr zusätzlich gibt, zu einer höheren Lohn-summe kommt und um wie viel die Löhne eigentlichsteigen, wird man erst sehen, wenn man ein Stück weiterist. Deshalb empfehle ich an dieser Stelle Vorsicht.

Ich sage aber den Rentnerinnen und Rentnern inDeutschland: Wenn es nach den geltenden Gesetzen,also ausgerichtet an der Entwicklung der Löhne und Ge-hälter, Möglichkeiten zur Rentenerhöhung gibt, werdenwir sie natürlich nutzen. Wir werden die Karte des Nach-holfaktors nicht vor dem Jahre 2010 ziehen. Wenn es dieChance zur Rentenerhöhung gibt, werden wir die Rentenerhöhen; ob es möglich ist, wird man sehen. Auch wennZeitungen mit ganz großen Buchstaben schön lange Ta-bellen dazu drucken und anschließend schreiben, ichwürde mich weigern, den Menschen die Rente zu geben,dann sage ich hier – die offene Debatte muss ich beste-hen; das weiß ich –: Es gibt ein Gesetz, und wenn lautGesetz die Renten erhöht werden müssen, dann werdensie erhöht, und wenn nicht, dann in diesem Jahr nochnicht. Die Karte des Nachholfaktors werden wir jeden-falls nicht ziehen. Das sollten die Menschen bei uns imLand wissen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es gab in den letzten Tagen den Rat – es soll angeb-lich ein sachverständiger Rat sein –, dass man die345 Euro Hartz IV bzw. das Arbeitslosengeld II kürzensoll. Ich weise darauf hin, dass das Kabinett am 23. Au-gust dieses Jahres beschlossen hat, dass wir auf derGrundlage der EVS, der Einkommens- und Verbrauchs-stichprobe, bei der Sozialhilfe in Höhe von 345 Eurobleiben. Das werden Bundestag und Bundesrat noch zubeschließen haben.

Diese Entscheidung zur Sozialhilfe ist keine Dau-menpeilung, keine Willkür, sondern gründet auf der Er-fahrung der vergangenen Jahre. Es wird nichts gekürzt– es kann gar nichts gekürzt werden –, und da die Sozial-hilfe die Referenzgröße für das Arbeitslosengeld II ist,sehe ich auch nicht, wie man beim Arbeitslosengeld IIunter das Existenzminimum gehen könnte. Der Irrtumdessen, was da als sachverständig kommt, ist: Wenn maneine Kürzung um 30 Prozent vornehmen würde und den

Menschen, denen die Zahlungen gekürzt werden, sagenwürde, sie könnten dafür arbeiten, betrifft das nur350 000 Personen – das schätzen die Sachverständigenselbst –, aber nicht die anderen 4 Millionen. Wir könnennicht 4 Millionen Menschen sagen, dass wir um 30 Pro-zent kürzen, aber nicht wissen, wo sie zusätzliches Gelddurch Arbeit herbekommen können. Deshalb finde ich,dass wir in dieser Frage eine klare Antwort geben müs-sen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Wir werden in diesem Herbst eine intensive Debatteüber den Niedriglohnbereich führen. Dazu wird es– das ist im Kabinett so vereinbart worden – Anhörun-gen unter der Leitung meines Hauses geben, und zwarzum Kombilohn, zum Mindestlohn, zum Zuverdienst,zum dritten Arbeitsmarkt und zur Effizienzverbesserungder Umsetzung im Bereich des Arbeitslosengeldes II.Das sind die fünf großen Themen, die behandelt werdenmüssen. Die Fraktionen wurden dazu angeschrieben.Wir werden Ende September mit diesen Beratungen be-ginnen.

Etwa 15 bis 20 Prozent der Menschen bei uns imLand arbeiten im Niedriglohnbereich. Das heißt, sie er-halten einen Lohn, der unterhalb der Grenze liegt, dieaus unserer Sicht akzeptabel ist. Wir müssen uns mit die-sem Thema beschäftigen. Ich weiß, dass es dazu vieleFragezeichen gibt. Ich meine aber, dass wir eine offeneund klare Debatte darüber führen sollten. Denn es istzweifellos so, dass viele Menschen bei uns im Land dieErfahrung machen: Oben ist der Deckel drauf, der freieFall nach unten ist eröffnet. Löhne in Höhe von 4 Euro,3,50 Euro und 3 Euro pro Stunde – auch die habe ich ge-sehen – sind aus meiner Sicht sittenwidrig. Deshalbmuss man als Politiker etwas dazu sagen und versuchen,es zu ändern.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich will abschließend ein Wort zu unserer europäi-schen Aufgabe sagen. Ich war Anfang der Woche bei ei-ner ASEM-Konferenz. Dort tagten Arbeitsminister ausdem asiatischen und dem europäischen Raum. Wir wer-den natürlich während unserer europäischen Präsident-schaft im nächsten Jahr von Deutschland aus ganz be-sonders auf die soziale Dimension Europas zu achtenhaben. Wer die Zustimmung zu Europa haben will – daskann man aus den Abstimmungen in Frankreich und inden Niederlanden lernen; Abstimmungen, die wir nichtbestehen mussten –, muss erreichen, dass die Menschenwieder das feste Gefühl haben können, dass Europa sichfür sie lohnt, dass Europa so, wie es sich aufstellt, einesoziale Dimension hat. Diese Aufgabe müssen wir unsvornehmen. Wer Europa gut will, muss wollen, dassEuropa den Menschen vermitteln kann, dass es mehr istals eine Idee von Wettbewerb und Markt, dass es aucheine Idee des Zusammenlebens und der sozialen Dimen-sion der Gesellschaften ist.

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(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn uns das im nächsten Jahr gelingt – damit werdenwir uns auch im Rahmen der G 8 beschäftigen müssen –,dann haben wir, glaube ich, unseren Teil dazu beigetra-gen, dass Deutschland und Europa insgesamt einen gu-ten Weg nehmen.

Ich bin für das Jahr 2007 ganz zuversichtlich, dasswir auf der Grundlage des vorliegenden Entwurfs einenguten Weg gehen können. Alle Spötter sind schon einbisschen leiser geworden. Als ich in den vergangenenTagen die Oppositionsreihen beobachtet habe, habe ichzunehmend das Gefühl bekommen, dass Ihnen das Pul-ver ausgeht

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und derCDU/CSU – Widerspruch bei Abgeordnetender FDP)

– das war heute Morgen Ihre erste Reaktion –, weil Siegenau merken, dass wir Recht haben. Wir haben in die-sem Jahr, im Jahr 2006, mit unserer Politik des Ansto-ßens bzw. der Impulsgebung am Arbeitsmarkt und dendaraus folgenden Konsequenzen einen Weg begonnen,der die Chance eröffnet, aus der Sparkurve herauszu-kommen und das zu erreichen, was wir wollen; einen so-liden Haushalt, Arbeitslosigkeit runter und stabile Sozi-alsysteme. Wir sind auf dem richtigen Weg.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die folgenden Redner gilt natürlich, dass sie wie-

der vom Rednerpult aus sprechen.

(Heiterkeit – Volker Kauder [CDU/CSU]: Es sei denn, sie haben etwas am Fuß!)

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. ClaudiaWinterstein von der FDP-Fraktion das Wort.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Claudia Winterstein (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr verehrter Herr Minister, über die Haushaltsrisikenhaben Sie verständlicherweise nicht gesprochen. Deswe-gen will ich das an dieser Stelle tun. Ihre Haushaltspla-nung für das Jahr 2007 erweist sich nämlich erneut alsunsolide. Ihr Haushaltsentwurf ist eine Quelle massiverHaushaltsrisiken. Das galt für den Haushalt des Jahres2006 und das gilt auch für Ihren Haushaltsentwurf 2007.Wohin man schaut, drohen Haushaltslöcher.

Ich beginne mit dem schlimmsten Fehler, den Sie ma-chen. Die Kosten für das Arbeitslosengeld II sind imHaushaltentwurf für das Jahr 2007 wieder zu gering an-gesetzt. Das hat nun schon Methode. 2005 haben 10 Mil-liarden Euro gefehlt und 2006 werden statt 24,4 Milliar-den Euro wahrscheinlich 27 Milliarden Euro gebraucht.Dennoch setzen Sie für 2007 lediglich 21,4 MilliardenEuro an. Sie lügen sich in die Tasche. Denn die Zahl derLeistungsempfänger ist 2006 ebenso wie 2005 ständiggestiegen. Bisher gibt es keine Anzeichen für eine

Trendwende. Hier liegt das größte Haushaltsrisiko IhresEtatentwurfs.

Es droht ein Haushaltsloch von etwa 3,5 MilliardenEuro. Wenn sich das nur zur Hälfte bewahrheitet, dannist der Haushalt 2007 erneut verfassungswidrig.

(Beifall bei der FDP)

Denn nach dem Haushaltsplan liegen die Investitionenum gerade einmal 1,5 Milliarden Euro über der Neuver-schuldung. Dringend nötig sind deshalb weitere Refor-men bei Hartz IV. Die Koalition aber schiebt diese De-batte schon seit Monaten vor sich her. Die Union sprichtvon einer Generalrevision, die SPD nur von Nachbesse-rungen. Tatsächlich aber geschieht nichts.

(Jörg van Essen [FDP]: Genauso ist es! – Klaus Brandner [SPD]: Und was wollen Sie?)

Von dem angekündigten Gesamtkonzept zu den The-men Kombilohn, Mindestlohn und Hartz IV ist bishernicht einmal ein grober Rahmen zu erkennen.

(Klaus Brandner [SPD]: Was wollen Sie denn konkret?)

Die Koalition ist uneinig und hilflos.

(Beifall bei der FDP – Lachen bei Abgeordne-ten der SPD – Klaus Brandner [SPD]: Eskönnte auch sein, dass die FDP hilflos ist!)

Nächster kritischer Punkt: die Beteiligung des Bundesan den Unterkunftskosten der Empfänger des Arbeits-losengeldes II. 2006 hat der Bund hierfür nach großemStreit 3,9 Milliarden Euro gezahlt. Das war erheblichmehr als das, was nach den Berechnungen der Bundesre-gierung notwendig und berechtigt gewesen wäre. DiesenFrieden haben Sie sich teuer erkauft. Jetzt holt Sie diesesProblem in voller Schärfe ein: Auf der einen Seite stehendie Länder, die 2007 ganze 5,5 Milliarden Euro habenwollen, auf der anderen Seite steht die Bundesregierung,die im Haushaltsentwurf 2007 lediglich 2 MilliardenEuro eingeplant hat. Hier droht wiederum ein milliar-denschweres Haushaltsloch.

(Beifall bei der FDP)

Für die FDP will ich klar sagen: Es darf nicht sein, dasssich der Bund noch einmal in der Weise über den Tischziehen lässt, wie es 2006 der Fall war.

(Beifall bei der FDP)

Ein weiterer kritischer Punkt: der Aussteuerungs-betrag. Der Bund verlangt von der Bundesagentur fürArbeit eine Strafzahlung in Höhe von 10 000 Euro fürjeden Arbeitslosen, der vom Arbeitslosengeld I in dasArbeitslosengeld II wechselt. Dieser Aussteuerungsbe-trag wird im Haushaltsentwurf für das Jahr 2007 mit5,1 Milliarden Euro und damit um 1,1 Milliarden Eurohöher als im Haushalt 2006 angesetzt. Das schafft wie-derum ein Haushaltsrisiko; denn in diesem Jahr mussteder erwartete Wert bereits von 5 auf 4 Milliarden Eurokorrigiert werden. Damit liegt er wahrscheinlich immernoch zu hoch: Man geht mittlerweile eher von 3,7 Mil-liarden Euro aus. Sie lügen sich also wieder in die Ta-

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Dr. Claudia Winterstein

sche. Wo bleiben denn hier Haushaltsklarheit und Haus-haltswahrheit, Herr Müntefering?

(Beifall bei der FDP)

Es geht hier aber auch um ein grundsätzliches Pro-blem: Mit dem Aussteuerungsbetrag bereichert sich derBund unzulässig aus Beitragsgeldern.

(Beifall bei der FDP)

Forderungen, den Aussteuerungsbeitrag auch noch zuerhöhen, lehnt die FDP deshalb eindeutig ab, ebenso wieandere Ideen, Beitragsgelder einfach in den Bundeshaus-halt umzuleiten.

Damit meine ich zum Beispiel die Debatte über dieVerwendung der Überschüsse der Bundesagentur.

(Beifall bei der FDP)

Diese Gelder dürfen nicht zur Haushaltskonsolidierunggenutzt werden. Die Bundesagentur hat völlig Recht,wenn sie hier mit Klage droht. Die Mittel der Bundes-agentur stammen aus den Beiträgen der Versicherten undder Arbeitgeber. Von diesem Geld hat der Bund die Fin-ger zu lassen!

(Beifall bei der FDP)

Wenn die Bundesagentur Überschüsse erwirtschaftet,müssen diese Mittel den Beitragszahlern zurückgegebenwerden, also muss der Beitragssatz gesenkt werden, umso Arbeitgeber und Arbeitnehmer direkt zu entlasten.

Nun hat die Bundesagentur für 2006 einen Über-schuss von etwa 9 Milliarden Euro zu erwarten. Mit die-sem Polster kann sie für 2007 die Senkung des Beitragszur Arbeitslosenversicherung von 6,5 auf 4,5 Prozentabsichern. Ein Großteil dieses Überschusses fließt alsorichtigerweise in die Senkung des Beitragssatzes. Ausder Sicht der FDP muss das aber für den gesamten Über-schuss gelten. Er muss für die Senkung des Beitragssat-zes genutzt werden, für nichts anderes.

(Beifall bei der FDP – Klaus Brandner [SPD]: Worüber reden Sie eigentlich?)

Leider wird das in der Koalition nicht mit der notwendi-gen Klarheit gesehen. Der Kollege Schneider von derSPD zum Beispiel hat bei der Veröffentlichung derneuen Zahlen gleich erklärt, es käme jetzt darauf an, die-sen Überschuss der Bundesagentur in den Bundeshaus-halt zu überführen. Herr Schneider, auch als Haushälterdürfen Sie sich nicht so weit vergessen, Beitragsmitteleinfach in die Taschen des Staates umzuleiten.

(Zuruf von der FDP: Sehr richtig!)

Nächster Punkt: Arbeitsmarkt. Die Zahlen sind einwenig besser geworden – das freut uns alle –, allerdingsfürchten die Sachverständigen, dass diese erfreulicheEntwicklung gleich im nächsten Jahr durch Mehrwert-steuererhöhung und Konjunktureinbruch wieder ge-stoppt wird. Jedenfalls sind die leichten Verbesserungenkein Grund, sich auszuruhen. Wo sind also die notwendi-gen Reformen des Arbeitsmarktes? Fehlanzeige, in je-der Hinsicht! Die große Koalition glänzt hier durchNichtstun.

Beim Kündigungsschutz distanziert sich die Koali-tion inzwischen sogar von ihrem eigenen Koalitionsver-trag: Die SPD will ohnehin überhaupt keine Reform, unddie Union hat inzwischen eingesehen, dass das, was imKoalitionsvertrag steht, weniger statt mehr Flexibilitätbringen würde, und will diese Verschlimmbesserung nunauch nicht mehr.

Stattdessen gerät die Regierung immer weiter auf dieschiefe Bahn einer Debatte über einen generellen Min-destlohn. Gerade hat das Kabinett die Ausweitung desEntsendegesetzes auf die Gebäudereiniger beschlossen.Der nächste Versuch, das Entsendegesetz auszuweiten,wird sicher nicht lange auf sich warten lassen. MinisterMüntefering hat seine Zielrichtung ja ganz offen präsen-tiert. Er hat gesagt:

Da muss man jetzt versuchen, das Feld Zug um Zugaufzurollen.

Er will also ein Entsendegesetz für alle Branchen, einenlückenlosen Mindestlohn. Ich kann hier nur wiederho-len: Ein Mindestlohn ist maximaler Unsinn: Entweder ister zu niedrig – dann ist er wirkungslos – oder er ist zuhoch – dann vernichtet er Arbeitsplätze.

(Beifall bei der FDP)

Herr Minister, das Fazit ist für mich klar: Ihr Haus-haltsentwurf enthält die größten Risiken für den Gesamt-haushalt. Dabei müsste Ihr Hauhalt als der größte Ein-zeletat gerade mit besonderer Sorgfalt gestaltet sein.Leider ist das Gegenteil der Fall.

Danke.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Ronald Pofalla von der

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ronald Pofalla (CDU/CSU): Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kol-

leginnen und Kollegen! Seit einem Dreivierteljahr führtAngela Merkel die neue Bundesregierung. Ich finde, dieDebatte zu diesem Haushalt gibt Anlass, deutlich zu sa-gen, dass die Zwischenbilanz auf dem Arbeitsmarktlautet: Deutschland hat die Trendwende geschafft.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Nach langer, langer Zeit sind die Fakten wieder positiv.Zum ersten Mal seit fünf Jahren, also seit 60 Monaten,steigt die Zahl der sozialversicherungspflichtigenBeschäftigungsverhältnisse wieder an. 60-mal hat Nürn-berg mitgeteilt, dass es immer weniger sozialversiche-rungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse gibt. Nunverzeichnen wir bereits drei Monate hintereinander wie-der einen Anstieg. 128 000 sozialversicherungspflichtigeBeschäftigungsverhältnisse mehr als vor einem Jahr sindnach meiner festen Überzeugung ein außerordentlichpositives Signal, das wir auch entsprechend zur Kenntnisnehmen sollten.

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Ronald Pofalla

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Daneben gibt es eine weitere Entwicklung, nämlichbei der Anzahl der Erwerbstätigen. In diesem Bereichhaben wir den dritthöchsten Stand im Nachkriegs-deutschland erreicht. Durch diese Entwicklung wirdebenfalls deutlich, dass sich in den letzten Wochen undMonaten auf dem Arbeitsmarkt Beachtliches veränderthat. Verglichen mit dem August des Vorjahres haben wirin Deutschland 430 000 Arbeitslose weniger. Das ist einecht positives Signal für den Arbeitsmarkt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Diese Verbesserungen sind aber nicht vom Himmelgefallen. Die Abschaffung der Ich-AG ist in Kraft; hiergibt es endlich ein solides und Erfolg versprechendesFörderkonzept. Die Personal-Service-Agenturen sindvon der Bildfläche verschwunden, weil sie ineffizientwaren und staatliche Gelder verschleudert haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Bei Hartz IV haben wir als große Koalition, wie ichfinde, eine grundlegende Kurskorrektur vorgenommen.Dass wir die Einstandspflicht der Eltern für ihre Kinderwieder eingeführt haben, war ein erster richtiger Schritt.Damit sind nach Auffassung der CDU/CSU-Bundestags-fraktion alte Fehler korrigiert worden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Daneben haben wir gemeinsam verabredet, die Unter-nehmen am Standort Deutschland zu stärken und umüber 5 Milliarden Euro zu entlasten. Das zeigt: Es wurdeviel getan.

Es bleibt aber auch noch viel zu tun. Zur Zwischenbi-lanz gehört deshalb auch die Aussage, dass wir den Kursweiter halten müssen. Nach meiner Überzeugung müs-sen wir das Tempo an verschiedenen Stellen sogar erhö-hen; denn die Herausforderungen sind nach wie vor groß– hier dürfen wir uns nicht täuschen –, weil uns die Zah-len am Arbeitsmarkt noch nicht zufrieden stellen kön-nen.

Wir haben nach wie vor über 4 Millionen Arbeitslose.Diesen 4 Millionen Arbeitslosen stehen gerade einmal600 000 offene Stellen gegenüber. Über 1 Million Bür-ger sind ein Jahr oder länger arbeitslos. Fast doppelt soviele sind ohne jede berufliche Bildung. Rund80 000 Jugendliche – diese Zahl finde ich besonders be-drückend – verlassen Jahr für Jahr unsere Schulen ohneAbschluss. Diese Zahlen zeigen, dass es heute für Mil-lionen Menschen heißt: passive Stütze statt beruflicherPerspektive. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist derAuffassung, dass sich das in Deutschland in den nächs-ten Monaten ändern muss.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Durch die zitierten Fakten werden aber nicht nur dieHerausforderungen beschrieben, vor denen wir stehen.Sie sind auch der Weckruf für all diejenigen, die sichnach wie vor für einen Mindestlohn aussprechen. Ich

danke daher Franz Müntefering, dass er bereits auf demDGB-Bundeskongress im Mai 2006 klare Worte gegenden gesetzlichen Mindestlohn gefunden hat.

(Andrea Nahles [SPD]: Freuen Sie sich nicht zu früh, Herr Pofalla!)

Er hat sich nicht nur auf dem DGB-Bundeskongress ent-sprechend aufgestellt, Frau Nahles, sondern er hat auchdie Kraft besessen, die unfreundlichen Reaktionen aufdem DGB-Bundeskongress hinzunehmen und dennochdie, wie ich finde, glasklare und richtige Position zu ver-treten, dass ein gesetzlicher Mindestlohn mit dieser gro-ßen Koalition in dieser Legislaturperiode nicht zu ma-chen ist. Herzlichen Dank an Franz Müntefering!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg.Waltraud Lehn [SPD] – Beifall bei derFDP)

Die Wirklichkeit sieht doch folgendermaßen aus:Wenn wir in Deutschland einen gesetzlichen Mindest-lohn einführen würden, würden wir Hunderttausendevon Arbeitsplätzen vernichten, weil hier – Gott seiDank – immerhin mehr als 1 Million Menschen imNiedriglohnbereich arbeiten. Von daher ist für uns alsCDU/CSU-Bundestagsfraktion klar: Für uns ist ein ge-setzlicher Mindestlohn völlig inakzeptabel. Diejenigen,die diese Forderung weiterhin aufstellen, werden sich anuns die Zähne ausbeißen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Diese klare Position der Union wird auch im aktuellenGutachten des Sachverständigenrates bestätigt.

Die Kernbotschaften des neuen Gutachtens des Sach-verständigenrates lauten:

Erstens. Der Weg in den Mindestlohn ist falsch. – Fürunsere Fraktion kann ich nur sagen: Dem stimmen wirzu.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zweitens. Der Weg über den Kombilohn ist richtig. –Dem stimmen wir ebenfalls zu.

Drittens spricht sich der Sachverständigenrat in demGutachten, das morgen der Öffentlichkeit vorgestelltwerden wird, für echte Strukturreformen am Arbeits-markt aus; darauf lege ich für die CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion großen Wert. Der Sachverständigenratmacht, wie ich finde, zu Recht deutlich, dass wir diestrukturelle Arbeitslosigkeit in Deutschland nur dannwirksam werden bekämpfen können, wenn wir grundle-gende Strukturreformen am Arbeitsmarkt vornehmen.Auch an dieser Stelle gibt es Zustimmung vonseiten derCDU/CSU-Bundestagsfraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich empfehle allen, die das Gutachten des Sachver-ständigenrates vorschnell mit einer Fundamentalkritiküberzogen haben, sich die Details dieses Gutachtens an-zusehen. Es ist vernünftig, allen Arbeitslosen ein Ar-beitsangebot zu unterbreiten. Genau das haben wir fürdie Jugendlichen bereits gemeinsam beschlossen. Es ist

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Ronald Pofalla

richtig, dass denjenigen, die ein Arbeitsangebot ableh-nen, die Sozialleistungen deutlich gekürzt werden. DiesePosition haben wir vonseiten der CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion schon immer vertreten.

Es entspricht genau unserer Philosophie, dezentral zuentscheiden. Der Sachverständigenrat hat in seinem Gut-achten vorgeschlagen – diese Position haben wir alsUnionsfraktion schon seit mehreren Jahren vertreten –,dass der eigentliche Kernbereich des Arbeitsmarktes vorallem für die Langzeitarbeitslosen und für die Gering-qualifizierten von den Kommunen organisiert werdensoll. So gesehen ist dies ein bemerkenswertes Gutachten,das wir uns vonseiten der CDU/CSU-Bundestagsfrak-tion noch einmal ansehen werden, um daraus in den Ge-sprächen in der Koalition die richtigen Konsequenzen zuziehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dieses Gutachten ist an einer Stelle falsch wiederge-geben worden. Sie alle haben in den Zeitungen gelesen,dass der Sachverständigenrat beim Arbeitslosengeld IIeine generelle Kürzung von 30 Prozent vorschlägt. Indem Gutachten steht, dass allen Arbeitsfähigen inDeutschland ein Arbeitsangebot unterbreitet werden sollund dass denen, die dann dieses Arbeitsangebot nicht an-nehmen, 30 Prozent der Leistungen gekürzt werden sol-len. Genau das halten wir vonseiten der Unionsfraktionfür richtig.

(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Sagen Sie das mal Herrn Müntefering! Er hatgerade etwas anderes erzählt! Sie sollten gele-gentlich mit dem Minister reden!)

Unser gemeinsames Ziel ist: Wir wollen die Trend-wende auf dem Arbeitsmarkt verstetigen. – Dass Sie,Herr Kuhn, als jemand, der in der vergangenen Regie-rungskoalition auch für das Thema Arbeitsmarkt zustän-dig war, dazwischenreden, wundert mich.

(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Ministerschelte war das!)

Wenn zu Ihrer Regierungszeit die Daten, die ich geradegenannt habe – 430 000 weniger Arbeitslose und130 000 neue sozialversicherungspflichtige Beschäfti-gungsverhältnisse –, so gewesen wären,

(Waltraud Lehn [SPD]: Das kommt nicht von heute auf morgen!)

dann hätten Sie doch vonseiten der Grünen in Deutsch-land Freudenfeste organisiert. Deshalb sollten Sie andieser Stelle besser schweigen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die große Koalition wird im Herbst verschiedeneProjekte angehen müssen. Wir werden ein Kombilohn-modell entwickeln müssen. Für die über 50-Jährigenund für die unter 25-Jährigen haben wir eine gute Grund-lage geschaffen. Auf dieser Grundlage werden wir Ge-ringqualifizierten über 50 Jahren und Geringqualifizier-ten unter 25 Jahren ganz gezielt die Möglichkeit bieten,wieder in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Unser Zielsollte sein, über ein solches Kombilohnmodell in den

nächsten Jahren bis zu 200 000 Menschen wieder in denArbeitsmarkt zu bringen.

Wir werden uns mit dem Bereich aktiver Arbeits-marktpolitik zu befassen haben. Ich sage es glasklar:Die Bundesagentur schlägt selber vor, von den 80 Instru-menten, die ihr zur Verfügung stehen, auf zehn herunter-zugehen, um die verbleibenden Instrumente wirkungs-voller im Arbeitsmarkt einzusetzen. Das entspricht derAbsicht der Unionsfraktion, die Arbeitsmarktinstru-mente so zu bündeln, dass sie endlich Wirkungen im Ar-beitsmarkt zeigen. Dafür werden wir uns einsetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir müssen uns auch mit Optimierungen im Zusam-menhang mit Hartz IV befassen. Es kann nicht sein,dass Arbeitsagenturen bei Arbeitslosen, die sich krank-melden, erst nach sechs Monaten nachforschen, ob sietatsächlich nicht arbeiten können. Es kann nicht sein,dass Vermittler nur in vier von zehn Fällen Hinweisennachgehen, dass ein Langzeitarbeitsloser gegen Aufla-gen verstößt. Es kann nicht sein, dass bei Ausländern inmehr als jedem fünften Fall noch nicht einmal geprüftwird, ob eine deutsche Arbeitserlaubnis vorliegt.

Wir werden über Effizienzsteigerungen bei den Über-prüfungsmechanismen im Zusammenhang mit Hinwei-sen auf Missbrauchsfälle reden müssen,

(Widerspruch bei der LINKEN)

weil die Leistungskraft derer, die diese Kontrollendurchführen, erhöht werden muss. Es geht um Steuergel-der, die für das Arbeitslosengeld II eingesetzt werden.Deshalb muss die Überprüfungspraxis der Bundesagen-tur deutlich verbessert werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir werden auch über den Kündigungsschutz zu re-den haben.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha!)

– Ja. – Werfen Sie mal einen Blick in die Studie derWeltbank, die in den letzten Tagen veröffentlicht wordenist! Danach liegt Deutschland auf Platz 129, hinter Län-dern wie Papua-Neuguinea, Jamaika, Trinidad oderTobago.

(Jörg van Essen [FDP]: Ja, verdammt schlecht!)

Ein zentraler Grund für diesen Platz der BundesrepublikDeutschland – das ist zumindest die Auffassung derCDU/CSU-Bundestagsfraktion – ist der Kündigungs-schutz.

(Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])

Wir brauchen beim Kündigungsschutz weitere deutlicheFlexibilisierungen, wenn wir den Arbeitsmarkt in Bewe-gung bringen wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Ich will noch zwei Bereiche nennen, die über denKoalitionsvertrag hinausgehen, aber über die wir unserer

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Ronald Pofalla

Ansicht nach in der großen Koalition reden sollten. DieBertelsmann-Stiftung veröffentlicht in diesen Tagen ei-nen ersten Entwurf für ein Arbeitsgesetzbuch. ImGrunde wird in allen Analysen, die sich mit dem Ar-beitsmarkt befassen, deutlich, dass die unübersichtlicheAnzahl der Gesetze und Verordnungen sowie die Recht-sprechung im Arbeitsrecht das Ziel richtig erscheinenlassen, in der Bundesrepublik Deutschland ein Arbeits-gesetzbuch zu schaffen.

Wir haben im Einigungsvertrag festgelegt, dass wir inDeutschland ein Arbeitsgesetzbuch schaffen wollen. Wirsind der Auffassung, dass die große Koalition das Ziel inAngriff nehmen sollte, in dieser Legislaturperiode überein Arbeitsgesetzbuch zu beraten und es nach Möglich-keit auch zu verabschieden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der zweite Bereich ist die Arbeitnehmerbeteiligung.Der Bundespräsident hat zu Beginn des Jahres angeregt,dass wir uns mit der Frage der Arbeitnehmerbeteiligungbefassen sollten. Die Bundes-CDU hat Anfang des Jah-res eine Kommission unter Leitung von Karl-JosefLaumann eingesetzt, die jetzt ihre Ergebnisse veröffent-licht hat. Aus diesen Ergebnissen wird deutlich, dass wirsehr wohl die Chance haben, Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer stärker an den Erträgen und am Kapitalder Unternehmen zu beteiligen.

Wir sind der Auffassung, dass die große Koalition imVerlauf dieser Legislaturperiode auch das Ziel in Angriffnehmen sollte, sich mit der Frage der Verbesserung derArbeitnehmerbeteiligung zu befassen; denn wir sind derfesten Überzeugung, dass ein zusätzliches Standbein fürdie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geschaffenwerden kann, indem sie am Produktivvermögen der Un-ternehmen in Deutschland beteiligt werden. Wir jeden-falls wollen dieses Ziel in Angriff nehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Erlauben Sie mir eine abschließende Anmerkung zuden Überschüssen der Bundesagentur. Ich bin demBundesarbeitsminister außerordentlich dankbar, dass ergerade so deutlich Stellung bezogen hat. Um es klar zusagen: Auf der Basis eines Überschusses in Höhe von8,8 Milliarden Euro fehlten uns in den Jahren 2007,2008 und 2009 lediglich 1,2 Milliarden Euro pro Jahr,um eine zusätzliche Senkung des Arbeitslosenversiche-rungsbeitrags um 0,5 Prozentpunkte sicherzustellen. Ichfinde, dass wir uns im kommenden Herbst die Zahlengenau ansehen sollten; denn möglicherweise fällt derÜberschuss der Bundesagentur für Arbeit höher aus als8,8 Milliarden Euro. Aber selbst wenn es dabei bleibt:Wir geben in Deutschland 15 Milliarden Euro für Ar-beitsmarktinstrumente aus. Diese große Koalition solltedaher, wenn der Überschuss der Bundesagentur für Ar-beit nicht ausreicht, den Arbeitslosenversicherungsbei-trag zusätzlich um 0,5 Prozentpunkte zu senken, –

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Pofalla, denken Sie an die Zeit.

Ronald Pofalla (CDU/CSU): – darüber nachdenken, woher die für diese Senkung

benötigte 1 Milliarde Euro kommen soll. Dazu solltediese Koalition eigentlich die Kraft haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Wir, die Unionsfraktion, sprechen uns jedenfalls für eineSenkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags auf4 Prozent aus.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Minister für Arbeit, Bau und

Landesentwicklung des Landes Mecklenburg-Vorpom-mern, Helmut Holter.

(Beifall bei der LINKEN – Dirk Niebel [FDP]: Es scheint Wahlkampf zu sein!)

Helmut Holter, Minister (Mecklenburg-Vorpom-mern):

Stimmt, Herr Niebel, es ist auch Wahlkampf. – Sehrgeehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehrgeehrter Herr Pofalla, Ihre Botschaft, dass eine Trend-wende am Arbeitsmarkt eingetreten sei, nehmen dieMenschen im Lande so nicht wahr.

(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das ist in Mecklenburg-Vorpommern auch nicht so!)

Sie nehmen vielmehr zwei Dinge wahr, die in den letztenTagen von Berlin aus verbreitet wurden:

Erstens. Die Bundesagentur für Arbeit hat einen gro-ßen Überschuss. Aber sie bzw. die Arbeitsgemeinschaf-ten sind nicht in der Lage, weitere arbeitsmarktpolitischeMaßnahmen zu genehmigen, weil das Geld fehlt. Dasverstehen die Bürgerinnen und Bürger nicht, genausowenig wie ich.

(Beifall bei der LINKEN)

Zweitens. Der Sachverständigenrat hat – ich bin Ih-nen dankbar, Herr Müntefering, dass Sie das klargestellthaben – eine Senkung des Arbeitslosengeldes II um30 Prozent empfohlen. Das hat nichts mit dem Wahl-kampf in Mecklenburg-Vorpommern zu tun, sondern da-mit, dass dies den Unmut breiter Schichten der Bevölke-rung hervorruft, und zwar nicht nur derjenigen, die vomArbeitslosengeld II leben müssen.

(Beifall bei der LINKEN)

Dass dem so ist, will ich Ihnen an einem Beispiel zei-gen. Sie kennen sicherlich nicht Dirk Susemihl. Er ist je-denfalls ein Mecklenburger, der als Koch in großen Ho-tels und auf Kreuzfahrtschiffen gearbeitet hat und nunArbeitslosengeld II empfängt und vergeblich Arbeitsucht. Er schreibt Bewerbungen, erhält aber nur Absa-gen. Er gibt nicht auf und wendet sich an einen privatenVermittler. Dieser sagt ihm: Bring mir einen Vermitt-lungsgutschein; dann habe ich einen Job für dich. Die

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Minister Helmut Holter (Mecklenburg-Vorpommern)

Arbeitsagentur erklärt hingegen: Du kannst keinen Ver-mittlungsgutschein bekommen, weil kein Geld da ist. –Solche Widersprüche müssen aufgelöst werden. MeineHeimatzeitung, die „Schweriner Volkszeitung“, hat dasEnde August unter der Überschrift „Arbeitsamt blockiertJobs“ dokumentiert. Das ist dort nachzulesen. Das ist ei-gentlich ein riesengroßer Skandal.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN])

Ich rede nicht über diejenigen, die nach Arbeit lech-zen, sondern über diejenigen, die ein Arbeitsangebot ha-ben, dieses aber nicht annehmen können, weil einigeEuro fehlen, um einen Vermittlungsgutschein oder einenBildungsgutschein auszustellen. Dirk Susemihl ist keinEinzelfall. Ich könnte Ihnen über viele ähnlich gelagerteFälle in Mecklenburg-Vorpommern berichten. So ent-steht der Eindruck: Die in Berlin veralbern uns im Land.Damit muss meines Erachtens Schluss gemacht werden.Über Alternativen darf nicht nur diskutiert werden. Viel-mehr müssen auch welche angepackt werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich rede im Moment noch nicht einmal über die Lang-zeitarbeitslosen, sondern über die Mitarbeiterinnen undMitarbeiter der Arbeitsgemeinschaften, die ebenfallsaufgebracht sind, weil sie mit den politischen Entschei-dungen nicht umgehen können. Was bedeutet es denn,230 Millionen Euro von 1,1 Milliarden Euro, die zuvorgesperrt wurden und den Arbeitslosen nicht zugute kom-men, freizugeben? Das ist nur ein Tropfen auf den hei-ßen Stein, um nun all die Maßnahmen, die schon langevorbereitet wurden, in Gang zu setzen. Ich fordere Sieauf: Geben Sie den Rest der 1,1 Milliarden Euro eben-falls frei, damit die Langzeitarbeitslosen endlich in denGenuss von arbeitspolitischen Maßnahmen kommen!

(Beifall bei der LINKEN)

Ich habe den Eindruck – schließlich geht es um eineHaushaltsdebatte –, dass Sie Arbeitsmarktpolitik unterhaushälterischen Gesichtspunkten betreiben und nichtaus Sicht der Betroffenen, die das Geld bitter nötig ha-ben.

(Beifall bei der LINKEN)

Das ist irgendwie wie beim Autofahren: Einmal wird ge-bremst, ein anderes Mal Gas gegeben. Einmal sperrenSie, ein anderes Mal geben Sie frei.

Jeder, der schon einmal mit einem solchen Fahrer ge-fahren ist, weiß: Das schlägt mächtig auf den Magen.Mit einem solchen Stil sollte Schluss gemacht werden.2006 sollte das Desaster sein Ende finden, damit Pla-nungssicherheit für die Arbeitsgemeinschaften, die Pro-jektträger, die Beschäftigungsgesellschaften und für alldiejenigen Langzeitarbeitslosen, die in solchen Projek-ten arbeiten wollen, gewährleistet ist; denn das Ar-beitsangebot, von dem Herr Pofalla gerade gesprochenhat, ist in strukturschwachen Regionen gar nicht so vor-handen. Auch das gehört zur Wahrheit.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich will mich dem Einzelplan 11 zuwenden. Ihnen,Herr Müntefering – davon bin ich überzeugt –, wird esnicht gelingen, mit diesem Einzelplan Ihre Glaubwür-digkeit zu stärken. Es wurde bereits gesagt: Der Aus-steuerungsbetrag soll um 27,5 Prozent erhöht werden.Das heißt, Sie gehen davon aus, dass mehr Arbeitsloseaus dem Arbeitslosengeld I in das Arbeitslosengeld IIwechseln werden. Was für eine Politik ist das? Sie pla-nen von vornherein ein, dass die Langzeitarbeitslosigkeitin Deutschland zunehmen wird.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Unglaublich!)

Im Übrigen kenne ich keine Versicherung in Deutsch-land, die die Gelder, die die Versicherten aufgebracht ha-ben, für andere Zwecke als die der Versicherten verwen-den will.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich verstehe absolut nicht, warum von der Arbeitslosen-versicherung ein Aussteuerungsbetrag an den Bund ge-zahlt werden soll. Dieses Geld, nicht nur der Über-schuss, muss den Versicherten zugute kommen. Siehaben es bitter nötig. Ich bitte Sie daher, dieses Prinzipnoch einmal grundlegend zu überdenken.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie wollen aber auch die Mittel für dasArbeitslosengeld II um 3 Milliarden Euro und die Betei-ligung des Bundes an den Kosten der Unterkunft um1,6 Milliarden Euro kürzen. Sie planen also, die Kom-munen stärker zur Kasse zu bitten, obwohl bei diesenwirklich nichts mehr zu holen ist. Ich weiß nicht, in wel-che Taschen Sie da greifen wollen. Auf der anderenSeite wollen Sie die Leistungen für die Langzeitarbeits-losen kürzen.

Es ist richtig, dass Sie mit 6,5 Milliarden Euro30 Millionen Euro mehr für Leistungen zur Eingliede-rung in Arbeit bereitstellen. Gleichzeitig planen Sie abervon vornherein 1 Milliarde Euro für Mehrausgaben beimArbeitslosengeld II ein. Sie wollen also Mittel für diepassiven Leistungen vom Mittelansatz für die aktivenLeistungen abzweigen. Wir brauchen das Geld aber fürdie aktiven Leistungen. Sie betreiben ein reines Hin- undHergeschiebe. Ich fordere Sie auf: Machen Sie damitSchluss! Sorgen Sie dafür, dass eine klare Haushaltspla-nung zur Verfügung steht und ausreichend Geld für ar-beitsmarktpolitische Maßnahmen vorhanden ist! FassenSie neuen Mut und leiten Sie eine Wende in der Arbeits-markt- und Beschäftigungspolitik in Deutschland ein!

(Beifall bei der LINKEN)

Einige von Ihnen, vielleicht alle, wissen, dass ichdiese Wende schon seit Jahren gefordert habe, speziellfür den Osten. Inzwischen ist Langzeitarbeitslosigkeitaber nicht nur ein Thema in den neuen Ländern; es stehtin der gesamten Bundesrepublik auf der Tagesordnung.Deswegen stellt sich eine große Frage: Was machen wirmit all denen, die keine Chance auf Vermittlung in regu-läre Arbeitsverhältnisse haben? Ich bin bereit, über alleModelle zu diskutieren; das ist sicherlich bekannt. Abersollen diejenigen, die die Chance auf Vermittlung nicht

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Minister Helmut Holter (Mecklenburg-Vorpommern)

haben, dauerhaft von Hartz IV, von 345 Euro, leben?Können Sie sich das vorstellen? Schließen Sie Ihre Kon-ten, geben Sie mir alle Ihre Scheckkarten; Sie erhaltenIhre Miete und die Kosten für Telefon, Wasser undLicht. Nehmen Sie 345 Euro und versuchen Sie, ohneEmpfänge und irgendwelche Einladungen einen Monatdurchzukommen. Ich garantiere Ihnen: Am 10. des Mo-nats werden Sie um einen Notgroschen bitten. Sie wer-den mit 345 Euro nicht klarkommen.

(Beifall bei der LINKEN)

Deswegen müssen wir über andere Wege reden.

Wir müssen über sozialversicherungspflichtige Be-schäftigungsverhältnisse reden, auch über die, die durchöffentliche Kassen unterstützt werden. Ich rede ganz be-wusst vom öffentlich geförderten Beschäftigungs-sektor. Damit stehe ich nicht alleine. Der DGB fordertdies, in der Bundesagentur für Arbeit wird darüber ge-sprochen, auch beim Bündnis 90/Die Grünen. Es istauch ein Thema im Ombudsrat. Kurt Biedenkopf istnicht linksparteiverdächtig, er gehört der CDU an. Will-kommen an Bord!

Es gibt inzwischen viele, die über öffentlich geför-derte Beschäftigung in Deutschland reden. Ich stelle ei-nen Stimmungswandel bei all denen fest, die sich ehrlichund ernsthaft mit Arbeitslosigkeit in Deutschland aus-einander setzen. Es gibt keinen anderen Weg, als eine so-zialversicherungspflichtige Beschäftigung anzubieten,die mit Steuermitteln finanziert wird. Die Langzeitar-beitslosen – das ist hinreichend bekannt – nehmen zwargern einen 1-Euro-Job an. Das ist aber so etwas Ähnli-ches wie ein Freigang aus dem Gefängnis Arbeitslosig-keit, in dem sich die Langzeitarbeitslosen unverschuldetbefinden. – Es ist wie mit dem Wetter, Herr Pofalla: Esgibt die gefühlte und die gemessene Temperatur. DieStatistik ist das eine, das wirkliche Leben ist das andere.Wir müssen dazu beitragen, dass sich die Gefühlsweltder Menschen verändert.

(Beifall bei der LINKEN)

Es ist bereits angesprochen worden, dass wir uns imWahlkampf befinden. Es gibt nicht nur Umfragen zumWahlverhalten in Mecklenburg-Vorpommern und in Ber-lin, sondern es wird auch gefragt, was das größte Pro-blem für die Menschen ist. Ich bin nun der dienstältesteArbeitsminister in Deutschland und bin in dem Land mitder höchsten Arbeitslosigkeit.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das spricht nicht für Sie!)

– Warten Sie einmal ab! Ich komme noch dazu, keineSorge. – Deswegen, meine Damen und Herren von derFDP und der CDU/CSU, rede ich über alternative Wegeaus der Arbeitslosigkeit; denn all das, was bisher gelau-fen ist, zeigt keine Wege aus der Arbeitslosigkeit. Mei-ner Auffassung nach – das bestätigen die Umfragen – istdie Arbeitslosigkeit das größte Problem. Dann kommterst einmal eine ganze Zeit gar nichts, dann folgen Ab-wanderung, Unsicherheit, Umweltschäden und andereDinge, die eher als marginal erachtet werden können.

Deswegen geht es darum, Alternativen nicht nur zu dis-kutieren, sondern auch umzusetzen.

Ich fordere Herrn Müntefering auf, Mut zu haben.Wir beide hatten Gelegenheit, darüber zu diskutieren.Wir haben eine inhaltliche Nähe in den Fragen, was manmachen muss, festgestellt.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr interessant!)

– Ich habe auch zu meinen Kollegen von der CDU/CSUin manchen Fragen eine inhaltliche Nähe. Das ist garnicht mein Problem. Ihr Problem, Herr Niebel, ist, dassSie Alternativen durch die parteipolitische Brille begut-achten. Das bringt den Arbeitslosen doch überhauptnichts.

(Beifall bei der LINKEN)

Es stellt sich die Frage, ob es ausreichend gemeinnüt-zige Tätigkeiten im Lande gibt, um all diejenigen, diearbeiten können und arbeiten wollen, in Arbeit zu brin-gen. Es mangelt doch nicht an der Marktfähigkeit derArbeitslosen, sondern es fehlt an fähigen Arbeitsmärk-ten. Es ist die Aufgabe der Politik, solche Arbeitsmärktezu organisieren, damit die Menschen eine Chance aufArbeit haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich stelle ein Umdenken fest, nicht nur im linken Lager,sondern auch in anderen Bereichen. Ich hoffe, dass wirgemeinsam an einem Strang ziehen können.

Axel Troost, jetzt Abgeordneter hier im DeutschenBundestag, ist einer der Väter der gemeinwohlorientier-ten Arbeitsförderprojekte in Mecklenburg-Vorpom-mern. Kornelia Möller, die arbeitsmarktpolitische Spre-cherin der Linksfraktion, hat mit ihm gemeinsam einenAntrag zur öffentlich finanzierten Beschäftigung ge-schrieben. Ich unterstütze diesen Antrag und ich bitteSie: Legen Sie die parteipolitische Brille ab und prüfenSie den Antrag – Herr Andres, wir beide hatten Gelegen-heit, viel über diese Fragen zu diskutieren – auf dieMachbarkeit hin! Überwinden Sie die ideologischen undordnungspolitischen Schranken! Es ist nicht zuerst eineFrage des Geldes, sondern eine Frage des politischenWillens, ob ein solcher Weg gegangen werden kann odernicht. Ich fordere Sie auf, diesen Weg zu gehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben in Mecklenburg-Vorpommern die Rechteder Betroffenen gestärkt. Wir haben regionalisiert, wirhaben Regionalbeiräte gebildet und haben den Betroffe-nen Sitz und Stimme bei der Vergabe von Fördermittelngegeben. Das ist kein Plädoyer für Kommunalisierung.Da unterscheiden wir uns deutlich von der CDU/CSU.Es geht vielmehr um die Demokratisierung der Entschei-dung.

(Beifall bei der LINKEN)

Es geht darum, dass die Betroffenen mitmachen können.Ich meine, unsere Republik braucht eine stärkere Demo-kratisierung der Arbeitsmarktpolitik.

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Minister Helmut Holter (Mecklenburg-Vorpommern)

Nun, meine Damen und Herren von der FDP und derCDU/CSU, gehört es nach meiner Auffassung zu denLebenslügen in Deutschland, dass die Massenarbeitslo-sigkeit konjunkturell bedingt ist und mit den herkömmli-chen Instrumenten wirkungsvoll zu bekämpfen ist.Selbst wenn ihre Zahl von 80 auf zehn reduziert wird, esbleibt bei den herkömmlichen Instrumenten. Einige da-von sind gut; die lehne ich nicht ab. Die Experten sagenfür Mecklenburg-Vorpommern voraus, dass nur einebzw. einer von zwei Arbeitslosen wieder eine Stelle aufdem regulären Arbeitsmarkt finden wird. Für Zehntau-sende oder gar Hunderttausende in der Bundesrepublikist der Zug längst abgefahren. Die Arbeitsmarktforschersagen, dass in den nächsten 15 Jahren in Ostdeutschlandeine weitere Million Arbeitsplätze wegfallen wird. Des-wegen bin ich der Überzeugung, dass an der öffentlichfinanzierten Beschäftigung kein Weg vorbeiführt. Las-sen Sie uns gemeinsam diesen Weg gehen. Es gibt genugArbeit, die ein Unternehmen, das nach privatwirtschaft-lichen Prinzipien arbeitet, überhaupt nicht machen kannund auch nicht machen soll; wir müssen da differenzie-ren. Es ist wichtig, dass über gemeinnützige Tätigkeitenein Beitrag zur Strukturentwicklung geleistet wird. Las-sen Sie uns dazu die Mittel aus Brüssel, Berlin, Nürn-berg, den Ländern und den Kommunen bündeln, damitdieser Weg eröffnet werden kann. Dann stellt sich dieFrage nach den Finanzen nicht mehr, dann ist die Finan-zierung gesichert.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich bin der Überzeugung – schauen wir nach Schwe-den –, dass wir in Skandinavien sehen können, wie derWeg zur öffentlich finanzierten Beschäftigung aussieht.Lassen Sie die Bremse los! Ich bitte Sie: Ziehen Sie Leh-ren aus Hartz IV, aber nicht in der Richtung, die ich ein-gangs kurz geschildert habe, die zurzeit in Deutschland,konkret auch in Mecklenburg-Vorpommern, diskutiertwird. Sie gehen einen Irrweg. Wir brauchen uns überRechtsextremismus und über gute Wahlergebnisse derNPD nicht zu wundern, wenn Sie diesen Weg weiter be-schreiten.

(Beifall bei der LINKEN)

Deswegen fordere ich Sie zur Umkehr auf. Machen Sieeine Arbeitslosen- und Beschäftigungspolitik für dieMenschen, mit den Menschen und nicht gegen sie. Dassdas bisher nicht geschieht, genau das spüren die Men-schen in Mecklenburg-Vorpommern und in ganzDeutschland.

Ich bitte Sie, sich ein Herz zu fassen, Mut zu haben,ordnungspolitisch-ideologische Schranken zu überwin-den und den Weg hin zu mehr öffentlich geförderter Be-schäftigung zu gehen. Das ist ein Gebot der Vernunft.Die Menschen im Lande sind auf diese Vernunft ange-wiesen, damit sie ein Leben in Würde führen können, einLeben, in dem sie durch ihrer Hände Arbeit ihren Le-bensunterhalt verdienen können. Nur eine Politik, diedarauf abzielt, ist eine wirkliche Arbeitsmarktpolitik.Die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern und inganz Deutschland haben sie bitter nötig.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer vom

Bündnis 90/Die Grünen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Holter, jetzt haben wir den Wahlkampfteil hinter uns undjetzt können wir uns wieder der Auseinandersetzungüber die Arbeitsmarktpolitik zuwenden.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU –Widerspruch bei der LINKEN)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, es istrichtig: Der Arbeitsmarkt profitiert derzeit tatsächlichvon dem konjunkturellen Aufschwung. Ich will hierdeutlich sagen: Das freut uns alle sehr. Aber 4,3 Millio-nen Arbeitslose und mehr sind wirklich kein Grund, sichhier gegenseitig auf die Schultern zu klopfen und zu fei-ern, wie es sich vonseiten der großen Koalition angedeu-tet hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Belebung auf dem Arbeitsmarkt kommt dochausschließlich denjenigen zugute, die erst seit kurzerZeit arbeitslos sind. Die wirklichen Problemgruppen aufdem Arbeitsmarkt, die Langzeitarbeitslosen, profitierendavon in keiner Weise.

Zusätzlich ist der Anteil an Ausbildungsplätzen nocheinmal um 2 Prozent zurückgegangen. Herr Müntefe-ring, Sie reagieren auf den öffentlichen Druck, indemSie die Anzahl der Plätze des EQJ-Programms ein wenigerhöhen. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Gut, dass Sieüberhaupt etwas tun; aber das ist zu wenig. Die Dimen-sion dieses Problems und die Dimension Ihrer Lösungpassen in keiner Weise zusammen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Betrachten wir doch einmal ganz nüchtern die Ursa-chen für diesen Aufschwung. Es fängt bei den Jobs an,die wegen der Fußballweltmeisterschaft zusätzlich ent-standen sind. Weitere Jobs sind durch die Vorzieheffekteaufgrund der anstehenden Mehrwertsteuererhöhung ent-standen. Das Wichtigste ist aber: Dieser Aufschwung istdie erste Dividende der Reformpolitik der rot-grünenRegierung.

(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dieser Aufschwung ist vor allen Dingen nicht das Er-gebnis der aktiven Arbeitsmarktpolitik dieser Regierung.

Herr Pofalla, Sie kommen jetzt daher und tun so, alssei es vor allen Dingen Angela Merkel, die diese Trend-wende herbeigeführt hat. Dazu kann ich wirklich nur sa-gen: Da lacht doch die Koralle.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

4604 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006

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Brigitte Pothmer

Herr Müntefering, Sie sagen: Die Richtung stimmt.Ich frage Sie, welche Richtung eigentlich? Ich glaube,die staunende Öffentlichkeit wäre Ihnen wirklich außer-ordentlich dankbar, wenn Sie das einmal erläutern könn-ten. Hier ist doch in keiner Weise irgendeine klare Rich-tung zu erkennen: in Sachen Mindestlohn, in SachenKombilohn, in Sachen Kündigungsschutz. Sie haben unsdoch gerade vorgeführt, dass Sie in dieser Koalitionnoch nicht einmal in der Lage sind, ein Sachverständi-gengutachten einheitlich zu interpretieren. Herr Pofallasagt: In diesem Sachverständigengutachten steht, dass esgar nicht darum gehe, die Regelsätze flächendeckend zusenken. Herr Müntefering sagt hier: Die Regelsätze wer-den überhaupt nicht gesenkt. Dennoch sagen Sie unshier: Die Richtung stimmt.

Wenn es in dieser Koalition Einigkeit gäbe, dann kä-men wir tatsächlich auch einmal voran. Wenn Sie sich inSachen Mindestlohn verständigen könnten, dann gäbees nicht nur diese Minibewegungen, dann hätten wirdiese Regelung nicht nur auf die Gebäudereiniger, son-dern auch auf die Zeitarbeitsfirmen – sie hatten diesenWunsch – ausgedehnt. Dann wären wir einen Schritt vo-rangekommen.

Herr Müntefering, Sie sagen, jetzt sei es an der Zeit,Druck im Kessel zu machen. Ich habe das Gefühl: IhrDruck im Kessel ist nichts anderes als heiße Luft.

Betrachten wir einmal das Programm für mehr Be-schäftigung Älterer! Ihre Initiative „50 plus“ siehtLohnkostenzuschüsse von 30 bis 50 Prozent vor. HerrMüntefering, das ist geltende Gesetzeslage, und zwarseit 2001. Das Problem besteht aber darin, dass die Re-gelung bisher leider wenig Anwendung gefunden hat,nämlich nur in 8 200 Fällen. Sie behaupten jetzt, dassSie damit 50 000 bis 70 000 Menschen in Arbeit bringenwollen. – So weit zur Seriosität Ihrer Politik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Weiter geht es. In kleinen und mittleren Unternehmensoll die Bundesagentur für Arbeit Weiterbildungskostenübernehmen. Das finden wir richtig. Diese Regelungwollten wir ausdehnen. Das Problem besteht nur darin:Die große Koalition hat beschlossen, diese Regelung auf2006 zu begrenzen.

Nächster Punkt: Entgeltsicherung. Das ist ebenfallsgeltende Gesetzeslage. Herr Müntefering, wenn Sie aufdiese Art Druck im Kessel machen, reicht das nicht ein-mal aus, um das Teewasser heiß zu bekommen.

Betrachten wir noch einmal die Neuregelung zumKündigungsschutz! Dazu hat Herr Pofalla heute nochetwas gesagt. Keiner will sie, nicht die Gewerkschaften,nicht die Wirtschaft. Auch Sie, Herr Müntefering, sagenin öffentlichen Interviews immer wieder, dass die gel-tende Regelung besser ist. Warum, verdammt noch mal,nehmen Sie die Neuregelung dann nicht vom Tisch?

Das Problem besteht eigentlich in der Bunkermentali-tät dieser Regierung. Sie zeichnet sich dadurch aus, dassKoalitionsrunden die Beratung mit der Fachwelt erset-zen. Kritik wird niedergebügelt. Gefundene Kompro-misse werden selbst dann durchgesetzt, wenn alle längst

wissen, dass sie kein Beitrag zur Lösung des Problemssind. Das muss sich ändern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn es in Ihrer Arbeitsmarktpolitik überhaupt Kon-sequenz und eine klare Linie gibt, dann bei der Umwid-mung von Hartz-IV-Regelungen zu einem Teil der Straf-gesetzgebung. Den Druck auf Arbeitslose zu erhöhenund den Kreis der Leistungsempfänger immer weitereinzuschränken, das schafft aber keine Arbeitsplätze.

(Kornelia Möller [DIE LINKE]: Damit habt ihr begonnen!)

Die Formel „Fördern und Fordern“ ist unter Ihrer Regie-rung zu einer hohlen Phrase geworden, die bei den Be-troffenen wirklich nur noch Bitterkeit auslöst.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Da lachtdoch die Koralle!)

Ich frage Sie: Was bleibt denn vom Fördern, wennQualifizierungsprogramme für Erwerbslose immer wei-ter zusammengestrichen werden? Von einer durchgrei-fenden Senkung der Lohnnebenkosten, von der Gering-qualifizierte wirklich profitieren würden, haben Sie sichlängst verabschiedet.

Die Kanzlerin hat uns von der Opposition gesternvorgeworfen, wir hätten keine Alternativen.

(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das ist doch so!)

Für uns trifft das in keiner Weise zu. Unser Modell einerprogressiven Staffelung der Sozialabgaben würde dieEinstellungshürden für Langzeitarbeitslose und Berufs-anfänger tatsächlich senken. Nehmen Sie diese Vor-schläge doch einmal ernst und setzen Sie sich damit aus-einander!

„Mehr Druck im Kessel“, an dieser Stelle stimmt dieFormel – leider, kann ich da nur sagen. Dieser Druckrichtet sich nämlich nicht gegen die Arbeitslosigkeit,sondern gegen die Arbeitslosen. Sie piesacken die Job-suchenden, wo Sie nur können. Aber neue Jobs und Zu-gangschancen für Langzeitarbeitslose im ersten Arbeits-markt entstehen nicht. Wo ist denn Ihr Vorschlag zurSchaffung sozialversicherungspflichtiger Beschäfti-gungsverhältnisse im dritten Sektor? Auch dazu gibt esvon unserer Seite einen Vorschlag. Ich bin gespannt, wieSie darauf reagieren.

Stattdessen konfrontiert uns Ihr Spitzenpersonal inder Sommerpause mit dem gesammelten Mumpitz dergroßen Koalition. Steinbrück fordert Urlaubsverzicht fürArbeitslose. Riester empfiehlt, keine Autos zu kaufen.Söder will den Arbeitslosen Hausarrest erteilen. Tiefen-see will sie als unbewaffnete Busbegleiter auf Streifeschicken. Meinen Sie das, wenn Sie sagen, die Richtungstimme? Nichts für ungut, Herr Müntefering, aber das istdoch einfach unwürdig. Davon sollten Sie sich distanzie-ren, und zwar nachdrücklich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4605

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Brigitte Pothmer

Das Drama der großen Koalition sind nicht wirklichdie widerstreitenden Auffassungen; das gehört zur de-mokratischen Normalität. Aber nicht zu ertragen ist diegeschwätzige Sprachlosigkeit, die diese Regierung unszumutet. Sie sind orientierungslos und versuchen auchnoch, uns diese Orientierungslosigkeit als konzeptionel-len Pragmatismus zu verkaufen.

Herr Müntefering, Sie haben gesagt, Sie wollen nichtan den Wahlversprechen gemessen werden, sondern ander Koalitionsvereinbarung. Soll ich Ihnen mal etwas sa-gen? Die Koalitionsvereinbarung interessiert letztlichkeinen Menschen. Sie werden an der Frage gemessen, obSie einen Beitrag zur Lösung der Probleme in diesemLande bzw. in Ihrem Fall einen Beitrag zur Bekämpfungder Arbeitslosigkeit leisten. Im Moment deutet nichtsdarauf hin, dass Sie in der Lage sind, dem Notstand ab-zuhelfen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Waltraud Lehn von

der SPD-Fraktion.

Waltraud Lehn (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wende

mich zunächst an Minister Holter. Herr Minister, dassSie hier eine parteipolitische und wahlkampforientierteRede halten, ist völlig in Ordnung. Das würde ich Ihnenwirklich nie vorwerfen. Wenn Sie aber in diesem Zusam-menhang alle anderen in diesem Haus aufrufen, ideolo-giefrei zu denken, dann ist das, mit Verlaub, lächerlich.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei der CDU/CSU)

Ich will Ihnen sagen, was ich besonders problema-tisch finde. Sie haben hier ausschließlich Forderungenan den Staat und an den Steuerzahler und die Steuerzah-lerin formuliert. Aber Sie haben nicht ein einziges Maldie Verantwortung der Wirtschaft oder der Unterneh-men, die ebenso für die Schaffung und Erhaltung vonArbeitsplätzen verantwortlich sind, thematisiert. Werhier so fahrlässig eine Rede hält, der disqualifiziert sichan dieser Stelle in ideologischer Hinsicht selbst.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, eine der erfreulichstenBotschaften dieses Sommers ist ohne Frage die positiveEntwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Wir haben es ge-schafft, rund 450 000 Menschen zusätzlich in Arbeit zubringen. Erstmalig ist es auch gelungen, bei der Zahl derLangzeitarbeitslosen einen Abbau zu erreichen. Dasreicht nicht aus; das ist sicherlich zu wenig. Diese Ent-wicklung muss fortgesetzt werden. Dazu ist eine Viel-zahl von Anstrengungen notwendig. Aber es hat sich ge-zeigt, dass es Perspektiven für die Menschen in diesemLand gibt. Wenn wir vor sechs Monaten, einem Jahroder zwei Jahren gesagt hätten, dass wir es schaffenwürden, im Laufe eines Jahres fast 500 000 Menschen

zusätzlich in Arbeit zu bringen, dann hätte die ganze Re-publik Kopf gestanden. Das darf man wirklich nichtkleinreden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Allerdings ist das nichts, was nur mit der neuen Koali-tion zu tun hätte.

(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Doch, doch!)

Daran hat auch die alte Koalition durchaus ihren Anteil;das will ich der Vollständigkeit halber hinzufügen.

(Beifall bei der SPD – Dr. Ralf Brauksiepe[CDU/CSU]: Bisher war es gut, Frau Kolle-gin!)

Wir wollen diese erfolgreiche Entwicklung fortsetzenund wir tun das sehr konsequent. Wir fahren die Ver-schuldung weiter zurück; das ist ein wichtiges Signal.Wir investieren zusätzliche Mittel vor allem in Bildung;auch das ist ein wichtiges Signal. Wir konzentrieren unsauf das Wesentliche. Das bedeutet für die Arbeitsmarkt-politik, dass wir uns weiterhin gezielt für die einsetzen,die unserer besonderen Unterstützung und Hilfe bedür-fen. Das sind die Menschen, die lebensälter sind. DieInitiative „50 plus“, die aufgelegt wurde, wird auf ihreWirkung hin untersucht und ausgebaut werden. Außer-dem richten wir uns mit Angeboten an die jungen Men-schen, die nicht nur eine Perspektive brauchen, sondernsich überhaupt erst einmal an die Anforderungen des Ar-beitsmarktes gewöhnen müssen. All dies setzen wir fort.All dies bauen wir aus. Ich glaube, es ist gut so, dass wirdas tun.

An dieser Stelle möchte ich allerdings auch daraufhinweisen, dass die Unternehmen in einer Zeit, in der esihnen nun wirklich nachweislich und merklich bessergeht, in der Pflicht sind, gerade für die jungen Menschenmehr zu tun.

(Beifall bei der SPD)

Ich finde es schon schlimm, dass die Zahl der Ausbil-dungsplätze zurückgeht. Ich selber habe in diesemSommer erlebt, wie Unternehmer bei der Bundesagenturvor Ort oder den Argen auflaufen und fragen: Was be-komme ich denn, wenn ich einen Auszubildenden ein-stelle? – Die Entwicklung, dass der Staat noch etwas ge-ben muss, damit jemand ausbildet, ist nicht positiv undmuss sehr kritisch hinterfragt werden. Ausbildung musswieder eine Selbstverständlichkeit für jedes Unterneh-men in diesem Land werden.

Auch bei den Arbeitsmarktinstrumenten müssen wirwieder für mehr Klarheit sorgen. Es existiert zurzeit eineVielzahl sehr unterschiedlicher Instrumente. Diese sindunterschiedlich sinnvoll, unterschiedlich wirksam undwerden unterschiedlich genutzt. Wir brauchen dringendeine Konzentration auf geeignete Instrumente und dieWeiterentwicklung sinnvoller Instrumente. Letztlichmuss es darum gehen, bei Fehlentwicklungen gegenzu-steuern und unsinnige Maßnahmen abzuschaffen.

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4606 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006

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Waltraud Lehn

Alles in allem ist der Trend jedoch gut; wir sollten ihnfortsetzen. Ich sage aber auch: Die positiven Nachrich-ten der letzten Monate sollten uns nicht dazu verleiten,uns schon am Ende unseres Weges zu wähnen. EinigeNachrichten der letzten Wochen bereiten mir da durch-aus Sorge:

Mir geht es zunächst um den vom Minister angespro-chenen Überschuss bei der Bundesagentur. An unse-ren Koalitionspartner gerichtet sage ich: Man muss wis-sen, dass rund 4 Milliarden Euro dieses Überschusses– unabhängig davon, ob er nun insgesamt 8 Milliardenoder 9 Milliarden Euro beträgt – nur damit zusammen-hängen, dass es ausnahmsweise 13 Beitragszahlungengegeben hat. Darüber hinaus muss man wissen, dass un-gefähr 6 Milliarden bis 6,5 Milliarden Euro benötigtwerden, um die bereits beschlossene Senkung des Bei-trags zur Arbeitslosenversicherung umzusetzen. Wennnun die Arbeitsagentur jedes Jahr Mittel in einer Grö-ßenordnung von erheblich mehr als 6,5 Milliarden Euroerwirtschaften würde – diese Summe muss die Arbeits-agentur selber erwirtschaften; sonst kann das, was wirbeschlossen haben, gar nicht funktionieren –, dann kannman in der Tat darüber nachdenken, ob und wie man die-sen Überschuss an die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer bzw. die Versicherten weitergibt.

Ein weiteres Problem will ich ansprechen: die Kostender Unterkunft für Arbeitslosengeld-II-Empfänger.Frau Winterstein hat es richtig dargestellt; dieses Pro-blem ist noch nicht vom Tisch. In diesem Zusammen-hang sind 2 Milliarden Euro etatisiert worden. Sie wis-sen: Es wurde ausgehandelt, dass sich der Bund mit29,1 Prozent an diesen Kosten beteiligt. Das Ziel dieserBeteiligung war es, die Kommunen im Zuge der Refor-men um 2,5 Milliarden Euro zu entlasten. Mit weiteren2,5 Milliarden Euro aus Verbesserungen bei der Gewer-besteuer wollte man den Kommunen helfen, mehr Geldvor Ort zu investieren, übrigens gerade in den Ausbauvon Kinderbetreuungseinrichtungen.

Voraussetzung war und ist, dass die Länder zu einervollen Weitergabe der Entlastungsbeträge an die Kom-munen bereit sind. Das ist inzwischen überwiegend derFall. Aber ich finde es schon bemerkenswert, dass bei-spielsweise Nordrhein-Westfalen den Kommunen bis-lang circa 25 Prozent der Entlastung vorenthält. Dassdieses Geld natürlich in den Kommunen fehlt, ist durch-aus ein Problem.

Im Haushalt 2007 stellen wir, wie gesagt, den Kom-munen 2 Milliarden Euro zur Verfügung. Wir wissen:Die Länder, die Städte und Gemeinden fordern deutlichmehr. Ich sage an dieser Stelle aber ganz klar: Alles inallem ist die Entlastung der Kommunen viel höher, alsursprünglich gemeinsam vereinbart und erwartet wordenist. Denn allein bei der Gewerbesteuer werden die Städteund Gemeinden in diesem Jahr voraussichtlich 12 Mil-liarden Euro mehr einnehmen als noch 2003. 5 Milliar-den Euro standen als Entlastung im Raum; 12 MilliardenEuro plus die Entlastungsbeiträge für die Kosten der Un-terkunft sind es tatsächlich geworden.

Nun ist das nicht in jedem Land oder in jeder Kom-mune gleich. Deshalb scheint es mir geboten, die Vertei-

lungsgerechtigkeit zwischen den Ländern, aber auch in-nerhalb der Länder aufzugreifen, und zwar von denLändern selbst. Diese Verantwortung haben sie und die-ser Verantwortung sollten sie auch gerecht werden.

Verantwortung ist auch ein gutes Stichwort für ein an-deres wichtiges Thema in diesem Bereich. Wir habenden Arbeitsgemeinschaften und Optionskommunen2005 und 2006 rund 6,5 Milliarden Euro für die aktiveArbeitsmarktpolitik bereitgestellt. Diese Hausnummerkann sich sehen lassen. Im Jahr 2005 wurden aber nur56 Prozent dieser Mittel genutzt. Selbst wenn man be-rücksichtigt, dass diese Agenturen noch aufgebaut wer-den mussten und dass sich die Arbeitsgemeinschaftenentwickeln mussten, muss man kritisieren – Herr Holter,hören Sie gut zu –, dass nach meinen Informationen, dievon gestern Abend 18 Uhr datieren, bis zum heutigenTag nur 2,6 Milliarden Euro dieser 6,5 Milliarden Euroabgeflossen sind. Wer sich dann hier hinstellt und meint,sagen zu können – obwohl sich der Bundeshaushalt ineiner Notlage befindet und die Verschuldungsgrenzeüberschritten ist –, man könne davon nicht 1 MilliardeEuro sperren, der hat wirklich Scheuklappen auf den Au-gen.

Klar ist, dass das nicht in jeder Kommune und in jederRegion gleich ist. Aber Sie müssen einmal darüber dis-kutieren, wie man das Geld anders verteilen kann. Wirsind immer für ein Gespräch offen. Ich prognostiziereIhnen – ich sage: leider –, dass die Mittel für die aktiveArbeitsmarktpolitik auch in diesem Jahr nicht in demUmfang ausgegeben werden, wie ich mir das wünscheund wie sich die Mehrheit in diesem Haus das wünscht.Ich glaube, wir haben im Rahmen des Möglichen unddes wirtschaftlich Verantwortbaren gehandelt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb von

der FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Jetzt sind wir gespannt!)

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

war zu erwarten, dass die Vertreter der Koalition hierselbstzufrieden verkünden, der Aufschwung sei da, erhabe den Arbeitsmarkt erreicht und wir seien auf einemguten Weg.

(Klaus Brandner [SPD]: Das stimmt ja auch!)

Ich will für meine Fraktion klar sagen, Herr Brandner:Auch wir freuen uns über die Chance auf einen Auf-schwung.

(Beifall des Abg. Klaus Brandner [SPD])

Auch wir freuen uns über jeden Arbeitslosen, der eineneue Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt gefun-den hat und der damit die Chance bekommt, auf Dauersein eigenes Auskommen zu sichern. Allein, es sind zu

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Dr. Heinrich L. Kolb

wenig Menschen, die davon profitieren. HerrMüntefering, obwohl der Aufschwung in Deutschlandnach den neuen Zahlen der OECD sogar 2,2 ProzentWachstum in diesem Jahr bringen könnte, bleibt sein Ef-fekt auf den Arbeitsmarkt und auf die Finanzierung dersozialen Sicherungssysteme ausgesprochen schwach.Man könnte auch sagen, dass es ein Aufschwung ohneWirkung ist.

(Beifall bei der FDP)

Ich will das an Zahlen belegen. Es ist alarmierend,wenn im Jahresvergleich die Arbeitslosenzahl zwar um426 000 gesunken ist, die Zahl der sozialversicherungs-pflichtig Beschäftigten im gleichen Zeitraum aber nurum 129 000 zugenommen hat. Das sollten doch eigent-lich kommunizierende Röhren sein: Wer nicht mehr ar-beitslos ist, sollte eine Beschäftigung gefunden haben.Offensichtlich treten aber viele Menschen aus dem Ar-beitsmarkt aus. Herr Müntefering, unser Bestreben musses sein, neue Beitragszahler zu generieren, weil nur sodie Zukunft der sozialen Sicherungssysteme gewährleis-tet werden kann.

(Beifall bei der FDP)

Fast noch alarmierender ist es, wenn trotz des leichtenAnstiegs der Zahl der sozialversicherungspflichtigen Be-schäftigungsverhältnisse das Beitragsaufkommen sta-gniert. Das kann man bislang am Beispiel der Renten-versicherung im laufenden Jahr feststellen.

Herr Müntefering, die allgemeinen Beitragseinnah-men beliefen sich von Januar bis Juli des Jahres 2005 auf95,546 Milliarden Euro, im Vergleichszeitraum diesesJahres auf 105,772 Milliarden Euro. Mithin ergab sichein Plus von 10,2 Milliarden, was fast ausschließlich aufden Einmaleffekt des 13. Monatsbeitrags zurückzufüh-ren sein dürfte. Sie hatten zwar nur 9,6 Milliarden Euroveranschlagt, aber der Durchschnitt der Pflichtbeiträgeim letzten Jahr lag deutlich über 11 Milliarden Euro, so-dass man sagen kann: Bei den eigentlichen Pflichtbeiträ-gen aus der regulären Beschäftigung treten Sie auf derStelle.

Die Erklärung für dieses Phänomen dürfte darin lie-gen, dass sich ein Trend fortsetzt, der nach einem statis-tischen Taschenbuch des Bundesministeriums für Ge-sundheit und Soziale Sicherung – damals hieß es nochso – schon seit Jahren anhält: Die Zahl der sozialversi-cherungspflichtigen Vollzeitstellen bewegt sich deutlichnach unten, während gleichzeitig die Zahl der sozialver-sicherungspflichtigen Teilzeitstellen zunimmt. Im Klar-text: Mehr Menschen sind sozialversicherungspflichtigbeschäftigt, aber das Beitragsaufkommen insgesamtbleibt konstant.

Wenn diese Analyse zutrifft, liebe Kolleginnen undKollegen, dann haben wir ein Problem;

(Jörg van Essen [FDP]: So ist es!)

dann wird es nämlich wahrscheinlich, dass zutrifft, wasder Schätzerkreis schon im Mai errechnet hat: Das Defi-zit aus laufenden Einnahmen und Ausgaben der Renten-versicherung wird 4,6 Milliarden Euro betragen. Das

heißt, dass die Zusatzeinnahme durch den 13. Monats-beitrag schon in diesem Jahr ein gutes Stück wieder ver-schlungen wird und die Nachhaltigkeitsrücklage amEnde des Jahres gerade noch bei 7,3 Milliarden Euro lie-gen wird.

Und, Herr Müntefering, es gibt Grund zur Annahme– das sage ich hier sehr deutlich, darüber soll man nichthinweggehen –, dass die Situation im Jahre 2007 nochschlechter aussehen wird. Es gibt keinen Grund anzu-nehmen, dass das Defizit in der Rentenversicherung,das wir in den letzten Jahren hatten – in den letzten Jah-ren betrug es zwischen 4 und 5 Milliarden Euro –, imnächsten Jahr niedriger sein wird. Es gibt zusätzliche Ri-siken, von denen ich hier nur drei nennen möchte.

Das erste Risiko haben Sie selbst geschaffen: DieRentenversicherungsbeiträge für die Empfänger vonArbeitslosengeld II haben Sie mit dem SGB-III-Ände-rungsgesetz um 2 Milliarden Euro gekürzt. Es ist un-schwer vorherzusagen, dass diese Maßnahme das Defizitder Rentenversicherung entsprechend erhöhen wird.

Die Beiträge, die die Rentenversicherung zur Kran-kenversicherung der Rentner zahlen muss, werden sichals Folge der Gesundheitsreform schon im Jahre 2007erhöhen. Das kann man heute noch nicht auf Cent undEuro genau sagen. Es ist aber unschwer vorherzusagen,dass sich das in der Größenordnung von 1 MilliardeEuro bewegen wird.

Die Risiken aus dem Urteil des Bundessozialgerichteszu den Abschlägen bei den Erwerbsminderungsrentenbelaufen sich nach einem Schreiben Ihres StaatssekretärsTiemann, Herr Minister, im Jahre 2007 auf 500 Millio-nen Euro, die der Nachzahlungen für die Jahre von 2002bis 2006 auf rund 1 Milliarde Euro.

Wenn Sie mitgerechnet haben: Das sind 4,5 Milliar-den Euro. Das ist schon mehr, als Sie aus der Beitragsan-hebung ab 1. Januar 2007 – das sind nämlich gerade ein-mal 4 Milliarden Euro – erwarten dürfen. Das heißt, manmuss kein Prophet sein, um vorauszusagen: Schon Ende2007 ist der Einmaleffekt des 13. Monatsbeitrages ver-frühstückt, wird die untere Schwelle der Nachhaltig-keitsrücklage schon wieder angekratzt oder gar unter-schritten. Damit ist es wahrscheinlich, dass im Jahre2008 ein einmaliger Bundeszuschuss von 800 MillionenEuro nicht ausreichen und eine erneute Beitragserhö-hung notwendig wird. Das nenne ich eine Katastrophe.Das ist nur noch eine Verwaltung des Mangels; mit einergeordneten Rentenpolitik hat das wirklich nichts, aberauch gar nichts mehr zu tun.

(Beifall bei der FDP)

Was lernen wir aus alledem, liebe Kolleginnen undKollegen? Zur Lösung der Probleme der sozialen Siche-rungssysteme reicht offensichtlich auch ein Wachstumvon bis zu 2,2 Prozent nicht aus. Es verbietet sich dahereine Politik, die über eine Erhöhung der Mehrwert-steuer sogar noch eine Abschwächung dieses Wachs-tums in Kauf nimmt.

(Beifall bei der FDP)

4608 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006

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Dr. Heinrich L. Kolb

Ich fordere Sie auf, die Mehrwertsteuererhöhung auchvor dem Hintergrund kräftig sprudelnder Steuerquellenrückgängig zu machen.

Und: Fangen Sie endlich mit einer grundlegendenReform des Arbeitsmarktes an, damit nicht nur dievorhandene Arbeit neu verteilt wird, sondern zusätzlicheArbeitsplätze entstehen. Worauf warten Sie eigentlichnoch? Herr Pofalla hat gesagt, er habe die Studie derWeltbank gelesen, wonach Deutschland in einem Ran-king zur Frage „Wo ist es einfach, einen Arbeiter einzu-stellen?“ auf Platz 129 der Welt liegt. Wenn die Bundes-regierung Kenntnis von diesen Fakten hat, dann findeich es skandalös, dass Sie, Herr Bundesminister, vor ei-ner Neuregelung des Kündigungsschutzes zurück-scheuen.

(Beifall bei der FDP)

Ich frage provokativ: Soll denn die größte Reform desKündigungsschutzes, die Sie, Herr Pofalla, vollmundigangekündigt haben, ersatzlos gestrichen werden? Daskann ja wohl nicht sein. Herr Pofalla, das, was Sie dies-bezüglich in den Koalitionsvertrag geschrieben haben,war nicht das Gelbe vom Ei. Das zeigt übrigens auch,wie wenig Ahnung Sie, ein führender Vertreter derUnion, davon haben, welche Fragen aus Sicht des Mit-telstandes in unserem Land ausschlaggebend sind, wennes darum geht, ob ein zusätzlicher Mitarbeiter eingestelltwird.

Herr Müntefering, Sie haben in diesen Tagen geäu-ßert, man solle das Thema Kündigungsschutz nicht über-bewerten. Deshalb weise ich Sie auf eine ganz aktuelleUmfrage des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung hin:Auf die Frage nach den Einstellungsbarrieren, also wa-rum der Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt nur einebegrenzte Wirkung entfaltet, nannten 59 Prozent der be-fragten Unternehmer den Kündigungsschutz. Herr Mi-nister, an solchen Fakten dürfen und können Sie nichtvorbeigehen.

(Beifall bei der FDP)

Es ist traurig: Die Union ist bei der Reform des Ar-beitsmarktes vollständig auf Tauchstation gegangen.Herr Pofalla – zum Mitschreiben –: Entscheidend istnicht die Frage, ob wir eine Befristung oder eine Verlän-gerung der Probezeit brauchen. Wir brauchen beides.Wir brauchen die Möglichkeit zur Befristung der Probe-zeit und die Möglichkeit zu einer Verlängerung. Wirmüssen alle Maßnahmen ergreifen, die die Chance fürneue Arbeitsplätze in diesem Land bieten.

(Beifall bei der FDP)

Zu Ihrer verfehlten Politik hätte man noch vieles sa-gen können. Ich will noch einmal ein Zitat anführen, dasich schon im Frühjahr dieses Jahres vorgetragen habeund das sich leider bewahrheitet hat. Damals hat die „Fi-nancial Times Deutschland“ Folgendes geschrieben:

Diese Koalition wird Gesetze verabschieden, diesie mit dem Etikett „Reform“ versehen wird. Aberzu echten Strukturreformen, die die Leistungsfähig-keit der Volkswirtschaft verbessern, wird es nichtkommen … Die bittere Wahrheit ist, dass Politiker

wie Merkel oder Steinbrück zu echten Reformenentweder nicht fähig sind oder kein Interesse daranhaben.

Man muss sagen: Leider wahr.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat nun der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe

von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Die soziale Sicherung ist der größte Ausgabenblock imBundeshaushalt, das gilt auch für 2007. Im nächsten Jahrwerden für Sozialausgaben rund 135 Milliarden Eurozur Verfügung gestellt. Das ist über die Hälfte der Ge-samtausgaben des Bundes. Das zeigt, dass der vorge-legte Haushalt in hohem Maße ein Instrument des sozia-len Ausgleichs ist. Dazu bekennen wir uns.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Jeder weiß, dass Arbeitsmarktpolitik nicht nur durchden Bundeshaushalt bestimmt wird. Die Beitragsmittelder Bundesagentur für Arbeit kommen hinzu. Seienwir doch einmal ehrlich: Jeder, der in der VergangenheitVerantwortung getragen hat, hätte sich doch solche Lu-xusdiskussionen gewünscht, wie wir sie jetzt über dieFrage führen, was wir mit den Überschüssen machen.Über Jahrzehnte hinweg haben wir uns mit der Frage be-schäftigt, wo wir das Geld hernehmen, um Defizite zudecken. Aufgrund der Rahmenbedingungen, die wirdurch unsere Politik gesetzt haben, haben wir in diesemBereich jetzt Überschüsse.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Das ist eine gute Entwicklung. Die Überschüsse werdenwir im Sinne der Beitrags- und Steuerzahler nutzen.

In diesem Zusammenhang muss man Gegensätzenicht künstlich aufbauen; denn niemand hat gesagt, eskönne auf gar keinen Fall eine Senkung von Beiträgengeben; es hat aber auch niemand gesagt, es müsse eineBeitragssatzsenkung um jeden Preis geben. In der gro-ßen Koalition arbeiten wir gemeinsam daran, eine wei-tere Absenkung der Lohnnebenkosten finanzierbar zumachen. Im Detail gibt es sicherlich Unterschiede: dieSenkung der Lohnnebenkosten ist ein besonderes Her-zensanliegen der Union. Auf diesem Weg wollen wirweitergehen. Das ist die richtige Botschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Hinsichtlich der Mittel für den Arbeitsmarkt sieht esim Haushalt in der Tat schwieriger aus. Für die rein pas-sive Leistung Arbeitslosengeld II werden wir in diesemJahr voraussichtlich 27 Milliarden Euro ausgeben. Imnächsten Jahr sind im Vergleich dazu rund 6 Milliarden

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Dr. Ralf Brauksiepe

Euro einzusparen. Einsparungen in Höhe von 4 Milliar-den Euro erwarten wir infolge der Reformgesetze im Be-reich des Sozialgesetzbuches II. Sie werden im nächstenJahr ihre volle Wirkung entfalten. Da bleibt in der Tatein Risiko. Es wird umso einfacher, dieses Risiko zu be-grenzen, je besser es uns gelingt, diese Finanzlückedurch wachsende Beschäftigung und abnehmende Ar-beitslosigkeit zu schließen. Auf diesem Weg befindenwir uns. Die Signale vom Arbeitsmarkt sind sehr positivund stimmen hoffnungsvoll.

Ich muss sagen, der Kollege Kolb und die Kollegin-nen und Kollegen von der FDP tun mir manchmal einbisschen Leid.

(Widerspruch bei der FDP)

Wir machen es Ihnen ja nicht leicht. Ich erinnere mich:Wie waren die Zahlen im Mai? Da gab es den höchstenRückgang der Arbeitslosigkeit in einem Mai seit derWiedervereinigung. Da haben Sie, Herr Kolb, gesagt,dass aber die Zahl der sozialversicherungspflichtig Be-schäftigten zurückgehe. Im Juli hatten wir den erstenRückgang der Arbeitslosigkeit in einem Juli seit derWiedervereinigung. Da sagten Sie: Aber es gibt nur50 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungs-verhältnisse mehr. Das war Ihnen zu wenig. Jetzt habenwir im August fast 130 000 sozialversicherungspflich-tige Beschäftigungsverhältnisse mehr und einen Rück-gang der Arbeitslosigkeit um mehr als 400 000. Das sinddoch positive Zahlen und Fakten. Sie müssen immerakrobatischer werden, um unsere Politik schlecht redenzu können. Wir sind auf dem richtigen Weg. Das zeigendiese Zahlen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Natürlich ist dieser Trend nicht überall in der gleichenArt und Weise feststellbar. Ich vermute, Sie, Herr Kolb,werden weiter Anstrengungen unternehmen, um nochein Haar in der Suppe zu finden. Aber ich sage Ihnenganz deutlich: Wir sind auf dem richtigen Weg, auchwenn der sich nicht überall gleich auswirkt. Wir habeneben von Herrn Holter ein beeindruckendes Geständnisgehört: längste Amtszeit als Arbeitsminister und höchsteArbeitslosigkeit. Das ist in der Tat sehr beeindruckend.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich sage Ihnen, Herr Holter: Mit Ihrem Vorschlag, dievolkseigenen Betriebe wieder aufleben zu lassen, wer-den wir die Probleme nicht lösen. Deswegen werden wirdas, was Sie uns mit Ihren ideologischen Scheuklappenvorgemacht haben, nicht machen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der LINKEN)

Sie können genauso Beispiele aus Berlin nennen: Rot-Rot erhöht die Arbeitslosigkeit; Rot-Rot erhöht die Ar-mut. Das ist Ihre Botschaft, die Sie uns heute wieder ein-drucksvoll verkündet haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Brauksiepe, erlauben Sie eine Zwi-

schenfrage des Kollegen Fricke?

Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Aber gern. Sie müssen sich aber nicht angesprochen

fühlen, wenn ich über rot-rote Politik spreche.

Otto Fricke (FDP): Nein, das tue ich nicht. Ich wollte Ihnen nur die Mü-

hen ersparen, sich an einer Stelle abzuarbeiten, an der esnicht wirklich notwendig ist.

Herr Kollege Brauksiepe, könnten Sie mir Folgendeserklären: Sie sagen, Sie seien hinsichtlich des Arbeits-marktes – ich würde mir für alle Arbeitslosen wünschen,dass es so wäre – auf dem richtigen Weg. Warum steigtdann im Haushalt der Aussteuerungsbetrag bzw. diesich dahinter verbergende Zahl der Menschen, die vonALG I in ALG II kommen? Denn wenn der Weg richtigwäre, müsste dieser Betrag bzw. diese Zahl doch sinken,müsste es weniger Leute geben, die lange oder länger inArbeitslosigkeit sind.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Herr Kollege, Sie haben mit dem Hinweis auf den

Aussteuerungsbetrag in der Tat auf ein Risiko auf derEinnahmeseite im Haushalt hingewiesen. Sie haben da-mit vollkommen Recht. Ich sage auch nicht, dass manjetzt einfach, gerade wie es einem passt, an der Schraubedrehen kann. Ich finde, dass es erst einmal eine guteNachricht ist, dass der Aussteuerungsbetrag nicht sohoch ist, weil es uns in diesem Jahr durch die Rahmen-bedingungen, die wir gesetzt haben, gelungen ist, mehrMenschen aus dem Arbeitslosengeld I in Arbeit zu brin-gen. Darum geht es uns.

Ich sage Ihnen voraus: Wenn dieser Trend sich fort-setzt, dann heißt das, dass die Entwicklung auf dem Ar-beitsmarkt insgesamt weiter so positiv ist, dass sich dasauch auf den Bundeshaushalt auswirken wird. Dannwerden auch Sie als Vorsitzender des Haushaltsaus-schusses ganz bestimmt Ihre Freude an unserer Politikhaben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir müssen natürlich bei dem, was wir in Zukunftmachen, bei den arbeitsmarktpolitischen Maßnah-men, die wir ergreifen, darauf achten, dass sie nicht zumehr Ausgaben führen. Das heißt aber nicht, dass Leis-tungen gekürzt werden müssen. Es heißt vielmehr, dassvor allem bei Hartz IV noch stärker auf die Eingliede-rung in den regulären Arbeitsmarkt, auf ein Leben ohneFördergelder geachtet werden muss, und dass wirHartz IV nicht als ein sozialpolitisches Reparaturinstru-ment für alle Defizite in Familie, Bildungswesen oderbei der Integrationspolitik heranziehen dürfen.

Es heißt darüber hinaus auch, dass wir bei dem Paket,das wir im Herbst schnüren werden, indem wir das Ent-sendegesetz ausweiten, genau das, was Sie von der FDP

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Dr. Ralf Brauksiepe

hier als Drohgebilde an die Wand gemalt haben, nichttun. Das Entsendegesetz auszuweiten bedeutet doch, ta-riflichen Vereinbarungen mehr Raum und mehr Gestal-tungsmöglichkeiten zu geben. Genau darum geht es uns.Wir wollen keine gesetzlichen Regelungen; für uns ge-hen tarifliche Regelungen vor gesetzlichen Regelungen.Wir sind auf einem guten Weg, das mit dem Koalitions-partner so zu vereinbaren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich bin für die Signale dankbar, die wir dazu bekommenhaben.

Wir werden uns insbesondere verstärkt darum bemü-hen müssen, Langzeitarbeitslose in den Arbeitsmarktzu integrieren. Wir werden Schwerpunkte bei den älterenund den jüngeren Langzeitarbeitslosen setzen. Das, wasMinister Müntefering unter dem Stichwort „50 plus“ an-gekündigt hat, passt in ein solches Gesamtkonzept.

(Dr. Claudia Winterstein [FDP]: Ach! Das ist doch nichts Neues!)

Es muss unser gemeinsames Ziel sein, sowohl ältereArbeitslose, die Arbeitslosengeld I beziehen, vorher al-lerdings gut verdient haben, möglichst schnell wieder inBeschäftigung zu bringen – das ist ein wichtiges Ele-ment dieser Initiative –, als auch aus der Gruppe derLangzeitarbeitslosen bestimmte Teilgruppen anzuspre-chen, Ältere wie Jüngere, die zwar keine guten Einkom-mensperspektiven haben, die aber bereit sind, durch ei-gener Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt zu sichern. Esmuss möglich sein, ihnen durch einen Kombilohn vonstaatlicher Seite eine Unterstützung zu geben. Daran ar-beiten wir.

(Dr. Claudia Winterstein [FDP]: Und was sa-gen Sie zum Stichwort „58 plus“?)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich indiesem Zusammenhang etwas zum Gutachten des Sach-verständigenrates sagen. Uns geht es nicht um eineKürzung der Regelsätze. Aber wir bekennen uns dazu,dass wir durch die Reformmaßnahmen, die wir ergriffenhaben, deutlich gemacht haben: Diejenigen, die sichnicht an die Spielregeln halten, müssen mit Leistungs-kürzungen rechnen. Diese Entscheidung war richtig.Dazu stehen wir.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich bin der Meinung, dass man sich sehr genau anse-hen muss, wie sich der Sachverständigenrat zu den Hin-zuverdienstregelungen geäußert hat. Mir scheint das,was ich hierzu gehört habe, sehr beachtenswert zu sein.Auf eines müssen wir achten: Es darf in der Tat nicht da-rum gehen, dass sich jemand, der Transferleistungen be-zieht, fragt: Was kann ich hinzuverdienen, ohne dass mirdie Transferleistung gekürzt wird? Es muss wirklich da-rum gehen, dass diejenigen, die bereit sind, viele Stun-den lang für einen geringen Lohn zu arbeiten, um vonden Transferleistungen unabhängig zu werden, unter-stützt werden. An diesem Leitmaßstab müssen wir unsbei den Reformen, die wir anpacken, orientieren.

Lassen Sie mich noch ein paar Worte zu den Renten-finanzen sagen. Auch hier macht sich die positive wirt-schaftliche Entwicklung durchaus bemerkbar. Wir wer-den bei dem Kurs bleiben, auf den wir uns verständigthaben: Im nächsten Jahr muss der Rentenbeitrag leichterhöht werden. Gleichzeitig werden wir das, was wir unsunter dem Stichwort „Rente mit 67“ vorgenommen undim Koalitionsvertrag und darüber hinaus verabredet ha-ben, Stück für Stück in praktische Politik umsetzen. Dasist ein moderater Weg, der den Interessen der Rentnerund der Beitragszahler gerecht wird.

Ende Oktober dieses Jahres werden uns verlässlicheAngaben zur tatsächlichen Wirtschafts- und Arbeits-marktentwicklung vorliegen. Vor diesem Hintergrundwerden wir als große Koalition im Herbst dieses Jahresunsere Vorstellungen dazu vorlegen. Sie alle sind herz-lich eingeladen, daran konstruktiv mitzuwirken.

Völlig klar ist: Wir werden nicht im Bundestag poli-tisch darüber entscheiden, ob es zu einer Rentenerhö-hung kommt oder nicht. Wir haben politisch entschie-den, dass wir den Rentnerinnen und Rentnern in dieserLegislaturperiode keine zusätzlichen Lasten durch eineRentenkürzung aufbürden werden; das ist wahr. Renten-erhöhungen können wir weder beschließen noch ver-sprechen. Klar ist aber: Wenn wir weiterhin den Weg deswirtschaftlichen Aufschwungs und der finanziellen Kon-solidierung beschreiten, dann ist das gut für die Entwick-lung der Renten. Daran arbeiten wir. Hier bitte ich umIhre Unterstützung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Markus Kurth vom

Bündnis 90/Die Grünen.

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Brauksiepe, Sie haben wieder ein Bild gezeichnet,das den Eindruck vermittelt, dass fast alles eitel Sonnen-schein ist. Was mich betrübt und besorgt, ist, dass ange-sichts dieser positiven Darstellung von teilweise durch-aus begrüßenswerten Entwicklungen am Arbeitsmarktein Bereich im Schatten bleibt: die Langzeitarbeits-losigkeit insbesondere junger Menschen bzw. derjenigenunter 25 Jahren.

Vor dem Hintergrund der Situation dieser Gruppe, dieimmer größer wird und sich immer weiter vom Arbeits-markt entfernt, sehen die Bewertungen des Überschussesder Bundesagentur für Arbeit und der nicht verausgabtenMittel im Rahmen des Sozialgesetzbuches II ganz an-ders aus.

(Beifall der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Einer der wenigen, der dieses Problem angesprochenhat, ist Herr Pofalla. Er hat gesagt: 80 000 junge Leutegehen Jahr für Jahr ohne Abschluss von der Schule. Die

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Markus Kurth

40 000 Schulabgänger, die die Schule mit einem relativschlechten Hauptschulabschluss verlassen, muss man ei-gentlich noch hinzuzählen.

Ich will Ihnen auch die neuesten Zahlen des Institutsder deutschen Wirtschaft Köln, das erst jüngst eine Un-tersuchung zum Qualifikationsniveau durchgeführt hat,nicht vorenthalten. Daraus geht hervor: Zum ersten Malin der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland istdie Aufwärtsmobilität bei der Bildung unterbrochen.Zum ersten Mal ist eine jüngere, nachkommende Gene-ration – formal – nicht besser qualifiziert als eine ältereGeneration. Im Jahr 2004 haben 22 Prozent der Berufs-schüler die Berufsschule ohne Abschluss verlassen.Zehn Jahre zuvor waren es 15 Prozent. Das heißt, untenwird eine immer größere Gruppe abgehängt. Damit seies der Zahlen an dieser Stelle genug. Diese Situation istbildungspolitisch, sozialpolitisch und letzten Endes auchökonomisch eine Bedrohung. Ich komme zu demSchluss, dass wir da konzentriert investieren müssen.Selbstverständlich ist an dieser Stelle staatliches Han-deln und Fördern gefragt.

Vor diesem Hintergrund werde ich natürlich schon stut-zig – sollten wir alle stutzig werden! –, wenn 1,2 Milliar-den Euro des Überschusses der Bundesagentur fürArbeit aus nicht verausgabten Fördermitteln, aus Ein-sparungen im Bereich des Sozialgesetzbuches III stam-men. Man sollte stutzig werden, wenn, wie WaltraudLehn sagt, nur 2,6 Milliarden Euro abgerufen wordensind. Das muss einen schon merkwürdig stimmen! Die1,1 Milliarden Euro, die Sie gesperrt haben, haben dochnur dazu geführt, dass der Griffel in vielen Job-Centernschnellstens hingeworfen wurde – leider! – und erst jetztwieder aufgenommen wird, anstatt an dieser Stelle zufördern!

Die Frage ist nicht nur, wie viel Geld ausgegebenwird. Ich glaube, man muss sich angesichts der Dramatikder Situation auch genau anschauen, wofür das Geldausgegeben wird; nicht nur die Menge, sondern auch dieArt und Weise der Ausgaben sind wichtig. Dass den Ju-gendlichen unter 25 Jahren, denen eine Ausbildung, eineNachqualifizierung fehlt, dann 1-Euro-Jobs, so genannteMehraufwandsentschädigungsjobs, angeboten werden,erfüllt mich mit tiefer Sorge. Ich halte das für skandalös.Andere Mittel sind wichtig! Sie sprechen an dieser Stellevom öffentlich geförderten Beschäftigungssektor. Auchdas Land Berlin – um einmal ein Land mit einer Regie-rungsbeteiligung der PDS/Linkspartei zu nennen – stellt36 000 solche Mehraufwandsentschädigungsjobs. Wobleiben denn die vernünftigen, sozialversicherungs-pflichtigen Arbeitsgelegenheiten, wo bleiben ordentlicheQualifizierungsmöglichkeiten in den Bereichen, in de-nen Sie die Möglichkeit haben, solche anzubieten?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Bei den Ausschreibungsverfahren – ich muss es nocheinmal ansprechen – zielen wir vorbei, wir sparen aufKosten dieser jungen Menschen. Ich will ein Beispiel– mehr erlaubt mir meine Redezeit nicht – nennen: Ichhabe vor einigen Wochen das Jugendausbildungs-zentrum in Münster besucht. Es wird vom SozialdienstKatholischer Männer betrieben. Dort hat man eine Werk-

statt für Zweiradmechanik eingerichtet, die so gut ist,mit so guten Werkzeugen ausgestattet ist – übrigens überSpenden vom Lions Club und vom Bistum, nicht aus öf-fentlichen Mitteln –, dass die IHK, die Industrie- undHandelskammer in Münster, sämtliche Gesellenprüfun-gen in dieser Werkstatt abhält. Dort wurde eine überbe-triebliche Ausbildung angeboten.

Diese Werkstatt steht seit zwei Monaten leer: Man hatdie Ausschreibung verloren, obwohl die Werkstatt quali-tativ am besten war – da hat man sich beim regionalenEinkaufszentrum noch einmal rückversichert –, weil nurder Preis den Ausschlag gegeben hat. Wohin gehen dieJugendlichen jetzt? Der Anbieter, der die Ausschreibunggewonnen hat, hat eine Halle bezogen, in der „Werk-ecken“ stehen. Da feilen jetzt die jungen Menschen, diepraxisnah in der Zweiradmechanikwerkstatt arbeitenkönnten, an Metallklötzchen herum, die am Ende desArbeitstages in die Tonne geworfen werden. Wenn wirweiterhin nach dieser Art von Ökonomik mit der Kreati-vität und dem Potenzial unserer jungen Menschen unter25 Jahren umgehen, werden wir uns in zehn Jahren nochumgucken. Dann werden wir sehen, wie die Folgen derschönen Einsparungen, über die wir hier jetzt reden, mitgewaltigen Mehrkosten auf uns zukommen werden.Hunderttausende der heute jungen Leute werden unsdann vorwerfen: Ihr habt uns mit eurer damaligen Spar-politik um unsere Chancen gebracht! Dagegen stehenwir, Bündnis 90/Die Grünen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Andrea Nahles [SPD])

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Brandner von

der SPD-Fraktion.

Klaus Brandner (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-

nen und Kollegen! Die Einbringung des Bundeshaus-halts nach der Sommerpause dient immer dazu, voraus-zuschauen, welche Aufgaben vor uns liegen und welcheAnstrengungen im kommenden Halbjahr, aber auch imnächsten Haushaltsjahr von uns zu bewältigen sind. Diegroße Koalition – um es ganz deutlich sagen – hat be-reits vieles auf den Weg gebracht. Sie setzt den unter derVorgängerregierung begonnenen Reformkurs konse-quent fort, sie setzt auf Kontinuität. Wir können feststel-len, dass die Reformen greifen: Die Konjunktur ziehtan, die Wachstumsprognosen sind sehr positiv, der posi-tive Trend auf dem Arbeitsmarkt setzt sich fort, wirhaben mehr Erwerbstätige, mehr sozialversicherungs-pflichtig Beschäftigte, weniger Konkurse und die Ar-beitslosigkeit geht zurück.

Die Bundeskanzlerin hat diese Daten gestern gewür-digt und der Bundesarbeitsminister, der Vizekanzler, hatdiese Daten heute ebenfalls gewürdigt. Lieber Herr Po-falla, eigentlich passen diese guten Daten nicht so ganzin Ihren Beitrag hinein. Der Erfolg der großen Koalitionkann sich sehen lassen, was die harten Daten und Faktenzeigen. Ich glaube, das ist das Ergebnis harter Arbeit. Es

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Klaus Brandner

wurde gut zusammengearbeitet und es gab Profilierun-gen in der Sache und nicht so sehr im Hinblick auf par-teitaktische Überlegungen.

(Beifall bei der SPD)

Ich will ganz deutlich sagen: Diesen Weg müssen wirkonsequent fortsetzen, wenn wir für die Menschen indiesem Land das leisten wollen, was sie von uns, dergroßen Koalition, in der die große Zusammenarbeit an-gesagt ist, erwarten.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die bösen Klei-nen!)

Ich weiß, dass die schlechte Presse, die man manchmalerhält, den einen oder anderen nervös macht. Ich sage Ih-nen aber: Ich glaube bestimmt und bin davon überzeugt,dass wir auf einem guten Weg sind. Mit der Koalitions-vereinbarung haben wir eine gute Grundlage dafür ge-schaffen.

Zu dem, was hier bezüglich der Ich-AG angespro-chen wurde, sage ich ganz deutlich, dass wir ein erfolg-reiches arbeitsmarktpolitisches Instrument noch erfolg-reicher gemacht haben, indem wir durch gesetzlicheVeränderungen eine Existenzförderung in bestimmtenBereichen möglich gemacht haben. Wir als große Koali-tion messen der Existenzförderung von Arbeitsloseneine große Bedeutung bei, weil damit die Menschen eineBeschäftigungschance erhalten, die sie ohne eine solcheAktivität nicht gehabt hätten.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU])

Wir setzen dabei ganz deutlich auf die Wirkung dergesetzlichen Maßnahmen und auf Evaluation. Wir sindbereit, Konsequenzen aus unseren Schritten und auchaus den Fehlern zu ziehen, die in einem mutigen Gesetz-gebungsverfahren durchaus gemacht werden dürfen;denn wer nichts anpackt, der macht auch nichts falschund der sitzt die Probleme aus. Das ist in diesem Landlange genug geschehen. Deshalb bauen wir darauf, dasswir in einer großen Gemeinschaft die Kraft haben, Fehl-entwicklungen schnellstens zu korrigieren, weil nur dasden Menschen in diesem Land hilft.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie sprachen davon, dass es im Bereich der Arbeits-marktpolitik mehr dezentrale Entscheidungen gebenmüsse. Die Sozialdemokraten sind für dezentrale Ent-scheidungen nach klaren Strukturvorgaben. Das ist im-mer unsere Position gewesen. Wir dürfen in diesem Zu-sammenhang nicht vergessen, dass der Einfluss derCDU und der CSU im Bundesrat auch schon währendder Zeit, in der Rot-Grün die Bundesregierung gestellthat, derart stark war, dass sie Strukturen mit geschaffenhaben, die nachkorrigiert werden müssen und innerhalbderen die Dezentralität und die Entscheidungskompetenzan Bedeutung gewinnen müssen. Es muss aber auch klarsein: Wer die Musik bezahlt und die Strukturen veran-lasst, der muss auch die Verantwortung dafür bekom-men, diese Entscheidungen systematisch umsetzen zukönnen. Das sollten wir aufgreifen. Ich halte das für

wichtig. Lassen Sie mich insofern sagen, dass Sie unshier an Ihrer Seite haben, wenn Sie die Arbeit effizientvoranbringen wollen.

Sie haben den Kündigungsschutz angesprochen. DieSituation ist schon ein bisschen aberwitzig. Unser Landist Exportweltmeister und weist eine äußerst hohe Pro-duktivität und Produktqualität auf, was nur mit flexiblenund guten Arbeitskräften zu erreichen ist. Diese Arbeits-kräfte haben einen Anspruch auf soziale Sicherheit.Diese wird man aber nicht mit einem dauernden Geredeüber den Kündigungsschutz erreichen, als sei der Kündi-gungsschutz die Bremse für das Beschäftigungswachs-tum in diesem Land.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN und des Abg. Stefan Müller [Erlan-gen] [CDU/CSU])

Deshalb sage ich klar: Die Menschen haben einenAnspruch auf Sicherheit und sind nicht nur Kostenfakto-ren. Die SPD hat keine Notwendigkeit gesehen, an demKündigungsschutz etwas zu verändern, weil wir in denletzten Jahren gerade für kleine und mittlere BetriebeKorrekturen vorgenommen haben. Wir haben somit einRecht geschaffen, durch das es aufgrund der verankertenBefristungsmöglichkeiten die größte Flexibilität gibt.Das, was wir in der Koalitionsvereinbarung festgelegthaben, ist die Grundlage. Alles, was darüber hinausgeht– um es deutlich zu sagen –, wird mit der SPD nicht zumachen sein.

(Beifall bei der SPD)

Ich will an dieser Stelle ganz unmissverständlich sa-gen: Wenn die Wirtschaft nach großmundigen Forderun-gen erklärt, dass sie das, was im Koalitionsvertrag anweiteren Regelungen vorgesehen ist, nicht braucht undwir alles so lassen sollen, wie es ist, weil sie mit der ak-tuellen Rechtslage zufrieden ist und den Grad der Flexi-bilität als ausreichend hoch ansieht, dann sollten wir allegemeinsam sagen: Die Situation ist so, wie sie ist, gut.Jetzt müssen wir die Debatte um den Kündigungsschutzbeenden und uns anderen wesentlichen Themen in die-sem Land zuwenden.

(Beifall bei der SPD)

Hier ist auch das Stichwort Mindestlohn gefallen.Wir sind sehr dafür, dass die Tarifvertragsparteien starksind und tarifliche Regelungen organisieren, weil tarifli-che Regelungen einen Mindestlohn bedeuten. Das ent-spricht unserer Verfassung und dem Grundsatz, dass inDeutschland vorrangig die Tarifvertragsparteien dafürzuständig sind, die Höhe von Löhnen und Gehältern so-wie die Arbeitsbedingungen zu bestimmen.

(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Richtig!)

Wir müssen aber auch feststellen, dass es in der tarif-politischen Landschaft zu einer Erosion gekommen ist.Deshalb ist die große Koalition – das ist genau das, wasKollege Brauksiepe mit seinem Zwischenruf sagenwollte – auf dem Weg, durch mehr Allgemeinverbind-lichkeit und eine umfassendere Entsendegesetzgebungda, wo es zu Erosionen kommt und aufgrund der Öff-

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Klaus Brandner

nung des europäischen Marktes Probleme entstehen kön-nen, gesetzlich einzugreifen. Diesen Weg werden wirvorrangig gehen.

(Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])

– Herr Kolb, hören Sie gut zu. Wenn es am Ende Berei-che gibt, in denen die Tarife und Löhne auf ein unsozia-les und sittenwidriges Niveau sinken, dann darf der Staatnicht den Nachtwächter spielen und nur zuschauen, wiedort etwas vor sich geht, was er sich nicht wünscht, son-dern dann muss sich der Staat seiner Verantwortung stel-len. Diesen Weg werden wir gemeinsam gehen müssen.Das wollte ich heute Morgen einmal deutlich anspre-chen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Brandner, erlauben Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Heinrich Kolb?

Klaus Brandner (SPD): Bitte.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte, Herr Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Herr Kollege Brandner, können diese Eingriffe auch

bedeuten, dass diese Arbeitsplätze am Ende und in derKonsequenz entfallen? Die niedrigen Löhne, über dieSie sprechen, beispielsweise im Friseurhandwerk inSachsen, sind tariflich vereinbart. Wenn Sie jetzt per Ge-setz einen deutlich höheren Mindestlohn vorgeben, wirdes offenkundig dazu kommen, dass diese Arbeitsplätzekünftig so nicht mehr bestehen. Nehmen Sie diese Kon-sequenz in Kauf?

Klaus Brandner (SPD): Erster Punkt. Herr Kolb, diese Vermutung muss nicht

eintreten. Sie beabsichtigen, mit dieser Unterstellungvon vornherein vorzugeben, dass Mindestlöhne Arbeits-plätze gefährden würden. Im europäischen Ausland wur-den dazu ganz andere Erfahrungen gemacht.

(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb[FDP]: Da sind aber auch die Mindestlöhneniedriger!)

Der zweite Punkt. Für diese Bundesregierung und ins-besondere für meine Fraktion möchte ich deutlich sagen:Wenn wir einen Mindestlohn vereinbaren, werden wirdas nicht ohne die gesellschaftlich relevanten Kräfte tun.So wurde auch in Großbritannien vorgegangen, wo eseine „Low Pay Commission“ gibt, in der Wissenschaft-ler, Gewerkschafter und Vertreter von Unternehmerver-bänden gemeinsam Normen festsetzen. Sie dürfen nichtdavon ausgehen, dass wir ein solches Projekt blind vonoben verordnen,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Doch, leider muss ich genau davon ausgehen!)

sondern wir werden ein solches Projekt beteiligungsori-entiert angehen. Wenn Sie dann auf der Seite derjenigensind, die sich ins Abseits stellen, kann ich daran nichtsändern. Ich will Ihnen nur sagen: Wir werden einen sol-chen Schritt sehr behutsam, aber auch sehr beharrlichund klar konturiert vornehmen, damit die Menschen indiesem Lande wissen: Mit uns ist Sozialdumping nichtzu machen.

(Beifall bei der SPD)

Zum Kombilohn ist vieles gesagt worden. Wir habensehr viele Kombilohnmodelle und dabei bleibt es auch.Wir werden gut daran tun, diese Modelle zu systemati-sieren. Kombilohn ist weder ein Schimpfwort noch eineWunderwaffe oder Zauberformel. Wir müssen dabei ander Sache orientiert unsere Arbeit machen. Arbeitslosenkönnen wir mit arbeitsmarktpolitischen Instrumenten– der Kombilohn ist ein arbeitsmarktpolitisches Instru-ment – am ehesten zu einem Arbeitsplatz verhelfen.Deshalb möchte ich diese Debatte gerne unaufgeregtführen.

Ich komme zu dem, was der Sachverständigenrat an-geblich zur Senkung des Arbeitslosengeldes gesagt hat.Herr Pofalla, ich möchte gerne etwas zu Ihren Wortenanmerken, die wir heute Morgen hören konnten. Esheißt, der Sachverständigenrat fordere bei Ablehnung ei-nes Arbeitsangebotes eine Kürzung der Leistungen.

Es stimmt mich schon ein bisschen nachdenklich,dass man einen Sachverständigenrat braucht, der in ei-nem Gutachten öffentlich etwas fordert, was wir schonin vielen Gesetzgebungsverfahren festgeschrieben ha-ben.

(Vorsitz: Präsident Dr. Norbert Lammert)

Für solche Feststellungen, verehrter Herr Pofalla, brau-chen wir weder einen Sachverständigenrat, noch brau-chen wir politisch kluge Aussagen dazu.

(Beifall bei der SPD)

Um es klipp und klar zu sagen: Wir haben in denHartz-IV-Gesetzen gemeinsam mit der CDU/CSU Sank-tionsregelungen beschlossen. Wer ein zumutbares Ar-beitsangebot ablehnt, hat keinen Anspruch auf Finanzie-rung, und zwar weder nach SGB III noch nach SGB II.Wir haben im SGB-II-Fortentwicklungsgesetz diese Pra-xis noch einmal verändert und die gesetzlichen Rahmen-bedingungen für eine weiter vereinfachte Anwendunggeschaffen. Deshalb betrachte ich es ein bisschen alsFlop, wenn man öffentlich so tut, als könnte in diesemLand jemand Geld bekommen, ohne sich dafür der ge-sellschaftlichen Verantwortung stellen zu müssen. Inso-fern ist die heutige Debatte eine sehr gute Gelegenheit,um festzustellen, dass – wenn das Sachverständigengut-achten tatsächlich zu diesem Ergebnis kommen sollte –kein Handlungsbedarf besteht.

Dass der Bundesminister eindeutig festgestellt hat,dass es beim Regelsatz keinen Änderungsbedarf gibt, isteine weitere klare Botschaft für die Menschen in diesemLande, die durch eine solche Debatte verunsichert wer-den. Damit muss Schluss gemacht werden. Ich glaube,

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Klaus Brandner

wir müssen uns verstärkt den inhaltlichen Aufgabenwidmen. Dann werden wir das Land nach vorne bringen.

Lassen Sie mich noch drei kurze Stichworte nennen.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das wird schwierig, Herr Kollege, weil der Blick auf

die Uhr deutlich macht, dass dafür keine Zeit mehr zurVerfügung steht.

(Heiterkeit bei der SPD)

Klaus Brandner (SPD): Es sind nur einige Stichworte. – Wir müssen das

Thema der Leistungsgeminderten bzw. der Langzeitar-beitslosen aufgreifen. Wir müssen die Ausbildungssitua-tion für die Jugend offensiv angehen und wir müssendeutlich machen, dass Überschüsse in der Bundesagen-tur nicht in den Haushalt fließen. Diese Überschüssekonnten durch die Arbeitsmarktpolitik erwirtschaftetwerden und sie müssen auch in diesem Bereich bleiben.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Stefan Müller für die

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

beraten heute in erster Lesung des Bundeshaus-halts 2007 den Einzelplan 11 mit einem Volumen – dasist schon angesprochen worden – von 122 MilliardenEuro. Das ist der größte Einzeletat im Bundeshaushalt.Er deckt knapp 50 Prozent des gesamten Ausgabevolu-mens ab. Allein dadurch wird deutlich, welchen Stellen-wert die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in diesem Landhat. Daran möchte auch niemand etwas ändern.

Die große Koalition hat sich vorgenommen, denHaushalt des Bundes zu konsolidieren und vor allem dieNeuverschuldung zu reduzieren. Wir tun das nicht zumSelbstzweck; wir schlagen diesen Weg vielmehr deswe-gen ein, weil wir es uns nicht mehr leisten können, unse-ren Kindern immer mehr Belastungen aufzuwälzen, diesie später irgendwann einmal tragen müssen. Dieser Wegist richtig. Ich wünsche mir deshalb, dass die Oppositiondiesen Weg unterstützt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Klaus Brandner [SPD])

Dieser Weg geht aber nicht völlig spurlos an der Ar-beitsmarkt- und Sozialpolitik vorbei. Es wird umsoschwieriger, als wir erkennen müssen, dass die Ausga-ben im Sozialbereich durch gesetzlich bedingte Fehlent-wicklungen immer weiter angestiegen sind. Nur wenigein diesem Hause werden bestreiten, dass es im Sozial-recht, insbesondere bei den Hartz-IV-Gesetzen, Fehlan-reize gegeben hat und die Ausgaben im SGB -II-Bereich

immer weiter angestiegen sind. Ich will gar nicht vonLeistungsmissbrauch reden, was uns von einer bestimm-ten Seite dieses Hauses immer wieder unterstellt wird.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, ihr wollt das so!)

Der Missbrauch wird vielleicht gar nicht in einem sogroßen Umfang betrieben, wie es immer wieder darge-stellt wird.

Letzten Endes geht es aber um eine ungerechtfertigteInanspruchnahme von Leistungen, die an sich vom Ge-setzgeber seinerzeit nicht beabsichtigt war. Wir haben indiesem Jahr durch zwei Änderungsgesetze zum SGB IIbereits gesetzgeberisch darauf reagiert, natürlich mitdem Ziel, die Ausgaben weiter einzuschränken. Es istaber kein Selbstzweck, die Ausgaben in diesem Bereichweiter einzuschränken. Wir wollen vielmehr die immerknapper werdenden finanziellen Mittel auf die konzen-trieren, die wirklich Hilfe brauchen. Es ist mir sehr wich-tig, an dieser Stelle noch einmal klar zu machen, dass esum die Menschen geht, die wirklich hilfsbedürftig sind,und nicht um andere, die vielleicht Hilfe in Anspruchnehmen, obwohl sie sie gar nicht brauchen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben auf die Situation der weiterhin ansteigen-den Ausgaben auch im Bundeshaushalt 2006 reagiert;das wurde bereits angesprochen. Der Haushaltsaus-schuss hat eine qualifizierte Haushaltssperre in Höhevon 1,1 Milliarden Euro im Einzelplan 11 verhängt. Ichwill nicht verhehlen, dass dies bei den Kommunen fürgewisse Probleme gesorgt hat; das ist keine Frage. Jederhat das in seinem Wahlkreis erlebt. Die Optionskom-mune in meinem Wahlkreis, die gute Arbeit leistet, standoft genug vor dem Problem, Geld für Integrationsleis-tungen ausgeben zu müssen, ohne zu wissen, wie vielGeld unter dem Strich tatsächlich fließt. Das hat aberdazu geführt – so ehrlich sollten wir uns gegenüberschon sein –, dass sich die Kommunen einmal kritischangesehen haben, wofür die Gelder ausgegeben werden.Überall dort, wo das Geld nicht dringend für die Inte-grationsarbeit gebraucht wird, hat es offensichtlichHandlungsspielräume gegeben, das Geld wieder zurück-zugeben. Ich bin allen Beteiligten dankbar, dass An-strengungen unternommen wurden, die Mittel, die einigeKommunen nicht abrufen, an die Kommunen weiterzu-leiten, die zusätzlich Geld brauchen. Mein Dank geht indiesem Fall an das Ministerium sowie an die Kollegin-nen und Kollegen des Haushaltsausschusses, die dasletztendlich unterstützt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Der Haushaltsausschuss hat in dieser Woche dieHaushaltssperre teilweise aufgehoben. Die freigegebe-nen Gelder stehen nun wieder zur Verfügung, um anKommunen mit Mehrbedarf verteilt zu werden. Ent-scheidend sind aber zwei Dinge: Wir haben dafür ge-sorgt, dass es Einsparungen im Bereich des SGB IIgeben kann. Trotzdem können die Kommunen, die nach-weislich gute Arbeit leisten, ihre Tätigkeit fortsetzen. Ichfinde, das ist für diese Kommunen ein sehr gutes Signal.

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Stefan Müller (Erlangen)

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Wir haben bei den arbeitsmarktpolitischen Instrumen-ten erste Maßnahmen für einen effizienteren Einsatz derMittel ergriffen. Kollege Brandner hat bereits auf denneuen Gründungszuschuss hingewiesen. Dabei geht esdarum, mit weniger Geld Existenzgründungen von Ar-beitslosen noch besser zu fördern. Ich finde, wir sinddort auf einem guten Weg. Wir werden weitere Schrittemachen, die dazu dienen, die arbeitsmarktpolitischen In-strumente noch besser auszurichten, das heißt, beste-hende Instrumente zu verbessern, sie dort, wo es sinnvollist, zusammenzufassen und insgesamt effizienter zu ge-stalten. Sollte es die Möglichkeit geben, in diesem Be-reich etwas einzusparen, dann sollten wir das tun. Aberes geht nicht um Einsparungen um ihrer selbst willen,sondern darum, knapper werdende Mittel an diejenigeneffizienter zu verteilen, die Unterstützung brauchen.

Es ist unbestritten – das wurde schon angesprochen –,dass es bestimmte Personengruppen in diesem Landgibt, die besondere Unterstützung brauchen, zum Bei-spiel ältere Menschen bzw. ältere Arbeitnehmer. Wir allewissen um die Probleme dieser Gruppe in Deutschland.Wir erleben in persönlichen Gesprächen das Leid der äl-teren Menschen – ich finde allerdings, es ist schwierig, beiüber 50-Jährigen von älteren Menschen zu sprechen – underfahren, dass es Menschen gibt, die arbeiten wollen,aber nicht arbeiten können, weil ihre Beschäftigungs-perspektiven so schlecht sind. Es ist das erklärte Zieldieser Koalition, die Beschäftigungsperspektiven fürdie Älteren in unserem Land deutlich zu verbessern.Der Bundesarbeitsminister hat bereits die Initiative„50 plus“ vorgestellt. Das ist die richtige Richtung. Wirwerden das im kommenden Herbst politisch auf denWeg bringen.

Eines ist aber auch klar: Alleine etwas politisch aufden Weg zu bringen, ist eine Sache. Die andere Sacheist, dass wir in diesem Land einen Bewusstseinswechselbrauchen. Jemand, der älter als 50 Jahre ist, darf nichtzum alten Eisen gehören. Auch in der Wirtschaft musssich die Erkenntnis durchsetzen, dass eine gesunde Mi-schung aus älteren und jüngeren Mitarbeitern für die Be-triebe von Vorteil ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Klaus Brandner [SPD]: Glückauf!)

Wir haben arbeitsreiche Monate hinter uns und ar-beitsreiche Monate vor uns. Ich glaube, dass wir aufeinem guten Weg sind. Alle sind eingeladen, an diesemWeg mitzuwirken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Zum Schluss der Beratung über diesen Geschäftsbe-

reich erhält das Wort der Kollege Hans-Joachim Fuchtelfür die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

heutige Beratung hat gezeigt, dass die haushaltspoliti-sche Musik in diesem Jahr ganz eindeutig im Haushaltdes Vizekanzlers spielt

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: In Dur oder Moll?)

und dass es erhebliche Risiken in diesem Haushalt gibt.Ich möchte die Opposition jedoch beruhigen: Wir wer-den im Herbst in der Koalition eine Reihe von Maßnah-men ergreifen, mit denen diese Risiken eingeschränktwerden.

Am wenigsten brauchen wir dabei die Belehrung vonden Grünen. Sie sind jetzt seit neun Monaten nicht mehrin der Regierung. Ist Ihnen aufgefallen, dass jetzt dasMaastrichtkriterium eingehalten wird, und ist Ihnen auf-gefallen, dass der Arbeitsmarkt sich zu beleben beginnt?

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil wir daran gearbeitet haben!)

Es gibt über 400 000 Arbeitslose weniger. Über130 000 zusätzliche versicherungspflichtige Beschäfti-gungsverhältnisse sind entstanden.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die Zahlen müs-sen zur Kenntnis genommen werden!)

Ich an Ihrer Stelle wäre ganz ruhig; denn kaum sind Sieweg, geht es aufwärts mit Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Der Minister Holter aus Mecklenburg-Vorpommernist nicht mehr hier.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Er ist zum Wahlkampftermin!)

Das ist eine Unverschämtheit, nachdem er hier eine poli-tisch deplacierte Rede als Bundesratsmitglied gehaltenhat. Wir haben daran erkannt, dass sich die PDS aus-schließlich im ALG II einigelt. Das ist reine sozialisti-sche Politik. Ihren Wählern kann man nur zurufen: Stei-gen Sie aus dem sinkenden Schiff aus, steigen Sie ineinen Dampfer, der Fahrt aufnimmt! Unterstützen Sieeine Politik, die auf Arbeitsplatzschaffung im ersten Ar-beitsmarkt ausgerichtet ist

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sie hätten zuhören sollen!)

und nicht den zweiten Arbeitsmarkt kultiviert.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Dr. Dagmar Enkelmann [DIELINKE]: Sie hätten besser zuhören sollen! –Katja Kipping [DIE LINKE]: Wenn es um Ar-beitsmarktpolitik geht, sind Sie ein U-Boot,das untertaucht!)

Dem Kollegen Kolb von der FDP möchte ich sagen:Sie sind lange genug im Geschäft und wissen, dass sicheine konjunkturelle Verbesserung auf dem Arbeitsmarktverzögert niederschlägt. Deshalb sollten Sie noch einbisschen warten, bevor Sie alles geißeln. Wir haben die

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Hans-Joachim Fuchtel

richtigen Weichenstellungen vorgenommen und nur we-gen Ihrer Oppositionsbrille können Sie das nicht sehen.Ansonsten müssten Sie uns in diesem Bereich zustim-men.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Erfreulicherweise ist heute anders als noch bei derletzten Haushaltsberatung, als ich das hier schon einmalfür die Unionsfraktion gesagt habe, ganz klar geworden:Wenn sich Spielräume eröffnen, den Beitrag weiter zusenken, dann müssen diejenigen, die den Beitrag einge-zahlt haben, von Beitragssenkungen profitieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Klaus Brandner [SPD])

Wir dürfen die Leistungsträger nicht frustrieren, wirmüssen sie unterstützen. Spätestens seit Kurt Beck dasso deutlich erkannt hat, glaube ich wirklich daran, dasswir gemeinsam als Koalition eine weitere Beitragssen-kung erreichen.

Schwieriger ist es mit dem Bereich des Arbeitslosen-gelds II. Hier ist ganz klar, dass es eine Reihe von Fehl-entwicklungen gibt, denen wir entgegenwirken müssen.Ich fürchte, mit den bisherigen Reformen haben wir nurdie Milchzähne der Fehlentwicklungen gezogen.

(Katja Kipping [DIE LINKE]: Die fallen nor-malerweise von allein aus!)

Jetzt müssen wir noch weitere Zähne ziehen, um auf dieEbene zu kommen, die mein Kollege soeben dargestellthat: dass diejenigen Unterstützung bekommen, die siebrauchen, und diejenigen, die sich selbst helfen können,verpflichtet werden, sich in entsprechendem Maß tat-sächlich selber zu helfen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich bin überzeugt, dass es notwendig ist, darüber zureden, wer bei den Arbeitsgemeinschaften eigentlichden Hut aufhat. In diesem Herbst muss geklärt werden,wer den Hut aufsetzt und damit die Verantwortung fürdiesen großen Sektor trägt. Wir wollen schließlich wis-sen, wer die Verantwortung trägt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es kann nicht sein, dass der eine bestellt und der anderezahlt. In solchen Fällen wird es zu teuer. Das muss ge-klärt werden. Wenn wir das schaffen, werden wir vielGeld sparen. Wir sind in unseren Haushaltsansätzen aufReduzierungen eingestellt.

Ein weiterer Aspekt umfasst die Eingliederungshil-fen. Dazu kann ich nur sagen: All das, was hier erzähltwurde, geht an der Sache vorbei. Tatsache ist, dass6,5 Milliarden Euro im Haushalt standen. Tatsache ist,dass wir 1,1 Milliarden Euro gesperrt haben. Tatsachewird sein – damit sage ich etwas, was heute noch nichtgesagt worden ist –, dass wir auch in diesem Bereich ei-nen Überschuss von mindestens 1,5 Milliarden Euro amEnde des Jahres haben werden. Das ist die Realität.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Es ist völlig falsch, dass hier gejammert wird, manhabe das Geld nicht richtig ausgegeben. Alle, die zusätz-liches Geld benötigen, werden durch unsere haushalts-politischen Maßnahmen dieser Tage bedient werden. Esist eine Unverschämtheit, dass dies hier falsch darge-stellt wird. Es ist reiner Wahlkampf, den Sie hier veran-stalten. Wir werden feststellen – wir haben jetzt 240 bis250 Millionen Euro entsperrt –, dass wir am Ende desJahres einen Riesenüberschuss haben werden. Ich bingespannt, ob dann all diejenigen, die erst das Geld ange-fordert, aber nicht ausgegeben haben und die uns in derÖffentlichkeit gegeißelt haben, hierher kommen und sichentschuldigen. Das wäre eigentlich die richtige Forde-rung, die wir stellen müssten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir werden auf eines achten müssen: Es wird leidersehr viel getrickst und in gewissen Bereichen gestaltet,was wir so nicht wollen. Wenn Sie gestern die „Welt“gelesen haben, dann werden Sie festgestellt haben, dasses Arbeitsgemeinschaften gibt, die sogar Führerscheinefinanzieren und Zuschüsse von bis zu 2 500 Euro fürAutos geben. So haben wir uns die Eingliederungshilfenicht vorgestellt. Sie muss anders angelegt werden, da-mit man das dem Steuerzahler erklären kann.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Es kann doch nicht sein, dass man Jobfinderprämien ein-führt, wie das jetzt in einigen Arbeitsgemeinschaften ge-macht wird. Es kann nicht sein, dass selbst diejenigen,die einen Job gefunden haben, ohne den Kundenservicezu nutzen, im Nachhinein 1 000 Euro erhalten, nur weilsie jetzt einen Job haben. Es geht doch nur darum, genugstatistische Fälle zu haben, um die Existenzberechtigungzu belegen. So geht es nicht. Wir werden die Hilfen aufdie Fälle begrenzen, die wirklich Unterstützung brau-chen.

Ein Letztes: Wir müssen mit all unseren Maßnahmendarauf hinwirken, dass es nicht zu Mitnahmeeffektenim Arbeitgeberlager kommt, und verhindern, dass dieArbeitgeber nur dann ausbilden und nur dann einstellen,wenn sie Zuschüsse erhalten. Wir brauchen die Solidari-tät aller. Wir appellieren an alle, gemeinsam in eineRichtung zu gehen, damit es nicht zu solchen Mitnahme-effekten kommen kann. Wenn wir es schaffen, Solidari-tät herzustellen, dann werden wir auch im Sozialetat mitweniger Geld auskommen. Das ist die Aufgabe. HerrMinister, wir haben einen arbeitsintensiven Herbst voruns. Sie können sicher sein, dass wir von der Unions-fraktion unseren Beitrag leisten werden, eine solideFinanzierung Ihres Etats sicherzustellen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich

liegen nicht vor.

Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-desministeriums für Familie, Senioren, Frauen undJugend, Einzelplan 17.

(Unruhe)

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Präsident Dr. Norbert Lammert

– Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre schön, wenndiejenigen, die sich nun anderen Verpflichtungen wid-men müssen, dazu beitragen könnten, dass die nötigeKonzentration im Plenum für den neuen Geschäftsbe-reich hergestellt wird.

Das Wort erhält zunächst die Bundesministerin Ur-sula von der Leyen. Frau von der Leyen, bitte schön.

Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend:

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Geld allein macht bekanntlich nicht glücklich.Aber wir debattieren im Augenblick den Bundeshaushaltund da geht es vorrangig um Geld. Es macht mich ehr-lich gesagt stolz und glücklich, dass unser Politikbereichderjenige ist, der den zweithöchsten prozentualen Auf-wuchs in diesem Jahr gehabt hat. Dies ist ein klares Zei-chen: Wir investieren in Familie; Investition in Familieist eine Zukunftsinvestition.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wir haben allen Grund dazu: wenig Kinder, ein sichabzeichnender Fachkräftemangel, ungenutzte Poten-ziale älterer Menschen. Das sind ernst zu nehmende Vor-boten dafür, welche Umstellungen vor uns liegen. DieseUmstellungen müssen wir bewältigen. Deshalb kanneine nachhaltige Familienpolitik keine Politik sein, diean dem festhalten will, was schon immer so war. Einenachhaltige Familienpolitik ist vielmehr eine Politik, dienicht nur den Istzustand betrachtet, sondern auch aus denstattfindenden Veränderungen lernt und Schlüsse zieht.Es geht um die Gestaltung dessen, was auf uns zu-kommt.

Ziel muss dabei sein, dass der für uns hohe Wert vonFamilie – die inneren Bindungen – auch in einer moder-nen Welt lebbar ist. Wir brauchen vorwiegend vierSchwerpunkte: eine Politik, die das Zusammenlebenvon Männern und Frauen mit Kindern in einer globali-sierten Welt möglich macht; eine Politik, die lebhafteBeziehungen zwischen Älteren und Jüngeren fördert;eine Politik für die Integration von in unsere Gesell-schaft neu Hinzugezogenen; vor allem eine Politik, dieKindern vom Lebensanfang an Chancen auf Bildung undChancen auf Erziehung gibt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Bereits in diesem Jahr haben wir die Weichen dafürganz konkret gestellt. Es ist klar: Das war mit vielen Dis-kussionen verbunden. Dabei haben wir Vertrautes aufden Prüfstand gestellt. Wir haben eingefahrene Denk-muster infrage gestellt. Aber wenn wir Familie und ihreWerte auch am Anfang des 21. Jahrhunderts lebbar ma-chen wollen, dann müssen wir jetzt handeln. Ich nennehier nur vier der wichtigsten Weichenstellungen, die sichauch im Haushalt 2007 niederschlagen: das Elterngeld,die Mehrgenerationenhäuser, das Aktionsprogramm„Frühe Hilfen für Eltern und Kinder“ und das Programm„Jugend für Vielfalt und Demokratie“.

Das höhere Volumen des Einzelplans 17 für das kom-mende Jahr geht eindeutig auf das Elterngeld zurück.

Ich will Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich freue mich und ichbin stolz darauf, dass es explizit in das Investitionspro-gramm aufgenommen worden ist. Das ist der richtigeAkzent. Investition heißt auch investieren in Familie undnicht nur in greifbare Güter oder in Beton Gegossenes.Investition heißt vor allem investieren in die Menschen,ihre Beziehungen und die Entfaltung dieser Beziehun-gen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Das Elterngeld macht auch sehr klar – ich glaube, dasist wichtig –, dass die Gesellschaft junge Menschen beieiner ihrer wichtigsten Entscheidungen im Leben nichtallein lässt, sondern sie gezielt unterstützt. Das heißt, je-der junge Vater und auch jede junge Mutter kann jetztam Lebensanfang der Zeit für sein Kind oder für ihrKind oberste Priorität beimessen, ohne den bisherigenEinkommensverlust hinzunehmen. Zeit ist Geld und dasElterngeld schafft Zeit für Kinder.

Damit erfüllt das Elterngeld zwei Kernanliegen: DieBedürfnisse der Kinder und die beruflichen Perspektivender Eltern werden gemeinsam betrachtet. Sie werdennicht mehr in Konkurrenz zueinander gestellt. Damit si-chert das Elterngeld Wahlfreiheit, nämlich die Freiheit,bei den Kindern zu sein, und die Möglichkeit zu arbei-ten.

Natürlich muss dieser Gedankengang nach dem ers-ten Lebensjahr weitergesponnen werden. Das bedeutet:Ausbau familienentlastender Netze, Ausbau der Kinder-betreuung und der Tagespflege, familienfreundliche Ar-beitsstrukturen. Dies alles ist unerlässlich, wenn man eingeschlossenes Konzept haben will. Wir haben noch ei-nen – im internationalen Vergleich – langen Weg voruns. Ich will hier auch ganz klar sagen: Auf diesem Wegmüssen viele Akteure tätig werden; denn diese Feldersind keine originären Handlungsfelder des Bundes. DerBund kann unterstützen, zum Beispiel durch verbesserteAbsetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten und der haus-haltsnahen Dienstleistungen, aber Länder, Kommunen,freie Träger und Arbeitgeber tragen ebenfalls einen Teilder Verantwortung und diesen müssen wir auch einfor-dern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Zur Familienpolitik gehört selbstverständlich aucheine Politik für ältere Menschen und ihre Potenziale,vor allem für das, was diese vielen kompetenten, leis-tungsbereiten und verantwortungsbewussten älterenMenschen zu geben bereit sind. Wir wissen aus vielenUntersuchungen, dass sie zu geben bereit sind, und zwarnicht nur im materiellen Sinne, sondern auch in demwichtigen immateriellen Sinne.

Wir müssen gerade vor dem Hintergrund des demo-grafischen Wandels Familie weiter denken, in weiterenDimensionen. Familie ist natürlich der Ort, wo zualler-erst Alltagssolidaritäten erfahren und erlernt werden.Aber man kann sich nicht mehr allein auf die Kernfami-lie beschränken. Man kann vielmehr, wenn man es rich-tig bedenkt und auch richtig gestaltet – das ist mir wich-tig –, jene, die Kinder haben, mit jenen verbinden, diekeine Kinder haben. Die Beziehungen zwischen beiden

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Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen

Gruppen dürfen unter keinen Umständen allein auffinanzielle Dinge verkürzt werden.

Jeder hat Familie. Jeder hat eine Herkunftsfamilie.Nicht alle, aber viele haben eine eigene junge Familie.Die Kunst besteht darin – das muss unsere Aufgabesein –, zu erreichen, dass sich sowohl die Familie alsauch die vielen Angebote für die einzelnen Generationenin die Nachbarschaft öffnen. Unter ein Dach sollen auchjene eingeladen werden, die keine eigenen Kinder habenoder deren Kinder zum Beispiel weit weg wohnen.

Das ist der Grundgedanke des Aktionsprogramms derMehrgenerationenhäuser. Sie sollen Drehscheiben fürbürgerschaftliches Engagement sein. Sie sollen genausoDrehscheiben für Dienstleistungen rund um die Familiesein, also in einem modernen Sinne das leisten, was frü-her Dorfstrukturen oder Großfamilien geschafft haben.Die Ausschreibung für die ersten 50 Häuser wurde vorkurzem gestartet. Im kommenden Jahr wollen wir mitden Mehrgenerationenhäusern in die Fläche gehen.20,5 Millionen Euro sind dafür im Haushalt veran-schlagt.

Lassen Sie mich aus dem Bereich der Politik fürKinder und Jugendliche noch zwei wichtige Punkteherausgreifen.

Die frühen Hilfen für Eltern und Kinder schützenund fördern die Kinder, die am Lebensanfang besonde-ren sozialen und besonderen gesundheitlichen Risikenausgesetzt sind. Inzwischen ist das Servicebüro ausge-schrieben, das heißt, wir können jetzt mit der Arbeit be-ginnen, die vielen innovativen Ansätze zu vernetzen, diees in Ländern und Kommunen schon gibt, um systema-tisch eine Art Frühwarnsystem genau für diese Kinder zuentwickeln, sodass sie am Lebensanfang nicht allein ge-lassen werden.

Man kann auch das Programm „Jugend für Vielfaltund Demokratie – gegen Rechtsextremismus, Frem-denfeindlichkeit und Antisemitismus“ als eine ArtFrühwarnsystem bezeichnen. Mit dem neuen Programmwerden nach Auslaufen der Programme „Civitas“ und„Entimon“ für Maßnahmen zur Stärkung von Vielfalt,Toleranz und Demokratie dauerhaft 19 Millionen Eurofestgeschrieben. Das neue Programm ist nicht einfachnur eine Fortsetzung der alten Programme. Wir habenaus den Erfahrungen gelernt und setzen insbesondere aufdie Entwicklung integrierter lokaler Strategien und dieZusammenarbeit mit Partnern vor Ort.

„Lernen von guten Erfahrungen“ ist auch ein Stich-wort, das sich für die EU-Ratspräsidentschaft anbietet,die im ersten Halbjahr 2007 ansteht. Das wird ein span-nender Prozess werden. Ganz Europa ist vom demogra-fischen Wandel betroffen, aber unterschiedlich. Wir se-hen deutliche Unterschiede in der Entwicklung der nord-und westeuropäischen Länder, die sehr viel früher undsehr viel flexibler auf den Geburtenrückgang reagiert ha-ben. Wir sehen andere Entwicklungen in den mittel- undsüdeuropäischen Ländern. Dieses halbe Jahr ist eineganz besonders gute Chance, nicht nur im Bereich derJugendpolitik – da auch –, sondern auch in anderen Poli-tikfeldern – ich nenne beispielhaft die Frage: Wie gehen

wir in einer alternden Gesellschaft mit dem Potenzial äl-terer Menschen um? – voneinander zu lernen, weil dieLänder in der EU einerseits unterschiedlich, andererseitsaber dann doch sehr ähnlich sind, auf ähnlichen Wurzelnberuhen, ähnliche Chancen haben, aber auch mit ähnli-chen Schwierigkeiten zu kämpfen haben.

2007 ist das Europäische Jahr der Chancengleich-heit. Deshalb sage ich auf unseren Politikbereich bezo-gen: Es geht ganz klar um die Chance für jeden – obKind, Mann oder Frau, ob Jung oder Alt, ob mit Zuwan-derungshintergrund oder ohne –, sein oder ihr Leben unddie Lebensziele selbstständig zu entwickeln. Das kannman aber nur auf der Basis der eigenen Fähigkeiten undKompetenzen. Unsere Aufgabe ist es, den Rahmen dafürzu schaffen, dass junge Menschen die Fähigkeiten undKompetenzen, die ihnen innewohnen – in unterschiedli-cher Form; aber sie wohnen ihnen inne –, von Anfang anentfalten können, zum Blühen bringen können. Sie wer-den später genügend schwierige Entscheidungen fällenmüssen. Unsere Aufgabe ist es, ihnen die Chance aufBildung und Erziehung von Anfang an zu geben.

Über diese Chance werden wir im nächsten Jahr aufEU-Ebene diskutieren können. Wir werden von anderenLändern lernen können. Wir können aber auch sehr kon-sequent mit unseren eigenen Vorstellungen den Folgendes demografischen Wandels Rechnung tragen. Ich bitteSie dafür um Ihre Mithilfe und freue mich auf die ge-meinsame Arbeit.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Miriam Gruß für die

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Miriam Gruß (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Fangen wir mit dem Positiven an;denn das ist schnell abgearbeitet. Die Ankündigung vonFrau Ministerin von der Leyen, ein Kompetenzzentrumfür Familienleistungen einzurichten und dafür die Mit-tel in diesen Haushalt einzustellen, begrüßen wir. Ichhabe es an dieser Stelle schon einmal gesagt: Der Auf-wand, der in Deutschland für Familien betrieben wird,ist enorm hoch, der Ertrag jedoch sehr bescheiden.

(Beifall bei der FDP)

Das muss sich ändern.

Die FDP versteht unter Familienförderung etwas an-deres als das Gießkannenprinzip. Wir müssen da dierichtigen Akzente setzen, wo Familien Leistungen amdringendsten benötigen. Für alle ein bisschen hilft kei-nem weiter. Zu hoffen bleibt, dass aus den Erkenntnissendieses Kompetenzzentrums sinnvolle und durchdachteSchlüsse gezogen werden, sodass die Familien an denStellen unterstützt werden und Leistungen dort effektivgebündelt werden, wo es wirklich notwendig ist.

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Miriam Gruß

(Beifall bei der FDP)

Dafür hat Ihnen, sehr geehrte Frau Ministerin, der gre-nouillesche, das heißt der richtige Riecher gefehlt. Einweiteres „Viel Lärm um nichts“ können Sie den Fami-lien nicht zumuten.

Wir wollen jungen Menschen in Deutschland Mutmachen, sich für Kinder zu entscheiden. Dafür müssenwir ihnen aber auch Verlässlichkeit und Vertrauen in dieUnterstützung bieten, die ihnen zur Verfügung steht.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Ein Elterngeld alleine reicht da nicht aus.

Kinder sind ein wertvolles, aber auch teures Gut. Je-der, der Kinder hat, weiß, was ich meine. Die Kosten fürFamilien sind eklatant, wenn sie Kinder haben. Die Aus-gaben für ein Kind sind von 1998 bis heute um mehr als10 Prozent gestiegen. Durchschnittlich 549 Euro gibteine Familie laut Statistischem Bundesamt pro Kind imMonat aus. Wir reden hier lediglich über die Grundver-sorgung. Da ist kein Klavierunterricht, keine Reitstundeoder gar ein gemeinsamer Familienurlaub enthalten.

(Nicolette Kressl [SPD]: Golfstunden! Das ist doch die Welt der FDP!)

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat gestern in derHaushaltsdebatte gesagt: Es geht um die Menschen unddarum, ihnen das zu geben, was sie brauchen. – Einschöner Satz; aber, verehrte Damen und Herren von derBundesregierung, mit Ihrer Politik nehmen Sie den Men-schen das, was sie brauchen.

(Beifall bei der FDP)

Die Mehrwertsteuererhöhung wird insbesondereFamilien treffen. Sie bedeutet für viele Familien inDeutschland schlichtweg eines: Verzicht, Verzicht aufden neuen Schulranzen, Verzicht auf Spielzeug, Verzichtauf eine Feier zum Kindergeburtstag. Denn all dies ma-chen Sie um 3 Prozentpunkte teurer.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dirk Niebel [FDP]: Pfui!)

Mehr als 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche inDeutschland leben nach Angaben des Kinderschutzbun-des schon jetzt auf Sozialhilfeniveau. Damit hat sich dieZahl der armen Kinder seit 2004 verdoppelt. Die Situa-tion dieser jungen Menschen wird sich durch die Steuer-erhöhung weiter verschlechtern.

Um Familien und Kinder in Deutschland zu fördern,kommt es darauf an, die richtigen Prioritäten zu setzen.Diese kann ich im Einzelplan 17 nicht erkennen. DieMehrausgaben für das Elterngeld sind nur ein Beispieldafür. Es nützt den Familien nämlich nichts, wenn sienach dem ersten Geburtstag des Kindes keineAnschlussbetreuung haben.

(Beifall bei der FDP)

Wir müssen früher ansetzen, bevor wir später viel für daszahlen, was wir heute versäumt haben.

Ganz elementar dafür ist meiner Ansicht nach eineVerankerung der Kinderrechte im Grundgesetz. In der

vergangenen Woche habe ich an alle Fraktionen und andie kinder- und jugendpolitischen Sprecher einen Briefgeschrieben, um eine interfraktionelle Initiative zu star-ten. Die Zeit ist reif dafür, über Parteigrenzen hinwegden Schutz und die Rechte der Kinder in das Grundge-setz aufzunehmen. Bis heute habe ich viel positivesFeedback erhalten. Eine Rückmeldung der Fraktionen,die die Bundesregierung stützen, steht allerdings nochaus. Ich warte gespannt auf deren Antwort und darauf,was ihnen die Kinder in Deutschland wert sind. Denndas steht nicht im Einzelplan 17.

(Beifall bei der FDP – Iris Gleicke [SPD]: Wie viele Kinder haben Sie eigentlich?)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Christel Humme für

die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Christel Humme (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!

Die Frau Ministerin hat gerade darauf hingewiesen: DasJahr 2007 wird das Europäische Jahr der Chancengleich-heit. Auf den entsprechenden Internetseiten ist nachzule-sen:

Ziel der Europäischen Kommission ist es, Diskri-minierungen wirksam zu bekämpfen, Vielfalt alspositiven Wert zu vermitteln und Chancengleich-heit für alle zu fördern.

Das passt gut: Chancengleichheit ist ein zentraler Maß-stab sozialdemokratischer Politik und wird es auch inZukunft bleiben. Mit dem Haushalt 2007 – Frau Ministe-rin, auch Sie haben das gesagt – sind wir im Hinblick aufden Aspekt der Chancengleichheit sehr gut aufgestellt.

Trotz der notwendigen Haushaltskonsolidierung sinddie Mittel im Einzelplan 17 um 16 Prozent aufgestocktworden. Mit diesen zusätzlichen Mitteln werden wir dasElterngeld – das haben wir gerade gehört – finanzieren.Unser Elterngeld wird die Chancengleichheit für Frauenund Männer am Arbeitsplatz fördern. Väter können zu-künftig in den Betrieben leichter sagen, dass sie Famili-enarbeit übernehmen wollen. Frauen werden bei der Ein-stellung und bei Beförderungen bessere Chancen haben.Denn nun wird es auch für die männlichen Mitbewerberattraktiver, Elternzeit zu nehmen. Diskriminierende Rol-lenzuweisungen am Arbeitsplatz und in der Familie wer-den mit dem Elterngeld endlich aufgebrochen.

Ich meine, dass der Vorschlag des Bundesrates – wirwerden über das Elterngeld in den nächsten 14 Tagen zudiskutieren haben –, den Anspruch auf den Geschwister-bonus auf drei Jahre zu verlängern, völlig falsch ist.Denn das würde bedeuten, dass die betroffenen Fraueneine wesentliche Benachteiligung am Arbeitsplatz erfah-ren würden. Wir alle wissen doch: Je länger die Baby-pause dauert, desto schwieriger ist für Frauen der Wie-dereinstieg in den Job. Dann helfen anschließend auchkeine so genannten Wiedereinsteigerprogramme, ganz

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Christel Humme

zu schweigen von den Folgen für die späteren eigenstän-digen Rentenansprüche der Frauen.

Ich begrüße es daher sehr, dass Sie, Frau Ministerin,in dieser Richtung eine klare Position bezogen habenund den Vorschlag des Bundesrates ablehnen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Junge Frauen um die 30 sind zu über 95 Prozent – daswissen wir – berufstätig. In diesem Alter entscheiden siesich für oder gegen Kinder. Diese Frauen brauchen un-sere Unterstützung mit besseren Rahmenbedingungenfür die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dafür set-zen wir uns ein und das meinen wir, wenn wir von echterWahlfreiheit für Frauen und Männer sprechen.

Das alleine – Frau Golze, auch das wissen wir – reichtnatürlich nicht.

(Miriam Gruß [FDP]: Mein Name ist Gruß!)

– Entschuldigung. Frau Gruß, ich kann verstehen, dassSie nicht verwechselt werden wollen. – Zu mehr Chan-cengleichheit von Frauen und Männern – das ist eineBinsenwahrheit – gehört ein gutes und verlässliches Be-treuungsangebot auch für Kinder unter drei Jahren, wiees uns die europäischen Nachbarstaaten vormachen.

Der aktuelle Bericht der Bundesregierung zur Umset-zung des Tagesbetreuungsausbaugesetzes zeigt, dass esFortschritte gibt. Danach ist das Betreuungsangebot inWestdeutschland für unter Dreijährige tatsächlich gestie-gen, aber eben nur von 4,2 Prozent auf 9,6 Prozent invier Jahren. Wir stellen leider immer noch fest: Der Fort-schritt ist vielerorts noch eine Schnecke. Die Länder undKommunen sind an dieser Stelle gefordert, in den nächs-ten zwei Jahren noch größere Anstrengungen zu unter-nehmen.

(Ina Lenke [FDP]: Dann soll das Geld auch kommen!)

– Ich sage gleich noch etwas dazu, Frau Lenke, weil ichweiß, dass Sie dazu immer wieder etwas hören wollen.

(Ina Lenke [FDP]: Das ist auch richtig!)

Sollte der bedarfsgerechte Ausbau der Kinderbetreu-ung nicht erfolgen, werden wir einen Rechtsanspruchauf einen Betreuungsplatz für unter Dreijährige im Ge-setz formulieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart, und daswerden wir auch umsetzen.

Frau Lenke und Frau Gruß, Kommunen brauchen na-türlich auch Geld. Sie haben in der Haushaltsdebatte ge-betsmühlenartig darauf abgestellt, dass wir die Mehr-wertsteuer zurücknehmen sollten. Beantworten Sie miraber einmal die Frage, wie die Betreuung finanziert wer-den soll. Denn ein Drittel des Mehrwertsteueraufkom-mens geht an die Länder und es sind die Länder und dieKommunen, die die Betreuung organisieren und umset-zen müssen.

Mit der Verwendung der Mehreinnahmen im Haus-halt haben wir zwei wichtige Ziele erreicht: Konsolidie-rung auf der einen Seite und Zukunftsinvestitionen inmehr Bildung und Betreuung auf der anderen Seite, wasgerade im Interesse der Familien, ihrer Kinder und dernachfolgenden Generationen liegt. Darin unterscheidenwir uns wesentlich. Wir haben ein Zukunftskonzept undSie sagen Nein dazu. Das reicht uns natürlich nicht.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin Humme, darf Ihnen die Frau Kollegin

Lenke eine Zwischenfrage stellen?

Christel Humme (SPD): Bitte.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Bitte schön.

Ina Lenke (FDP): Frau Humme, wir beide sind schon etwas länger im

Bundestag. Ich erinnere mich daran, dass die Zusam-menlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe den Kom-munen 1,5 Milliarden Euro zur Betreuung von Kindernunter drei Jahren einbringen sollte. Ich habe im Rahmenvon verschiedenen Initiativen immer wieder die alte unddie neue Bundesregierung danach gefragt. Aber ich habekeine Antwort bekommen. Ich frage Sie, warum Sienicht mehr von dieser Finanzierungsart sprechen, son-dern warum Sie jetzt davon sprechen, dass die Einnah-men aus der Mehrwertsteuererhöhung für die Kinderbe-treuung verwendet werden sollen. Ich möchte weiterhingerne wissen, wo das steht.

Christel Humme (SPD): Die Entlastung der Kommunen ist im Rahmen der

Hartz-IV-Gesetzgebung zugesagt worden. Sie waren da-bei, als wir im letzten Jahr entschieden haben, dass dieKommunen vom Bund mehr Geld zur Verfügung gestelltbekommen. Die Aufgabe der Kommunen ist es, einenTeil dieser Einsparungen – diese gibt es; sie sind auch inmeinem Kreis gegeben; sie stehen definitiv auf dem Pa-pier – für die Kinderbetreuung zu verwenden.

Frau Lenke, Sie als Kommunalpolitikerin – Sie lassenkeine Gelegenheit aus, dies zu betonen –

(Ina Lenke [FDP]: Nicht mehr!)

wissen ganz genau, dass wir als Bund keinerlei Möglich-keit haben, jede Kommune zu verpflichten, die Gelder soeinzusetzen, dass sie für die Investition in die Zukunftunserer Kinder genutzt werden können. Ich gebe zu, dassdas ein Problem ist. Aber wir haben den Kommunen dasbenötigte Geld für die Betreuung gegeben. Ich glaube,da könnte sich einiges bewegen. Es gibt Gemeinden, diedas genutzt haben. Darauf sind wir stolz.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN)

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4621

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Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich merke, dieses Thema muss im Ausschuss noch

vertieft werden. Darf denn nun auch die Kollegin Deli-göz eine Zwischenfrage stellen?

Christel Humme (SPD): Bitte schön.

Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Humme, Sie haben die 9 Prozent zitiert. Stim-

men Sie mir zu, dass dieser Anteil regional sehr unter-schiedlich ausfällt, dass gerade im Süden unseres Lan-des, wo die Defizite am größten sind, dieser Anteil nachwie vor nur bei 2 bis 3 Prozent liegt und dass dort etwasgetan werden muss?

Ich möchte in diesem Zusammenhang auch fragen,wie Sie zu der Idee der Grünen stehen, über Absenkung– nicht Abschaffung – des Ehegattensplittings einenRechtsanspruch auf Kinderbetreuung für unter Dreijäh-rige teilzufinanzieren? Wie stehen Sie zu dieser Idee, zu-mal auch Ihr Finanzminister sich bereits sehr positiv ge-genüber dieser Idee geäußert hat?

Christel Humme (SPD): Vielen Dank, Frau Deligöz. Ich nehme an, dass Sie

mit den 9 Prozent die Quote von 9,6 Prozent bei Betreu-ungsplätzen für unter Dreijährige meinen.

Richtig ist, dass an dieser Stelle schon eine Menge ge-schehen ist und wir regional sehr große Unterschiede ha-ben. In Städten in Ostdeutschland haben wir 37 Prozent,in Westdeutschland aber ein hohes Defizit. Viele Kom-munen haben gute Ansätze. Ich denke etwa an die Kom-mune Leer, in der das Kinderangebot auch von unserenInitiativen nach vorne gebracht wurde.

Sie haben vollkommen Recht: Wir brauchen zusätzli-che Mittel. Sie wissen, dass alle Parteien darüber nach-denken, wie man zusätzliche Mittel akquirieren kann –Mittel, die vielleicht auch nicht zielgenau zu den Fami-lien kommen, die Kinder haben. Da werden wir sicher-lich – das Ministerium tut das auch – eine Menge zu un-tersuchen und zu überlegen haben. Dazu gehört meinerAnsicht nach auch, das Ehegattensplitting auf den Prüf-stand zu stellen und zu überlegen, ob das nicht zielge-nauer für die Betreuung eingesetzt werden kann. ReichtIhnen das?

(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ja!)

– Gut.

(Beifall bei der SPD)

Diese Zwischenfragen machen gleichzeitig deutlich:Wenn wir Familienpolitik betreiben wollen, dann brau-chen wir Partner, wir brauchen die öffentliche Hand –das ist klar. Bund, Land und Kommune müssen da zu-sammenwirken, aber wir brauchen auch die Unterneh-men. Diesen Appell dürfen wir nicht vergessen, denn wirbrauchen auch die privaten Initiativen. Das ist garkeine Frage. Denn Chancengleichheit ohne familien-

freundliche Arbeitsbedingungen ist meiner Ansicht nachnicht zu machen.

Von daher danke ich der Frau Ministerin, dass unsereAllianz für Familie weitergeführt und das Konzept derlokalen Bündnisse fortgesetzt wird.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich bin froh, dassdas Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz seit dem18. August nach langem Ringen endlich in Kraft ist.Auch das wird die Chancengleichheit von Frauen undMännern stärker in den Mittelpunkt rücken. DennFrauen sind es, die immer noch weniger verdienen. Wirkonnten das heute in der Presse nachlesen und bestätigtbekommen. Frauen sind in den Führungsetagen noch im-mer nur mit der Lupe zu finden. Ich denke, das musssich dringend ändern.

Neben dem guten Allgemeinen Gleichbehandlungs-gesetz brauchen wir einen tatsächlichen Mentalitätswan-del und Verhaltensänderungen. Darum bin ich froh, dassin unserem Haushalt, im Einzelplan 17, die Gleichstel-lungsstelle mit 2,8 Millionen Euro etatisiert ist. Damitsetzen wir im Jahr der Chancengleichheit 2007 ein wich-tiges Signal, vor allem für die Frauen.

Chancengleichheit für alle schließt auch ein – das istein wichtiger Punkt –, unsere Anstrengungen zurArmutsprävention fortzusetzen. Oft erleben wir – dasist leider so, es ist nicht von der Hand zu weisen –, dassdas Familieneinkommen so gering ist, dass es nicht fürden Unterhalt der Kinder reicht. Dann zahlen wir – dashaben wir durchgesetzt, das ist auch gut so – einen Kin-derzuschlag. Je nach Einkommen sind das bis zu140 Euro zusätzlich zum Wohn- und Kindergeld.

(Ina Lenke [FDP]: Das sind noch nicht einmal 10 Prozent!)

– Ich weiß, das Instrument ist sehr kompliziert. Darummöchten wir schnell erreichen, dass es einfacher und fle-xibler gestaltet wird. Wir haben das Ziel, nicht nur150 000 Kinder mit diesem Instrument zu erreichen,sondern in Zukunft 420 000. Ich hoffe, dass wir im Rah-men der Haushaltsdebatte und darüber hinaus zu einemguten Weg finden, genau das zu erreichen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ich bleibe dabei: Der Ausbau der Betreuung, das El-terngeld und damit eine höhere Erwerbsquote vonFrauen sind immer noch die besten Instrumente, Fami-lienarmut zu bekämpfen.

Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, Chancengleich-heit – das haben wir auch vorhin von der Ministerin ge-hört – ist nicht ohne bessere Bildungschancen realisier-bar. Unser Ziel sind die qualitativ gute Betreuung undBildung von Anfang an. Das ist die Voraussetzung füreinen besseren Spracherwerb und einen besseren Inte-grationsprozess. Wir wollen nicht, dass die Herkunftüber den Bildungsabschluss und damit über die Zukunfts-chancen unserer Kinder entscheidet.

4622 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006

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Christel Humme

Unser Ziel ist die Chancengleichheit für Frauen undMänner, für alle Kinder, aber auch – was in einer älterwerdenden Gesellschaft immer wichtiger wird – für äl-tere Menschen. Dass nur noch jeder zweite Betrieb – wirhaben das heute morgen in mehreren Reden gehört –Mitarbeiter beschäftigt, die älter als 50 Jahre alt sind, istpersonalpolitisch unklug und gesellschaftspolitisch einSkandal. Deshalb unterstütze ich BundesarbeitsministerFranz Müntefering, der die Beschäftigungschancen derÄlteren verbessern will.

Ich unterstütze auch die Bundeskanzlerin AngelaMerkel. Sie hat eine interessante Bemerkung gemacht.Im Rahmen einer Veranstaltung hat sie vorgeschlagen– Sie haben schon darauf hingewiesen –, Kinderrechtein die Verfassung aufzunehmen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich denke, das ist ein Projekt, das wir gemeinsam in An-griff nehmen können. Dieses Projekt wäre ein gutes Si-gnal für das kommende Europäische Jahr der Chancen-gleichheit.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächste Rednerin ist die Kollegin Diana Golze, Frak-

tion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Diana Golze (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Kolleginnen und Kollegen! Kinder, Jugendliche und Fa-milien haben es in der Bundesrepublik nur so lange gut,wie nett lächelnde Politikerinnen und Politiker ihnenversichern, dass gerade ihr Wohl im Mittelpunkt des In-teresses stehe.

Wenn der Bundeshaushalt aufgestellt wird, ist es da-mit aber schnell vorbei. Die schwarz-roten Sozialpoliti-ker ziehen jeden Tag mit neuen Zumutungen durchsLand. Für Kinder und Jugendliche halten sie bestenfallsdie Perspektive auf eine Rente mit 67 bereit. Dazu bietensie ihnen einen desolaten Ausbildungsmarkt, Jugendar-beitslosigkeit und 1-Euro-Jobs. Die Familien müssenüber die Mehrwertsteuererhöhung die Steuergeschenkefür Unternehmen und Vermögende finanzieren.

Davon unbeeindruckt lächelt die Jugend- und Fami-lienministerin von der Leyen in die Kameras. Ihr An-spruch lautet: Die Politik kann und muss geeignete Rah-menbedingungen für Familien schaffen. Nach derLektüre des zweiten Haushalts aus dem Hause von derLeyen kann ich nur sagen: Diese Politik ist ein Zukunfts-risiko für viele Kinder und Jugendliche in diesem Land.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Einzelplan 17 erhält einen Aufwuchs in Höhevon knapp 726 Millionen Euro. Wir alle kennen denGrund: das Elterngeld. Aus der Sicht der Koalition ist

das eine familienpolitische Innovation. Ich nenne das El-terngeld eine sozialpolitische Mogelpackung. Es be-nachteiligt Eltern mit niedrigem oder gar keinemErwerbseinkommen und wird dazu beitragen, die Kin-derarmut zu verschärfen. Eine dreiviertel Milliarde Euronimmt diese Regierung in die Hand, um Gut- und Bes-serverdienenden den Zugang zu steuerfinanzierten So-zialleistungen zu ermöglichen. Die wirklich Bedürftigensind davon teilweise ausgeschlossen. Das ist die sozial-und familienpolitische Logik von Schwarz-Rot.

(Beifall bei der LINKEN)

Während Frau von der Leyen beim Elterngeld ausdem Vollen schöpft, müssen sich viele andere Bereichein Bescheidenheit üben. Die Mittel für den Kinder- undJugendplan des Bundes werden sogar leicht gekürzt. Fürdas Bundesprogramm zur Stärkung von Vielfalt,Toleranz und Demokratie – ehemals unter den Namen„Civitas“ und „Entimon“ bekannt – hat das Familien-ministerium keinen Euro mehr als in den Jahren zuvorübrig. Und das alles, während Neonazibanden durchMecklenburg-Vorpommern und Berlin ziehen und diedortigen Wahlkämpfer aller demokratischen Parteien inAngst und Schrecken versetzen.

Die mit viel Mühe und Bundesmitteln seit demJahr 2001 aufgebauten Projekte gegen Rechts, die mo-bilen Beratungsbüros und Opferberatungsstellen werdenohne Perspektive im Regen stehen gelassen. Weil es bisheute keine Ausschreibung gibt, darf getrost davon aus-gegangen werden, dass im ersten Halbjahr 2007 einedeutliche Förderlücke entsteht. Die Mitarbeiter gehen indiesen Tagen zum Arbeitsamt. Die Kündigungen für dieBüroräume sind unterschrieben. Mit den Mehrkosten fürdie Wiederbeschaffung dieser Infrastruktur werdenknappe Mittel verschwendet. Das nenne ich einen unver-antwortlichen Umgang mit öffentlichen Mitteln.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich möchte meinen Beitrag insbesondere nutzen, umauf einen der größten sozialpolitischen Skandale der Ge-genwart einzugehen: die dramatisch zunehmende Kin-derarmut in der Bundesrepublik. Ich zitiere aus IhremKoalitionsvertrag:

Wir wollen materielle Kinderarmut reduzieren undhierzu den Kinderzuschlag mit Wirkung ab demJahr 2006 weiterentwickeln … Wir wollen den Be-rechtigtenkreis ausweiten, um weitere Kinder zu er-reichen und ihren Eltern zu ermöglichen, ohne Be-zug von ALG II für sie zu sorgen.

Wer den Einzelplan 17 aufschlägt, in dem sich einesolche Weiterentwicklung niederschlagen müsste, findetselbst für das Jahr 2007 die unveränderte Summe von150 Millionen Euro.

Das Problem drängt. Den Betroffenen ist nicht damitgeholfen, dass die Bundeskanzlerin erklärt, durch dieReformen der letzten Jahre sei die Armut nur bessersichtbar geworden. Ich frage mich, was Frau Merkel vonihrem eigenen Wahlkreis eigentlich weiß, in dem mehrals jedes vierte Kind von Sozialgeld lebt.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4623

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Diana Golze

(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sie weiß eine ganze Menge!)

Ich will Ihnen gerne ein Beispiel aus den alten Bun-desländern nennen. Einem Papier der Arbeitsgemein-schaft der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege Aachenist folgendes Zitat entnommen:

Es ist ein erheblich anwachsender Zulauf bei derAachener Tafel und bei Möbel- und Kleiderkam-mern zu verzeichnen, d. h. Menschen können mitden Finanzmitteln nicht mehr im gebotenen Um-fang ihren Lebensunterhalt sicherstellen … DieAachener Zeitung hat inzwischen eine breit ange-legte Spendenaktion ins Leben gerufen, um fürKinder ausreichende Mahlzeiten zur Verfügungstellen zu können. Besonders in sozial belastetenStadtvierteln scheitert die Bereitstellung eines Mit-tagessens für Kinder in Kindertagesstätten immerhäufiger an den fehlenden Finanzmitteln der El-tern … In den Kindertagesstätten wird zunehmendfestgestellt, dass keine wetterfeste Kleidung, keineWinterjacken, Schals und Mützen vorhanden sind.

Doch Kinderarmut hat mehr Gesichter als nur diemangelnde materielle Versorgung des Kindes. Wie eineLangzeitstudie des Frankfurter ISS belegt, hat Armut fürKinder weitere Dimensionen: fehlende soziale Kontakteund daher unzureichend entwickelte soziale Kompeten-zen, Auswirkungen auf den Gesundheitszustand und diekörperliche Entwicklung und auch mangelnde Versor-gung im kulturellen Bereich. Alle fünf Dimensionenwirken sich negativ auf die Zukunftsperspektiven der be-troffenen Kinder aus.

Der Kinderzuschlag, den weiterzuentwickeln Siesich vorgenommen hatten, hat das Ziel, zu verhindern,dass Eltern wegen ihrer Kinder auf den Bezug vonALG II oder Sozialgeld angewiesen sind. Das ist einegute Idee, leider schlecht umgesetzt. Die Geschichte desKinderzuschlags im Bundeshaushalt liest sich wie folgt:Im Jahr 2005 wurde er mit 217 Millionen Euro veran-schlagt. Weil aber die Regeln so schwierig und undurch-schaubar waren, wurden neun von zehn Anträgen abge-lehnt und der Etat im Jahr 2006 um 67 Millionen Eurogekürzt. Denn das Geld wurde nicht abgerufen. DieseKürzung wird nun im Jahr 2007 fortgeschrieben. Allengroßmütigen Ankündigungen zum Trotz: Die Kinder-armut steigt und der Kinderzuschlag sinkt. Das istschwarz-rote Haushaltslogik.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Linke hat im Juni ein Konzept vorgelegt, das ei-nen Ausbau des Kinderzuschlags mit dem Einstieg ineine bedarfsorientierte Kindergrundsicherung verbin-det. Wir wollen alle Kinder aus der Sozialhilfe herausho-len. Alle Kinder unter 18 Jahren sollen in Zukunft einKindergeld erhalten, das ihnen in voller Höhe zugutekommt. Gleichzeitig wollen wir den Kinderzuschlag zueinem einkommensabhängigen Instrument ausbauen,das jedem Kind den Zugang zu einem soziokulturellenExistenzminimum in Höhe von 420 Euro garantiert.Nach unseren Berechnungen würden von diesem Kon-

zept circa 2,1 Millionen Familien mit 3,1 Millionen Kin-dern profitieren.

(Otto Fricke [FDP]: Wie viel kostet es denn?)

Unser Konzept ist im Vergleich zum heutigen Kinder-zuschlag sehr viel einfacher und garantiert den Betroffe-nen ein Armut verhinderndes Leistungsniveau. Es ist miteiner gerechten Steuerpolitik – hiermit beantworte ichIhre Frage – ohne weiteres finanzierbar. Schließlich er-möglicht es erhebliche Einsparungen bei Sozialgeld undArbeitslosengeld II. Es kostet auch weniger, als die Bun-desregierung mit ihrer Steuerreform den Unternehmenals Geschenk hinterherwerfen will.

(Beifall bei der LINKEN)

Das beste Rezept gegen die Arbeitslosigkeit von mor-gen ist die Armutsverhinderung von heute. Die Verhin-derung von Kinderarmut ist eine Investition in die Zu-kunft, die perspektivisch die sozialen Kassen entlastenund stabilisieren wird.

Demnächst steht unser Konzept in diesem Hause zurAbstimmung. Ich hoffe, Sie erinnern sich dann an IhrenKoalitionsvertrag. Sie können sich sicher sein, dass wirim Hinblick auf die Karte der Kinderarmut des Paritäti-schen Wohlfahrtsverbandes dasselbe tun wollen wie Sie,nämlich zu verhindern, dass im Osten, aber auch in eini-gen Hochburgen der Kinderarmut im Westen rote Fle-cken zu sehen sind. Die Geduld der Menschen im Landmit dieser Regierung hat sicher bald ein Ende.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort der Kollegin Britta Haßelmann,

Bündnis 90/Die Grünen.

Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin, vorhin sagtenSie, dass Sie für eine nachhaltige Familienpolitik stehen,in der nicht immer alles so bleiben kann, wie es ist. Dasist aus meiner Sicht ein frommer Wunsch, insbesonderewenn ich in Richtung CDU/CSU sehe und mir die kon-krete Politik, die Sie im Moment machen, vor Augenführe; ich werde gleich noch darauf zu sprechen kom-men.

Wie es schon beim ersten Haushalt, den Sie vorgelegthaben, der Fall war, müssen wir auch angesichts diesesHaushaltsentwurfs zur Kenntnis nehmen, dass Sie sichvieler Themen des Einzelplans 17 überhaupt nicht rich-tig angenommen haben. Ich frage mich, ob wir uns,wenn wir über Ihren Etat, den Etat des Einzelplans 17,sprechen, bis zum Ende der Regierungszeit von Unionund SPD ausschließlich mit den Themen Elterngeld undMehrgenerationenhäuser als den einzigen Akzent dieserRegierung beschäftigen müssen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der FDP sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

4624 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006

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Britta Haßelmann

Familie, ältere Menschen, Frauen und Jugend, all dieseAspekte zusammen bilden doch die Kernelemente IhresMinisteriums und sind der Auftrag für unser politischesHandeln. Oder etwa nicht?

(Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Haben Sie denn nicht zugehört?)

– Ich habe der Ministerin sehr gut zugehört.

Einen Ihrer vier Schwerpunkte wollen Sie nun bei derJugend setzen.

(Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Sie müssen mal Ihr Skript anpassen!)

Ich frage mich allerdings: Wie passt das damit zusam-men, dass Sie die Mittel für die Jugendsozialarbeitkürzen? Sie sollten sich einmal genauer mit der Jugend-politik beschäftigen! Sie kürzen die Mittel für die Ju-gendsozialarbeit.

(Zuruf von der CDU/CSU: An welcher Stelle denn?)

Dabei dachte ich, wir alle wissen, dass die Jugendsozial-arbeit von zentraler Bedeutung ist: zur Herstellung vonChancengerechtigkeit und zur Ermöglichung der erfolg-reichen Teilhabe junger Menschen am gesellschaftlichenLeben.

(Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Wo kürzen wir denn bei der Jugendsozialarbeit?)

An dieser Stelle, meine Damen und Herren von dergroßen Koalition, nehme ich Sie in die Pflicht. Sie könn-ten zeigen, wie wichtig Ihnen dieses Thema wirklich ist.Aber hier passt etwas nicht zusammen. Erinnern Sie sichnur daran, wie wir hier im Parlament über die Ereignisseim Zusammenhang mit der Rütli-Schule diskutiert ha-ben. Betroffenheits- und Sonntagsreden, wie sie damalsgehalten wurden, passen nicht dazu, dass Sie nun dieMittel für die Jugendsozialarbeit kürzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der LINKEN – Chris-tel Humme [SPD]: Das stimmt doch gar nicht!– Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau!Stimmt gar nicht!)

Meine Damen und Herren von SPD und Union, an-ders als noch im letzten Haushalt, in dem die Ansätze fürdie Gleichstellungs- und Seniorenpolitik zugunsten desAnsatzes für die Familienpolitik gekürzt wurden, schla-gen Sie jetzt von vornherein vor, alles in einem Topf zu-sammenzuführen. Sie wollen zwar ein paar Unterpunktebilden, damit das, was Sie tun, nicht so sehr auffällt.Dennoch beabsichtigen Sie, diese Ansätze zusammenzu-führen, damit alles wunderbar deckungsgleich ist.

(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Was ha-ben Sie gegen Schwerpunktbildung?)

Dann nennen Sie das Ganze „Förderung von gesell-schaftspolitischen Maßnahmen der Familien- undGleichstellungspolitik sowie für die ältere Generation“.Diesen Schritt begründen Sie damit, dass Sie dem ver-stärkten generationen- und politikübergreifenden An-

satz Ihres Ministeriums folgen. An dieser Stelle will ichIhnen sagen: Mein Eindruck ist, dass auch Sie sich, FrauMinisterin, auf diese Weise auf ganz leisen Sohlen voneiner engagierten Frauen- und Gleichstellungspolitik indiesem Hause verabschieden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir beobachten schon seit geraumer Zeit – meineKollegin Schewe-Gerigk weiß das nur zu gut –, dass dieGleichstellungspolitik in allen Debatten, die über diesesThema geführt werden – ob im Familienausschuss oderin öffentlichen Äußerungen –, ausschließlich darauf re-duziert wird, die Bedeutung der Vereinbarkeit von Fami-lie und Beruf zu betonen. Das ist richtig und gut.

Aber das ist nicht das, was wir mit Gleichstellungs-politik verbinden. Es gibt eine Reihe von Fragen, die of-fensiv gestellt werden müssten. Dabei geht es zum Bei-spiel um Folgendes: gleicher Lohn für gleiche Arbeit,Frauen und Führungspositionen und den Abschied vomAlleinverdienermodell. Diese Stichworte machen deut-lich, wie wichtig es ist, darüber zu diskutieren und hierpolitische Akzente zu setzen.

Um noch eines oben draufzusetzen, sage ich: Die öf-fentliche Diskussion und unser politisches Handeln zei-gen, wie notwendig es ist, in diesem Hause und im zu-ständigen Ausschuss weiterhin über Gleichstellung zudiskutieren und Akzente zu setzen. Denken Sie nur andie dümmlichen Äußerungen einer TV-Journalistin zurRolle der Frau, die für alle emanzipierten Frauen undMänner eine Beleidigung sein muss.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeord-neten der LINKEN)

Das Familienministerium hält sich sehr bedeckt,wenn es um neue Initiativen zur Gleichstellungspolitikgeht. Vermutlich hängt Ihnen, Frau Ministerin, noch dasRingen um die zwei Vätermonate – bereits das höchsteder emanzipatorischen Gefühle für die Konservativen inIhrer Fraktion – nach.

Lassen Sie mich jetzt zum Elterngeld kommen. Siemachen mit dem Elterngeld den zweiten Schritt vor demersten. Wir Grünen werden nicht müde, zu betonen: Wirbrauchen eine flächendeckende Kindertagesbetreuungund einen Rechtsanspruch auf Betreuung ab dem erstenLebensjahr. Wir haben keinen Anlass, Frau Humme, beider Kinderbetreuung Entwarnung zu geben.

(Christel Humme [SPD]: Das habe ich nicht gesagt!)

Natürlich ist dank der Initiativen von Grünen und SPDmit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz der Betreuungs-ausbau in Gang gekommen. Das ist auch gut so. Aberdas kann uns doch nicht zufrieden stellen. Wir brauchenmehr Betreuungsplätze und die Ausweitung des Rechts-anspruches,

(Ina Lenke [FDP]: Wir brauchen mehr Markt und Wettbewerb!)

uns zwar jetzt und nicht erst in ein paar Jahren.

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Britta Haßelmann

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Miriam Gruß [FDP])

Wir können nicht sagen, wir führen erst einmal das El-terngeld ein, warten einmal ab und sehen irgendwann,wie wir bei diesem Thema weiterkommen.

(Christel Humme [SPD]: Sie haben mir nicht zugehört!)

Wir Grüne schlagen Ihnen vor, das Ehegattensplit-ting abzuschmelzen, es in ein Individualsplitting umzu-wandeln und die frei werdenden 2 Milliarden Euro füreine Kinderbetreuungskarte vorzusehen, durch welcheEltern vom Bund eine Geldleistung zur Inanspruch-nahme von Kinderbetreuung erhalten. Es ist also ganzeinfach, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Christel Humme [SPD]: So einfach ist esauch nicht! – Nicolette Kressl [SPD]: Und wersammelt das Geld ein? – Johannes Singham-mer [CDU/CSU]: Was ist mit den älterenFrauen, die davon nicht so profitieren?)

Ich werbe bei Ihnen für diese Idee um Zustimmung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn es wirklich so ist – wie die Kanzlerin gesternbetonte –, dass Sie den Menschen nicht vorschreibenwollen, wie sie zu leben haben, dann frage ich mich, wa-rum Sie von der Union so stur sind und so viel Behar-rungsvermögen zeigen, wenn es um das Ehegattensplit-ting geht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Weil eineAbschaffung ungerecht ist!)

Das Gleiche gilt für das Elterngeld. Hier privilegie-ren Sie ganz offensichtlich das Alleinverdienermodell.Dazu, Frau Ministerin, haben Sie nichts ausgeführt. Da-bei hat die Anhörung zum Elterngeld sehr deutlich ge-macht, dass beispielsweise Eltern, die sich dafür ent-scheiden, gemeinsam und gleichzeitig Kindererziehungund Berufstätigkeit zu verbinden, durch die Elterngeld-regelung ganz klar benachteiligt werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Sie den Menschen wirklich nicht vorschreibenwollen, wie sie zu leben haben, müssen Sie bereit sein,die Elterngeldregelung für den Fall, dass beide Elternauf Teilzeit gehen, nachzubessern. Sonst werden Sie Ih-rem Anspruch nicht gerecht, über den gesetzlichen Rah-men nicht nur, wie bisher, das Einernährermodell zu för-dern.

Ein weiteres Beispiel von wegen „Sie schreiben nie-mandem vor, wie er zu leben hat“ und „Es herrschtWahlfreiheit“ ist der Geschwisterbonus von 36 Mona-ten, der immer noch nicht vom Tisch ist.

(Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Anders als bei Ihnen!)

Frau Humme hat darüber gesprochen und gesagt, imMoment will nur der Bundesrat das. Wer hat denn im

Bundesrat die Mehrheit? Der Bundesrat wird bestimmtdurch die CDU/CSU-Ministerpräsidenten.

(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das ist auch gut so!)

Das ist kein Niemand, der das fordert. Ihre Ministerprä-sidenten wollen die 36 Monate Geschwisterbonus; dasmuss man ganz deutlich sagen.

Jede und jeder von uns weiß, dass die Möglichkeiten,in den Beruf zurückzukehren, die Karrierechancen unddie Altersvorsorge mit der Auszeit vom Beruf, die je-mand nimmt, schlechter werden; Sie haben vorhin auchdarüber gesprochen. Mit dem erklärten Ziel des Eltern-geldes ist das nicht zu vereinbaren.

(Nicolette Kressl [SPD]: Das stimmt auch nicht!)

Im Übrigen kostet diese Forderung – das ist jetzt schonklar, das ist errechnet – über 100 Millionen Euro. Des-halb, Frau Ministerin, können Sie sicher sein, dass diegrüne Fraktion an dieser Stelle alles dafür tun wird, dassdie Regelung, die von der CDU/CSU verlangt wird,nicht in Kraft tritt. Ich fordere die große Koalition auf:Setzen Sie ein eindeutiges Zeichen, verabschieden Siesich von dieser Regelung!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zum Schluss möchte ich auf den Zivildienst einge-hen. Mit Wehr- und Einberufungsgerechtigkeit hat das,was sich in diesem Bereich abspielt, nichts zu tun.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. SibylleLaurischk [FDP])

Wir haben das in diesem Haus schon einige Male thema-tisiert. In diesem Haushalt stellt sich aber, was Wehr-und Zivildienst angeht, nicht nur die Gerechtigkeits-frage. Schauen Sie sich den Etat einmal an: Die Ansätzestimmen nicht annährend überein mit dem, was wir anDienstpflichtigen zur Verfügung haben. Sie haben daalso eine kleine Sparbüchse angelegt. Ich rate Ihnen,noch einmal darüber nachzudenken, die Jugendsozial-arbeit, die die jungen Menschen leisten können, aufzu-stocken. Das wäre eine Maßnahme. Legen Sie keineSparschatulle an für Dinge, die wir nicht brauchen!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sehr geehrte Frau Ministerin, meine Damen und Her-ren, wir erwarten, dass Sie eine ausgewogene Politik füralle Generationen machen und dass sich dies nicht nur inSonntagsreden widerspiegelt; denn dann würde sich auf-grund Ihrer Behandlung der Programme Elterngeld, Ge-schwisterbonus und Ehegattensplitting an der Familien-politik langfristig leider nichts ändern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Nicolette Kressl [SPD]: Abwarten!)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächste Rednerin ist die Kollegin Ilse Falk für die

CDU/CSU-Fraktion.

4626 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006

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Ilse Falk (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Eine Haushaltsdebatte bedeutet das Ringen darum, wiedas Geld, das der Staat durch direkte und indirekte Steu-ern einnimmt, in kluger und umsichtiger Weise denMenschen wieder zugute kommen kann. Wir erleben dasnun schon seit drei Tagen und finden immer wieder Bei-spiele dafür. Wir streiten um Geldsummen, deren Höhewir uns oft gar nicht mehr selber vorstellen können, undbegründen, warum welche Ausgabe im jeweiligen Haus-haltsplan gerechtfertigt ist.

Unser Problem ist, dass der Haushalt in sich zwar einlogisches Zahlenwerk ist, dass sich die Begründung dereinzelnen Ausgaben aber hartnäckig jeder mathemati-schen Beweisbarkeit entzieht. Das ist natürlich auchbeim Einzelplan 17 nicht anders. Ich will aber trotzdemden Versuch unternehmen, deutlich zu machen, warumes gerade bei diesem Haushalt ein hohes ökonomischesInteresse an der Bereitstellung von Mitteln geben muss.Gerade dieses Ministerium der Generationen spiegeltVeränderungen in der Gesellschaft wie ein Seismografwider, auf die es zu reagieren gilt, wenn nicht alles nochviel teurer werden soll.

Eine Vorbemerkung zu den wichtigsten Veränderun-gen der letzten Jahrzehnte: Männer und natürlich beson-ders auch Frauen leben neue Lebensentwürfe, weil ihnenBildung, Wissenschaft und Forschung völlig neue Per-spektiven eröffnet haben. Neue Lebensentwürfe bedeu-tet, dass die Familien neue Formen des Miteinandersfinden müssen. Niedrige Geburtenraten und hohe Le-benserwartung – gemeinhin als demografischer Wandelbekannt – fordern uns mächtig heraus. Traditionelle For-men der Arbeit und lebenslanges Verweilen in demsel-ben Beruf werden seltener. Weil wir von diesen Verände-rungen wissen, müssen wir uns damit befassen, was wirdurch diese Veränderungen gewinnen, was wir mögli-cherweise verlieren und was wir von dem Vertrauten aufjeden Fall bewahren sollten.

Fangen wir mit dem Beginn des Lebens an. Wir wis-sen, dass Kinder zuallererst die Beziehung zu ihrenEltern suchen und dass sie gerade in ihrer ersten Lebens-phase feste Bezugspersonen und eine liebevolle Zuwen-dung brauchen, damit sie ihre Talente entfalten können.Zuwendung bedeutet Anwesenheit, also Zeit. Deshalbmüssen die Eltern ihr Leben so gestalten können, dasssie Zeit für ihre Kinder haben und dass Familie tatsäch-lich auch gelebt werden kann.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Deshalb sollten wir uns freuen, wenn sich Mütter oderVäter auf ihre Rolle einlassen und zum Beispiel von demneuen Elterngeld und den damit einhergehenden Väter-monaten in möglichst großer Zahl Gebrauch machen.

(Renate Gradistanac [SPD]: Jawohl!)

Ich gehe jetzt nicht auf die Einzelheiten ein. Die Mi-nisterin hat schon einiges dazu gesagt und das steht beider Verabschiedung demnächst auch noch einmal ganzgroß auf der Tagesordnung. Ich will nur so viel sagen:Das Elterngeld und die Vätermonate sind für uns speziell

mit der Hoffnung verbunden, dass gerade auch Väter dieGelegenheit und Chance haben, das Abenteuer Kind undHaushalt zu erleben, wodurch sie lernen, die Leistungender Mütter besser wertzuschätzen, und wodurch sie ihreErfahrungen hoffentlich nutzbringend für alle in die Ar-beitswelt tragen können. Das heißt also: hoher Nutzenfür das Miteinander in der Gemeinschaft und großer Ge-winn für die Kinder.

(Renate Gradistanac [SPD]: Ja!)

Eine weitere Folge sind positive Auswirkungen auf dieVereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit, die vonden allermeisten Frauen nun einmal so gewünscht wird.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, weil wir wissen,dass die Verwirklichung des Wunsches, zwei Berufsfel-der miteinander zu vereinbaren, die Zeit für die Familieknapper werden lässt und die Kräfte unter Umständenauch überfordert – ich glaube, das müssen wir uns abund zu auch einmal eingestehen –, muss die Inan-spruchnahme von Dienstleistungen leichter und auchselbstverständlicher werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Durch die Bereitstellung flexibler Kinderbetreuungdurch Tagesmütter, Kita oder Hilfen zu Hause, durch dievollständige Absetzbarkeit der Kosten für sozialversi-cherungspflichtig Beschäftigte im Privathaushalt wie injedem Betrieb

(Beifall des Abg. Johannes Singhammer[CDU/CSU] und der Abg. Sibylle Laurischk[FDP])

und durch Förderung von Dienstleistungszentren, in de-nen bezahlbare Teilzeitangebote für den Haushalt abge-rufen werden können, entlasten wir Eltern von den Auf-gaben, die andere ebenso gut oder vielleicht sogar bessererledigen können, und verschaffen wir ihnen Freiräume,die für das entspannte Miteinander in der Familie not-wendig sind.

Die Konsequenz ist: Die Nachfrage von Dienstleis-tungen schafft Arbeitsplätze und damit natürlich auchVorteile für diejenigen, die sich zwar selber diese Hilfenicht leisten können, aber Arbeit suchen. Wir haben hiermit der verbesserten Absetzbarkeit von Kinderbetreu-ungskosten und haushaltsnahen Dienstleistungen rück-wirkend zum 1. Januar dieses Jahres erste Schritte getan.Aber von der Verwirklichung der Idee „Haushalt als Be-trieb“ sind wir leider doch noch ein ganzes Stück ent-fernt.

Wir haben es im privaten Haushalt mit einem riesi-gen Schwarzarbeitsmarkt zu tun. Deshalb sollten wir al-les daransetzen, attraktive Angebote für reguläre Arbeitzu machen.

(Sibylle Laurischk [FDP]: Vollkommen richtig!)

Das wäre nicht nur gut investiertes Geld, sondern eskönnte auch dazu ermutigen, den so lange diskreditierenArbeitsplatz Haushalt aufzuwerten, sowohl als Ausbil-dungsberuf, als anspruchsvolle Fortentwicklung zuselbstständiger Haushaltsführung als auch für einfachere

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4627

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Ilse Falk

Arbeiten für Menschen mit eher praktischen Fähigkei-ten. Das Ziel sind der Abbau von Schwarzarbeit und dieSchaffung neuer sozialversicherungspflichtiger Arbeits-plätze.

An dieser Stelle ein Wort zu der immer wieder ange-sprochenen Kinderarmut. Kinderarmut ist immer ab-hängig von der Lebenssituation der Eltern. Es spiegeltsich in den Zahlen wider, dass wir es mit einer hohen Ar-beitslosigkeit zu tun haben. Deshalb ist das Wichtigste,was wir für die Kinder tun können, um sie aus der Armutherauszuholen, all unsere Kraft darauf zu verwenden,Arbeitsplätze zu schaffen, und zwar auch im BereichHaushalt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Otto Fricke [FDP])

Bleiben wir einen Moment bei der Wirtschaft. Auchsie kann dazu beitragen, Fehlentwicklungen und hoheFolgekosten zu vermeiden. Familiengerechte Arbeits-plätze und Betriebsstrukturen, die auch die Wahrneh-mung von Familienaufgaben zulassen, müssten imureigenen Interesse der Unternehmen liegen. Gerade Ar-beitgeber sollten nicht unterschätzen, wie wichtig guteRahmenbedingungen für das Aufwachsen von Kindernsind, damit sie später einmal – da sollten die Unterneh-men ganz egoistisch sein – tüchtige Arbeitnehmer undArbeitnehmerinnen oder aber verantwortungsvolleChefs werden, die wir uns in stärkerem Maße wünschen.

(Iris Gleicke [SPD]: Allerdings!)

Sowohl Tugenden wie Pflichterfüllung, Pünktlichkeitund gegenseitiger Respekt als auch das Verständnis vonethischer Unternehmensführung werden im Elternhausgrundgelegt. Darüber hinaus erwarten wir von Unterneh-mern, dass sie sich, wenn nicht bereits geschehen, nochstärker der Ausbildung Jugendlicher annehmen. Ichweiß, es wird vielfach beklagt, dass Jugendliche nichtdie nötigen Voraussetzungen mitbrächten, die für eineErfolg versprechende Ausbildung nötig seien. Aber weileben alles mit allem zusammenhängt, müssen wir dieDefizite aufzeigen und Hilfestellung geben. Deshalb binich dem Arbeitsminister dankbar, dass er gerade Jugend-lichen, die besondere Schwierigkeiten haben, einen Aus-bildungsplatz zu finden, mehr Chancen auf dem Arbeits-markt eröffnen will.

Weil wir wissen, dass die Unsicherheit der Eltern inder Erziehung häufig groß ist und ihnen eine Vielzahlvon Miterziehern das Leben noch zusätzlich schwermacht, müssen wir sie in ihrer Erziehungskompetenzstärken und sie ermutigen, die ihnen – ganz altmodisch –zuvörderst obliegende Pflicht der Erziehung verantwor-tungsvoll wahrzunehmen. Politik muss aber auch mit derVerbesserung frühkindlicher und schulischer Bildung,der Qualifizierung der Erziehenden, der Stärkung derLehrkräfte und der Verbesserung des schulischen Um-felds Ernst machen. Diese Bereiche finden sich zwarnicht alle im Bundeshaushalt wieder, aber es spielt ebenalles zusammen.

Wo Fehlentwicklungen zu befürchten sind oder be-reits sichtbar werden, brauchen wir mehr präventive An-gebote, damit nicht aus kleinen Anfängen große Schädi-

gungen entstehen. Erziehungsberatung und ambulanteErziehungshilfen sind teuer, aber immer noch preiswer-ter als Reparaturmaßnahmen.

(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig!)

Das gilt natürlich auch für den Bereich – die Ministerinhat ihn vorgestellt – der aufsuchenden Hilfen, das heißt,Familien werden zu Hause aufgesucht, weil diese Fami-lien nicht zu den Hilfseinrichtungen kommen und sie an-ders nicht zu erreichen sind. Wir müssen Familienbegleiten, um die Kinder aus dem Teufelskreis der Ar-beitslosigkeit ihrer Eltern, in dem sie aufwachsen, zu be-freien.

Die aufsuchende Hilfe ist hochkomplex und kostenin-tensiv. Dabei ist es sehr wichtig, die Kinder im Blick zubehalten. Es lohnt sich für die Kinder und die Eltern.Aber – das kann man immer wieder feststellen – es lohntsich auch für die Kasse.

Was für das Aufwachsen der Kleinkinder gilt, setztsich in allen Altersstufen fort. Jugendliche brauchen inder schwierigen Phase des Erwachsenwerdens eine guteMischung aus Begleitung und Herausforderung, damitsie ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln. Hiersetzt der Einzelplan 17 wichtige Akzente, zum Beispielmit der Förderung vielfältiger Angebote der Jugend-arbeit, der Finanzierung von Freiwilligenjahren undMaßnahmen zur Unterstützung bürgerschaftlichenEngagements. Mittel zur Integration junger Menschen mitZuwanderungsgeschichte dienen der Konfliktpräventionebenso wie der Verbesserung ihrer Ausbildungschancen.Das alles sind wertvolle Investitionen in die Zukunft.

Im Bundeshaushalt 2007 sind mehr als 5 MilliardenEuro für die Generationen veranschlagt. Darüber hinauswerden jährlich etliche Milliarden – die Zahlen schwan-ken – für staatliche Maßnahmen und Leistungen für Fa-milien in unterschiedlichen Lebenslagen aufgewendet.Wir unterstützen das Familienministerium ausdrücklichin seinem Vorhaben, dieses Geld effektiver einzusetzen.Das System staatlicher Familienleistungen soll sortiertund bilanziert werden. Es wird geprüft, ob wir künftigdie Ausgaben in einer Familienkasse bündeln, um sie ge-nauer und zielgerichteter einsetzen zu können.

Ich komme zum Schluss. Unternehmensbilanzenkann man auf Euro und Cent nachrechnen. Soziale Bi-lanzen hingegen bilden Zukunftsfähigkeit ab. Lassen Sieuns öfter die gesellschaftlichen Zusammenhänge in denBlick nehmen, damit wir die knapp gewordenen Finanz-mittel klug anlegen. Die Sozialhaushälter aller Ebenenwerden es uns danken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun die Kollegin Sibylle Laurischk,

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Sibylle Laurischk (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau

Ministerin, ich möchte vorab etwas zu Ihren Ausfüh-rungen anmerken. Das Elterngeld wirft nach meinem

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Sibylle Laurischk

Dafürhalten verfassungsrechtliche Fragen auf, die nochzu klären bleiben. Dazu wird gerade die FDP in der Zu-kunft noch einiges zur Diskussion beisteuern. Daraufmöchte ich kurz hinweisen, weil die Haushaltsmittel indiesem Bereich deutlich aufgestockt werden.

Zur Kinderarmut haben Sie nach meinem Dafürhal-ten nichts Substanzielles gesagt. Dabei ist die Kinderar-mut ein Problem, das zunehmend an Bedeutung gewinnt.Ich hätte mir durchaus vorstellen können, dass Sie zumBeispiel auf das Unterhaltsvorschussgesetz oder auf denKinderzuschlag eingegangen wären.

Sie verantworten auch die Mittel für die Integrationjunger Zuwanderinnen und Zuwanderer. Diese Mittelwerden wie im Vorjahr – ich zitiere aus den Anmerkun-gen zum Haushaltsplan – „bedarfsgerecht“ veranschlagt.19 Prozent eines Jahrgangs von Schülern mit Migra-tionshintergrund verlassen die Schule ohne Abschluss.Damit wächst ein großer sozialer Sprengsatz heran. DieBedeutung von Integration durch Spracherwerb hat auchder Bundesinnenminister in seiner Haushaltsrede für sei-nen Bereich „Integrationskurse für Erwachsene“ deut-lich gemacht. Aber auch er stockt die Ansätze für dieIntegrationskurse 2007 nicht auf.

Ich weise an dieser Stelle insbesondere darauf hin,dass die Integrationskurse für Mütter und Kinder mit Mi-grationshintergrund nicht ausreichend wahrgenommenwerden können, weil die notwendigen Mittel fehlen. Ichhalte es für wichtig, dass Sie sich als Frauen- und Fami-lienministerin gerade um diese Möglichkeiten verstärktkümmern. Das Abhalten eines Integrationsgipfels reichteben nicht aus.

(Beifall bei der FDP)

An dieser Stelle möchte ich auf etwas hinweisen, wasmich in der jüngsten Berichterstattung sehr erschütterthat. Die Situation muslimischer Frauen ist mittlerweileso schwierig, dass sich eine Anwältin in Berlin, die dieseFrauen vertritt, nicht mehr in der Lage sieht, ihren Berufauszuüben, weil sie ebenfalls Angriffen ausgesetzt ist.Ich meine, dass die Frauenministerin der Bundesrepu-blik zu diesem Thema etwas hätte sagen müssen.

(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist nach meinem Dafürhalten eine sehr bedenklicheEntwicklung, wenn eine Anwältin, die als Mitglied derAnwaltschaft Organ der deutschen Rechtspflege ist, ih-ren Beruf wegen integrationspolitisch fragwürdigen Zu-ständen in Deutschland aufgibt. Wir müssen in dieserFrage ganz intensiv arbeiten. Egal welches Ministeriumoder welcher Ausschuss, wir sind hier als Abgeordnetegefordert.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich bin der Meinung, dass junge Migrantinnen undMigranten vom Europäischen Jahr der Chancengleich-heit für alle 2007 profitieren sollten. Sie haben ausge-führt, dass Sie ein Programm „Jugend für Vielfalt undDemokratie“ auflegen wollen. Wir hoffen auf ein schlüs-siges Konzept. Das von uns sehr kritisierte so genannte

Gleichstellungsgesetz allein darf nicht als ausreichendbetrachtet werden. Hier muss mehr getan werden.

Das Europäische Jahr der Chancengleichheit für allemuss auch für Senioren von Bedeutung sein. Wir for-dern die Bundesregierung auf darzulegen, wie sie vorge-hen will, damit auch Senioren angesprochen werden undin ihrer gesellschaftspolitischen Bedeutung stärker ver-netzt werden. Sie sprechen zwar ständig von Mehrgene-rationenhäusern. Aber das reicht uns als seniorenpoliti-sche Aussage nicht aus.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Die Formen der Altersdiskriminierung beispielsweisesind subtil. Das ist insbesondere auf dem Arbeitsmarktzu spüren. Wir wissen, dass der Altenbericht einige Lö-sungsvorschläge beinhaltet. Dazu haben Sie bislangnoch nichts gesagt. Das Verzögern der Vorlage des Al-tenberichts kritisieren wir ausdrücklich.

Frau von der Leyen, Familienpolitik muss alle Gene-rationen und beide Geschlechter umfassen. Nur dann hatdas bewährte Netz Familie eine Chance, seinen Mitglie-dern und Angehörigen Halt und Perspektive zu geben.Frau Ministerin, es bleibt viel zu tun.

(Beifall bei der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Spanier für

die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Wolfgang Spanier (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Gerade in Haushaltsdebattenist es sehr schwer, Wiederholungen zu vermeiden. Auchich werde es nicht schaffen; aber ich erlaube mir deswe-gen, auf die grundsätzlichen Fragen nicht näher einzuge-hen.

Frau Ministerin von der Leyen ist auf die demografi-sche Entwicklung und deren Auswirkungen eingegan-gen. Das erspare ich mir.

Ich will mich auf einige wenige Punkte konzentrieren.Frau Ministerin, ich möchte – Sie ahnen es wahrschein-lich – eine Anmerkung zur Seniorenpolitik machen. Siehaben vorhin mit Vehemenz, ja geradezu mit Verve vonden Potenzialen, der Leistungsfähigkeit und den Kompe-tenzen der Älteren gesprochen. Das hat mir gut getan.

(Heiterkeit im ganzen Hause – Beifall bei der SPD)

Vom finanziellen Volumen her geht es – wenn manden Betrag beispielsweise mit dem Zuschuss zur Renten-versicherung in Höhe von 78,4 Milliarden Euro ver-gleicht – um eine ganz bescheidene Summe. Es sind ge-rade einmal 10 Millionen Euro. Übrigens bewegen wiruns damit auf dem finanziellen Niveau zuzeiten von Rot-Grün. Nichtsdestotrotz ist es Aufgabe des Ministeriumsund des zuständigen Ausschusses, dafür zu sorgen, dasswichtige gesellschaftliche Impulse gegeben werden und

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Wolfgang Spanier

dass neue Initiativen, die in der Gesellschaft entstehen,aufgegriffen und unterstützt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es handelt sich zwar nur um 10 Millionen Euro. Aberdie damit finanzierten Maßnahmen sind in gesellschafts-politischer Hinsicht durchaus wichtig.

Ich will kurz auf drei Bereiche eingehen. Zur Fortset-zung der Baumodelle der Alten- und Behinderten-hilfe: Insgesamt sind es nun bundesweit 39 Projekte.Hinzu gekommen sind elf Projekte, die unter der Über-schrift „Das intelligente Heim“ laufen. Das finde ichsehr gut; denn die Technikunterstützung des Lebens älte-rer, aber auch behinderter Menschen wird dabei in denBlickpunkt gerückt. Auch dabei geht es nur um beschei-dene 2,5 Millionen Euro. Darin stecken aber viele Anre-gungen. Das erinnert mich an Klostergründungen, alsMönche ins Land geschickt wurden, die dann eine breiteÖffentlichkeit erreichten.

Neu ist das Modellprogramm „Neues Wohnen – Bera-tung und Kooperation für mehr Lebensqualität im Al-ter“. Dessen Budget ist noch kleiner, dennoch ist das einwichtiger Ansatz. Es sollen zehn Projekte bundesweitgefördert werden. Dabei geht es um ganz wichtige The-men, neue Kooperationsmodelle, damit auch andere Be-teiligte in den Stadtquartieren zusammengebracht wer-den können. Mit dem Projekt „Wohnen im Stadtteil“erreichen wir eine Nähe zum Programm „Soziale Stadt“.Wir müssen dabei darauf achten, was bezüglich der In-novationen von überregionaler Bedeutung ist. Auch die-ses Programm zielt in die richtige Richtung und wirdhoffentlich – ich bin mir sogar sicher – wichtige Impulsegeben.

Ich kann nicht umhin, auf das Aktionsprogramm„Mehrgenerationenhaus“ zu sprechen zu kommen. Esist mit 88 Millionen Euro in unserem kleinen Etat ein di-cker finanzieller Brocken. Man darf die Mehrgeneratio-nenhäuser jedoch nicht mit Erwartungen überfrachten.Mit ihnen werden wir nicht die Probleme und Verwer-fungen unserer Gesellschaft lösen können, das erwartetauch niemand. Der Ansatz ist jedoch richtig und da erheute schon mehrfach beschrieben worden ist, werde ichnicht weiter darauf eingehen. Stattdessen will ich einpaar konkrete Anmerkungen machen.

Die ersten 50 Mehrgenerationenhäuser sollen dem-nächst bewilligt werden. Die Bewerbungen laufen. Ichhabe mir sagen lassen, dass eine große Anzahl vonOnlinebewerbungen eingegangen ist. Das ist sehr erfreu-lich. Bis zum 20. September läuft die erste Tranche. Ichbin darauf gespannt, wie die Beurteilung ausfallen wird.Ich hoffe, wir stimmen darin überein, dass es sich hierum ein lernendes Programm handelt und man auch prü-fen sollte, ob es wirklich 27 Kriterien sein müssen, dieman bei der konkreten Vergabe einhalten muss. Ichmöchte darum bitten, die Erfahrungen aus der erstenTranche zu nutzen, um hier möglicherweise wichtigeVeränderungen vornehmen zu können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Da es sich hier um einen vagen Begriff handelt,möchte ich ein paar weitere Anmerkungen machen. Essoll sich um einen „offenen Tagestreff“ handeln. Ein we-sentlicher Bestandteil ist ferner, dass vier Generationenberücksichtigt werden müssen. Zuerst habe ich gestutzt.Es geht um Kinder und Jugendliche, Erwachsene, dieÄlteren, also 50 plus, und die Hochbetagten. Jeder magsich einordnen. Ich erachte es als wichtig, dass gleichzei-tig die frühe Förderung von Kindern hier mit verankertwerden soll. Ein entscheidendes Bewertungskriteriumist, dass Ehrenamtliche und Hauptamtliche auf gleicherAugenhöhe miteinander umgehen. Dieses Kriteriumwird sicherlich auch angelegt werden.

(Beifall der Abg. Iris Gleicke [SPD])

Ich bin der Meinung, dass die Entscheidungen, diejetzt anstehen, transparent gemacht werden müssen. Inmeinem Wahlkreis gibt es mehrere Bewerbungen. Ichbin in dieser Angelegenheit völlig neutral.

(Sibylle Laurischk [FDP]: Davon gehe ich aus!)

Die Bewerber werden darauf achten, ob sie wirklichgleich behandelt werden. Ich mahne die Gleichbehand-lung nicht an, sondern setze einfach voraus, dass dasEntscheidungsverfahren die notwendige Transparenzhat.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Selbstverständlich gehört dazu, dass wir regelmäßigüber den weiteren Fortgang informiert werden.

Bei der Entscheidung ist es sicherlich hilfreich, dasseine Kooperationsgruppe eingerichtet wird, die eine ArtBeiratsfunktion übernehmen soll. Vielleicht sollte manaber darüber nachdenken, Frau Ministerin, ob wir wirk-lich noch zwei zusätzliche Gremien brauchen. Brauchenwir noch einmal einen Nachhaltigkeitsrat? Es gibt imDeutschen Bundestag einen Beirat für nachhaltige Ent-wicklung. Warum soll er sich nicht auch mit unserenThemen befassen? Wir haben einen Nachhaltigkeitsratbei der Bundesregierung verankert. Man sollte noch ein-mal darüber nachdenken, ob ein zusätzlicher Nachhaltig-keitsrat nicht überflüssig ist. Wenn das Kompetenznetz-werk wirklich ein neues Gremium wird, sozusageninstitutionalisiert wird, dann hätte ich meine Bedenken.Hingegen Fachleute zusammenbringen, das kann manmachen. Das wollte ich mit auf den Weg geben. Zu ei-nem „lernenden Programm“ gehört auch, dass man kriti-sche Nachfragen stellen kann und das eine oder andereüberprüft.

Wir werden uns mit der Lage der älteren Generationsicherlich noch ausführlicher befassen, wenn wir denFünften Bericht zur Lage der älteren Generation hier imHaus diskutieren.

(Sibylle Laurischk [FDP]: Hoffentlich bald!)

– Da gebe ich Ihnen Recht. – Deswegen möchte ich zweiAnregungen geben. Die Situation der älteren Migrantenist ein Schwerpunkt in dem fünften Altenbericht. Mansollte auch einmal auf die Lage der älteren Menschen

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Wolfgang Spanier

mit geistiger Behinderung eingehen. Es hat historischeGründe, auf die ich nicht näher eingehen muss, dass jetztzum ersten Mal Menschen mit geistiger Behinderung indas Seniorenalter hineinwachsen. Wir sollten überlegen,ob wir Impulse setzen können, um die besonderen Be-dürfnisse dieser älteren Menschen zu berücksichtigen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Ganz zum Schluss noch eine Bemerkung, die ich mirnicht verkneifen kann. Als ich zur Einbringung desHaushalts 2006 eine kleine Rede halten durfte, bin ichauf das Heimgesetz eingegangen. Wir waren uns alle ei-nig, wie das geregelt werden sollte.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Heimgesetz muss Bun-desrecht bleiben!)

Mittlerweile ist die Föderalismusreform in Kraft. Leiderhat es sich ergeben, dass die Länder mit 14 : 2 Stimmennicht bereit waren, auf unsere übereinstimmende Vor-stellung einzugehen.

(Sibylle Laurischk [FDP]: Leider!)

Das ist bedauerlich. Wir hätten die Chance gehabt, nichtnur die stationäre Altenhilfe, sondern auch die ambu-lante Altenhilfe durch eine Modifizierung des Heimge-setzes zu fördern und zu unterstützen. Ich hoffe, dass die16 Länderparlamente diese Aufgabe sobald wie möglichin Angriff nehmen. Da wir alle den Ländern und denLänderparlamenten zumindest parteipolitisch verbun-den sind, würde ich Sie bitten, das zu unterstützen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Elke Reinke, Frak-

tion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Elke Reinke (DIE LINKE): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Frau von der Leyen, Sie haben sich für Ihre Regie-rungszeit große Ziele gesteckt. Sie wollen junge Fami-lien in der Phase der Familiengründung unterstützen– sprich: Elterngeld eingeführt –, den Zusammenhaltzwischen den Generationen mit den Mehrgenerationen-häusern stärken und Sie wollen sich mehr um die Kinderkümmern, die auf der Schattenseite des Lebens geborenwurden.

(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig!)

Über das erschreckende Ausmaß der bestehenden Kin-derarmut hat meine Kollegin Diana Golze bereits ge-sprochen. An Ihrer Stelle, Frau Ministerin, hätte ichmich zuerst dieser Herausforderung gestellt. Ich bin sehrgespannt, welche Antworten Ihr Ministerium auf diesesdringende Problem entwickelt.

Frau Ministerin, Sie haben erreicht, dass wieder mehrüber Familien gesprochen wird. Ich habe aber den Ein-

druck, dass Sie damit nicht die Familien von Geringver-dienenden, Erwerbslosen, Studierenden und Auszubil-denden meinen.

(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)

Ich finde einige Ihrer Grundgedanken richtig. Sie erklä-ren, dass Sie bei der Drehscheibe Mehrgenerationen-haus sozialpolitische Maßnahmen mit arbeitsmarktpoliti-schen Instrumenten verbinden wollen. Herausgekommenist allerdings eine Mischung aus einem ausgeweitetenNiedriglohnsektor und ehrenamtlicher Arbeit. IhrDienstleistungsunternehmen Mehrgenerationenhaus istnichts anderes als eine moderne Fassung der altenDienstmädchengesellschaft.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Auch die Leute, die zu Armutslöhnen diese Arbeit ver-richten müssen, haben oftmals Kinder, die dann wiederim Schatten der Armut groß werden müssen.

(Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund[CDU/CSU]: Blödsinn, dein Name sei PDS! –Christel Humme [SPD]: Meinen Sie das allesernst?)

Für Sie, Frau von der Leyen, ist das Mehrgenerationen-haus eine Antwort auf das Verschwinden der traditionel-len Großfamilie. Sie wollen auf der einen Seite künstlichFamilien erzeugen, auf der anderen Seite werden Fami-lien durch eine völlig verfehlte Arbeitsmarktpolitik zer-rissen. In Sachsen-Anhalt ist das völlig normal. Für dieNiedrigverdienenden ist es zumutbar, dass sie von ihrenFamilien getrennt werden.

In meinem Bekanntenkreis ist ein fünffacher Fami-lienvater mehrere Jahre lang quer durch die Bundesrepu-blik zu verschiedenen Arbeitsorten gefahren, um seineFamilie zu versorgen.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Ja, und?!)

Vor einem Jahr hat er seine Arbeit verloren. Jetzt hat erZeit und er hat neue Zukunftsängste. Die Bundesagenturfür Arbeit fordert ihn jetzt auf, seine Wohnung zu verlas-sen, weil sie nicht mehr angemessen ist. Jahrelang hat erversucht, diesen Wohnsitz zu erhalten. Er hat alles ver-sucht, damit seine Familie in diesem Umfeld bleibenkann. Nun wird sie aus diesem sozialen Umfeld heraus-gerissen. Die Agentur wird ihm auch keine neue Stellevermitteln, weil es genug jüngere Arbeitssuchende gibt,die nun ebenfalls wochenlang durch die Republik reisen.Wie erklärt er seinem ältesten Sohn, dass er jetzt eineGenehmigung braucht, wenn er aus dem Haushalt derEltern ausziehen will?

Nur zur Erinnerung: Durch den Arbeitslosengeld-II-Bezug des Vaters ist die Familie jetzt eine Bedarfsge-meinschaft. Nun kommen Sie mir nicht damit, dass Siesagen: Das ist ein Einzelfall. Ich kann Ihnen etliche die-ser Fälle schildern; daran sind Familien zerbrochen.Wenn Sie mit offenen Augen durch Ihren Wahlkreis ge-hen, dann werden Sie Fälle dieser Art sicherlich eben-falls sehen.

(Beifall bei der LINKEN)

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Elke Reinke

Machen wir es uns nicht zu einfach. Als gewählteVolksvertreter sollten wir Probleme offen benennen. Un-bequeme Wahrheiten auszusprechen, ist kein Populis-mus, im Gegenteil: Unsere Wähler und Wählerinnenerwarten klare Worte. Ihre Ankündigung zu den Mehr-generationenhäusern hat ein reges Interesse bei vielenfreien Trägern und sozialen Institutionen hervorgerufen.Sie hofften auf qualifizierte Arbeitsplätze und auf finan-zielle Unterstützung, um neue Projekte zu entwickelnbzw. um bestehende auszubauen. Das war in meinemWahlkreis nicht anders.

Doch nach genauem Studium der Ausschreibungsun-terlagen blieb von der geweckten Erwartung nicht allzuviel übrig. Eine Förderhöhe von jährlich 40 000 Euro fürein Projekt hört sich nach sehr viel an. Von diesem Be-trag sind 50 Prozent für Personalkosten vorgesehen. Da-von kann man gerade einmal eine halbe Stelle finanzie-ren, wenn man nach Tarif zahlt. Die Förderung istteilweise an fragwürdige Bedingungen gebunden. Pro-jektteilnehmer werden unter anderem aufgefordert, Wer-befahrten zu anderen Mehrgenerationenhäusern zu ver-anstalten. Das Ganze ist also nichts anderes als eine gutdurchdachte Propagandaveranstaltung für Ihr Ministe-rium.

(Beifall bei der LINKEN)

Ihr Mehrgenerationenhaus könnte – aber nur, wenn esfinanziell solide ausgestattet wäre – als ein soziales Zen-trum funktionieren. Hier könnten Jüngere und Ältere,Menschen mit und ohne Behinderung lernen, respektvollund gleichberechtigt zusammenzuleben.

Es gibt viele Tätigkeitsfelder, durch die Familien un-terstützt werden können und durch die gleichzeitig neueErwerbsarbeit entsteht, die so dringend benötigt wird.Sie argumentieren, dass sich viele ältere Bürger mehr so-ziale Nähe wünschen und gerne gebraucht werden wol-len. Senioren bieten nicht nur Hilfe an. Immer mehrältere Menschen brauchen Unterstützung, weil das Pro-blem der Altersarmut immer prekärer wird. Diese Ent-wicklung hat Ihre Regierung mit der Fortentwicklungvon Hartz IV und der Halbierung der Rentenbeiträge fürALG-II-Empfänger verstärkt.

Wenn die Regierung keine armutsfesten Min-destrenten einführt, dann werden Ihre Mehrgeneratio-nenhäuser noch einen ganz anderen Schwerpunkt be-kommen: Ältere Menschen müssen untereinander dieSolidarität ersetzen, die die Gesellschaft ihnen gegen-über nicht mehr aufbringt.

(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)

Ein Dialog zwischen den Generationen ist notwendig.Dazu muss der Staat keinen künstlichen Familienersatzschaffen. Sie können sich ein Programm in dieser Formsparen. Sie könnten mit diesem Geld dem Ziel einer be-darfsdeckenden und beitragsfreien Kinderbetreuung eingroßes Stück näher kommen.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun die Kollegin Monika Lazar, Bünd-

nis 90/Die Grünen.

Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

möchte mich in meinem Beitrag auf das Bundespro-gramm gegen Rechtsextremismus, für Vielfalt undToleranz beziehen. Frau Bundesministerin von derLeyen hat dankenswerterweise schon dieses neue Pro-gramm erwähnt. Allerdings ist die Aussicht für viele Ak-teure leider nicht so rosig, wie das hier geschildertwurde.

Nach monatelanger Unklarheit darüber, ob das Geldganz gestrichen, gekürzt oder für neue Inhalte ausgege-ben werden soll, blieb der Ansatz für 2007 nun doch be-stehen. Das ist erfreulich. Aber wie geht es jetzt weiter?

Ende 2006 laufen die bisherigen Bundesprogramme„Civitas“ und „Entimon“ nach fünfjähriger Modellphaseaus. Diese Modellphase war ausgesprochen erfolgreich.Bürgerinnen und Bürger lernten in Projekten vor Ort,Zivilcourage zu zeigen. Es gab Aufklärung, unter ande-rem in Schulen und Behörden. Opfer rechtsextremer Ge-walt bekamen endlich spezifische Hilfe. Viel Erfahrungund Fachwissen liegen jetzt vor. Der Bund ist nun in derVerantwortung, die gewachsenen Strukturen auch wei-terhin zu unterstützen.

(Iris Gleicke [SPD]: Vor allen Dingen aber auch die Länder, Frau Kollegin! Thüringen!)

– Selbstverständlich. Darüber sind wir uns einig.

(Iris Gleicke [SPD]: Gut!)

Das ist doch überhaupt kein Problem. Ich bin ja erst amAnfang; darauf komme ich noch.

Bundesfinanzmittel zur Stärkung der Zivilgesellschaftsind im Entwurf 2007 wieder eingeplant. Die entschei-dende Frage ist: Für welche Projekte und auf welchemWeg soll dieses Geld ausgegeben werden? Dazu sind dieVorstellungen der Bundesregierung leider noch unkon-kret. Was wird etwa aus den mobilen Beratungsteams,den Netzwerkstellen und der Opferberatung

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Diana Golze [DIE LINKE])

und was aus Aussteigerprojekten wie „Exit“? Für siegeht die Zitterpartei weiter, auch wenn im Haushalt diegleiche Summe zur Verfügung stehen wird. Viele Trägersind stark verunsichert, müssen Büros schließen und sicharbeitslos melden; Kollegin Golze hat dankenswerter-weise auch darauf schon hingewiesen. Sollen sich etwadie Rechtsextremen ab dem nächsten Jahr freuen, wenndie engagierten Aufklärer nicht mehr vorhanden sind?Ich kann und will mir das nicht vorstellen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE])

Natürlich müssen sich auch die Länder an der Finan-zierung angemessen beteiligen.

(Iris Gleicke [SPD]: Allerdings!)

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Monika Lazar

Wir wissen, dass nicht alle das tun. Thüringen gibt daleider ein sehr schlechtes Beispiel.

(Iris Gleicke [SPD]: Das ist wohl wahr!)

Ich hoffe, ab nächstem Jahr tut sich da etwas. Aber essieht nicht allzu gut aus.

In Sachsen zum Beispiel haben etliche Projekte Geldaus dem Programm „Weltoffenes Sachsen“ erhalten,aber oft erst, nachdem dieses durch das Bundespro-gramm „Civitas“ gefördert wurde. Durch das neue Bun-desprogramm, das Anfang 2007 beginnt, entsteht aberein Übergangszeitraum. Dann wird es für die Projekteschwierig, da es Anfang des Jahres Zusagen weder vomBund noch vom Land gibt. Diese Lücke muss noch ge-schlossen werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch beim Antragsverfahren sind Veränderungenangedacht. Künftig sollen nur noch die Kommunen An-träge auf Fördergelder stellen dürfen. Ich halte es fürrichtig, dass die Verantwortung der Kommunen gestärktwird. Leider aber sind viele Kommunen und Landkreiseoft noch Teil des Problems. Ihnen fehlt die Sensibilitätfür das Thema oder, schlimmer noch, sie teilen die An-sichten. Gerade dort aber ist die Arbeit gegen Rechts-extremismus nach wie vor notwendig. Wenn jedoch freieTräger selbst keine Förderanträge mehr stellen können,besteht die Gefahr, dass sie zu Bittstellern werden.

Deshalb brauchen wir ein gemeinsames Recht fürKommunen und Träger vor Ort, Fördermittel zu beantra-gen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Diana Golze [DIE LINKE])

Nur so können sich beide auf Augenhöhe gleichberech-tigt gegenüberstehen. Nur so wird es auch eine inhaltli-che Auseinandersetzung geben, die gleichberechtigt ab-laufen kann.

Es gibt in den Ländern und Kommunen viele Aktio-nen, um die Zukunft der Strukturprojekte abzusichern.Aktiv sind dabei Menschen aus allen demokratischenParteien. Zum Beispiel hat die CDU-Landtagsfraktionvon Mecklenburg-Vorpommern in einem Brief vom15. August an Bundeskanzlerin Merkel geschrieben– ich zitiere –:

Leider zeigt sich, dass die demokratische Grund-ordnung in unserem Land noch nicht tief genug ver-ankert ist, als dass sie nicht doch noch ins Wankengeraten kann.

Diese Warnung sollte auch die Bundesregierung ernstnehmen und den gefährlichsten Feinden unserer Demo-kratie, den Rechtsextremen, keinen Raum lassen. Zu die-sem Kampf gehört, die Initiativen zu stärken, inhaltlichund finanziell.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In dem Brief heißt es weiter:

In den letzten Monaten hat die CDU-Landtagsfrak-tion mit unterschiedlichen Partnern eine Reihe

kleinteiliger Veranstaltungen … organisiert. Dabeihaben uns die kompetenten Mitarbeiter des mobilenBeratungsteams … durch Detailkenntnis und Kom-petenz geholfen. Wir halten deren Arbeit in Meck-lenburg-Vorpommern auch in der Zukunft für uner-lässlich und wünschen uns, dass der Bund hier auchkünftig seinen finanziellen Beitrag leistet.

Das ist eine sehr eindeutige Aussage.

Leider gibt es noch keine Antwort von der Bundes-kanzlerin. Ich hoffe, sie will nicht abwarten, ob die NPDam 17. September in den Landtag von Mecklenburg-Vorpommern einzieht, um dann gegebenenfalls hektischzu reagieren.

Ich hoffe ebenfalls, die Bundesregierung findet recht-zeitig Lösungen für die Strukturprojekte, damit sie sichganz auf ihre eigentliche Arbeit konzentrieren könnenund nicht länger als Bittsteller von Tür zu Tür laufenmüssen. So viel sollte unsere Demokratie uns allen wertsein. Alle Bürgerinnen und Bürger müssen sich für un-sere Demokratie einsetzen. Auch die Politik muss ihreAufgaben erledigen. Wir haben jetzt die Chance, Zivil-courage nicht nur moralisch, sondern auch finanziell zuunterstützen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg.Frank Spieth [DIE LINKE])

Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort dem Kollegen Johannes Sing-

hammer, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Johannes Singhammer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Die Familie steht vor einer Renaissance. Wir wollendiejenigen unterstützen, die in einer Familie zusammen-leben. Die erste finanzwirksame Entscheidung des Haus-halts 2006 war die bessere steuerliche Anrechenbarkeitder Kinderbetreuung. In diesem Haushalt, dem Haushalt2007, spielt das Elterngeld eine zentrale Rolle.

Wir wollen – und tun das auch – eine moderne Fami-lienpolitik betreiben, allerdings keine Familienpolitikohne Grundsätze. Wir wissen, Familie ist nicht das Idyllim Winkel. Harte Realität ist auch, dass immer mehrEhen geschieden und weniger geschlossen werden, vieleMenschen zeitlebens kinderlos bleiben und die Öffent-lichkeit immer öfter über spektakuläre Fälle von Kindes-misshandlung diskutiert.

Für die ganz große Mehrheit der Menschen inDeutschland ist das Zusammenleben in der Familietrotzdem erwünscht, erhofft und auch alternativlos. In ei-ner vor kurzem veröffentlichten Umfrage des Allens-bach-Instituts wurde untersucht, welche Gruppe sich alsbesonders glücklich empfinde. Ich glaube, es erstauntwenig, dass sich vor allem Eltern mit kleinen Kinderntrotz aller Probleme als besonders glückliche Gruppeempfinden. Deshalb macht es Sinn, Familienpolitik zubetreiben und diese als roten Faden zu betrachten. Denn

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Johannes Singhammer

wenn es den Familien in unserem Land gut geht, danngeht es auch unserem Land gut.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wir wissen, dass sich die Lebensmodelle von Fami-lien in den vergangen Jahrzehnten mehr verändert habenals in den vergangenen Jahrhunderten.

(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Dann müssen Sie darauf reagie-ren!)

Dem tragen wir Rechnung: mit der Einführung des El-terngelds, mit der Förderung der besseren Vereinbarkeitvon Familie und Beruf, mit dem besseren Schutz vonKindern vor Vernachlässigung und mit der besseren Ein-bindung der älteren Generation durch die Nutzbarma-chung der Potenziale des Alters vor dem Hintergrund ei-ner veränderten demografischen Alterspyramide.

Wichtig ist aber auch – lassen Sie mich das an dieserStelle sagen –, dass es beim Haushalt, bei der Einbrin-gung des Haushalts, der Diskussion darüber und der Ent-scheidung über die Ausgaben, nicht ausschließlich da-rum geht, Realitäten zur Kenntnis zu nehmen und zuverwalten, sondern auch darum, zu gestalten. Zum Ge-stalten gehört, dass nicht auf Leitbilder verzichtet wird.Familienpolitik und Leitbilder gehören zusammen. Eslohnt sich, die Leitbilder wieder in den Fokus zu rücken,die unser Grundgesetz aus gutem Grund gewählt hat. InArt. 6 des Grundgesetzes steht:

Ehe und Familie stehen unter dem besonderenSchutze der staatlichen Ordnung.

Das ist auch gut so.

(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Ah! Jetzt kommen wir mal zur Sa-che!)

– Wenn Sie die Verfassung ändern wollen, sollten Siedas hier sagen. Wir wollen das nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir folgen dem Grundsatz der Wahlfreiheit.

(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Aber Herr Singhammer, das steht danicht drin!)

– Gleich komme ich noch zu Ihnen.

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Drohen Sie uns bitte nicht!)

Der Grundsatz der Wahlfreiheit bedeutet für uns vorallem, dass es in der Verantwortung der Eltern liegt, wiesie ihre Kinder betreuen und erziehen.

Für uns ist es wichtig, dass sich die Väter und Mütterentscheiden können, ob sie sich ganz der Familie wid-men oder wie sie Familie und Erwerbsarbeit miteinanderverbinden. Wir haben in der Vergangenheit überwiegendauf die Betreuung der Kinder innerhalb der Familie ge-setzt. Wegen der veränderten gesellschaftlichen Bedin-gungen fördern wir heute zugleich die Betreuung außer-halb der Familie.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Gerade diese Frage wird sich vermehrt im Zusammen-hang mit der Einführung des Elterngeldes stellen.

Eines sage ich Ihnen aber auch – um einmal Wahlfrei-heit an einem praktischen Beispiel zu dokumentieren –:Frau Haßelmann, Sie haben das Ehegattensplitting an-gesprochen. Sie wollen das Ehegattensplitting zum Teilschleifen

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schleifen? – Sibylle Lau-rischk [FDP]: Das ist ein Vorschlag der CDU/CSU! Der Vorschlag kommt aus Ihren Rei-hen!)

und begründen das mit einem besonderen Zugewinn anHumanität. Ich bitte Sie, auch einmal an die Millionenvon Frauen zu denken, die in der Vergangenheit einenanderen Lebensentwurf gewählt haben

(Nicolette Kressl [SPD]: Aber nicht immerfreiwillig! – Sibylle Laurischk [FDP]: Dienach zehn Jahren Ehe zu mir sagen: Hätte ichdas gewusst!)

und die jetzt, nachdem die Kinder aus dem Haus sind– Sie wollen ja das Ehegattensplitting erkennbar daranknüpfen, ob Kinder im Haus sind oder nicht – und weilsie sich ganz der Kindererziehung gewidmet haben, einwesentlich geringeres Alterseinkommen haben als ihrEhemann. Wenn Sie das Ehegattensplitting jetzt schlei-fen, dann treffen Sie Millionen dieser Frauen. Das istkein Zugewinn an Humanität, sondern – das sage ich Ih-nen an dieser Stelle – eine ganz grobe Ungerechtigkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Singhammer, gestatten Sie eine Zwi-

schenfrage der Kollegin Deligöz?

Johannes Singhammer (CDU/CSU): Ich gestatte eine Zwischenfrage, wenn Sie die richtige

Frage stellen, Frau Deligöz.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Krista Sager[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habennicht Sie zu entscheiden!)

Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Singhammer, ich stelle Ihnen immer die richtige

Frage; das wissen Sie doch.

Geben Sie mir Recht, wenn ich sage: Eine Familie mitzwei Einkommen – die Frau ist womöglich als Verkäufe-rin im Supermarkt tätig, der Mann als Fernfahrer; beideverdienen also nicht viel – hat, obwohl beide Ehepartnerarbeiten, um ihrer Familie einen Mindestunterhalt zu ge-währleisten – denn beide sind keine Großverdiener –,nichts vom Ehegattensplitting. Denn bei einem etwagleich hohen Einkommen ist der Betrag, der sich ausdem Ehegattensplitting ergibt, für diese Familie null. Imgleichen Zug hat ein sehr gut verdienender Ehemann

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Ekin Deligöz

– ein Bundestagsabgeordneter, sagt meine KolleginSchewe-Gerigk – mit einer Frau, die nicht erwerbstätigund zu Hause ist, bei diesem Einkommen Vorteile vonbis zu 8 000 Euro, und dies auch ohne Kinder.

(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das weiß Herr Singhammer!)

Dies ist ungerecht gegenüber Kinder erziehenden Eltern,die trotz ihres niedrigen Einkommens die Kosten für ihreKinder tragen müssen.

Stimmen Sie mir darin zu, dass es ein Aspekt der Ge-rechtigkeit ist, Familien, die die Verantwortung überneh-men, Kinder zu erziehen, staatlich mehr zu unterstützenals diejenigen, die keine Kinder haben! Das müsste docheigentlich auch in Ihrem Programm stehen. Denn auchSie definieren „Familie“ als den Ort, wo Menschen mit-einander und füreinander Verantwortung übernehmen.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin, Sie hatten sich zu einer Zwischenfrage

gemeldet.

Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Das ist eine Zwischenfrage. Ich würde gern wissen,

ob mir Herr Singhammer da zustimmt.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Wenn ich mir nicht notiert hätte, dass ich Ihnen zu ei-

ner Zwischenfrage das Wort erteilt habe, könnte ich dasgar nicht mehr als solche erkennen.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Deswegen wäre es gut, wenn nach der bestellten gutenFrage nun auch eine gute Antwort erfolgte.

Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich habe ja von Ihnen gelernt, dass gut Ding Weile

braucht, Herr Lammert. Von daher stelle ich jetzt meineFrage.

(Zuruf der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

– Das war liebenswürdig von mir gemeint.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das hat auch jeder so verstanden. Es muss jetzt auch

wirklich damit sein Bewenden haben. Der Kollege Sing-hammer sollte den Teil der Ausführungen, die er alsFrage verstanden hat, beantworten.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so-wie bei Abgeordneten der FDP)

Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann stelle ich meine Frage: Wie vereinbaren Sie das

mit Ihren CSU-Grundsätzen? Diese Gerechtigkeitsfragewürde mich sehr interessieren.

Johannes Singhammer (CDU/CSU): Frau Kollegin Deligöz, ich werde mich bemühen, Ihre

Fragen umfassend zu beantworten.

Zunächst einmal haben Sie danach gefragt, ob dasEhegattensplitting bei dem von Ihnen skizzierten Bei-spiel eines Ehepaares, das über ein gleich hohes Ein-kommen verfügt, zu Begünstigungen führt.

(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist null!)

Das ist ganz klar zu beantworten – das ist nichtsNeues –: In diesem Fall nicht.

Dann haben Sie danach gefragt, ob es gerecht sei,wenn ein Partner mehr und der andere weniger verdientund diese Unterschiede im Rahmen des Ehegattensplit-tings als Vorteil zu Buche schlagen. Dazu möchte ich Ih-nen sagen, dass dieses Zerrbild, das hier gelegentlichgemalt wird – oft werden der Zahnarzt und die Zahnarzt-gattin bemüht, die aus dem Vorteil, den das Ehegatten-splitting bietet, Tennisstunden bezahlen kann –, so nichtzutrifft. In einer Untersuchung wurde vor kurzem ganzklar festgestellt, dass das Ehegattensplitting zielgenauden Familien mit Kindern Vorteile bringt. Damit dient esgenau der Gruppe, der es dienen soll. Dabei bleibt es.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN – Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das stimmt nicht!)

– Ob Ihnen das passt oder nicht: Es ist so.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)

Es kommt noch ein entscheidender Grund hinzu. Ehe-partner übernehmen in der Ehe eine ganz besondereVerantwortung füreinander, auch unterhaltsrechtlich.Deshalb ist es richtig – das Bundesverfassungsgerichthat dies wiederholt festgestellt –, dass diese besondereVerpflichtung einen besonderen Schutz braucht. Des-halb ist das Ehegattensplitting zu Recht eingeführt wor-den. – Ich denke, ich habe Ihre Fragen damit gut beant-wortet.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Schlecht beantwortet! – Weiterer Zuruf vomBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Und die Quelleder Untersuchung?)

Wahlfreiheit – ich möchte auf diesen Punkt zurück-kommen – erfordert natürlich auch finanzielle Gerech-tigkeit für Familien. Das ist heute schon angesprochenworden.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Singhammer, es gibt noch eine Zwi-

schenfrage der Kollegin Lenke.

Johannes Singhammer (CDU/CSU): Aber sehr gerne.

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön.

Ina Lenke (FDP): Herr Singhammer, ich möchte noch einmal auf das

Ehegattensplitting zurückkommen. Sie sagen, die Ehesolle geschützt werden und Kinder sollten vom Staat ge-fördert werden. In meiner Frage geht es um die finan-zielle Förderung der Kinder durch den Staat.

Bitte beantworten Sie mir die Fragen: Finden Sie esrichtig, dass Alleinerziehende mit Kindern vom Ehegat-tensplitting nicht profitieren? Finden Sie es weiterhinrichtig, dass auch eine Frau, die genauso viel verdientwie ihr Mann und die gleichzeitig die Kinder erzieht,keinen Vorteil durch das Ehegattensplitting hat?

Das Ehegattensplitting wurde vor 30 oder 40 Jahreneingeführt, als die Ehefrau zu Hause blieb, Kinder be-kam und Kinder erzog, während der Ehemann erwerbs-tätig war. Sind Sie mit mir darin einig, dass wir jetzt eineVielfalt von Lebensgemeinschaften haben, auf die die-ses von Ihnen vielleicht präferierte Modell nicht passt?

(Christel Humme [SPD]: Frau Lenke, das ist aber nicht die Position der FDP!)

Johannes Singhammer (CDU/CSU): Frau Kollegin Lenke, ich denke, ich habe vorweg ei-

nen Teil Ihrer Frage schon beantwortet. Bei der ganzenDiskussion gefällt mir nicht – gestatten Sie mir nochdiese Bemerkung –, dass wir uns mit der Frage beschäf-tigen, wo wir bei der Familie und bei der Ehe noch einpaar Millionen Euro einsparen können.

(Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Richtig!)

Ich finde diese ganze Richtung falsch. Ich bin der Mei-nung, dass wir uns überlegen sollten, wie wir noch mehrfür die Familien und gerade für die Kinder tun können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Menschen draußen im Lande erwarten, dass wir ge-nau darauf und nicht darauf, wo man in diesem Bereichnoch Geld einsparen kann, den Fokus setzen. Das sageich im Hinblick auf die Frauen, die eine andere Lebens-entscheidung getroffen haben und die unter einer Ände-rung besonders leiden würden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Widerspruch der Abg. Krista Sager [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN])

Wahlfreiheit erfordert aber auch finanzielle Gerech-tigkeit für Familien. Das Deutsche Jugendinstitut hatvor kurzem eine Studie vorgelegt, in der nachgewiesenwird, dass es allein aufgrund des Geburtenrückgangsim Jahr 2010 weniger Kinder geben wird und deshalb fürdie Beibehaltung des Status quo hinsichtlich der Kinder-tagesbetreuung weniger Ausgaben nötig sind. Das be-trifft alle politischen Ebenen, auch die Kommunen. DasDeutsche Jugendinstitut beziffert die Minderausgabenauf 3,6 Milliarden Euro.

Unsere Botschaft ist klar: Niemand, der mit Finanz-planung zu tun hat und für geordnete Haushaltsführung

Sorge trägt – das ist weiß Gott ein schwieriges Unterfan-gen –, sollte der süßen Versuchung erliegen, durch im-mer weniger Kinder sich zu immer mehr Einsparungenauf dem Rücken der Familien verführen zu lassen. ZuEnde gedacht würde diese Form des Einsparens uns allefrösteln lassen. Eine derartige Rendite – das Wort trautman sich in diesem Zusammenhang gar nicht in denMund zu nehmen – wäre zynisch und alles andere alsklug.

Moderne Familienpolitik auf Grundlage eines fami-lienpolitischen Leitbildes wird den Herausforderungenam besten gerecht. Ich möchte zum Schluss an dieserStelle der Familienministerin herzlich danken. Ihr ist esin den vergangenen Monaten gelungen, die Familien-politik dahin zu bringen, wo sie hingehört, nämlich insZentrum des politischen Geschehens.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Otto Fricke von der

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Otto Fricke (FDP): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Bundeshaushalt und Familie, Senioren und Kinder:Frau Ministerin, ich glaube, Sie müssen in der nächstenZeit neben der Frage der Programme, die Sie vorstellen– mittlerweile sind es fast unüberschaubar viele gewor-den, sie werden haushälterisch inzwischen ja auch zu-sammengezogen –, mehr und mehr Ihre Aufgabe darinsehen, die Umstellung unserer Sozialsysteme den Fa-milien, den Kindern und insbesondere den Senioren– den kommenden Senioren – klarzumachen.

Ich weiß, dass das haushaltärisch nicht in Ihren Haus-halt fällt. Aber es wird Ihre wesentliche Aufgabe sein,nicht nur darüber zu reden, wie man das alles verbessernwill, und mit Ihrer hellen und klaren Stimme zu sagen,wie wichtig Familie und Kinder sind, sondern auch klar-zumachen, was alles auf die betroffenen Personenkreisein Zukunft zukommen wird.

(Beifall bei der FDP)

Ich vermisse Ihre Stimme bei der Unterstützung desSparkurses. Es muss Kindern, Familien und Seniorenklar sein: Sparen heißt in eurem Interesse dauerhafte Si-cherheit. Ich gehe davon aus, dass Sie diese Position ver-treten. Ich glaube aber, dass es dringend notwendig ist,das unseren Bürgerinnen und Bürgern zu erklären.

(Beifall bei der FDP)

Zur Antidiskriminierungsstelle, die Frau Hummeangesprochen hat: Frau Humme, sie ist schon im aktuel-len Haushalt enthalten. Sie ist zwar gesperrt, aber sie istdrin.

(Zuruf der Abg. Christel Humme [SPD])

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Otto Fricke

Insofern ist das nichts Neues und nichts Besonderes.Sie haben die Hoffnung geäußert, dass das Geld nun tat-sächlich auch richtig eingesetzt wird. Ich kann nur davonabraten, die Antidiskriminierungsstelle im nächsten Jahrschon in Kraft zu setzen. Ich sehe, dass wir in den Minis-terien schon am ersten Korrekturgesetz – wahrscheinlichauch am zweiten Korrekturgesetz – arbeiten, weil so vielMurks gemacht worden ist. Die Justizministerin hat inder Debatte sogar indirekt zugegeben, dass diese Stelleerst dann kommen sollte, wenn das Gesetz auch in derForm vorliegt, wie es im Übrigen von den Koalitions-fraktionen tatsächlich gewollt ist, und nicht, wie esfälschlicherweise beschlossen worden ist.

(Christel Humme [SPD]: Komische Interpreta-tion von Politik!)

Ich komme zum Elterngeld: Ja, es ist richtig, es istgut, dass dieses Elterngeld kommt. Aber was ist denndas Elterngeld? Da habe ich ein Problem. Dient es derVereinbarkeit von Familie und Beruf oder ist es, wie ichoft höre, eine Sozialleistung? Das macht sich deutlichfest an der Frage des Elterngeldes für Hartz-IV-Empfän-ger.

Sie können mich jetzt in die böse Ecke stellen und be-haupten, ich würde es den Hartz-IV-Empfängern nichtgönnen, dass sie Elterngeld bekommen. Wenn das El-terngeld die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zumZiel hat, dann dürfen wir es bei Hartz IV nicht machen.Wenn Sie aber zu dem Ergebnis kommen, dass dieHartz-IV-Empfänger mit Kindern zu wenig Geld be-kommen und es deswegen für diesen Personenkreis not-wendig ist, Elterngeld zu geben, dann sollten Sie sagen:Die Leistungen aus Hartz IV sind für Eltern zu wenig.

(Beifall bei der FDP – Kerstin Griese [SPD]:Man kann Vereinbarkeit auch sozial gestal-ten!)

Das können Sie auch an der Antwort auf die Frage fest-machen: Was ist denn nach dem ersten Jahr? Ist es nachdem ersten Jahr, in dem die Leistung gegeben wurde, aufeinmal so, dass die Eltern, die Hartz-IV-Empfänger sind,genügend Geld haben? Ich glaube kaum, dass Kindernach einem Jahr auf einmal weniger Geld kosten. Jedervon uns weiß doch: Je älter Kinder werden, umso mehrGeld kosten sie und umso mehr sollten sie uns auch wertsein.

(Beifall bei der FDP – Christel Humme [SPD]:Diese Sätze verstehen die Familien auf keinenFall!)

– Sie sagen, das verstünden die Familien nicht. Sie mei-nen, wenn Sie das Geld rausgeben, verstünde das jeder.Als Haushälter weiß ich: Wenn ich heute gebe und mor-gen nichts habe, dann ist das schlecht. Wenn ich heuteweniger gebe, aber morgen noch etwas habe, dann istdas gut. Das ist wahrscheinlich der Unterschied zwi-schen der Haushaltspolitik Ihrer Art und der Haushalts-politik einer liberalen Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Ich komme – Herr Singhammer hat es gerade in einerWeise angesprochen, der ich nicht ganz zustimmenkann – zu dem Buch, das heute vorgestellt worden ist.

(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Um Gottes willen! – Nein! –Christel Humme [SPD]: Warum quälen Sieuns?)

– Welche Reaktionen! Keine Angst! Ich halte von derPosition von Frau Herman nichts. Aber ein Bundestag,der sich mit der Frage, warum dieses Buch so gut läuft,nicht beschäftigt, der macht einen Fehler.

(Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Jurist sagt: Hör immer der anderen Seite zu! Das giltauch hier, auch wenn das nicht mein Familienbild undnicht mein Frauenbild ist! Emanzipation ist meiner Mei-nung nach dringend notwendig gewesen. Sie zurückzu-drehen wäre ein Fehler für unsere Gesellschaft. Aber Siemachen die Rollladen runter und sagen: Das ist schlecht.Auch das ist ein Fehler. Schauen Sie lieber nach, wo diefalschen Denkansätze in diesem Bereich liegen! Woläuft es falsch? Dann müssten Sie eines sehen: Wedervon konservativer noch von sozialdemokratischer Seitekann ein bestimmtes Familienbild vorgegeben werden.In diesem Land muss jeder Bürger im Bereich Familiedie für ihn richtige Lösung finden. Tut er das nicht, wirder auf Dauer nicht glücklich sein. Und das ist es doch,was wir erreichen wollen: Wir wollen glückliche und zu-friedene Familien. Jeder soll auf seinem Weg glücklichwerden.

(Beifall bei der FDP)

Zum Schluss will ich noch etwas zur Seniorenpolitiksagen. Frau Ministerin, es ist richtig – auch Herr Spanierhat Recht –, auf diesem Gebiet passiert etwas. Es gibtaber ein Problem: Im Bundestag sitzen zu wenig „Äl-tere“. Herr Spanier hat gesagt, er wäre mit seinen drei-undsechzigeinhalb Jahren schon ein Senior. Das stimmtdoch nicht. Sie stehen doch voll im Leben. Mit „Senior“haben Sie mit dreiundsechzigeinhalb Jahren doch nochnichts zu tun.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Fricke, erlauben Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Sager?

Otto Fricke (FDP): Aber selbstverständlich.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Sager, bitte.

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Danke schön. – Ich möchte auf Ihre Ausführungen

von eben zurückkommen. Herr Kollege, viele Frauen be-klagen zu Recht, dass es verdammt schwer ist, Familieund Beruf unter einen Hut zu bringen. Könnte es sein,dass der Grund dafür nicht nur im Mangel an Kinderbe-treuungseinrichtungen und Ganztagsschulen liegt? Müss-

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Krista Sager

ten nicht die Unternehmen angesichts des demografi-schen Wandels deutlich familienfreundlicher werden?Sollten nicht gerade die Vertreter des Turbokapitalismusdafür werben, dass die Unternehmen familienfreundli-cher werden?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU undder SPD)

Otto Fricke (FDP): Liebe Frau Kollegin, bis auf die Aussage zum Turbo-

kapitalismus, die ich nicht ganz einordnen konnte, weilich nicht weiß, wen Sie damit gemeint haben,

(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN und bei der SPD)

stimme ich Ihnen ausdrücklich zu.

Ich komme auf meinen Redebeitrag zurück.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Frau Ministerin, gehen Sie auf das ein, was von denSenioren in Zukunft erwartet wird. Wenn Sie die Pla-nungen von Herrn Müntefering zur Rente mit 67 und zurHinterbliebenenrente unterstützen, dann sollten Sie denBürgern sagen, warum das unterstützenswert ist. HaltenSie sich nicht zurück; warten Sie nicht, bis die Wolkenvorübergezogen sind. Es ist Ihre Aufgabe, klarzuma-chen, was der Staat zukünftig noch leisten kann.

Es ist fast nicht nötig, Ältere zu fördern. Sie könnendas nämlich selber. Als Beispiel nenne ich Ihnen unserenKollegen Schily. Er wird nächstes Jahr 70 Jahre alt undhat im letzten Jahr seine erste Legislaturperiode angetre-ten. Wir mussten ihn nicht fördern. Er ist angetreten,weil er die entsprechenden Fähigkeiten hatte und sagte:Es geht um meinen Einsatz für die Politik. Ihre Aufgabeist es, den Bürgern in unserer Gesellschaft das klar zumachen. Wenn Sie das vorhaben, haben Sie unsere Un-terstützung.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Sönke Rix von der

SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Sönke Rix (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

weiß nicht, ob ich mich jetzt dafür entschuldigen muss,dass ich erst 30 Jahre alt bin.

(Zuruf von der SPD: Das ändert sich!)

Herr Fricke, Frau Herman wird sich sicher dafür bedan-ken, dass Sie Werbung für ihr Buch gemacht haben. Ichbin aber froh, dass Sie in Ihrer Antwort auf die Zwi-schenfrage Frau Sager Recht gegeben haben und nichtletztendlich doch Frau Herman.

Die Lesung des Bundeshaushalts ist für die einen einsehr trockenes Geschäft. Für die anderen hängt ihre per-sönliche Zukunft daran, weil sie Angestellte einer Ein-richtung sind oder weil sie dort nachmittags betreut wer-den bzw. eine warme Mahlzeit erhalten. Manchmalhängt aber auch die Zukunft einer ganzen Einrichtungoder des gesamten Bereichs der Kinder- und Jugendhilfedaran.

Hier wurden bereits einige Informationen über denEinzelplan preisgegeben. Ich bin in der glücklichenLage, Ihnen und denen, die es vor allem betrifft, zu sa-gen, dass es im Bereich der Kinder- und Jugendpolitikim Vergleich zum Haushalt 2006, den wir vor der parla-mentarischen Sommerpause verabschiedet haben, nurkleine Unterschiede gibt. Natürlich hätte ich größereFreude daran gehabt, zu verkünden, dass die Mittel auf-gestockt wurden. Geld ist aber nicht alles. Es nütztnichts, schlechtem Geld noch gutes Geld hinterher zuwerfen.

Genau das passiert, wenn man keine Ideen mehr hat.Gerade die sind in der Kinder- und Jugendpolitik mehrdenn je gefragt. Kinder und Jugendliche sind eigenstän-dige Persönlichkeiten mit vielfältigen Fähigkeiten. Siehaben eigene Rechte. Die Stärkung der Persönlichkeitund die individuelle Förderung müssen das Ziel allerkinder- und jugendpolitischen Maßnahmen sein.

(Beifall bei der SPD)

Alle Kinder und Jugendlichen sollen von Anfang andie gleichen Voraussetzungen erhalten, damit sie dieChancen haben, ihre vielfältigen Fähigkeiten und Ta-lente zu entwickeln. Unser Ziel ist eine gute Qualität vonBildung, Erziehung und Betreuung von Anfang an.Wir brauchen dazu ein Gesamtsystem, das auf die Be-dürfnisse von Kindern und Jugendlichen ausgerichtet ist.Wenn hier viele kleine Zahnräder ineinander greifen,kann auf einen großen teuren Reifen getrost verzichtetwerden.

Kinder brauchen andere Kinder, um Beziehungserfah-rungen sammeln zu können. Denn sie sollen sich emo-tional, sozial und kognitiv gut entwickeln. Der Ausbauder Kinderbetreuung ist daher von elementarer Bedeu-tung. Eine qualifizierte frühe Förderung ergänzt die Bil-dungsangebote über das Elternhaus hinaus. Sie ermög-licht den Kindern eine echte Chancengleichheit beiBildung und Erziehung. Absolut notwendig sind dabeidie Qualifizierung der Tagespflege und die Weiterent-wicklung der Qualität der Kinderbetreuung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Bei der notwendigen Modernisierung des schulischenLernens spielt die Einrichtung von Ganztagsschuleneine entscheidende Rolle. Ganztagsschulen bieten mehrZeit und Raum, jedes Kind individuell zu fördern. Dabeiist die Kinder- und Jugendhilfe ein zentraler Partner. Vonihren Erfahrungen in der Bildungsarbeit, in Kindertages-stätten, in kulturellen Einrichtungen, Sport- und Freizeit-verbänden sowie in der Schul- und Jugendsozialarbeitkann die Entwicklung eines durchgängigen Bildungs-angebotes nur profitieren.

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Sönke Rix

Eine kurze Anmerkung: Frau Haßelmann, Sie habenvorhin von einer Kürzung der Mittel für die Jugend-sozialarbeit gesprochen. Dort ist nur eine Neustrukturie-rung vorgenommen worden. Die Summe ist immer nochdie gleiche.

(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig!)

Nicht alle Kinder haben die gleichen Zugänge zu Bil-dung. Dies gilt vor allem für Kinder und Jugendlicheaus sozialen Brennpunkten und mit Migrationshin-tergrund. Rund 12 Prozent der Jugendlichen mit Migra-tionshintergrund haben keinen Schulabschluss. Zudemfinden sie auch mit Schulabschluss seltener einen Aus-bildungsplatz. Die Konsequenz daraus ist der Aufenthaltin schulischen und berufsvorbereitenden Warteschleifen.Damit es nicht so weit kommt und die Jugendlichenkeine wertvolle Zeit verlieren, muss früher angesetztwerden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ein Ausbau der Frühprogramme für Kinder und Ju-gendliche mit Migrationshintergrund ab dem Kindergar-ten, so, wie wir ihn vereinbart haben, ist der erste undwichtigste Schritt. Denn wir alle wissen: Bildung ist derGrundstein jeglicher Integration. Dies gilt auch für dieberufliche Integration, die besonders Hauptschülerinnenund Hauptschülern schwer fällt. Von ihnen bleiben circa9 Prozent eines Jahrgangs ohne Schulabschluss. IhreChancen auf eine berufliche Integration sind deshalb er-heblich schlechter.

Für Kinder und Jugendliche aus sozialen Brennpunk-ten und mit Migrationshintergrund gilt gleichermaßen:Die Spirale von Armut und mangelnden Bildungschan-cen muss durchbrochen werden. Die grundlegende Be-reitschaft, sich für die eigene berufliche Zukunft zu en-gagieren, muss bei den Jugendlichen geweckt, gefördertund – das füge ich bewusst hinzu – gefordert werden.Das Prinzip der ausgestreckten Hand muss dabei Grund-lage allen politischen Handelns sein.

Werte, die in der Arbeitswelt geschätzt werden, wieetwa Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Durchhaltever-mögen, müssen bereits früh in der Erziehung und Bil-dung vermittelt werden. Es ist unabdingbar, die Situationbenachteiligter junger Menschen zu verbessern. Geradediese jungen Menschen brauchen ausgezeichnete Ent-wicklungs- und Bildungsangebote. Sonst verbauen wirihnen jeden Weg in eine selbstbestimmte Zukunft.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zukunftsweisende Politik für Kinder und Jugendlichewird durch eine ganzheitliche Familienpolitik ergänzt,die den Zusammenhalt der Generationen fördert undstärkt und damit den Zusammenhalt der gesamten Ge-sellschaft sichert. Geteilte Werte und gelebte Gemein-samkeit schlagen Brücken, auch zwischen den Genera-tionen.

Erziehung bedeutet, Kinder stark für das Leben zumachen, ihnen zu helfen, ihren Platz in unserer Gesell-schaft zu finden und eigenverantwortlich zu handeln.

Alle Kinder verfügen über besondere Stärken, Talenteund Neigungen. Unsere politischen Entscheidungenmüssen wir daran messen lassen, ob sie den Interessender Entwicklung der nachfolgenden Generationen ge-recht werden, dem Wohle von Kindern und Jugendlichendienen und den Zusammenhalt der Generationen und da-mit der gesamten Gesellschaft fördern und stärken.

Meine Kolleginnen und Kollegen, Kinder- und Ju-gendpolitik ist eine Querschnitts-, Langzeit- und Zu-kunftsaufgabe. Leider ist dieser Haushaltsansatz nichtder größte des gesamten Zahlenwerks.

(Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Aber größer geworden ist er!)

Gerade weil das so ist, sind alle handelnden Akteure ge-fordert, aus den vorhandenen Mitteln mit Kreativität,Einfallsreichtum und engagierter Arbeit das Maximumherauszuholen.

Ich danke an dieser Stelle allen, die sich jeden Tag umdie Kinder- und Jugendarbeit in unserem Land verdientmachen, und bitte sie, dies gemeinsam mit allen Betei-ligten auch weiterhin zu tun.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Ole Schröder von

der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Ole Schröder (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Mit dem Haushaltsentwurf 2007 setzen wir eindeutliches Signal für Familien und Kinder. Mit demElterngeld erreichen wir eine deutliche Verbesserungfür Familien und Kinder. Hierfür sind erstmalig 1,6 Mil-liarden Euro eingestellt worden.

Trotz der Erhöhung des Volumens des Einzelplans 17,bedingt durch das Elterngeld, aber auch durch die Mehr-generationenhäuser, steht natürlich auch dieser Haushalts-entwurf unter dem allgemeinen Konsolidierungsdruck.So haben wir beispielsweise die Verwaltungsausgabender institutionell geförderten Zuwendungsempfänger umcirca 2,2 Prozent gekürzt.

Frau Haßelmann, bei der sozialen und beruflichenIntegration haben wir allerdings nicht gekürzt. DiesesKapitel ist mit 12,1 Millionen Euro gleich hoch geblie-ben. Wir haben innerhalb dieses Bereichs allerdings eineUmschichtung vorgenommen, und zwar von der Jugend-sozialarbeit – minus 400 000 Euro – hin zum Titel „Ju-gend und Arbeit“, um in diesem Rahmen ein Programmfür Schulverweigerer zu finanzieren.

Für den von Ihnen genannten Titel „Jugendsozialar-beit“ wird dennoch weiterhin genauso viel Geld ausge-geben wie bisher. Das ist möglich, weil es dem Ministe-rium gelungen ist, Gelder aus dem EU-Sozialfonds zugenerieren. Diese Gelder fließen direkt in die geplantenProgramme. Insofern ist die Befürchtung, die Sie eben

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Dr. Ole Schröder

geäußert haben – dass wir hier sparen würden –, unbe-gründet.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Darauf können wir aber in den Beratungen sicherlichnoch eingehen.

Nach wie vor müssen wir uns fragen, ob wir inDeutschland 20 Zivildienstschulen brauchen; sie kostenimmerhin 47 Millionen Euro. In diesem Haushaltsent-wurf sind an dieser Stelle erneut Mehrausgaben in Höhevon 500 000 Euro zu verzeichnen. Vor dem Hintergrundder Überkapazitäten in unseren Zivildienstschulen zeigtsich hier deutliches Einsparpotenzial. Darauf sollten wirin den Beratungen noch einmal zu sprechen kommen.Das Ministerium arbeitet bereits an entsprechenden Ver-besserungsvorschlägen. Ich denke, dass wir hier in guterZusammenarbeit zu vernünftigen Lösungen kommenwerden.

Zudem werden wir auch die Entwicklung des Kin-derzuschlages genauer beobachten müssen. Gegenwär-tig wird ein Volumen von 150 Millionen Euro dafür ver-anschlagt. Das entspricht der Höhe der Ausgaben, dienach der derzeitigen Rechtslage zu erwarten sind. Aberwir sollten darauf drängen, die im Koalitionsvertrag ver-einbarte Weiterentwicklung in diesem Bereich energischanzupacken. In diesem Zusammenhang denke ich vor al-len Dingen an die immens hohen Verwaltungsaufwen-dungen. Hier können wir sicherlich Geld einsparen, da-mit mehr Geld für die Kinder zur Verfügung gestelltwerden kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, wir als Haushälter habendie Aufgabe, uns auch die kleinen Titel genau anzusehenund sie intensiv zu kontrollieren. Das tun wir. Doch beialler Liebe zum Detail, die wir im Haushaltsausschusshaben: Noch viel wichtiger ist es, ein familienpoliti-sches Gesamtkonzept zu erstellen. Liebe Kolleginnenund Kollegen, eine verbesserte Ausgestaltung der Fami-lienpolitik ist wesentlich für die Zukunft unserer Gesell-schaft. Wir haben schon in der letzten Debatte, zumHaushalt 2006, intensiv darüber diskutiert. Die Famili-enpolitik der letzten Jahre ist immer noch zu ineffektiv,zu ineffizient, zu intransparent und zum Teil, wie ichmeine, ungerecht. Ihre Systematik weist Schwächen auf,gerade im Vergleich zu anderen europäischen Ländern.Das Problematische ist, dass durch den Förderdschun-gel der vielen familienpolitischen Maßnahmen eigent-lich keiner mehr richtig durchblickt.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Sibylle Laurischk [FDP]: Ganz interessant!)

Nicht umsonst hat das Bundesverfassungsgericht schonvor drei Jahren in seinem Urteil zur verfassungsrechtli-chen Prüfung des Kinderunterhaltsrechts mehr Norm-klarheit gefordert. Das sollten wir umsetzen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das Geld sollte den Kindern und Eltern zugute kommenund nicht in der Förderbürokratie versickern. Die unter-schiedlichen familienpolitischen Leistungen müssen da-

her gebündelt werden. Wir brauchen ein Gesamtpaket, indem die Anzahl der unterschiedlichen Fördermaßnah-men reduziert und die unnötige Bürokratie in der Fami-lienpolitik abgebaut wird. Letztendlich sind es drei Säu-len, die wir brauchen: eine einkommensunabhängigeLeistung wie das Kindergeld, um die Grundsicherung je-des Kindes zu gewährleisten; einkommensabhängigeLeistungen wie das Elterngeld und die steuerliche Be-rücksichtigung von Kindern, um auch Berufstätigen dieRealisierung ihres Kinderwunsches zu erleichtern; undnatürlich, drittens, bedarfsabhängige Leistungen zurÜbernahme der Kosten für Kinderbetreuung, wodurchdie Wahlfreiheit garantiert wird und die Schwarzarbeitim Betreuungssektor vermieden werden kann. Was wirnicht brauchen, sind 50 verschiedene monetäre Leistun-gen, die man nur noch nachvollziehen kann, wenn mandicke wissenschaftliche Studien von über 100 Seiten zuRate zieht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Eine solche Bündelung der Maßnahmen ist auch sinn-voll, um ein weiteres wichtiges Projekt der Koalition zuergänzen: die einheitliche Familienkasse, eine Kasseneuen Typs, eine einheitliche Anlaufstelle.

Frau Familienministerin, ich bin gespannt, was dievon Ihnen jetzt ausgeschriebene Evaluation der familien-politischen Maßnahmen bringen wird. Nur, eins ist klar:Letztendlich entscheiden nicht die Gutachten, sondernentscheidend ist der politische Mut, dieses Reformpro-jekt auf den Weg zu bringen. Ich hoffe, dass Sie weiterso mutig voranschreiten. Wir werden Sie dabei unterstüt-zen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt Kollegin Kerstin Griese von der

SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Kerstin Griese (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

will zum Abschluss unserer Debatte etwas dazu sagen,was der rote Faden unserer Politik für Kinder und Ju-gendliche, für Familien, für die Gleichstellung vonFrauen und Männern, für die Solidarität der Generatio-nen und für die Unterstützung des zivilgesellschaftlichenEngagements ist. Uns geht es um den Zusammenhalt inder Gesellschaft. Es geht um den Einsatz füreinanderund um mehr und bessere Chancen von Anfang an. Des-halb begrüße ich es wie schon meine Vorredner, dassdieser wichtige Haushaltstitel gestärkt wird.

Es geht uns Sozialdemokraten – ich glaube, das kön-nen Sie alle hier teilen – um die wichtige Frage: Was hältdie Gesellschaft zusammen? Was stärkt die Menschen,damit sie sich füreinander und miteinander engagieren,sei es in der Familie, im Stadtteil, in der Schule, in derAusbildung, im Arbeitsleben oder zwischen den Genera-tionen? Uns geht es – dafür brauchen wir keine Bücher,

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Kerstin Griese

wie sie heute erscheinen – nicht darum, jemandem einenLebensentwurf aufzuzwingen.

(Otto Fricke [FDP]: Gut!)

Es geht uns darum, Freiheit und Gerechtigkeit – dasgehört immer zusammen – herzustellen, damit ein soli-darisches Zusammenleben möglich ist, und es geht dabeium die Verantwortung füreinander.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Es geht darum, dass wir Menschen stärken, damit sienicht wegsehen, wenn Kinder schlecht behandelt werdenoder wenn Rechtsextremisten jemanden anpöbeln.

Ganz besonders sind diese großen Werte, über die wirhier reden, gefragt, wenn es um die Schwächsten in derGesellschaft geht, nämlich die Kinder, deren Chancen inDeutschland immer noch viel zu sehr davon abhängen,welche und ob überhaupt Bücher im Regal der Elternstehen und in welchem Stadtteil sie aufwachsen. MeineVorredner haben schon viel dazu gesagt. Weniger Bil-dungschancen bedeuten weniger Zukunftschancen. Ge-nau da setzen wir an. Auf frühe Förderung und Unter-stützung kommt es an, auf Mehrgenerationenhäuser undden Ausbau von Bildung und Betreuung.

Frau Golze, ich will auf das eingehen, was Sie zurKinderarmut gesagt haben. Ja, in Deutschland leben2,5 Millionen Kinder von ALG II, also schon längstnicht mehr von Sozialhilfe, was deutlich weniger wäre.Betroffen ist jedes sechste Kind in Deutschland. Das istschlimm, aber nicht mit Kinderarmut gleichzusetzen.Kinderarmut kann man nämlich nicht allein materiellund statistisch und vor allen Dingen nicht mit demALG-II-Satz begründen. Es ist ja auch nicht so, dass wirin den letzten Jahren weniger Geld für die Familien aus-gegeben haben. Die Leistungen sind kontinuierlich ge-stiegen. Wir müssen alle gemeinsam – da stimme ichHerrn Schröder zu – darüber nachdenken, wie man die-ses Geld zielgerichteter ausgeben kann.

Kinderarmut macht sich insbesondere durch eine feh-lende Förderung der Kinder und durch fehlende Bil-dungsanreize durch das Elternhaus bemerkbar. Hiermüssen wir ansetzen. Wir müssen auf Bundesebene ver-stärkt Chancengleichheit ermöglichen und viel früherdamit beginnen. Ich appelliere dabei aber auch an dieLänder, weil sie für die Schulpolitik zuständig sind. Ichglaube, Kinderarmut muss durch mehr Bildungschancenund mehr Möglichkeiten zur Aufnahme einer Erwerbstä-tigkeit für die Eltern bekämpft werden. Das ist die nach-haltigste Lösung.

Wenn Alleinerziehende ihr Leben selbst in die Handnehmen können sollen, dann muss die Politik dafür sor-gen, dass es ein gut funktionierendes Netz an Kinderbe-treuungsmöglichkeiten, mehr Familienfreundlichkeit amArbeitsplatz und gezielte finanzielle Hilfen gibt. In die-sem Sinne tun wir sehr viel für die Bekämpfung vonKinderarmut.

Wir als SPD haben schon vor Jahren in der Regierungdamit begonnen, Kindern früher und mehr Chancen aufBildung und Betreuung zu geben. Sie kennen das Er-

gebnis: mehr Ganztagsgrundschulen. Ich bin froh, dasswir endlich den Einstieg in den Ausbau der Betreuungfür unter 3-Jährige geschafft haben, und zwar auch inWestdeutschland. Wir warten nicht ab, Frau Haßelmann.Die erste Evaluation liegt vor; der Ausbau beginnt.Wenn Sie in die Kommunen gehen, dann sehen Sie dasselbst. Alle bemühen sich, den Bedarf zu erheben. Wirsind uns sicherlich einig, dass wir alle das gerne nochsehr viel schneller hätten. Ich bin aber froh, dass nunendlich mit dem Ausbau der Betreuungsmöglichkeitenfür unter 3-Jährige begonnen wird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich muss aber sagen, dass man die Schwerpunkte inNRW zurzeit leider etwas anders setzt. Dort ist die FDPübrigens mit in der Regierung. Durch die massiven Kür-zungen der Zuschüsse für die Kindergärten haben wirdort in den Kommunen ein großes Problem. Die Kom-munen, denen es am schlechtesten geht, müssen dieseKürzungen nun auf die Eltern abwälzen. Das ist keineFamilienfreundlichkeit.

(Beifall bei der SPD – Sibylle Laurischk[FDP]: Wo kommen denn die Schulden her? –Otto Fricke [FDP]: Von wem haben wir dasdenn übernommen?)

– Das habt ihr eingeführt.

Wir führen gerade eine Debatte darüber, dass sichLeistung wieder lohnen muss. „Leistung muss sich wie-der lohnen“ ist früher eher von der rechten Seite desHauses als Ruf erklungen. Ihnen ging es dabei meistensum weniger Staat. Die Debatte hat sich aber geändert.Die Menschen wollen nämlich, dass die Gesellschaftund der Staat mehr Verantwortung übernehmen. Deshalbsage ich heute als Sozialdemokratin: Leistung muss sichlohnen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir müssen darum etwas tun, damit unsere Gesellschaftnicht mehr so starr und undurchlässig ist. Wir müssenmehr in die Chancen für Kinder investieren. Die Leis-tungsträger in unserer Gesellschaft sind eben auch dieMütter und Väter in der Mitte der Gesellschaft, die Berufund Familie erfolgreich vereinbaren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU und des Abg. Otto Fricke[FDP])

Durch das Elterngeld, das wir einführen, wird genaudiese Mitte der Gesellschaft unterstützt. Herr Fricke, esgibt keinen Gegensatz zwischen der Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf und der Sozialpolitik; wir haben bei-des gemeinsam geschafft. Das Elterngeld wird nämlichinsbesondere denen zugute kommen, die geringe undmittlere Einkommen erzielen. Der übergroße Teil gehtan diese Einkommensschichten. Das heißt, wir habenbeides sinnvoll miteinander verbunden.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Johannes Singhammer [CDU/CSU])

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Kerstin Griese

Ich halte die Geringverdienerregelung, die wir imRahmen der Ausgestaltung des Elterngelds vorgeschla-gen haben, bis heute für eine der besten Regelungen. Da-von können sich die Sozial- und Arbeitsmarktpolitikereiniges abschauen. Es ist nämlich der richtige Ansatz da-für, dass sich Arbeit wieder lohnt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Ina Lenke [FDP]: Das ist sobürokratisch!)

Mit diesem Konzept werden übrigens auch einmal dieMänner als Leistungsträger angesprochen. Sie werdendurch das Elterngeld darin unterstützt, sich mehr um ihreRolle als Elternteil zu kümmern und genauso Verantwor-tung zu tragen wie die Frauen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Griese, erlauben Sie eine Zwischen-

frage des Kollege Otto Fricke?

Kerstin Griese (SPD): Wenn er keine Werbung für Bücher macht, dann

gerne.

(Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Herr Fricke.

Otto Fricke (FDP): Nein, ich glaube, das Buch kursiert im Moment in an-

deren Reihen.

(Nicolette Kressl [SPD]: Nicht bei uns!)

Geschätzte Kollegin Griese, Sie sagten gerade, dassdas Elterngeld eine Sozialleistung ist. Wenn das so istund wenn auch die CDU/CSU das als eine Sozialleistungansieht, dann hätte ich von Ihnen doch gerne eine Ant-wort auf die Frage, warum die Zahlung dieser Sozialleis-tung nach einem Jahr abrupt endet.

Kerstin Griese (SPD): Geschätzter Kollege Fricke, Sie haben mir nicht rich-

tig zugehört. Ich habe gesagt: Das Elterngeld ist eineVerbindung beider Komponenten, der Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf und einer sozial gerechten Ausgestal-tung. Es ist nämlich so, dass 63 Prozent der Elterngeld-zahlungen Familien mit kleinen und mittleren Einkom-men zugute kommen. Das ist ein Beweis für die sozialgerechte Ausgestaltung dieser Leistung. Das Neue anunserer Politik ist, dass wir an beides denken, an die Ver-einbarkeit von Familie und Beruf und an soziale Gerech-tigkeit.

Leistungsträger in unserem Land sind auch die vielenehrenamtlich engagierten Menschen. In Deutschlandsind das 23 Millionen. Sie sind der Kitt, der unsere Ge-sellschaft stark macht. Ein gutes Beispiel dafür sind dieFreiwilligendienste, die wir mit diesem Haushalt weiterausbauen; es sollen weitere Plätze geschaffen werden.Dass es noch immer mehr Bewerbungen von jungen

Menschen als freie Plätze gibt, ist ein erfreuliches Zei-chen.

Das gilt auch für den internationalen Jugendaus-tausch, den wir weiter fördern. Ich will angesichts deraktuellen Lage nur einen Satz zum deutsch-israelischenJugendaustausch sagen, der unter schwierigen Bedin-gungen weitergeführt werden muss. Wir alle hoffen, dassin dieser Region die Waffen schweigen. Ich möchte de-nen danken, die sich weiterhin für den deutsch-israeli-schen Jugendaustausch und diese Begegnungen engagie-ren; denn wir brauchen diese Arbeit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Ein Thema, das uns ebenfalls sehr wichtig ist, ist dieArbeit gegen Rechtsextremismus. Ich bin sehr froh,dass wir gemeinsam durchgesetzt haben, dass die Mittelin Höhe von 19 Millionen Euro für das Programm „Ju-gend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie – gegenRechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antise-mitismus“ langfristig zur Verfügung stehen werden. Dasist notwendig. Es geht eben nicht um Strohfeuerpro-gramme, sondern es geht um eine langfristige Versteti-gung der Arbeit, wie wir das im Koalitionsvertrag fest-gehalten haben.

Ich bin froh – das war uns als SPD sehr wichtig –,dass der Schwerpunkt auf der Arbeit gegen Rechts-extremismus liegt; denn wir alle wissen, wie hoch dortdas Gefahrenpotenzial ist.

Für uns ist eine kontinuierliche und nachhaltige Ar-beit für Demokratie und Toleranz die beste Prävention.All das kann nur funktionieren, wenn die Projekte undInitiativen vor Ort unterstützt werden. Ich habe in die-sem Sommer einige Bürgerbündnisse und mobile Bera-tungsteams besucht und konnte mich davon überzeugen,in welcher gesellschaftlichen Breite dort gearbeitet wird:parteiübergreifend mit Kirchen, Verbänden und Verei-nen. Ich danke auch den vielen Menschen, die sich beider Ministerin dafür eingesetzt haben, dass diese Arbeitfortgeführt wird.

Wir als SPD wollen, dass erfolgreiche Arbeit fortge-führt werden kann. Die Struktur von mobilen Bera-tungsteams, Opferberatungsstellen und Netzwerkstellenbildet einen überregionalen Hintergrund, vor dem sichsehr viele Menschen ehrenamtlich engagieren können.Diese Arbeit ist wichtig und muss sicherlich weiterent-wickelt werden. Aber sie darf nicht beendet werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Gerade angesichts der aktuellen Situation müssen wirwachsam sein. Wir erleben in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, wie Menschen im Wahlkampf von Rechts-extremen belästigt und fotografiert, wie Autokennzei-chen aufgeschrieben werden, wie sie sogar bedroht undverfolgt werden. Das ist Mitgliedern meiner Partei mehr-fach passiert. Das zeigt uns, dass wir alle gemeinsam da-für einstehen müssen, dass rechtsextreme, rassistischeund Menschen ausgrenzende Parteien nicht noch einmalin die Landtage einziehen dürfen.

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Kerstin Griese

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Viele von Ihnen haben Patenschaften für Projekte wie„Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ über-nommen. Ich nenne hier auch das Netzwerk für Demo-kratie und Courage in Sachsen; Sachsen ist übrigens dasBundesland mit der höchsten Dichte an organisiertenRechtsextremen. Die Arbeit gegen Rechtsextreme, dievon der Zivilgesellschaft geleistet wird, ist wichtig. Ichhalte auch die Idee der Kollegin Lazar für unterstützens-wert, uns zu überlegen, ob wir ausschließlich Kommu-nen oder auch Verbünden von Trägern die Möglichkeitgeben, Projekte zu beantragen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Ich komme zum Schluss, nur noch ein paar Sekunden.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Eine Minute ist nicht mehr drin.

Kerstin Griese (SPD): Frau Laurischk, wir sind nicht die Bösen. Der Titel

für die Integration junger Zuwanderinnen und Zuwan-derer ist in unserem Haushalt weder gekürzt noch gestri-chen worden. Er liegt weiterhin bei einem Volumen von66 Millionen Euro. Ich habe mich noch einmal erkun-digt: Kein Projektträger, der um Unterstützung gebetenhat, ist zurückgewiesen worden. Wenn Sie das im Innen-ausschuss kritisieren wollen, können Sie das dort tun.Da, wo es um die Integration junger Migranten geht, ha-ben wir die Mittel in gleicher Höhe für die Weiterfüh-rung der Arbeit bereitstellen können.

(Sibylle Laurischk [FDP]: Da muss mehr getan werden!)

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.

Ich rufe deshalb die Tagesordnungspunkte 2 a bis 2 esowie die Zusatzpunkte 1 a bis 1 g auf:

2 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh-rung des Elterngeldes

– Drucksache 16/2454 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und Soziales

VerteidigungsausschussAusschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ange-lika Brunkhorst, Michael Kauch, Horst Meierho-fer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derFDP

Exportaktivitäten deutscher Unternehmen imTechnologiebereich erneuerbarer Energiensachgerecht unterstützen

– Drucksache 16/1565 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeidrunBluhm, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN-KEN

Generelle Altschuldenentlastung auf dauer-haft leer stehende Wohnungen

– Drucksache 16/2078 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Finanzausschuss

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeidrunBluhm, Dr. Barbara Höll, Dr. Gesine Lötzsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN-KEN

Grunderwerbsteuerbefreiung bei Fusionenvon Wohnungsunternehmen und Wohnungs-genossenschaften in den neuen Ländern

– Drucksache 16/2079 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Finanzausschuss

e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierung

Bericht über die aktualisierten Stabilitäts- undKonvergenzprogramme 2005 der EU-Mit-gliedstaaten

– Drucksache 16/1218 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

ZP 1 a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errich-tung einer „Bundesstiftung Baukultur“

– Drucksachen 16/1945, 16/1990 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Innenausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolf-gang Gehrcke, Hüseyin-Kenan Aydin,Dr. Diether Dehm, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der LINKEN

Dauergenehmigungen für Militärflüge aufhe-ben

– Drucksache 16/857 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)Innenausschuss Verteidigungsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten VolkerBeck (Köln), Irmingard Schewe-Gerigk, Marie-luise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter undder Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN

Meinungs- und Versammlungsfreiheit für Les-ben und Schwule in ganz Europa durchsetzen

– Drucksache 16/1667 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)InnenausschussAuswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jel-pke, Sevim Dagdelen, Monika Knoche, weitererAbgeordneter und der Fraktion der LINKEN

Flüchtlingen aus Nahost Schutz bieten

– Drucksache 16/2341 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss

e) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Lukrezia Jochimsen, Katja Kipping, Dr. PetraSitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derLINKEN

Bundespolitik soll im Streit um die Wald-schlösschenbrücke vermitteln

– Drucksache 16/2499 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien (f)Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

f) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Gesine Lötzsch, Petra Pau, Dr. Hakki Keskin,Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der LINKEN

Fertigstellung des Mauerparks im Bereich derehemaligen innerstädtischen Grenze in Berlin

– Drucksache 16/2508 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

g) Beratung des Antrags der Abgeordneten UlrikeHöfken, Rainder Steenblock, Matthias Berninger,weiterer Abgeordneter und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Forderung der EU nach Transparenz bei Sub-ventionen im Agrarbereich vollständig umset-zen und die Neuausrichtung der Förderungvorbereiten

– Drucksache 16/2518 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf. Eshandelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zudenen keine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 3 a:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

– zu dem Antrag des Bundesministeriums derFinanzen

Entlastung der Bundesregierung für dasHaushaltsjahr 2004 – Vorlage der Haus-halts- und Vermögensrechnung des Bundes(Jahresrechnung 2004) –

– Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof

Bemerkungen des Bundesrechnungshofes2005 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung desBundes (einschließlich der Feststellungenzur Jahresrechnung 2004)

– Drucksachen 15/5206, 16/820 Nr. 28, 16/160,16/413 Nr. 1.3, 16/2025 –

Berichterstattung:Abgeordneter Bernhard Brinkmann (Hildesheim)

Wer stimmt für Nr. 1 der Beschlussempfehlung, Ertei-lung der Entlastung für das Haushaltsjahr 2004? –

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dann haben dieserBeschlussempfehlung alle Fraktionen zugestimmt beiGegenstimmen der Fraktion die Linke.1)

Wer stimmt für Nr. 2 der Beschlussempfehlung, Auf-forderung an die Bundesregierung? Ich bitte um dasHandzeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Dann istdie Beschlussempfehlung einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 3 b:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

– zu dem Antrag des Präsidenten des Bundes-rechnungshofes

Rechnung des Bundesrechnungshofes fürdas Haushaltsjahr 2004– Einzelplan 20 –

– zu dem Antrag des Präsidenten des Bundes-rechnungshofes

Rechnung des Bundesrechnungshofes fürdas Haushaltsjahr 2005 – Einzelplan 20 –

– Drucksachen 15/5005, 16/820 Nr. 27, 16/500,16/2026 –

Berichterstattung:Abgeordnete Otto Fricke Norbert Barthle Petra Merkel (Berlin)Dr. Gesine Lötzsch Anja Hajduk

Wer stimmt für Nr. 1 der Beschlussempfehlung, Fest-stellung der Erfüllung der Vorlagepflicht? Ich bitte umdas Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.

Wer stimmt für Nr. 2 der Beschlussempfehlung, Ertei-lung der Entlastung? Ich bitte um das Handzeichen. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist ebenfalls einstimmig angenommen.

Damit setzen wir die Haushaltsberatungen fort. Wirkommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministe-riums für Gesundheit, Einzelplan 15.

Als erster Rednerin erteile ich das Wort der Gesund-heitsministerin Ulla Schmidt.

Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Etat des Bundesgesundheitsministeriums ist im Ver-gleich zu anderen ein kleinerer Einzeltitel. Es ist aberdennoch ein Haushalt, aus welchem sehr wichtige, fürdie Menschen in unserem Land sogar existenziell wich-tige gesundheitspolitische Aufgaben erfüllt werden müs-sen.

Ich nenne an erster Stelle den Kampf gegen Aids, dermit 13,7 Millionen Euro der umfangreichste operative

1) Anlage 2

Posten ist. In den letzten Jahren steigen die Zahlen derNeuinfektionen nicht nur in anderen Regionen der Welt,sondern auch in Europa und bei uns in Deutschland wie-der an. Das muss uns alle zur Wachsamkeit aufrufen undmacht sehr deutlich, dass Aufklärung und Informationverstärkt werden müssen. Wir haben deshalb die Mittelfür die Aidsprävention um fast ein Drittel erhöht undwerden entsprechende Forschungsprojekte fördern.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Für uns steht die Bekämpfung von Aids auch wäh-rend der anstehenden EU-Ratspräsidentschaft im Mittel-punkt der Vorhaben des Ministeriums. Dabei steht füruns die politische Bedeutung der Aidsbekämpfung imVordergrund. Das heißt insbesondere, dass die politischFührenden in dem betreffenden Land Verantwortungübernehmen müssen. Denn wir wollen verdeutlichen:Aids ist kein gesundheitspolitisches Randthema, sondernhat allergrößte soziale und wirtschaftliche Bedeutung fürdie Zukunft Europas, insbesondere die Zukunft Ost-europas. Dabei darf nicht nur bei der Unterstützung der-jenigen, die bereits erkrankt sind, angesetzt werden.Vielmehr muss auch auf Prävention gesetzt werden, umdie Menschen von Infektionen zu schützen. Im Rahmender deutschen Präsidentschaft werden wir im Märznächsten Jahres in Bremen die große internationale Kon-ferenz „Verantwortung und Partnerschaft – gemeinsamgegen HIV/Aids“ veranstalten, mit der wir diese Zusam-menhänge verdeutlichen wollen. Es kommt uns daraufan, dass politisch Verantwortliche gemeinsam mit derZivilgesellschaft diesen Kampf aufnehmen.

Auch die Mittel für die Bekämpfung des Drogen-und Suchtmittelmissbrauchs haben wir um 2 Millio-nen Euro für die Fortsetzung der Jugendkampagne„rauchfrei!“ erhöht. Die Zahl der Jugendlichen, die rau-chen, ist in den letzten Jahren – Gott sei Dank – kontinu-ierlich gesunken. Aber sie ist noch immer viel zu hoch.Deshalb wollen wir den Kampf gegen das Rauchen fort-setzen. Ich hoffe, dass die Debatte über „rauchfrei!“ inunserem Land fortgeführt wird, und zwar auch durch dieInitiativen des Deutschen Bundestages.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben in unserem eigenen Bereich bereits Ernst ge-macht. Das Bundesgesundheitsministerium ist das ersterauchfreie Ministerium. Ich hoffe, dass wir Nachahmerfinden werden.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Reform der Pflegeversicherung werden wir an-packen, wenn die Gesundheitsreform unter Dach undFach ist. Wir werden die Finanzierung der Pflegeversi-cherung auf langfristig tragfähige Fundamente stellensowie notwendige Anpassungen und Verbesserungenvornehmen. Wir werden schrittweise die Höhe der Leis-tungen anpassen. Wir wollen vor allem die Menschenunterstützen, die oft bis an die Grenzen ihrer Belastbar-keit zu Hause, im Familien- oder im Verwandtenkreis

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Bundesministerin Ulla Schmidt

pflegebedürftige Angehörige, Partnerinnen und Partneroder Freundinnen und Freunde, zum Beispiel demenziellerkrankte Menschen, rund um die Uhr betreuen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Ohne die Leistungen der Familien wäre gar nicht daranzu denken, das zu schultern, was die Gesellschaft imPflegebereich zu tun hat. Wir, die Koalition, werden hierentsprechende Schwerpunkte setzen.

(Frank Spieth [DIE LINKE]: Wann können wir damit rechnen?)

– Herr Kollege, ich habe gesagt: Wenn wir die Gesund-heitsreform verabschiedet haben, wird im kommendenJahr die Reform der Pflegeversicherung auf den Weg ge-bracht.

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wenn! – Gegenruf des Abg. SteffenKampeter [CDU/CSU]: Falls Sie den Unter-schied zwischen „wenn“ und „falls“ nicht ken-nen, sollten Sie das einmal nachlesen!)

– Gut, dann sage ich: nachdem die Gesundheitsreformverabschiedet ist.

Zu den wichtigsten Vorhaben in dieser Legislatur-periode zählt die Gesundheitsreform. Die Koalition hatgestern beschlossen, der Reform drei weitere MonateZeit für Beratung und Erörterung zu verschaffen. Es istrichtig, dass wir hier im Hause über die sehr umfängli-che Materie – mit der Reform werden immerhin in vie-len Bereichen des Gesundheitswesens grundsätzlichneue Ansätze für mehr Qualität, Transparenz und Effi-zienz auf den Weg gebracht und die privaten Kranken-versicherungen in den Wettbewerb einbezogen – inten-siv beraten. Dafür brauchen nicht nur wir Zeit. Vielmehrwollen wir allen, Ihnen und den Verbandsvertretern, aus-reichende Beratungs- und Anhörmöglichkeiten geben,um Vorschläge einzubringen und die Interessen zu arti-kulieren. Ich halte es daher für eine richtige Entschei-dung der Koalitionsfraktionen, das In-Kraft-Treten derReform um drei Monate auf den 1. April 2007 zu ver-schieben. Das ist verkraftbar; denn auch der Bundesratbraucht Zeit für seine Beratungen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Die Gegner der Reform, die unterschiedliche Interes-sengruppen vertreten, sollten das nicht als Zeichen dafürwerten, dass die Reform nicht kommt. Das vermuten of-fensichtlich so manche. Ich kann Ihnen versichern: Siekommt. Sie wird am 1. April 2007 starten. Der Gesund-heitsfonds startet 2008 und parallel dazu wird ein verein-fachter und verbesserter, weil an den Krankheitsrisikenorientierter Risikoausgleich eingeführt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Zurzeit wird mit besonderer Heftigkeit der neueGesundheitsfonds diskutiert. Dabei werden gezielt Le-genden in die Welt gesetzt, um den Ansatz schlechtzure-den. Was ist die Grundidee des Fonds? Die Grundideebesteht darin, dass die gesetzliche Krankenversicherung

mit über 70 Millionen Versicherten eine Solidargemein-schaft ist.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]:Bürgerversicherung!)

Die Leistungen, die von der gesetzlichen Krankenversi-cherung finanziert werden,

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Einheitskasse!)

werden unabhängig vom Portemonnaie des Versichertenerbracht. Das heißt, jeder Versicherte erhält auf der Höhedes medizinischen Fortschritts das, was medizinisch not-wendig ist. Das ist das Herzstück des Sozialstaates. Die-ses System kann nur funktionieren, wenn sich alle zugleichen und fairen Bedingungen an der Finanzierungbeteiligen. Der Gesundheitsfonds sichert die Solidarge-meinschaft so ab, wie es in § 1 des SGB V steht.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Bisher sind wirnoch ohne Fonds ausgekommen! Wofür brau-chen wir den Fonds?)

Ich möchte eines klarstellen: Mit dem Gesundheits-fonds wird keine neue Behörde geschaffen.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Nein, 20 Behörden!)

Ich sage das hier noch einmal, weil das immer gern über-hört wird. Der Gesundheitsfonds ist sinnvoll und unbü-rokratisch. Er ist ein Finanzierungsverfahren. Über denGesundheitsfonds fließen, wie vorgesehen, die Steuer-mittel zur Stützung der beitragsfreien Mitversicherungvon Kindern in die gesetzliche Krankenversicherung.Der für einen fairen Ausgleich der unterschiedlich ver-teilten Krankheitsrisiken und der unterschiedlichen Ein-kommen der Versicherten notwendige Prozess wirddurch den Fonds gestärkt. Die dazu notwendige Verwal-tungsarbeit wird wie bisher von den bewährten Expertendes Bundesversicherungsamtes geleistet. Sie führenheute den Risikostrukturausgleich durch; dieser wirdweiterentwickelt. Beim Einzug der Beiträge der Arbeit-geber und der Versicherten wird sich der Fonds auf diesachkundigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter derKrankenkassen stützen.

Vor dem Hintergrund dieser Tatsachen ist es schwie-rig, vieles von dem, was Lobbyisten heute dazu sagen,zu verstehen. Man kann es vielleicht als Desinformationbezeichnen. Ich bin mir aber nicht sicher; vielleicht ist esauch nur die Angst vor Transparenz, Effizienz und vormehr Wahl- und Wechselmöglichkeiten, die wir den Ver-sicherten eröffnen werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, obwohl alle Interes-sengruppen das Wort Patient im Munde führen, sprichtkeiner derer, die die Eckpunkte kritisieren, davon, wasdie Menschen in diesem Land berührt. Sie fragen sich:Wird es für meinen Arzt, der in Ruhestand geht, einenNachfolger geben? Wird das Gesundheitssystem bezahl-bar bleiben? Erhalte ich die Behandlung und die Medika-mente, die ich brauche? Kann das die Gesundheitsreform

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Bundesministerin Ulla Schmidt

sicherstellen? Wie sieht es mit der Gerechtigkeit bei derVergabe von Terminen aus? – Ich nehme diese Fragensehr ernst.

Die Frage, ob es der Politik gelingt, die Rahmen-bedingungen so zu setzen, dass das, was für meine Ge-neration selbstverständlich war – wir konnten uns immerin ärztliche Behandlung begeben und haben das erhalten,was medizinisch notwendig war –, auch für unsere Kin-der und Enkelkinder selbstverständlich bleibt, ist dieKernfrage des Sozialstaats. Diese Frage hat die Koali-tion mit Ja beantwortet. Deshalb haben wir uns sehr in-tensiv damit auseinandergesetzt, wie wir eine gute Ver-sorgung in allen Teilen dieses Landes sicherstellenkönnen und was getan werden muss, damit kranke Men-schen eine gute Behandlung erhalten. Das ist der Grund,warum wir die medizinische Versorgung von Menschenmit seltenen oder schweren Erkrankungen verbessern,indem wir beispielsweise die Krankenhäuser für die am-bulante Versorgung öffnen. Das ist der Grund, warumwir die palliativmedizinische Versorgung verbessern;denn wir wollen, dass schwerstkranke Menschen auch inder Phase des Sterbens zu Hause betreut, gepflegt undversorgt werden können und nicht gezwungen sind, inKrankenhäuser zu gehen, wenn sie es nicht müssen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Das ist der Grund, warum wir Vater/Mutter-Kind-Kurenzu Pflichtleistungen der Krankenkassen machen, und dasist der Grund, warum empfohlene Impfungen von denKrankenkassen bezahlt werden müssen; denn wir wol-len, dass in diesem Land eine gute Durchimpfungsratebesteht, damit die Menschen vor Krankheiten geschütztsind.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Das ist auch der Grund, warum wir dafür sorgen, dassdie geriatrische Rehabilitation zur Pflichtleistung derKassen wird; denn wir wollen, dass in einer älter wer-denden Gesellschaft auch die 65-Jährige und der 70-Jäh-rige nach einem Sturz oder einem Schlaganfall alle Be-handlungen bekommen, damit ihre Selbstständigkeit solange wie möglich gewährleistet ist.

Darüber zu reden, wäre Aufgabe auch dieses Parla-ments;

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Nur zu!)

denn das sind die Dinge, die die Menschen interessieren.Das wäre die Aufgabe, um die sich die Krankenkassenkümmern müssten und über die sie reden müssten. DieKrankenkassen sollten gute Versorgungsangebote orga-nisieren, den Menschen Wahl- und Wechselmöglichkei-ten einräumen und ihnen Tarifangebote machen. Fernersollten sie neue Instrumente nutzen, die wir den Akteu-ren in die Hand geben, zum Beispiel Rabattverhandlun-gen, Ausschreibungen, Einzelverträge, besondere Ver-sorgungsangebote, die Verpflichtung zum Hausarzttarif,die Förderung der integrierten Versorgung und die Ein-beziehung der Pflege und der nicht ärztlichen Berufe.Unser Ziel ist es, das auf den Weg zu bringen. Wir sinddavon überzeugt, dass der Gesundheitsfonds, der die Fi-

nanzströme transparent macht und der dafür sorgt, dassder einzelne Versicherte wesentlich besser als heute ver-gleichen kann, was ihm seine Kasse für seine Beiträgebietet, dazu beiträgt, dass der Wettbewerb um gute Qua-lität in der Versorgung angestoßen wird.

Ich sage noch eines abschließend, weil die Zeit zuEnde geht.

(Heiterkeit – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Hoffentlich!)

– So kann man auch mit kleinen Sachen manchen LeutenFreude machen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Das hängt immer von den Ansprüchen ab, die man sel-ber hat.

(Otto Fricke [FDP]: Die haben wir bei Ihnen heruntergeschraubt!)

Ein wichtiges Ziel, das wir mit dieser Reform errei-chen wollen und das für mehr Frauen und Männer in die-sem Land Bedeutung hat, als es vielleicht manchen hierim Hause bewusst ist, besteht darin, dass niemand in die-sem Land ohne Versicherungsschutz ist. Dies ist einewichtige Aufgabe gerade für die Generation Praktikum.Unsere Kinder erhalten heute nicht mehr mit der glei-chen Selbstverständlichkeit wie wir nach der Berufsaus-bildung eine sozialversicherungspflichtige Beschäfti-gung und ihr Krankenversicherungsschutz ist nichtgarantiert, weil es viele Formen der Beschäftigung gibt.Hier setzen wir an und ermöglichen jedem in diesemLand einen Krankenversicherungsschutz, weil wir wis-sen, dass er gerade bei veränderten Erwerbsbiografienein Bindeglied ist. Eine der Grundlagen für Freiheit, Ge-rechtigkeit, Bildung und auch für Teilhabe an der Er-werbstätigkeit und am gesellschaftlichen Leben ist, dassman seine Gesundheit so gut wie möglich schützen kannund dass man Hilfe erhält, wenn man krank ist. Das isteine der wichtigsten Aufgaben für mich, die wir mit die-ser Reform angehen.

Wenn wir in den kommenden Zeiten intensiv in dieDebatte einsteigen, dann würde ich mich freuen, wennalle ihre Erfahrungen einbrächten, damit wirklich eineDebatte darüber entsteht, was wir in diesem Lande brau-chen, damit die Menschen eine gute gesundheitlicheVersorgung haben, und wie die Institutionen des Ge-sundheitswesens so transparent, effizient und unbürokra-tisch organisiert werden können, dass möglichst jederEuro nur da eingesetzt wird, wo er den Patientinnen undPatienten zugute kommt. Das wäre schon ein guter Er-folg.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Claudia Winter-

stein von der FDP-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4647

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Dr. Claudia Winterstein (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Ministerin, Ihre Rede hat wenig Neues gebracht.Statt hohler Worte hätten Sie uns im Parlament und auchden Menschen in unserem Lande lieber einen Gesetzent-wurf vorlegen sollen. Die Reform ist wieder einmal ver-schoben. Ob das nun an der Unfähigkeit Ihres Ministeri-ums oder an den Streitereien in der Koalition oder an denWahlen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern liegt,weiß man nicht. Wahrscheinlich spielt alles eine Rolle.

Also sind wir im Prinzip nicht viel weiter als noch vordreieinhalb Monaten, als wir an dieser Stelle über denHaushalt 2006 gesprochen haben. Jetzt zeigen Sie mitdem Gesundheitsfonds, dass diese große Koalition ein-fach nicht funktionieren kann. Zwei Große haben ver-sucht, sich zu einigen. Sie haben aus zwei völlig gegen-sätzlichen Konzepten einen Kompromiss gezimmert.Das Ergebnis ist Ihnen gründlich misslungen, Frau Mi-nister.

(Beifall bei der FDP)

So diskutieren wir ein Machwerk, wie es stümperhaf-ter und unbefriedigender kaum sein könnte. Niemandbraucht diesen Fonds, nur Sie, Frau Schmidt, und auchnoch Frau Merkel. Stirbt der Fonds, wackelt die Koali-tion.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Blödsinn! Beides Blödsinn!)

Sie haben sich in eine Situation gebracht, in der Siekaum noch handlungsfähig sind. Ihre Hilflosigkeit zeigtsich vor allem in Ihrem Umgang mit der Kritik an derGesundheitsreform. Kritik an diesem Versuchsballongibt es reichlich: von den Krankenkassen, von Wissen-schaftlern, von den Sozialverbänden, von der Wirtschaft,vom Koalitionspartner, auch aus den eigenen Reihen undsogar vom Wissenschaftlichen Beirat, der sich das Mo-dell dieses Fonds ausgedacht hat.

(Detlef Parr [FDP]: Keine Ausnahme!)

Frau Ministerin, leider ignorieren Sie diese Kritikerbeharrlich, anstatt sich mit den Bedenken konstruktivauseinander zu setzen. Die Verunsicherung und das Un-verständnis, das Sie damit in der Bevölkerung erzeugen,scheinen Ihnen völlig gleichgültig zu sein; denn 80 Pro-zent der Deutschen sind gegen Ihre Reform. Aber Politikfür die Menschen sieht anders aus.

(Beifall bei der FDP)

Ich möchte die wichtigsten Kritikpunkte hier einmalaufgreifen.

Zum Thema Wettbewerb. Sie haben Ihrer Gesund-heitsreform den Namen „Gesetz zur Stärkung des Wett-bewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung“ ge-geben. Schaut man sich den Inhalt an, kann man überdiesen Namen eigentlich nur lachen. Es müsste heißen:Gesetz zur staatlichen Lenkung der gesetzlichen Kran-kenversicherung.

(Beifall bei der FDP)

Das wäre wesentlich passender.

Ein wichtiges Mittel, sich im Wettbewerb abzugren-zen, nehmen Sie den Krankenkassen, wenn zukünftigdas Ministerium über die Beitragssätze entscheidet. Da-mit stellen Sie das deutsche Gesundheitssystem endgül-tig unter die vollständige Kontrolle des Staates. BeiGeldnot braucht die Regierung dann nur noch zu ent-scheiden: entweder Beiträge herauf oder Versorgungherunter. Selbst den letzten Funken von Wettbewerb, diekleine Prämie, ersticken Sie unter den geplanten Bedin-gungen. Damit streichen Sie nicht nur den letzten RestCDU aus dem Konzept, vielmehr nehmen Sie den Kran-kenkassen auch den letzten Rest von Autonomie.

(Beifall bei der FDP)

Der neue Spitzenverband, in den Sie die Kassen zwin-gen wollen, verfolgt den gleichen Zweck; das Ministe-rium bestimmt, die Kassen folgen. Das ist das Gegenteilvon Wettbewerb, Selbstbestimmung und Vertragsfreiheitim Gesundheitswesen. Das ist zentralstaatlicher Gesund-heitssozialismus. Höhere Kosten und weniger Transpa-renz sind die Folgen.

Zum Thema Bürokratie. Frau Ministerin, im glei-chen Atemzug, in dem Sie den Wettbewerb abbauen,bauen Sie neue Bürokratie auf, und das völlig ohne Not.Denn das Einziehen und das Verteilen der Beiträge überdie Kassen funktioniert gut. Bisher konnten Sie nicht be-gründen, was durch den Fonds als zentrale Geldsammel-stelle eigentlich besser werden soll. Im Gegenteil: Durchden neuen Fonds werden beim Bundesverwaltungsamtneue Ressourcen benötigt. Auch das kostet wieder Geld.

Zum Thema Haushaltsrisiko. Ungeklärt ist nicht nurdie Frage nach der Entschuldung der Krankenkassenzum Start des Fonds; unberechenbar sind auch die Haus-haltsrisiken: Ausgabensteigerung, Kürzung der Bundes-mittel, Mehrwertsteuererhöhung. Bereits für 2007 erwar-ten die Krankenkassen eine Finanzierungslücke vonetwa 7 Milliarden Euro. Die Regierung zwingt die Kas-sen zu Beitragssatzerhöhungen. Es ist schon seltsam: ImHaushalt 2007 kürzen Sie den Steuerzuschuss an dieKrankenkassen auf 1,5 Milliarden Euro, um ihn dann2009 wieder auf 3 Milliarden Euro zu erhöhen. Dabeiwissen Sie nicht, woher Sie mittel- und langfristig über-haupt die 15 Milliarden Euro für die Kindermitversiche-rung nehmen sollen. Steht da nicht schon wieder dienächste Steuererhöhung vor der Tür?

Genauso wenig können Sie sagen, wie Sie zum Startdes Fonds ein ausreichendes Finanzpolster schaffen wol-len, damit die Versicherten nicht gleich wieder über diePrämie und höhere Beitragssätze stärker belastet wer-den. Die Horrorzahl von 16 Prozent geistert schon durchden Raum.

Dabei war doch das löbliche Ziel der großen Koali-tion, die Arbeitskosten zu senken und die Beitragssätzezur gesetzlichen Krankenkasse zu reduzieren. Es ge-schieht aber das Gegenteil. Schon im nächsten Jahr stei-gen die Beitragssätze zur Krankenversicherung um min-destens einen halben Prozentpunkt. Dabei ist derDurchschnittssatz mit 14,2 Prozent schon jetzt wiederauf dem Niveau, auf dem er vor Ihrem letzten Reform-versuch 2004 war.

4648 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006

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Dr. Claudia Winterstein

Wie sollen in Deutschland Arbeitsplätze entstehen,wenn wir nicht endlich damit aufhören, den Faktor Ar-beit weiter derart zu belasten?

(Beifall bei der FDP)

Das ist keine solide Politik, sondern rot-schwarze Plan-losigkeit auf dem Rücken der Beitrags- und Steuerzah-ler.

Das Unbehagen der Bürger über Ihre Gesundheitsre-form scheinen Sie zu spüren, Frau Ministerin; es spiegeltsich jedenfalls im Haushaltsentwurf für Ihr Ministeriumwider. Sie versuchen, konzeptionslose, handwerklich un-genügende Politik durch lautes Getöse nach außen zuüberdecken. Viel zu viel Geld fließt in die Selbstdarstel-lung, in Kampagnen und Werbung. Über 6 MillionenEuro wollen Sie für Öffentlichkeitsarbeit ausgeben, sowie zum Beispiel für die jüngste Anzeigenkampagne zurGesundheitsreform. Während Sie den Krankenkassenvorwerfen, Beitragsgelder zu verschwenden, geben Sie2,5 Millionen Euro für Zeitungsanzeigen aus – und das,um dem Bürger ein unfertiges Reformprojekt zu verkau-fen.

Das gilt auch für die Präventionskampagne. Sie sollmit über 3 Millionen Euro ein Gesetz unterstützen, dases überhaupt noch nicht gibt.

(Detlef Parr [FDP]: Richtig! Unsinnig!)

Sie geben an dieser Stelle Steuergelder aus, ohne demBundestag einen Gesetzentwurf vorgelegt zu haben.

Sie lassen sich beraten, wie Sie Ihr Image in der Öffent-lichkeit verbessern. Dabei wären Sie am besten beraten,Frau Schmidt, die Kritik der Krankenkassen und andereraufzunehmen und die Reform entsprechend umzuarbeiten.Gute Politik braucht keine teuren Kampagnen.

Die Anforderungen an eine Gesundheitsreform sindim Prinzip recht einfach: Stabilität der Beiträge, Durch-blick für die Patienten und Zukunftsfestigkeit für eine äl-ter werdende Gesellschaft. Diesen Anforderungen wer-den wir nur über neue Strukturen und wirklichenWettbewerb im Gesundheitswesen gerecht, nicht durchIhre Staatsmedizin.

(Beifall bei der FDP)

Die FDP hat ein Konzept für einen wirksamen, be-zahlbaren und langfristigen Versicherungsschutz vor-gelegt: freie Wahl von Kasse und Tarif für jeden Bürger,damit Wettbewerb ins System kommt, sozialer Aus-gleich über Steuermittel,

(Elke Ferner [SPD]: Welche Steuermittel, bitte schön?)

damit alle gut versichert sind und der Faktor Arbeit ent-lastet wird, sowie Bildung von Altersrückstellungen, umder demografischen Herausforderung gerecht zu werden.

Wir müssen die Ursachen der entsprechenden Pro-bleme angehen. Durch Ihre jährlichen so genanntenJahrhundertreformen werden aber nicht einmal dieSymptome beseitigt. Ich fordere Sie noch einmal auf,Frau Ministerin: Nehmen Sie die Kritik ernst! Noch be-steht die Möglichkeit, eine Reform zu entwerfen, die den

Namen verdient: mit mehr Wettbewerb, mehr Wahlfrei-heit und besserer Zukunftsabsicherung. Ihr zentralisti-scher Einheitsfonds reduziert die Vielfalt, erhöht dieKosten und schafft keinerlei Perspektive für die Zukunft.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Zöller von

der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Herr Präsident! Grüß Gott, meine sehr geehrten Da-

men und Herren! Wenn man die Diskussionen der letz-ten Tage und Wochen verfolgt hat, konnte man den Ein-druck gewinnen, wir würden eine Gesundheitsreformmit dem Ziel anstreben, einen möglichst bürokratischenFonds zu schaffen und nach Möglichkeit alle Beteiligtenzu verärgern.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Für wie dumm halten Sie eigentlich die Beteiligten, diesich wirklich bemühen, die gute medizinische Versor-gung, die wir in Deutschland haben, zu erhalten bzw.noch zu verbessern und langfristig bezahlbar zu gestal-ten?

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das müsste man an der Reform aber se-hen!)

Wir machen doch keine Reform um der Reform wil-len. Wir stellen endlich einmal den Patienten in den Mit-telpunkt unseres Handelns.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Den Eindruck hatman aber nicht!)

Es ist erstmals eine Reform, bei der keine notwendigenLeistungen gekürzt oder gestrichen werden. Es ist erst-mals eine Reform, bei der die Versorgung aus einerHand kommt und ein entscheidendes Stück vorangetrie-ben wird. Der Patient wird nicht mehr zwischen den ver-schiedenen Versorgungsebenen oder den Sozialsystemenhin und her geschoben, je nach Lage des Budgets. Wirdurchbrechen endlich auch die starren Abgrenzungenzwischen stationär und ambulant und binden in derintegrierten Versorgung sogar die Pflegeversicherungmit ein. Damit wollen wir eine umfassende Behandlungganzer Krankheitsbilder und somit eine optimale Versor-gung der Patienten gewährleisten.

Eine ausgewogene Reform muss natürlich die Ein-nahme- und die Ausgabenseite betrachten. Wir könnenuns in den Sozialsystemen zu Tode reformieren, wennwir den Arbeitsmarkt nicht in den Griff bekommen.1,5 Millionen weniger sozialversicherungspflichtige Ar-beitsplätze bedeuten nun einmal 6,5 Milliarden EuroEinnahmen weniger.

(Heinz Lanfermann [FDP]: Deswegen wolltenSie das abkoppeln! Davon ist jetzt keine Redemehr!)

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4649

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Wolfgang Zöller

Eines sollten wir auch nicht unterschätzen: 1 Millionjunger Menschen hat Deutschland verlassen. Wenn Sienach dem Grund fragen, bekommen Sie die Antwort:wegen der Abgabenlast und der Bürokratie. Also müssenwir doch an diese Ursachen herangehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb, meine sehr geehrten Damen und Herren vonder Opposition, ist es umso erfreulicher, dass jetzt hiereine Trendwende erkennbar ist. Über 400 000 Arbeits-lose weniger, über 120 000 neue sozialversicherungs-pflichtige Arbeitsplätze, die Prognosen des Wirtschafts-wachstums erstmals nach oben korrigiert – das sind dochpositive Signale, die uns auch eine Perspektive für dieZukunft geben.

Auch in der gesetzlichen Krankenversicherung hatsich die Finanzsituation verbessert. Einen wichtigenBeitrag hierzu hat unsere erste Reformmaßnahme, dasArzneimittelwirtschaftlichkeitsgesetz, geleistet. Dennentgegen der auch von Ihnen vorgetragenen Kritik, dievon anderen Seiten noch verstärkt wurde, hat sie bereitsbestimmte Wirkungen entfaltet. Allein die Möglichkeit,dass die Versicherten von Zuzahlung befreit sind, wennsie preisgünstige Arzneimittel wählen, hat dazu geführt,dass bei über 2 000 Arzneimitteln die Preise um bis zu40 Prozent gesenkt wurden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Dafür waren wir immer!)

Das zeigt, dass Wettbewerb besser ist als staatliche Re-gulierung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, allerdings istbei einem hohen Anspruch an die Leistungsfähigkeit un-seres Gesundheitswesens auch klar, dass wir einenSchritt hin zu mehr Eigenverantwortung gehen müs-sen. Diesen Schritt werden die Menschen aber nur ak-zeptieren, wenn die Gesundheitsleistungen effizient undin hoher Qualität erbracht werden. Hinsichtlich der Er-höhung von Effizienz und Qualität durch mehr Wettbe-werb im Gesundheitswesen sehe ich erhebliche Verbes-serungsmöglichkeiten, die wir Ihnen mit unserem Gesetzvorstellen werden.

(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Wenn wirdas Gesetz mal hätten, dann könnten wir jaauch mitreden!)

Wir brauchen eine Erhöhung der Transparenz undAbbau der Bürokratie in allen Bereichen; da sind wir unseinig. Wir werden zum Beispiel die Information der Ver-sicherten über Leistungsangebote und die Qualität derLeistungserbringer verbessern. Oder nehmen wir dievertragsärztliche Versorgung: Hier werden wir die Ver-gütung ambulanter ärztlicher Leistungen auf feste Preisebei weitgehender Pauschalierung umstellen. Die derzei-tige Budgetierung ist dann nicht mehr notwendig.

Neben der Erhöhung der Transparenz haben wir unsauch für den Bürokratieabbau entschieden. Ärzte, Pfle-gekräfte und Krankenhäuser werden sich künftig wiedermehr auf die Versorgung der Patienten konzentrieren

können. Dazu werden wir zum Beispiel die Wirtschaft-lichkeitsprüfungen vereinfachen. Wir werden einen we-sentlich einheitlicheren und entbürokratisierten Rahmenfür die Chronikerprogramme schaffen. Wir werden dannnicht mehr 1 500 verschiedene, sondern vielleicht nurnoch sieben bis zehn Programme haben.

Wir brauchen aber nicht nur mehr Transparenz undweniger Bürokratie, sondern auch mehr Entscheidungs-und Wahlmöglichkeiten für die Versicherten.

(Beifall der Abg. Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU])

Hierbei möchte ich besonders auf die Veränderungen beider Kostenerstattung hinweisen. Denn gerade diese kann– davon sind wir überzeugt – das Kostenbewusstseinstärken.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Daher können die Krankenkassen künftig Tarife im Zu-sammenhang mit der Kostenerstattung anbieten. Gleich-zeitig werden die Kostenerstattungsmöglichkeiten er-weitert.

Neben der Kostenerstattung sind weitere Veränderun-gen geplant. So werden die Kassen für spezielle Versor-gungsformen gezielte Tarife anbieten, zum BeispielHausarzttarife. Gleichzeitig werden die Selbstbehaltta-rife für Pflichtversicherte geöffnet. Auch mit diesen Ver-änderungen werden wir das Kostenbewusstsein der Ver-sicherten fördern.

Zur privaten Krankenversicherung.

(Detlef Parr [FDP]: Jetzt wird es spannend!)

Fest steht: Die private Krankenversicherung bleibt alsVollversicherung erhalten. Das heißt aber nicht, dass eshier keine Veränderungen geben wird. Auch hier soll derWettbewerb gestärkt werden. Daher werden wir denWechsel der Versicherten innerhalb der PKV künftig da-durch erleichtern, dass wir die Altersrückstellungentransportabel machen.

Ein Punkt kommt, wie ich meine, immer noch zukurz: Dabei geht es um die Solidarität und die Eigenver-antwortung. Solidarität heißt nicht nur, dass die Solidar-gemeinschaft für mich einzutreten hat, sondern auch,dass ich mich der Solidargemeinschaft gegenüber solida-risch verhalten muss.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Beifall bei der FDP)

Dieses Bewusstsein muss gestärkt werden.

Ich bin in der letzten Zeit in den Medien wegen mei-ner Äußerung, dass sich Übergewichtige – man hat aufmich geschaut und gesagt, ich sei sowieso zu dick –eventuell an den Behandlungskosten beteiligen sollen,ziemlich beschimpft worden. Ich wiederhole an einemBeispiel, was ich damit gemeint habe: Ein junger 25-jäh-riger Mensch kommt zum Arzt und sagt: Herr Doktor,ich habe Probleme; ich brauche auf der rechten Seiteeine neue Hüfte. Darauf sagt der Arzt: Wenn ich Sie mirso betrachte, dann meine ich, dass Sie mindestens

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4650 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006

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Wolfgang Zöller

140 Kilogramm schwer sind. Nein, sagt der Patient,150 Kilogramm. Dazu der Arzt: Eine Hüftoperation wirdwenig bringen. Wenn Sie nicht bereit sind, Ihr Gewichtzu reduzieren, werden Sie in einem halben Jahr auf deranderen Seite eine neue Hüfte benötigen. Darauf be-kommt der Arzt die Antwort: Sie haben das gefälligst zumachen; schließlich zahle ich meinen Beitrag.

In diesem Zusammenhang habe ich gefragt, ob mannicht das Bewusstsein etwas stärken könnte, indem mansagt: Es könnte sein, dass der Patient an den durch be-stimmte Essgewohnheiten entstehenden Kosten prozen-tual beteiligt wird. Das gilt im Übrigen genauso für dasRauchen und das Trinken im Übermaß.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und der FDP)

Wir brauchen in diesem System mehr Ehrlichkeit,und zwar angefangen vom Missbrauch mit Versicherten-karten bis hin zu den Abrechnungen. Wir tun in der Dis-kussion so, als sei immer nur eine Gruppe betroffen. Esist aber nicht nur eine Gruppe davon betroffen.

Ich will an einem Beispiel klar machen, dass alle amSystem Beteiligten betroffen sind: Wir haben in denKrankenhäusern eine leistungsgerechte Vergütung ein-geführt, die zum Beispiel Folgendes vorsieht: Eine nor-male Geburt wird mit rund 900 Euro vergütet,

(Ute Kumpf [SPD]: Das ist günstig!)

ein Kaiserschnitt, also eine komplizierte Geburt, mitrund 2 000 Euro. Mit welchem Ergebnis? Plötzlich ha-ben etliche Krankenhäuser nur noch Kaiserschnittgebur-ten zu verzeichnen. Ist das medizinisch notwendig?

Jetzt wäre es verkehrt, zu sagen, daran sei nur einerschuld; deshalb habe ich dieses Beispiel gewählt. Über-legen wir einmal, wer daran schuld sein könnte: Ist esdie Krankenhausverwaltung, die sagt: „Macht das in die-ser Richtung; dann haben wir mehr Einnahmen“? Ist esder Arzt, der sagt: „Dafür bekomme ich eine höhere Ver-gütung“? Ist es die schwangere Frau, die den Kaiser-schnitt wählt, weil sie aufgrund von Zeitungsberichtenmeint, dies sei die modernste Methode? Oder ist es viel-leicht so, dass viele Ärzte aus Haftungsgründen dieseMethode so oft anwenden?

Diesen Punkt spreche ich aus folgendem Grund an:Vor zehn Tagen hat ein Mann einen Arzt, der vor19 Jahren seine Tochter zur Welt gebracht hat, mit derBegründung verklagt, dass seine Tochter zweimal durchdas Abitur gerauscht ist und dass der Arzt deswegen beider Geburt etwas verkehrt gemacht haben muss. Ichglaube, man müsste einmal den Arzt, der bei der Geburtdes Vaters dabei war, fragen, ob er nicht etwas verkehrtgemacht hat.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so-wie bei Abgeordneten der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Jetzt müssen die Krankenhäuser diesem Fall nachge-hen. Da kommen wir aber an einen kritischen Punkt: InDeutschland ist die medizinische Versorgung mit immermehr bürokratischem und finanziellem Aufwand ver-

bunden, nur um Haftungsabsicherungen zu gewährleis-ten. So bekommen wir langsam eine Amerikanisierungunseres Gesundheitswesens.

Ich bitte alle Beteiligten – vom Versicherten über denArzt bis zur Politik –, ihr Möglichstes zu tun, dass nurdas Notwendige von der Solidargemeinschaft und nichtdas Wünschenswerte finanziert wird.

(Beifall des Abg. Detlef Parr [FDP])

Heute ist das leider nicht der Fall, sonst hätte ich dieseBeispiele nicht erwähnen müssen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir brau-chen ein Umdenken in unserer Gesellschaft. Neben dengenannten Veränderungen sehen unsere Eckpunkte nochweitere Reformschritte vor. Alle diese Maßnahmen stel-len langfristig die Weichen für die zukünftige Entwick-lung unseres Gesundheitswesens. Wir schaffen dieStrukturen, welche die Leistungsfähigkeit des Systemsdurch mehr Eigenverantwortung, Freiheit und Wettbe-werb und damit durch mehr Effizienz stärken.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Senatorin für Gesundheit,

Soziales und Verbraucherschutz des Landes Berlin, FrauHeidi Knake-Werner.

(Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/CSU]: Den ganzen Tag PDS-Wahlkampf!)

Dr. Heidi Knake-Werner, Senatorin (Berlin): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein Blick aufdie Situation der Länder kann auch diesem Haus nichtschaden. Ich kann das beurteilen, weil ich beide Seitengut kenne.

Nach einer im „Stern“ veröffentlichten Forsa-Um-frage sprechen sich 78 Prozent der Befragten für einenStopp der geplanten Gesundheitsreform aus. Der Patient,Herr Zöller, hat nämlich begriffen, wie Sie ihn in denMittelpunkt stellen. Der Patient hat Sorge, dass es für ihnteurer und risikoreicher wird, wenn er krank wird.

(Beifall bei der LINKEN)

Frau Ministerin, die Terminverschiebungen sind dochlängst keine Kalenderfrage mehr. Die Koalition ist inwesentlichen Punkten völlig zerstritten. Wenn Sie ehr-lich wären, würden Sie nicht die Termine, sondern dieEckpunkte ändern.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir brauchen eine Gesundheitsreform, die nicht dieRatlosigkeit verlängert, sondern die die Probleme end-lich löst. Gestatten Sie mir, für die weitere Beratung ei-nige Hinweise aus Ländersicht zu geben.

Bei der jetzt anstehenden Gesundheitsreform erlebenwir eine ähnlich gesundheitspolitisch unverantwortliche

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4651

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Senatorin Dr. Heidi Knake-Werner (Berlin)

Fehlleistung wie einst bei Rot-Grün. Selbst die wenigenstrukturell sinnvollen Vorhaben, die die Ministerin in dieEckpunkte hat retten können, wiegen bei weitem nichtauf, dass der großen Koalition für eine grundlegende Ge-sundheitsreform der Mut fehlt. Zuversicht bei der Re-form der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversi-cherung lassen Sie durchgängig vermissen.

Dass in einer Koalition Kompromisse gemacht wer-den müssen, ist mir nicht gänzlich unvertraut. Aber dassman aus den Verhandlungen mit dem Gegenteil von demherauskommt, mit dem man hineingegangen ist, istschon etwas ungewöhnlich.

(Beifall bei der LINKEN)

Gerade die SPD hat versprochen, die Krankenkassenbei-träge zu senken, erstens durch die Einbeziehung weitererEinkommensarten zur Finanzierung des Gesundheitssys-tems und zweitens durch eine stärkere Steuerfinanzie-rung.

Jetzt passiert exakt das Gegenteil. Als Erstes streichenSie die Steuerfinanzierung zusammen. Jetzt liegt sienur noch bei 1,5 Milliarden Euro gegenüber vorher4,2 Milliarden Euro. Damit nicht genug: Sie werden denKrankenkassenbeitrag nicht ändern, sondern Sie werdenihn erhöhen.

Statt einer höheren Steuerfinanzierung bürden Siedem System durch die Mehrwertsteuer noch zusätzlicheKosten von 900 Millionen Euro auf. Dabei wird es nichtbleiben.

(Elke Ferner [SPD]: Gibt das Land Berlin sei-nen Anteil zurück?)

– Zum Land Berlin könnte ich Ihnen eine ganze Mengesagen.

(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wir wollten etwasLandesspezifisches hören! Darauf warten wirnoch!)

– Darauf komme ich noch. – Während Sie den Arbeitge-bern einen stabilen Beitrag für die Zukunft garantieren,müssen die Versicherten mit zusätzlichen Lasten rech-nen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist nur die halbe Wahrheit!)

Was daran sozial, was daran solidarisch ist, das würdeich gerne verstehen.

So wie Ihre Planungen aussehen – alle Fachleute be-stätigen das –, werden die meisten Kassen nicht umhinkönnen, den Versicherten einen Zuschlag aufzubürden.Wahrscheinlich wird es auch dabei nicht bleiben, son-dern die Kassen werden gezwungen sein, am Leistungs-katalog zumindest für die Kranken zu streichen. Das istsozial und gesundheitspolitisch unverantwortlich.

(Beifall bei der LINKEN)

Gleichzeitig, meine sehr verehrten Damen und Herren– in diesem Punkt hat sich die Union leider komplettdurchgesetzt –, verzichten Sie auf sämtliche Maßnah-men, mit denen das System ohne zusätzliche Kosten zusanieren wäre. Sie scheuen sich, die international einma-

ligen Renditen der Pharmaindustrie anzutasten. Sieknicken beim Abbau von Verbandsinteressen und Stan-desprivilegien ein.

(Jens Spahn [CDU/CSU]: Die Pharmaindus-trie ist die einzige Industrie, die Sie noch inBerlin haben!)

Sie holen die Besserverdienenden eben nicht in die Soli-dargemeinschaft zurück. Auch daran ist gar nichts soli-darisch.

(Beifall bei der LINKEN – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Völlig verquer!)

Was noch schlimmer ist: Sie haben das angekündigteKernstück der Gesundheitsreform, nämlich die grundle-gende Reform der Kassenfinanzierung, in den Sand ge-setzt. Ihre Gesundheitsreform ist eben keine einheitlicheSolidarveranstaltung. Sie ist ein neuer Risikofaktor für dieKrankenkassen. Sie sollen zwar alle mit gleichen Beiträ-gen ausgestattet werden; aber das macht nur Sinn, wenngleichzeitig ein zeitgemäßer Risikostrukturausgleichkommt. Nach allem, was man hört, soll er auf das Jahr2009 verschoben werden.

Die Kassen sollen sich entschulden, was natürlich je-nen Kassen gewaltige Schwierigkeiten bereitet, dieschon seit Jahren unterfinanziert sind – siehe Risiko-strukturausgleich. Aus Berliner Sicht kann ich Ihnen sa-gen, mit welchen Risiken wir zu rechnen haben. Kassenwie die Berliner AOK mit ihrer äußerst prekären Versi-chertenstruktur, deren Probleme mit dem jetzigen Risi-kostrukturausgleich überhaupt nicht abgebildet sind,werden sich nicht in der vorgesehenen Frist am eigenenSchopf aus der Schuldenfalle ziehen können.

(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: So ist es!)

Über 400 Millionen Euro müsste das AOK-Systemaufbringen, um die Berliner AOK zu entschulden – unddas trotz langjähriger Sanierungsbemühungen in Berlinselbst. Das kann nicht funktionieren und das weiß auchdie Gesundheitsministerin. Deshalb tut das Bundesmi-nisterium alles, um die Aufsicht führenden Länder dafürin Haftung zu nehmen und ihnen den schwarzen Peterzuzuschieben. Wie erklärt sich sonst, dass uns der zu-ständige Staatssekretär aus dem Gesundheitsministeriumin einem Schreiben auffordert, bei unserer AOK – wört-lich – „dafür Sorge zu tragen, dass die zwingend not-wendigen Maßnahmen zur Entschuldung umgesetzt wer-den“? Das ist eine völlig unmissverständliche Ansage:Wir sollen die Kassen zwingen, schon jetzt die Versi-cherten mit Sonderbeiträgen zu belasten – ob prozentualoder durch die kleine Kopfpauschale, das ist für die Kas-sen eine Wahl zwischen Pest und Cholera.

(Beifall bei der LINKEN)

Ist Ihnen eigentlich bewusst, welcher Teufelskreis da-mit eröffnet wird? Natürlich ist Ihnen das bewusst: DieKassen mit den ungünstigsten Versicherungsstrukturen– Sie wissen, dass das die großen Versicherungsgemein-schaften sind – werden die höchsten Sonderzahlungenverlangen müssen. Im Wettbewerb werden sie dadurchweiter zurückfallen, jüngere und risikoärmere Versiche-rungsgruppen verlieren und infolgedessen noch ungüns-tigere Kostenstrukturen haben.

4652 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006

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Senatorin Dr. Heidi Knake-Werner (Berlin)

Wir von der Linkspartei sind durchaus der Meinung,dass man die Anzahl der Kassen reduzieren kann. Ob esaber der richtige Weg ist, ihre Anzahl dadurch zu verrin-gern, dass man viele von ihnen in den Ruin treibt, daswage ich zu bezweifeln.

(Beifall bei der LINKEN – Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Wer hat denn die Auf-sicht? Sie wissen doch, dass die Schulden ab-gebaut werden müssen! – Jens Spahn [CDU/CSU]: Wer hat denn zugelassen, dass Schul-den gemacht wurden?)

– „Wer hat die Aufsicht?“ Das ist ja eine ganz tolleFrage.

Wir sind für einen gezielten Bürokratieabbau.

(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Ach ja, jetzt wechseln wir das Thema!)

Es ist aber keine intelligente Lösung, wenn man für dieVerwaltung des Gesundheitsfonds eine neue Behördeaufbaut und damit mehr Bürokratie aufbaut.

Wenn der Wettbewerb zwischen den Kassen nichtmehr auf der Ebene der Leistungen geführt wird, son-dern es darum geht, wer die niedrigsten Kopfpauscha-len hat, werden wir am Ende eine zutiefst gespaltene,unsolidarische Kassenstruktur erhalten. Dann würde dieZweiklassenmedizin auch in der gesetzlichen Kranken-versicherung festgeschrieben.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Knake-Werner, erlauben Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Spahn von der CDU/CSU-Fraktion?

Dr. Heidi Knake-Werner, Senatorin (Berlin): Natürlich.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte.

Jens Spahn (CDU/CSU): Frau Senatorin, Sie haben gerade die Schulden der

AOK Berlin erwähnt. Ich frage mich, wie es passierenkonnte, dass die AOK Berlin widerrechtlich einen so ho-hen Schuldenberg hat anhäufen können und mit welchenEntscheidungen seitens der Aufsicht das zusammen-hängt.

(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Die Ursa-chen hat sie doch wohl gerade genannt! Dannhaben Sie nicht zugehört!)

Dr. Heidi Knake-Werner, Senatorin (Berlin): Das hat mit der Aufsicht nichts zu tun.

(Zurufe von der FDP: Ach!)

Das hat etwas mit der ungeheuer komplizierten Strukturim Land Berlin zu tun. Ich darf Sie vielleicht daran erin-nern, dass 1989 die Mauer gefallen ist und wir eine Ver-einigung zweier völlig intakter Gesundheitssystemevollzogen haben.

(Jens Spahn [CDU/CSU]: Vor 17 Jahren!)

Wir hatten zum Beispiel die Aufgabe, die Anzahl derKrankenhausbetten von 46 000 auf heute 19 600 zu re-duzieren. Diese Anzahl liegt unterhalb des Bundes-durchschnitts.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das entbindet Sie doch nicht von der Aufsicht!)

Wir haben eine Fülle struktureller Veränderungenvorgenommen, um die Kassen zu entlasten. Das reichtaber nicht aus, wenn die Versichertenstruktur so kompli-ziert ist wie die bei der AOK Berlin. Das räumt sogardie Gesundheitsministerin ein.

(Beifall bei der LINKEN – Steffen Kampeter[CDU/CSU]: Klares Aufsichtsversagen! WennSie überfordert sind, sollten Sie Ihr Amt nie-derlegen, Frau Kollegin!)

Es wird – das ist schon völlig klar – keine Reform desKassenwesens geben und keine Einbindung der privatenKrankenversicherung. Was ist daran solidarisch? Statt-dessen bestehen zusätzliche Risiken für jene Kassen, dievorrangig die Armen versichern und mit hohen Morbidi-tätsraten, einem ungünstigen Altersaufbau und einemhohen Anteil an Chronikern zu kämpfen haben. Für denRisikostrukturausgleich sind nicht wir verantwortlich,sondern der Bund.

Die Leidtragenden dieser Stückwerkreform werdennicht nur die Versicherten und die Kassen sein, sondernauch die Krankenhäuser. Dazu ein weiteres Beispielaus Berlin: Ich bin zuständig für das größte öffentlicheKrankenhausunternehmen in der Bundesrepublik, Vi-vantes. Mithilfe eines Sanierungskurses haben wir diePrivatisierung und Zerschlagung öffentlicher Kranken-häuser erfolgreich verhindert.

(Beifall bei der LINKEN)

Um dies möglich zu machen, hat sich das Land mit230 Millionen Euro an der Entschuldung beteiligt. Die13 000 Beschäftigten haben im Rahmen eines Notlagen-tarifvertrages einen jährlichen Einkommensverzicht inHöhe von 35 Millionen Euro hingenommen. Zudem hatdas Unternehmen die Kassen um 120 Millionen Euroentlastet, indem eine Budgetabsenkung um 20 MillionenEuro jährlich akzeptiert wurde. Das ist unser Beitrag zurSenkung der Belastung der Kassen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Eine wirklich mitreißende Rede!)

Seit 2005 schreibt dieses Unternehmen schwarzeZahlen. Trotz der Veränderung bei den Bereitschafts-diensten und der Umstellung auf den TVöD haben wirgute Chancen, auch weiterhin schwarze Zahlen zuschreiben – bis zu Ihrer Reform.

Denn nun werden die Krankenhäuser mit weiterenSanierungsbeiträgen und Kürzungen belastet; hinzukommt die Erhöhung der Mehrwertsteuer. Roundaboutsind das bei meinem Krankenhausunternehmen Vivantes19,5 Millionen Euro.

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Senatorin Dr. Heidi Knake-Werner (Berlin)

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ihres? Ichdachte, das gehört den Bürgerinnen und Bür-gern!)

Damit ist ein Abrutschen in die roten Zahlen vorpro-grammiert. Aber das ist es nicht allein. Vielmehr erhöhtdas erneut den Druck zur Privatisierung. Das kann dieLinke nicht widerstandslos hinnehmen.

(Beifall bei der LINKEN – Steffen Kampeter[CDU/CSU]: Die Linke oder das Land Berlin,für das Sie hier sprechen? – Jens Spahn [CDU/CSU]: Ist Berlin neuerdings die Linkspartei?Das war vor 20 Jahren so!)

– Nein, das war auch vor 20 Jahren nicht so; die Links-partei ist bekanntermaßen eine neue Partei.

(Weitere Zurufe)

– Regen Sie sich doch nicht so auf! Ich spreche hier alsGesundheitssenatorin von Berlin, auch im Namen derLinken hier im Hause. Das ist doch völlig selbstver-ständlich.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Das Enttäuschendste an der gegenwärtigen Debattezur Gesundheitsreform ist für mich, dass wochenlangüber Kosten gestritten wird und dabei auf der Streckebleibt, was eigentlich wichtig ist und hier immer von derMinisterin und Herrn Zöller hervorgehoben wird, näm-lich, wie es gelingen kann, eine gute, ganzheitliche Ver-sorgung für die Patientinnen und Patienten zu organisie-ren.

Ich finde, dass gerade bei der integrierten Versorgungdie Verlängerung der Ratlosigkeit nicht mehr reicht. Wirbrauchen endlich stabile Rahmenbedingungen, damitambulant und stationär arbeitende Ärzte, Reha- undPflegeeinrichtungen nicht länger nebeneinander unddoppelt arbeiten, sondern endlich zusammen und abge-stimmt versorgen. Dazu braucht es lediglich eine Um-schichtung der Mittel – das wissen alle – im Interesseder integrierten Versorgung. Es geht eben nicht um mehr,sondern um anders und sinnvoller. Dafür gilt es, sich ein-zusetzen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ein letzter Gedanke: Leider ist in der Debatte über dieGesundheitsreform untergegangen, dass Gesundheits-förderung und Prävention immer noch die humanstenWege zur Kostendämpfung sind. Die Ministerin hat ge-rade gesagt, dass Nichtraucherschutz und Aidspräven-tion dabei natürlich einen hohen Stellenwert haben müs-sen. Ich sage ganz klar: Es ist völlig unverantwortlich,dass die Blockierer von gestern auch heute noch das ge-rade aus Ländersicht notwendige Präventionsgesetz ver-hindern können.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgitt Bender von

Bündnis 90/Die Grünen.

Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt

eine gute Nachricht:

(Jörg Tauss [SPD]: Viele!)

Die Kanzlerin hat die Notbremse gezogen. Die Gesund-heitsreform hat jetzt Zeit bis zum Frühjahr. Das heißt,die Koalition kann noch einmal anfangen. Das solltenSie auch tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Die schlechte Nachricht lautet: Der Gesundheits-fonds ist noch nicht vom Tisch. Er gehört aber runtervon der Tagesordnung, weil damit kein einziges notwen-diges Ziel der Reform erreicht und auch kein einzigesVersprechen der Koalition eingelöst wird. Die Finanzie-rungsbasis wird dadurch nicht gestärkt, sondern ge-schwächt, der Wettbewerb wird nicht gestärkt, sondernbeseitigt, das Geld nicht in bessere Behandlung und Ver-hinderung von Krankheiten gesteckt, sondern in mehrBürokratie. Das kann es doch noch nicht gewesen sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Jörg Tauss [SPD]: Wie kommen Sie auf das al-les?)

Zur Finanzierung, Herr Kollege Tauss. Was bringtder Fonds? Ich wäre durchaus bereit, Ihnen zuzugeste-hen, dass er bei entsprechendem politischen Willen viel-leicht etwas bringen könnte. Bringt er die Einbeziehungder Privatversicherten, also eine Bürgerversicherungnach holländischem Vorbild? Nein. Die PKV bleibt wie-der schön unter sich; Solidarität wird dadurch nicht ge-stärkt, sondern geschwächt.

(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Falsch!)

Bringt der Fonds eine Ausweitung der Finanzierungs-basis? Nein. Er bringt weiterhin nur Beiträge auf Ar-beitseinkommen. Das ist keine nachhaltige Finanzie-rung.

(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Auch falsch!)

Bringt der Fonds mehr Steuermittel? Nein. Die Re-form verspricht im Vergleich zum Istzustand wenigerSteuermittel. Dafür sieht der Fonds einen staatlich ver-ordneten Einheitsbeitrag vor, der schon im nächsten Jahr1,5 Prozent höher liegen wird als der derzeitige.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)

Ist das, werter Herr Kollege, die versprochene Senkungder Lohnnebenkosten? Was nach der Reform übrigbleibt, sind Beitragssatzerhöhungen. Dieser Fonds istIhre Kapitulation vor Ihren selbst gesetzten Politikzie-len.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der FDP – Daniel Bahr [Münster][FDP]: Bei dieser Reform waren Sie aberselbst mit dabei, Frau Bender! – Zuruf von der

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Birgitt Bender

CDU/CSU: Eine sehr verkürzte Sichtweise istdas!)

Meine Damen und Herren, es ist viel von Wettbe-werb die Rede. Ihr Gesetzentwurf, den Sie dem Parla-ment noch nicht vorgelegt haben, trägt die Überschrift„Wettbewerbsstärkungsgesetz“. In der Tat wäre es not-wendig, den Wettbewerb zu stärken.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Oh ja! Weil Sie da mit herumgewurschtelt haben!)

Aber welche Folgen hätte er tatsächlich, Herr KollegeBarthle? Gegenwärtig ist es doch so, dass die gesetzli-chen Krankenkassen unterschiedliche Beitragssätze ha-ben.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ja! Genau das haben Sie immer bekämpft!)

Sie variieren in einer Größenordnung von etwa2,5 Prozentpunkten.

(Jörg Tauss [SPD]: Sind Sie etwa neidisch?)

Das heißt, es gibt einen Wettbewerb um niedrige Bei-tragssätze.

(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Den werden wir auch in Zukunft haben!)

In Zukunft würde es einen staatlich festgesetzten Ein-heitsbeitrag geben, aber keinen Wettbewerb.

Vor allem die rechte Seite dieses Hauses sagt immer:Den Wettbewerb wird es dann durch die Kopfpauschalegeben.

(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Zu-satzprämie!)

Was aber dabei herauskommt, wenn man eine Kopfpau-schale mit einem Überforderungsschutz in Höhe von1 Prozent des Haushaltseinkommens erhebt, das habenIhnen die Kassen doch vorgerechnet.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Gerade habenSie sich noch gegen den Lohnbezug der Kran-kenkassenbeiträge ausgesprochen! An sichmüssten Sie unser Prämiensystem dann dochbefürworten!)

Die AOK hat Ihnen dargelegt – Herr Kollege, ich habenoch nicht gehört, dass Sie das widerlegen können –,dass die AOK Mecklenburg-Vorpommern, nur um eineKopfpauschale von rechnerisch 10 Euro erheben zu kön-nen,

(Elke Ferner [SPD]: Ja, ja! Aber nur, wenn die Kassen einen festen Beitrag erheben!)

ihren Beitrag tatsächlich bei 41,66 Euro festsetzenmüsste, um dem Überforderungsschutz Rechnung zu tra-gen. Doch selbst dann könnte sie nicht 100 Prozent desrechnerischen Einkommens realisieren.

(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Haben Sie das jetzt selber verstanden?)

Daran können Sie erkennen, dass das nicht funktioniert.

(Elke Ferner [SPD]: Das funktioniert nur mit einer festen Prämie!)

Sie, Herr Kollege Zöller, haben in erfrischender unddankenswerter Offenheit gesagt, dass diese Form derKopfpauschale nicht praktikabel ist. Hier kann ich Ihnennur zustimmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Vor allem ist sie kein Beitrag zu mehr Wettbewerb. Dennwozu würde sie führen? Menschen mit geringem Ein-kommen müssten zunächst einmal den staatlich verord-neten Einheitsbeitrag zahlen, der für alle gleich hoch ist.

(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nein! Der istprozentual! Das ist doch verkehrt, was Sie dasagen!)

Dann müssten Menschen mit geringem Einkommen dieKopfpauschale zahlen – so es sie denn gäbe –, und zwarbis zur Grenze ihrer persönlichen Überforderung, alsobis zu 1 Prozent ihres Haushaltseinkommens, also 7, 8oder 10 Euro. Mehr würden sie bei keiner Kasse zahlen.

(Elke Ferner [SPD]: Das hängt doch davon ab, ob die Kasse fest oder prozentual erhebt!)

Warum sollten Menschen mit geringem Einkommendann eigentlich die Krankenkasse wechseln? Wo istdenn hier der Wettbewerb?

(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Nun warten Sie es doch erst einmal ab!)

Wie sieht es für die gut verdienenden GKV-Mitglie-der aus? Sie müssten, um dem ÜberforderungsschutzRechnung zu tragen, eine sehr hohe Kopfpauschale zah-len; ich erinnere an die von mir erwähnten 41,66 Euro.Ihnen würde man das Signal geben: nichts wie weg ausder gesetzlichen Krankenversicherung, rein in die PKV!

(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)

Denn billiger als Einheitsbeitrag plus Kopfpauschale istdie PKV allemal.

Sie wollen, dass die PKV als Vollkostenversicherungbestehen bleibt. Dazu kann ich nur sagen: Wettbewerbwar gestern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Jetztsprechen Sie sich ja fast für die solidarischeGesundheitsprämie aus, Frau Kollegin!)

In Zukunft wird es, jedenfalls nach den Plänen derKoalition, weniger Wettbewerb denn je geben.

Der Wettbewerb um Beiträge wäre auf Eis gelegt.Durch die Erhebung einer Kopfpauschale würde diePosition der gesetzlichen Krankenkassen im Wettbewerbmit der PKV verschlechtert. Das würde bedeuten: EineKopfpauschale – so es sie denn gäbe – mit Überforde-rungsschutz wird es nicht geben.

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Birgitt Bender

(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Warum spre-chen Sie denn ständig von der Kopfpauschale?Wo steht denn das, was Sie da sagen?)

Eine Kopfpauschale – so es sie denn gäbe – ohne Über-forderungsschutz wäre eine soziale Drohung und als sol-che abzulehnen.

(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Man merkt, dass Sie es nicht verstanden haben!)

Im Übrigen: Wollten die Kassen Ihre berühmte Kopf-pauschale tatsächlich erheben, müssten sie, um über-haupt planen zu können, zunächst einmal die Haushalts-einkommen ihrer Versicherten erheben.

(Dr. Claudia Winterstein [FDP]: Ja, genau! Sehr richtig!)

Dazu würden sie eine Datei benötigen, die alle Haus-haltseinkommen enthält; diese sind den Kassen bisherallerdings nicht bekannt.

(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Wiemachen sie das denn mit der Überforderungs-klausel, Frau Kollegin?)

Eine Datei, die die Haushaltseinkommen aller gesetz-lich Versicherten ausweist, Frau Kollegin Widmann-Mauz, haben nicht einmal die Finanzämter.

(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Wiemachen sie es denn bei der Zuzahlung, FrauKollegin?)

Hier kann ich nur sagen: Datenschutz und Bürgerrechtelassen grüßen. Entspricht das etwa Ihrem Motto „MehrFreiheit wagen“?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der FDP – AnnetteWidmann-Mauz [CDU/CSU]: Dass man soschnell vergessen kann, was man selbst einmalaufgeschrieben hat!)

Diese Reform würde nicht zu mehr Freiheit und mehrWettbewerb führen. Sie hätte einheitsfinanzierte Kassenin einem Einheitsverband zur Folge. Hier regiert dieStaatsgläubigkeit. Dass das kein zukunftstaugliches Mo-dell sein kann, sollte die Bundeskanzlerin eigentlich ausihrer eigenen Biographie wissen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Sie scheint aber nichts daraus gelernt zu haben.

Übrigens muss man politisch keine Verehrerin derSelbstverwaltung der Kassen sein, um diese Reform ab-zulehnen. Wir Grünen wissen, dass diese Art von Selbst-verwaltung nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Die be-rufsständische Struktur der Krankenkassenverbände istheutzutage überholt. Nur, die Alternative ist nicht einstaatlich gesteuertes Gesundheitswesen mit Direktzu-griff des Bundesgesundheitsministeriums.

(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das will ja auch niemand!)

Was wir brauchen, ist Wettbewerb. Auch Wettbewerbum Beiträge – den schaffen Sie gerade ab –, Wettbewerbaber vor allem als Suchprozess, nach mehr Qualität,nach mehr Wirtschaftlichkeit, die den Patienten zugutekommt, zu suchen. Dafür sehe ich in Ihrem Konzeptkeine Ansätze.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Sie ha-ben noch nicht alles gelesen! Das war wohl zuanstrengend!)

Selbst die Möglichkeit, dass Kassen Direktverträge ab-schließen – die es ja gibt und die Sie angeblich auchwollen –, machen Sie de facto platt. Wie wird es dennsein? Da hocken die Kassen in Zukunft zwangsweise inihrem Dachverband, einem Monopolisten, zusammenund müssen sich mit ihren Konkurrenten absprechen, be-vor sie einen Direktvertrag mit den Ärzten abschließen.

(Elke Ferner [SPD]: Unsinn, Frau Bender,Unsinn!)

Was glauben Sie, was dabei herauskommt? Die Blo-ckade als Dauerzustand. Ich sage es noch einmal: Da-durch entsteht nicht mehr Wettbewerb, sondern dadurchhabe ich gar keinen Wettbewerb mehr.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)

Wir brauchen auch mehr Wettbewerb auf der Anbie-terseite, da mögen Sie schreien, so viel Sie wollen; Siefühlen sich offensichtlich getroffen.

(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie haben un-ser Konzept nicht einmal gelesen!)

Dieser Wettbewerb findet nicht statt: Weiterhin müssenalle rezeptpflichtigen Arzneimittel von den Kassen er-stattet werden. Auf dem Apothekenmarkt auch nichtsNeues. Gewiss, Sie wollen die Arzneimittelpreisver-ordnung liberalisieren. Das ist schön. Aber das wird nurwirken, wenn gleichzeitig die zunftartige Struktur desApothekenmarkts aufgebrochen wird. Es gibt zwar ver-einzelt die Erkenntnis in dieser Republik, dass wir mehrWettbewerb bei der Arzneimitteldistribution brauchen,allein, in die Politik der Koalition hat diese Erkenntnisnoch keinen Eingang gefunden.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen halten wir die so genannte Reform für nutzlosund untauglich.

(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wie man so ahnungslos sein kann!)

Kommen Sie mir ja nicht mit dem Platzhalterargu-ment, das immer gestreut wird, nach dem Motto „So ma-chen wir’s jetzt, doch nach der nächsten Wahl macht dieCDU daraus ihre Kopfpauschale in Reinform

(Jörg Tauss [SPD]: Nur, wenn sie die Mehrheit hat!)

bzw. die SPD macht daraus die Bürgerversicherung.“

(Zuruf von der SPD: Natürlich die SPD!)

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Birgitt Bender

Was ist das für ein Konzept? Erst jagen Sie eine Reform-attrappe mit Bürokratieaufschlag durch die Republik,dann wollen Sie drei Jahre damit verbringen, der Mor-genröte der Originalumsetzung Ihrer Parteitagsbe-schlüsse entgegenzuträumen, oder wie?

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist doch kein politisches Konzept! Ich kann nur sa-gen: Ministergehälter sind kein Überbrückungsgeld fürdie Zeit bis zum nächsten Wahltag, sondern diese Gehäl-ter werden für geleistete Arbeit gezahlt. Deswegen müs-sen Sie die politische Arbeit, gezielt einen Kompromissin Ihrer großen Koalition zu finden, auch leisten. Daraufwarten wir noch.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Wiewir auf die von Ihnen angekündigte Reformder Pflegeversicherung! Wir warten immernoch!)

Zum Abschluss. Man kann in gewisser Weise frohsein: Reform verschoben; Fonds sowieso verschoben;selbst wenn feststehen sollte, dass er zum 1. Januar 2009kommt, wird er nicht kommen; denn wer glaubt schon,dass Sie ausgerechnet im Wahljahr die Chuzpe haben, soetwas einzuführen? Trotzdem hätte dieses Vorgehen ei-nen hohen Preis: Denn wenn feststeht, dass dieser FondsGesetz wird, dann werden Vorbereitungen getroffen,dann werden Umstellungen vorgenommen, denen ge-genüber sich der Aufwand für die Umstellung aufHartz IV bescheiden ausnimmt. Der Unterschied ist nur:Für die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozial-hilfe gab es gute Gründe. Für die Einführung eines Ge-sundheitsfonds gibt es überhaupt keinen guten Grund –außer der Gesichtswahrung der großen Koalition.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für diesen Unsinn Gelder zu binden, Energien zu bin-den, heißt, Gelder zu verschwenden, die man dringendbräuchte für eine Verbesserung des Gesundheitswesensund der Prävention. Deswegen sage ich Ihnen im Namender Grünen: Gehen Sie zurück auf Los! Ziehen Sie keinGeld ein! Fangen Sie noch einmal an, zusammen überWege zu mehr Solidarität und mehr Wettbewerb nachzu-denken! Wir hätten Ihnen ein Konzept dafür vorzuschla-gen; aber wir wissen, dass Sie Kompromisse suchenmüssen. Die Bremer Stadtmusikanten haben gesagt: „…etwas Besseres als den Tod findest du überall“. – Ichsage der Koalition: Was Besseres als diese Reform fin-den Sie allemal. Also tun Sie es auch!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Carola Reimann von

der SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Carola Reimann (SPD): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Veränderungen im Ge-

sundheitsbereich werden ja von einem besonders großenöffentlichen Interesse und oft auch von einem besondersgroßen Getöse begleitet.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Herr Lauterbach!)

Leider wird dabei oft auch der Eindruck vermittelt,mit einer wirklich großen, umfassenden und mutigenReform könne man alle Probleme unseres Gesundheits-systems mit einem Schlag für alle Zeit loswerden. Diesehäufig verbreitete Erwartung muss enttäuscht werden;

(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

denn unser Gesundheitssystem unterliegt einem ständi-gen Entwicklungsprozess, den wir auch wollen und derdurch unterschiedliche und zum Teil auch schwer kalku-lierbare Faktoren wie dem medizinisch-technischenFortschritt beeinflusst wird. Angesichts dieses kontinu-ierlichen Prozesses müssen wir deshalb auch die gesetz-lichen Rahmenbedingungen kontinuierlich weiterentwi-ckeln.

Aus diesem Grund muss die aktuell diskutierte Ge-sundheitsreform auch im Zusammenhang mit der letztenReform in 2004, mit dem Gesetz zur Modernisierung dergesetzlichen Krankenversicherung – kurz: GMG –, be-trachtet werden. Kollegin Bender, hier haben wir ersteSchritte hin zu mehr Wettbewerb, mehr Qualität undmehr Wirtschaftlichkeit unternommen. Durch die vorge-legten Eckpunkte zur Gesundheitsreform werden dieseim GMG festgelegten Instrumente für mehr Qualität undmehr Wettbewerb aufgegriffen, verstärkt und ergänzt.

(Beifall bei der SPD)

Im Bereich der Strukturreformen sind wir mit gro-ßen Schritten vorangekommen. Ich will ein paar Bei-spiele dafür nennen: In der integrierten Versorgung wirdin Zukunft auch die Pflege enthalten sein. Wir werdendie Chroniker-Programme weiterentwickeln. Der Kol-lege Zöller hat etwas dazu gesagt. Wir werden die Kran-kenhäuser weiter öffnen. Es wird endlich eine Kosten-Nutzen-Bewertung für Arzneimittel und auch ein neuesHonorarsystem für niedergelassene Ärzte geben.

(Beifall bei der SPD)

Besonders hervorheben möchte ich die erweiterten Mög-lichkeiten für die Kassen, Verträge abzuschließen. Da-runter fallen zum Beispiel Rabattverhandlungen, aberauch die Ausschreibung von Arzneimittelwirkstoffenund Hilfsmitteln. Kollegin Bender, das stärkt den Wett-bewerb unter den Anbietern.

(Beifall bei der SPD)

Bei allen Reformen im Gesundheitsbereich wird be-fürchtet, dass es zu Ausgrenzungen aus dem Leistungs-katalog kommt. Bei dieser Reform ist das Gegenteil derFall. Wir haben insbesondere für sehr alte und sehrkranke Menschen wichtige Bereiche aufgenommen. Ichnenne in diesem Zusammenhang die Palliativmedizinund die geriatrische Reha, die jetzt Pflichtleistungen imLeistungskatalog sind.

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Dr. Carola Reimann

Kolleginnen und Kollegen, die Strukturreformen, diein der öffentlichen Diskussion leider allzu häufig ver-nachlässigt werden und auch finanzrelevant sind, sindwichtige Bestandteile der Gesundheitsreform. Im Zen-trum der öffentlichen Aufmerksamkeit steht aber vor al-lem der Gesundheitsfonds. Es ist ein offenes Geheim-nis, dass wir Sozialdemokraten in einigen Punkten, wiezum Beispiel bei der Steuerfinanzierung und auch beider Einbeziehung der privaten Krankenversicherung,wesentlich weitergehende Vorstellungen haben.

(Beifall bei der SPD)

Viel ist auch über den Startzeitpunkt des Fonds be-richtet und diskutiert worden. Für mich sind aber die Vo-raussetzungen für einen funktionierenden Fonds ent-scheidender. Um das Ziel des Fonds, für mehrWirtschaftlichkeit und Wettbewerb im Gesundheitswe-sen zu sorgen, erreichen zu können, brauchen wir als un-verzichtbare Voraussetzung einen zielgenauen morbidi-tätsorientierten Risikostrukturausgleich.

(Beifall bei der SPD)

Ich will das kurz erläutern: Im Fondsmodell ist vorge-sehen, dass die Kassen einen Betrag pro Versicherten ausdem Fonds erhalten. Dieser Betrag ist in seiner Höhe un-abhängig vom eingezahlten Versichertenbeitrag. Derentscheidende Punkt ist, dass zu diesem Betrag ein Zu-schlag hinzukommt, durch den das Krankheits- undMorbiditätsrisiko des Versicherten abgebildet wird.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha! Das steht in den Eckpunkten aber nicht drin!)

Das ist eine Art Morbi-Zuschlag. Der Gesamtbetrag, dendie Krankenkasse aus dem Fonds erhält, muss für einenchronisch Kranken somit höher sein als für einen jungengesunden Versicherten. Das steht durchaus in den Eck-punkten.

(Beifall bei der SPD)

Damit dieser Morbiditätszuschlag exakt ermitteltwerden kann, brauchen wir mit dem Start des Gesund-heitsfonds einen zielgenauen, morbiditätsorientierten Ri-sikostrukturausgleich.

(Beifall bei der SPD – Frank Spieth [DIELINKE]: Heißt das, dass der Fonds erst 2009eingeführt wird?)

Wir alle wissen, dass die Krankheitsrisiken der Versi-cherten in den verschiedenen Kassen – Stichwort Wett-bewerb – sehr ungleich verteilt sind. Die eine Kranken-kasse weist eine große Zahl von alten und krankenMenschen und damit teure Versicherte auf, während eineandere Kasse vor allem jüngere und gesunde Mitgliederhat. Dieses Problem haben wir insbesondere mit Blickauf die Wechsel zwischen den gesetzlichen Krankenver-sicherungen immer wieder thematisiert.

Zu einem fairen Wettbewerb zwischen den Kassenum die bessere Versorgung und nicht um die besten Risi-ken, also die gesündesten und solventesten Versicherten,kommen wir nur, wenn die Risiken durch Morbiditätszu-schläge pro Versicherten ausgeglichen werden.

(Beifall bei der SPD)

Fehlt dieser Ausgleich, bleibt es bei dem schädlichenWettbewerb um junge und gesunde Versicherte. DiesenWettbewerb wollen wir nicht.

Was wir brauchen, ist ein Wettbewerb um den bestenService, die beste Qualität der Versorgung und die besteBetreuung für die Versicherten.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Hans Georg Faust [CDU/CSU])

Unser Ziel ist es, dass jeder Versicherte für eine Kassegleich wichtig ist, egal ob jung oder alt, wohlhabendoder nicht, gesund oder krank. Nur so entsteht ein gesun-der Wettbewerb um die beste und kostengünstigste Ver-sorgung im Land und nur dann erhalten wir eine klareInformation über die wirkliche Leistungsfähigkeit einerKrankenkasse.

Darüber hinaus ist der zielgenaue, morbiditätsorien-tierte Risikostrukturausgleich auch für die Reform derärztlichen Vergütung von Bedeutung; denn wenn manmit der neuen Art der Vergütung der Ärzte das Morbidi-tätsrisiko von den Ärzten weg auf die Krankenkassenverlagert, braucht man einen angemessenen Ausgleichzwischen den Kassen.

(Beifall bei der SPD)

Es wird also deutlich: Große Teile der Gesundheitsre-form entfalten nur dann ihre gewünschte Wirkung, wennwir gleichzeitig einen solchen zielgenauen, morbiditäts-orientierten Risikostrukturausgleich einführen.

Um den jetzigen Risikostrukturausgleich in dieseRichtung weiterentwickeln zu können – das will ich andieser Stelle sagen –, brauchen wir eine aktuelle Daten-erhebung, die zum Beispiel Entlassdiagnosen in Kran-kenhäusern, Wirkstoffverordnungen und Diagnosen imambulanten Bereich erfasst. Die entsprechende Verord-nung zur Datenerhebung existiert seit geraumer Zeit. Siemuss noch in diesem Jahr vom Bundesrat auf den Weggebracht werden.

Die Verschiebung der Einführung der Gesundheitsre-form war hier schon Thema. Ich appelliere aber an alleBeteiligten, den Startschuss für den Risikostrukturaus-gleich nicht weiter zu verschieben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auch wenn die Bundeskanzlerin gestern Abend im Koa-litionsausschuss vorgeschlagen hat,

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die Sitzung war nicht öffentlich!)

das In-Kraft-Treten der Gesundheitsreform auf das Früh-jahr des nächsten Jahres zu verschieben, um eine aus-führliche Beratung zu ermöglichen – das begrüßen wiralle –,

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aus voller Überzeugung!)

entlässt das alle Beteiligten nicht aus der Verantwortung,die Vorbereitungsarbeiten, zum Beispiel die Datenerhe-bung, die man notwendigerweise braucht, um weiterar-beiten zu können, zeitnah auf den Weg zu bringen.

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Dr. Carola Reimann

Schließlich ist die Einführung – damit komme ich zumSchluss – eines solchen zielgenauen, morbiditätsorien-tierten Risikostrukturausgleichs für einen funktionieren-den Fonds unverzichtbar.

Danke.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Daniel Bahr von der

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Daniel Bahr (Münster) (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Ministerin Schmidt, ich war gesternAbend auf einer Veranstaltung des AOK-Bundesverban-des, auf der Sie eine Rede gehalten haben. Es war etwagegen 20 Uhr, als Sie das Wort ergriffen haben. Sie ha-ben erklärt, dass die Einigung hinsichtlich der Gesund-heitsreform kurz bevorsteht, und haben deutlich ge-macht, warum es so nötig sei, dass diese Reform zum1. Januar 2007 in Kraft tritt. Eben habe ich von Ihnen ge-hört, warum es so nötig und sinnvoll sei, dass man sichetwas mehr Zeit nimmt, sodass die Gesundheitsreformerst zum 1. April 2007, also drei Monate später, in Krafttritt. Frau Ministerin Schmidt, ich kann mir diesen Sin-neswandel nicht erklären, aber Sie müssen eine wunder-bare Nacht erlebt haben.

(Beifall des Abg. Heinz Lanfermann [FDP] –Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die Nacht derBundesministerin ist nicht Gegenstand derparlamentarischen Beratung!)

Die Kanzlerin hat endlich die Notbremse in einemZug gezogen, der in voller Fahrt Richtung Einheitskasseund Staatsmedizin steuerte. Das, meine Damen und Her-ren von der Union, ist das bisher Beste, was die Union indiesen Verhandlungen zur Gesundheitsreform erreichthat. Die Kanzlerin hat das Vorpreschen der Ministerinzunächst gestoppt. Aber ein Verschieben allein machtdie Gesundheitsreform nicht besser.

Frau Schmidt, da rächt sich im Übrigen auch, dass Sieder Öffentlichkeit Arbeitsentwürfe aus dem Ministeriumvorgestellt haben und damit Fakten schaffen wollten, dieweit über die Eckpunkte hinausgegangen sind. So habenSie provoziert, dass die Kanzlerin Sie hier ausgebremsthat. Aber die Union stellt auch fest, dass sie zwar eineCDU-Kanzlerin hat, aber eine SPD-geführte Bundes-regierung erlebt.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie soll-ten diese Pläne einstampfen und noch einmal neu ver-handeln. Diese Gesundheitsreform kann nur besser wer-den.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich kann mich noch an die Verhandlungen erinnern.Drei Monate lang hat die Arbeitsgruppe unter der Füh-rung von Herrn Zöller und Frau Schmidt verhandelt. Da-bei ist ein mehrere hundert Seiten umfassendes Papierherausgekommen, das – weil man sich nicht in allenPunkten einigen konnte – an die Spitzengruppe um dieKanzlerin weitergegeben wurde. In dem Papier, das ichbekam, stand auf Seite 1: Politisch noch klärungsbedürf-tige Punkte sind kursiv und fett geschrieben.

Als ich Seite 2 des Papiers, des Ergebnisses dieserArbeitsgruppe nach drei Monaten Verhandlungen, auf-geschlagen habe, habe ich gleich den ersten Punkt ge-funden, in dem sich die Arbeitsgruppe nicht einigenkonnte. Da stand – fett und kursiv geschrieben –:

Am Ende der Verhandlungen noch einzufügen:Hinweise auf Grundsätze und Ziele dieser neuenReform.

Wenn Sie nach dreimonatigen Verhandlungen die Er-gebnisse in der Fachgruppe vorlegen, aber noch nichteinmal wissen, welche Ziele Sie erreichen wollen, dannkann das Verhandlungsergebnis in keiner Weise IhrenAnsprüchen gerecht werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)

Mir fällt dabei nur ein Spruch von Mark Twain ein:„Kaum verloren wir das Ziel aus den Augen, verdoppel-ten wir unsere Anstrengungen.“

Die Gründe für die Gesundheitsreform waren dochklar: steigende Beitragssätze für die Krankenversiche-rung, die in diesem Jahr zu verzeichnen waren, und eineAltersentwicklung in Deutschland, die dazu führt, dassdie Kosten im Gesundheitswesen in den nächsten Jahrentendenziell steigen.

Das Problem waren also die steigenden Kranken-kassenbeiträge. Was erleben denn die Versicherten imnächsten Jahr als erste Auswirkung des Kompromissesdieser Koalition? Steigende Krankenkassenbeiträge! DieLohnzusatzkosten werden nämlich nicht gesenkt; siesteigen vielmehr massiv. Die Krankenkassenbeiträgewerden auf über 15 Prozent steigen.

In Ihrem eigenen Koalitionsvertrag vom Novemberletzten Jahres – er ist noch gar nicht so alt – steht als Zielder Koalition unter Punkt 2.1 die Senkung von Lohnzu-satzkosten. In diesem Punkt wird angekündigt, „die Bei-träge zur gesetzlichen Krankenversicherung mindestensstabil zu halten und möglichst zu senken“.

Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie ha-ben sich von Ihrem eigenen Ziel der Senkung oder derStabilisierung der Lohnzusatzkosten längst verabschie-det. Die Lohnzusatzkosten werden weiter den Arbeits-markt belasten.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Den Druck auf den Beitragssatz haben Sie im Übri-gen selbst zu verantworten. Die Mehrwertsteuererhö-hung um 3 Prozentpunkte wird die gesetzliche Kranken-

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Daniel Bahr (Münster)

versicherung um etwa 800 Millionen Euro belasten. DieSenkung des Bundeszuschusses aus der Tabaksteuerer-höhung, der in diesem Jahr noch über 4 Milliarden Eurobeträgt und im nächsten Jahr auf 1,5 Milliarden Eurosinkt, wird den Druck zu einer Beitragssatzerhöhungverstärken.

Wenn Sie jetzt angeben, dass Sie etwas gegen die Bei-tragssatzerhöhung tun mussten, dann ist festzustellen,dass Sie von der Koalition für die Beitragssatzerhöhungim nächsten Jahr selbst verantwortlich sind.

Des Weiteren war von einem Gesetz die Rede, dassich zunächst einmal positiv anhört: das Wettbewerbs-stärkungsgesetz. Frau Schmidt und Herr Zöller habenbehauptet, dass mit diesem Gesetz mehr Wettbewerberreicht werden soll. Ist es denn mehr Wettbewerb, wennkünftig nicht mehr einzelne Krankenkassen die Höhe ih-res Beitragssatzes im Wettbewerb zueinander festlegen?Ist es mehr Wettbewerb, wenn der Zusammenhang zwi-schen Beitrag und Leistung verloren geht? Ist es mehrWettbewerb, wenn ein bundeseinheitlicher Beitragssatzvon der Politik festgesetzt wird? Ist es mehr Wettbewerb,wenn künftig die Produktvielfalt in der privaten Kran-kenversicherung über einen Zwang zum Basistarif kom-plett abgeschafft wird?

(Jörg Tauss [SPD]: Von Wettbewerb im Ge-sundheitswesen haben Sie keine Ahnung! Ha-ben Sie noch nie gehabt!)

Ist es mehr Wettbewerb, wenn die Kürzungen für Apo-theker schon vor den Verhandlungen mit den Kassenfeststehen? Ist es mehr Wettbewerb, wenn künftig einBundeskrankenkassenverband bundeseinheitliche Vor-gaben macht? Ist es mehr Wettbewerb, wenn künftig dieKassen alle freiwilligen Leistungen streichen werden,um keinen Zusatzbeitrag verlangen zu müssen?

Das ist allenfalls ein Wettbewerb, der darauf abzielt,keinen Zusatzbeitrag zu verlangen. Es ist allenfalls einWettbewerb, was die Kostenfrage angeht. Wir werdenfeststellen, dass es keinen Wettbewerb um die richtigeVersorgung und die richtige Leistung gibt; es wird allen-falls zu einem Wettbewerb kommen, bei dem die Kran-kenkassen an allen Ecken und Enden sparen. Sie werdendamit aber keinen Anreiz für den dringend nötigen Wett-bewerb um innovative Versorgungsformen schaffen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – JörgTauss [SPD]: Es gibt einen Wettbewerb zwi-schen der FDP und den Lobbyisten!)

Die vorliegenden Pläne bedeuten nicht nur die Ab-schaffung der heutigen gesetzlichen Krankenversiche-rung, sondern auch der heutigen privaten Krankenversi-cherung als Vollversicherung. Gesetzliche und privateKrankenversicherung werden vereinheitlicht. Dieses Ge-setz stärkt nicht den Wettbewerb. Es ebnet den Weg inein staatliches und zentralistisches Gesundheitswesen.

Was den Gesundheitsfonds angeht, hat Frau Schmidtausgeführt, dass keine neue Behörde geschaffen wird.Tatsächlich werden 20 neue Behörden geschaffen, weilregionale Einzugsstellen eingeführt werden sollen. Es

muss eine neue Verwaltungsstruktur geschaffen werden,um 70 Millionen Versichertenkonten anzulegen. Der Zu-sammenhang zwischen Beitrag und Leistung geht verlo-ren, weil ein bundeseinheitlicher Beitrag anonym andiese Behörden gezahlt wird. Die Bundesregierung wirdden Beitragssatz festlegen. Wie wollen Sie das als Ge-sundheitsministerin denn machen? Da sage ich Ihnenvoraus: Wenn Sie sich im Oktober die Zahlen anschauenund zu dem Schluss kommen, dass die Krankenkassen-beiträge und damit die Lohnzusatzkosten im nächstenJahr steigen müssen, dann wird es doch politischenDruck geben, weil man diese Belastung für den Arbeits-markt nicht will. Was tut man? Da die Bundesregierungin Zukunft die Höhe des Beitragssatzes in der gesetzli-chen Krankenversicherung festlegt, wird es jährlich einKostendämpfungsgesetz geben, um zu verhindern, dassim nächsten Jahr der Beitragssatz steigt. Ob das unserGesundheitswesen tatsächlich weiterbringt, bezweifleich sehr; denn das ist Gesundheitspolitik nach Zuteilungund Kassenlage.

(Beifall bei der FDP)

Ähnlich verhält es sich bei Ihren Vorschlägen zurEntschuldung. Gut wirtschaftende Krankenkassen, diesich nicht verschuldet haben – vielleicht weil die Auf-sichtsbehörden in den Bundesländern darauf geachtethaben –, sollen nun bestraft werden, weil sie ihre Rück-lagen bzw. Überschüsse, die sie aufgebaut haben, denKrankenkassen, die nicht vernünftig gewirtschaftet ha-ben, zur Verfügung stellen müssen. Das bereitet den Wegin die Einheitskasse, und zwar schon bevor der Gesund-heitsfonds besteht.

Meine Damen und Herren von der Union, Sie behaup-ten, der Gesundheitsfonds sei unbedingt notwendig, ummehr Wettbewerb zwischen den Krankenkassen zu errei-chen. Aber die Zusatzprämie, die Sie einführen wollen,ist schon längst tot – auch im Eckpunktepapier –, undzwar dadurch, dass sie maximal nur 1 Prozent des Haus-haltseinkommens betragen darf. Ich sage Ihnen voraus:Keine einzige Krankenkasse in Deutschland wird eineZusatzprämie verlangen; denn es bedeutet zu viel Auf-wand und verursacht zu viele Kosten, eine solche Zu-satzprämie einzufordern.

(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Es geht doch ums Sparen!)

– Dann denken Sie nochmal darüber nach, Frau Wid-mann-Mauz. – Wir brauchen den von Ihnen geplantenGesundheitsfonds gar nicht; denn mit ihm lässt sich keineinziges Problem lösen. Im Gegenteil: Der Gesundheits-fonds wird dem Gesundheitswesen nur neue Problemebereiten. Deshalb sollten Sie schleunigst Abstand vonIhren Plänen nehmen.

(Beifall bei der FDP)

Der letzte Punkt. Frau Schmidt hat eben gesagt, siemache die Reform für die Enkelkinder, für ein nachhalti-ges System. Ich kann nur feststellen, dass die geplanteReform weder einen Beitrag zur Verbesserung der Situa-tion auf dem Arbeitsmarkt leistet noch für eine Entkopp-lung der Finanzierung des Gesundheitswesens von denArbeitskosten sorgt. Auch Vorsorge in Form von

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Daniel Bahr (Münster)

Rückstellungen für die steigenden Kosten durch eine al-ternde Bevölkerung wird nicht betrieben. Im Gegenteil:Sie greifen das System an, das Rückstellungen für diesteigenden Kosten im Alter gebildet hat, nämlich die pri-vate Krankenversicherung. Stampfen Sie Ihre Pläneschleunigst wieder ein! Verhandeln Sie lieber neu! Eskann nur besser werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Annette Widmann-

Mauz, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Die große Koalition geht mit der Gesundheitsreformeine der größten und wichtigsten Reformen in dieser Le-gislaturperiode an. Sie ist gleichzeitig eines der größtenReformvorhaben in der gesetzlichen und der privatenKrankenversicherung. Das ist kein kleiner Schritt. Daszeigt die aufgeregte Debatte heute hier im Haus, genausowie manche Aufgeregtheit draußen und die Besorgnisseder Menschen in den vergangenen Wochen. Deshalb giltfür uns: Sorgfalt und Gründlichkeit gehen vor Schnellig-keit. Auch wenn Sie noch so sehr daran herummäkeln,Herr Bahr: Wir sind die Herren des Verfahrens und wer-den diesen Weg bis zum Gesetzentwurf und zur Verwirkli-chung der Reform konsequent gehen.

Manche Besorgnis über steigende Beiträge im nächs-ten Jahr hat gar nichts mit der aktuellen Reform oderdem Haushalt zu tun. Vielmehr rührt sie her aus denSünden der Vergangenheit. Ich erinnere nur an das Bei-tragssatzsicherungsgesetz. Liebe Kolleginnen und Kol-legen von den Grünen, damals hatten Sie die Verantwor-tung. Sie haben mit diesem Gesetz den gesetzlichenKrankenkassen verboten, den Beitrag zu erheben, densie zur Deckung ihrer Ausgaben benötigten, und habensie damit in die Verschuldung getrieben. Heute tun Sieso, als ob Sie damit nichts zu tun hätten. Aber das istnicht richtig.

(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben immer gesagt: Die Schulden von heutesind die Beitragssatzerhöhungen von morgen. Mit derGesundheitsreform im Jahr 2003 haben wir den Kran-kenkassen einen klaren Weg der Entschuldung vorgege-ben.

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Da sind wir uns sogar einig!)

Die Krankenkassen wissen seit 2003, dass Ende nächs-ten Jahres der Hammer fällt. Wenn sie nun meinen, ihreSchulden abbauen zu müssen, dann resultieren die Bei-tragssatzerhöhungen aus der Vergangenheit. Diese Erhö-hungen haben aber mit der aktuellen Reform gar nichtszu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Bei der letzten Reform haben die Versicherten sowiedie Patientinnen und Patienten die Hauptlast getragen.Dieses Mal werden die Patienten nicht die Leidtragen-den sein. Im Gegenteil: Für die Patienten wird sich diemedizinische Versorgung in vielerlei Hinsicht verbes-sern. Wir haben schon viel darüber gehört, was dieseKoalition bereits in diesem Jahr im Arzneimittelbereichauf den Weg gebracht hat. Im ersten Quartal lagen dieSteigerungsraten noch bei 10,5 Prozent. Im ersten Halb-jahr sind sie auf 5,1 Prozent zurückgegangen. Wenn wiruns die Juliausgaben anschauen, stellen wir fest: DerUmsatz ist um 3,5 Prozent zurückgegangen. Das sinderste Erfolge. Diese Erfolge werden wir fortsetzen. Wirwerden eine Kosten-Nutzen-Bewertung einführen; dennsie ist ein Schutz vor überhöhten Preisen, die in keinemVerhältnis zum Nutzen für den Patienten stehen.

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das hätten wir schon früher haben sol-len!)

Rabattverträge werden wir einführen und damit denWettbewerb stärken. Vom Hersteller bis zum Apothekerwird es Vertragsfreiheit geben, die auch zum Nutzen derKundinnen und Kunden in der Apotheke sein wird.

Die Palliativversorgung ist ein wichtiges Thema,weil sie eine humane Antwort auf die Forderung nachSterbehilfe ist. Patientinnen und Patienten haben jetzt ei-nen konkreten Anspruch auf Leistungen wie Schmerz-therapie sowie pflegerische und ärztliche Versorgung,um die letzten Tage ihres Lebens menschenwürdig in dervertrauten Umgebung mit ihren Angehörigen verbringenzu können. Das ist konkrete Hilfe beim Sterben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Das Thema Mutter-/Vater-Kind-Kur ist angespro-chen worden. Was haben wir erlebt? Die Eltern sind aufden Instanzenweg geschickt worden. So kann man natür-lich Kostenreduktion durch Zermürbungstaktik betrei-ben. Jetzt ist diese Kur eine Pflichtleistung, eine klareVerbesserung für die Mütter und Väter.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Denken wir an die Schnittstelle zwischen Kranken-und Pflegeversicherung. Wer kennt den Sturz oder denSchlaganfall im Alter nicht? Wie oft wurde die Rehabili-tation mit dem Hinweis, das sei nicht mehr nötig, der Pa-tient komme ohnehin in die Pflege, verweigert? So wur-den die Kosten auf die Pflegeversicherung gewälzt.Auch hier ist in der Vergangenheit viel zu wenig gesche-hen, um die Selbstständigkeit der Menschen zu erhalten.Die Rehabilitation wird jetzt zur Pflichtleistung. Ichkönnte noch viele weitere Beispiele nennen.

Unser Ziel ist die Sicherstellung einer guten medizi-nischen Versorgung in ganz Deutschland. Wir gehennämlich dem Problem der Unterversorgung im ambulan-ten Sektor nach. Warum stehen immer weniger Ärzte inMecklenburg-Vorpommern zur Versorgung zur Verfü-gung? Bei Vergütungsunterschieden von bis zu 100 Pro-zent innerhalb Deutschlands ist das doch überhaupt keinWunder. Warum werden die Wartelisten bei den Ärzten

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Annette Widmann-Mauz

immer länger? Sie werden es, weil eine leistungsge-rechte und verlässliche Honorierung in Euro und Centein entscheidender Faktor ist. Sie entscheidet nämlichnicht nur über das Ein- und Auskommen des Arztes,sondern auch über das Hierbleiben oder Auswandern derdeutschen Ärzte.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir gehen die Probleme an. Wir tun das nicht, damit inerster Linie die Ärzte mehr verdienen können, sonderndamit die Patientinnen und Patienten in unserem Landüberall gut versorgt sind und ärztliche Angebote finden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Wenden wir uns dem Thema Transparenz zu. Mitder Umstellung der Finanzierung auf den Gesundheits-fonds können Versicherte in Zukunft die Leistungsfähig-keit und die Angebote ihrer Krankenkasse besser beur-teilen. Sie können nämlich wirklich vergleichen. Kommtmeine Krankenkasse mit den durchschnittlichen Kran-kenkosten aus oder braucht sie einen Zusatzbeitrag?Kann sie sogar etwas an die Versicherten zurückzahlen?Ist der Preis für die gebotene Leistung angemessen? Bie-tet mir eine andere Krankenkasse ein interessanteres An-gebot für den Beitrag? Mehr Transparenz bewirkt mehrWettbewerb. Dort, wo Wettbewerb herrscht, gibt es An-gebote und Auswahl und damit ein Mehr an Wahlmög-lichkeiten für die Versicherten in unserem Land.

Selbstbehalttarife, die wir aus den unterschiedlichstenLebensbereichen, auch aus der privaten Versicherungs-wirtschaft, kennen, Kostenerstattungstarife, Hausarztta-rife und integrierte Versorgungsverträge sind weitereStichworte. Es wird also mehr Wahlmöglichkeiten ge-ben, und zwar nicht nur in der gesetzlichen Versiche-rung, sondern auch in der privaten. Auch hier beendenwir die lebenslange Bindung an das Unternehmen. Man-che sprechen sogar von einer Gefangenschaft. Wir eröff-nen auch hier Wechselmöglichkeiten durch die Mit-nahme der Altersrückstellung.

(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist wenigstens etwas!)

Wer schreit draußen eigentlich am lautesten? DieBesitzstandswahrer melden sich laufend zu Wort.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Sie stehen vor unseren Abgeordnetentüren und wir hörensie auf den Plätzen der Republik. Ich sage Ihnen ganzklar: Wer unter der Decke im Dunkeln gut zu munkelnhatte, der scheut natürlich Licht, Bewegung und Frisch-luft, er scheut Transparenz und Wettbewerb, ob es in derSelbstverwaltung ist oder untereinander. Ich kann dassubjektiv durchaus verstehen. Diese Reflexe erinnernmich an den Werbesong „Ich will so bleiben, wie ichbin.“ Sie alle haben jetzt die junge, blonde, hübsche Frauim Gedächtnis,

(Heiterkeit – Jörg Tauss [SPD]: Ich habe nur meine Frau im Gedächtnis!)

aber Sie wissen genau, dass die Zielgruppe völlig andersaussieht, nämlich nicht so gut. In unserem Gesundheits-

wesen ist es ähnlich. Auch hier brauchen wir Anstren-gungen, um fit zu werden. Diese sind notwendig.

Im Vordergrund der Kassenstrategie stand doch bis-lang zunächst einmal der Versicherte, der viel Geld mitin die Kasse bringt. Erst danach ging es um die Frage,wie man den Patienten gut und vor allen Dingen effizientund kostengünstig versorgen kann. Die Jagd nach denjungen Gutverdienern ist in unserem heutigen Systemangelegt. Schauen Sie sich die Verknüpfung der DMPmit dem Risikostrukturausgleich an. Sie ist doch so an-gelegt gewesen, dass alle am Ende finanzielle Vorteilehatten, aber die Versorgung überhaupt nicht in dem ent-sprechenden Maße besser wurde. Das sind Fehlanreize,die wir beenden müssen.

Schauen Sie sich die intransparenten Strukturen an.Ich weiß nicht, wieviel mein Arztbesuch kostet und wasmein Arzt von der Kasse für die Leistung erhält, die eran mir erbringt. Wir kennen nur Punkte, aber wir kennenkeine Preise. Unter diesen Deckmänteln konnten nebenbester Medizin und hervorragender Versorgung inDeutschland trotzdem Verantwortungslosigkeit, Selbst-bedienung, Bürokratie, Funktionärstum und Verschwen-dung in vielen Bereichen entstehen. Wir können diesdoch nicht negieren. Deshalb braucht das deutsche Ge-sundheitswesen Frischluft und Bewegung; denn diesesSystem soll und muss in Zukunft in einer älter werden-den Gesellschaft noch mehr leisten können. Die Medizinwird durch technische Innovation in Zukunft noch mehrleisten müssen. Wir müssen dieses System fit machen.Dazu gibt es überhaupt keine Alternative.

Das fängt bei den Kassen an. Der Fonds wird dieJagd auf die jungen Gutverdiener beenden und den Blickauf die Patientinnen und Patienten richten, weil dieKasse für jeden Versicherten die gleiche Pauschale mitrisikoadäquaten Zuschlägen aus dem Fonds erhält.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Also doch nicht mobilitätsorientiert!)

Damit dieses auch klar ist: Wir haben heute einen Risi-kostrukturausgleich und nur weil wir einen Fonds ein-führen, fällt dieser nicht weg. Wir werden mit demFonds wieder einen Risikostrukturausgleich haben.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aber keine Mobilitätsorientierung, oder?)

Dazu stehen wir. Sonst funktioniert der Wettbewerb inunserem System nicht.

Schauen wir uns an, welche Auswirkungen das aufdie Kassenkapazitäten hat. Kundenorientierung wird inZukunft im Mittelpunkt stehen. Das ist wichtig. Es wirdAngebote wie Vertragstarife und Wahltarife für die Ver-sicherten in unserem Land geben; denn ihr Kostenbe-wusstsein soll und muss geschärft werden, damit Zusatz-beiträge möglichst vermieden werden können, undWahltarife sollen die individuellen Wünsche abbilden.Wir wollen die Sensibilität für den Preis fördern und diesgelingt durch den Wettbewerb.

(Beifall bei der CDU/CSU)

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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, denken Sie an Ihre Redezeit?

Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Der Aufwand für dieses Fitnessprogramm ist erheb-

lich, aber der Aufwand lohnt sich. Dieser Umbau unse-res Gesundheitswesens bedeutet soziale Gerechtigkeitmit den Mitteln von Markt und Transparenz.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Ewald Schurer, SPD-Frak-

tion.

Ewald Schurer (SPD): Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieöffentliche Diskussion über die Gesundheitsreform hatsich noch nicht unmittelbar auf die Gestaltung desEinzelplans 15 im Haushalt 2007 ausgewirkt. Dennochmöchte ich hier vorweg sagen: Ich finde es politischrichtig und ich finde es gut, dass wir mit der Verschie-bung um ein Vierteljahr, die gestern beschlossen wordenist, ein Stück weit den Druck von dieser Diskussion neh-men, um mehr Zeit für politisch klare Festlegungen undDefinitionen für eine tragfähige Reform des Gesund-heitswesens für die Zukunft zu bekommen. Es geht da-rum, für eine zukunftsfeste Qualität der Versorgung derMenschen auf guter ökonomischer Grundlage zu sorgen.

Als Haushälter möchte ich bewusst die Grundsatz-frage ansprechen, dass die Beitragsfinanzierung imSystem auch künftig unverzichtbar sein wird. Notwen-dig ist ein Diskurs darüber, inwieweit mit Steuermittelnversicherungsfremde Leistungen – Schwerpunkt ist diebeitragsfreie Mitversicherung von Kindern – erbrachtwerden können. An dieser Stelle gibt es einen ersten Be-zugspunkt zum aktuellen Haushalt. Im Vergleich zumHaushalt 2006 ist er diesbezüglich zwar um2,7 Milliarden Euro kleiner, veranschlagt für solcheZwecke aber immer noch 1,5 Milliarden Euro. Wie wirwissen, plant diese Koalition auf Basis der nun vorlie-genden Eckpunkte vom Juli dieses Jahres, dass der Etat2008 vermutlich wieder Mittel in Höhe von 1,5 Milliar-den Euro – in der Zukunft wird vielleicht sogar mehrGeld zur Verfügung stehen – bereitstellen wird.

Man muss sich darüber im Klaren sein, dass es beimgeplanten Gesundheitsfonds eben auch um Folgendesgeht: Wenn man Steuermittel langfristig einsetzenmöchte, dann geht dem eine Grundsatzentscheidung vo-raus. Als Haushälter muss ich anmerken, dass eine sol-che Grundsatzentscheidung sich an den Erfahrungen, diewir in anderen Sozialsystemen gemacht haben, messenlassen muss. Sicherlich ist es gut zu wissen, welcheFinanzierungsangebote wir derzeit im Bereich der Al-ters- und Rentenversicherung haben. Wenn man künftigversicherungsfremde Leistungen, speziell die Mitversi-cherung von Kindern – dafür habe ich Verständnis – mitSteuermitteln finanzieren möchte, dann muss man sich

fachliche Aspekte vergegenwärtigen und darüber imKlaren sein, dass das natürlich gewisse Dimensionenhat.

Eine dieser Dimensionen ist ganz eindeutig: Trotz al-ler Probleme beinhaltet eine Steuerfinanzierung in derTat im Prinzip eine Verbreiterung der Bemessungsgrund-lage.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Man muss über den Faktor Arbeit hinaus – ich beziehemich auf die engere Definition dieses Begriffs; ich ver-weise auf die hier dargestellten Probleme – andere Fi-nanzierungsformen nutzen. Wir sollten künftig in derLage sein, über den Steuertopf eine Art solidarischeMitfinanzierung zu bewerkstelligen. Das ist wichtig.Wie ich in einer Schrift des BDI gelesen habe, wäre dasim Prinzip eine „solidarisch motivierte Steuer“.

(Zuruf des Abg. Steffen Kampeter [CDU/CSU])

– Kollege Kampeter, ich bin für alle guten Vorschlägeoffen, manchmal sogar für die Ihrigen.

(Heiterkeit bei der SPD)

Es gibt fachliche Gründe, diese Steuerdimension ein-zubringen. Als Haushälter möchte ich davor warnen, mitSteuermitteln künftig inflationär umzugehen. Es geht umdas richtige Verhältnis von Beitragsfinanzierung und ei-nem Additiv „Steuermittel für die versicherungsfremdenLeistungen“. Ich möchte auch davor warnen, die priva-ten Haushaltseinkommen mit einem Zusatzbetrag odereiner Zusatzprämie von mehr als 1 Prozent zu belasten.Das würde die Versicherten und die Patientinnen und Pa-tienten mit Sicherheit überbelasten. Wenn wir eine solideFinanzierungspolitik betreiben wollen, dann können wiruns das nicht leisten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die große Koalition – da bin ich mir sicher – will dasnicht. Wir wollen ein Gesundheitssystem, das auch künf-tig monetär berechenbar ist. Der Bundeshaushalt brauchtberechenbare Grundlagen. Ständig beliebige Definitio-nen nach Kassenlage – die Regierung will sie eindeutignicht – nützen ihm nicht. Gesundheitsreform und Bun-deshaushalt sind wie kommunizierende Röhren. Wirbrauchen klare politische Festlegungen, die auch mittel-fristig tragfähig sind. Das ist notwendig, um solide arbei-ten zu können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

In diesem Zusammenhang erscheint es mir als Haus-hälter dringend geboten, über die löblichen Ansätze die-ser Gesundheitsreform hinaus auch für die Zukunft kos-tenwirtschaftliche Hebungen – ich habe keinen besserenBegriff – einzufordern. Über die jetzigen Ansätze hinausmuss die integrierte Versorgung auf Dauer auf alle Pa-tientinnen und Patienten und auf alle Bereiche diesesSektors ausgeweitet werden, damit die milliardenschwe-ren Effizienzreserven, die im System theoretisch undpraktisch vorhanden sind – alle Experten sagen das –,generiert werden können. Die Ansätze – nach einemschwierigen Prozess haben Union und SPD einen Kom-promiss geschlossen; das muss man einmal sagen – müs-

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Ewald Schurer

sen weiterentwickelt werden, damit die Arzneimittel-und Medikamentenpreise in Deutschland auf ein ver-nünftiges europäisches Mittelmaß kommen. Es ist nichtgut, wenn wir erleben müssen, dass gewisse Medika-mente in Deutschland im Vergleich zu anderen europäi-schen Staaten weit überteuert angeboten werden.

Schließlich – das ist von den Kolleginnen und Kolle-gen schon gesagt worden; das ist eine sozialdemokrati-sche Komponente; sie anzusprechen kann und darf manmir nicht nehmen –: Ein Risikostrukturausgleich wirdnur dann wirklich gegeben sein, wenn auch die Beteili-gung der privaten Krankenkassen gesichert ist. Dazugibt es im Prinzip keine Alternative.

(Beifall bei der SPD)

Der Kollege Zöller hat schon von der Solidarität im Sys-tem gesprochen. Wenn er das im nächsten Vierteljahrnoch ein Stück weiterentwickelt, bin ich da ganz opti-mistisch.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

Die Reform hat auch wirklich gute Ansätze. Nocheinmal in aller Kürze: Die allgemeine Versicherungs-pflicht, ein sehr wichtiges Projekt der Sozialpolitik all-gemein, muss gelobt werden. Dass geriatrische Patientenund Pflegebedürftige, die an chronischen Krankheitenleiden, künftig Ansprüche nach dem Leistungskataloghaben, ist wichtig; dass Mutter- oder auch Vater-Kind-Kuren Pflichtleistung werden, ebenfalls.

(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Dass empfohlene Impfungen künftig Gegenstand desKatalogs sind, ist wirklich absolut notwendig. Ganzwichtig noch – das ist von der Kollegin Widmann-Mauzschon gesagt worden –: Dass im Eckpunktepapier derLeistungsanspruch auf Palliativversorgung definiertwerden soll, ist ohne Alternative, weil das menschlicheLeben auch am Schluss mit Würde begleitet werdenmuss.

Im eigentlichen Haushalt – das noch zum Schluss –haben wir, wenn man von den 1,5 Milliarden Euro zurglobalen Abgeltung bei der GKV absieht, was sozusagenein durchlaufender Posten ist, diesmal noch 425 Millio-nen Euro zur Verfügung. Das ist in dem Bereich ein Auf-wuchs um 26 Millionen Euro. Warum? Ich sage es in al-ler Kürze: Damit werden unter anderem notwendigeBaumaßnahmen des Ministeriums in Bonn sowie fürdas Paul-Ehrlich-Institut, das BfArM und das Robert-Koch-Institut bewältigt, die dringend notwendig sind.Hierfür werden insgesamt 46 Millionen Euro – das istdiesmal ein größerer Posten – zur Verfügung gestellt.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege, Sie denken bitte an die Redezeit. Sonst

reden Sie auf Kosten Ihrer Kollegin.

Ewald Schurer (SPD): Recht herzlichen Dank.

Ganz zum Schluss möchte ich noch auf eines hinwei-sen. Man hat immer auch eine Vision.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: „Wer Visionenhat, soll zum Arzt gehen“, hat Schmidt ge-sagt!)

Meine Vision bei dieser Gesundheitsreform ist: Der Ge-sundheitsfonds wird aufgebaut;

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das ist eine super Vision!)

er wird mehr oder minder virtuell aufgebaut. Wir greifenauf die bewährten Strukturen und die qualifizierten Ka-pazitäten der gesetzlichen Kassen beim Beitragseinzugzurück. Wir bauen keine unnötige Bürokratie auf.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege!

Ewald Schurer (SPD): Ganz zum Schluss noch eine Überzeugung – lassen

Sie mich das bitte noch sagen –: Der Risikostrukturaus-gleich wird dann zu einem vollen Erfolg werden,

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das kann keiner so gut sagen wie die Frau Dr. Reimann!)

wenn es uns gelingt, die PKV künftig voll und ganz indiesen Risikostrukturausgleich einzubeziehen. Diese Vi-sion wird eines Tages Wahrheit werden.

Ich bedanke mich für die große Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans Georg

Faust, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Mit den Eckpunkten zur Gesundheitsreform,den zurzeit erfolgenden Konkretisierungen und dem Ent-wurf zur Änderung des Vertragsarztrechts sind wir da-bei, unser altehrwürdiges Gesundheitssystem effizienz-steigernd zu verändern und umfassend zu modernisieren.

(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So ist es!)

Im Mittelpunkt dieser großkoalitionären Kraftan-strengung steht der Versicherte, vor allem der Versi-cherte, der als Patient Hilfe benötigt. Doch wo sucht derPatient in seiner Not Hilfe? Er sucht sie nicht bei derPolitik, nicht bei der Krankenkasse, auch nicht bei derVerbraucherberatung; nein, er sucht diese Hilfe beimArzt in der Praxis oder auch im Krankenhaus.

Wenn ich dieses Kernelement unseres Gesundheits-wesens, den Arzt-Patienten-Kontakt, betrachte, dannist das Ergebnis durchaus zwiespältig. Auf der einenSeite gilt: gute Erreichbarkeit tags und nachts, noch flä-chendeckende Versorgung, breites Leistungsangebot vongut ausgebildeten und, wie wir wissen, auch im Auslandhoch geschätzten Ärzten. Auf der anderen Seite gilt:stark reglementiert, abgeschottete Sektoren, übermäßi-ger Dokumentations- und Bürokratieaufwand. Für Ärzte

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Dr. Hans Georg Faust

und Krankenhäuser besonders belastend ist die Unge-wissheit über eine angemessene Honorierung in Gegen-wart und Zukunft.

Wir tun etwas und wir tun das Richtige. Im Vertrags-arztrechtsänderungsgesetz werden die Liberalisierungenund Flexibilisierungen, die die Ärzte sich selbst erarbei-tet haben, in Gesetzesform gegossen. Dadurch wird dievertragsärztliche Berufsausübung effizienter und moder-ner gestaltet. Ärzten ist es zukünftig erlaubt, Kollegenohne Begrenzung und auch fachgebietsübergreifend ein-zustellen. Sie können ihre Tätigkeit an weiteren Ortenausüben und – was ich im Interesse von sektorenüber-greifenden Versorgungsmodellen für besonders wichtighalte – sowohl in der eigenen Praxis als auch im Kran-kenhaus in Teilzeit tätig sein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-wie des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Das sind richtige und wichtige Schritte, die spät kom-men, aber sie kommen, genauso wie die Erleichterungenbei der Einforderung der Praxisgebühr. Die Eckpunkteder Gesundheitsreform tragen der berechtigten Forde-rung der Ärzte nach einer angemessenen Honorierungweitgehend Rechnung.

(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]:So ist es!)

Eine Gebührenordnung mit festen Preisen in Euro undCent wird eingeführt und die Mengensteuerung neu ge-ordnet.

Jedem Gesundheitspolitiker, aber auch den Ärzten istklar, dass es keine ungesteuerte Leistungsausweitung ge-ben kann.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha! Also doch Budgetierung!)

Auf der anderen Seite aber müssen krankheitsbedingteMehrausgaben von der Solidargemeinschaft, mithin denKrankenkassen, und nicht von den Ärzten getragen wer-den.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Pe-ter Friedrich [SPD])

Mit den gesetzestechnischen Ausformulierungen imneuen Reformgesetz sind wir dann auf einem guten Weg,wenn wir von den Budgets wegkommen.

(Beifall der Abg. Annette Widmann-Mauz[CDU/CSU] – Heinz Lanfermann [FDP]: Istdoch alles gedeckelt!)

Die Regelungen zur integrierten Versorgung schaf-fen in unseren abgeschotteten Gesundheitsteilsystemenviele Brücken, Durchlässe und Übergänge. Hierzu set-zen wir die finanziellen Anreize so, dass die ökonomi-schen Ergebnisse in die gleiche Richtung weisen wie diemedizinischen Ziele. In diesem Zusammenhang, meineDamen und Herren, ist die Debatte um die so genanntedoppelte Facharztschiene vollkommen überflüssig.Wenn es gelingt, den ambulanten und den stationärenSektor so zu vernetzen, dass der Arzt, der es in einer sek-torenübergreifenden Kooperation am besten kann und

am effizientesten macht, auch der ist, zu dem der Patientautomatisch geleitet wird, dann ergeben sich von selbstStrukturen, die einen gesetzgeberischen Eingriff über-flüssig machen.

(Beifall bei der SPD)

Noch ein Wort zu den Ärzten in den Krankenhäusern.Mit den Tarifabschlüssen werden sich die Arbeits- undFinanzbedingungen für die Ärzte in den Krankenhäuserndeutlich verbessern. Aber ob alle Krankenhäuser dasleisten können, da habe ich meine großen Zweifel. Denndie Krankenhäuser befinden sich in der Konvergenz-phase des Zweiten Fallpauschalenänderungsgesetzesund damit ordnet sich die Krankenhauslandschaft inDeutschland neu. Krankenhäuser kooperieren mehr mit-einander, verteilen die Aufgaben, verdichten ihre Leis-tungen und machen mehr ambulant. Das führt zu Bet-tenabbau und Spezialisierung und immer häufiger auchzu Trägerwechseln, eine Entwicklung, meine Damenund Herren, die vorhersehbar war und die wir in weitenBereichen auch so gewollt haben.

Zusätzlichen Druck dadurch auszuüben, dass denKrankenhäusern pauschal ein Sanierungsbeitrag von1 Prozent abverlangt wird, führt, wenn dieser Vorschlagnicht modifiziert wird, zu weiterer Ausdünnung derKrankenhauslandschaft in der Fläche. Die Länder habenaus Gründen der Daseinsvorsorge ein Netz erreichbarerKrankenhäuser für ihre Bürger gespannt. Wenn diesesNetz durch ökonomischen Druck an vielen Stellen reißt,werden die Kosten für das Flicken der Maschen über Si-cherstellungszuschläge für die Krankenkassen höhersein als der jetzige Pauschalgewinn.

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir befindenuns unabhängig von den Lösungen für die Detailfragenmit unseren Gesetzeswerken auf einem richtigen Weg.Hier geht mit Sicherheit Sorgfalt vor Schnelligkeit. Ichjedenfalls bin der festen Überzeugung, dass nach gründ-licher und eingehender Beratung und Verbesserung imDetail die Patienten, ihre Ärzte und auch die Kranken-häuser davon profitieren werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Jella Teuchner,

SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Jella Teuchner (SPD): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! In einem sind wir uns, glaube ich, alle einig:Wenn man von einem Titel absieht, ist der Einzelplan 15in diesem Haushalt relativ unspektakulär. Spektakulär– das wurde in der heutigen Debatte recht deutlich – istallerdings der Titel „Pauschale Abgeltung für versiche-rungsfremde Leistungen“. Werden den Krankenkassen2006 dafür noch 4,2 Milliarden Euro zur Verfügung ge-stellt, sollen 2007 dafür noch 1,5 Milliarden Euro zur

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Jella Teuchner

Verfügung stehen und 2008 soll dieser Titel ganz entfal-len.

Geplant war ja, Mittel, die durch die Tabaksteuer-erhöhung generiert werden, den Krankenkassen zurVerfügung zu stellen. Die erhofften Mehreinnahmenkonnten aber nicht realisiert werden. Im Haushaltsbe-gleitgesetz 2006 wurde deshalb festgelegt, diese Mittelzurückzufahren.

Dies wurde beschlossen, bevor die Eckpunkte zurGesundheitsreform vorgelegt wurden.

(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das waren gerade einmal sechs Tage!)

In diesen Eckpunkten ist nun vorgesehen, dass dieseMittel, beginnend 2008 mit 1,5 Milliarden Euro,

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Weniger als jetzt!)

stetig ausgebaut werden sollen.

(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Mit welchen Mitteln soll denn das gemachtwerden?)

Zu Recht: Rund 5 Milliarden Euro haben die Kranken-kassen 2005 für Maßnahmen ausgegeben, die in der Ver-ordnung über die Verteilung der pauschalen Abgeltungals versicherungsfremde Leistungen definiert sind.

Dieser eine Titel macht deutlich: Wir stehen mit derUmsetzung der Eckpunkte in der Pflicht, die Finanzie-rung der gesetzlichen Krankenkassen verlässlich zu re-geln. Gerade dieser Titel ist es auch, der bei Kassen, Ver-bänden und in der Politik große Bedenken gegenüberden Eckpunkten auslöst. Diese Bedenken müssen ernstgenommen werden.

In den Eckpunkten ist ein Gesundheitsfonds vorge-sehen, über den in Zukunft die Beiträge der Arbeitneh-mer und Arbeitgeber sowie Steuerzuschüsse an dieKrankenkassen über risikoadjustierte Prämien weiterge-geben werden sollen. Wir ersetzen also funktionierendeStrukturen durch ein neues System. Wir sind uns alle da-rin einig, dass die erste Aufgabe dabei ist, dass dieseneuen Strukturen auch funktionieren. Alles andere wäregrob fahrlässig und würde das bewährte System der ge-setzlichen Krankenkassen in seinem Bestand gefährden.

Die zweite Aufgabe ist, vor dem Hintergrund einerFinanzierungslücke von fast 7 Milliarden Euro bei denKrankenkassen eine verlässliche Finanzierung der Kran-kenkassen zu organisieren. Das stellt ganz klare Anfor-derungen an den Gesundheitsfonds:

Erstens. Alle Schulden der Krankenkassen müssen biszum Start des Fonds getilgt sein.

Zweitens. Der Fonds muss beim Start 100 Prozent deranfallenden Ausgaben abdecken können.

Drittens. Die Organisation muss so gewährleistet sein,dass der Beitragseinzug funktioniert.

Viertens. Der morbiditätsorientierte Risikostruktur-ausgleich muss gewährleistet sein.

Fünftens. Der Steuerzuschuss muss abgesichert sein.

Sonst droht statt eines Wettbewerbs um eine effizienteund gute Versorgung ein reiner Preiswettbewerb. Diesdarf nicht passieren.

Dies stellt aber auch Aufgaben an die Haushaltspoli-tik. Es ist schwierig zu erklären: In den Eckpunkten sa-gen wir, eine Steuerfinanzierung versicherungsfremderLeistungen sei notwendig. Gleichzeitig fahren wir ge-rade die Steuerfinanzierung trotz gestiegener Steuerein-nahmen zurück. Wir versuchen, bei den ArzneimittelnKosten zu sparen; gleichzeitig belasten wir als eines vonzwei europäischen Ländern, die auf Arzneimittel denvollen Mehrwertsteuersatz erheben, die Krankenkassengerade hier durch die Mehrwertsteuererhöhung.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wohl wahr! – Zuruf von der LINKEN: Ganz genau!)

Es ist uns allen bewusst, dass wir nicht mehr ausge-ben können, als wir haben. Wir müssen aber die Wirkun-gen des Haushalts und der Gesundheitsreform, wenn wirschon beides gleichzeitig im Bundestag beraten, gemein-sam betrachten, damit wir unsere Ziele und eine verläss-liche Finanzierung der Krankenkassen erreichen. Allesandere wäre für uns grob fahrlässig.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Nor-

bert Barthle, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Norbert Barthle (CDU/CSU): Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Als letzter Redner geht es häufig nach der De-vise: Es ist schon alles gesagt worden, nur noch nichtvon allen. Insofern ist es ganz gut, dass ich als Haushäl-ter zu diesem Thema sprechen darf und etwas zum Haus-halt sagen kann.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!Wir sind hier in einer Haushaltsdebatte! – Da-niel Bahr [Münster] [FDP]: Sie klären jetzt dieHaushaltsrisiken!)

Erlauben Sie mir einige wenige Vorbemerkungen.Den Auftritt der Senatorin Knake-Werner, die hier einelangweilige und inhaltlich falsche Rede

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]:Beides stimmt!)

gehalten hat, um Wahlkampf für die PDS in Berlin zubetreiben, und die schnell aus dem Plenum entschwun-den ist, noch bevor diese Debatte beendet ist, fand ichunglaublich.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und der FDP)

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Norbert Barthle

Da die PDS auf diese Art und Weise Wahlkampf macht,kann ich nur hoffen, dass die Berliner Wählerinnen undWähler dies entsprechend würdigen.

Frau Kollegin Bender, wir schätzen Sie alle. Wir wis-sen, dass Sie seit langer Zeit in diesem Metier tätig sind,und sprechen Ihnen Kompetenz zu. Sie haben hier eineRede gehalten, in der Sie den Eindruck erwecken, alshätten Sie nie etwas mit Gesundheitspolitik zu tun ge-habt. Das ist schon etwas eigenartig. Da sollten Sie sichan die Nase packen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Kollege Bahr, in Ihrer Rede haben Sie genau dasverstärkt, was Sie beklagen. Sie haben Verunsicherungbetrieben.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]:Überhaupt nicht!)

Denn Sie bauen Pappkameraden auf und argumentierengegen Dinge, die noch gar nicht entschieden sind. Wassoll das eigentlich?

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Daniel Bahr [Münster][FDP]: Das steht in den Eckpunkten!)

Ich wünsche mir von allen Beteiligten, dass in denDebatten die fixierten Eckpunkte nicht so interpretiertwerden, wie es der Opposition gerade ins Konzept passt,sondern dass man darüber an der Sache orientiert undauf der Basis der getroffenen Entscheidungen diskutiert.

Ich bin froh, dass die Frau Ministerin überwiegendzum Haushalt gesprochen hat. Das war wohltuend.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Auch ich möchte auf den Haushalt zu sprechen kommen.

Wenn man den durchlaufenden Posten „Zuschuss andie GKV“ abzieht, dann ist der Gesundheitsetat einkleiner und feiner Etat. 425 Millionen Euro bei einemGesamtvolumen des Bundeshaushalts in Höhe von267 Milliarden Euro bedeuten gerade einmal einen An-teil von 1,6 Promille. Mit diesen 1,6 Promille steuernund regeln wir einen Markt, in dem rund 240 MilliardenEuro umgesetzt werden. Das entspricht nahezu dem Vo-lumen des gesamten Bundeshaushalts. Das ist insgesamtgesehen nicht schlecht.

Wir betonen immer wieder, dass das Thema Gesund-heit die Menschen fundamental berührt. Deshalb ist esauch nachvollziehbar, dass so viele Debatten häufig mitgroßer Leidenschaftlichkeit und Aufgeregtheit geführtwerden. Die Weltgesundheitsorganisation definiert Ge-sundheit als den Zustand vollkommenen körperlichen,geistigen und sozialen Wohlbefindens. Gesundheit istalso nicht allein das Fehlen von Krankheiten und Gebre-chen. Nach dieser Definition bin ich häufiger krank, alsich es bisher wusste.

Diese Definition macht aber auch deutlich, wo dieSchwierigkeiten in diesem Metier liegen, nämlich in derunscharfen Abgrenzung von Krankheit und Gesundheit:Welche Maßnahmen und Leistungen tragen zur Gesund-heit bei und müssen erstattet werden? Bei diesem Thema

können wir künftig sicherlich noch viel Kreativität be-weisen. Der Beitrag des Kollegen Zöller hat dies schongezeigt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Lassen Sie mich auf die Frage zurückkommen, dieimmer wieder an uns gerichtet wird: Warum wird derZuschuss an die GKV innerhalb von zwei Jahren von4,2 Milliarden Euro auf null abgeschmolzen? Ganz ein-fach: Wir korrigieren einen Webfehler der Vorgängerre-gierung. Denn die pauschale Abgeltung versicherungs-fremder Leistungen der GKV, für die zwischen 2004 und2007 insgesamt 9,2 Milliarden Euro in die GKV geflos-sen sind, ging einher mit der schrittweisen Erhöhung derTabaksteuer. Aber nachdem sich Tanken für die Renteund Rauchen für die Gesundheit nicht als annähernd soerfolgreich, wie vom damaligen Finanzminister Eichelerwartet, herausgestellt haben, war es nachvollziehbar,dass man hier umsteuert. Deshalb fließen letztmals 20071,5 Milliarden Euro als Einnahme in die GKV.

Gleichzeitig aber schaffen wir den Einstieg in denSystemwechsel. Das ist die entscheidende Neuerung in-nerhalb des Gesundheitswesens. Denn zur Finanzierungder beitragsfreien Versicherung der Kinder in der GKVstellen wir nach heutiger Planung ab 2008 1,5 MilliardenEuro und ab 2009 3 Milliarden Euro zur Verfügung. DieKoalition ist sich auch darüber einig, dass dieser Betragweiter erhöht werden soll. Allerdings geht dies nur inStufen; das geht nicht auf einen Schlag.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Woher nehmen Sie das Geld, Herr Barthle?)

– Herr Kollege Bahr, ein Anfang wurde gemacht. Das istder entscheidende Punkt. Ein chinesisches Sprichwortbesagt: Auch der weiteste Weg beginnt mit dem erstenSchritt.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr! Das muss der Kollege Bahr noch begreifen!)

Deswegen ist es sehr richtig, es so zu machen.

Natürlich beklagen die Kassen diese Kürzung. Aberzur Wahrheit gehört eben auch, dass durch das Arzneimit-telversorgungs-Wirtschaftlichkeitsgesetz – ein kompli-zierter Name – eine Entlastung von 1,5 Milliarden Eurofür die Kassen pro Jahr erwartet werden darf. Im Jahre2009 kommen zu den 3 Milliarden Euro Steuerzuschussalso noch Einsparungen in Höhe von 1,5 Milliarden Eurohinzu. Mit diesen 4,5 Milliarden Euro ist die Kürzung um4,2 Milliarden Euro bereits im Jahre 2009 überkompen-siert. Auch das muss man zur Kenntnis nehmen.

Ich finde es übrigens schon bemerkenswert, dass esuns gelungen ist, innerhalb von zwei Jahren die Kürzungvon Steuermitteln in Höhe von 4,2 Milliarden Euro, dieals Zuschuss in ein soziales Sicherungssystem geflossensind, durch andere Maßnahmen auszugleichen. Das istetwas, was uns mancher Haushälter nicht zugetrauthätte.

Die zweite Frage, die immer wieder an uns herange-tragen wird, lautet: Warum wird eigentlich der Arbeit-geberbeitrag eingefroren und den Arbeitnehmern die

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Norbert Barthle

Mehrkosten aufgebürdet, wenn in diesem System mehrauf Steuerfinanzierung umgestellt werden soll?

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das macht ihr doch gar nicht!)

Ich sage klipp und klar: Die Entwicklung gebietet die-ses. Wir haben immer weniger sozialversicherungs-pflichtige Beschäftigte, auch wenn dieser Trend etwasumgedreht werden konnte. Langfristig wird es aber al-lein aufgrund der demografischen Entwicklung so sein,dass die Schere zwischen Beitragseinnahmen in den so-zialen Sicherungssystemen und dem Bruttoinlandspro-dukt immer weiter auseinandergeht. Deshalb ist es not-wendig, an dieser Stelle umzusteuern, um auch für denArbeitsmarkt Entlastung zu schaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Nebenbei bemerkt: Es geht hier auch immer um dieFrage, ob eine stärkere Steuerfinanzierung sozial ge-recht sei. Wir erfahren da immer wieder Kritik aus demlinken Teil des Hauses. Das, meine Damen und Herren,kann ich nicht verstehen. Bisher beteiligen sich am Soli-darausgleich innerhalb der GKV weitgehend die Versi-cherten, zum Teil auch die PKV-Versicherten. Finanzie-ren wir stärker über Steuermittel, dann gilt der Satz, dassstarke Schultern mehr tragen als schwache Schultern.Denn dann beteiligen sich aufgrund der Steuerprogres-sion die Gutverdiener überdurchschnittlich an diesemAusgleich. Dasselbe gilt für die Unternehmen, denn diebezahlen auch Steuern.

Was an diesem Vorgehen unsolidarisch sein soll, ent-zieht sich meiner Erkenntnis – im Gegenteil: Das ist So-lidarität der Starken mit den Schwachen im besten Sinnedes Wortes.

(Jörg Tauss [SPD]: Barthle macht linke Politik!)

– Nein, das ist sinnvolle Politik für die gesellschaftlicheEntwicklung von morgen.

Zu dem Vorwurf, dass sich die PKV-Versicherten stär-ker an dem GKV-Ausgleich beteiligen sollen, kann ichnur sagen: Meiner Ansicht nach ist die PKV-Versiche-rung ein gut funktionierendes System.

(Beifall des Abg. Daniel Bahr [Münster][FDP] – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Aber nur für die, die rein dürfen!)

Ein Rentnerehepaar, das 800 Euro pro Monat an Bei-trägen an die private Krankenversicherung bezahlt,würde bei einem Wechsel in die GKV 150 Euro bezah-len. Stellen Sie sich das so vor? Wenn es so ist, dannmüssen Sie das auch sagen.

Wir Haushälter haben in den anstehenden Beratungendie Aufgabe, diesen Bundeshaushalt sorgfältig durchzu-forsten. Es gibt sicherlich ein Thema, bei dem wir mitIhnen, Frau Ministerin, nicht ganz einig sind: Das sinddie Personalkosten. Ihr Haus hat sehr hohe Personal-kosten.

Wir Haushälter waren und sind uns einig, dass wirden Personalabbau kontinuierlich fortführen müssen.Dazu wird es notwendig sein, dass man nicht mehr mit

dem Rasenmäher Personal einspart, sondern dass mangezielt Aufgabenkritik betreibt, insbesondere in dennachgeordneten Behörden. Ich denke an DIMDI, anBZgA oder was auch immer. Da gibt es sicherlich nochdie eine oder andere Einsparmöglichkeit.

Ansonsten kann man zu dem Haushalt sagen: Die Mi-nisterin hat die Prävention hervorgehoben. Das ist dierichtige Weichenstellung. Da hat sich etwas verändert.Dazu stehen wir. Frau Ministerin, wir Haushälter stehenIhnen in fairer und vertrauensvoller Zusammenarbeit zurSeite, immer dann, wenn Sie Richtiges vorhaben. Fair-ness und Vertrauen bilden ohnehin die gute Basis füreine Zusammenarbeit.

Danke.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU undder SPD – Lachen beim BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Nachsatz ist wichtig!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.

Wir kommen deshalb zu dem Geschäftsbereich desBundesministeriums für Bildung und Forschung,Einzelplan 30. Das Wort hat die BundesministerinDr. Annette Schavan.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Bundes-regierung – das zeigt der Einzelplan 30 – hat die Kraftzur wirklichen Priorität für Bildung, Wissenschaft undForschung, weil wir, beide Regierungsfraktionen ge-meinsam, das als die Grundlage einer überzeugenden In-novationspolitik verstehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir investieren deutlich mehr Geld. Wir konzentrie-ren Kräfte. Wir optimieren Konzepte und stellen anwichtigen Stellen und bei wichtigen Themen die Wei-chen neu.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Hinter dem Einzelplan 30 steckt ein breites Spektruman Themen, die für die junge Generation von zentralerBedeutung sind und die wichtig sind mit Blick auf dieZukunftsfähigkeit unseres Landes. Das sind nämlichThemen, mit denen vielfältige Chancen, Potenziale undDynamik verbunden sind.

Der Haushalt verzeichnet gegenüber 2006 einenZuwachs von 500 Millionen Euro. Das entspricht 6,2 Pro-zent. Allein im Bereich Projektförderung konnten wir ei-nen Zuwachs um 14,4 Prozent auf 2,62 Milliarden Euroerreichen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wer von Ihnen erlebt hat, wie schwierig es in der Ver-gangenheit war, in diesem Bereich die notwendigen

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Bundesministerin Dr. Annette Schavan

Mittel aufzubringen, der weiß, welche Bedeutung die-sem 6-Milliarden-Programm im Rahmen des 25-Milliar-den-Investitionsprogramms, das wir in dieser Legislatur-periode aufgelegt haben, zukommt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Die Projekte, die hinter den Zahlen stehen, widerle-gen die Aussage von Frau Hajduk, wonach die Regie-rung die Umorientierung Richtung Forschung und Zu-kunft nicht leiste. Im Übrigen widerlegen sie auch dieAussage von Herrn Kuhn, dass wir – er bezog das aufdie berufliche Bildung – nicht konkret würden. Nein,dieser Haushalt zeigt: Wir werden sehr konkret. Dennwir sind davon überzeugt: Politik wird nicht durchSchlagzeilen gemacht. Politik wird vielmehr dort be-deutsam, wo wir unsere Ideen umsetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Im Bereich der beruflichen Bildung werden wir kon-kret. Ich weise Sie nur darauf hin, dass der Mittelzu-wachs 23 Prozent beträgt. Das macht Programme wie„Jobstarter – Für die Zukunft ausbilden“ möglich, dasmit 100 Millionen Euro gefördert wird. Eine weitereAufstockung der Fördermittel für dieses Programm auf125 Millionen Euro ist mit Blick auf ganz spezielle The-men im Bereich KMU – 10 000 Ausbildungsplätze fürJugendliche aus Migrantenfamilien, weitere 13 000 Aus-bildungsplätze für die neuen Länder – vorgesehen.

Im Herbst dieses Jahres werden wir spüren – das weißich aus den Gesprächen, die ich in den letzten Tagen ge-führt habe –, dass sich die besseren Wirtschaftsdatenauch auf den Ausbildungsmarkt auswirken. Damit trittgenau das ein, was wir in den vergangenen Jahren immerwieder gesagt haben. Aus der unmittelbaren Beziehungzwischen Arbeitsmarkt und Ausbildungsmarkt schließendie Experten in den letzten Tagen, dass wir in diesemJahr voraussichtlich deutlich mehr Ausbildungsplätzezur Verfügung haben als im letzten Ausbildungsjahr.Auch das ist ein wichtiges Signal an die jungen Leute inDeutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wir werden konkret im „Hochschulpakt“, der „Excel-lenzinitiative“ und im „Pakt für Forschung und Innova-tion“. Wenn Sie die Mittel, die im Haushalt bereitgestelltwurden, was im Haushalt schon drinsteckt und das, wasseitens der Länder investiert wird, zusammenzählen,dann merken Sie, dass das für die universitäre und dieaußeruniversitäre Forschung in den nächsten Jahren ei-nen wirklichen Schub bedeutet.

Wir werden konkret in der Hightechstrategie. Wirwerden noch Gelegenheit haben, in diesem HohenHause ausführlich darüber zu diskutieren. Ich glaube,wir haben auch auf diesem Gebiet gemeinsam etwas ein-gelöst, was seit vielen Jahren in Deutschland diskutiertwird. Die Frage war: Wie muss eine forschungspoliti-sche Strategie aussehen, in deren Fokus die Entwicklungneuer Produkte, Strategien, Dienstleistungen und Ver-fahren steht?

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Ich danke allen, die daran mitgewirkt haben.

Das, was heute vorliegt, ist nicht das Ende. Es ist viel-mehr das Drehbuch. Es enthält alle Details, eine klareStärken- und Schwächenanalyse, klare Zieldefinitionen,einen Zeitplan und einen Investitionsplan. Diese Regie-rung und die sie tragenden Fraktionen setzen dafür15 Milliarden Euro ein. Das ist ein neues Kapitel der In-novationspolitik in Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Wir werden konkret im Bereich der Weiterbildungund der Bildungsforschung und den Geisteswissenschaf-ten. Im Bereich der Weiterbildung werden wir in dennächsten Monaten – das ist ein erstes Ergebnis des Inno-vationskreises – das Thema Grundbildung angehen undeine Reihe von Einzelaktivitäten zur klareren Erfassungvon Standards der Grundbildung unterstützen. Es gehtdabei um Alphabetisierungskonzepte, die damit ver-bundene Didaktik und die damit wiederum verbundeneAusbildung. Angesichts von 4 Millionen funktionellenAnalphabeten müssen wir sehr viele konkrete Fragenstellen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wir nehmen Verantwortung wahr. Wir werdenkonkret und leisten damit unseren Beitrag in Europa zum3-Prozent-Ziel. Denn wir wollen nicht zuletzt mit Blickauf die europäische Präsidentschaft Deutschlands imnächsten Jahr Motor für den Forschungsstandort Europawerden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Lassen Sie mich abschließend ein Thema aufgreifen,das auch zu diesem Einzelplan gehört. Es geht um dieLebenswissenschaften. Dazu sage ich mit der gleichenLeidenschaft: Auch hier nehmen wir in Europa Verant-wortung wahr. Es geht um eine gute Balance zwischenForschung und Forschungsfreiheit auf der einen Seiteund unseren Pflichten und Überzeugungen im Bereichdes Lebensschutzes auf der anderen Seite. Ich sprechedamit die im 7. Forschungsrahmenprogramm geplantenVerfahren und die Beratungen zur Stammzellforschungan. Ich sage ganz deutlich: Ich lehne es ab, embryonaleStammzellforschung zum Lackmustest für Forschungs-freundlichkeit in Deutschland zu machen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zweitens. Deutschland ist bei der Stammzellfor-schung in der Weltspitze.

(Ulrike Flach [FDP]: Das nützt nichts!)

Niemand soll uns weismachen, dass man, wenn man inFragen der embryonalen Stammzellforschung mit einemStichtag arbeitet, nicht mehr wettbewerbsfähig sei. Dasist schlicht falsch.

Drittens. Wir haben in der Diskussion über das7. Forschungsrahmenprogramm, nachdem das Europäi-sche Parlament, wie ich finde, fälschlicherweise be-

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Bundesministerin Dr. Annette Schavan

schlossen hat, dass sämtliche bioethische Regelungennicht mehr in ein spezifisches Programm genommenwerden, sondern in das eigentliche Forschungsrahmen-programm – das ist etwas, was der Ministerrat nichtmehr ändern konnte

(Cornelia Pieper [FDP]: Vielleicht auch nicht wollte!)

und nun nicht mehr ändern wird –, ein viertes Verbotdurchgesetzt. Die Kommission erklärt sich in einer Pro-tokollerklärung verbindlich dazu, keine Projekte zur Fi-nanzierung aus EU-Mitteln vorzulegen, in denenmenschliche Embryonen für die Gewinnung von embry-onalen Stammzellen vernichtet werden müssen. Damitsind wir ein Stück weiter, wenngleich – das sage ich al-len Kritikern; es gibt jetzt Kritiker von beiden Seiten –mir ein europäischer Stichtag lieber gewesen wäre. Erwar nicht durchsetzbar. Es wurde aber mehr Lebens-schutz als im 6. Forschungsrahmenprogramm erreicht.

Zugleich wurde in diesen Debatten sehr deutlich, dassfür Europa wie für Deutschland gilt: Wir dürfen nichtnur dieses Segment sehen. Wir müssen die ganze Band-breite sehen. Wir investieren in die vielfältige Forschungmit adulten Stammzellen und in viele erfolgreiche Pro-jekte in Deutschland, vor allem in der Entwicklungsbio-logie.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Bundeskanzlerin hat gestern davon gesprochen,dass Leitlinie unserer Regierungspolitik sein muss,Zukunft nicht zu verbrauchen. Im Einzelplan 30 steckenviele Chancen, Zukunft nicht zu verbrauchen, sondernauf Zukunft vorzubereiten, vor allem mit Blick auf dienächste Generation, aber eben auch mit Blick auf die In-novationsfähigkeit Deutschlands.

Ich danke allen Mitgliedern des Haushaltsausschussesund unseres Fachausschusses sehr für die bisherige guteBeratung. Ich danke vor allen Dingen den Kolleginnenund Kollegen aus den Regierungsfraktionen für die Un-terstützung bis hierher, nicht nur in dieser Haushaltsbe-ratung, sondern auch bei allen damit verbundenen Pro-jekten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat die Kollegin Ulrike Flach, FDP-Frak-

tion.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Norbert Barthle [CDU/CSU])

Ulrike Flach (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Bei kaum einem anderen Thema sind sich zumindestoberflächlich alle in diesem Lande so einig, dass wir in-vestieren und etwas machen müssen, wie bei dem gro-ßen Thema Bildung, Forschung und Innovation und beidem Ziel, das wir alle haben, nämlich 3 Prozent desBruttoinlandproduktes für diesen Bereich auszugeben.

Insofern, Frau Schavan, muss ich an dieser Stelle sa-gen, obwohl dies der Opposition manchmal schwer fällt:Sie sind deutlich weiter auf dieses Ziel zugegangen alsIhre Vorgängerin. Sie haben diesen Haushalt eindeutigverbessert.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sie machen auch – das muss man als FDP sehen; voreinem halben Jahr haben wir noch darüber gesprochen– zumindest den Versuch, die klassischen rot-grünenFelder – Hätschelkinder wie das schöne Thema „Chan-cengleichheit der Frauen“ und die „Deutsche StiftungFriedensforschung“ – zu kürzen und Titel, die wir, dieFDP, immer für wichtig gehalten haben, kräftig zu erhö-hen. Das betrifft zum Beispiel die naturwissenschaftlicheGrundlagenforschung, die IuK-Technologie und die For-schung an den Fachhochschulen.

Ich bin allerdings gespannt, ob Sie sich im Kreise derCDU/CSU durchsetzen werden. Ich erinnere mich nochsehr gut, dass die Friedensforschung bereits im letztenEntwurf dieses Etats zunächst gestrichen worden war,dass sie dann allerdings doch wieder aufgenommenwurde.

(Jörg Tauss [SPD]: Ja, die ist schon wiederdrin! – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ge-nau! Die ist auch jetzt wieder drin! Aber nurum des Friedens willen!)

Wir kennen das berühmte strucksche Gesetz. Es kommtvieles in das Parlament hinein. Wir wollen einmal sehen,wie es wieder herauskommt. Ich vermute, an dieserStelle werden Sie Schwierigkeiten bekommen.

Wir halten es für richtig, dass Sie auf dem Weg sind,die Akademien zu einer schlagkräftigen Organisationzusammenzuführen. Nur, Frau Schavan – nehmen Siemir das nicht übel –: Das Ganze als „Konzil“ zu bezeich-nen, das ist bei aller Liebe eher ein Hinweis darauf, auswelchem beruflichen Bereich Sie kommen, hat aber we-niger etwas Zukunftsfähiges. Übrigens finde ich es sehrerstaunlich, dass die Damen und Herren der SPD diesenBegriff mittragen.

(Jörg Tauss [SPD]: Der Geist und wir gehören zusammen!)

Leider enden an dieser Stelle die Freundlichkeiten derFDP. Frau Pieper wird gleich sicherlich noch einigehandfeste Ausführungen zu diesen Aspekten machen.Wenn man Ihren Etat betrachtet, findet man darin, be-gleitet von der Hightechbroschüre, die Sie uns vorgelegthaben, sehr viele schöne Worte und sehr viel Hochglanz.Aber im Großen und Ganzen handelt es sich dabei, wasIhre Ziele angeht, um die Nebel von Avalon.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

An dieser Stelle will ich auf einen weiteren Punkt zusprechen kommen: die Sicherheitsforschung. Ich erin-nere mich noch an die Zeiten, als ich im Forschungsaus-schuss für genau dieses Thema kämpfte. Wie ich sehe,nickt Frau Burchardt begeistert. Wir beide waren näm-lich immer völlig gegensätzlicher Meinung; die SPD war

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Ulrike Flach

damals leider auf Ihrer Seite. Vor kurzem habe ich aller-dings den Medien entnommen, dass Sie im Novemberdieses Jahres endlich ein Projekt zu diesem Thema vor-stellen wollen. Dafür nehmen Sie 12 Millionen Euro indie Hand.

Ich bin gespannt, Frau Schavan, was dabei heraus-kommt. Denn ich glaube nicht, dass die große Koalitionin dieser Frage so stark zusammenhalten wird, dass SieIhre Vorstellungen tatsächlich werden umsetzen können.

(Jörg Tauss [SPD]: Wie kommen Sie denn da-rauf, Frau Flach? – Ilse Aigner [CDU/CSU]:Doch, doch!)

Sollte es dennoch so sein, Herr Tauss, wird die FDP dieerste Fraktion sein, die Ihnen zustimmt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – JörgTauss [SPD]: Dann stimmen Sie ruhig schoneinmal zu!)

Es gibt noch ein weiteres sehr wichtiges Thema, daswir Haushälter mit großem Interesse beobachten: denHochschulpakt.

(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Oh ja! Ein ganz spannendes Thema istdas!)

Uns interessieren vor allem die Fragen: Wie geht dasGanze weiter? Was passiert eigentlich mit den berühm-ten Overheadkosten? Ich entnehme den Diskussionen,die die Staatssekretäre am gestrigen Tage geführt haben,dass sich bei diesem Thema wieder nichts bewegt hat.

Frau Pieper und ich hatten plötzlich ein Déjà-vu.

(Cornelia Pieper [FDP]: Stimmt!)

Denn das Gleiche haben wir, als Frau Bulmahn Ministe-rin war, unzählige Male erlebt. Offensichtlich sind dieVerantwortlichen der Länder wieder einmal stärker alsdie Verhandlungsführer des Bundes.

(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Da warten wir doch erst einmal ab!)

Offensichtlich ist es immer wieder das gleiche Spielchen– das richtet sich insbesondere an die Kolleginnen undKollegen der SPD –: Der Föderalismus führt dazu, dassman gerne und ausführlich diskutiert. Dann geht mannach Hause und nichts ist dabei herausgekommen.

(Beifall bei der FDP – Ilse Aigner [CDU/CSU]: Stimmt ja gar nicht!)

Daher, Frau Schavan, sage ich Ihnen: Wenn Sie andieser Stelle nicht nachsteuern, wird der Hochschulpaktwahrscheinlich in die Binsen gehen. Zumindest wird ersich nicht so entwickeln, wie wir es uns erhoffen.

(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sie mei-nen wohl: wie sich das die FDP erhofft! – Ni-colette Kressl [SPD]: Deshalb wollen Sie es jaauch nicht!)

Nun möchte ich noch auf einen anderen Aspekt hin-weisen: Die Helmholtz-Gemeinschaft hat in den letzten

Monaten zu Recht überlegt, was sie mit ihrenForschungszentren in Jülich und Karlsruhe macht.Hier wird erneut deutlich, dass Sie mit den Ländernnicht zurechtkommen.

(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Was? Wie kommen Sie denn darauf?)

In wenigen Tagen findet eine Feierstunde statt, in de-ren Rahmen Ministerpräsident Rüttgers zu diesemThema sprechen wird. Die Helmholtz-Gemeinschaftmöchte in Jülich in Zusammenarbeit mit dem StandortAachen ein High Performance Computing Center, sozu-sagen eine Research School, eröffnen. Aber, Frau Scha-van, es fehlt Geld. Bitte nehmen Sie von dem Aufwuchsin Ihrem Etat 1,2 Millionen Euro in die Hand und drän-gen Sie den Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, das Gleiche zu tun.

(Jörg Tauss [SPD]: Dort ist doch HerrPinkwart Ihr Zukunftsminister! Sie sind ja put-zig! – Klaus Hagemann [SPD]: Sie sind dortdoch in der Regierung!)

Das dortige Wissenschaftsministerium tut das.

(Beifall bei der FDP)

An dieser Stelle muss man eines sagen: Koalitionenmüssen zusammenhalten und das tun, was sie auch vorder Wahl tun wollten: das Land nach vorne bringen. Hierhaben Sie die Möglichkeit, einen Leuchtturm zu setzen,der deutlich über das hinausgeht, was Sie uns in IhrerBroschüre schriftlich darzustellen versucht haben.

(Beifall bei der FDP)

Lassen Sie mich zum Abschluss – Frau Pieper wirdgleich noch auf viele andere Aspekte eingehen – einWort zum Thema Stammzellforschung sagen. In Brüsselhaben Sie im Prinzip eine Niederlage erlitten. Wir sindsehr froh darüber, dass Sie diese Niederlage erlitten ha-ben. Natürlich sind wir nicht froh über das, was im Mo-ment hier abläuft, und wir sind auch nicht froh über dieSignale, die aus dem Forschungsministerium im Hin-blick auf die Stammzellforschung herauskommen. Ichsage an dieser Stelle noch einmal sehr deutlich – auch inRichtung Kollegin Sitte –: Wir werden in den nächstenTagen erneut eine Mehrheit in diesem Parlament zu fin-den versuchen,

(Jörg Tauss [SPD]: Mit der Kollegin Sitte?)

um zumindest den Stammzellstichtag, den wir brauchen,damit unsere Forscher vorankommen, durchzusetzen.Wir wollen keine Kriminalisierung in diesem Lande.

(Beifall bei der FDP)

Wir werden das auch gegen Ihren erklärten Willendurchkämpfen, Frau Schavan. Deswegen glaube ich, wirwerden über dieses Thema noch viele anregende Diskus-sionen führen. Im Endeffekt muss etwas herauskommen,was gut für die Forscher ist und gut für dieses Land.

(Beifall bei der FDP)

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4671

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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Klaus Hagemann,

SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Klaus Hagemann (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Flach,lassen Sie mich zu Ihrer Bitte an die Frau Ministerin, dieMaßnahme in Jülich zu unterstützen, spontan bemerken:Sie müssen als FDP einen schwachen Stand in der Koali-tion in Nordrhein-Westfalen haben, wenn Sie die Bun-desministerin bitten müssen, eine Maßnahme in NRW zuunterstützen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und derCDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Nur Mut, FrauFlach!)

Das beweist mir jedenfalls Ihre Sorge.

Mehr Sorgen bereitet mir in diesem Zusammenhangdas Folgende: Wir haben Ende vergangenen Jahres eineMenge Geld – Verpflichtungsermächtigungen im Um-fang von 586 Millionen Euro – für die Beseitigung vonAtomabfällen von Forschungsreaktoren bewilligt. Dochjetzt zeigt sich, dass auch das nicht ausreicht, dass wei-tere erhebliche Belastungen auf die öffentliche Hand zu-kommen.

(Jörg Tauss [SPD]: Eure Kernkraft! – UlrikeFlach [FDP]: Das war gestern, Herr Hage-mann! Hier geht es um morgen!)

Das macht deutlich, dass die Kernkraft nicht so billig ist,wie es die Atomwirtschaft und die FDP immer darstel-len, Frau Flach.

(Beifall bei der SPD)

Bei der gestrigen Diskussion über den Einzelplan 04– Kanzleramt – hieß es – Frau Ministerin hat es schondargelegt –: Die Zukunft nicht verbrauchen. Wir be-schäftigen uns heute beim Einzelplan 30 mit dem Ge-genteil: Wie gestalten, wie schaffen wir Zukunft und wiesichern wir die Zukunft mit den Mitteln der Gegenwart?

(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Wir haben hierfür in der Vergangenheit unter der Füh-rung der SPD im Bundesministerium für Bildung undForschung gute Voraussetzungen geschaffen, damitdiese Bemühungen weitergehen können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das Ganztagsschulprogramm läuft sehr gut. Die entspre-chenden Mittel werden jetzt auch von den südlichenBundesländern abgerufen. Auch die Exzellenzinitiative,um die wir lange gekämpft haben und bei der wir schonwesentlich weiter sein könnten, läuft jetzt gut. Ferner seider Pakt für Forschung und Innovation erwähnt; entspre-chende Steigerungen sind vorgesehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Jetzt ist die SPD an der großen Koalition beteiligt undwir können einen weiteren Aufwuchs feststellen, den wirmit den zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützenkönnen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Insgesamt haben wir für Forschung und Bildung, wennman die Mittel aus allen Einzelplänen zusammenrechnet,rund 12 Milliarden Euro vorgesehen. 8,5 Milliarden Eurodavon sind im Einzelplan 30 des Ministeriums für For-schung und Bildung vorgesehen. 850 Millionen Euroentfallen auf das Ganztagsschulprogramm, 3 MilliardenEuro sind in den übrigen Einzelplänen vorgesehen. Pro-zentual haben wir eine Steigerung von 6,2 Prozent, wäh-rend der Gesamthaushalt nur um 0,2 Prozent wächst.Das sind Zukunftsinvestitionen in Forschung und Ent-wicklung.

Wenn man mit den Verantwortlichen der Forschungs-organisationen redet, sagen sie: Deutschland ist ein guterForschungsstandort,

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

aber es müssen mehr Anstrengungen unternommen wer-den. Es sind mehr Anstrengungen erforderlich, um denStandard erhalten und verbessern zu können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Cornelia Pieper [FDP]: Sie sagen es!)

Die Bundesrepublik Deutschland wendet2,52 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschungund Entwicklung auf, während es im EU-25-Durch-schnitt 1,82 Prozent sind. Wir könnten sagen: Wir liegendeutlich vorne, wir können uns zurücklehnen.

(Ilse Aigner [CDU/CSU]: Nein!)

– Richtig, liebe Kollegin Aigner. Das können wir nicht,wir müssen noch weiter voran.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Schauen wir uns die Zahlen der USA an. Dort ist esetwas mehr, nämlich 2,6 Prozent. In Japan sind es3,1 Prozent. Dieses Ziel müssen auch wir anstreben.Deswegen hat die Koalition gemeinsam ein Programmaufgelegt, um dieses 3-Prozent-Ziel zu erreichen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Die Koalition hat vereinbart, 6 Milliarden Euro fürdie Forschung zusätzlich zur Verfügung zu stellen. FrauFlach, mit diesem 6-Milliarden-Euro-Programm werdeneben nicht nur bunte Broschüren mit schönen Bildchenauf Hochglanzpapier gedruckt – Informationen sind abernotwendig –, sondern wir haben die 6 Milliarden Eurofür die nächsten Jahre obendrauf gepackt und die Mittelfür die einzelnen Programme deutlich erhöht. Das ist derrichtige Weg, den wir auch konsequent weitergehen wer-den. So viel Kritik haben Sie hier ja auch gar nicht ge-übt.

4672 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006

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Klaus Hagemann

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Ul-rike Flach [FDP]: Was machen Sie eigentlich2010?)

Frau Ministerin, ich möchte noch einmal unser star-kes Interesse anmelden: Wir vom Haushaltsausschuss– ich kann hier für meine Fraktion reden – möchten wei-terhin beteiligt werden und wissen, was im Einzelnengeschieht. Deshalb bitten wir um die notwendige Be-richterstattung. Wir sind froh, dass es im Rahmen dieserForschungsinitiative, wie ich glaube, zum ersten Mal ge-lungen ist, einen abgestimmten Plan und ein abgestimm-tes Konzept über die Ressortgrenzen hinaus vorzulegen.Ich sage es noch einmal: Wir wollen auch weiterhin be-teiligt sein und informiert werden.

Wir bitten Sie, immer wieder eine Art Evaluierungs-bericht vorzulegen, aus dem hervorgeht, wohin die Mit-tel geflossen sind, wofür sie verwendet worden sind, wieviel Geld wohin gegeben worden ist und wer von diesenMitteln profitiert. Diese Fragen werden wir im Fachaus-schuss immer wieder stellen, damit wir über die Verwen-dung informiert werden. Wir bitten in diesem Zusam-menhang auch darum, die Mittel jetzt schnellherauszugeben, damit mit ihnen gearbeitet werden kann;denn die Zeit drängt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach derVereinbarung ist vorgesehen, dass sowohl der Bund– darüber habe ich gesprochen – als auch die Länder unddie Wirtschaft ihre Anteile leisten müssen;

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

denn nicht nur der Bund ist hier mit einem halben Pro-zent gefordert, sondern natürlich sind auch die Ländermit einem halben Prozent gefordert, während die Wirt-schaft mit zwei Prozent beteiligt ist. Hinter vorgehalte-ner Hand hört man immer wieder, dass sowohl die Län-der als auch die Wirtschaft Probleme haben werden, ihreZiele zu erreichen.

(Ulrike Flach [FDP]: Auch die SPD-regierten Länder, Herr Hagemann?)

Hier muss der notwendige Druck von Ihnen und von derKanzlerin auch auf die Wirtschaft erfolgen, damit dasgemeinsam vereinbarte Ziel erreicht werden kann.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Jörg van Essen [FDP]: SieStaatsfetischist!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Kröning?

Klaus Hagemann (SPD): Ja.

Volker Kröning (SPD): Herr Hagemann, Sie haben die Stichwörter 3-Prozent-

Strategie und Aufteilung zwischen den staatlichen Ebe-nen und der Wirtschaft angesprochen. Können Sie demPlenum und insbesondere auch der Bundesministerin be-

stätigen, dass der Haushaltsausschuss vor der Sommer-pause darum gebeten hat, dass bis zur Mitte der Som-merpause Nachweis darüber geführt wird, dass und vorallen Dingen auch wie das geschieht, damit die 3-Pro-zent-Strategie bis 2010 aufgeht? Können Sie dem Hauseauch bestätigen, dass dieser Nachweis durch die Bundes-regierung bisher nicht geführt worden ist und dass unsdas bei den Beratungen über die Einzelpläne beschäfti-gen wird?

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Klaus Hagemann (SPD): Herr Kollege Kröning, ich kann das bestätigen. Wir

haben uns ja schon öfter darüber unterhalten, zumal jaauch große Teile im Einzelplan des Wirtschaftsministeri-ums enthalten sind. Ich habe auch noch einmal die Bittean die Regierung gerichtet, dass wir als Haushaltsaus-schuss stärker in die Berichterstattung und in die Evalu-ierung einbezogen werden und dass uns die Ergebnissevorgelegt werden. Ich wiederhole und mache deutlich:Die Fragen, wofür die Mittel verwendet worden sind,wie viele Mittel zur Verfügung gestellt wurden und werdavon profitiert, müssen beantwortet werden. Das ist un-ser Ziel und darum bitten wir Sie. Verehrter KollegeKröning, deswegen kann ich Ihre Fragen mit Ja beant-worten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesenProgrammen werden natürlich auch die Forschungsprä-mien für kleine und mittlere Unternehmen erwähnt;denn 40 Prozent der Unternehmen – so ist zu vernehmen –lassen im Ausland forschen. Wir sollten dafür sorgen,dass diese Forschungen in den Fachhochschulen undUniversitäten unseres Landes erfolgen. Der Gedanken-ansatz ist sicherlich interessant. Uns interessiert jetztnur, wie dies konkret ausgestaltet werden soll,

(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das interessiert uns auch!)

wie der Mehrwert entstehen soll, damit es nicht zu Mit-nahmeeffekten kommt, sondern zusätzliche Leistungenin der Forschung erbracht werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt interessante Ansätze der Hochschulrektoren-konferenz. Sie schlägt vor, den Fachhochschulen mehrGeld für die Forschung zur Verfügung zu stellen, undzwar zusätzlich zu dem Geld, das – Frau Ministerin, wirfinden das sehr positiv – für das Programm FH³ zur Ver-fügung gestellt wird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Frau Schavan hat die Anregung der DFG aufgegrif-fen, eine Vollkostenfinanzierung zu gewährleisten, so-dass nicht nur die Projektkosten, sondern auch die allge-meinen Kosten, die Verwaltungskosten bezuschusstwerden. Darüber sollten wir nachdenken. Wir solltenaber auch darlegen: Es darf nicht sein, dass nur der Bundseinen Anteil erhöht und die Länder ihren Anteil zurück-fahren.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4673

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Klaus Hagemann

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ilse Aig-ner [CDU/CSU])

Es muss nachgewiesen werden, dass hier mehr Geld zurVerfügung gestellt wird. Das ist sicherlich der entschei-dende Punkt. Gerade bei den Overheadkosten bitte ich,dies zu berücksichtigen. Bevor wir das Programm begin-nen, sollte das Ministerium entsprechende Vorlagen prä-sentieren.

Goethe hat in seinem Werk „Wilhelm Meisters Wan-derjahre“ formuliert:

Es ist nicht genug, zu wissen, man muss auch an-wenden; …

Er hat die Entwicklungen, die sich heute vollziehen, gutvorausgesehen. Wenn der Bund, die Länder, die öffentli-che Hand erhebliche Mittel für die Forschung zur Ver-fügung stellen, müssen wir uns fragen, welche Produktedamit entwickelt werden, wie viele neue Arbeitsplätzeund Ausbildungsplätze entstehen.

Wir erinnern uns an das negative Beispiel des MP3-Players. Er wurde von einer deutschen Forschungsorga-nisation, der Fraunhofer-Gesellschaft, entwickelt. DerWirtschaft wurde angeboten, ihn zu produzieren. Leiderwar kein deutsches Unternehmen bereit, dies zu tun.Man ist dann nach Amerika gegangen. Die dortige Wirt-schaft ist das Risiko eingegangen. Dort sind die Arbeits-plätze geschaffen worden, dort wird produziert. Geradedieses Beispiel ist abschreckend. Mit dem 6-Milliarden-Euro-Programm wollen wir erreichen, dass so etwasnicht noch einmal geschieht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: UnfähigeWirtschaft!)

Im Einzelplan 30 beschäftigen wir uns mit der Frage,wie wir die Zukunft gestalten wollen. Natürlich brau-chen wir auch dafür gut ausgebildete Wissenschaftler.Deswegen gilt es, auch über die Lehre nachzudenken.Dank der Bemühungen insbesondere meines KollegenTauss ist es im Rahmen der Verfassungsreform gelun-gen, dass die Länder bereit sind, Gelder des Bundes an-zunehmen.

(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])

Entsprechende Regelungen sind bei der Reform desGrundgesetzes getroffen worden. Die Annahme der Gel-der wird auch durch den Hochschulpakt 2020 gewähr-leistet.

Der erste Ansatz beträgt 160 Millionen Euro. Wirkönnen in der mittelfristigen Finanzplanung eine stei-gende Tendenz feststellen. Hinzu kommen die Mittel ausdem Hochschulbauprogramm. Frau Ministerin, unsererMeinung nach kann eine Freigabe der Mittel erst erfol-gen, wenn konkrete Vorlagen da sind. Hier sind zunächsteinmal die Länder gefordert, sich untereinander abzu-stimmen. Sie müssen ein abgestimmtes Konzept zu derFrage, was sie wollen, vorlegen. Das geht uns hier im

Bundestag weniger an. Interessant ist, dass sich die Län-der jetzt mit 16 : 0 einigen müssen. Das heißt, sie sindgezwungen, eine gemeinsame Vorlage zu erarbeiten.

(Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Ein echter Fortschritt!)

Eine gerechte Verteilung der Finanzlasten der Län-der entsprechend dem Anteil der Studierenden ist unse-rer Meinung nach dringend erforderlich.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – UlrikeFlach [FDP]: Da müssen sie sich erst einmaleinigen!)

Investitionsmittel des Bundes kann es meiner Ansichtnach nur geben, wenn die Länder – das ist wichtig – zu-sätzliche Studienplätze schaffen und sie finanzieren. Dasmöchte ich deutlich herausstellen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Im Entschließungsantrag der CDU/CSU und SPD zurGrundgesetzänderung auf Drucksache 16/2052 heißt es:Eine quantitative Steigerung der Zulassungszahlen istnotwendig. Daran sollten wir uns orientieren. Wir solltenauch sehen, dass die Studierendenzahlen in den nächstenJahren um 25 bis 30 Prozent ansteigen werden. Deswe-gen ist schnelles Handeln erforderlich.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich fasse zusammen: Notwendig sind aus meinerSicht die Freigabe der Mittel, ein klares und faires Kon-zept und Vereinbarungen zwischen den Ländern. DieAufgabenverteilung muss gerecht erfolgen und auchzwischen Bund und Ländern müssen entsprechende Ver-einbarungen getroffen werden.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Klaus Hagemann (SPD): Vielen Dank, Frau Präsidentin.

Ich komme zum Schluss. Ich denke, dass wir sowohldurch den Hochschulpakt als auch durch die Erhöhungder Mittel für Stipendien und ein sicheres BAföG derjungen Generation demonstrieren können, dass wir Inte-resse daran haben, ihre Zukunft zu sichern und zu gestal-ten, und dass nicht nur Interesse bei einigen Ländern be-steht, durch Studiengebühren bei den Studentenabzukassieren. In diesem Sinne hoffe ich auf gute Bera-tungen im Ausschuss.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat die Kollegin Petra Sitte, Fraktion Die

Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

4674 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006

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Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das

Bundesministerium für Bildung und Forschung nimmtmit einer Etathöhe von 8,25 Milliarden Euro den fünftenRang unter den Einzelhaushalten ein. Höhere Etats sindfür Arbeit und Soziales, für die Bundesschuld, für Ver-kehr und Bau und für das Verteidigungsministerium ver-anschlagt.

Im Koalitionsvertrag wurden Bildung und Wissen-schaft als „Schlüssel zur Zukunft“ bezeichnet. Für Bil-dung und Wissenschaft gibt diese Regierung in derSumme aber nur ein Drittel des Verteidigungshaushaltesaus.

(Beifall bei der LINKEN)

Es liegt klar auf der Hand: Diese Entwicklung geht indie falsche Richtung.

Gemessen an den zivilisatorischen Herausforderun-gen müsste das Haushaltsvolumen für Bildung und For-schung eigentlich wesentlich höher sein.

(Ilse Aigner [CDU/CSU]: Wie war das denn in der DDR?)

Wie sonst, wenn nicht durch Bildung, Wissenschaft undWirtschaft werden wichtige Grundlagen der Gesellschaftkonditioniert? Haushalt ist eben ein Bestandteil von Ge-sellschaftspolitik. Die soziale Frage ist nicht mehr vonBildungs- und Wissenschaftspolitik zu trennen. Deswe-gen muss ein Haushalt auch Ungleichheiten abbauen. Ermuss dazu beitragen, dass viele in dieser Republik ansolchen gesellschaftlichen Ressourcen wie Bildung undArbeit teilhaben können.

(Beifall bei der LINKEN)

Im jüngsten Bericht zur technologischen Leistungsfä-higkeit Deutschlands wird gefordert, dass Bund undLänder in Vorlage gehen. Darin heißt es:

Die grüne Welle für Forschung und Technologie,Bildung und Wissenschaft in den öffentlichenHaushalten ist nicht nur auf dem Papier festzu-schreiben, sondern konsequent in der notwendigenUmschichtung der öffentlichen Haushalte vonBund und Ländern umzusetzen.

Die Steigerungen der Ausgaben für Bildung und For-schung in diesem Haushalt – so begrüßenswert sie alle-mal sind – bleiben nicht nur hinter dem Wünschenswer-ten, sondern auch hinter den Erfordernissen zurück.

(Beifall bei der LINKEN)

Eines muss deutlich gesagt werden: Die aktuelle Aus-gabensteigerung kompensiert zunächst nur den Rück-gang der staatlichen Forschungsbeteiligung frühererJahre. Der Anteil des Staates an der Forschungsfinanzie-rung ging nämlich in den Jahren 1995 bis 2004 von37,9 Prozent auf 30,4 Prozent zurück. Die angekündig-ten 6 Milliarden Euro für zukunftsträchtige Forschungs-und Entwicklungsinvestitionen sind also nicht wirklichzusätzliches Geld.

Anlässlich dieses Programms sagte die Bundesfor-schungsministerin – ich zitiere –:

Bildung und Forschung werden in Deutschland dieneue Gerechtigkeit schaffen.

Ich zitiere weiter:

Mit einer ausgezeichneten Bildung für alle Men-schen schaffen wir die neue Gerechtigkeit.

(Beifall bei der SPD – Jörg Tauss [SPD], andie CDU/CSU gewandt: Guter Satz! Sie kön-nen klatschen! Es war Frau Schavan!)

Da höre ich im Übrigen auch die Vorsitzende der CDU-Grundsatzkommission heraus.

Es wird Sie also nicht wundern, wenn wir an dieserStelle die Frage stellen, welche bildungs- und for-schungspolitischen Weichenstellungen konkret in Rich-tung einer ausgezeichneten Bildungssituation gestelltwerden. Wie steht es um die Referenzprojekte der so ge-nannten neuen Gerechtigkeit?

Ich komme als erstes zur Föderalismusreform, der„Mutter aller Reformen“, wie es der Ministerpräsidentaus Bayern in der ihm eigenen Bescheidenheit formu-lierte. Die Föderalismusreform ist beschlossene Sache.Von allen Seiten unbestritten wird deutlich angemahntund beklagt, dass der Bund in der Bildungspolitik we-sentliche Kompetenzen verloren hat. Die gemeinsameBildungsplanung ist stark beschnitten. Das Ganztags-schulprogramm als beispielgebender bildungspoliti-scher Impuls wäre künftig nicht mehr möglich, weil Sieein Kooperationsverbot verankert haben. Die Abschaf-fung der Gesetzgebungskompetenz für das Hochschul-rahmengesetz verhindert künftig bundesweit geltendeMindestregelungen über Ziele und Aufgaben von Hoch-schulen.

(Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Man merktschon ein bisschen, dass Sie aus einem zentra-listischen System kommen!)

– Nein, mein Guter, daran ganz bestimmt nicht.

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)

Die Abweichungsmöglichkeiten der Bundesländer imBereich der Hochschulzulassung und Hochschulab-schlüsse werden die Mobilität der Studierenden ein-schränken. Die millionenschwere Gemeinschaftsaufgabe„Hochschulbau“ läuft aus. Modellversuche von Bundund Ländern im Bildungsbereich sowie Hochschulson-derprogramme, die gerade für die Förderung von Frauenin der Wissenschaft wichtig sind, werden künftig nichtmehr möglich sein. Das ist ein echter Verlust. Zu diesemSchluss kommt man, wenn man bedenkt, dass schonheute viele Bundesländer nicht in der Lage sind, diesebewährten Instrumente fortzuschreiben.

(Jörg Tauss [SPD]: Frau Kollegin, das ist falsch!)

– Das ist nicht falsch.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Tauss?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4675

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Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Was bleibt mir anderes übrig?

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Bitte, Herr Tauss.

Jörg Tauss (SPD): Sie könnten Nein sagen; das wäre die Alternative.

Aber ich bedanke mich, dass Sie meine Frage zulassen.Möglicherweise dient sie der Klarstellung.

Liebe Kollegin Sitte, Sie haben gerade gesagt, Hoch-schulsonderprogramme seien künftig nicht mehr mög-lich. Darf ich Sie bitten, sich den neuen Art. 91 b zu Ge-müte zu führen, der ausdrücklich die von Ihnenangesprochenen Dinge ermöglicht? Dort haben wir eineneue echte Gemeinschaftsaufgabe begründet. Die Hoch-schulrektorenkonferenz sagt, das sei eine gute Lösung.Würden Sie das konzedieren?

Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Herr Tauss, Sie wissen genauso gut wie ich, dass in

der Debatte über die Föderalismusreform daran Kritikgeübt wurde; denn nun ist ein Abstimmungsprozess zwi-schen dem Bund und 16 Bundesländern notwendig. Alle16 Bundesländer müssen nun die gleichen Prioritätensetzen.

(Jörg Tauss [SPD]: Das war immer so!)

– Nein. Man braucht eine einstimmige Entscheidung derLänder.

(Jörg Tauss [SPD]: Das war in der Vergangen-heit auch so!)

Ob das für das ausgesprochen erfolgreiche Programm„Frauen in der Wissenschaft“ gut ist, bezweifle ich. Siewissen sicherlich, wie hoch der Anteil der Professorin-nen in diesem Land ist, dass der Anteil promovierterFrauen in einem Missverhältnis zum Anteil der Frauenunter den Professoren steht – man kann durchaus von ei-nem Bruch sprechen – und dass die Lösung dieses Pro-blems keine Priorität bei einem Finanzminister in derBundesrepublik Deutschland haben wird.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: So pessi-mistisch bin ich nicht! Die sind alle durchge-gendert! Keine Sorge!)

– Das ist zu hoffen.

Das erste große Referenzprojekt der Bundesregierungwird nicht mehr Gerechtigkeit in Bildung und Wissen-schaft bringen, sondern Unterschiede vertiefen. Das be-deutet nichts anderes als Ungerechtigkeiten. Schon jetztstarke Bundesländer und Universitäten werden davonprofitieren. Aber die anderen werden nicht nur abgekop-pelt. Vielmehr wird sich ihr Rückstand noch vergrößern.Risikogruppen werden wachsen und sehen sich schließ-lich mit der Tatsache konfrontiert, dass sie von zuneh-mend geringer werdenden so genannten Leistungsgrup-pen unterstützt werden müssen. Das halte ich für einfalsches gesellschaftliches Konzept.

(Beifall bei der LINKEN)

Als zweites großes Referenzprojekt gilt der Hoch-schulpakt 2020. Darüber laufen noch die Verhandlun-gen zwischen den Ländern.

(Jörg Tauss [SPD]: Zwischen Bund und Län-dern!)

Aber schon jetzt ist klar, dass die Probleme, die die Fö-deralismusreform verursacht, durch diesen Pakt nichtkompensiert werden können.

(Cornelia Pieper [FDP]: So ist es!)

Der Bund sieht laut eigener Planung bis 2010 rund1 Milliarde Euro für den Hochschulpakt vor. Im Haus-halt 2007 sind dafür 160 Millionen Euro eingestellt. Bis2014 wird sich die Zahl der Studierenden – so die Prog-nose der Kultusministerkonferenz – auf 2,7 Millionenerhöhen. Nun hat der Wissenschaftsrat seinerseits be-rechnet, was sich daraus finanziell ergibt, und festge-stellt, dass allein in diesem Jahr 400 Millionen Euro ein-gestellt werden müssten. Es sind aber nur 160 MillionenEuro. Wir haben es also schon jetzt mit einer großen Dif-ferenz zu tun.

(Jörg Tauss [SPD]: 160 Millionen vom Bund!)

– Ja, sicher.

Zudem ist dieser Ansatz schon jetzt völlig überfrach-tet; denn die Kapazitäten sollen spürbar ausgebaut wer-den und 16 Bundesländer sollen daran partizipieren.Darüber hinaus soll die Forschung gefördert und dieSonderprogramme sollen ausgeglichen werden. Dasfunktioniert natürlich nicht. Das heißt, es wird keinenwirksamen Beitrag zur Reduzierung der Unterfinanzie-rung des Hochschulwesens geben.

(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Woher wissen Sie das jetzt alles?)

– Das weiß jeder.

Die Studienbedingungen werden sich unter dem An-sturm neuer Jahrgänge verschlechtern. Die individuellesoziale Situation jedes Einzelnen bzw. jeder Einzelnenwird sich auf den nächsten Bildungsgang auswirken. In-sofern bleiben die angekündigten Investitionen in dieKöpfe wohl eher eine Worthülse. Auch hier zeigt sichkeine neue Gerechtigkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

In der letzten Woche hat Frau Schavan eine High-techstrategie verkündet. Auch diese sollte als Referenz-projekt für neue Gerechtigkeit sorgen.

(Ilse Aigner [CDU/CSU]: Was?)

Neben der Bereitstellung wachsender Mittel für Grund-lagenforschung war es überfällig – da stimme ich Ihnenzu –, Voraussetzungen für die bessere Umsetzung vonForschungsergebnissen zu schaffen.

Eine Strategie aus einem Guss, wie Sie es selbst for-muliert haben, gehört auch zu unserem Konzept. Inso-fern ist diesem Ansatz zuzustimmen. Natürlich bringtdie Bündelung von Wissenschaft und Wirtschaft am

4676 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006

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Dr. Petra Sitte

Ende mehr Arbeitsplätze. Selbstverständlich begünstigtsie den Wandel in strukturschwachen Gebieten. Dasweiß jemand besonders gut, der – wie ich – aus einemGebiet kommt, in dem innerhalb weniger Jahre60 000 Arbeitsplätze allein in zwei Betrieben weggefal-len sind.

Nichtsdestotrotz bedarf aber gerade die Förderungvon Hochtechnologien auch einer gesellschaftlichenDebatte. Die Risiken und Chancen von gefördertenhochsensiblen Technologien werden heute kaum nochthematisiert. Ich erwähne hier nur die Gentechnik unddie Sicherheitsforschung. Wenn man dazu irgendetwassagt, bekommt man sofort den Vorwurf, ideologischeScheuklappen zu tragen.

(Beifall der Abg. Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich finde aber, das gehört in die öffentliche Debatte undnicht nur in Innovationskreise. Es werden eben nicht nurSteuergelder ausgegeben – das allein wäre schon Grundgenug –, sondern es werden auch Grundlagen unseresgesellschaftlichen Zusammenlebens berührt – ob das so-ziale und ökologische Nachhaltigkeit betrifft oder De-mokratie und Bürgerrechte.

(Jörg Tauss [SPD]: Deswegen machen wir doch Technikfolgenabschätzung!)

Ich will an dieser Stelle einmal anmerken: Eine For-schungsförderung, die ausschließlich unter dem Primatder Ökonomie und der Verwertbarkeit von Forschungs-ergebnissen für neue Märkte steht,

(Jörg Tauss [SPD]: Tut sie doch nicht!)

kann grundsätzlich natürlich nicht zuerst auf Gerechtig-keit abzielen. Innovation ist eben nicht nur, wenn derMarkt laut Hurra schreit. Da sind schon Zweifel ange-bracht, ob diese Forschungspolitik mit ihren Ergebnissenam Ende allen Menschen in diesem Lande zugutekommt.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN] – Dr. Ernst Dieter Rossmann[SPD]: Aber nicht, solange wir an der Regie-rung sind!)

Abschließend möchte ich mich zwei Referenzprojek-ten widmen: der beruflichen Ausbildung – die habenauch Sie erwähnt – und der beruflichen Weiterbildung –die haben Sie zum wiederholten Male nicht erwähnt.

(Nicolette Kressl [SPD]: Das stimmt doch nicht!)

Zum Pakt für Ausbildung will ich nur sagen: Es fehlennach wie vor 140 000 Plätze. Alles, was Sie dazu gesagthaben, stellt quasi einen Tropfen auf den heißen Steindar. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, gerade in diesem Be-reich als Integrationsleistung vermehrt Mittel einzustel-len.

Zum Thema Weiterbildung will ich sagen: Wir ha-ben einen akuten Fachkräftemangel. Zudem gibt es Tau-sende Arbeitslose, die über eine abgeschlossene Lehre

oder eine abgeschlossene Hochschulausbildung verfü-gen. Natürlich müssten diese Leute als Erste in die Wei-terbildung aufgenommen werden. Was passierte? Eskam das Leben und es kamen die Bundesanstalt für Ar-beit und Hartz IV daher, und 40 000 Leute im Bereichder beruflichen Weiterbildung verloren innerhalb kür-zester Zeit ihre Beschäftigung. Die, die übrig gebliebensind, arbeiten zum großen Teil in prekären Beschäfti-gungsverhältnissen zu Niedriglöhnen.

(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Da haben Sie Recht!)

Bezeichnend für diese Entwicklung ist, dass man inzwi-schen sogar von „pädagogischen Wanderarbeitern“spricht. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Daranmuss unbedingt etwas geändert werden.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Ich will an dieser Stelle noch erwähnen, was ich imBereich der Weiterbildung als „Krönung“ empfinde:dass nämlich die mittelfristige Finanzplanung vorsieht,den ohnehin schon sehr geringen Anteil der Weiterbil-dung weiter zu reduzieren. Das halte ich für falsch. Wirwerden das auch in den Ausschussberatungen themati-sieren. An dieser Stelle bedürfte es eigentlich eines Bun-desgesetzes für berufliche Weiterbildung. Aber – um aufIhre Frage zurückzukommen, Herr Tauss – Bund undLänder haben es abgelehnt, sodass ein Rahmengesetzweiter fehlen wird. Es bleibt bei einem dramatisch unter-finanzierten System.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, das alles kann eigentlichnicht die „neue Gerechtigkeit“ sein, von der Sie gespro-chen haben, Frau Schavan. Ich meine, diese Art „neueGerechtigkeit“ ist nichts anderes als die Fortsetzung deralten Ungerechtigkeit mit neuen Mitteln.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Priska Hinz, Bünd-

nis 90/Die Grünen.

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichmöchte mit einer positiven Feststellung beginnen: Es istgut, dass die Mittel für den Bildungs- und Forschungs-haushalt in diesem Jahr erhöht wurden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENund der SPD)

Das freut uns sehr. Trotzdem bleibt richtig, was meineKollegin Hajduk gestern gesagt hat: In der Finanzpla-nung werden die Mittel verstetigt, sie werden aber nichtweiter erhöht. Von daher gibt es keinerlei absehbare wei-tere Investitionen in die Zukunft, was diesen Bereich an-geht.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4677

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Priska Hinz (Herborn)

Natürlich ist es erfreulich, dass auch der Ansatz beider beruflichen Bildung erhöht wurde. Das ist aber auchkein Problem, da er im letzten Jahr stark gekürzt wurde.Jetzt kann man sich natürlich auf den Lorbeeren ausru-hen und sagen: Da gibt es eine Erhöhung um 23 Prozent.

Nach wie vor zu wenig Geld fließt allerdings in dieBenachteiligtenförderung. Im Haushalt sind 67 Millio-nen Euro veranschlagt. Damit sind wir noch längst nichtauf dem Niveau von 2005. Frau Schavan, das Programmfür die „Zweite Chance“, für die Sie seit einem Dreivier-teljahr werben, suchen wir immer noch vergebens. DieZielgruppe dieses Programms ist es, die am meisten derFörderung bedarf. Wenn die Kanzlerin es ablehnt, dassdie BA-Überschüsse, die jetzt einmalig angefallen sind,auch für diese Zielgruppe eingesetzt werden, dann heißtdas, dass vielleicht mehr zusätzliche Ausbildungsplätzein diesem Jahr zur Verfügung gestellt werden, aber wie-der mehr Jugendliche auf der Straße bleiben als im letz-ten Jahr. Das ist das Grundproblem Ihrer Ausbildungs-politik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Natürlich fehlt es an einer strukturellen Reform desBerufsbildungssystems. Ihr Innovationskreis hat nochnichts in Richtung Modularisierung und besserer Zertifi-zierung von Ausbildungsabschnitten zustande gebracht.Doch das müsste dringend eingeführt werden, um denjungen Menschen die Gelegenheit zu geben, überhaupteine Ausbildung zu machen.

Das Thema Weiterbildung haben Sie erwähnt, abernur im Sinne von Standardsetzung. Ihr Innovationskreisbeschäftigt sich mit Qualitätssicherungsmanagement.„Wissensbasiert“ ist Ihr Lieblingswort. Aber es wirdkein Cent mehr für Weiterbildung ausgegeben. Das, wasSie ins Fenster hängen, ist das Bildungssparen. Bil-dungssparen kann ein Baustein im Rahmen einer gesam-ten Weiterbildungsstrategie sein, aber man kann nichteinseitig den Individuen die alleinige Verantwortung fürdie Weiterbildung aufbürden; denn dann können wiedernur bestimmte Menschen, die ein hohes Einkommen ha-ben, Weiterbildung finanzieren und die anderen bleibenaußen vor. Wir jedenfalls werden Ihnen bei diesemThema noch Nachhilfe geben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Schwerpunkt der Ministerin soll die Forschungs-politik sein. Sie haben die Hightechstrategie vorge-stellt. Wir fragen uns, warum eigentlich eine Bauchla-denförderung eine gezielte Innovationsstrategie seinsoll.

(Ulrike Flach [FDP]: Da haben Sie wirklich Recht!)

Alles wird jetzt unter das Thema Hightechstrategie sub-sumiert. Wir haben vor allem drei Kritikpunkte an dieserHightechstrategie.

Erstens. Alle Forschungsbereiche werden nach demKriterium der sofortigen Verwertbarkeit eingeordnet.Frau Sitte hat schon darauf hingewiesen. Es besteht na-türlich das Problem, die Forschung und kleine und mitt-lere Unternehmen zusammenzubringen und gute Ideen

und Innovationen schnell in Produkte umzusetzen. Aberdie Lösung kann nicht heißen, bei der Förderpolitik dieGrundlagenforschung zu vergessen.

(Jörg Tauss [SPD]: Bei der Grundlagenfor-schung haben wir auch was!)

Wir brauchen auch einen Erkenntnisgewinn. Der istdringend notwendig. In der Hightechstrategie wird abervor allen Dingen Ihre Technikzentriertheit deutlich. Daskann man der Hochglanzbroschüre wunderbar entneh-men.

(Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Jahr für Jahr haben wir einen Aufwuchs!)

Mein zweiter Kritikpunkt. Die öffentlichen Mittelwerden nicht auf zukunftsträchtige Bereiche konzen-triert. Wenn Sie jetzt 11 Millionen Euro für Fusionsfor-schung ausgeben wollen,

(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Sehr zukunftsträchtig!)

statt vorrangig das Geld für Klimaforschung und erneu-erbare Energien auszugeben, dann ist das eine falscheWeichenstellung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben doch jetzt im Haushalt wieder das Problem,dass die Kosten für den Rückbau der Versuchsanlage auf235 Millionen Euro steigen. Das ist ein Fass ohne Bo-den. Jetzt wollen Sie auch noch Geld in die Fusionsfor-schung stecken. Das ist ein völlig falscher Ansatz.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Jörg Tauss [SPD]: Ja gut, aber da kommt keinAbfall raus! Das muss man auch sagen!)

Agrogentechnik ist kein Heilsbringer. Die Mehrheitder Bundesbürger und -bürgerinnen wollen das auf die-ser Basis hergestellte Zeug nicht essen; sie wollen keinGenfood. Also lassen Sie die Finger von der Agrogen-technik und der zusätzlichen Förderung dieses Berei-ches!

Warum wollen Sie so viel Geld in die Raumfahrttech-nik stecken, anstatt die Mobilitätsforschung und inte-grierte Verkehrskonzepte zu fördern? Warum gibt eskaum Mittel für Innovationen im Dienstleistungssektor?Schließlich leben wir in einer wissensbasierten Gesell-schaft und es ist zu erwarten, dass in diesem Sektor neueArbeitsplätze entstehen. Solche Weichenstellungen ver-missen wir in Ihrer Hightechstrategie.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Drittens. Ein Grundproblem ist, dass Sie Ihr Verspre-chen, die Geistes- und Sozialwissenschaften in IhreHightechstrategie einzubeziehen, nicht einlösen.

(Klaus Hagemann [SPD]: Die Mittel sind fast verdoppelt!)

Ihre Hightechstrategie ist technologiefixiert. Sie wollenvor allen Dingen Unternehmensentwicklungen unterstüt-zen. Das sieht man auch bei der Sicherheitsforschung.Aber es ist nicht nötig, Unternehmen zu unterstützen, die

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Priska Hinz (Herborn)

dank ihrer technischen Apparate schon jetzt sehr vielGeld verdienen.

Wir haben noch viele Fragen zur Forschungsprämie.

(Ulrike Flach [FDP]: Ich auch!)

Kollege Hagemann hat vieles vorweggenommen. Wirwerden dem nachgehen, damit es nicht zu Mitnahmeef-fekten kommt und tatsächlich Innovationen finanziertwerden können.

Wir haben vor allen Dingen noch viele Fragen dazu,wie Sie eigentlich Nachwuchsförderung betreiben wol-len, Frau Schavan. „In kluge Köpfe investieren, klugeKöpfe gewinnen“ ist Ihr Motto. Aber zu dieser Ziel-gruppe gehören augenscheinlich nicht die Frauen. DieMehrzahl der Frauen in den Nachwuchsbereichen wirdvon der Vereinbarung „Realisierung der Chancengleich-heit für Frauen in Forschung und Lehre“ nicht mehr pro-fitieren können; denn das wurde ersatzlos gestrichen.Das ist eine falsche Politik.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Wir glauben, dass mehr Geld im Haushalt allein nichtausreicht, um eine zukunftsträchtige und innovative Po-litik zu machen. Deshalb können wir diesen Haushaltnicht unterstützen.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Ilse Aigner, CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Sa-gen Sie was Schönes zur Frauenförderung!)

Ilse Aigner (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Liebe Frau Kollegin Hinz, Ihr Vorwurf, FrauMinisterin Schavan tue nichts für die Geisteswissen-schaften, ist vollkommen aus der Luft gegriffen, umnicht zu sagen: absurd. Die Geisteswissenschaften habenin den letzten Jahrzehnten wahrscheinlich keinen so star-ken Aufwuchs erfahren. Man kann das so wirklich nichtim Raum stehen lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Priska Hinz [Her-born] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In derHightechstrategie! Sie sollten zuhören!)

Der Haushalt 2007 ist eigentlich der erste Haushaltder großen Koalition. Der Haushalt 2006 war mehr einÜbergangshaushalt. Ich wage, hier zu sagen: DieserHaushalt ist ein neuer Start. Mit den fünf Buchstaben desWortes „Start“ lassen sich fünf Themen verbinden: S wieSanieren, T wie Technologien, A wie Anreize, R wie Re-formen und T wie Talente.

(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wir wollen hoffen, dass die Redezeit dafür ausreicht!)

Zum ersten Punkt. Ich glaube, wir brauchen nichternsthaft darüber zu diskutieren, dass der Bundeshaus-halt saniert werden muss. Die Bundesregierung wirddies Schritt für Schritt realisieren. Wie in einer Firmareicht Sanieren allein nicht aus; vielmehr muss eineFirma auch in die Zukunft investieren. Das tut auchdiese Bundesregierung; sie investiert in die Zukunft. Wirhaben mit dem Koalitionsvertrag, wie schon erwähnt,ein Programm aufgelegt, das vorsieht, in dieser Legisla-turperiode 6 Milliarden Euro in Forschung und Entwick-lung zu investieren.

(Jörg Tauss [SPD]: Zusätzlich!)

Auch dies wird die Bundesregierung – zusätzlich –Schritt für Schritt realisieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Der Haushalt des Forschungsministeriums erfährteine enorme Steigerungsrate von über 6 Prozent. Diessind über 500 Millionen Euro zusätzlich. Mein Dank gilthier der Frau Ministerin und dem Bundesfinanzministe-rium, aber auch den Kolleginnen und Kollegen desHaushaltsausschusses. Es ist relativ leicht, Umschich-tungen zu fordern. Umso schwieriger ist es, das zu reali-sieren. Deshalb kann man nicht oft genug betonen, dasses in diesem Haushalt eine konkrete Umsteuerung hin zuZukunftsinvestitionen gibt.

(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Hightech statt Hausbau!)

Geld allein ist aber nicht alles. Auch deshalb habenwir diese Hightechstrategie entwickelt. Damit kommeich zum Stichwort „Technologien“. Bei der Verfolgungdieser Hightechstrategie ist zum ersten Mal ressortüber-greifend zusammengearbeitet worden. Man hat mir be-richtet, dass in diesem Frühjahr alle an der Nanotechno-logie beteiligten Ministerien dieser Bundesregierungzum ersten Mal an einem Tisch gesessen haben, um sichüber dieses Thema zu verständigen und eine Innova-tionsstrategie festzulegen. Das wird eine Kernaufgabeder Bundesregierung sein. Wie die Frau Ministerin ge-sagt hat, ist es der Startschuss und eigentlich das Dreh-buch für die nächste Zeit. Am Ende dieser Legislatur-periode werden wir damit mehr für Forschung getanhaben und wir sind hoffentlich auf einem guten Weg ineine innovative Gesellschaft.

(Jörg Tauss [SPD]: Da leuchtet die Zukunfthervor! – Ulrike Flach [FDP]: Wo holen Siedenn die 1,5 Millionen Arbeitsplätze her?)

Richtig ist auch, dass neue Themenfelder dazugekom-men sind, weil neue Herausforderungen entstanden sind.Am Montag jähren sich zum fünften Mal die verheeren-den Attentate von New York. Es folgten Attentate inSpanien und in England. Die EU hat dieses Thema auf-gegriffen und im 7. Forschungsrahmenprogramm dieSicherheitsforschung aufgenommen. Wir müssen diesauf nationaler Ebene flankieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Mit dem neuen Programm zur Sicherheitsforschungentwickeln wir das zivile Potenzial unserer Industrie auf

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Ilse Aigner

einem weltweit wachsenden Sektor. Wie sehr dies im In-teresse der Menschen ist, ist uns erst im Juli wieder – lei-der – vor Augen geführt worden. Ich denke an die Kof-ferbomben, die Gott sei Dank nicht explodiert sind.Leider wollen dies offensichtlich einige im Haus immernoch zum Tabu erklären.

Die Menschen haben dafür kein Verständnis.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie wollen und sie brauchen Sicherheit – Sicherheit vorterroristischen Anschlägen, vor Verbrechen und auchzum Schutz der Privatsphäre im vollelektronischen Zeit-alter. Es ist richtig, dass wir bis zum Ende der Legisla-turperiode 100 Millionen Euro in diesen Bereich inves-tieren. Es ist höchste Zeit.

(Jörg Tauss [SPD]: Aber nicht nur für den Be-reich! Tsunami und Wichtigeres ist noch da-bei! – Ulrike Flach [FDP]: Weiß das auch dieSPD?)

– Nicht nur. Sehr geehrter Dispatcher, es ist ein neuerSchwerpunkt.

Mit der Hightechstrategie kommen nicht nur neueThemen, sondern es gibt auch neue Instrumente. Die willich unter den Begriff der Anreize subsumieren. Wir spre-chen hier von der Vollkostenfinanzierung und von derForschungsprämie. Wir gehen damit neue Wege, etwasweg von staatlichen Steuerungsinstrumenten und mehrhin zu wissenschafts- und wirtschaftsgetriebener For-schung im Wettbewerb der Besten. Damit ist eindeutigunsere Handschrift erkennbar.

Der so genannte Overhead auf eingeworbene Mittelder Deutschen Forschungsgemeinschaft stärkt die Hoch-schulforschung und ist das zentrale Angebot des Bundesfür den Hochschulpakt.

(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das wer-den wir dann noch besprechen!)

Mit diesem Aufschlag zur Deckung der Gemeinkostender Universitäten besteht noch mehr Anreiz, sich umdiese Mittel zu bemühen.

(Ulrike Flach [FDP]: Aber sie müssen sich ei-nigen, Frau Aigner!)

Die Forschungsprämie ist ein Kernelement derHightechstrategie.

(Cornelia Pieper [FDP]: Wo habt ihr die denn in den Haushalt eingestellt?)

Sie ist im Prinzip eine Art Overheadfinanzierung fürMittel, die man nicht aus dem öffentlichen Bereich, son-dern von der Wirtschaft akquiriert. Einig sind wir uns,glaube ich, darüber: Wir brauchen die Wirtschaft zur Er-reichung des 3-Prozent-Ziels.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie muss zwei Drittel des Volumens bringen. Deshalbmüssen wir die Anreize entsprechend setzen.

Mit der Forschungsprämie konzentrieren wir uns aufden Mittelstand. Warum konzentrieren wir uns auf den

Mittelstand? Die Großindustrie forscht weitestgehendselbstständig. Der Mittelstand weiß oft überhaupt nicht,was die Forschungsinstitutionen für ihn überhaupt leis-ten können. Also Konzentration der Forschungsprämieauf den Mittelstand, damit das Rückgrat unserer Wirt-schaft, der Mittelstand, bei Forschung und Entwicklungeinen entscheidenden Schub nach vorn bekommt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Cornelia Pieper [FDP]: Eigentlich richtig!)

Wichtig dabei ist, dass dies ein sehr unbürokratischesInstrument ist. Die Mittel werden nicht vergeben, weilein Programm aufgelegt wird, sondern weil aus der Wis-senschaft heraus ein Gedanke entsteht und dann gemein-sam mit den Forschungseinrichtungen ein Projekt entwi-ckelt wird. Damit wird sozusagen aus dem eigenenAnsatz heraus Forschung und Entwicklung betrieben.

(Ulrike Flach [FDP]: Wann geht es denn los, Frau Aigner?)

– Es geht bald los; ganz ruhig. Wir werden den Antragdemnächst einbringen bzw. die Vorbereitungen sindschon getroffen.

In diesem Zusammenhang möchte ich auch noch ein-mal darauf hinweisen, dass das Volumen des FH-Pro-gramms innerhalb von zwei Jahren verdreifacht wird,nämlich von 10 auf 30 Millionen Euro. Das ist eine rie-sige Leistung. Wir sind uns einig darüber, glaube ich,dass die Fachhochschulen der Motor schlechthin für denMittelstand vor Ort sind.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Ich komme zum vierten Punkt: Reformieren ist wich-tig. Eine Reform hat uns direkt betroffen, die Föderalis-musreform. Trotz aller Unkenrufe ist sie gut gelungen.

(Jörg Tauss [SPD]: Es hätte schlimmer kom-men können! – Widerspruch bei der FDP)

– Doch, sie ist gut gelungen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Cornelia Pieper[FDP]: Da gebe ich Frau Aigner ausnahms-weise mal nicht Recht!)

Die Verantwortlichkeiten im Bildungs- und Forschungs-bereich wurden klar zugeordnet. Mit der Einigung überden Hochschulpakt haben wir eine verfassungsrechtlicheGrundlage geschaffen, auf der wir gemeinsam unter an-derem Programme zur Sicherung der Kapazitäten aufle-gen können.

Damit bin ich bei meinem letzten Punkt, nämlich denTalenten. Ich glaube, das ist ein Punkt, der der Frau Mi-nisterin ganz besonders am Herzen liegt. Sie betont im-mer wieder, dass wir in unserem Land ohne die Talenteüberhaupt nicht – jetzt hätte ich fast gesagt: überlebenkönnen. Sie sind eigentlich die Basis. Aus diesemGrunde müssen wir sie fördern. Deshalb werden wir denHochschulpakt gemeinsam mit den Ländern aufstellen.

(Ulrike Flach [FDP]: Dazu brauchen Sie eine lange Zeit!)

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Ilse Aigner

Das geschieht in diesem Herbst. Die Länder müssen daihren eigenen Beitrag leisten.

(Beifall bei der SPD)

Das gilt aber nicht nur für die Hochschulausbildung,sondern wir müssen auch im Bereich der beruflichenBildung entsprechend die Weichen stellen. Hier gibt esmit „Jobstarter“ und „EQJ“ Programme, mit denen wirdafür sorgen, dass diejenigen, die noch nicht versorgtsind, unterkommen.

Für mich ist aber viel wichtiger, dass Strukturrefor-men nach dem neuen Berufsbildungsgesetz auch durch-geführt werden. Die gestuften Ausbildungen, die derKollege Schummer gemeinsam mit dem Kollegen Brasevorangebracht hat und die schon in der letzten Legisla-turperiode eingeführt wurden,

(Jörg Tauss [SPD]: Vor allem die Anerken-nung von Abschlüssen!)

müssen auch umgesetzt werden, damit junge Menschendie Chance erhalten, überhaupt in einen Betrieb einstei-gen zu können. Dies ist auch ein Beitrag zur Sicherungdes schon angesprochenen Fachkräftenachwuchses,den wir dringend brauchen und der in den nächsten Jah-ren fast zur Mangelware werden könnte. Deshalb wer-den wir unser Augenmerk darauf richten.

Sehr geehrte Damen und Herren, noch einmal zusam-mengefasst: S wie Sanieren, T wie Technologien, A wieAnreize, R wie Reformen und T wie Talente – S-t-a-r-t:der Start in eine gute Zukunft.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Cornelia Pieper,

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Cornelia Pieper (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Eigentlich wollte ich zu Beginn meiner Rede nicht aufdie Föderalismusreform eingehen. Aber nachdemmeine Vorrednerin dieses Thema aufgegriffen hat, mussich es tun. Ich glaube, dass diese Föderalismusreformgerade für uns Bildungs- und Forschungspolitiker nichtder große Wurf ist, sondern eher nach hinten losgehenwird.

(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Denn es kommt in der globalen Welt von heute daraufan, dass wir fit werden für den Wettbewerb, dass der eu-ropäische Bildungsraum gestärkt wird, dass eine natio-nale Bildungs- und Forschungsstrategie entwickelt wird.Frau Ministerin, Sie haben in Ihren Reden vor Verbän-den, die ich gelegentlich verfolgen konnte, selbst aus-drücklich Wert darauf gelegt, dass Deutschland sich aneuropäischen, an internationalen Maßstäben ausrichtet.Aber mit dieser Föderalismusreform, mit dieser Zersplit-terung der Bildungslandschaft ist das in Zukunft ausmeiner Sicht nicht mehr leistbar.

(Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Herr Meinhardt, helfen Sie uns mal ein bisschen!)

Meine Damen und Herren, wir reden heute über denHaushalt. Aber ich glaube, es ist wichtig, festzuhalten,dass Sie, Frau Ministerin, Ihrer Verantwortung als Bun-desbildungsministerin nicht gerecht geworden sind, seitSie in diesem Amt sind. Denn Sie haben Bereiche ver-nachlässigt, die für die Zukunft vieler Arbeitsloser, ins-besondere Langzeitarbeitsloser, in diesem Land ent-scheidend sind, ebenso für viele junge Menschen, diekeinen Schulabschluss schaffen und keine Berufsausbil-dung machen können. Das sind in Deutschland9 Prozent; jedes Jahr verlassen 82 000 junge Menschenohne Schulabschluss die Schule. Für diese Menschen istdie Weiterbildung eine wichtige Säule der Bildungspo-litik; für sie ist es die Zukunft. So schaffen sie es viel-leicht überhaupt noch, in den Arbeitsmarkt zu kommenbzw. zurückzukehren. Unter Ihnen, Frau Ministerin, istdiese vierte Säule, die Weiterbildung, zum fünften Radam Wagen der Bildungspolitik dieser Bundesregierunggeworden.

(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Ich will es einmal auf den Punkt bringen: Der Titel fürWeiterbildung und lebenslanges Lernen ist gegenüberden Istausgaben 2005 um 12 Prozent, mehr als5 Millionen Euro, gekürzt worden. Dabei ist Weiterbil-dung – ich sage es noch einmal – der Schlüssel zum Er-folg auch bei der Bekämpfung der Langzeitarbeitslosig-keit. Seit dem Jahr 2000 sind die jährlich neubegonnenen Maßnahmen von 520 000 um mehr als300 000 reduziert worden. Das ist ein Armutszeugnis fürdie Bundesregierung.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender LINKEN – Jörg Tauss [SPD]: Herr Niebelfordert die völlige Einstellung! – Gegenruf desAbg. Patrick Meinhardt [FDP]: Das einzigSinnvolle, Herr Tauss!)

– Lieber Herr Tauss, hören Sie mir zu! Da können Sie et-was lernen.

Was ich von manchen Bürgerinnen und Bürgern, diesich an die Arbeitsagentur wenden, da so zu hören be-komme! Eine Frau wollte eine Maßnahme zur Umschu-lung zur Altenpflegerin machen und konnte sogar eineEinstellungsgarantie des Trägers vorweisen. Von derBundesagentur hat sie einen Brief mit der Ablehnung derFinanzierung dieser Weiterbildungsmaßnahme mit derBegründung bekommen – ich zitiere –: Zudem ist zu be-rücksichtigen, dass die Dame X nach Abschluss der Um-schulung in der Altenpflege bereits 46 Jahre alt ist.Erfahrungsgemäß haben Umschulungsabsolventen indieser Branche ohne Berufserfahrung im Vergleich zujüngeren Berufsanfängern ungünstigere Einstiegschan-cen. Auch die Vorlage von Einstellungszusagen änderthieran prinzipiell nichts.

(Uwe Barth [FDP]: Pfui! – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dasist doch nicht zu fassen!)

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Cornelia Pieper

Meine Damen und Herren, wir reden hier vom lebens-langen Lernen. Eine 46 Jahre alte Frau ist jung. Wir allesollten uns weiterbilden, egal wie alt wir sind. ÄndernSie also diese Strategie in Ihrer Arbeitsmarkt- und Bil-dungspolitik!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Zum Hochschulpakt. Frau Ministerin, hier wurde vie-les angesprochen. Ich möchte fragen, wie es um denHochschulpakt steht. Können Sie nach der von Ihnenunterstützten Föderalismusreform überhaupt noch dienötigen Initiativen entfalten? Da stellen sich mir vieleverfassungsrechtliche Fragen. Wann kommt der Paktkonkret?

Wir haben gehört, dass der Studierendenberg anwach-sen wird. Das heißt, es geht vorwiegend um die Finan-zierung zusätzlicher Stellen in der Hochschullehre.Wenn man den Schlüssel von einem Professor auf20 Studierende zugrunde legt, dann würde das 35 000neue Stellen bedeuten. Die Spitzenuniversitäten in denVereinigten Staaten haben eine Relation von 1 : 10; andieser Stelle ist das einmal erwähnenswert. Bei uns liegtder Schlüssel bei 1 : 60. Da gibt es noch viel zu tun.

Das bedeutet, Sie müssen hier zulegen. Sie müssenmehr Finanz- und Investitionsmittel für die Hochschuleneinstellen. Das Centrum für Hochschulforschung derBertelsmann-Stiftung hat im Juni dieses Jahres in einemGutachten bereits für 2007 ein Defizit von 36 000 Studi-enplätzen in Gesamtdeutschland aufgezeigt. Auch auf-grund der demografischen Entwicklung muss man be-rücksichtigen, dass gerade in den neuen Bundesländerneine ganz andere Situation eintreten wird. Im Westenwird der Studentenberg wachsen. An den Hochschulen imOsten Deutschlands jedoch werden zukünftig mehr Stu-dienplätze zur Verfügung stehen: bis 2009 15 000 freieStudienplätze, so wurde errechnet. In den alten Bundes-ländern dagegen wird es ein Defizit von 46 000 geben.

Wir von der FDP erwarten von Ihnen eine Zukunfts-initiative für die Hochschulen in den neuen Bundes-ländern mit einem gezielten Hochschulmarketing nachder Devise „Go east!“, damit junge Studierende aus denalten Bundesländern mehr in Erwägung ziehen, auch anUniversitäten in den neuen Bundesländern zu gehen.

(Beifall bei der FDP)

Die Weichenstellungen in diesem Haushalt werdenzeigen, ob Deutschland die forschungsbasierte Techno-logienation in Europa und der Welt sein kann. Ich finde,Sie gehen mit viel zu viel Ängstlichkeit und vielen ideo-logischen Prestigeprojekten voran, Frau Ministerin. Sieblockieren Initiativen auf europäischer Ebene. Sie habensich im Zusammenhang mit der Stammzellforschung Ih-rer Initiative im Rahmen des 7. EU-Rahmenforschungs-programms gerühmt. Wir verurteilen dies; denn so kannman nicht Innovationsmotor in Europa sein. Der Motorstockt doch, wenn Sie in der Grünen Gentechnik und derStammzellforschung, die in der regenerativen Medizinbzw. der Gesundheitsforschung ein wichtiger Bereichist, nicht vorangehen, wenn auch ethische Auflagen

– dies ist auch für uns Liberale wichtig – notwendigsind.

(Beifall bei der FDP)

Stoßen Sie das Tor endlich auf und seien Sie nicht soängstlich!

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, beachten Sie bitte Ihre Redezeit.

Cornelia Pieper (FDP): Frau Präsidentin, natürlich weiß ich, dass meine Re-

dezeit zu diesem Beitrag vorbei ist. Ich komme jetzt zumEnde, möchte aber auf Folgendes hinweisen: Auchmeine Vorredner haben länger geredet.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Pieper, das entspricht nicht der Wahrheit. Ich

bitte Sie jetzt wirklich, Ihren Schlusssatz zu sagen.

Cornelia Pieper (FDP): Sehr gern, Frau Präsidentin.

Frau Ministerin, wir erwarten von Ihnen in Zukunftmehr Mut in der Bildungs- und Forschungspolitik. Dannwerden auch wir Sie unterstützen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat die Kollegin Nicolette Kressl, SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nicolette Kressl (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Man kann nicht in die Zukunft schauen, aber mankann den Grund für etwas Zukünftiges legen – dennZukunft kann man bauen.

Das ist ein Zitat eines meiner Lieblingsschriftsteller,Antoine de Saint-Exupéry. Auf was, wenn nicht auf denHaushalt für Bildung und Forschung, kann dieses Zitatübertragen werden und symbolhaft gelten?

(Beifall bei der SPD)

Dieses Zitat gilt zunächst für das Volumen an sich,nämlich für den Aufwuchs um 6,2 Prozent. Wenn wirdas von uns initiierte IZBB – ich finde, es ist immernoch ein wichtiges Programm –, das in einem anderenEinzelplan steht, zu dem Haushalt hinzunehmen, dannliegen wir insgesamt bei 9,4 Milliarden Euro für Bil-dung, Forschung und Wissenschaft. Das ist schon einganz wichtiges Ziel, das wir in vielen Jahren erreicht ha-ben.

(Beifall bei der SPD)

Ob wir einen guten Grund für den Erfolg von For-schung, Wissenschaft und Bildung bauen, hat natürlich

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Nicolette Kressl

nicht nur etwas mit dem Finanzvolumen zu tun, sondernauch damit, wie gut und klug dieser Grund aufgebaut ist.Denn Innovationen und Entwicklungen in diesem Be-reich – ich will es einmal bildlich sagen – wachsen niefür sich allein. Es gehören immer ganz viele Elementezusammen, damit wir hier erfolgreich sein können. Wirmüssen sehr vieles im Bereich Bildung und Forschungverzahnen. Auch dafür gibt es in diesem Haushalt guteAnsatzpunkte.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eck-ardt)

Ich will drei Beispiele dafür nennen. Da ist zunächstdie Hightechstrategie. Es ist völlig richtig und ein guterSchritt, den schon in den letzten Jahren erfolgreichenAnsatz, Schlüsseltechnologien aufzugreifen, jetztressortübergreifend zu verfolgen. Damit erfolgt die Kon-zentration auf das Wesentliche.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

In diesem Zusammenhang wird auch über eine For-schungsprämie gesprochen. Wir haben diesen Punktzwar noch nicht festgezurrt. Aber ich möchte dazu sa-gen, dass wir dies ausdrücklich unterstützen.

(Beifall der Abg. Ilse Aigner [CDU/CSU])

Aber wie in solchen Fällen üblich liegen die kritischenPunkte immer im Detail. Wir werden darüber noch mit-einander zu diskutieren haben; denn wir wollen, dass esfür die mittelständischen Unternehmen hier einen erfolg-reichen Ansatz gibt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, die Kollegin Flach möchte Ihnen gerne

eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie sie zu?

Nicolette Kressl (SPD): Ja.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön.

Ulrike Flach (FDP): Danke schön, Frau Kollegin. – Sie haben zu Recht

darauf hingewiesen, dass es sich im Prinzip nicht umviel Neues handelt, sondern dass einfach der Versuch ge-startet worden ist, Punkte endgültig zusammenzuführen.Das haben wir alle schon immer eingefordert. Die Mi-nisterin hat erklärt, mit dieser Strategie würden1,5 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen. KönnenSie mir erklären, warum diese Maßnahme im Gegensatzzur Vergangenheit in den nächsten Jahren greifen wird?

Nicolette Kressl (SPD): Sehr geehrte Frau Flach, ich kann mich überhaupt

nicht daran erinnern, dass Frau Ministerin Schavan ge-sagt hat, dass diese Maßnahme jetzt sofort greifen wird.

Sie wissen doch, dass der Aufbau von Arbeitsplätzendurch Investitionen in die Forschung erfolgen soll. Siehaben vorhin davon gesprochen, dass wir die Grundla-genforschung fördern müssen. Jetzt wollen Sie ernsthaftbehaupten, Frau Schavan und wir wüssten nicht, dass esZeit braucht, bis diese Arbeitsplätze geschaffen werden.Unsere Strategie fördert jetzt den Aufbau von Arbeits-plätzen. Aber es ist ein fortwährender Prozess, den wirgemeinsam weiterentwickeln wollen. Insofern kann ichdie Logik Ihrer Frage nicht erkennen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – JörgTauss [SPD]: Darf ich noch eine Anschluss-frage stellen?)

Nicolette Kressl (SPD): Wenn die Präsidentin es erlaubt.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, der von Ihnen besonders geschätzte

Kollege Tauss möchte Ihnen gerne eine weitere Zwi-schenfrage stellen. Lassen Sie diese zu?

(Zuruf von der FDP: War das jetzt süffisant gemeint?)

Bitte schön, Herr Tauss.

Jörg Tauss (SPD): Frau Kollegin Kressl, ich möchte da gerne noch ein-

mal nachfragen. Die Frage der Kollegin Flach impliziert,dass dieser Punkt bisher nicht zur Kenntnis genommenworden ist. Sollten wir uns nicht einmal darüber unter-halten, welche Investitionen in Forschung und Entwick-lung beispielsweise in den letzten Jahren zu neuen Ar-beitsplätzen beigetragen haben? Die Firmen, vor allemdie großen, machen heute Umsätze in Bereichen, die esvor fünf Jahren noch gar nicht gegeben hat. Auch im Ex-port stellen wir das fest.

Aus meiner oder unserer Region kenne ich die genaueZahl nicht. Da möchte ich die Kollegin Kressl fragen, obsie diese kennt. Nach meiner Kenntnis sind allein in mei-nem Wahlkreis 12 000 sozialversicherungspflichtige Ar-beitsplätze im letzten Jahr neu entstanden. Teilen Siemeine Auffassung, dass der Pessimismus der KolleginFlach an dieser Stelle nicht ganz zutreffend ist?

Nicolette Kressl (SPD): Sehr geehrter, geschätzter Herr Kollege Tauss!

(Jörg Tauss [SPD]: Lieber!)

Ich glaube, die Frage von Frau Flach war nicht von Pes-simismus geprägt, eher von dem allerdings vergeblichenVersuch, die Strategie, die wir bisher hatten, in Misskre-dit zu bringen.

(Jörg Tauss [SPD]: Ach wo!)

Ich möchte Ihre Frage anhand eines konkreten Beispielsbeantworten: Wir haben sehr konkrete Zahlen über Ar-beitsplätze, die durch die Förderung neuer Energietech-nologien entstanden sind. Erst in der letzten Wochehaben wir erfahren, dass wir in kurzer Zeit

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Nicolette Kressl

40 000 Arbeitsplätze durch die Investitionen im Bereichneue Energien, Solartechnik aufgebaut haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Damit haben wir kein Problem.

(Jörg Tauss [SPD]: In anderen Bereichen auch!)

Wir sind davon überzeugt, dass es Sinn macht, bei derHightechstrategie – ich habe das schon erwähnt – auf be-stimmte Schlüsseltechnologien zu setzen. Dazu gehörtauch das Programm in der Sicherheitsforschung. Da-rüber wurde schon gesprochen. Wir stimmen dem auchzu.

Für uns allerdings – darauf werden wir sehr genauachten – gehört die Atomenergie – dazu gibt es unter-schiedliche Positionen in den Fraktionen – nicht zu denzukunftsfähigen Schlüsseltechnologien. Ich erinnere andie Summe, die Herr Hagemann genannt hat, die wir imMoment für den Rückbau von Kerntechnikanlagen aus-geben müssen. Für uns ist es sehr wichtig, dass nichtdurch die Hintertür bei der Sicherheitsforschung Kern-forschung mitfinanziert wird. Das möchte ich auch nocheinmal für unsere Fraktion sehr deutlich sagen.

(Beifall bei der SPD)

Frau Hinz, Sie haben gesagt, das sei nur technologie-orientiert. Es ist mir überhaupt nicht klar, wie Sie beidiesem Haushalt zu dieser Aussage kommen. Wir setzenin diesem Bereich noch einmal 50 Prozent Aufwuchsdrauf. Ich halte es für wichtig, das zu tun. Denn manmuss sehen: Innovationen entstehen aus Überschneidun-gen. Der Bereich der Geistes-, Sozial- und Kulturwissen-schaften leistet einen enormen Beitrag zur Förderungvon Innovation, auch wenn das nicht sofort ablesbar ist.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb unterstützen wir den Zuwachs in diesem Be-reich ausdrücklich. Diese wissenschaftliche Arbeit istfür die Zukunftsfähigkeit eines Landes genauso wichtigwie die auf den ersten Blick rein ökonomisch orientierteWissenschaft. Beide müssen zusammenarbeiten. So wer-den wir erfolgreicher sein, als wenn wir getrennt inSchubladen arbeiten und denken.

(Beifall bei der SPD)

Ich möchte, weil ich gesagt habe, dass es neben demVolumen auch immer eine Verzahnung geben muss,noch einmal darauf hinweisen, wie eng die Hochschul-politik und die Ausbildungspolitik miteinander ver-zahnt sind.

Wir wissen seit Jahren, dass es einen Verdrängungs-wettbewerb von Abiturientinnen und Abiturienten imAusbildungsbereich gibt. Ich habe kein Problem damit,wenn junge Menschen aus Überzeugung eine Ausbil-dung beginnen.

Was wir aber nicht zulassen dürfen, ist, dass die jun-gen Menschen eine Berufsausbildung beginnen, weil sieihre Chancen nach einer akademischen Ausbildung so

schlecht einschätzen. Ich bin dem Arbeits- und Sozial-minister dankbar, dass er heute Morgen die Frage „Ge-neration Praktikum“ noch einmal sehr offensiv ange-sprochen hat.

(Beifall bei der SPD)

Das betrifft nicht nur ein Feld. Die Unsicherheit vonStudierenden oder Abiturienten wirkt sich darauf aus, obsie in den Ausbildungsmarkt gehen.

(Jörg Tauss [SPD]: Die Studiengebühren auch noch!)

Die Tendenz, dass inzwischen nur noch Realschüler inBerufen genommen werden, bei denen früher Haupt-schüler eine Chance hatten, ist schlecht. Wir können danicht einfach zusehen. Das ist einer der Gründe, warumwir eine gute Hochschulpolitik brauchen; denn guteHochschulpolitik – über den Hochschulpakt wird HerrRossmann noch etwas sagen – wirkt sich eben auch aufdem Ausbildungsmarkt aus. Wir müssen das Thema inseiner Verzahnung sehen. Nur so können wir eine guteBildungs- und Forschungspolitik machen.

(Beifall bei der SPD)

Lassen Sie mich noch etwas zum Thema Ausbildungsagen. Die Zahlenbasis ist so unsicher wie selten zuvor.Wir fürchten, dass die Zahl der Unternehmen, die ihrefreien Ausbildungsplätze der Bundesagentur für Arbeitmelden – man spricht von der Einschaltquote –, gegen-über den letzten Jahren gesunken ist. Daraus folgern wir,dass die BA-Zahlen weniger aussagekräftig sind. Dasändert aber nichts daran, dass wir mit sehr viel Engage-ment in die Nachvermittlungsphase gehen müssen. Wirmüssen uns auch um die Jugendlichen kümmern, die– ich sage das in Anführungszeichen – ein ganz speziel-les Problem haben, die weniger akzeptiert werden, weilsie etwa einen Migrationshintergrund haben oder – dasmuss man ehrlicherweise hinzufügen – nicht ausbil-dungsreif sind.

Ich will an die Debatte von heute Morgen anknüpfen.Franz Müntefering hat heute Morgen angekündigt, dieZahl der Einstiegspraktika von 25 000 auf 40 000 erhö-hen zu wollen. Das betrifft zwar nicht diesen Haushalt,aber es ist mit ihm verzahnt. Auch hier sind wir auf demrichtigen Weg. Ich finde es gut, dass in diesem Zusam-menhang zusätzliche Mittel investiert werden.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Zum Thema Einstiegsqualifikationen muss man aberauch Folgendes sagen: Sie wurden Teil des Ausbildungs-pakts, weil wir wissen, dass es Jugendliche gibt, dieSchwierigkeiten haben, einen Ausbildungsplatz zu fin-den. Wir wollen aber nicht, dass verstärkt Realschülerund Abiturienten in diese Maßnahmen geholt werden. Eswird auf die IHKs ankommen. Sie müssen bei der Ver-mittlung der Unternehmen sehr genau hinschauen. Esgibt sehr viele IHKs, die sich auf diesem Gebiet schonengagieren. Wie gesagt: Einstiegsqualifikationen sindwichtig, aber sie müssen zielgenau eingesetzt werden. Inden nächsten Wochen werden wir hier genau hin-schauen.

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Nicolette Kressl

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ilse Aig-ner [CDU/CSU])

Zusammenfassend sage ich – Frau Präsidentin, das istmeine letzte Bemerkung –: Wir sind sicher, dass dasFundament, auf dem die Zukunftsfähigkeit basiert, mit-tels dieses Haushalts weiter gestärkt wird. Frau Ministe-rin, die SPD-Fraktion unterstützt Sie ausdrücklich beider Umsetzung dieser Programme und beim Thema Ver-zahnung. Das wird umso besser gelingen, je stärker Re-gierung und Parlament verzahnt zusammenarbeiten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat der Kollege Kai Gehring, Bündnis 90/

Die Grünen.

Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Stellen Sie sich vor, es ist Geburtstag und fast niemandfeiert ihn. So geschehen vor wenigen Tagen, als dasBAföG 35 Jahre alt wurde. Frau Ministerin Schavan wardas Jubiläum des wichtigsten bildungspolitischen Förde-rungsinstrumentes lediglich ein paar kühle Zeilen wert.Deutlicher kann man seine Abneigung gegenüber die-sem Instrument kaum zeigen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Jörg Tauss [SPD]: Ich habe es noch nicht ein-mal gewusst!)

Dabei sorgt das BAföG bis heute dafür, dass mehrjunge Menschen, vor allem aus einkommensschwachenHaushalten, studieren können. Die Ausbildungsförde-rung ist ein zentraler Baustein für mehr Zugangsgerech-tigkeit und eine höhere Bildungsbeteiligung. Es ist be-zeichnend, dass Sie darüber in Ihrer heutigen Rede keinWort verloren haben. In Ihrem Haushaltsentwurf kürzenSie die Ausgaben für die BAföG-Empfänger um insge-samt 32 Millionen Euro. Das, was Sie bei der Begabten-förderung richtigerweise drauflegen, nehmen Sie denSchülern und Studierenden aus einkommensschwachenFamilien offensichtlich in dreifacher Höhe weg.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Für Ihre Kürzungen gibt es zwei mögliche Erklärun-gen. Entweder Sie planen Leistungseinschränkungen fürBAföG-Empfänger – –

(Ute Kumpf [SPD]: Was erzählen Sie denn da, Kol-lege Gehring? – Jörg Tauss [SPD]: Wo?)

– Schauen Sie doch einmal in Ihren Haushaltsentwurf.Beim „BAföG – Schülerinnen und Schüler“ ist ein Mi-nus von 10 Millionen vorgesehen und beim „BAföG –Zuschüsse an Studierende“ soll um 22 Millionen Eurogekürzt werden. So steht es jedenfalls in Ihrem Entwurf.

Also entweder planen Sie Leistungseinschränkungen– das wäre angesichts der Einführung von Studiengebüh-ren in vielen Ländern ein weiterer Rückschlag für ein-kommensschwache Studierende – oder Sie rechnen mit

sinkenden Studierendenzahlen und haben Ihr Ziel, dieStudierendenquote auf 40 Prozent eines Jahrgang zusteigern, längst wieder aufgegeben. Dies wäre ein fatalesSignal für den Wissensstandort Deutschland.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Jörg Tauss [SPD]: Sie haben ja richtige Ver-schwörungstheorien!)

Dass Sie dieses Ziel, die Anhebung der Studierenden-quote auf 40 Prozent, längst aufgegeben haben, lässtauch Ihr Haushaltsansatz für den Hochschulpakt ver-muten. Zunächst einmal ist vollkommen unklar, wofürgenau die eingestellten 160 Millionen Euro ausgegebenwerden sollen. Erwarten Sie etwa, dass der Bundestag160 Millionen Euro freigibt, ohne zu wissen wofür? Le-gen Sie endlich ein Konzept für den Hochschulpakt vor,Frau Schavan.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wie wollen Sie den dringend notwendigen Ausbauvon Studienplätzen fördern? Welche Konsequenzen zie-hen Sie aus der Föderalismusreform und daraus, dassKooperationen zwischen Bund und Ländern – anders alsSie es ursprünglich wollten – möglich bleiben? HaltenSie gebetsmühlenartig an Ihrer Umwegfinanzierung fest,also nach dem Motto: „Der Bund gibt Geld für die For-schung und die Länder finanzieren die zusätzlichen Stu-dienplätze“, oder haben Sie endlich eingesehen, dassauch der Bund per Wissenschaftsförderung über denneuen Art. 91 b des Grundgesetzes direkt in den Ausbauder Studienplatzkapazitäten investieren kann und diesangesichts steigender Studierendenzahl dringend muss?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir Grüne haben schon im Februar dieses Jahres einKonzept und einen umfassenden Forderungskatalog füreinen Hochschulqualitätspakt vorgelegt. Von Ihnen istbis heute nichts Substanzielles dazu gekommen.

(Jörg Tauss [SPD]: Hey! Das ist vermessen!Schauen Sie sich einmal beispielsweise unsertolles 10-Punkte-Programm an!)

– Das ist kein Regierungspapier, oder?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In jedem Fall muss wesentlich mehr Geld in den de-mografie- und bedarfsgerechten Ausbau der Studien-platzkapazitäten investiert werden, als von Ihnen imHaushalt veranschlagt worden ist. Der Wissenschaftsratsieht auf Basis einer eher konservativen Kalkulation fürdas nächste Jahr einen Bedarf von zusätzlich 400 Millio-nen Euro für mehr Studienplätze. Frau Sitte hatte vorhinschon darauf hingewiesen. Das ist übrigens eine Zahl,Frau Schavan, die Sie sich in Interviews zu Eigen ge-macht haben. Dennoch stellen Sie lediglich 160 Millio-nen Euro für den Hochschulpakt zur Verfügung. Nochvor wenigen Monaten hatten Sie in der mittelfristigenFinanzplanung 210 Millionen Euro veranschlagt. Nunist es ein Viertel weniger; soviel zum Thema nachhaltigeHaushaltspolitik.

Damit gestehen Sie Ihre eigene Konzeptionslosigkeitbeim Hochschulpakt und auch den schleppenden Fort-

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Kai Gehring

gang der Verhandlungen ein. Das Treffen in der Som-merpause musste ja abgesagt werden, weil alle im Ur-laub waren.

(Jörg Tauss [SPD]: Nein! Die haben alle nachgedacht!)

Ich hoffe, dass Sie sich jetzt schnell wieder zusammen-setzen, um Lösungen zu erarbeiten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es geht beim Kapazitätsaufbau nicht nur um Zahlen,sondern vor allen Dingen darum, wer in die Hochschu-len kommt und wer draußen bleiben muss.

Sie haben die Mittel für die Juniorprofessur im Haus-haltsentwurf auf null gesetzt. Ich fände es sehr spannend,zu wissen, ob das wirklich im Hochschulpakt enthaltensein soll. Es stellt sich die Frage, ob diese im Hochschul-pakt eingeplant sind. Das wäre dann finanzpolitischeAugenwischerei.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, ich bin sehr gespannt auf Ihren letzten

Satz.

Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mein letzter Satz. BAföG und Hochschulpakt zeigen

aus unserer Sicht: Bei den wichtigen hochschulpoliti-schen Instrumenten herrschen in Ihrem Haus entwederRotstift oder Konzeptionslosigkeit vor.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Als nächstes hat das Wort der Kollege Klaus-Peter

Willsch, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Meine sehr verehr-

ten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Als letzter Red-ner der CDU/CSU in dieser Debatte über den Einzelplan„Bildung und Forschung“ muss ich natürlich auf einigePunkte eingehen, die von Vorrednern hervorgehobenwurden.

Frau Hinz, Sie haben sich darüber beklagt und die Ge-fahr an die Wand gemalt, dass die Gleichberechtigungder Frauen ins Hintertreffen geraten könnte. Ich binjetzt von zehn Rednern in dieser Debatte der dritteMann. Wenn dieses Parlament einigermaßen Spiegel un-serer Gesellschaft ist, dann ist es um die Frauen in For-schung und Bildung nicht schlecht bestellt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Eigentlich haben Sie ein höheresNiveau!)

Das ist ein weiter Weg, den ich jetzt gehe, aber ich willdies ansprechen, um zu verdeutlichen, wie dürftig dieKritik und die Argumente gegen den Entwurf waren, dievonseiten der Opposition vorgetragen wurden. Sie haben

wirklich die letzten Punkte, die Sie irgendwie findenkonnten, herangezogen. Es hätte diesem Parlament gutgetan und es wäre ein schönes Zeichen für die Bevölke-rung gewesen, wenn Sie gesagt hätten, dass wir in derFrage, dass wir für Bildung und Forschung mehr tunmüssen, in diesem Haus übereinstimmen

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

und dass wir der Auffassung sind, auf dem richtigenWeg zu sein. Stattdessen haben Sie künstlich an irgend-welchen Punkten herumgekrittelt. Das führt uns abernicht weiter.

Einen Punkt, Frau Hinz, will ich noch ansprechen: Siehaben gesagt, die Grundlagenforschung würde insHintertreffen geraten. Diese Aussage halte ich nun wirk-lich für abwegig. Sie wissen, dass wir die Mittel für diegroßen Forschungsorganisationen seit Jahren um jähr-lich 3 Prozentpunkte erhöhen.

(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ja, ja!Aber wann hat das denn begonnen? – PriskaHinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Und der Rest des Haushalts wird dannunter „Hightech“ subsumiert!)

Hören Sie sich einmal an, wie das von denjenigen, die indiesem Bereich arbeiten, beurteilt wird. ProfessorMlynek, der Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft, hatdazu gesagt: Das 6-Milliarden-Euro-Programm wird ei-nen positiven Impuls für Deutschland als Innovations-standort setzen. Gerade die Grundlagenforschung ist einMotor für Innovationen und damit auch für Wertschöp-fung und die Entstehung neuer Arbeitsplätze. – Besserhätte auch ich das nicht formulieren können.

Hier schlagen Sie Schlachten, die niemand angefan-gen hat. Denn gerade die Mittel für die Grundlagenfor-schung werden auf wirklich sinnvolle Weise vom Parla-ment bereitgestellt und vom Ministerium eingesetzt. Ichglaube, in dieser Frage hätte uns etwas mehr Gemein-samkeit und Übereinstimmung auch in der öffentlichenWahrnehmung und Darstellung gut getan.

(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Ich will noch eines nachtragen – denn offensichtlichist das in der Sommerpause untergegangen –: LieberKollege Hagemann, Sie haben in einer Ihrer kurzen Zwi-schenfragen, die Sie im Wechselspiel mit dem KollegenKröning gestellt haben, nach der Umsetzung gefragt.Der entsprechende Bericht liegt uns vor. Am 20. Juli die-ses Jahres wurde er unseren Büros zugesandt.

(Ulrike Flach [FDP]: Aber der sagt ja nun wirklich nicht gerade viel aus, Herr Willsch!)

Ich habe eine Kopie dieses Berichts, die ich Ihnen gleichgeben werde, bei mir, sodass auch Sie ihn sich an-schauen können. Lassen Sie uns dann in der Arbeits-gruppe und im Ausschuss in aller Ruhe beraten, wie dieUmsetzung in Zukunft angegangen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU – Ulrike Flach[FDP]: Soll das etwa alles sein? Das ist ein er-bärmlicher Bericht!)

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Klaus-Peter Willsch

Eines muss klar sein: Wir brauchen in Zukunft nochmehr helle Köpfe in Deutschland. Im Hinblick auf dieLohnkosten können wir in Europa nämlich keinen Wett-bewerb gewinnen. Wir müssen, was die Ideen betrifft,besser und schneller sein, und wir müssen in der techni-schen Entwicklung vorne sein. Vor allem – das Schöneist, dass wir das in dieser Deutlichkeit nun erstmals inder parlamentarischen Beratung zum Haushaltsentwurffestgehalten haben – müssen wir all das zusammenfüh-ren und in Form einer Strategie, der Hightechstrategie,dafür sorgen, dass die Ideen, die bei uns entwickelt wur-den, in Patente, in die Produktion, in neue Verfahren, inden Markt und somit auch in den Export fließen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, der Kollege Kröning würde Ihnen

gerne eine Zwischenfrage stellen.

Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Jederzeit, Herr Kollege.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön.

Volker Kröning (SPD): Frau Präsidentin! Herr Kollege Willsch, da meine

Zwischenfrage Ihre Redezeit verlängert, dürften Sie ei-gentlich kaum dagegen sein.

Sie haben eben den Bericht von Mitte Juli dieses Jah-res in den Händen gehalten. Könnten Sie daraus bitte zi-tieren, wie die Bundesregierung sicherzustellen gedenkt,dass die Länder ihren Beitrag von 0,5 Prozent und wiedie Wirtschaft ihren Beitrag von 2 Prozent bis zumJahr 2010 leisten? Seien Sie doch so nett, dem Hause dasvorzutragen.

(Ulrike Flach [FDP]: Das steht da nicht drin!)

Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Herr Kollege Kröning, ich danke Ihnen für Ihre Zwi-

schenfrage. Aber ich bin nicht geneigt, die mir für dieAntwort auf Ihre Zwischenfrage eingeräumte Zeit dafürzu verwenden, diesen Vermerk vorzulesen.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSUund der SPD – Ulrike Flach [FDP]: Das stehtda auch gar nicht drin!)

Er ist mir nämlich zu lang. Ich gebe ihn Ihnen oder demKollegen Hagemann ja gleich. Dann können wir uns inRuhe austauschen. Aber ich bitte um Verständnis dafür,dass ich das nicht für die richtige Form des parlamentari-schen Umganges halte.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Hightechstrategie habe ich bereits angesprochenund die Notwendigkeit betont, Ideen in Patente umzu-wandeln und diese Patente auf den Markt zu bringen.Hier ist bereits ein gutes Stück Arbeit geleistet worden.

Sicherlich werden wir in der Detaillierung im Haushalts-ausschuss noch ausführlicher darüber diskutieren. Dasist genau der Weg, den wir gehen müssen, wenn wir un-ser Ziel erreichen wollen, 3 Prozent des Bruttoinlands-produktes unseres Landes für Forschung und Entwick-lung zu mobilisieren und dieses Geld so einzusetzen,dass es sich in zusätzlichen Arbeitsplätzen niederschlägt.Deshalb unterstützen wir den Weg, den die Regierungeingeschlagen hat.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Meine geschätzte Kollegin Aigner ist schon daraufeingegangen, dass die Sicherheitsforschung in diesemZusammenhang ein wichtiger Aspekt ist. Ich denke, die-ses Thema sollten wir wirklich sehr ernst nehmen. Dennauf diesem Feld haben die Bürger ganz besonders hoheErwartungen an uns, und zwar zu Recht.

Schon im vordemokratischen Staat war die Gewähr-leistung der Sicherheit der Einwohner die höchste undvornehmste Pflicht eines Staates. Das ist nach wie vorso, insbesondere angesichts der Bedrohungsszenarien,die wir erleben und die zum Teil dafür sorgen, dass wirsprachlos sind und um Antworten ringen müssen. In ei-nem solchen Fall können wir nicht ganz selbstverständ-lich sagen, dass sich schon alles regeln wird. Des Öfte-ren müssen wir leider zur Kenntnis nehmen, dass dasLeben riskant ist – jeden Tag. Gleichwohl hat der Bürgereinen Anspruch darauf, dass wir uns ihm gegenüber ver-antwortlich zeigen, auch durch die Förderung von mitwissenschaftlicher Akribie betriebener Sicherheitsfor-schung, und das Menschenmögliche tun, um die Sicher-heit zu gewährleisten. Das werden wir tun: Wir werdenDeutschland so sicher machen, wie das eine Regierung,wie das ein Parlament in einem Land überhaupt organi-sieren kann. Deshalb ist es wichtig, dass die Sicherheits-forschung einen Schwerpunkt darstellt.

(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Aber nicht nur Paranoia! Richtige Sicherheit!)

Ich möchte auf einen kleinen Dissens, den es unterPartnern geben kann – sonst wäre das Leben langweilig –,eingehen. Lieber Kollege Hagemann, Sie haben die Kos-ten für die Entsorgung des besagten Nuklearmaterialsbeklagt. Sie wissen, dass nicht alles davon mit Kern-energie zu tun hat, sondern dass es um Material aus al-len möglichen Bereichen der Grundlagenforschung geht.

(Jörg Tauss [SPD]: Mit Fehlentwicklungen derKernkraft hat es zu tun! – Gegenruf des Abg.Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Von Radio-aktivität im Krankenhaus hat der noch nichtsgehört!)

In diesem Zusammenhang erlaube ich mir die Bemer-kung – auch wenn es im Koalitionspapier erst einmal an-ders steht, wird man darüber diskutieren dürfen –, dasses besonders ärgerlich ist, dass wir, wenn schon die Kos-ten da sind, auf die Erträge aus diesem Bereich verzich-ten wollen. Die könnten wir ganz leicht mitnehmen,

(Ulrich Kelber [SPD]: Wer bekommt denn die Erträge?)

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Klaus-Peter Willsch

wenn wir uns dafür entschieden, die Kernkraftwerke einbisschen länger laufen zu lassen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Das wäre gut für unser Land, das wäre gut für die Ener-gieversorgung unserer Bürger, die dadurch kostengünsti-gen Strom bekämen. Jedenfalls wäre das klüger, alswenn man sie stattdessen mit Atomstrom aus Frankreichversorgt.

(Ulrich Kelber [SPD]: Wir sind es, die exportieren!)

Bei diesem Thema werden wir geistig beweglich bleibenmüssen,

(Jörg Tauss [SPD]: Das ist altes Denken!)

über dieses Thema werden wir unter Partnern weiterstreiten müssen.

Mit der Forschungsprämie betreten wir Neuland. Ichbin im Sommer immer in meinem ganzen Wahlkreis un-terwegs, besuche vor allen Dingen Firmen. Wir habenAusbildungsplätze mobilisiert und dabei auch über dieForschungsprämie gesprochen. Sie ist sehr positiv auf-genommen worden, es gab sehr positive Resonanz. Dennmit der Forschungsprämie rücken die Unternehmen stär-ker in das Blickfeld der universitären und der außeruni-versitären Forschungseinrichtungen. Zum Zweiten gibtes mit Blick auf KMU einen erheblichen Aufwuchs derForschung durch Fachhochschulen. Denn häufig hat derBetrieb vor Ort bereits eine Kooperation mit Werkstu-denten, mit Studenten, die ihre Diplomarbeit schreiben,oder Absolventen, die ihre Doktorarbeit schreiben, kenntdie Leute schon, und sieht jetzt eine neue Möglichkeit,die Zusammenarbeit mit Wissenschaft und Forschung zuintensivieren. Genau das ist es, was wir in Deutschlandbrauchen. Den Schwerpunkt auf KMU zu setzen, wardeshalb völlig richtig. Wir werden uns, wenn es um dieFeinsteuerung geht, sicher noch verschiedentlich imHaushaltsausschuss mit diesem Thema beschäftigen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich warte geradezu sehnsüchtig auf die Frage der Prä-sidentin nach meinem letzten Satz.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ja.

Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Ich erspare Ihnen die Mühe, mich insofern zu ermah-

nen. – Ich will zum Schluss ein kleines Schmankerl brin-gen.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Aber nur ein ganz kleines!

Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Ein ganz kleines. – Die „Bild“-Zeitung hat am letzten

Freitag Millionen von Lesern verkündet: Wer faul ist,kann eigentlich nichts dafür. Wissenschaftler der Univer-sität Minnesota haben das Stubenhockergen gefunden.

Es sorgt für einen Orexin-A-Mangel, der Trägheit her-vorruft. – Ich finde, wir sollten es uns in Deutschlandnicht so leicht machen. Wir sollten anpacken, wir solltenalle zusammen sagen: Jawohl, wir können es noch undwir wollen wieder nach vorne. Wenn wir so weiterma-chen wie bisher im Bereich Bildung und Forschung, binich mir sicher, dass wir mit dieser neuen Regierung nachvorne kommen und Deutschland wieder an die Spitzebringen.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Es spricht der Kollege Dr. Dieter Rossmann, SPD-

Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Als allerletzter Redner seitens der SPD-Fraktion mussich noch einmal an die letzte Parlamentsdebatte anknüp-fen, als wir die Föderalismusreform verabschiedet ha-ben. Der Sprecher des kleinsten Koalitionspartners, derCSU, Herr Dr. Ramsauer, hat letztens erklärt, die SPDsei fürchterlich unzuverlässig, weil sie bei der Föderalis-musreform nicht Ruhe gegeben hätte, bis sie noch etwasdurchgesetzt hatte.

(Jörg Tauss [SPD]: Das hat Herr Ramsauer gesagt?)

Wir freuen uns, dass wir die Kooperation des Bundes mitden Ländern im Wissenschaftsbereich durchsetzenkonnten. Es ist uns ein Bedürfnis, Ihnen, Frau Aigner, zusagen: Sie haben den Kopf damals hochgereckt, Sie dür-fen ihn aufbehalten. Es ist gut, dass wir an dieser Stellegemeinsam etwas frei geschlagen haben, damit es einenguten Hochschulpakt geben kann.

(Beifall bei der SPD)

Nach diesem Lob für Frau Aigner will ich umgekehrtleicht süffisant sagen: Sie haben sich ja viel Mühe mitdem Start gegeben. Wir können aber ganz selbstbewusstsagen: Wir laufen schon seit langem, nämlich seit 1998,erfolgreich – und nun laufen Sie mit. Das mag gut sein.

(Ulrike Flach [FDP]: Das darf nicht wahrsein! – Jörg Tauss [SPD]: Die haben den Stabvon den Grünen übernommen!)

Man kann das auch anhand von Zahlen deutlich machen:Alle in diesem Raum wissen, dass die Zahlen für Bil-dung und Forschung bis 1998 nach unten gingen, weilCDU/CSU und FDP regiert haben. Seit 1998 gehen sienach oben, weil die SPD regiert, und zwar zuerst mit denGrünen und danach mit der CDU/CSU. – Insoweit kön-nen wir das abwandeln, was uns gestern Ihr Fraktions-vorsitzender ins Stammbuch schreiben wollte, dermeinte, es sei immer dann gut, dass die SPD regiert,wenn die CDU/CSU dabei sei. Wir sagen es jetzt anders:

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Dr. Ernst Dieter Rossmann

Es ist immer gut für Bildung und Forschung, wenn dieSPD in Deutschland regiert.

(Beifall bei der SPD)

Ich komme auf den Ausgangspunkt zurück, nämlichauf die Föderalismusreform, mit der uns in der Tat einegemischte Speise aufgetischt worden ist. Wir haben aus-drückliche Kompetenzen in der Bildungsforschung undin der Bildungsberichterstattung. Daneben haben wirgroße Verantwortung und Kompetenz in der beruflichenBildung und wir haben die Förderkompetenz im Hoch-schulbereich. Zu diesen drei Punkten möchte ich einigeAnmerkungen machen und auch das in meine Ausfüh-rungen aufnehmen, was von den verschiedensten Kräf-ten hier gesagt worden ist.

Frau Ministerin, für den Bereich der Bildungsfor-schung haben Sie meine ausdrückliche Anerkennungdafür, dass die Mittel dort beträchtlich steigen und es da-mit zu einer Unterfütterung für die nationale Bildungs-berichterstattung kommt. Dieses Instrument sollten wirnutzen. Wir Sozialdemokraten können uns gut vorstellen– bei Ihnen ist das sicherlich nicht anders –, dass der na-tionale Bildungsbericht Gegenstand einer Parlamentsbe-ratung wird. Wir fordern von hier aus auf, dass das auchin allen Länderparlamenten geschieht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wenn es eine nationale Bildungsverantwortung gibt,dann müssen sich Bund und Länder gemeinsam bemü-hen, aus diesem Instrument etwas zu machen und dieBildungsforschung in den Blick zu nehmen.

Wir haben heute bei der Beratung über den Haushaltdes Arbeits- und Sozialministers gehört, dass es bezüg-lich der beruflichen Bildung eine breite Zustimmungfür die Nutzung der verschiedensten Instrumente gibt. Esist wichtig, dass auch etwas umgesetzt wird. An dieserStelle äußere ich meine ausdrückliche Freude darüber,dass es in der Sommerpause gelungen ist, für Jugendli-che mit Migrationshintergrund zusätzliche Plätze in derüberbetrieblichen Ausbildung zu mobilisieren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das schafft Vertrauen darin, dass dem inhaltlichen An-liegen, das damals während der Rütli-Debatte vorge-bracht wurde, entsprochen wird. Bisher sind es5 000 Plätze und es kommen noch 2 500 hinzu. Dabeimuss es nicht bleiben; denn wir haben eine ganz großeVerantwortung dafür, in diesem Bereich Verlässlichkeitzu erreichen und für Qualifikation zu sorgen.

Wir erkennen ausdrücklich an, dass die Ministerinden Anteil derer, die von der Hochbegabtenförderungprofitieren und ein entsprechendes Stipendium erhalten– das bezieht sich auf den beruflichen und akademischenBereich –, von 0,7 Prozent auf 1 Prozent anheben will.Dies wird von uns mitgetragen. Das ist eine richtige Ent-wicklung. Das andere große Förderwerk, das wir inDeutschland haben, das BAföG, darf darunter aber nichtleiden.

(Beifall bei der SPD)

Um das hier gegenüber den Grünen einmal ausdrücklichklarstellen: Es leidet nicht, denn es ist ein Leistungsge-setz und wenn dort nachfinanziert werden muss, dannwird dort nachfinanziert. Die SPD hat im Koalitionsver-trag durchgesetzt, dass es ein Leistungsgesetz bleibt.Dazu steht sie auch.

(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Stellt sich nur die Frage, warumder Haushaltstitel verringert wurde!)

Wir werben allerdings dafür, das BAföG weiterzuentwi-ckeln.

Wir haben jetzt die Chance, einen guten Hochschul-pakt zu entwickeln, in den wir das aufnehmen, wasschon im Pakt für Forschung und Innovation und mit derExzellenzinitiative unter der Regierung von Schröderund Bulmahn auf den Weg gebracht wurde. Dies findetin der Hightechinitiative und im Hochschulpakt eineFortsetzung.

Es wird vielfach gefragt, welches die wesentlichenElemente des Hochschulpakts seien. Man kann das nichtsagen, bevor man nicht in die abschließenden Verhand-lungen mit dem Partner eingetreten ist. Es hat hier Zwei-fel gegeben, ob die diese Koalition tragenden Fraktionender CDU/CSU und der SPD die Ministerin nachdrück-lich darin unterstützen, Entsprechendes einzufordern:von der Wirtschaft, wenn es um Forschung geht, undvon den Ländern, wenn es um Hochschulbildung geht.Wir wollen hier noch einmal ausdrücklich sagen: Sie ha-ben jede Rückendeckung dafür, dass in diesen Bereichenein Gemeinschaftswerk zwischen Bund und Ländernentsteht.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Es mag bei den jeweiligen Akzenten unterschiedlicheMeinungen geben. Folgende Elemente des Hochschul-paktes zeichnen sich aber ab:

Erstens. Die Vollkostenfinanzierung wird Teil einessolchen Hochschulpakts sein.

Zweitens soll eine Förderung über Lecturer möglichsein. Vielleicht kann man die Juniorprofessur als weite-res Element einbeziehen.

(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Es geht also um die unmittelbare Förderung von Lehre.

Dritte Komponente wird die Förderung von Frauensein müssen, weil die Frauen einen wesentlichen Anteilder wachsenden Studierendenzahl darstellen werden. Esgeht hierbei um wesentliche Ressourcen, die sich end-lich auch in einem erfolgreichen Studium entfalten kön-nen müssen.

(Beifall bei der SPD)

Viertes Element ist die Stärkung der Fachhochschu-len. Die Fachhochschulen sind ganz wichtige Ausbil-dungsträger im Hochschulbereich; sie haben eine langeTradition. Momentan kann man ein Zusammenwachsenbeobachten, sodass man alte Debatten über Gesamthoch-

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Dr. Ernst Dieter Rossmann

schulen fast vergessen kann. Wir sagen von uns aus:Man sollte natürlich auch Aspekte wie die Erforschungbesserer Lehre berücksichtigen.

Eines ist wichtig: Es darf nicht nur ein Pakt der Quan-tität entstehen; es muss auch ein Pakt der Qualität wer-den.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Man sollte deutlich machen, dass hier zwei Elementemiteinander verbunden werden: Auf der einen Seite wer-den die Ingenieur- und Naturwissenschaften ausgebaut;auf der anderen Seite werden die Mittel für die Geistes-und Sozialwissenschaften verdoppelt. Da diese Kompo-nente hinzukommt, handelt es sich um eine ganzheitli-che Strategie. Wir sind darauf angewiesen, dass an denHochschulen der Zukunft berufsbezogen, wissenschafts-orientiert, gleichzeitig aber auch gesellschaftlich und so-zial verpflichtet studiert wird. Diese Koalition geht da-ran, die Umsetzung dieses Vorhabens materiell zuunterfüttern.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Aussage in Bezug auf Kapazitäten und Qualitätenist uns wichtig, weil wir – ohne das mit Häme zu beglei-ten – wissen, in welch unterschiedlichem Maße dieLänder bisher daran beteiligt sind, Studienplätze zurVerfügung zu stellen und Wissenschaftsressourcen zumobilisieren: Bayern hat ein Prä bei der Mobilisierungvon Wissenschaftsressourcen, aber nicht bei der Ausbil-dung von Studierenden. Wir haben Stadtstaaten, die sichin beiden Bereichen, vor allen Dingen im Ausbildungs-bereich, stark engagieren. Wir haben ein großes Flächen-land wie NRW, das sich vor allen Dingen bei den Stu-dienplatzkapazitäten engagiert.

Es wird ein Kunststück sein – aber wir werden Sie da-bei unterstützen –, die verschiedenen Interessen so untereinen Hut zu bringen, dass der Hochschulpakt tatsäch-lich als Botschaft für die Zukunft in Deutschland wirkenkann. Sie sollen von uns jede Unterstützung bekommen.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Noch eine kleine Bemerkung: Vielleicht wären wir

schon weiter, wenn man sich in diesem Hause früher aufeine kleine, aber wichtige, milliardenschwere Verände-rung hätte einigen können: Hightech statt Hausbau. Wirhätten schon drei Jahre weiter sein können. Dass wir esjetzt erreichen, freut uns auch. Die Hightechinitiative istauf gutem, gemeinsamem Boden gewachsen.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit ist die Aussprache zu diesem Geschäftsbereich

abgeschlossen.

Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-sicherheit, Einzelplan 16.

Außerdem rufe ich die Zusatztagesordnungspunkte 2und 3 auf:

ZP 2 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zurÄnderung des Erneuerbare-Energien-Geset-zes

– Drucksache 16/2455 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten PeterBleser, Ursula Heinen, Klaus Brähmig, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so-wie der Abgeordneten Mechthild Rawert, Wal-traud Wolff (Wolmirstedt), Ulrich Kelber, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Die weltweit letzten 100 westpazifischen Grau-wale schützen

– Drucksache 16/2510 –

Wir warten, bis die Abgeordneten die Plätze gewech-selt haben. – Als erster Redner hat das Wort der Bundes-minister Sigmar Gabriel.

Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HeuteVormittag hat das Umweltbundesamt seinen Jahresbe-richt vorgestellt. Eines der wichtigsten Schwerpunktthe-men dieses Jahresberichtes lautet:

Umweltschutz als Motor für Innovations- und In-frastrukturpolitik.

Die wissenschaftliche Botschaft des UBA ist eindeutig:Die Zukunft für Wachstum und wirtschaftlichen Erfolgliegt im Umweltschutz. Wer das ignoriert, gefährdet denwirtschaftlichen Erfolg des Exportweltmeisters Deutsch-land und damit Tausende von Jobs in unserem Land.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wenn aus insgesamt 6,5 Milliarden Menschen aufdieser Erde demnächst 9 Milliarden werden und immermehr Menschen auf begrenzte Rohstoffe und Energiere-serven zugreifen, deren Preise dadurch ständig anstei-gen, dann drohen nicht nur extreme wirtschaftliche Ge-fahren für ein rohstoffarmes Land wie Deutschland, weilsich die Preissteigerungen auf die Produkte auswirken,die wir auf dem Weltmarkt absetzen müssen – wenn sichLänder wie China in neomerkantilistischer Weise Roh-stoffquellen kaufen, dann ist das für ein Land wie dieBundesrepublik eine wirtschaftliche Gefahr –, sondern

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Bundesminister Sigmar Gabriel

es droht auch die Zunahme von Krieg und Bürgerkriegum Rohstoffquellen.

Die Alternativen liegen auf der Hand – sie sind wederteuer noch unerreichbar –: mehr Effizienz in der Nut-zung von Energie und Rohstoffen und verstärkter Ein-satz von natürlichen und nachwachsenden Rohstoffenstatt der Abhängigkeit von begrenzten und damit knap-per werdenden Rohstoffen. Damit wächst nicht nur dieUnabhängigkeit von knappen und teuren Rohstoffen;vielmehr können wir beginnend bei dem Rohstoffeinsatzund dem Produktdesign auch die Gesundheits- und Um-weltgefahren immer weiter abbauen und die Schwierig-keiten bei der Nachnutzung oder Entsorgung immer wei-ter reduzieren.

Die Einsatzgebiete sind praktisch unbegrenzt. Soforscht beispielsweise die Deutsche Gesellschaft fürLuft- und Raumfahrttechnik am ForschungsflughafenBraunschweig über den Ersatz von Metall und Kunst-stoff durch Materialien aus nachwachsenden Rohstoffenim Flugzeugbau. Die Weiße Biotechnologie nutzt Mi-kroorganismen und Enzyme, um schadstoffhaltige Pro-zesse zum Beispiel in der Chemieindustrie zu ersetzen.Sie ermöglicht zudem den völlig unproblematischenEinsatz der Gentechnik, weil sie dort nur in geschlosse-nen Kreisläufen eingesetzt wird.

(Jörg Tauss [SPD]: Das haben wir alles er-forscht!)

Die Nanotechnologie kann eine erhebliche Verringerungdes Energie- und Rohstoffeinsatzes ermöglichen. – Ge-rade ein Hochtechnologieland wie Deutschland kanndiese Alternativen nutzen und daraus enormen wirt-schaftlichen Erfolg ziehen. Sie sind eine Riesenchancefür wirtschaftliches Wachstum und Arbeitsplätze, aberauch für die Sicherung der natürlichen Lebensgrundla-gen für uns und die künftigen Generationen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

In diesem Sinn verstehen die Regierungskoalition unddas Bundesumweltministerium ihre Arbeit in dieser Le-gislaturperiode. Der Haushaltsentwurf 2007 setzt erneutentsprechende Schwerpunkte. Ich will nur einige Bei-spiele nennen.

Das erste Beispiel sind die erneuerbaren Energien.Die Haushaltsansätze für Forschung und Entwicklungerneuerbarer Energien wurden und werden unter dieserBundesregierung kontinuierlich und deutlich aufge-stockt. 2005 haben sie noch 45 Millionen Euro betragen.2006 waren es bereits 83 Millionen Euro. 2007 sind es88 Millionen Euro und bis 2009 erfolgt ein jährlicherAufwuchs um 5 Millionen Euro. Auch der Abfluss derHaushaltsmittel ist in diesem Bereich trotz des späten In-Kraft-Tretens des Haushaltes 2006 bis Ende August miteinem vergleichbaren Volumen bewältigt worden: 2005waren es 25,3 Millionen Euro; 2006 waren es in nur we-nigen Wochen – genau gesagt: in sieben Wochen –25 Millionen Euro. Vorliegende Anträge werden seitJahresanfang kontinuierlich bewertet und die Bewilli-gung wird vorbereitet.

In diesem Bereich ist ein riesiges Jobwunder zu ver-zeichnen. Es sind 170 000 dauerhafte Arbeitsplätze imIngenieurwesen, für Facharbeiter und Kaufleute entstan-den. Ich habe eben noch einen Teil der Debatte über denHaushalt der Kollegin Schavan mitverfolgt. Wir beratenim Zusammenhang mit den erneuerbaren Energien auchdie Frage der Erhöhung der Ausbildungskapazitäten. Inder letzten Gesprächsrunde ist uns mitgeteilt worden,dass in der Branche der erneuerbaren Energien in dennächsten Jahren rund 2 500 zusätzliche Ausbildungs-plätze entstehen werden. Ich wünschte mir, dass sich an-dere Branchen daran ein Beispiel nehmen würden. Dannginge es uns besser.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiedes Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN])

Das zweite Beispiel ist das Marktanreizprogramm.Bei der Beratung des Haushaltes gibt es zwei Botschaf-ten. Die gute Botschaft lautet: Das Marktanreizpro-gramm entwickelt sich insbesondere im Bereich der er-neuerbaren Wärme ungeheuer rasant. Im ersten Halbjahr2006 wurden doppelt so viele Anträge gestellt wie imgesamten Vorjahreszeitraum. Bereits jetzt sind es25 Prozent mehr als im gesamten Jahr 2004.

Ich weiß, dass bei den letzten Haushaltsberatungen ei-nige Kollegen darauf hingewiesen haben, dass es hierMittelabflussprobleme gibt. Das hatte damit zu tun, dassdas Programm noch nicht so bekannt war. Außerdemwaren damals die Rohstoffpreise niedriger. Das Pro-gramm hat nun sehr großen Zulauf und schafft Arbeits-plätze im Handwerk. Das führt aber zu folgenden Pro-blemen: Da beim BAFA momentan kistenweise neueAnträge eingehen – es sind 1 300 pro Tag; im Wesentli-chen betreffen sie den Bereich der erneuerbaren Wärme –,sind die begrenzten Mittel in Höhe von 180 Millionenpro Jahr relativ schnell am Ende. Wir haben diesen An-satz zwar im letzten Haushaltsjahr verstetigt. Aber wirmerken, dass wir an unsere Grenzen stoßen. Wenn wirhier industriepolitisch und ökologisch genauso erfolg-reich sein wollen wie im Bereich des erneuerbarenStroms, dann werden wir in den nächsten Monaten da-rüber nachdenken müssen, wie wir die Entwicklung ver-stetigen können und welche Konzepte notwendig sind,um das begrenzte Mittelvolumen so zu organisieren,dass wir der sich abzeichnenden Tendenz nachkommenund damit sowohl etwas für das Klima als auch etwas fürdie Arbeitsplätze im Handwerk tun können.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Das Förderprogramm für erneuerbare Wärme ist daseine. Das andere ist das CO2-Gebäudesanierungspro-gramm. Bei diesem Programm, das für den Umweltbe-reich wichtig ist und beim Kollegen Tiefensee ressor-tiert, lässt sich die gleiche Entwicklung beobachten. DerFinanzminister hat bereits angekündigt, dass in diesemJahr 350 Millionen Euro – aus den Folgejahren vorgezo-gen – zusätzlich zur Verfügung gestellt werden, damit esnicht zu einem Antragsstau kommt.

Das dritte Thema ist die Ressourceneffizienz. Es isthöchste Zeit, dass wir uns mit dem Thema Effizienz stär-

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Bundesminister Sigmar Gabriel

ker als in der Vergangenheit auseinander setzen. DieWeltmarktpreise für importierte Rohstoffe im Euroraumsind von 2000 bis 2005 um 81 Prozent gestiegen. Diebeste Möglichkeit, hiergegen etwas zu unternehmen, ist,effizienter mit Rohstoffen und Energie umzugehen.Schließlich sind 40 Prozent der Kosten im produzieren-den Gewerbe Materialkosten. Die durchschnittlichenLohnkosten liegen dagegen nur bei rund 25 Prozent. An-gesichts dessen bin ich verwundert, warum wir täglichdarüber diskutieren, wie wir den Faktor Arbeit preiswer-ter machen können, was meistens dadurch geschieht,dass Menschen arbeitslos gemacht werden. Wir solltenstattdessen darüber reden, wie sich die Material- und dieEnergieeffizienz erhöhen lassen. Es ist doch besser,wenn wir Megawattstunden arbeitslos machen als Men-schen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und derLINKEN sowie des Abg. Fritz Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN])

Für das Bundesumweltministerium steht die Arbeit imBereich „Forschung und Energie“ im Mittelpunkt, genauwie die Debatte in der EU über die Ökodesignrichtliniesowie der Dialog mit Gewerkschaftern und Unterneh-mern über eine stärkere Material- und Rohstoffeffizienz.

Das vierte Thema ist der Klimaschutz. Ich wiederholedas, was ich in der Debatte über den Nationalen Allo-kationsplan und in Fragestunden gesagt habe. Ursprüng-lich war für die zweite Periode des Emissionshandels zurReduzierung der Treibhausgase, zur Verbesserung desKlimaschutzes und zum Erreichen der Klimaschutzzielein Deutschland eine Reduzierung der CO2-Gase um21 Prozent bis 2012 geplant. Das werden wir sicherlichschaffen. Damals wurde prognostiziert, dass man in derzweiten Handelsperiode rund 500 Millionen TonnenCO2 emittieren muss. Wir haben einen Nationalen Allo-kationsplan vorgelegt, der 471 Millionen Tonnen CO2vorsieht, also deutlich ambitionierter ist als das, was inder letzten Legislaturperiode als notwendig vorhergesagtwurde. Damals hatten wir eine Reduzierung von3 Millionen Tonnen CO2. Nun sind es 15 Millionen Ton-nen, die wir sozusagen als Senkung eingebaut haben.Damals musste die Energiewirtschaft 3 Prozent Senkungtragen. Nun sind es 15 Prozent. Ich halte das für einenaußerordentlichen Erfolg dieser Regierungskoalition.Denjenigen, die behaupten, wir täten nichts, und das Jahr2005 mit relativ geringer Emission herausgreifen, sageich: Wir können und dürfen uns nach den europäischenVorgaben nicht auf ein Jahr verlassen. Vielmehr müssenwir die Durchschnittszahlen von 2002 bis 2006 zugrundelegen.

Zum Thema Auktionierung: Ich wünsche mir, dasswir schnell zu einer Auktionierung kommen. Aber dannbrauchen wir vorher Wettbewerb auf dem Strommarkt.Sonst steigen die Preise weiter. Wir hätten dann nichtmehr Geld und würden den Verbrauchern das Geld nurschneller aus der Tasche ziehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Das fünfte Thema ist das nationale Naturerbe. Eineherausragende Zusage der Bundesregierung ist die Fest-legung, dass insgesamt 125 000 Hektar gesamtstaatlich-repräsentative Naturschutzflächen des Bundes unent-geltlich in eine Bundesstiftung eingebracht oder an dieBundesländer übertragen werden. Wenn man weiß, dassdie Kenntnisse der Natur in Zukunft stärker gebrauchtwerden, um die Industriepolitik abzusichern und zurNeige gehende Rohstoffe zu ersetzen, dann muss mandafür sorgen – das ist die Konsequenz –, dass die Arten-vielfalt möglichst groß ist. Man sollte es schon aus Res-pekt vor der Schöpfung tun, die bewahrt werden muss.Wer aber nur in der ökonomischen Kategorie denkt, demmuss man sagen: Wenn du willst, dass Wirtschaft erfolg-reich ist, dann darfst du nicht hinnehmen, dass die Roh-stoffquellen der Zukunft zerstört werden, indem die Ar-tenvielfalt immer mehr abnimmt. Deswegen wird dasProjekt, 125 000 Hektar Flächen in eine Bundesstiftungeinzubringen, nicht nur von der Naturschutzszene seitlangem gefordert. Es ist eines der wichtigsten Projekte,die wir in den nächsten Jahren weiter voranbringen wol-len.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf derAbg. Ulrike Flach [FDP])

– Ich kann Sie leider nicht verstehen. Das Klatschen warlauter als Ihr Zwischenruf. Ich glaube, das ist auch be-rechtigt. Aber Sie werden zu diesem Thema ja mit Si-cherheit noch Wesentliches beitragen.

Eine letzte Bemerkung zum Thema Atomenergie. Ichwill angesichts der Debatte über Forsmark und Bruns-büttel nur sagen, dass es bei der Haltung der Bundesre-gierung bleibt. Wir wissen, dass es sich dabei um einekritische Technologie handelt, und wir werden – das istdie gemeinsame Position beider Koalitionsparteien – aufdie Sicherheit keinen Rabatt geben. Daran gibt es keinenZweifel.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Wir haben den Betreiber von Brunsbüttel aufgefor-dert, uns die technischen Nachweise für seine Behaup-tung zu erbringen, es gäbe bei ihm keine Wechselrichter-problematik wie in Forsmark, weil eine andereTechnologie verwendet werde. Er hat diese Nachweisebis heute nicht erbracht und hat sich entschieden, zu sa-gen: Wir werden die gesamte Technik austauschen, umuns überhaupt nicht mehr davon abhängig zu machen. –Das zu kritisieren, halte ich für einen relativ abenteuerli-chen Vorgang; denn das ist der Beweis dafür, dass esrichtig war, nach Forsmark den Betreibern nicht zu hun-dert Prozent zu glauben, sondern ihren Behauptungennachzugehen und sie zu prüfen.

Die Betreiber von Brunsbüttel haben nachgemeldet,dass es doch mehr Probleme gebe, als sie ursprünglichgedacht haben. Wir haben den Druck auf dem Kessel ge-halten, um im Ergebnis eine Lösung zu finden. Jetzt zusagen: „Ihr müsst die abschalten“, und dabei zu ignorie-ren, dass es trotz eines denkbaren Ausfalls der Wechsel-richter eine gesicherte Notstromversorgung gibt, heißt,den Bund zur Willkür aufzufordern. Das gab es früher

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Bundesminister Sigmar Gabriel

nicht – das ist vernünftig gewesen – und das wird esauch unter der neuen Regierung nicht geben.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Es bleibt dabei: Wir geben beim Thema Sicherheitkeinen Rabatt. Es bleibt auch bei der Koalitionsverein-barung. Ich habe, wie gesagt, der vorhergehenden De-batte gelauscht. Mir fiele zum Thema Strompreise eini-ges ein, insbesondere die Tatsache, dass wir nochKernenergie nutzen und die Preise trotzdem steigen. Ichverstehe daher nicht, dass man sagen kann, dass durchdie Nutzung der Kernenergie die Preisstabilität gewähr-leistet werde. Wir erleben derzeit das Gegenteil.

Meine Redezeit ist um. Ich bin mir aber sicher, dasswir hier noch gelegentlich über dieses Thema zu spre-chen haben.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat der Kollege Michael Kauch, FDP-Frak-

tion.

Michael Kauch (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Blicken

wir auf das Jahr 2007 – über diesen Haushalt beraten wirheute –, so sind vor allem die deutschen Präsident-schaften in der Europäischen Union und in der Gruppeder G-8-Staaten von herausragender Bedeutung. In die-sen Präsidentschaften geht es um nicht mehr und nichtweniger als um einen Planeten, den wir für unsere kom-menden Generationen lebenswert erhalten wollen.

Es geht darum, die anstehenden Veränderungen derwirtschaftlichen Strukturen durch Innovationen zu be-schleunigen, damit – das ist unser Ziel – Europa weiter-hin einer der Technologieführer in der Welt bleibt.

(Beifall bei der FDP)

Deshalb muss Deutschland eine Priorität seiner Präsi-dentschaften auf die Themen Energiesicherheit undKlimaschutz setzen. Beides ist untrennbar miteinanderverbunden. Dabei geht es aber nicht nur um die Aufga-ben des Bundesumweltministers und des Bundeswirt-schaftsministers. Ich würde mich freuen, wenn die Kanz-lerin selbst diesen Themen in den Präsidentschaften, dievor uns liegen, das notwendige Gewicht gibt.

(Beifall bei der FDP)

Die jüngsten Zahlen zeigen, wie dringlich schnellesweltweites Handeln ist; denn nach einer aktuellen Studieder Internationalen Energieagentur werden die CO2-Emissionen bis 2050 um 137 Prozent steigen, wenn wirnichts verändern. Es geht also kaum noch um Reduzie-ren, sondern es geht darum, den Anstieg zu verringern,der vor uns liegt. Das erfordert eine globale Klima-schutzoffensive mit dem Ziel einer CO2-armen Wirt-schaft. Vor allem Energieeffizienz und die CO2-Abschei-dung bei Kohlekraftwerken haben global die größtenEinsparpotenziale für CO2.

Diese Potenziale sind nach der Studie der Internatio-nalen Energieagentur übrigens größer als die der Tech-nologien, derentwegen wir uns im Parlament regelmäßigdie Köpfe einschlagen, größer als die von Kernenergieund größer als die von erneuerbaren Energien, zumin-dest in globaler Sicht. Deshalb brauchen wir den Ausbauerneuerbarer Energien. Wir brauchen aber auch die For-schung für andere Elemente des Energiemixes, den wirfür die Stabilisierung der globalen CO2-Emissionenbrauchen.

(Beifall bei der FDP)

Machen wir uns nichts vor: Die Kohle, die Tausende vonKilometern breit in der Erde Chinas liegt, wird verbranntwerden. Die Frage ist, mit welcher Technologie. Da kön-nen wir Deutsche unseren Beitrag leisten.

(Beifall bei der FDP)

Die nationale wie die internationale Energiefor-schung sind deshalb von essenzieller Bedeutung. Umsobedauerlicher ist es, dass die Bundesregierung zwar aufder einen Seite ein großes Tamtam mit dem Energiegip-fel veranstaltet, auf der anderen Seite aber immer nochnicht ein eigenes Programm, eine eigene Strategie zurumweltfreundlichen Energienutzung und Energieerzeu-gung vorgelegt hat. Hier stochern Sie weiterhin im Ne-bel.

(Beifall bei der FDP)

Die deutsche Präsidentschaft sollte bestrebt sein, dieinternationale Kiotogemeinschaft möglichst schnell aufweitere Staaten zu erweitern und den Emissionshandelauf weitere Sektoren der Volkswirtschaft auszuweiten.Daher sollte die EU-Ratspräsidentschaft die Kommis-sion darin bestärken, den Emissionshandel auch auf denLuftverkehr auszuweiten. Ich möchte der deutschen Prä-sidentschaft mit auf den Weg geben, dass das Europäi-sche Parlament ein Modell vorgeschlagen hat, das ge-rade nicht die Einbeziehung des Luftverkehrs in denEmissionshandel vorsieht, sondern ein separates Han-delssystem. Dieses hätte die einzige Wirkung, den Luft-verkehr zu verteuern, ohne eine wirkliche ökologischeWirkung zu erzielen. Ich bitte Sie, dieses Modell zu ver-hindern und auf die Vorschläge der Europäischen Kom-mission zurückzukommen.

(Beifall bei der FDP)

Die Bundesregierung muss erst einmal ihre Hausauf-gaben in Deutschland erledigen, und zwar vor allem inBezug auf den Nationalen Allokationsplan II. Hierkann man nur feststellen, dass die Bundesregierung wei-terhin, wie auch in dieser Zuteilungsperiode, den Ener-gieversorgern milliardenschwere Geschenke zulastender Verbraucher macht, indem sie die Zertifikate zu100 Prozent kostenlos abgibt. Herr Gabriel, auch inanderen Ländern gibt es noch nicht den perfekten Wett-bewerb auf den Energiemärkten. Ich stelle aber fest: Dä-nemark versteigert 10 Prozent und Großbritannien ver-steigert 8 Prozent. Sie aber wollen nichts versteigern.Offensichtlich wollen Sie die Geschenkpolitik fortset-zen.

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Michael Kauch

(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Gabriel, wir wollen die Emissionszertifikate indem Umfang versteigern lassen, wie es die EU zulässt.Das wäre im Interesse auch der Verbraucherinnen undVerbraucher. Die Zertifikate sind sowieso in die Energie-preise eingerechnet. Wenn Sie sie versteigern würden,könnten Sie die eingenommenen Mittel nutzen, um dieStromsteuer zu senken. Das würde die Strompreise fürdie Verbraucherinnen und Verbraucher senken und nichtsteigern.

(Beifall bei der FDP)

Ich möchte auch die Kolleginnen und Kollegen von derLinkspartei dazu einladen, unser Modell zu unterstützen;denn die Senkung der Stromsteuer würde genau dementgegenwirken, was Sie heute öffentlichkeitswirksamvorangestellt haben, nämlich dem Umstand, dass die ho-hen Energiepreise die Armut in Deutschland fördern.

Es gibt ein weiteres Problem mit dem NationalenAllokationsplan II, das ein wenig versteckt ist. In IhremPlan steht, dass Neuanlagen, die bis 2012 gebaut wer-den, keinen Erfüllungsfaktor haben, also hundertprozen-tig ausgestattet werden. Haben Sie eigentlich geprüft, obdiese hundertprozentige Ausstattung über 14 Jahre langnicht gleichzeitig bedeutet, dass Sie für diese Kraft-werksbetreiber auch nach 2012 nicht versteigern dürfen?Bedeutet das, dass Sie bereit sind, künftigen Parlamen-ten die Verpflichtung aufzuerlegen, auch über 2012 hi-naus Geschenke in zwei- und dreistelliger Milliarden-höhe zu verteilen, aus der sie möglicherweise nicht mehrherauskommen? In einer Haushaltsdebatte muss aucheinmal gefragt werden, inwieweit Sie durch diesen Na-tionalen Allokationsplan künftige Parlamente in ihrerHaushaltspolitik – aus meiner Sicht in die falsche Rich-tung – binden.

(Beifall bei der FDP)

Wir begrüßen ausdrücklich, dass die deutsche Präsi-dentschaft einen Schwerpunkt auf die Artenvielfalt undden Schutz der Urwälder und der Meere legen will. Hiersind erhebliche Anstrengungen erforderlich, auch umdas genetische Reproduktionspotenzial unseres Planetenfür kommende Generationen zu erhalten. Wenn Sie dieseStrategie verfolgen, dann wünsche ich mir aber auch,dass Sie Anträge erarbeiten, die mehr Substanz haben alsder, den Sie uns heute zu den Grauwalen vorlegen. ImFeststellungsteil steht zwar viel Richtiges; dennoch fal-len die Schlussfolgerungen recht dünn aus.

(Beifall des Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Kommen wir zu dem Gesetzentwurf, der auf Ihre Ini-tiative hin hier mit beraten wird, nämlich dem zur Ände-rung des EEG. Dieser Gesetzentwurf ist ein Eingeständ-nis dessen, dass die mit dem EEG verbundenen Kostenfür energieintensive Unternehmen offensichtlich zu hochsind. Auf der anderen Seite haben Sie hier auch ein biss-chen Etikettenschwindel betrieben; denn dieser Gesetz-entwurf ist natürlich kein Gesetzentwurf zur Kostensen-

kung. Dieser Gesetzentwurf ist ein Gesetzentwurf zurUmverteilung von Kosten und Belastungen.

(Beifall bei der FDP)

Sie wollen die finanziellen Lasten für energieinten-sive Unternehmen zwar verringern; Sie verschweigenaber, dass das Mehrkosten für alle anderen bedeutet. DieKostensenkung für die einen läuft also darauf hinaus,dass den anderen noch tiefer in die Tasche gegriffenwird. Sie treffen die Geringverdiener, die schon heutevon den staatlich verteuerten Strompreisen besondersbetroffen sind. Für die FDP ist Umweltpolitik auch einGerechtigkeitsthema. Deshalb schlagen wir uns bei derEEG-Reform auf die Seite der Verbraucherinnen undVerbraucher und sagen Nein zu Ihrer Kostenverschie-bungspolitik.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat die Kollegin Katherina Reiche, CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Katherina Reiche (Potsdam) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Eine Debatte zum Haushalt, auch zu dem des Umwelt-ministeriums, bietet die Möglichkeit, einen gewissenpolitischen Ausblick zu geben, in diesem Fall einen Aus-blick auf die umweltpolitische Agenda. Der Bundes-umweltminister hat einige Punkte angesprochen, auf dieich später noch eingehen werde.

Zunächst möchte ich noch einiges zur Diskussionüber die Sicherheit deutscher Kernkraftwerke sagen.Gestern war dieses Thema Gegenstand einer Sondersit-zung des Umweltausschusses. Wie Sie, Herr Minister,meine ich, dass wir mit diesem Thema sehr ernsthaftumgehen müssen. Aber gerade deshalb eignet es sicheben nicht für politische Possenspiele. Ich halte es fürunverantwortlich, dass in den vergangenen Wochen derVersuch unternommen wurde, die Sicherheit deutscherKernkraftwerke grundsätzlich infrage zu stellen. Auslö-ser der Debatte – das haben Sie bereits ausgeführt – wareine Betriebsstörung im schwedischen KernkraftwerkForsmark. Unbestritten ist, dass es dort einen ernstenVorfall gab. Aber ich kann mich doch des Eindrucksnicht erwehren, dass dieser Vorfall als Alibi benutztwird, um ungerechtfertigte Vorverdächtigungen auszu-sprechen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – FritzKuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dum-mes Zeug! Lesen Sie die Zeitungen anders he-rum?)

Wir müssen die Diskussion hier versachlichen.

Sowohl das Umweltministerium – das hat der Minis-ter eben deutlich gesagt – als auch die zuständigen Auf-sichtsbehörden haben erklärt, dass Forsmark aufDeutschland nicht übertragbar ist und dass die Sicher-

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Katherina Reiche (Potsdam)

heitsstandards deutscher Kernkraftwerke den gesetzli-chen Vorschriften entsprechen.

Wie angekündigt, wird gemeinsam mit den Länderneine Sicherheitsprüfung der Stromversorgung in denKernkraftwerken durchgeführt, Stichwort „Wechselrich-ter“. Ich begrüße das ausdrücklich. Ich erwarte von denBetreibern der Kernkraftwerke auch, dass sie sich hieranaktiv beteiligen. Aber bevor die Ergebnisse nicht vorlie-gen, können wir auch keine Schlüsse ziehen.

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sollten vorliegen!)

Ich finde, an diese Reihenfolge müssen wir uns halten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Für das kommende Jahr hat der Bundesumweltminis-ter eine Überprüfung der Atomaufsicht in Deutschlanddurch die Internationale Atomenergie-Organisation an-gekündigt. Prinzipiell ist jede Initiative zu begrüßen, diedarauf abzielt, die Sicherheitsüberprüfung und die Infor-mationssysteme in Deutschland noch weiter zu verbes-sern. Aber genau das muss dann auch im Mittelpunktstehen und darf am Ende nicht zu einem Streit über Zu-ständigkeiten führen. Die Aufsichtsbehörden der Länderverfügen über eine hohe Kompetenz und wir sollten sieauch in Zukunft nutzen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Am vergangenen Sonntag haben Sie, Herr Gabriel, inder „Welt am Sonntag“ ein neues Standortsuchverfahrenfür die Endlagerung radioaktiver Abfälle vorgeschla-gen. Ich möchte ganz deutlich sagen, auch an dieserStelle, dass das nicht die Position der Unionsfraktion ist.

(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Hört! Hört!)

Herr Minister, ich hätte mir gewünscht, dass Sie mit unsdas Gespräch suchen, bevor Sie Ihre Vorstellungen in dieÖffentlichkeit tragen.

(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:In der „Welt“ ist es ja ein Gespräch mit euch! –Ulrich Kelber [SPD]: So wie Sie jetzt?!)

Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD istvereinbart, dass wir in dieser Legislaturperiode die Lö-sung der Frage der Endlagerung radioaktiver Abfälle zü-gig und ergebnisorientiert angehen wollen. Der Koali-tionsvertrag gilt – da bin ich ganz auf Ihrer Seite. Dasmuss umgesetzt werden.

Ein neues Standortsuchverfahren widerspricht demGedanken des Koalitionsvertrags aber diametral;

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

denn es führt zu weiteren Verzögerungen. Es ist wedersinnvoll, noch ist es notwendig. Von den zusätzlichenAufwendungen und Kostenbelastungen für den Haushaltmöchte ich gar nicht reden. Von „zügig und ergebnisori-entiert“ kann man bei einem solchen Verfahren nichtsprechen.

Der Erkundung in Gorleben aus den 70er-Jahren wa-ren verschiedene Standortsuchen und eine Vielzahl

wissenschaftlicher Studien vorausgegangen. Bis zumheutigen Tag hat eine Vielzahl wissenschaftlicher Be-gleituntersuchungen stattgefunden; wahrscheinlich lie-ßen sich die Bände über Kilometer aufreihen. Alle Stu-dien bisher haben die Eignung von Gorleben alsEndlager bestätigt und niemals infrage gestellt.

(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?)

So hat beispielsweise das Bundesamt für Strahlen-schutz, immerhin eine Behörde des Umweltministe-riums, noch im November 2005 festgestellt, dass zurEndlagerung radioaktiver Abfälle keines der möglichenWirtsgesteine in Deutschland einem anderen vorzuzie-hen ist.

(Ulrich Kelber [SPD]: Aber das widerspricht gerade Ihrer Argumentation!)

Auch die aktuelle Studie der Bundesanstalt für Geowis-senschaften und Rohstoffe vom August dieses Jahres un-terstreicht die Eignung des Salzstocks in Gorleben alsEndlager. Von einer politischen Standortauswahl kann andieser Stelle überhaupt nicht gesprochen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Nun wird als Begründung für eine neue Standortaus-wahl immer wieder auf die Schweiz verwiesen. Ichmöchte noch einmal deutlich machen, dass für uns dieserVergleich hinkt. Die Schweiz steht heute an der Stelle,an der Deutschland bereits in den 70er-Jahren war.

(Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Genau so ist es!)

Wenn jetzt die Landesregierung von Baden-Württem-berg zu Recht dafür plädiert, verschiedene Standorte zusuchen, dann bittet sie die Schweiz, das zu tun, was wirin Deutschland bereits in den 70er-Jahren gemacht ha-ben. Insofern brauchen wir diese erneute Suche nicht. Dawaren wir vor 30 Jahren schon.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ul-rich Kelber [SPD]: Das wird durch Wiederho-lung nicht richtiger! – Fritz Kuhn [BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN]: Von keiner Sachkenntnisgetrübt!)

Die Endlagerung radioaktiver Abfälle ist eine natio-nale Verantwortung und zu der bekennen wir uns auch.Unabhängig davon, Herr Kelber, wie man zur Nutzungder Kernenergie steht:

(Ulrich Kelber [SPD]: Muss man seriös blei-ben! Das stimmt!)

Wir haben uns darauf verpflichtet, die Endlagerfrage indieser Legislaturperiode zu lösen.

(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie wärs denn mit Ihrem Wahlkreis?)

Zwischenlager, in denen radioaktive Abfälle lagern,werden de facto zu Endlagern.

(Ulrich Kelber [SPD]: Bitte?)

Hinzu kommen Abfälle aus medizinischen Einrichtun-gen und aus den Forschungsanstalten. Wir müssen uns

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Katherina Reiche (Potsdam)

um dieses Problem kümmern, auch in dieser Legislatur-periode.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben hierzu eine klare Position; die möchte ichabschließend zu diesem Thema vortragen: Wir wollenkeine weitere Verzögerung bei der Endlagerfrage. Wirwollen, dass die Informations- und Öffentlichkeitsarbeitwieder aktiv aufgenommen wird. Dazu gehört eine groß-zügige Besucherregelung. Wir wollen, dass der SchachtKonrad in Betrieb genommen wird und die Arbeitenhierfür zügig beginnen. Wir wollen, dass das Morato-rium in Gorleben aufgehoben wird; denn die Untersu-chungsergebnisse stehen der Eignungsfeststellung nichtentgegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In den kommenden Wochen werden wir mit dem Zu-teilungsgesetz die Rahmenbedingungen für den Handelmit Emissionsberechtigungen für die zweite Handels-periode zwischen 2008 und 2012 festlegen. Mit dem Zu-teilungsgesetz werden die Voraussetzungen für den Bauvon neuen Kraftwerken und die Erneuerung von Kraft-werksparks geschaffen. Das ist ökologisch sinnvoll, dasist ökonomisch geboten; denn neue und effiziente Kraft-werke werden durch ihre geringere CO2-Emission einenBeitrag zu mehr Klima- und Umweltschutz leisten.

Gleichzeitig brauchen wir neue und zusätzliche Er-zeugungskapazitäten, um mehr Wettbewerb in denStrommarkt zu bekommen. Ich werbe deshalb an dieserStelle dafür, dass die Energieversorgungsunternehmen,die beim Energiegipfel hohe Investitionen zugesagt ha-ben, diese Zusage auch einhalten.

Mit dem Nationalen Allokationsplan wurden imJuni dieses Jahres bereits wichtige Weichenstellungenvorgenommen. Insbesondere die deutlich höhere CO2-Minderungspflicht für die Energiewirtschaft im Ver-gleich zur Industrie ist aus unserer Sicht ein wichtigerSchritt, um Mitnahmeeffekte, die so genannten Wind-fall-Profits, zulasten der Stromverbraucher zu vermei-den. Damit wird auch anerkannt, dass sich die Industrieim internationalen Wettbewerb befindet, aber der Strom-markt hier in Deutschland nur unzureichend Wettbewerbermöglicht. Nach Schätzungen der energieverbrauchen-den Industrie entstehen der Energiewirtschaft durchWindfall-Profits Zusatzgewinne von fast 5 MilliardenEuro. Diese belasten natürlich die Stromverbraucher undunsere Wirtschaft.

Wir werden im Gesetzgebungsverfahren zu prüfenhaben, ob dieser Schritt ausreicht, um Windfall-Profitszu vermeiden, oder ob weitergehende Maßnahmen not-wendig sind. Auch das muss man ergebnisoffen prüfen.Wir müssen auf jeden Fall sicherstellen, dass die Strom-verbraucher nicht noch mehr belastet werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

In diesem Zusammenhang begrüße ich auch die Ent-scheidung der Bundesnetzagentur zur Senkung derNetzentgelte in der vergangenen Woche. Auch das istein wichtiger und richtiger Schritt für mehr Wettbewerbauf dem Strommarkt. Der Wettbewerb funktioniert noch

nicht; das habe ich gesagt. Der Netzzugang muss verbes-sert werden. Ein stärkerer Wettbewerb auf dem Strom-markt entlastet Wirtschaft und Verbraucher. Gerade un-sere Unternehmen, die sich in einem schwierigeninternationalen Umfeld befinden, sind auf wettbewerbs-fähige Strompreise angewiesen.

Wir werden deshalb in den kommenden Monaten ne-ben dem Zuteilungsgesetz weitere Schritte zu unterneh-men haben – da möchte ich insbesondere das Infrastruk-turplanungsbeschleunigungsgesetz ansprechen –, umeinen schnellen Netzausbau zu ermöglichen; denn dieNetzkapazitäten sind für einen funktionierenden Wettbe-werb wahrscheinlich mindestens so entscheidend wie dieErzeugerkapazitäten. Die Netzkapazitäten stoßen, zu-mindest in manchen Bereichen, schon heute an ihreGrenzen und sind damit eine Markteintrittsbarriere. Die-sen Zustand wollen wir beenden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

An dieser Stelle möchte ich noch auf die Diskussionüber die Förderung von erneuerbaren Energien imWärmebereich eingehen. Herr Minister hat es bereitsangesprochen: Vor wenigen Wochen hat das Bundesamtfür Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle mitgeteilt, dass dieMittel für das Marktanreizprogramm für dieses Jahr be-reits ausgeschöpft seien und dass keine weiteren Zusa-gen mehr gegeben werden könnten. Das Programm hatteein Volumen von 180 Millionen Euro. Anträge für insge-samt 160 000 Investitionsvorhaben wurden gestellt,50 Prozent mehr als im vergangenen Jahr. Das zeigt,dass dieses Marktanreizprogramm ein wirklicher Erfolgist. Es ist ein effizientes Förderinstrument mit einemsehr geringen Anteil an öffentlichen Mitteln, die ein ho-hes Wachstum für erneuerbare Energien im Wärmemarktermöglichen. Berechnungen zeigen, dass auf 1 Förder-euro 10 Euro an privaten Investitionen kommen.

Deshalb bitte ich darum, dass wir bei der Diskussionüber neue Instrumente für die Förderung der Energie imWärmebereich darauf achten, dass wir das, was wir er-reicht haben, erstens nicht kleinreden und zweitens aus-giebig nutzen; denn es zeigt, dass unser Instrument amMarkt funktioniert.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir müssen überprüfen, ob wir mit den Mitteln, die für2007 eingestellt sind, eine verlässliche Förderung überdas ganze nächste Jahr ermöglichen können, damit dieFörderung nicht unterbrochen werden muss und dieMarktentwicklung sowie die entstandenen Arbeitsplätzegesichert werden können.

Meine Damen und Herren, abschließend einige Wortezum Nationalen Naturerbe. Wir haben uns besondersdem Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen verpflich-tet. Ich finde es sehr schön, Herr Minister, wenn auch Sievon der „Bewahrung der Schöpfung“ sprechen; das hö-ren wir äußerst gern.

(Lachen der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE])

Im Juni dieses Jahres hat der Bund den Ländern und derDeutschen Bundesstiftung Umwelt ein Flächenangebot

4696 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006

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Katherina Reiche (Potsdam)

im Umfang von 100 000 Hektar vorgelegt, die diesenunentgeltlich zur Verfügung gestellt werden sollen. Da-mit die Sicherung des Nationalen Naturerbes gelingt,kommt es jetzt darauf an, dass die möglichen Träger dasAngebot des Bundes umfassend nutzen. Einige Länderhaben Bedenken hinsichtlich einer Übernahme der Flä-chen bekundet. Ich hoffe aber, dass diese Bedenken sehrschnell geklärt und ausgeräumt werden können; denn dieSicherung des Nationalen Naturerbes ist eine großeChance, die wir uns nicht entgehen lassen sollten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, in den kommenden Mona-ten stehen wir in der Umweltpolitik vor wichtigen Wei-chenstellungen und Entscheidungen. Wir als Unions-fraktion in dieser Koalition werden uns engagiert undaktiv einbringen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter,

Linksfraktion.

(Beifall bei der LINKEN)

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister! Vor der Bundes-republik liegt die Aufgabe, den CO2-Ausstoß und Roh-stoffverbrauch drastisch – ich wiederhole: drastisch undnicht nur ein bisschen – zu reduzieren. Dabei muss aufRisikotechnologien wie Atomkraft und Grüne Gentech-nik verzichtet werden,

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

weil sie nichts anderes als gefährliche Scheinalternativensind. Einen solchen Prozess zu steuern, ist alles andereals einfach.

Die zweite Aufgabe ist jedoch nicht weniger an-spruchsvoll. Eine verantwortliche Regierung muss dafürsorgen, dass der Wandel möglichst fair, also sozial ge-recht, stattfindet. Das ist keine Nebenbedingung, son-dern Voraussetzung für eine zukunftsfähige Politik.

(Beifall bei der LINKEN)

Gemessen daran hat die Koalition unserer Meinungnach versagt. Die Reduzierung des CO2-Ausstoßes sta-gniert seit Jahren.

(Ulrich Kelber [SPD]: Das stimmt doch gar nicht! 2005 gab es einen super Rückgang!)

Das Tempo der Materialeinsparungen ist viel zu gering.

(Ulrich Kelber [SPD]: Schnellster Rückgang in Europa!)

Der Umweltminister lässt sich von den Atomkonzernenwie ein Tanzbär an der Nase herumführen.

Stichwort „Energiepreise“; dies wurde schon ange-sprochen. Wie wollen Sie, Herr Gabriel, den Bürgerin-nen und Bürgern erklären, dass die Strompreise daszweite Jahr hintereinander im zweistelligen Prozentbe-reich steigen, die Gewinne der Stromversorger aber ex-plodieren? Das versteht niemand mehr; zumindest derkleine Verbraucher versteht es nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Dabei geht es nicht nur um sich verteuernde Rohstoffe– die sind nämlich gar nicht so teuer geworden, dass esdiesen Preisanstieg rechtfertigen würde; dies dient nurals Begründung für steigende Preise –, sondern auch umüberhöhte Netzentgelte und Monopolprofite im Strom-erzeugungsbereich. Über die redet im Übrigen kaumnoch jemand. Es geht zu einem gehörigen Teil auch umExtraprofite, die diese Bundesregierung den EVUs frei-willig in den Rachen wirft.

Ich frage mich, welche glaubhaften Schritte dieKoalition unternimmt, um die leistungslos im Emis-sionshandel erzielten Sondergewinne abzuschöpfen.Dass die verschenkten Zertifikate zu den jeweiligenMarktpreisen in den Strompreis eingehen, mag sichnicht verhindern lassen. Aber dass die Bundesregierungauch in Zukunft störrisch auf eine zumindest anteiligeVersteigerung der Zertifikate – und damit auch auf Mil-liardeneinnahmen – verzichten will, ist eine unverzeih-liche Ignoranz zulasten des Bundesetats und der Strom-kunden.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber wer allein im Juli von Eon Parteispenden in Höhevon 250 000 Euro erhält, hat vielleicht etwas Beißhem-mung. Um das glaubhaft zu machen und für jeden, dendies interessiert, verweise ich auf die Drucksache 16/2440:Die SPD hat von Eon 150 000 Euro und die CDU100 000 Euro erhalten.

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Hört!Hört! – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Bloßkein Neid!)

Allerdings hat die CDU gleich noch 200 000 Euro vonder Deutschen Bank bekommen.

(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit Ihrem Auslandsvermögen?)

Frau Reiche, ich glaube, auch Ihre Rede wurde von dengroßen Atomkonzernen geschrieben.

Wir haben heute ein Sechspunkteprogramm vorge-stellt. Für die Schaffung sozial gerechter Energiepreisefordern wir neben der Versteigerung der Zertifikate alsSofortmaßnahme eine Windfall-Profit-Tax, also eineSteuer auf Sondergewinne, Extraprofite aus dem Emis-sionshandel, wie dies auch in Schweden und Finnlandangedacht ist. Die angestrebten Einnahmen in Höhe vonfast 5 Milliarden Euro sollen einen Energieeffizienz-fonds speisen und der sozialen Abfederung einkom-mensschwacher Haushalte bei steigenden Energiekostendienen; da besteht zu Ihnen, Herr Kauch, eine Differenz.

(Beifall bei der LINKEN)

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Eva Bulling-Schröter

Dieser Energieeffizienzfonds könnte Arbeitsplätzeschaffen und die brauchen wir. Überdenken Sie dies alsobitte!

Wir fordern weiterhin die Beibehaltung bzw. Wieder-einführung der Preisaufsicht für Strom- und Gastarife.Daneben halten wir eine Ausdehnung der Regulierungs-aufsicht auf den Bereich des Stromgroßhandels und derRegelenergiemärkte für notwendig. Den Wettbewerb al-lein über die Netze zu organisieren, scheint angesichtsder hohen Konzentration bei der Erzeugung kaum mög-lich.

Natürlich müssen die Übertragungsnetze eigentums-rechtlich von den vier großen EVUs getrennt werden.Wir sagen: am besten in gesellschaftliches Eigentum.

(Beifall bei der LINKEN – Fritz Kuhn[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Volksleitun-gen!)

Zur Stärkung der Verbraucherrechte schlagen wirschließlich vor, den bei uns föderal organisierten Ver-braucherschutz um einen nach Branchen organisiertenzu ergänzen. Das Vorbild in Großbritannien mit seinenConsumer Watchdogs ist ein Erfolgsmodell. Energy-watch, Water Voice oder Postwatch geben den Verbrau-chern auf der Insel durch ihre umfassenden Rechte einestarke Stimme.

(Ulrich Kelber [SPD]: So wie die RWE-Toch-ter in London? Die Wasserpreise in Großbri-tannien sind viel höher!)

Eine ähnlich starke Stimme wollen wir hier im Parla-ment haben. Was den Einzelplan 16 angeht, sollten wirverhindern, dass der Etat bis 2010 um 3 Prozent gesenktwird.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl, Bünd-

nis 90/Die Grünen.

Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Minister, der Umwelthaushalt 2007 steigt auf denersten Blick um 0,4 Millionen Euro. Angesichts der He-rausforderungen viel zu wenig, reizt es mich zu sagen.Aber die Wahrheit sieht noch einmal ganz anders aus.Beamtenpensionen sind es, die ab 2007 in den Fachhaus-halten etatisiert werden. Rechnet man sie heraus, sinktder Umweltetat effektiv um 1 Million Euro.

Das solcherart ausgerüstete Innovationsministeriumsoll damit unter anderem dem zentralen Problem desKlimawandels begegnen, der sich inzwischen, wie wiralle wissen, in ganz anderer Dramatik darstellt als diegrünen Schwarzseherinnen und Schwarzseher es immerprognostiziert haben. Die global diskutierte Strategie„Weg vom Öl“ ist hier der zentrale Baustein. Trotzdemmachen wir mehr oder weniger so weiter wie bisher. Mit5 Millionen Euro mehr für Forschung pro Jahr – das ent-spricht einem Forschungsvorhaben im Jahr – kann mandie Zukunftsaufgaben nur halb anpacken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Markteinführungsprogramm für erneuerbareEnergien kürzen Sie um über 3 Prozent, obwohl die Mit-tel bereits Mitte dieses Jahres aufgebraucht waren. Ge-gen die noch viel umfangreicheren Kürzungen bei IhremKollegen Seehofer – das Markteinführungsprogramm„Nachwachsende Rohstoffe“ wird um über 34 Prozentgekürzt – hören wir von Ihnen keinen Widerspruch. An-gesichts der Steuerorgie bei den Biokraftstoffen und an-gesichts dieser Zahlen frage ich mich, was Sie dem Kli-mawandel handfest entgegensetzen wollen, wenn Siesich nicht der Lieblingsargumentation Ihres Koalitions-partners anschließen wollen.

2008 sind wir Gastgeber der 9. Vertragsstaatenkonfe-renz des Übereinkommens über die biologische Vielfalt.Das ist gut und bietet vielleicht sogar eine Chance fürdie Erkenntnis auch bei Ihnen, dass Schutz der Bio-diversität und Grüne Gentechnik nicht zusammenpas-sen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zum Stichwort Artenschutz noch eine Bemerkungzum Antrag „Ölprojekt Sachalin II und Grauwale“. Die-sem Antrag fehlt die nötige Klarheit. Die abzusehendeSchädigung nur so weit wie möglich zu vermeiden,reicht uns für eine Zustimmung nicht aus.

Zurück zur Vertragsstaatenkonferenz. Was nicht geht,ist, deren Finanzierung zulasten der E-und-E-Vorhabenauf dem Gebiet des nationalen Naturschutzes zu ma-chen. Sie streichen hier 650 000 Euro, die dem gern ge-nannten Nationalen Naturerbe und dem Erhalt der Arten-vielfalt dienten. Nebenbei bemerkt fließen dieseAusgaben in strukturschwache Regionen, wo sie Ar-beitsplätze schaffen.

Als Sie damals ankündigten, das Umweltministeriumzum Innovationsministerium machen zu wollen, er-gänzte Reinhard Loske, dass es auch ein Verteidigungs-ministerium sei. Man kennt ja seine Pappenheimer. Wasden Atomausstieg betrifft, geben Sie ständig den Erz-engel Gabriel. Jetzt hätten Sie die Chance zu zeigen,dass Ihr Schwert auch scharf ist.

(Ulrich Kelber [SPD]: Ich dachte, ihr seid Pazifisten!)

Weisen Sie die Atomaufsicht in Schleswig-Holstein an,Brunsbüttel abzuschalten, bis der Sicherheitsnachweisnachvollziehbar erbracht ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie fordern immer wieder Aufklärung, setzen Fristen,aber lassen sie verstreichen. Sie lassen sich am 8. Augustvon Vattenfall versichern, in Brunsbüttel gebe es keineWechselrichter. Am 23. August akzeptieren Sie den Irr-tum der Betreiber und setzen den 28. August als neueFrist. Jetzt haben wir den 7. September. Wir haben einenBetreiber, der falsche Aussagen gemacht hat – er hat sich„geirrt“. Ich frage dieses Hohe Haus allen Ernstes: Wol-len wir annehmen, dass dieser Betreiber seine Anlagenicht kennt, und auf dieser Annahme unser Vertrauen inseine Zuverlässigkeit gründen?

4698 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006

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Sylvia Kotting-Uhl

Wir haben einen Minister, der sein Nichthandeln da-mit begründet, dass – ich zitiere –

nach den Angaben der schleswig-holsteinischenAtomaufsicht auch bei dem Misslingen der Nach-weisführung kein Zustand vorliegt, aus dem sichGefahren ergeben könnten. Die Störfallbeherr-schung sei durch redundante Notstromdiesel garan-tiert, unabhängig von der Funktion der Wechsel-richter.

Nun frage ich Sie: Befriedigt Sie das? Mich nicht!

(Zuruf von der LINKEN: Isar II müsste aber auch schon lange vom Netz sein!)

Es kann doch hier nicht darum gehen, in dieser Situationnachgeschobene „Feldwegerklärungen“ zu akzeptieren,die nicht einmal alle Vattenfall-Verantwortlichen verste-hen können – die nicht einmal den Unterschied zwischenWechselstrom und Gleichstrom kennen – und die in kei-ner Weise erklären können, warum denn die Wechsel-richter überhaupt ausgewechselt werden müssen, wennsie doch gar keinen Schaden anrichten können.

Es geht hier vielmehr um die Frage: Wie bewerten wirdieses gesamte Sicherheitssystem? Und zum Gesamtsys-tem des Vertrauens in die Sicherheit gehört doch wohlauch die Glaubwürdigkeit des Betreibers.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich vertraue einem Betreiber nicht, der mit falschen Fak-ten kommt, Fristen ignoriert und seine Verpflichtungennicht erfüllt.

(Ulrich Kelber [SPD]: Seien Sie ehrlich! Trittin hätte doch auch nicht abgeschaltet!)

– Jetzt kommen mir wieder alle damit – auch MinisterGabriel hat sich in der Presse so eingelassen –, dass manDutzende Beispiele nennen kann, in denen VorgängerTrittin Vergleichbares getan habe. Dazu sage ich Ihnen:Ich hätte von einem Minister Trittin in diesem Fall ge-nauso eine bundesaufsichtliche Weisung gefordert.

(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Sehr schwaches Argument!)

Ich bin mir ziemlich sicher, dass Jürgen Trittin alles ge-tan hätte, um Vattenfall in diesem Fall das Handwerk zulegen. Wir reden hier vom Betreiber einer Risikotechno-logie und nicht von einem Currywurststand.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

So, und in dieser Situation, in der es nur darum gehenkann, Strommengenübertragungen von einem Reaktorauf einen anderen im eigentlichen Sinne des Atomkon-senses zu diskutieren – Übertragungen von alten aufneue Reaktoren, um mehr Sicherheit zu generieren –,kommt Ihr unnachahmlicher Kollege Wirtschaftsminis-ter Glos und fordert erneut eine Laufzeitverlängerung fürAKWs! Da kann ich nur sagen: Gutes Timing! Sie spre-chen sich wohl überhaupt nicht ab.

(Ulrich Kelber [SPD]: Frau Kotting-Uhl, etwas anderes fällt Ihnen nicht ein?)

Sie wollen also die Kampfansage der EVUs um Lauf-zeitverlängerungen just zu einem Zeitpunkt unterstützen,bei dem sich zeigt, dass sie nicht einmal ihren laufendenBetrieb im Griff haben. Dazu kann ich nur sagen: Re-spekt für dieses Ausmaß an Realitätsferne! So etwas ha-ben die Fundis unter den Grünen zu ihren besten Zeitennicht zustande gebracht.

(Ulrich Kelber [SPD]: Nee, aber Sie!)

Wir als Opposition werden Ihnen als Regierung die-ses Chaos nicht durchgehen lassen. Klären Sie, was siewollen. Einigen Sie sich in der Energiefrage, der ent-scheidenden Frage dieses Jahrhunderts! Und Sie, Minis-ter Gabriel, handeln Sie! Lassen Sie sich nicht nachsa-gen, Sie seien ein zahnloser Tiger, ein flammenloserErzengel! Nutzen Sie die Reichweite, die ein Ministerhat, zum Wohl von Umwelt und Menschen!

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat die Kollegin Petra Hinz für die SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Petra Hinz (Essen) (SPD): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen! Die Bundestagswahlen sind nochnicht ein Jahr vorüber, wir beraten jetzt die erste Lesungdes Haushalts 2007. Frau Kotting-Uhl, es wundert michschon sehr, dass Sie hier all das, was im Einzelplan 16 zuProgrammen steht, dermaßen niedermachen. Es wundertmich schon sehr, dass Sie das, was Rot-Grün in den zu-rückliegenden sieben Jahren auf den Weg gebracht hat,in dieser mit wenig Sachkenntnis angereicherten Formvortragen. Ich kann nur sagen: Sie haben das Thema ab-solut verfehlt!

(Beifall bei der SPD)

Sie haben Ihre Politik der zurückliegenden Legislaturpe-riode damit eindeutig niedergemacht. Denn an denSchwerpunkten hat sich überhaupt nichts geändert – imGegenteil, es ist eine Fortsetzung.

(Beifall bei der SPD)

Wir sollten die Tatsache „20 Jahre Umweltministe-rium“ meiner Meinung nach einmal zum Anlass neh-men, um einen Bogen über diese Zeit zu spannen. Es istnämlich interessant, in welcher Weise das Budget in denzurückliegenden Jahren einen Zuwachs erfahren hat.Anschließend komme ich auf die Frage der Atomkraft zusprechen, liebe Frau Reiche.

Vor 20 Jahren, 1986, gab es diesen Einzelplan nochüberhaupt nicht. 1987 ist das Ressort dann mit 236 Mil-lionen gestartet. Heute, zum Entwurf des Haushalts2007, reden wir über ein Budget von 790 MillionenEuro. Die Flächen des Nationalerbes, die Millionen wertsind und die darüber hinaus auch noch Arbeitsplätzeschaffen, sind darin noch in keiner Weise berücksichtigt.

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Petra Hinz (Essen)

Aber das wird hier nicht erwähnt, denn es passt nicht indie Bilanz der Grünen.

Ich möchte auf ein weiteres Ereignis aufmerksam ma-chen, das sich in diesem Jahr zum 20. Male gejährt hat,und zwar auf den Reaktorunfall in Tschernobyl, FrauReiche. Heute diskutieren wir noch immer über die Aus-wirkungen von Tschernobyl. Sie haben sich zur Atom-kraft positiv geäußert.

(Zuruf des Abg. Lutz Heilmann [DIE LINKE])

Darüber sollten Sie einmal mit Ihren Haushältern spre-chen. Im Zusammenhang mit Tschernobyl haben wir imHaushaltsentwurf rund 5,9 Millionen Euro etatisiert. ImJahr 2008 – als Fachpolitikerin sollten Sie das eigentlichwissen; aber die Haushälter wissen es definitiv – müssenwir über einen zusätzlichen Betrag für die Sanierung desSarkophags diskutieren. So viel zum Thema Sicherheitvon Atomkraft.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Der jüngste Zwischenfall in Schweden, in Forsmark,macht doch deutlich, dass wir verstärkt Energie einspa-ren und in die Gewinnung alternativer Energien inves-tieren müssen. Basiert diese Politik etwa auf falschenInformationen bzw. einer falschen Wahrnehmung? Ver-schleiern wir tatsächlich etwas? Ich glaube, Sie versu-chen aus ideologischen Gründen zu verschleiern.

(Beifall bei der SPD)

Frau Reiche, in der großen Koalition haben wir unsdiese Aufgabe gemeinsam vorgenommen, obwohl wirwissen – Sie haben es der Öffentlichkeit heute exempla-risch vorgeführt –, dass einige damit Schwierigkeitenhaben. Es liegt aber in unserer Verantwortung, eine klareStrategie zu erarbeiten. Wir müssen mögliche Wege sicht-bar machen und die Basis für Investitionsentscheidungenschaffen. Damit bringen wir ein Stück weit Nachhaltig-keit in die Debatte. Ich sprach gerade das 20-jährigeJubiläum des Bundesumweltministeriums an. Nachhal-tigkeit sollte Ihnen ein Begriff sein, gerade im Zusam-menhang mit dem Agendaprozess.

Wir müssen alles daran setzen, um uns in der Energie-versorgung so unabhängig wie möglich zu machen. DieDiskussion, die wir führen, geht über die Minderung desCO2-Ausstoßes hinaus. Genau darum geht es in einerDiskussion über nachhaltige Energiegewinnung. Auf dieFrage, wie die Energieversorgung der Bundesrepubliklangfristig aussehen könnte, müssen wir kurz- bis mittel-fristig eine Antwort geben.

Der Begriff Nachhaltigkeit wird sehr oft, teilweise in-flationär gebraucht. Das Bekenntnis zur nachhaltigenEntwicklung, das am Anfang der 90er-Jahre stand, dieAgenda 21, war ein Impuls für die Stärkung des Be-wusstseins für die Zusammengehörigkeit der Welt. Da-mit war ein internationaler Aufbruch verbunden. DieserImpuls muss stärker genutzt werden. Im Rahmen derGeberkonferenzen – auch das ist bereits gesagt worden –müssen Projekte genauer hinterfragt werden. Von Zeit zuZeit muss auch eine Zwischenbilanz gezogen werden.

Dieses Thema wird im Rahmen der Haushaltsberatungensicherlich eine Rolle spielen.

Das Know-how im Bereich der Zukunftstechnolo-gien wird – das hat der Minister gerade angesprochen –weltweit nachgefragt. Das ist ein Pfund, mit dem manwuchern kann. In diesem Bereich haben rund170 000 Menschen Arbeit gefunden. Außerdem konn-ten hier über 2 000 Ausbildungsplätze realisiert werden.

Internationales Verhandeln ist Grundlage für besseresVerstehen. Trotzdem stellen sich die Fragen „Wer mitwem?“ und vor allem „Unter welchen Bedingungenkann Entwicklung stattfinden?“. Wir brauchen weiterevertrauensbildende Maßnahmen. Wir müssen die Ent-wicklungs- und Schwellenländer davon überzeugen,dass Nachhaltigkeit auch etwas mit ihrer Zukunft zu tunhat.

Der Gedanke, der der Agenda zugrunde liegt, ist zu-kunftsweisend, nicht nur in der Umweltpolitik. Das istim Haushaltsentwurf nachzulesen.

Im Haushaltsentwurf ist für die internationaleZusammenarbeit, insbesondere für die Konferenzen,die im nächsten Jahr stattfinden – auch wegen der not-wendigen Sicherheitsmaßnahmen –, ein Mehrbedarf be-rücksichtigt worden. Im Rahmen der Haushaltsberatun-gen – das hat der Minister gerade angesprochen –werden wir die Effizienz und Effektivität der Zielverein-barung überprüfen.

Zur Unterlegung des Wirtschaftswachstums sowie zurStärkung von Zukunftsbereichen wurde mit dem Haus-halt 2006 ein 25-Milliarden-Euro-Impulsprogrammumgesetzt. Für Forschung und Entwicklung stehen imFuE-Programm rund 6 Milliarden Euro zur Verfügung.Ein Hinweis an das Ministerium: Ich würde mir wün-schen, dass für dieses Programm über das hinaus, wasRot-Grün für diese Querschnittsaufgabe in der vergange-nen Legislaturperiode beschlossen hat, in den anderenRessorts Mittel zur Verfügung gestellt würden, die vonden Projekten abgeschöpft werden könnten.

Für das KfW-CO2-Gebäudesanierungsprogrammsteht bis 2009 jährlich 1 Milliarde Euro zur Verfügung,um die energetische Gebäudesanierung zu intensivie-ren. Das ist ein Impulsgeber für die Baukonjunktur. Denwirtschaftlichen Aufschwung setzen wir somit auch imBereich des Klimaschutzes fort.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Schwerpunkte im Programmhaushalt seien kurz ge-nannt: Der Programmhaushalt des BMU umfasst rund456 Millionen Euro. 62,9 Prozent des Gesamtvolumensgehen allein in den Bereich der erneuerbaren Energien.Das macht 287,2 Millionen Euro aus. Auf die anderenBereiche will ich gar nicht eingehen.

Ein weiterer Schwerpunkt ist der Bereich Reaktor-sicherheit und Strahlenschutz. Hier liegt uns das Gut-achten des Wissenschaftsrates zur Prüfung vor. Ich sageall denen, die zu einem voreiligen Ergebnis kommen:Wir handeln hier im Rahmen von Gesetzen. Dahermüssen Vorhaben überprüft werden. Angesichts der

4700 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006

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Petra Hinz (Essen)

Tatsache, dass der Wissenschaftsrat in einer solchen Artund Weise an die Öffentlichkeit tritt, muss man einfachzur Kenntnis nehmen, dass die Behörde entsprechendden gesetzlichen Rahmenbedingungen, die wir geschaf-fen haben, arbeitet. Wenn wir eine Veränderung wollen,müssen die gesetzlichen Rahmenbedingungen geändertwerden.

(Beifall bei der SPD)

Zu den Standorten des Ministeriums und der nachge-lagerten Behörden: Hier werden in der nächsten Zeitzwei große Bauvorhaben vorgenommen. Bis Mai 2008sollen der künftige Sitz des BMU in Berlin fertig gestelltwerden

(Ulrich Kelber [SPD]: Der zweite Dienstsitz!)

– also der zweite Dienstsitz – und in Bonn die Sanierungdes BMU, des alten Abgeordnetenhauses, für8 Millionen Euro realisiert werden. Ich sage ganz klar:Unser föderaler Staat muss sich auch in den Standortender Ministerien und der nachgelagerten Behörden wider-spiegeln. Trotzdem gilt auch hier der Leitsatz: Effizienz,Effektivität und Zielorientierung sind Maßstab der Haus-haltsberatungen, sowohl fachlich als auch fiskalisch.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auf die Beratungen, Frau Reiche, freue ich mich schonsehr.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat Ulrike Flach für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Ulrike Flach (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sie müssen mir zugestehen, dass ich etwas irritiert bin,hier mitten in die Beratungen des Koalitionsausschusseshineingeraten zu sein.

(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: So istdie Tradition bei uns!)

– Ja, so ist das offensichtlich.

Ich hätte mir natürlich gewünscht, dass der Haushaltein bisschen die Diskussionen widerspiegelt, die hier ge-rade stattgefunden haben.

Frau Reiche, das, was ich als Haushälter beim Etatvon Herrn Gabriel erkenne, lässt nicht darauf schließen,dass Sie, die CDU/CSU, bisher Ihre Positionen in ir-gendeiner Weise haben durchsetzen können.

(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Das ist ausgeglichen!)

Das, was hier vorliegt, ist mit Ausnahme der besonderenBetonung der Energieeffizienz – das gebe ich zu; das istein neues Hobby des derzeitigen Umweltministers – im

Prinzip ein Abklatsch der alten trittinschen Überlegun-gen.

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die gut waren!)

Insofern denke ich, dass es ein guter Schritt ist, dassdie CDU/CSU nach fast einem Jahr offensichtlich aufge-wacht und bereit und willens ist, Positionen zu vertreten,die nicht mehr die alten rot-grünen sind. Unsere Unter-stützung haben Sie an dieser Stelle sicherlich.

(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Das reicht von den Sitzen her nicht!)

Haushalterisch – Frau Hinz hat schon einiges zu denverschiedenen Zahlen gesagt – möchte ich sagen: AusSicht eines Haushälters ist dies ein positiver Haushalt.Denn er gehört zu den wenigen Etats, die eine – wennauch nur äußerst geringfügige – Steigerungsrate auf-weisen, er steigt nämlich um ganze 0,1 Prozent auf790 Millionen Euro.

Eine Frage müssen Sie, Herr Gabriel, uns noch beant-worten, nämlich die, warum Sie im letzten Jahr für 2007ein um 23 Millionen Euro geringeres Haushaltsvolumenprognostiziert haben. Das haben Sie schon jetzt übertrof-fen. Wenn Sie so weitermachen, werden Sie wahrschein-lich den Etat mit den proportional größten Steigerungenhaben.

Herr Gabriel, Sie scheinen ja – ich habe es geradeschon gesagt – die grünen Hobbys gern zu übernehmen.Sie schreiben ganz ausdrücklich, dass Sie auch in Zu-kunft Projekte planen wie die Wiedereinbürgerung desWisents im Rothaargebirge,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

die Rotationsbeweidung in Rheinland-Pfalz und – das isteines meiner Lieblingsprojekte – die Himmelsteiche inThüringen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Herr Gabriel, genau wie Herr Trittin verzetteln Siesich damit in Projekten, die man im Rahmen der Födera-lismusreform längst unserer lieben Ex-Landwirtschafts-ministerin Frau Höhn an die Hand gegeben hat. Das sol-len doch die Länder selber machen.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Ich bin nicht mehr zuständig, deshalb macht eres selber!)

Warum müssen wir, der Bund, uns mit diesen Themenbesonders belasten, während Sie gleichzeitig zum Bei-spiel für Forschungsprogramme im Bereich der Biodi-versität überhaupt nichts

(Beifall bei der FDP)

oder – sagen wir es einmal so – ausgesprochen wenigtun? Hier gibt es große Konkurrenz; die Grünen werdenmir zustimmen. Die Amerikaner beispielsweise habenvor wenigen Wochen ein millionenschweres For-schungsprogramm aufgelegt. Einerseits finden wir in Ih-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4701

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Ulrike Flach

rem Haushaltsentwurf schöne kleine Projektchen, diesich noch an der alten Klientelpolitik anlehnen, anderer-seits versäumen wir den Anschluss an internationaleForschungsprojekte.

(Beifall bei der FDP)

Bemerkenswert ist übrigens, dass Sie sowohl beimPersonalabbau als auch bei der Erbringung der globalenMinderausgabe ganz offensichtlich einen Sonderweg ge-hen. Anstatt, wie beschlossen, 1,5 Prozent der Stellenabzubauen, kommt es zu einem Ausbau der Planstellenum 1,8 Prozent.

(Ute Kumpf [SPD]: Tja!)

Dazu muss ich als Haushälter sagen – man liest ja gerne,was in den Medien geschrieben wird –: Mich hat esschon beunruhigt, als ich vor wenigen Tagen las, dassSie in Ihrer Umweltabteilung eine neue Unterabteilungund vier neue Referate schaffen wollen. Wenn das nichtnur dazu dienen soll, gewissermaßen eine Gegenpositionaufzubauen, um wieder einmal Herrn Glos zu ärgern

(Widerspruch bei der SPD – Ute Kumpf[SPD]: Das machen wir nie! Wir ärgern keineBayern! Die stehen unter Naturschutz!)

– es handelt sich schließlich um die Klimaschutzabtei-lung –, dann weiß ich nicht, wozu das in Zeiten, in denenwir eigentlich in genau diesem Personalbereich sparensollten, gut sein soll.

(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]:Wie viele neue Stellen sind denn dafür ge-schaffen worden?)

Diese Erblast Ihres Vorgängers, Herr Gabriel, die unsimmer wieder erfreuende, ständige und kontroverseAuseinandersetzung mit dem eigentlichen Energieminis-ter des Landes, dem Wirtschaftsminister, setzen Sie ganzoffensichtlich mit großer Lust fort.

(Ulrich Kelber [SPD]: Ja, ja! Wichtige Fakten lassen Sie immer gerne weg!)

Wir Liberalen beobachten das nun schon seit etlichenJahren.

Aber in einem Punkt stimme ich Frau Reiche aus-drücklich zu: Es ist geradezu verantwortungslos, wie Siemit dem Thema „atomare Endlager“ umgehen.

(Beifall bei der FDP)

Ich sage ganz bewusst „verantwortungslos“; denn es istweder unter umwelt- noch unter finanzpolitischen Ge-sichtspunkten hinnehmbar, dass der Steuerzahler die Of-fenhaltungskosten ungenutzter Endlager finanzierensoll. Frau Reiche hat die Position der CDU/CSU zu die-sem Punkt sehr deutlich dargestellt. Sie können sichersein, dass wir Ihnen an dieser Stelle zustimmen werden.Als Oppositionspolitikerin wäre ich allerdings glücklich,wenn ich endlich erfahren würde, was die Regierungwirklich denkt.

Als Haushälter sage ich Ihnen: Sie haben im Haushaltnicht vorgesorgt. Dort ist zwar von wunderschönen1,5 Millionen Euro die Rede, die angeblich für die Er-

kundung weiterer Standorte vorgesehen sind. Aber da-hinter verbergen sich – wenn man sich das genau an-sieht, stellt man das fest – stinknormale abfallspezifischeMaßnahmen. Für die Durchführung eines Auswahlver-fahrens sind null Euro veranschlagt. Angesichts dessenmuss man sich vor Augen halten, was wir in der „Weltam Sonntag“ und in den anderen Zeitungen lesen, in de-nen Sie sich ausbreiten, und wie die harte Realität in Ih-rem Haushalt aussieht.

Frau Hinz, darüber werden wir im Haushaltsaus-schuss reden müssen. Dann werden wir vielleicht erfah-ren, welchen Punkten die CDU/CSU zustimmen wird,damit die für die Erkundung weiterer Standorte zusätz-lich erforderlichen Millionen tatsächlich in den Haushalteingestellt werden können.

(Beifall bei der FDP)

Das wird spannend. Sie können sich sicher sein: UnsereUnterstützung haben Sie dafür nicht.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat Josef Göppel für die CDU/CSU-Frak-

tion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Ulrich Kelber [SPD]: Jetztkommt endlich einmal Fachverstand! Ein gu-ter Mann! – Ute Kumpf [SPD]: Ja! Ein bayeri-scher Mann!)

Josef Göppel (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Ein-

bringung des Haushalts möchte ich eine Stellungnahmezugrunde legen, die die Vorsitzende unserer „Arbeits-gruppe Umwelt“, Frau Dött, abgegeben hat, und zwarzur neuesten Allensbach-Umfrage, wonach der Umwelt-schutz eine immer geringere Rolle spielt. Sie hat gesagt:Die vielen Erfolge, die wir im Umweltschutz erreicht ha-ben, dürfen uns nicht blind machen gegenüber den He-rausforderungen, die noch bestehen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-geordneten der LINKEN)

Genau das ist in der Tat der Spagat, den wir Politikermachen müssen.

Wir erleben, dass der Klimawandel auch unser Landimmer stärker ergreift. In großen Teilen Süddeutschlandsist eine Borkenkäferkalamität zu verzeichnen, wie wirsie in den letzten 50 Jahren nicht erlebt haben. Im Au-gust dieses Jahres habe ich Waldbauern an Kahlflächenmit Tränen in den Augen gesehen, weil das, was 70 oder80 Jahre lang gewachsen war, nun auf einen Schlag vomHarvester beseitigt wurde. Wir hatten die große Hitze imJuli und wir haben den August erlebt.

(Zuruf von der SPD: Ja! Den Tornado in Nürnberg!)

– Richtig, es ist sogar ein Tornado über Nürnberg gefegt;nicht wie über Berlin nur im Film, sondern tatsächlich.

4702 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006

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Josef Göppel

Es wird also langsam auch für die Großstädter ungemüt-lich.

Da stellt sich natürlich die Frage: Wie stellen wir esan, dass die Leute mitgehen, wie können wir sie in derUmweltpolitik mitnehmen? Den Leuten zu sagen „Tutdies, lasst das!“, das hatten wir schon – mit begrenztemErfolg. Wir müssen zusammen überlegen, wie wir denLeuten Wege aufzeigen können, wie sie dem enormenDruck durch immer weiter steigende Kosten für Gas, Ölund Benzin entkommen können. Für viele Familien be-deutet das finanziell immer mehr Einschnürungen. Hiermüssen wir Wege aufzeigen. Dafür braucht man Ge-meinsamkeit, aber man braucht auch einen langen Atem.Ich denke schon, dass diese Regierung diesen langenAtem hat und klar erkennbar in die richtige Richtunggeht.

Es gibt die aktuelle Diskussion über die Rolle desStaates. Die Unionsparteien arbeiten an neuen Grund-satzprogrammen. Das wäre übrigens auch für die ande-ren nicht schlecht.

(Ute Kumpf [SPD]: Wir sind schon längst da-bei, Herr Göppel! – Bärbel Höhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben wir schon ge-macht!)

– Kommt darauf an, wann!

(Ute Kumpf [SPD]: Was ist mit der CSU?)

– Die CSU ist mitten dabei, wir machen es ganz gründ-lich. – Die Rolle des Staates in der inneren Sicherheit istunverzichtbar, in den Augen aller. Auch im Verbraucher-schutz ist die Rolle des Staates unverzichtbar. Ich bin derMeinung, wir brauchen die Rolle des Staates auch in derUmweltpolitik.

(Zuruf von der SPD: Hört! Hört!)

Ich darf eine kurze Anleihe beim Fußball machen: Mankann nicht 22 Mann ohne einen Schiedsrichter aufsSpielfeld schicken.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-geordneten der LINKEN)

– Das ist unsere Position. – Ein guter Schiedsrichterkann das Spiel über viele Züge laufen lassen; aber wennes darauf ankommt, muss er eben da sein.

Ich möchte exemplarisch die Verknüpfung zwischenAgrarpolitik und Naturschutz ansprechen. Aufgrundder Beschlüsse zum Haushalt der Europäischen Unionkommt auf einzelne Länder eine Kürzung von bis zu35 Prozent der Mittel der so genannten Säule II derAgrarpolitik zu. Wir müssen aus diesen Säule-II-Mittelnaber auch die Natura-2000-Gebiete finanzieren, HerrMinister Gabriel. Wir alle haben viel Ärger gehabt mitden FFH-Gebieten. Nun sind sie aber gemeldet und es istwichtig, dass das Vertrauen vieler Landwirte in den Na-turschutz nicht enttäuscht wird, indem wir androhen,jetzt hoheitlich festzulegen, was sie zu tun haben.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

So können wir die Vertragsnaturschutzprogramme nichtfortführen. Deswegen müssen wir gemeinsam eine Lö-sung finden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)

Ich möchte dies auch im Hinblick auf das Markt-anreizprogramm und auf das Gebäudesanierungspro-gramm sagen, mit denen wir ähnliche Zwecke verfolgen.Unsere Haushälter haben für das Gebäudesanierungs-programm eine Verpflichtungsermächtigung über zu-sätzliche 350 Millionen Euro ausgesprochen. Ich denke,es ist unsere Aufgabe, jetzt in den Haushaltsberatungenzu überlegen, was wir beim Marktanreizprogramm imHaushalt des Umweltministeriums tun können. Stop andgo ist keine gute Sache, so etwas wirkt sich sehr negativaus. Deshalb müssen wir versuchen, Stetigkeit in dieDinge zu bringen. Herr Minister Gabriel, da möchte ichSie ausdrücklich unterstützen. Wir können dafür nichtneue Umlagen von den Leuten erheben. Aber wir müs-sen versuchen, Wege zu finden, um eine Stetigkeit in dieFörderung zu bekommen. Sie macht jetzt im Schnittnoch 10 Prozent aus. Ich meine, wir sollten nicht unter10 Prozent gehen, sonst wird es nur noch symbolisch.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE])

Der Deutsche ist eben so: Er will eine Anerkennungseitens des Staates, die ihm sagt, dass der Staat das, waser tut, für richtig hält. Genau das erfolgt mit dieser För-derung, deswegen ist sie auch so erfolgreich. Das gehörtzu den größten Erfolgen dieser Koalition. Wenn dieserErfolg konsequent weitergeführt werden kann, ist das fürunser Land und für viele Menschen ein hoffnungsvollerAusweg aus der Kostenfalle.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wie ich bereits am Anfang sagte: Wir brauchen Perspek-tiven für die Menschen, wie sie einerseits Kosten einspa-ren und andererseits etwas Gutes für die Umwelt tunkönnen.

Ich möchte noch ein Wort zu den Biokraftstoffen sa-gen; denn jetzt steht ja auch das Quotengesetz an. Wirvon der Unionsfraktion sind nicht der Meinung, dass diereinen Biokraftstoffe eine technologische Sackgassesind, wie es manche sagen. Die reinen Biokraftstoffe ha-ben die höchste Wertschöpfung in den ländlichen Räu-men. Das müssen wir auch bedenken. So lange syntheti-sche Biokraftstoffe nur in Labormengen zur Verfügungstehen, kann man nicht sagen, dass die anderen einetechnologische Sackgasse sind.

Man sollte die Förderpolitik so ansetzen, dass die ver-schiedenen technischen Optionen offen bleiben. Ichdenke, das ist wichtig. Gerade bei den Biokraftstoffenund der Biomasse im Rahmen der Wärmeerzeugung gibtes sehr große positive Effekte für die ländlichen Räume.Damit wird ökologischer Nutzen – CO2-Einsparung –mit sozialem und ökonomischem Nutzen verbunden;denn eine gleichmäßige Siedlungsverteilung im ganzenLand und lebendige und pulsierende ländliche Räumesind wichtige Werte an sich.

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Josef Göppel

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg.Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE])

Zusammenfassend möchte ich sagen: Herr MinisterGabriel, Sie haben mit der Unionsfraktion wohlwol-lende, aber aufmerksame Begleiter für Ihre Politik; dennwir möchten diese wertgebundene Umweltpolitik auchdurch Ihr Haus verwirklicht sehen. So möchten wir andie Umweltpolitik herangehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat der Kollege Lutz Heilmann, Linksfrak-

tion.

(Beifall bei der LINKEN)

Lutz Heilmann (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Minister! Herr Kollege Göppel, ich danke Ihnen fürIhre Rede. Vieles von dem, was Sie eben erwähnt undausgeführt haben, kann ich ganz einfach nur unterstüt-zen. Leider sieht die praktische Politik Ihrer Fraktionund der großen Koalition aber ein bisschen anders aus.

Ein Wort zu der Reaktion auf die Vorhaltung meinerKollegin zu den Parteispenden der Energiekonzerne. Mirfällt eigentlich nur ein Sprichwort ein: Getroffene Hundebellen.

Nun aber zum Thema. In der gestrigen Rede derKanzlerin hörten wir wieder von der Nachhaltigkeit.Dazu gehört nach allgemeinem Verständnis auch derNaturschutz. Mit 23 Millionen Euro ist der Haushalts-ansatz für den angewandten Naturschutz im Vergleich zu2006 annähernd gleich geblieben. Ist also alles in But-ter? Ich denke, nein. Seit 1999 wurde der Haushalt fürden angewandten Naturschutz nahezu halbiert. Das wirftdie Frage auf, wie viel Ihnen der Naturschutz eigentlichwert ist.

Ein Beispiel: Für die Vertiefung von Außen- und Un-terweser sowie von Außen- und Unterelbe sind allein imJahre 2007 21 Millionen Euro eingeplant. Insgesamtkostet allein die unsinnige Elbvertiefung den Bund250 Millionen Euro.

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wer sagt denn, dass das unsinnig ist?)

Die Beeinträchtigung der Flora-Fauna-Habitat-Gebieteentlang der Flussmündungen ist Ihnen offensichtlichegal, ganz zu schweigen von den noch nicht abzuschät-zenden Auswirkungen auf den Hochwasserschutz. DerHochwasserschutz interessiert Sie aber ohnehin meistnur vor Wahlen. Wir brauchen aber keine Wahlkämpferin Gummistiefeln, wir brauchen einen nachhaltigen undeffektiven Hochwasserschutz.

(Beifall bei der LINKEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor einer Wochetrat die Föderalismusreform in Kraft. Wir denken, dass

das kein guter Tag für die Bundesrepublik Deutschlandund erst recht nicht für den Naturschutz war.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

Einerseits kann dieses Hohe Haus jetzt anspruchsvolleVorgaben im Naturschutz machen, andererseits könnendie Länder davon abweichen, wenn sie ihnen nicht pas-sen. Der aktuelle Entwurf der hessischen Landesregie-rung für ein neues Naturschutzgesetz wird beispiels-weise als brutalstmöglicher Angriff auf den Naturschutzbezeichnet. Der Entwurf der schleswig-holsteinischenLandesregierung wird als „eine Kriegserklärung gegenden Naturschutz“ bezeichnet. Das zeigt deutlich, wohindie Reise geht.

Herr Minister, eigentlich müsste man Sie bedauern.Sollten Sie hier effektive Gesetze vorschlagen, zeigenIhnen die Länder am Ende den berühmten Mittelfinger.Nein, erwarten Sie aber kein Bedauern von uns, denn dieVerantwortung dafür liegt auch bei Ihnen. Sorgen ma-chen mir vielmehr die schützenswerten Arten und Ge-biete, die beim Wettlauf um die so genannten bestenWettbewerbsbedingungen auf der Strecke bleiben wer-den. Noch gibt es allerdings die EU-Naturschutzrichtli-nien, die wesentlich strengere Schutzvorschriften als dasBundesnaturschutzgesetz enthalten. Noch verhinderndiese, dass schützenswerte Gebiete in Deutschland alsUmgehungsstraßen, Gewerbegebiete oder Flughäfen en-den.

Ich sage Ihnen: Ihr Vorgehen, das Rollback des Natur-schutzes, hat Methode. Nachdem Sie mit der Föderalis-musreform den Naturschutz auf nationaler Ebene aufsAbstellgleis geschoben haben, machen Sie sich jetzt anden europäischen Naturschutz heran. So soll derschleswig-holsteinische Ministerpräsident Peter HarryCarstensen als „00-Harry“ im Auftrage seiner Majestät,der Kanzlerin, dafür sorgen, dass die hinderlichen EU-Naturschutzrichtlinien abgeschwächt werden. Ich fragemich allerdings, was Sie, Herr Minister, dazu sagen undwelche Rolle Sie dabei spielen. Offensichtlich treffen diePresseberichte zu – der überwiegende Teil Ihrer heutigenRede hat das deutlich gemacht –, nach denen Sie baldEnergieminister werden wollen.

Alles in allem: Beim Naturschutz ist nichts in Butter.Ständige Haushaltskürzungen und ständige Änderungenin der Naturschutzgesetzgebung haben nichts mit nach-haltiger Politik zu tun.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, gerne hätten wir Ihnen zum 40. Ge-

burtstag eine Minute geschenkt. Sie haben Ihre Redeaber pünktlich beendet. Deshalb „nur“ eine Gratulationvon unserer Seite!

(Beifall)

Das Wort hat die Kollegin Bärbel Höhn, Bündnis 90/Die Grünen.

4704 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

(Ute Kumpf [SPD]: Sie bekommen keine Minute!)

Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Heilmann, es wäre schön, wenn ich Ihre Minute bekom-men könnte. Die Kollegen sind da offensichtlich andererMeinung. Ich habe heute auch nicht Geburtstag; dasgebe ich gerne zu.

Haushaltsberatungen sind immer die wichtigsten Be-ratungen im Parlament, weil dabei auch über die kom-mende Politik entschieden wird, und zwar mit der Mehr-heit des Parlamentes. Deswegen ist es wichtig, dass manGrundsatzdebatten führt, und zwar – Herr Göppel hatdas deutlich gemacht – auch über die Fraktionsgrenzenhinweg. Herr Minister Gabriel, deshalb ist es auch sinn-voll, nach einem Dreivierteljahr im Amt Bilanz zu zie-hen: Was haben Sie gut hinbekommen? Was nicht?

Wenn ich es mir vor Augen führe, kann ich sagen:Minister Gabriel ist durchaus gut gestartet. Er gab sichfreundlich und wortreich und machte ordentlich insze-nierte Auseinandersetzungen mit dem Kollegen Glos.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

– Ich weiß nicht, ob Sie jetzt noch weiter klatschen. –Sie haben das gut gemacht. Es ist gut, ein bisschen zusticheln. Sie haben gute, grüne Inhalte rübergebracht.Das ist nicht schlecht.

Die entscheidende Frage nach einem Dreivierteljahrist aber: Was ist von dem, was Sie gesagt haben, amEnde in die Tat umgesetzt worden?

(Ute Kumpf [SPD]: Viel!)

Dazu muss ich sagen: Sie laufen Gefahr, ein Ökorhetori-ker zu werden; denn das, was Sie sagen, entspricht nichtdem, was Sie tun. Diesen Vorwurf müssen Sie sich gefal-len lassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte das an mehreren Beispielen deutlich ma-chen. Nehmen wir die erneuerbaren Energien als Bei-spiel. Es ist toll, was Sie dazu – auch zur Energieeffi-zienz – auch heute gesagt haben. Man kann jeden Satznur unterschreiben. Wir brauchen – da haben Sie Recht –mehr Energieeffizienz. Es ist sinnvoll, dass die TonneÖl, nicht der Mensch arbeitslos wird.

Aber was haben Sie getan? Herr Göppel hat zu Rechtdarauf hingewiesen, dass die Gelder aus dem Markt-anreizprogramm gut abfließen, insbesondere weil dieÖl- und Gaspreise steigen und die Leute investieren. An-statt aber die Mittel dafür zu erhöhen und den Leuten da-mit mehr Gelder zur Verfügung zu stellen, damit sie wei-terhin die Anreizprogramme nutzen, kürzen Sie beidiesem Programm. Das ist nicht gut; es ist das Gegenteilvon dem, was Sie vorhin gesagt haben. Sie sorgen näm-lich nicht für mehr Energieeffizienz.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wie könnten Sie für mehr Energieeffizienz sorgen?Im Koalitionsvertrag steht, Sie wollten ein regenerati-ves Wärmenutzungsgesetz schaffen. Das wäre fantas-tisch. Es ist nämlich notwendig, um gerade bei den Bau-ten Wärme und damit auch Gas und Öl einzusparen. Washaben Sie gemacht? Es liegt nicht einmal ein Referen-tenentwurf vor. Große Worte, wenige Taten, Herr Minis-ter Gabriel: Das ist das Problem mit Ihnen.

Sie haben gesagt, Biokraftstoffe müssten aus ihrerNische heraus. Das ist richtig. Aber Herr Göppel hat sehreindrücklich geschildert, was wirklich passiert ist: Ge-rade beim ländlichen Raum, wo Arbeitsplätze entstehenund wo wir es schaffen, vom Öl wegzukommen, habenSie sich von Ihrem Parteikollegen Steinbrück über denTisch ziehen lassen. Er hat für einen kurzfristigen An-stieg der Steuereinnahmen – wobei sie viel höher ausfal-len würden, wenn er auf die Investitionstätigkeit in die-sem Bereich und auf die Arbeitsplätze gebaut hätte –wichtige Investitionen im ländlichen Bereich gestopptund Sie haben nichts dagegen unternommen, Herr Gab-riel. Das ist ein schwerer Fehler.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Michael Kauch [FDP])

Deshalb ist es wichtig, dass Sie in diesem Punkt aufHerrn Göppel hören. Er vertritt nämlich eine gute Posi-tion.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse)

Man muss versuchen, wirklich voranzukommen. Wasjetzt geschieht, beschränkt sich nämlich auf die Unter-stützung der Großen. Den Kleinen und dem Mittelstandwäre es zugute gekommen, wenn Sie die Steuerbefrei-ung beibehalten hätten. Aber nein: Mit Ihrem Ansatz– auch mit der Pflichtbeimischung – fördern Sie nur dieGroßen, aber nicht die Kleinen. Das ist falsch.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Michael Kauch [FDP])

Für die Großen haben Sie ein großes Herz. Auch da-bei sind Sie verbal wieder radikal. Sie wettern nämlichgegen die Marktmacht der großen Energiekonzerne. Dasist auch richtig. Damit haben Sie Recht. Ich kann vieleZitate anführen, die richtig sind. Was aber tun Sie? Sieverabschieden einen Nationalen Allokationsplan, mitdem Sie letzten Endes ein Förderprogramm für den Neu-bau von Kohlekraftwerken auflegen. Davon profitierendie Großen.

Sie nutzen auch nicht die Möglichkeit der Versteige-rung von Emissionszertifikaten. Damit hätten Sie700 Millionen Euro in den Haushaltsplan einbringenkönnen. Stattdessen schenken Sie diese 700 MillionenEuro den großen Konzernen. Das ist nicht in Ordnung,vor allem, wenn Sie beim Mittelstand kürzen. Das gehtnicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie können nicht hier als Retter der Verbraucher auf-treten und gleichzeitig allein im Bereich der Emissions-zertifikate anders handeln. Als ich das gehört habe, habe

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4705

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Bärbel Höhn

ich gedacht: Eine solche Unverschämtheit darf man dochnicht dulden. Dass Energieunternehmen Emissionszerti-fikate geschenkt bekommen und diese Geschenke sozu-sagen, als ob sie Kosten verursacht hätten, mit 5 Milliar-den Euro in die Bilanz aufnehmen und das denVerbrauchern bei den Preisen berechnen, muss endlichaufhören.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

5 Milliarden Euro für die großen Energieunternehmenkönnen wir uns auch im Hinblick auf die Energiepreisefür die Wirtschaft und die Verbraucher nicht leisten.

Ich komme zum nächsten Punkt, zur Atomkraft. Ichhabe mir aufgeschrieben, was Sie heute dazu gesagt ha-ben: Wir werden bei der Sicherheit keinen Rabattgeben. – Sie machen aber das Gegenteil. Sie haben ge-sagt, Sie hätten Vattenfall aufgefordert, bis Montag denSicherheitsnachweis zu liefern. Damit war der 28. Au-gust gemeint. Er ist lange vorbei. Was hat es eigentlichfür Konsequenzen, dass der Sicherheitsnachweis nichtgeliefert wurde? Null! Das ist der Rabatt, den Sie geben.Sie haben zwar gerade gesagt, Sie würden keinen Rabattgewähren, aber tatsächlich geben Sie den UnternehmenRabatt.

Als nächster Termin ist der 20. September festgelegtworden. Auch bis dahin wird das Unternehmen den Si-cherheitsnachweis nicht erbringen. Weil es das nichtkann, kündigt es an, nachzurüsten und Änderungen vor-zunehmen. Die Tatsache, dass ein Unternehmen Ände-rungen ankündigt, bedeutet doch, dass es ein Problemgibt. Was machen die Schweden im Falle eines Pro-blems? Sie schalten vorübergehend die Anlagen ab. Ha-ben wir hier ein niedrigeres Sicherheitsniveau als inSchweden? Das möchte ich gerne wissen; denn das darfnicht sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich komme zum Schluss. Herr Kelber hat es gesternin der „Financial Times Deutschland“ gut auf den Punktgebracht:

Vattenfall braucht offenbar Wochen, um sein eige-nes Kraftwerk zu verstehen. Das ist Besorgnis erre-gend.

Ich zitiere weiter:

Die Frage ist, ob Vattenfall überhaupt in der Lageist, eine Risikotechnologie wie ein Kernkraftwerkzuverlässig zu betreiben.

Herr Gabriel, Sie hätten die Verpflichtung gehabt, zuüberprüfen, ob dieser Anlagenbetreiber noch zuverlässigist. Sie hätten bei Herrn Kelber nachfragen können. Esgeht nicht nur um Rhetorik, sondern auch um das, wasSie tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb ist es auf Dauer entscheidend, dass Sie verläss-lich sind, auch in Ihren Positionen. Das bedeutet: Siemüssen genauso handeln, wie Sie reden. Das erwartenwir und daran werden wir Sie messen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIELINKE])

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Ulrich Kelber, SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Ulrich Kelber (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Debatten leben davon, dass man aufeinander ein-geht und nicht nur das vorliest, was man vorbereitet hat.Deswegen möchte ich auf meine Vorredner eingehen.Frau Kotting-Uhl und Frau Höhn, seien Sie mir nichtböse, aber Frau Reiche hat die bessere Oppositionsredegehalten.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Es ist, glaube ich, kein Zufall, dass die Grünen heutezwei Rednerinnen aufgeboten haben, die erst mit derletzten Wahl in das Parlament eingezogen sind. Sie ha-ben wahrscheinlich gedacht, dass wir dann nicht in derLage sind, Ihre Aussagen mit Ihrer Politik abzugleichen.Aber für Politikerinnen und Politiker gilt nicht dieGnade der späten Wahl. Meine Damen von den Grünen,Sie sitzen hier nicht als Einzelpersonen, sondern sind fürdie Politik der Partei verantwortlich, die Sie vertreten.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir stellen uns der Verantwortung!)

Ich möchte auf ein paar Punkte eingehen. Die Mittelfür das Marktanreizprogramm seien im Vergleich zumletzten Jahr gekürzt worden. Auch durch Wiederholun-gen werden falsche Behauptungen nicht richtig. Manmuss sich den Haushaltsplan nur genau anschauen. Ichkann mich noch sehr gut daran erinnern, wie es 2005 umdas Marktanreizprogramm – damals unter Verantwor-tung eines grünen Umweltministers – bestellt war undwelche heftige Kritik es intern gegeben hat. Damalswurden die Ausgaben für die Forschung – diese warennicht einmal halb so hoch wie in diesem Jahr – und fürdas Marktanreizprogramm deckungsfähig gemacht. Da-mit man Aufträge an verschiedene Institute vergebenkonnte, zu denen man mehr oder weniger gute Bezie-hungen unterhielt,

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja wohl eine Unterstellung!)

wurde das Marktanreizprogramm geplündert. Mitte desJahres war auf einmal gar kein Geld mehr da. Die Bran-che war hochgefährdet. In den Handwerksbetrieben gabes Entlassungen. Das Ganze wurde damals ohne Beteili-gung des Parlaments gemacht. Das beenden wir, indemwir diese Deckungsfähigkeit aufheben und mehr Geld indas System stecken.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ein weiteres Beispiel. Ich bedauere, dass die gestrigeSondersitzung nicht öffentlich war.

4706 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006

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Ulrich Kelber

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Trotzdem haben Sie dagegengestimmt!)

– Sie wissen ja, wie es in einer Koalition zugeht. Es gabeinmal eine andere Sondersitzung eines Ausschusses.Damals hat unser grüner Koalitionspartner darauf be-standen, dass wir dem Antrag der Opposition, diese Sit-zung öffentlich zu machen, nicht zustimmen. Leider istes in einer Koalition so, dass man, wenn man sich nichteinig ist, nicht zustimmt; das wissen Sie. Damals habenSie uns dazu gezwungen. Nun hat uns unser heutigerKoalitionspartner dazu gezwungen. Es wäre sicherlichbesser gewesen, wenn die Sitzung öffentlich gewesenwäre.

In der gestrigen Sondersitzung haben Sie gesagt, manmüsse bei den Atomkraftwerken endlich durchgreifen;denn schon 1999 und 2002 sei es in Biblis, Philippsburgund Brunsbüttel zu ähnlichen Störfällen gekommen. Wiehieß denn damals der Umweltminister?

(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Trittin!)

Welche Partei hat ihn gestellt und wie hat er reagiert? Erhat nach Recht und Gesetz gehandelt und geprüft, ob derStörfall ausreicht, das betreffende Kernkraftwerk abzu-schalten und dem Betreiber Vorschriften zu machen. Erist damals zu dem gleichen Ergebnis gekommen wie derjetzige Umweltminister.

Sie haben mich richtig zitiert. Ich stehe zu meinerMeinung. Das ist einer der Gründe, warum ich nach wievor den Atomausstieg für dringend notwendig halte.Aber man muss sich auch um die Details kümmern. An-sonsten muss man Steuergelder als Entschädigung fürungerechtfertigte Stilllegungen ausgeben.

Sie kennen sicherlich den Unterschied zwischen deut-schen Atomkraftwerken und dem Atomkraftwerk inForsmark. Aber für die Öffentlichkeit erkläre ich ihnnoch einmal. In Forsmark war hinter den Generatoren,den Wechselrichtern, kein Back-up-System mehr. InBrunsbüttel beispielsweise gibt es noch weitere Gas-turbinen und Systeme. Das ist der Unterschied zwischenden beiden Reaktoren und der Grund, warum wir andersals die schwedischen Aufsichtsbehörden reagieren müs-sen. Frau Höhn, es wäre gut gewesen, wenn Sie als ehe-malige zuständige Ministerin dies der Öffentlichkeit er-klärt hätten.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Des Weiteren wird behauptet, das Budget sinke ange-sichts der Pensionsänderungen und vor allem im Natur-schutz laufe gar nichts. Sie orientieren sich offenbar nuran den Zahlen, nicht aber an den Inhalten. Einer solchenHaushaltsgläubigkeit bin ich noch nicht begegnet. Wirüberantworten in diesem Jahr 1,25 Milliarden Quadrat-meter dem Naturschutz. Der Wert dieser Fläche geht ver-mutlich in die Hunderte Millionen Euro. Das steht nichtim Haushalt. Aber Sie sagen, er sei von 23 auf 22,9 ge-sunken. Das darf doch nicht wahr sein! Wie können Sieeinen solchen Schritt – 1,25 Milliarden Quadratmeter alsnationales Naturschutzerbe in Deutschland – so bewer-ten? Ich finde, es ist sehr schade, dass Sie sich nur nochan Zahlen und nicht mehr an den Inhalten orientieren.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Sie haben Pech, dass ich Verhandlungspartner vonJürgen Trittin und Rainer Baake war, als es um denNAP I ging. Natürlich finde ich es nicht gut, dass je-mand, der ein altes Kraftwerk betreibt und dann einneues baut, besser gestellt ist als jemand, der nun einneues baut. Aber diese Regelung war kein Kompromisszwischen Grünen und SPD. Damit ist Jürgen Trittin viel-mehr direkt zu uns gekommen. Das war der Entwurf derGrünen. Die Vier-plus-zehn-Regelung ist originär grün.Wir haben diese Regelung nicht herausbekommen, weilwir Zusagen gemacht haben. Sie ist jedenfalls originärgrün; das muss festgehalten werden.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist absolut falsch! Das wissen Sie auch!)

– Ich mache Ihnen ein Angebot: Ich gehe in mein Archivund liefere Ihnen meinen Brief an Jürgen Trittin sowieseine Antwort auf die Frage, die wir vor der Verabschie-dung des NAP I dem federführenden Ministerium ge-stellt haben: Was ist die Gefahr der Einpreisung? DieAntwort des grünen Umweltministers war: Es gibt keineGefahr der Einpreisung.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Bär-bel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja,aber daraus kann man lernen! Lernen Sie dochmal daraus!)

– Man muss solche Sachen einfach einmal dazusagen.

Der zweite Punkt sind die 5 Milliarden Euro Wind-fall-Profits.

Frau Flach, Sie haben bezüglich der Umorganisationder Energieabteilung im Ministerium gesagt, Sie wür-den als Haushälterin erwarten, dass endlich einmal Per-sonal gespart wird und keine zusätzlichen Ausgaben ent-stehen. Dazu darf ich sagen: Ich erwarte, dass eineHaushälterin den Haushaltsentwurf liest. Dann wüsstenSie, dass das eine Umorganisation ist und keine einzigezusätzliche Stelle dafür im Haushalt steht.

(Widerspruch der Abg. Ulrike Flach [FDP])

Bitte lesen Sie den Haushaltsentwurf einmal durch.Wenn das, was ich sage, nicht stimmt, dann machen Siees öffentlich und sagen Sie: Kelber hat die Unwahrheitgesagt. – Gehen Sie den Haushaltsentwurf durch; alsHaushälterin sollten Sie das tun. So eine billige Rhetorikhaben Sie doch gar nicht nötig.

(Beifall bei der SPD)

Die beste Oppositionsrede war die Rede von FrauReiche. Ich weiß – das sage ich als Vater von kleinenKindern –, dass sie wegen ihres Kindes – der Stoffhasewar ja auch für das Kind und nicht für Frau Reiche –jetzt nicht hier sein kann. Man muss trotzdem einmal et-was zu Ihrer Rede sagen. Diesen Sommer hatte ichmanchmal das Gefühl, wenn der Minister einatmet,kommt gleich die Pressemitteilung: „Reiche gegen Ein-atmen“.

Wenn die SPD und der Minister in der Atomaufsichteine Politik machen, die zwischen den Extremaussagen

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4707

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Ulrich Kelber

beider Seiten liegt – die einen sagen: „Sie müssten längststilllegen, Sie tun nichts“, die anderen sagen: „Sie nutzendas aus, um gegen die Atomenergie zu stänkern“ –, dannmacht man das, glaube ich, richtig.

Mir machen einige Dinge allerdings Sorgen; daraufkann vielleicht der Koalitionspartner noch eingehen.Wenn nach dem, was in Schweden passiert ist, die Erst-reaktion eines Betreibers lautet, es gebe gar keine Aus-wirkungen, dann die Atomaufsichten gebeten werden,Stellung zur Sicherheit der Anlagen zu beziehen, undmanche Atomaufsichten – wie die in Niedersachsen –praktisch nur Kopien von dem weitergeben, was die Be-treiber ihnen vorlegen, also keine eigenen Erkenntnissehaben, dann der Betreiber plötzlich sagt, es gebe zwarÄhnlichkeiten, es sei aber alles okay, und noch etwasspäter sagt, man müsse umbauen, dann muss man dochzumindest Zweifel haben, ob die Betreiber mit dieser Ri-sikotechnologie auf Dauer richtig umgehen und ob esnicht der bessere Weg wäre, aus dieser Risikotechnolo-gie auszusteigen.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber die Positionen in der Koalition unterscheidensich in der Tat, und zwar auch in der Frage des End-lagers. Es gibt da zwei Unterschiede.

Erstens. Die Zwischenlager haben entsprechende Ge-nehmigungen. Wer sich ein bisschen in der Atomenergieauskennt weiß, dass viele Brennstäbe gar nicht sofort inein Endlager transportiert werden dürfen, sondern ersteinmal vor Ort bleiben müssen. Von daher könnte mandie Zwischenlager gar nicht auflösen.

Der zweite Unterschied ist ebenfalls ganz deutlich.Dieser Unterschied hängt an wenigen Buchstaben: DieUnion will ein geeignetes Endlager haben; wir wollendas geeignetste Endlager in Deutschland haben.

(Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Das gibt es nicht!)

Das ist der Unterschied zwischen unseren Ansätzen: Wirwollen alles an jeder Stelle überprüfen. Wer das eben-falls möchte, darf davor keine Angst haben. Das istmeine feste Überzeugung.

(Beifall bei der SPD)

Letzter Punkt. In einer Haushaltsdebatte, in der manüber die Themen Umweltschutz, Geld und Volkswirt-schaft redet, kommt man natürlich am Thema Energienicht vorbei. Mich stört die Debatte der letzten Tage einbisschen. Da wurde über die Netzregulierung gespro-chen; im Augenblick wird in der Tat ganz gut daran ge-arbeitet. Dabei stellte sich die Frage, ob wir die Preisefür die Endkunden in den Ländern weiter regulieren soll-ten. Ich halte das für ziemlich blödsinnig.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich auch!)

Ich nenne als Beispiel einmal Stadtwerke, die 80 Prozentihres Stroms vom Versorger RWE beziehen müssen.Welche Endkundenpreise sollen die denn nehmen, wennRWE den Strompreis erhöht?

Das Problem sind also nicht die Netzkosten oder dieEndkundenpreise, sondern ist das Oligopol bei derStromerzeugung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die größten Vier haben 80 bis 90 Prozent des Markts.Deswegen muss man sich überlegen, wie man mit die-sem Oligopol umgeht. Die Begründung, die staatlichenAbgaben seien gestiegen, ist falsch. Die Abgaben sindseit 2003 nicht mehr gestiegen. Genau in der Zeit seit2003 ist die größte Abzocke bei den Strompreisen pas-siert. Eine andere Begründung sind die Weltmarktpreise.Ich habe heute noch einmal eine Karte gesehen, auf dereingezeichnet ist, wo die höchsten Endkundenpreisesind: in Baden-Württemberg – höchster Atomenergiean-teil, kein Weltmarktpreis – und Ostdeutschland – höchs-ter Braunkohleanteil, auch kein Weltmarktpreis. Genauda, wo die Weltmarktpreise nicht dominieren, aber wodie Oligopole dominieren, sind auch die Endkunden-preise am höchsten.

Es muss daher unser Ziel sein, alle Gesetze dahin-gehend zu prüfen, ob sie das Oligopol oder die Oligo-polisten, die es bilden, fördern oder ob sie den Wettbe-werb fördern. Wir brauchen einen Monopol-TÜV fürunsere Energiewirtschaftsgesetze. Das hat sich in denletzten Tagen noch einmal deutlich gezeigt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Als Bonner Abgeordneter weise ich darauf hin, dassein Bonner Unternehmen, die Telekom, ein Leidtragen-der von Regulierung ist. Man kann aber von der Situa-tion bei der Telekommunikation lernen. Wir sollten unsein einfaches Ziel setzen: Die drei oder vier größten Un-ternehmen in der Stromerzeugung sollten keinen größe-ren Marktanteil als 50 Prozent haben, das größte Unter-nehmen nicht mehr als 25 Prozent. Bis dieses Ziel erfülltist, ist es unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es mehrWettbewerber und mehr Kapazitäten gibt. Dann klapptes auch wieder mit den Strompreisen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin Ulrike

Flach das Wort.

Ulrike Flach (FDP): Die Intervention soll kurz sein, Herr Kelber. Sie ha-

ben gesagt, Haushälter sollten zumindest den Haushaltlesen. Dass ich eben dieses getan habe, wollte ich Ihnenbeweisen. Ich habe in meiner Rede darauf hingewiesen,dass wir in diesem Ministerium anders als in anderenMinisterien einen Aufwuchs an Personal haben und dassdies nicht im Sinne von uns Haushältern insgesamt ist.Wir haben eine absolute Zahl – über das ganze Ministe-rium verteilt – von 47,9 Stellen und wir haben im Minis-terium selbst 12 Stellen plus. Ich habe dann angefügt:Vor diesem Hintergrund finde ich es verwunderlich, dass

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Ulrike Flach

ein eigenes Referat gebildet wird. Wir werden den Mi-nister in den Beratungen über den Haushalt befragen,was da passiert ist. – Das ist das, was ich gesagt habe.Ich denke, daran ist nichts Unseriöses.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Kollege Kelber.

Ulrich Kelber (SPD): Ich finde es erst einmal gut, dass Sie richtiggestellt

haben, dass es da keinen Zusammenhang gibt. Das warvorhin in Ihrer Rede nicht der Fall. Sie haben erst überdiese Abteilung gesprochen und dann gesagt, Siewünschten sich eigentlich, dass nicht zusätzliche Stelleneingerichtet werden. Sie haben versucht, das in einenZusammenhang zu bringen. Jetzt ist das richtiggestellt.

Eines müssen Sie doch zugestehen: Wer neue Aufga-ben definiert, muss auch beantworten, wie diese erfülltwerden. Die neuen Stellen sind zum Beispiel im Bereichdes Emissionshandels angesiedelt. Hat Ihre Partei nichtimmer gesagt, wir seien zu spät mit dem Emissionshan-del gestartet? Muss sich eine nationale Aufsichtsbehördenicht um das nationale Naturschutzerbe kümmern, bei1,25 Milliarden Quadratmetern? Sie müssen das mitAufgabenkritik begleiten

(Otto Fricke [FDP]: Für jede neue Aufgabe ein neues Referat!)

und dürfen nicht rhetorisch zwei Dinge, die nicht zusam-mengehören, in einen Zusammenhang bringen. Das istunfair und das ist auch unredlich.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Kurt Hill, Frak-

tion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Das EEG ist der Schlüssel für die zukunftsfähigeEnergiewirtschaft. Wind, Wasser, Sonne, Biomasse undErdwärme garantieren einerseits Klimaschutz und ma-chen uns andererseits unabhängiger von Öl und Gas.Diese sorgen für sinkende Energiepreise und Hundert-tausende neuer Arbeitsplätze, wie wir es auch eben ge-hört haben. Aber hat unser Wirtschaftsminister Glos inder Sache etwas nicht verstanden? Darauf angesprochen,dass die Politik die hohen Strompreise mitverursacht,sagte er – ich zitiere das „Handelsblatt“ von gestern –:

Wir haben aber bald Gelegenheit dazu, daran etwaszu ändern. Im Koalitionsvertrag ist vorgesehen, imnächsten Jahr die Vergütungssätze des Erneuerbare-Energien-Gesetzes zu überprüfen und gegebenen-falls anzupassen.

Ich kann nur sagen: Wenn er die Anhebung der Ver-gütung damit meint, dann ist das okay; denn mehr erneu-

erbare Energien bedeuten sinkende Strompreise. Sonne,Wind und Co. machen gerade einmal 5 Prozent derStromrechnung aus. Ich sage an die Adresse der Koali-tion gerichtet: Wenn Sie wirklich etwas für die gebeutel-ten Stromkunden in diesem Jahr tun wollen, dann neh-men Sie endlich die Mehrwertsteuererhöhung zurück.Damit können Sie den Menschen in Deutschland wirk-lich einen Gefallen tun.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Minister, Sie sind in der Sache etwas konkreter.Nach unserer Ansicht wird die Strom fressende Industrievöllig unnötig von der EEG-Umlage befreit. Erstenszahlen die Zeche die Verbraucher und zweitens schadetdas den erneuerbaren Energien. Im Ergebnis entsteht soder Eindruck, erneuerbare Energien seien teurer, obwohldas Gegenteil der Fall ist.

Im Umwelthaushalt 2007 wird die Solarförderungum 5 Millionen Euro gekürzt. Wieso? Die Fördermittelhaben, wie wir wissen, noch nicht einmal in diesem Jahrausgereicht. Endlich wollen die Menschen Solaranlagenauf die Dächer schrauben und Sie, Herr Gabriel – ichverstehe es nicht –, kürzen die Mittel. Das entsprichtnicht dem Zitat aus dem Jahresbericht des Umweltbun-desamtes, das Sie vorgetragen haben.

Im Entwurf zur Änderung des EEG wird auf der an-deren Seite endlich ein Anlagenregister eingeführt –und das ist gut so. Dass die Bundesnetzagentur die Sachein die Hand nimmt, ist auch gut. Es darf aber nicht sein,dass ausgerechnet die Netzbetreiber die Daten führen,Herr Kelber. Das wäre absolut schlecht. Ihnen gehörendie Netze; sie machen ungeniert Kasse bei den Strom-kunden; sie behindern den Zugang der erneuerbarenEnergien in ihre Netze. Es kann doch nicht wahr sein,dass Sie hier Erzeugung und Netze zusammenführen, woEntflechtung das Gebot der Stunde ist. Datenmeldungmuss Sache der Anlagenbetreiber sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Zum guten Schluss soll offenbar das Gesetz im Rü-ckenwind der heutigen Haushaltsdebatte durchgewun-ken werden. Ich sage Ihnen: Nicht mit uns. Wir werdenim Ausschuss darüber noch zu reden haben.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN – Ulrich Kelber[SPD]: Das steht doch gar nicht im Gesetz,was Sie jetzt vorgetragen haben!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Bernhard Schulte-Drüg-

gelte, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Bernhard Schulte-Drüggelte (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Herr Kelber, ich möchte zu Beginn Ihre Einschät-zung der Rede von Katherina Reiche etwas korrigieren.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

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Bernhard Schulte-Drüggelte

Ich möchte darauf hinweisen: Wir sind in einer Koalition– es ist schon einige Zeit her, dass sie gebildet wordenist –; vielleicht sollte man Sie daran erinnern. Ich meine,es war eine sehr gute Rede.

(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Die von Herrn Kelber!)

Sie hat klar dargestellt, wie die CDU/CSU denkt. Viel-leicht ist es richtig, auch das einmal zur Kenntnis zu neh-men.

Weil wir in einer Koalition sind, möchte ich zunächstunsere Gemeinsamkeiten darstellen. Wir haben gemein-sam unsere Hausaufgaben gemacht. Vorhin wurde be-klagt, dass das nicht geschehen sei. Unsere Kanzlerin hatdas aber klar zum Ausdruck gebracht. Ich möchte zumHaushalt sagen: Die Maastrichtkriterien werden zumersten Mal wieder eingehalten. Die Wachstumsraten sindgut. Es gibt wieder mehr sozialversicherungspflichtigeBeschäftigte und weniger Insolvenzen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Bei der Bundesagentur für Arbeit gibt es erstmals seit1988 wieder einen Überschuss. Das sind Leistungen derKoalition, die unsere neuen Freunde einmal anerkennensollten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Kurzum, SPD und Union haben ihre ehrgeizigenKonsolidierungsziele umgesetzt. Durch den vorliegen-den Einzelplan 16 wird der eingeschlagene Weg fortge-setzt. Wir leisten da einen guten Beitrag.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr! Es könnte noch besser sein!)

– Das war eine gute Bemerkung, Steffen. –

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Während der Gesamthaushalt um 2,3 Prozent steigt,steigt der Haushalt des Umweltministeriums nur um0,1 Prozent. Das macht deutlich, dass die Konsolidie-rungsziele, die wir uns gesetzt haben, konsequent umge-setzt werden: sparsame Haushaltsführung; alle Aufgabenstehen auf dem Prüfstand; der Staat nimmt sich zurück.

Der Anteil der Forschungsmittel am Programmhaus-halt wird jedoch erhöht: von 30,7 Prozent in diesem Jahrauf 32 Prozent 2007. Das ist eine langfristige Entwick-lung – das wurde schon vorhin gesagt –: Die Ausgaben2006 betragen circa 140 Millionen Euro und sie sollenim Jahr 2010 156 Millionen Euro erreichen.

Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass der BMU-Haushalt nur leicht ansteigt. Ein Teil des Mehrbedarfsergibt sich daraus, dass Deutschland im nächsten Jahrdie EU-Ratspräsidentschaft und den G-8-Vorsitz inne-hat, mit all den Verpflichtungen, die daran geknüpft sind.Ich meine, beides sind Ereignisse, auf die wir uns freuenund die wir nutzen können und sollten.

Ich möchte jetzt auf Punkte zu sprechen kommen, beidenen wir vielleicht nicht immer einer Meinung sind.Anfangen möchte ich jedoch mit einem Punkt, bei demwir wahrscheinlich übereinstimmen: Ich meine den

Campus der Vereinten Nationen in Ihrer Heimatstadt,Herr Kelber, der im Juli von UNO-Generalsekretär KofiAnnan und unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel ein-geweiht wurde. Zurzeit arbeiten gut 600 Experten aus al-ler Welt in Bonn für die Vereinten Nationen. Ich halteeinen weiteren Ausbau für richtig und auch für erforder-lich. Aber im Haushalt 2007 sind keine Ausgaben fürden VN-Campus vorgesehen.

Ich möchte auf einen Bericht des Bundesrechnungs-hofs hinweisen, nach dem langfristig erhebliche Mittelfür die Bewirtschaftung notwendig sind. Die Regierungmuss eine Lösung in der Frage finden, wer das mittel-und langfristig schultern soll. Es müssen entsprechendeKapazitäten vorgehalten werden.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das muss Herr Tiefensee machen! Er hat zu viel Geld!)

Der nächste Punkt ist der Emissionshandel; wir ha-ben darüber gesprochen. In der Sache bin ich wieder ein-verstanden. Aber bei 100 Stellen und einem Volumenvon 11 Millionen Euro stellt sich schon die Frage, ob dasnicht im Haushalt dargestellt werden sollte, wenn manHaushaltsklarheit und -wahrheit als Ziel hat.

Ich möchte zu einem Punkt kommen, bei dem dieÜbereinstimmung nicht so groß ist. Petra Hinz hatgerade über die Qualität von Kernkraftwerken gespro-chen und Tschernobyl erwähnt. Sie erinnern sich viel-leicht an manche Bilder von früher, wenn Kernkraft-werke besetzt wurden. Da wurden vorzugsweiseKernkraftwerke in Deutschland besetzt. Das hatte unteranderem den Grund, dass die Besetzer den Eindruck hat-ten, das seien sicherere Anlagen; sonst hätten sie sichnicht draufgesetzt. Ich will nur deutlich machen: Es gibtQualitätsunterschiede.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Bärbel Höhn[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mein Gott!Was für ein Humor!)

– Das ist so!

(Zuruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD])

– Ich mache das jetzt so wie Ihr Kollege und sage: WennSie etwas wissen wollen, dann stellen Sie eine Zwi-schenfrage!

Die Frage der Endlagerung von radioaktiven Stoffenmöchte ich auch kurz ansprechen. Im Koalitionsvertragist vereinbart, dass wir eine Lösung finden wollen. Ichmöchte Herrn Minister Gabriel zitieren. Er hat im „Han-delsblatt“ gesagt: Wenn sich an dem jetzigen Urteilnichts ändere, habe man fünf Monate Zeit, um den Be-ginn des Ausbaus anzuordnen. – Das bezog sich auf dieEntscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zumSchacht Konrad.

Wir werden also in diesem Jahr Rechtsklarheit zumSchacht Konrad bekommen. Wir werden wissen, ob dasVerwaltungsgericht grünes Licht gibt. Wenn ja, dannstellt sich natürlich die Frage – das hat Frau Flach geradegesagt –, ob die entsprechenden Mittel im Bundeshaus-halt bereitstehen.

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Bernhard Schulte-Drüggelte

Katherina Reiche hat die Vorgeschichte zu Gorlebenangesprochen. Wir müssen klar feststellen, dass es dazuselbstverständlich verschiedene Meinungen gibt. Allebisherigen Untersuchungsergebnisse haben aber ganzeindeutig gezeigt, dass der Salzstock geeignet ist.

(Ulrich Kelber [SPD]: Wir wollen aber den ge-eignetsten!)

Deshalb sage ich aus der Sicht eines Haushälters: Ich bingegen eine weitere Suche und für die Aufhebung desMoratoriums. Damit ist noch einmal klargestellt, dasswir da unterschiedlicher Auffassung sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir könnennicht weiter Geld rausschmeißen!)

Ich möchte jetzt einem Ihrer Parteifreunde ausdrück-lich zustimmen, nämlich dem Finanzminister Stein-brück. Er hat sich einmal als Treuhänder der Steuerbür-ger bezeichnet. Das ist, finde ich, eine sehr guteBezeichnung. Man sollte treuhänderisch mit Steuergel-dern umgehen. Das gilt auch hier, selbst wenn im Be-reich der Endlagerung ein Großteil der Kosten refinan-ziert wird. Ich möchte hinzufügen, dass wir das Problemnicht wie eine heiße Kartoffel von Generation zu Gene-ration weitergeben sollten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ul-rich Kelber [SPD]: Genau deshalb müssen wirden besten Standort und nicht nur einen gutenfinden!)

Petra Hinz hat gerade noch einmal das Bundesamtfür Strahlenschutz angesprochen. Ich möchte erneut,wie bei der letzten Haushaltsrede, deutlich auf das kriti-sche Urteil hinweisen, das der Wissenschaftsrat über dasBundesamt getroffen hat, besonders im Hinblick auf dieFachbereiche „Sicherheit in der Kerntechnik“ und „Si-cherheit nuklearer Entsorgung“. Es gibt da auch Berei-che, die als sehr gut beurteilt worden sind, aber diejeni-gen, die uns hier besonders interessieren, sind als sehrschlecht beurteilt worden, gerade was die wissenschaftli-che Kompetenz angeht.

(Widerspruch bei der SPD)

– Ich habe es durchgelesen.

Der Wissenschaftsrat empfiehlt eine grundlegendeNeuausrichtung. Es ist eine Expertengruppe eingesetztworden.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Ich begrüße das und freue mich darüber, dass Konse-quenzen gezogen worden sind. Ich hoffe jedenfalls – umdas einmal ganz freundlich zu formulieren –, dass dieExperten unabhängig und in der Lage sind, objektiv Be-richt zu erstatten.

(Ulrich Kelber [SPD]: Sagen Sie etwas zu den Kriterien des Wissenschaftsrates!)

Deshalb möchte ich es bei diesen Punkten belassen.Ich freue mich auf die weiteren Beratungen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr gut! Sehr sachlich und kompe-tent!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 16/2455 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Druck-sache 16/2510 mit dem Titel „Die weltweit letzten100 westpazifischen Grauwale schützen“. Dazu liegenmir persönliche Erklärungen von neun Kolleginnen undKollegen der Grünen vor.1) Wer stimmt für diesen An-trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DerAntrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD beiEnthaltung von FDP, Bündnis 90/Die Grünen und einemetwas unklaren Erscheinungsbild links, zwischen Zu-stimmung und Enthaltung changierend

(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Ja, ge-nau!)

– dann habe ich das richtig beobachtet –, angenommen.

Wir kommen nunmehr zum Geschäftsbereich desBundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtent-wicklung, Einzelplan 12. Ich erteile das Wort dem Bun-desminister Wolfgang Tiefensee.

(Unruhe)

– Liebe Kolleginnen und Kollegen, könnten Sie denWechsel etwas geräuschärmer vollziehen, damit derBundesminister eine Chance hat, gehört zu werden. – Ichglaube, jetzt geht es.

Wolfgang Tiefensee, Bundesminister für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung:

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren Abgeordnete! Liebe Gäste! Wirkommen zum Einzelplan 12, einem der schwergewich-tigsten auch im Haushalt des Jahres 2007. Ein starkes,selbstbewusstes Land investiert auch im Jahr 2007 starkund vorausschauend und sorgt damit für eine nachhaltigeWirkung in Bezug auf die Belebung der Wirtschaft, dieSchaffung neuer Arbeitsplätze und den regionalen undsozialen Zusammenhalt in unserer Republik.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist nicht selbstverständlich. Die Bundesregierunghat, wie die Mittelfristplanung zeigt, die zu diesemZweck herangezogen werden kann, durch ihre Koali-tionsvereinbarung vom November 2005 dafür Sorge ge-tragen, dass die Gelder nicht zuletzt im Einzelplan 12und hier im investiven Bereich verstetigt, ja zum Teil

1) Anlage 3

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Bundesminister Wolfgang Tiefensee

aufgestockt werden, damit Planungssicherheit entstehtund die Bauvorhaben zügig vorangetrieben werden. Wirinvestieren in die Straße, in die Schiene, in die Binnen-wasserstraßen und gemeinsam mit den Ländern in dieFlughäfen. Wir investieren in die Seehäfen. Wir setzenAkzente bei der Städtebauförderung mit dem Programm„Soziale Stadt“. Wir sorgen dafür, dass neue Technolo-gien zum Durchbruch kommen und innovative Produktegestärkt werden und ihren Markt finden. Mit all demverfolgen wir eine Strategie; die Maßnahmen finden sichin den Einzelpositionen unseres Etats wieder.

Bevor ich das in der knapp bemessenen Zeit im Ein-zelnen erläutere, möchte ich einen herzlichen Dank andie richten, die im Vorfeld der Haushaltsplanerstellungdazu beigetragen haben, dass wir dieses Ergebnis in wei-ten Teilen im Konsens vorlegen können. Mit Blick aufdie schwierigen Gespräche über den Investitionsrahmen-plan 2006 bis 2010 darf ich der Hoffnung Ausdruck ver-leihen, dass wir die dort vorgesehenen Maßnahmen ingleichem Einvernehmen sehr zügig in Gang setzen, da-mit sie ihre Wirkung entfalten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Strategie im Verkehrsbereich bis zum 31. Dezem-ber 2007 wird im Investitionsplan niedergelegt, den wirmit dem Masterplan „Güterverkehr und Logistik“untersetzen wollen. Wir folgen damit dem Ansatz, jedemVerkehrsträger eine optimale Unterstützung zu geben,damit er seine Wirkung entfaltet, und zwar jeweils ein-zeln und in der Vernetzung. Wir wollen das Rückgrat derWirtschaft, die Mobilität, und den Aufwärtstrend der Lo-gistikbranche unterstützen und somit im Einzelnen unse-ren Beitrag dazu leisten, dass Arbeitsplätze entstehen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Der Verkehrsbereich hat auf dem Finanzniveau von8,8 Milliarden Euro eine Verstetigung erfahren. Rechnetman die Gelder von rund 1,7 Milliarden Euro im Rah-men des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes hinzuund berücksichtigt weitere Positionen im Technologie-bereich, dann ergibt sich ein Volumen von 10,7 Milliar-den Euro allein bei den Investitionen in die Verkehrsträ-ger innerhalb und außerhalb der Stadt.

Wir wollen im Jahr 2007 den Binnenwasserstraßenein leichtes Prä einräumen, weil wir glauben, dass derenAusbau nachhaltig unterstützt werden muss, da sie imModal Split mit immerhin einem Anteil von 12 Prozentam Güterverkehr einen nachhaltigen Beitrag zur Mobili-tät leisten.

(Beifall bei der SPD – Zuruf der Abg. Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wir wollen dabei – das sage ich auch in RichtungBündnis 90/Die Grünen – die Umweltverträglichkeit inKorrelation zu den Verkehrserfordernissen bringen. Ichdenke, dass wir sowohl beim Ausbau der Binnenwasser-straßen als auch beim Ausbau der seewärtigen Anbin-dung unserer Häfen sehr klug, sehr besonnen und sehrbedacht vorgehen.

Wir werden im Bereich der Straße Projekte mit neuenFinanzierungsinstrumenten fördern. Es besteht im Haus-halt die Möglichkeit – ich nenne das Beispiel der A 8,der Strecke von München nach Augsburg –, gemeinsammit der Wirtschaft eine höhere Effizienz zu erreichen. Esist erklärtes Ziel der Bundesregierung, auch privates Ka-pital zu akquirieren.

Wir wollen durch eine Aufstockung der Mittel Ver-kehrsprojekte auf der Schiene vorantreiben, beispiels-weise die Strecke Karlsruhe–Basel oder die Verkehrs-projekte „Deutsche Einheit“ 8.1 und 8.2,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und derCDU/CSU – Winfried Hermann [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: So kriegt jeder was!Alle sind zufrieden und nirgends reicht es!)

die die Anbindung insbesondere der ostdeutschen Län-der verbessern sollen.

Wir werden nicht nur im investiven Bereich etwas fürdie Schiene tun. Auch mit unseren strategischen Ent-scheidungen zur DB AG und deren Teilprivatisierungwerden wir nicht zuletzt mit Blick auf den Haushalt inden Jahren 2006 und 2007 die Weichen stellen. Dies istheute nicht das Thema und meine Redezeit reicht nicht:Aber wir werden die Koalitionsvereinbarung auch indiesem Punkt zügig umsetzen und unseren Beitrag dazuleisten, dass Mobilität auch in Zukunft möglich ist unddie Deutsche Bahn AG im Wettbewerb zwischen Straßeund Schiene und auf der Schiene sowie im nationalenund europäischen Wettbewerb gestärkt wird und auch inZukunft als Wettbewerbspartner zieht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Im Bereich der Binnenwasserstraßen setzen wir aufdie Erweiterung der Schleusen, auf umweltverträglicheFlussbaumaßnahmen beispielsweise der Elbe, um denZustand vor dem Hochwasser herzustellen. So erhoffenwir uns Impulse für die Wirtschaft.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass wir die Mittelfür den Stadtumbau Ost und Stadtumbau West, denDenkmalschutz, die Grundprogramme der Städtebauför-derung, aber auch für das Programm „Soziale Stadt“nicht nur verstetigen, sondern aufstocken. Sie haben esim Haushalt gelesen: In den Jahren 2006, 2007, 2008und 2009 wird für diesen Bereich mehr Geld zur Verfü-gung stehen.

Ein entscheidendes Programm, das seine Wirkung be-reits entfaltet, ist das CO2-Gebäudesanierungspro-gramm.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten der FDP und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es ist ein optimales Programm in der Verbindung vonMittelstandsförderung, Verbesserung der Umwelt undEntlastung des Mieters bei den Nebenkosten. Im Zeit-raum von 2005 bis 2006 wurde noch ein Finanzvolumenin Höhe von 200 Millionen Euro gefeiert. Angesichtsder Tatsache, dass mittlerweile 1,4 Milliarden Euro pro

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Bundesminister Wolfgang Tiefensee

anno zur Verfügung stehen, wird deutlich, dass diese Re-gierung hinsichtlich Mittelstandsförderung, Umwelt-schutz und Mieterinteressen nachdrücklich Akzentesetzt.

Die Wohneigentümer rennen der Kreditanstalt fürWiederaufbau – bildlich gesprochen – die Bude ein undfragen dieses Programm nach. Daher haben wir uns ent-schlossen, die Mittel bereits im Jahre 2006 um350 Millionen Euro aufzustocken, indem wir die Ver-pflichtungsermächtigung zeitlich nach vorne ziehen. Da-mit erreichen wir, dass die Anträge, die jetzt quasi aufHalde liegen, noch im vierten Quartal beschieden wer-den können. Die erhöhte Nachfrage ist vermutlich teil-weise auch eine Reaktion auf die geplante Erhöhung derMehrwertsteuer, die gegebenenfalls zu einer Delle füh-ren könnte. Mit dieser Maßnahme haben wir angemes-sen darauf reagiert. Das CO2-Gebäudesanierungspro-gramm ist eine der Erfolgsstorys neben dem Aufwuchsder Investitionsmittel insgesamt.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Für den Stadtumbau Ost und für den StadtumbauWest legen wir zusätzlich 36 Millionen Euro auf. BeimProgramm „Soziale Stadt“ sind es 40 Millionen Euro proanno, verstetigt über die nächsten Jahre, wie man an derMittelfristplanung erkennen kann. Das zeigt, welche Ak-zente wir mit unseren Investitionen setzen wollen.

Lassen Sie mich an dieser Stelle etwas zum AufbauOst und zur Unterstützung der ostdeutschen Länder sa-gen. Neben der Verbesserung der Infrastruktur setzenwir konsequent die Gelder aus dem Solidarpakt II ein.Wir fördern die Städte und die Wohnquartiere nachhal-tig, damit sich der zarte Aufschwung Ost, der im verar-beitenden Gewerbe erkennbar ist, verstetigt. Die Investi-tionszulage, die im Haushalt des Bundesfinanzministersetatisiert ist, soll an dieser Stelle noch einmal erwähntwerden. Pro anno werden den mittelständischen Unter-nehmen des Ostens 600 Millionen Euro zur Verfügunggestellt, damit sie Arbeitsplätze schaffen und zum Wirt-schaftswachstum im Osten beitragen können. Dieser As-pekt wird nach wie vor im Mittelpunkt der Politik derBundesregierung stehen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Um das Wachstum, das in ganz Deutschland, aber be-sonders in den neuen Bundesländern zu beobachten ist,weiter zu fördern, kümmern wir uns um neue Technolo-gien. Deutschland ist auf vielen Feldern Technologie-führer. Ich nenne beispielsweise die Wasserstoff- undBrennstoffzellentechnologie. Auch wenn es darum geht,neue Antriebssysteme oder neue Kraftstoffe zu entwi-ckeln, sind wir führend. Ich nenne als Stichwort BTL,die synthetischen Biokraftstoffe. All das wollen wir för-dern, indem wir die Forschungsmittel in diesem Bereichaufstocken. Beispielsweise sollen in dieser Legislatur-periode rund 200 Millionen Euro, 50 Millionen Euro proanno, für das Wasserstoff- und Brennstoffzellenpro-gramm eingesetzt werden.

Wir investieren in Galileo, um dieses europäischeProjekt voranzutreiben, mit dessen Hilfe speziell in denneuen Bundesländern mit der Entwicklung von neuenProdukten neue Arbeitsplätze geschaffen wurden. Ichbin davon überzeugt, dass es unser Haus erreichen kann,dass wir bei den Antriebssystemen, bei den neuen Kraft-stoffen, beim Satellitennavigationssystem, aber auch inder Bauforschung, bei der Entwicklung neuer Baustoffe,neuer Wohnformen sowie neuer Bautechnologien Tech-nologieführer bleiben. Damit können wir in diesem Be-reich weiterhin Akzente setzen.

Dieser Haushalt stellt eine Verstetigung des Haushal-tes 2006 dar und findet seine Fortführung in den Jahren2008 und 2009. Damit wollen wir erreichen, dass derMittelstand, der das Rückgrat unserer Gesellschaft ist,gefördert wird. Wir wollen damit ferner erreichen, dasszusätzliche Arbeitsplätze entstehen. Außerdem wollenwir die Technologieführerschaft unseres Landes aus-bauen.

Es gibt aber auch Beiträge, die die Verwaltung selbstleistet, indem sie sich zurücknimmt und den Gürtel en-ger schnallt. Das sind zwei Seiten einer Medaille: mehrinvestieren – die Bundesregierung hat ein entsprechen-des Programm mit einem Volumen von 25 MilliardenEuro aufgelegt – und im eigenen Haus sparen. Die Bun-desverwaltung spart hier 1 Milliarde Euro pro Jahr ein.Dieses Sparen gilt selbstverständlich auch für ein Haus,das in besonderem Maße Personal zur Verfügung stellt.Denken Sie insbesondere an die Schifffahrtsverwaltung!Das bedeutet für ein solches Haus, einen großen Beitragzu leisten: mehr Arbeitszeit, Halbierung des Weihnachts-geldes, Sonderbelastungen für die Beamten und Ange-stellten.

Ich möchte das hier noch einmal deutlich unterstrei-chen. Auch wenn wir den Bürgern manches abverlangenmüssen, auch wenn wir den Unternehmen zumuten, dasssie zum Teil mehr Abgaben, mehr Steuerlast zu tragenhaben, findet das seine Entsprechung, insbesondere auchin unserem Hause, indem wir den Gürtel enger schnal-len.

Das wird weithin in der Bevölkerung nicht gesehenund soll an dieser Stelle besonders für ein personalinten-sives Haus wie das meinige noch einmal deutlich unter-strichen werden – mit Dank an die Mitarbeiterschaft, dietrotz immer umfangreicher werdenden Aufgaben diesezu leisten im Stande ist.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ich denke, dass wir in den Beratungen im Detail die-ses oder jenes vielleicht noch verändern, aber im Grund-satz diesem Entwurf folgen. Ich bedanke mich für diekonstruktive Zusammenarbeit bis hierher und wünscheden weiteren Beratungen nicht nur zum Haushalt, son-dern auch zur Strategie – Güterverkehr, Logistik,Deutsche Bahn AG, Strategien bei Kraftstoffen, An-triebssystemen und dergleichen mehr – einen möglichstbreiten Konsens. Ich werde meinen Beitrag dazu leisten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Jan Mücke für die FDP-

Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Jan Mücke (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Investitionen sind das Rückgrat für Wachstum undBeschäftigung. Mit diesem an sich zutreffenden Satz er-öffneten Sie, sehr geehrter Herr Minister, Ihre Rede zurHaushaltsdebatte 2006, was zeitlich noch nicht so weitentfernt liegt.

Wenn man sich die Zahlen für den Haushalt 2007 ge-nau ansieht, wird deutlich, dass der Anspruch, den Siehier kundgetan haben, und die in Wirklichkeit auseinan-der klaffen.

(Zuruf von der FDP: Hört! Hört!)

Der Haushaltsentwurf sieht Investitionen für Bundes-fernstraßen in Höhe von 4,5 Milliarden Euro vor.Meine Damen und Herren, anders als man nach der rechtoptimistisch gehaltenen Rede des Ministers denkenkönnte, haben wir jedoch keinen Zuwachs im Vergleichzum Haushaltsjahr 2006 zu verbuchen. Im Gegenteil:Sie stellen über 329 Millionen Euro weniger für denBundesfernstraßenbau zur Verfügung, im Vergleich zumJahre 2005 sind es sogar 724 Millionen Euro weniger.

Sie verabschieden sich – anders kann man das nichtdeuten – damit heimlich, still und leise von Ihren voll-mundigen Plänen und Absichten, die vor allen Dingen inden Koalitionsvereinbarungen vom letzten Jahr nachzu-lesen sind.

Der Bundesverkehrswegeplan 2003 sah jährliche In-vestitionen von 5,2 Milliarden Euro für Bundesfernstra-ßen vor. Ihre Koalitionsvereinbarung aus dem Jahre2005 – sie ist noch nicht ganz ein Jahr alt – sprach voneiner deutlichen Erhöhung und Verstetigung der Investi-tionen im Laufe der aktuellen Legislaturperiode. DasGegenteil ist der Fall. Der Verfall der deutschen Auto-bahnen wird bedauerlicherweise weitergehen.

(Beifall bei der FDP)

Sehr geehrter Herr Minister, das gleiche Schicksal er-eilt Ihren bereits jetzt angekündigten Masterplan „Lo-gistik“, bevor dieser richtig fertig ist. Sie kommen zudem zutreffenden Ergebnis – ich zitiere Ihr Haus in der„Deutschen Verkehrszeitung“ vom 24. August –, dasssich die Priorisierung beim Erhalt und Ausbau der Infra-struktur stärker als bisher an den Anforderungen der ver-ladenden Wirtschaft orientieren muss.

Schauen wir uns die Zahlen an. Die Straße schultertetwa 70 Prozent des Güterverkehrs und sogar 80 Prozentdes Personenverkehrs. Von den 8,75 Milliarden EuroGesamtinvestitionen in die Infrastruktur des Bundes ent-fallen jedoch nur 4,5 Milliarden Euro auf die Fernstra-ßen. Das sind gut 51 Prozent. 2006 waren es noch4,8 Milliarden Euro, sprich 54 Prozent. Sie erkennenalso einen Trend, der die Förderung der Bundesfernstra-ßen eher abnehmen lässt.

Diese Art von stärkerer Priorisierung und Versteti-gung ist für mich kaum noch nachvollziehbar, offen-sichtlich für Sie selber auch nicht. Nach § 5 Abs. 1 Fern-straßenausbaugesetz sind Sie verpflichtet, einenFünfjahresplan zum Ausbau der Fernstraßen vorzulegen,um Investitionen langfristig planbar zu machen. DieserPlan soll von 2006 bis 2010 gelten. Das Jahr 2006 istzwar zu drei Viertel vorbei, dieser Fünfjahresplan liegtaber immer noch nicht vor. Ich kann ja verstehen, dassSie, wie vielleicht alle ostdeutschen Abgeordneten, ge-genüber Fünfjahresplänen eine gewisse Skepsis entwi-ckelt haben.

(Iris Gleicke [SPD]: Das hat sich nach 16 Jahren gelegt!)

Es wäre aber gut, wenn Sie, sehr geehrter Herr Minister,Ihrer gesetzlichen Pflicht nachkommen und einen sol-chen Fünfjahresplan endlich vorlegen würden.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Besonders unverständlich ist die Entwicklung bei denBundesfernstraßen, wenn man sich vor Augen hält, dassdie Investitionssumme inzwischen zu einem großen Teildurch Mauteinnahmen finanziert wird. Fast jeder vierteEuro – das entspricht über 1 Milliarde Euro – für Investi-tionen im Bereich Bundesfernstraßen stammt nicht ausHaushaltsmitteln, sondern wird bereits jetzt nutzerfinan-ziert.

(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] – Jörg Tauss [SPD]: Guter Erfolg! Erfreulich!)

– Natürlich. – Heute ist aber keine Rede mehr davon,dass die Mauteinnahmen eigentlich auch dazu dienensollten, zusätzliche Projekte zu ermöglichen. Von zusätz-lichen Projekten ist heute nicht mehr die Rede.

(Beifall bei der FDP – Jens Ackermann [FDP]:Das ist leider wahr! – Iris Gleicke [SPD]:Lasst uns das, was wir angefangen haben, zuEnde bauen! Das wäre ein echter Fortschritt!)

Vielmehr dümpeln die Investitionen weiter vor sichhin und das Investitionsdefizit wird von Jahr zu Jahr grö-ßer. Lieber Herr Tiefensee, wenn Sie weiterhin der Bun-desspatenstichminister bleiben wollen, wenn Ihr Spatennicht einrosten soll, dann müssen Sie in dem BereichBundesfernstraßen erheblich mehr Geld investieren,sonst wird Ihnen dieser Titel wahrscheinlich aberkanntwerden.

(Iris Gleicke [SPD]: Ihre Rede folgt demMotto „Haltet den Dieb, er hat mein Messer imRücken“! Erst zusätzliche Maßnahmen for-dern, dann zu wenig Geld haben!)

– Sie können gleich gerne sprechen.

(Iris Gleicke [SPD]: Ich wollte dazwischenrufen!)

In Ihrem Masterplan Logistik präferieren Sie denRückzug des Staates aus dem Dienstleistungsbereich. Esist schon interessant, mit welchen Argumenten Sie ande-rerseits beim Thema Bahn das Integrationsmodell hoch-halten. Sie manifestieren damit endgültig, dass der BundMehrheitseigentümer eines Logistikunternehmens wird.

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Jan Mücke

Warum soll es aber Aufgabe des Bundes sein, Hafenter-minals und Logistikkonzerne zu betreiben?

(Jens Ackermann [FDP]: Sozialisierung!)

Es kann doch nicht im Sinne eines effektiven Wettbe-werbs im Verkehrsbereich sein, dauerhaft einen Staats-konzern zu verankern, der auf Kosten des Steuerzahlerskonkursfest ist und Vorzugskonditionen bei der Finan-zierung genießt.

(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was Sie mit dieser Politik beabsichtigen, zumindest be-wirken oder billigend in Kauf nehmen, ist eine klare Ver-zerrung des Wettbewerbs zulasten privater Unterneh-men. Das sieht man gerade in der Logistikbranchedeutlich.

Sie haben sich wahrscheinlich die Vision von HerrnMehdorn zu Eigen gemacht, mit dem Konzern DeutscheBahn einen Globalplayer aufzustellen. Gerade uns Ost-deutschen – ich komme noch einmal auf unsere gemein-same Herkunft zu sprechen – müsste eigentlich bekanntsein, dass die Größe allein relativ wenig über die Wett-bewerbsfähigkeit eines Unternehmens aussagt.

(Jens Ackermann [FDP]: Sehr wahr!)

Große Unternehmensverbünde hatten wir zu DDR-Zei-ten auch. Entscheidend sind effiziente Strukturen und einerstklassiges Produkt. Das erwarten wir von derBahn AG.

Damit komme ich zu dem, was heute über die Tickergelaufen ist. Sie haben die Opposition freundlicherweisezu einem klärenden Gespräch über den Börsengang derBahn, insbesondere über die Bahnimmobilien, eingela-den. Die Zuordnung dieser Immobilien ist in der letztenZeit häufig Thema in den Medien gewesen. Ich möchtean dieser Stelle noch einmal erklären, dass der Brief vonHerrn Mehdorn unseres Erachtens keineswegs alle Fra-gen beantwortet hat. Die Grundstückszuordnung ist nachwie vor eine offene Frage. Wir erwarten, dass die Immo-bilien der Deutschen Bahn AG entsprechend § 25 desDeutsche Bahn Gründungsgesetzes zugeordnet werden.

(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Solange diese Fragen nicht endgültig beantwortetsind und Ihr Haus nicht endgültig Position bezogen hat,wie die Grundstücke zugeordnet werden sollen, steht füruns der Untersuchungsausschuss weiter im Raum.

(Beifall bei der FDP, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Für uns ist entscheidend, wie die Bundesregierungden Investitionshaushalt im Bereich Verkehr in Zukunftgestalten wird. Das ist unseres Erachtens eine Zukunfts-branche. Wir werden Sie gern unterstützen, wenn Sievernünftige Investitionsentscheidungen treffen. WennSie allerdings wie beispielsweise in diesem Jahr ganzmassiv zulasten der Straße einsparen, werden Sie keineUnterstützung für Ihren Haushaltsentwurf finden.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Peter Friedrich,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Diese Koalition hat über ihre Arbeit von vier Jahren fol-genden Dreiklang gestellt: Sanieren, Reformieren, In-vestieren. Wir haben das große Glück, dass wir mit die-sem Einzelplan in erster Linie für das Investierenzuständig sind. Ich denke, dass der Einzelplan 12 imHaushalt 2007 einen starken Beitrag dazu leistet, dassArt. 115 des Grundgesetzes eingehalten werden kann, indem steht: Die Investitionen müssen höher sein als dieKreditaufnahme. Das schaffen wir nicht zuletzt damit,dass über die Hälfte des Haushaltes des Ministers fürVerkehr, Bau und Stadtentwicklung in Investitionen gehtund dass über die Hälfte der investiven Ausgaben desBundes im Verkehr- und Baubereich stattfinden.

Wir wissen, dass es sich dort nicht nur um wichtigeAufgaben des Wirtschaftsstandortes Deutschland han-delt, sondern auch um die Zukunft des Lebensqualitäts-standortes Deutschland. Es ist nicht unwichtig, wie wir– der Minister hat es gesagt – den regionalen und sozia-len Zusammenhalt unserer Städte und Gemeinden ge-stalten. Es ist nicht unwichtig, wie die Mobilität der Bür-gerinnen und Bürger im Alltag gesichert wird. Aber esgeht bei diesen Investitionen nicht nur darum, Lebens-qualität für die Zukunft zu sichern, sondern sie habenauch einen sehr guten Nebeneffekt: Wir sichern dadurchArbeitsplätze in der Gegenwart.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Beifall bei der FDP)

Zum ersten Mal seit sieben Jahren werden in diesemJahr die Umsätze in der Bauwirtschaft steigen. Die Bau-wirtschaft rechnet auch im kommenden Jahr mit einerpositiven Entwicklung. Natürlich gibt es – das werdenSie sofort entgegenhalten – eine Sonderkonjunktur auf-grund des Wegfalls der Eigenheimzulage und der Erhö-hung der Mehrwertsteuer.

Wir haben mit dem KfW-CO2-Gebäudesanierungs-programm einen starken Stabilisator eingezogen, derinsbesondere für das Bauhandwerk ein warmer Regenist. Dieses Programm ist – der Minister hat es gesagt –ein außerordentlicher Erfolg. Wir hatten uns als Ziel vor-genommen, ein Investitionsvolumen in Höhe von etwa7 Milliarden Euro anzuregen. Dies ist gleich im erstenAnlauf deutlich überschritten worden. 1 Milliarde EuroInvestitionen bedeuten die Sicherung von 25 000 Ar-beitsplätzen in diesem Land. Ich denke, das kann sich se-hen lassen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gestern habt Ihr 100 000 gesagt!)

Gleichzeitig entlasten wir durch die CO2-Einsparun-gen unsere Umwelt. Wir sparen Energiekosten und ver-bessern den Substanzwert des Gebäudebestandes in die-

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sem Land, wobei sich drei Viertel aller Anträge auf Ein-und Zweifamilienhäuser beziehen.

Das zeigt, dass das der richtige Weg ist und dass wirkeine teueren staatlichen Konjunkturprogramme brau-chen, sondern nur Anreize, damit die Menschen ihr pri-vates Kapital mobilisieren und investieren. Ich denke,angesichts der momentan nicht gerade überwältigendenAnzahl attraktiver Anlagemöglichkeiten in Deutschlandsind viele bereit, zu sagen: Jawohl, ich investiere in meineigenes Häuschen oder in meine eigene Wohnung.

Deswegen sollten wir alle dafür sorgen, dass auch derWohnungsbau als Altersvorsorge möglichst bald riester-fähig gemacht wird.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich glaube, das ist ein ganz wichtiges Anliegen, das wirgemeinsam verfolgen sollten. Denn die Erarbeitung ei-ner Eigentumswohnung oder eines kleinen Häuschenssind Altersvorsorge und Eigentumsbildung in Eigenver-antwortung der Menschen. Das sollte der Staat entspre-chend unterstützen und würdigen.

Wir erreichen CO2-Einsparungen; wir erreichen Ener-gieeinsparungen. Dies schaffen wir auch mithilfe einesweiteren Instruments, das uns die Europäische Unionvorschreibt, nämlich des so genannten Energieauswei-ses. Der Energieausweis ist sinnvoll. Denn er soll doku-mentieren, wie hoch der Energieverbrauch und die Ener-giekosten sind, die der potenzielle Käufer oder Mietereiner Wohnung oder eines Hauses zu erwarten hat.

Es macht Sinn, ihn in einer Phase, in der die Energie-kosten besonders hoch und gewissermaßen zu einer Artzweiten Miete geworden sind, als Marktkriterium einzu-führen. Ich warne aber sehr davor, in diesem Zusammen-hang unnötige Kosten zu produzieren, die die Eigentü-mer von Häusern und Wohnungen belasten.

(Beifall des Abg. Otto Fricke [FDP])

Ich bin deswegen sehr froh, dass sich der Bundes-minister für Verkehr und der Bundesminister für Wirt-schaft auf die Wahlfreiheit zwischen zwei Varianten desEnergieausweises verständigt haben: zwischen dem Be-darfsausweis, der relativ teuer ist, weil er kompliziertund aufwendig herzustellen ist, und dem Verbrauchsaus-weis, der relativ günstig ist und diesen Zweck für eineÜbergangszeit, bis sich das Ganze am Markt etablierthat, genauso gut erfüllen kann.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Das entspricht im Übrigen auch unserem Ziel, EU-Vor-schriften eins zu eins umzusetzen und nicht draufzusat-teln.

Was die Verkehrsinfrastruktur angeht, stimme ich denKollegen, die vor mir gesprochen haben, uneinge-schränkt zu, auch denen der Opposition. Wenn man in-vestieren möchte, kann man nie genug Geld haben; es isteigentlich immer zu wenig. Aber ich denke, dass wir esgeschafft haben.

Lieber Herr Minister, ich sage Ihnen: HerzlichenGlückwunsch zu Ihren erfolgreichen Verhandlungen mitdem Bundesfinanzminister! Sie haben es trotz leererKassen bzw. knapper Finanzmittel geschafft, eine dauer-hafte Erhöhung der Investitionsmittel im Verkehrsbe-reich durchzusetzen.

Wir haben einen verlässlichen Rahmen für diegeplanten Projekte im Bundesverkehrswegeplan ge-schaffen. Wir arbeiten mit Hochdruck an einem Pla-nungsbeschleunigungsgesetz. Zudem bemühen sich dieKoalitionsfraktionen – der Minister hat das angedeutet –um eine weitere Aktivierung privaten Anlagekapitals imVerkehrsbereich. Hier müssen wir die eine oder andereHürde beiseite räumen. Heute Nachmittag hat sich zudiesem Thema eine Expertenrunde getroffen und interes-sante Vorschläge gemacht.

Natürlich, Herr Kollege Mücke, erwarten auch wir,dass die Fünfjahrespläne zügig vorgelegt werden. AberGründlichkeit geht vor Schnelligkeit;

(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Meinen Sie nicht eher die Entwicklungzur Langsamkeit? – Horst Friedrich [Bay-reuth] [FDP]: Ich breche gleich in Tränen aus!)

auch das ist ein wichtiges Prinzip. Gerade in Zeitenknapper Kassen muss man sich genau überlegen, woman investiert. Deswegen ist es richtig, dass wir dieFünfjahrespläne sehr sorgfältig vorbereiten.

Trotzdem sollten wir aufhören, den Erfolg der Ver-kehrspolitik einzig und allein daran zu messen, wie vieleneue Spatenstiche gemacht werden. Das ist eine etwasverengte Perspektive.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das eigentlich Entscheidende ist, den Bestand an Stra-ßen, der von Jahr zu Jahr zunimmt, zu sichern und zu er-halten. Deswegen fließen noch in diesem Jahr1,7 Milliarden Euro aus dem Haushalt für das Jahr 2007in die Erhaltung des bestehenden Straßennetzes. Zu-sammen mit den Erhaltungsmaßnahmen im Rahmen vonErweiterungsarbeiten sind es 2 Milliarden Euro.

Wir müssen der Bevölkerung deutlich machen, wiewichtig es ist, den ständig zunehmenden Bestand zu er-halten, und klar sagen, dass das Mehraufwendungen zurFolge hat, was dazu führt, dass die Investitionen knapperausfallen. Ich denke, die Bevölkerung, die ein Interessedaran hat, dass die Straßen in gutem Zustand und ver-kehrssicher sind, versteht das.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Sollten sich in den nächsten Wochen unerwarteter-weise Haushaltsspielräume auftun, verspreche ich Ihnen,

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Dann sparen wir! Ja, ja!)

dass wir wie ein Mann hinter dem Bundesverkehrsminis-ter stehen

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(Ludwig Stiegler [SPD]: Eine Frau ist auch dabei!)

und fordern werden, dass die anstehenden Investitionenin den Verkehrshaushalt fließen.

Die Unionsfraktion wird die Bundesregierung bzw.den Verkehrsminister bei den Zukunftsvorhaben im Zu-sammenhang mit der Umsetzung des Koalitionsvertra-ges nachhaltig unterstützen. Dazu zählt die Sicherungdes Luftverkehrsstandortes Deutschland. Dazu gehörtauch, dass wir die Qualität und die Kapazität der deut-schen Flughafeninfrastruktur sichern und ausbauen so-wie die Vermarktung des Logistikstandortes Deutsch-land voranbringen. Und dazu gehört, dass wir diewirtschaftliche Basis für die Fuhrunternehmer in unse-rem Lande sichern. Man darf die Unternehmen nicht im-mer nur mit neuen Kosten belasten – wie es etwa bei derMaut der Fall war –, sondern man muss ihnen auch Ent-lastungen zukommen lassen, und zwar dann, wenn esmöglich ist, und dort, wo man sie ihnen zugesagt hat.Auch daran müssen wir mit Hochdruck arbeiten.

Es gilt, alle Verkehrsträger, also auch die Binnen-schifffahrt, zu stärken. Ich habe vorhin die Umweltde-batte verfolgt. Ich werde nie begreifen, warum ausge-rechnet die Grünen dagegen sind, die Möglichkeiten, dieBinnenschifffahrt zu nutzen, zu verbessern. Die Binnen-schifffahrt ist ein ökologisch höchst verträglicher Ver-kehrsträger, den wir mit halber Ladung über den Rhein-Main-Donau-Kanal fahren lassen,

(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Nur die Landschaft wird wegplaniert!)

weil überall versucht wird, den Donauausbau zu blockie-ren. Wie kann es ökologisch sein, den VerkehrsträgerBinnenschifffahrt zu behindern?

(Anna Lührmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Schon einmal etwas von Hochwassergehört?)

Ich glaube, die selbst ernannten Oberökologen sollten indieser Frage umdenken.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

Schließlich geht es darum, die Struktur des Verkehrs-trägers Schiene zu sichern. Dafür erwarten wir, wie esguter Brauch ist, die Unterstützung des ganzen Hauses.Wir wollen eine gemeinsame Linie suchen.

Wir nehmen die Stadtentwicklung, den Bau, Verkehr,Logistik als Zukunftsaufgaben fest in den Blick.

Bis zur endgültigen Verabschiedung des Haushaltesgibt es immer Änderungen im Detail. Aber ich glaube,man kann sagen: Die Richtung stimmt.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Aber nur im Kreiselkompass!)

Vielleicht können Sie sich als Opposition dazu durchrin-gen, diesen Haushalt entgegen den Ritualen auch einmalzu loben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Dorothée Menzner,

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dorothée Menzner (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Minister! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion Die Linke fragtsich, ob es sinnvoll ist, in althergebrachter Weise ganzeLafetten von Anträgen zur Änderung des Haushaltes ein-zubringen. CDU/CSU und SPD haben hier eine robusteMehrheit. Daher lassen wir doch das Spiel mit den sinn-losen Anträgen und konzentrieren wir uns hier und heuteauf das Wesentliche!

Zurzeit wird in München der Transrapid gepuscht.Mit viel Trara wird dort dem Transrapid die Bresche ge-schlagen. Die 100 Millionen Euro, die die Regierung imnächsten Jahr dafür einplant, würden wir besser sparen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Zweierlei am geplanten Transrapid ist nämlich grund-verkehrt: Erstens. Sollte er tatsächlich Wirklichkeit wer-den, muss der Steuerzahler auch zukünftig weitere Hun-derte Millionen Euro in ihn stecken. Zweitens. JedeBahn, die in einer Sackgasse endet, wird nur wenig Ver-kehr an sich ziehen.

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Ich glaube,Sie sind mit der Situation in München nichtvertraut!)

Wer nun einwendet, der Transrapid sei ein Touristen-magnet, möge – so ist unsere Überzeugung – den Trans-rapid aus Kulturmitteln bezahlen! Verkehrswirtschaftlichist für uns klar: Fluggäste mit viel Gepäck, Begleitende,Zuschauer oder Dienstpersonal ziehen es allemal vor,das Auto zu nutzen und nicht Fahrpreise zu zahlen, dieunter Umständen weit teurer sind als ihr Flugticket, erstrecht wenn sie mit ihrem ganzen Gepäck und Geraffelauch noch mühsam umsteigen müssen, weil es keinenAnschluss gibt. Flughafenbahnen kommen nur infrage,um einen Flughafen von mehreren Seiten ans Verkehrs-netz anzubinden.

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Welch eine Unkenntnis!)

Dieses Problem ist übrigens auch beim künftigen Flug-hafen Schönefeld BBI bislang nicht gelöst.

Kommen wir nun zu dem verkehrspolitischen Thema,das uns zurzeit am meisten beschäftigt, das am meistendiskutiert wird und auch von der Öffentlichkeit deutlichwahrgenommen wird: der Zukunft der Bahn. Die Men-schen, die Wirtschaft, alle brauchen vernünftige Lösun-gen. Doch was tun wir hier? Wir haben uns mit demPRIMON-Gutachten befasst, haben Anhörungen durch-geführt. In allen Fraktionen gibt es nach wie vor mannig-fache Bedenken. Drei möchte ich hier herausgreifen.Erstens: magere Erlöse, egal nach welchem Modell wirdie Bahn verkaufen. Zweitens: kaum Hinweise, wie wirdann die Ziele der Bahnreform erreichen wollen. Drit-tens die Erkenntnis, dass vage Planungsdaten der

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Dorothée Menzner

DB AG die Grundlage für den 500-seitigen Zahlensalatsind, der mehr Fragen aufwirft, als Antworten gibt, Fra-gen, die da lauten: geminderte Bilanzwerte, versteckteWerte, bleibende Schulden.

Auch dazu an dieser Stelle drei Zahlen: Seit 1994 in-vestierten die Steuerzahler über 70 Milliarden Euro indie Bahn. Trotzdem liegt die Bilanzsumme nur bei50 Milliarden Euro. Wieso? Beide Zahlen stehen in kras-sem Gegensatz zum aktuellen Wiederbeschaffungswert,der mit 200 Milliarden Euro zu veranschlagen ist. KeinKaufmann und keine Kauffrau würden so rechnen.

Wir meinen, dass nach diesem ganzen Zahlensalat dieNotbremse zu ziehen ist und dass wir endlich gemein-sam aufräumen, Transparenz schaffen und klären müs-sen, was eigentlich die Grundlage ist.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir wurschteln dagegen weiter, während die Bahn ver-hackstückt werden soll. Die Diskussion darüber geht inRichtung eines Integrations- oder eines Eigentumsmo-dells. Aber eigentlich werden die Entscheidungen schonganz woanders vorbereitet. Das nennt sich dann Len-kungsausschuss und läuft – man merke – ohne Beteili-gung der Opposition.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder, der den Haus-halt liest oder der tagtäglich auf die Straßen schaut,weiß, dass eines der größten Probleme der Güterver-kehr ist. Wenn wir schon zuschauen, wie die Produktionaus Deutschland abwandert, dann müssen wir auch denKonsequenzen ins Auge schauen. Ich meine Seeschiffemit 6 000, 8 000 und zukünftig 10 000 Containern, dietagtäglich in den Nordseehäfen anlegen. Soll das heißen,dass jeder weitere Container einen weiteren Laster aufdeutschen Straßen bedeutet? Wollen wir da nicht liebergemeinsam die Weichen in Richtung einer vernünftigenVerkehrspolitik und in Richtung einer vernünftigen Bahnstellen?

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Statt dieser Flickschusterei wäre das eine Aufgabe undwäre das ein gemeinsames Konzept wert.

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wollen wir die in Hamburg stehen lassen?)

Ich appelliere an Sie, hier gegenzusteuern und Nach-haltigkeit zu entwickeln. Behalten wir die Bahn im Bun-deseigentum, stellen wir ihren wirklichen Wert fest undfinden wir die milliardenschweren Logistikfirmen, diesofort zu Geld gemacht werden können, das wir dann inden Streckenausbau stecken können.

Herr Minister, liebe Kolleginnen und Kollegen, ge-statten Sie mir zum Schluss noch eine kurze Bemerkungzum Einzelplan 60. Auch hier hat die Regierung nichtkorrekt gearbeitet. Die Regierung wollte die Gelder fürBahn und Bus kürzen. Doch was finde ich jetzt in demEntwurf für den Haushalt 2007? Da steht immer nochder ungekürzte Betrag von 7,266 Milliarden Euro. Dazustelle ich fest: Wir beschließen hier gegen die Stimmen

der Linksfraktion eine Kürzung, aber die ungekürzteZahl findet sich im neuen Haushalt 2007. Für uns gehtdiese Schlamperei in Ordnung. Wir waren von Anfangan dagegen und freuen uns, dass auch Sie offensichtlicheingesehen haben, dass die Kürzung der Regionalisie-rungsmittel nicht nötig ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Winfried Hermann,

Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wie viele andere, habe auch ich der Bundes-kanzlerin gestern aufmerksam zugehört. Mir ist aufge-fallen, dass sie einen Satz gleich mehrfach gesagt hat. Erlautet: „Wir dürfen unsere Zukunft nicht verbrauchen.“

(Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Sehr guter Satz!)

Sie hat viel gesagt und nicht allem können wir zustim-men. Diesem Satz stimmen wir aber ausdrücklich zu.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU)

Es ist das Bekenntnis zu Nachhaltigkeit und zur nach-haltigen Entwicklung. Ich nehme diesen Anspruch ernst.Ich will dies einmal am Beispiel dieses Ministeriums kri-tisch durcharbeiten; denn ich glaube schon, dass derLeitspruch der Kanzlerin natürlich auch der Leitspruchdes Ministers in einem Ministerium sein muss, in dem esin der Tat um die Zukunft geht. Zweifellos ist das Minis-terium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung das Zu-kunftsministerium par excellence. Es stellt sich natürlichdie Frage, ob alles, was dort getan und entschieden wird,zukunftsfähig ist. Sind die Investitionen, von denen Siealle hier so stolz gesprochen haben, wirklich Zukunftsin-vestitionen?

Herr Minister, Sie haben viel von Arbeitsplätzen,Wirtschaftlichkeit und Verkehrspolitik gesprochen. Ausunserer Sicht haben Sie aber zu wenig davon gespro-chen, dass zur Nachhaltigkeit auch ökologische Aspekteund der Klimaschutz gehören. Das ist deutlich zu kurzgekommen. Trotzdem will ich ganz unumwunden sagen,dass es in Ihrem Etat einen Bereich gibt, den wir ausSicht der Grünen nur loben können. Das Gebäudesanie-rungsprogramm, das jetzt auf 1,4 Milliarden Euro auf-gestockt wurde, ist absolut positiv. Das ist zukunftsge-richtete Investitionspolitik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)

Ich kann mir allerdings eine spitze Bemerkung gegen-über den Genossinnen und Genossen nicht ersparen: Esfreut uns, dass es Ihnen gelungen ist, sich selbst zu mehrdurchzuringen. – Nicht alle verstehen das.

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wir haben das schon verstanden!)

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Winfried Hermann

Ich muss erläutern: Die Grünen haben jahrelang genaudiese Aufstockung gefordert; die Sozialdemokraten ha-ben immer gesagt, das gehe nicht. Jetzt haben Sie sichim Ringen mit sich selbst für eine Aufstockung entschie-den. Herzlichen Glückwunsch! Wir sind jetzt jedenfallsein Stück weiter.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Uwe Beckmeyer [SPD]: Wenn das mal keineGeschichtsklitterung war!)

Das Lob, das man zum Gebäudesanierungsprogrammäußern muss, kann man nicht auf den Bereich Verkehrs-politik übertragen. Herr Minister, Sie haben einige Pro-jekte, die es schon seit Jahren gibt und die unter Rot-Grün angeleiert wurden, fortgeführt. Es geht dabei umdie Frage, wie man den Bereich Verkehr nachhaltiger ge-staltet, etwa mit neuen Antriebssystemen und neuenTreibstoffen. Damit beschäftigen wir uns schon seit Jah-ren. Es fehlt aber wirklich ein großer strategischer Wurf,der erkennbar zeigt, wie wir im Bereich Mobilität, der zu90 Prozent vom Öl abhängig ist, entsprechend der Stra-tegie der Bundesregierung vom Öl wegkommen. Hiermuss es noch deutliche Nachbesserungen geben; hier istnoch viel zu tun. Sie haben in diesem Bereich kein zu-kunftsfähiges Programm.

Nächster Bereich: Infrastruktur. Alle haben angespro-chen, wie wichtig die Infrastruktur für die Zukunft derGesellschaft ist. Nehmen wir das zuletzt angesprocheneBeispiel: der Bereich Gütertransport. Ist es unter demGesichtspunkt, dass wir Schienenverkehr zur Anbindungan die Seehäfen brauchen, weil der Verkehr dort massivwächst, nicht dringend notwendig, in diesen Bereich zuinvestieren? Ich weise auf die Verbindung durch dasRheintal in die Schweiz hin. Ist es nicht einsichtig, dasswir genau dort schwerpunktmäßig investieren müssen?Das geschieht leider nicht. Man setzt weiter auf Projektewie die Strecke Nürnberg–Erfurt, die genau das nichtleisten, aber das Geld abziehen, das wir dringend füreine nachhaltige Logistikpolitik brauchen.

Herr Kollege Fischer, Sie verstehen nicht, warum dieGrünen gegen den Flussausbau sind. Wir sind dagegen,weil wir keine eindimensionalen Ökologen sind. Bei derÖkologie geht es nämlich nicht nur um Emissionen undEnergieverbrauch. Vielmehr gehören auch Natur- undGewässerschutz sowie Gewässerökologie dazu. Sie kön-nen nicht an der Donau und an Teilen der Elbe einen na-tur- und landschaftsverträglichen Flussausbau, der einenvernünftigen Schiffverkehr zulässt und sich auch nochökonomisch rechnet, betreiben. Die entsprechendenTransporte kann man – das ist unsere Überzeugung – mitder Bahn bei weitem preiswerter und ökologischer be-werkstelligen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das ist ob-jektiv falsch!)

Sie setzen im Bereich Infrastruktur unserer Meinungnach immer noch zu sehr auf neue, große Projekte.

Wenn Sie, Herr Friedrich, sagen, man müsse auch anden Erhalt denken, sagen wir: Richtig. Es freut uns,dass Sie hier umdenken. Spitz nachgetragen: Wenn ich

an die vollmundigen Forderungen der CDU/CSU in Op-positionszeiten denke – Sie wollten viel mehr Straßen-und Schienenbau betreiben – und dann die bescheidenenInvestitionsansätze sehe, die alle hinter dem, was es un-ter Rot-Grün gab, zurückbleiben, erkenne ich: Sie habenendlich dazugelernt. Sie wissen nun, dass man nicht nureins draufsetzen muss, sondern auch gestalten muss. Ausunserer Sicht steht aber zu wenig Geld für die Sanierungbereit. Auch das ist eine Investition in die Zukunft. Wirmüssen mehr für den Erhalt unserer umfangreichen In-frastruktur tun und nicht immer noch eins draufsetzen,weil die Sanierung später vielleicht nicht mehr finanziertwerden kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich komme zum letzten Punkt, zu einer großen, wich-tigen Zukunftsentscheidung: die Privatisierung derDeutschen Bahn. Wir sind uns mit der FDP und mit derLinkspartei völlig einig: Es kann keinen Börsengangohne eine vollständige, lückenlose Aufklärung der Af-färe um Immobiliengeschäfte der Deutschen Bahn – esgab Fehlzuweisungen – geben. Alles, was damit zusam-menhängt, muss hieb- und stichfest aufgeklärt werden.Sonst kann es keinen Börsengang geben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN)

Wir haben jetzt die ersten Antworten – mehr als bis-her –, aber es ist noch längst nicht alles aufgeklärt. VieleFragen sind noch auf dem Tisch. Solange sie auf demTisch sind und keine Antworten folgen, sind wir derMeinung, dass die Einsetzung eines Untersuchungsaus-schusses nötig ist. Das ist völlig klar. Im Moment liegenuns einige Antworten vor, aber das ist zu wenig, umwirklich einschätzen zu können, was da passiert ist. Manmuss den Eindruck haben, dass über Jahre hinweg dasRecht verletzt wurde und dass es noch keine Korrekturengab. Es ist auch noch nicht erkennbar, welche Korrektu-ren Sie vornehmen wollen und wie Sie die ökonomi-schen Nachteile für den Bund ausgleichen wollen.

Da Sie nun in der Koalition heftig über die Art undWeise der Privatisierung streiten, möchte ich Ihnen einpaar Zukunftsfragen mitgeben, die in der Debatte bisherüberhaupt nicht berücksichtigt werden.

Bei all Ihren Modellen, die Sie durchspielen, stelltsich die Frage, durch welche Entscheidungen die Zu-kunft verbaut wird. Wenn man ein beträchtliches Volks-vermögen wie das Schienennetz zu Niedrigstpreisen ab-gibt, weil es an der Börse nichts wert ist, dann ist dasErbe verschleudert und die Zukunft verbaut. Wenn manbeispielsweise langfristige Verträge macht, über die Siebei den verschiedenen Modellen diskutieren – es ist im-mer von einem langfristigen Nießbrauchrecht über30 Jahre die Rede –, dann bedeutet das den Ausschlusszukünftiger Politikgenerationen von der politischen Ent-scheidung, wie der Schienenverkehr in Deutschland ge-staltet wird.

Ein langfristiger Vertrag mit einer Laufzeit von30 Jahren behindert die Politik und den Wettbewerb undschadet letztendlich dem Schienenverkehr, weil sich aufder Schiene kein Wettbewerb und kein Wachstum entwi-

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Winfried Hermann

ckeln können. Das alles sind nur Schutzkonzepte zumErhalt der Deutschen Bahn AG.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)

Eine vernünftige ökologische und nachhaltige Zu-kunftsinvestitionspolitik, Infrastrukturpolitik und Ver-kehrspolitik müssen sich aber über Einzelinteressen hin-wegsetzen und den Schienenverkehr im Geiste einernachhaltigen Mobilitätspolitik und des Klimaschutzesbetreiben. Das wäre zukunftsfähig. Insofern müssen Siein der Debatte noch einiges nachlegen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Uwe Beckmeyer, SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Uwe Beckmeyer (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Ich denke, dass wir mit dem Haushalt desEinzelplans 12 einen wesentlichen Schlüssel für die öko-nomische Entwicklung dieses Landes in der Hand ha-ben. Dieser Haushalt ist in seiner Wirkung sicherlich ei-ner der einflussreichsten Faktoren für die Stärkung desWirtschaftsstandortes Deutschland. Insofern ist er insbe-sondere im Hinblick auf die Entfaltung dieser Wirkungzu betrachten.

Was heißt das? Die Infrastruktur ist im Grunde ge-nommen das Rückgrat unserer Ökonomie bzw. unseresgesamten Wirtschaftssystems. Mit den Investitionen indieses Wirtschaftssystem und in die Verkehrsinfrastruk-tur unseres Landes geben wir meines Erachtens starke– wenn nicht sogar die stärksten – Impulse für die Ver-besserung unserer Wirtschaftskraft und damit auch fürdie Schaffung neuer Arbeitsplätze. Das erreichen wirnicht nur durch die Investitionen selbst, sondern auchdurch die Wirkungen, die diese Investitionen in Deutsch-land entfalten.

Unser gemeinsames politisches Ziel ist es doch wohl,alle Kräfte zu stärken, die diese positiven wirtschaftli-chen Effekte entfalten. Wenn wir Verkehrsinfrastrukturausbauen, instand halten und optimieren, sorgen wir da-für, dass dieser wirtschaftliche Aufschwung nachhaltigwird. Wir ermöglichen, stabilisieren und verstärken ihn.Das ist umso wichtiger, als der Haushalt mit einem Aus-gabeplafond von 24 Milliarden Euro ausgestattet ist. Dasentspricht einer Steigerung um 307 Millionen Euro inabsoluten Zahlen bzw. einem Plus von 1,3 Prozent. Auchdas sollte an dieser Stelle erwähnt werden.

Der Einzelplan 12 ist mit Abstand der größte Investi-tionshaushalt des Bundes. Rund 53,2 Prozent der inves-tiven Ausgaben des Bundes sind Investitionen in denVerkehrs- und Baubereich. Die Investitionen in diesemEinzelplan betragen rund 12,5 Milliarden Euro.

Zu den Ausgabeschwerpunkten ist festzustellen – dasist nach der Diskussion in den zurückliegenden Jahrensicherlich erfreulich –, dass wir in den BereichenSchiene, Wasserstraße, Fernstraße und bei den Mittelnim Rahmen des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgeset-zes gute Werte zu verzeichnen haben. Das wird in derÖffentlichkeit gelegentlich anders gesehen. Mein Freundund Kollege Fischer hat sich gestern in einer Pressemit-teilung von Pro Mobilität entsprechend geäußert. Er hataber nur bedingt Recht; denn wir müssen berücksichti-gen, von welchen Ausgangs- und Plandaten sich derHaushalt in den letzten Jahren entwickelt hat. Ich kannmich noch gut daran erinnern, dass der Planungszeit-raum in den Diskussionen in diesem Hause Unzufrieden-heit hervorgerufen hat. Ich glaube, der Koalition ist esnun gelungen, die Quelle der Unzufriedenheit bei denInvestitionen in die Verkehrsinfrastruktur zu beseitigen.Die Investitionsansätze betreffend die Verkehrsinfra-struktur nehmen in den kommenden Jahren deutlich zu.Das ist ein sichtbarer Erfolg. Sie können das alles nach-lesen.

(Beifall bei der SPD – Horst Friedrich [Bay-reuth] [FDP]: Das wird durch dauernde Wie-derholungen nicht besser!)

Mit dem wirtschaftlichen Wachstum nimmt bislangder Transportbedarf zu. Dieser Umstand darf nachmeiner Meinung verkehrspolitisch nicht einfach hinge-nommen werden. Meine feste Überzeugung ist, dassdiese Wachstumsprozesse mittelfristig entkoppelt wer-den müssen; denn eine innovative Verkehrspolitik ver-langt – genauso wie die europäische Verkehrspolitik –nach einer vernünftigen Antwort. Eine innovative undnachhaltige Verkehrspolitik sichert einerseits einen ho-hen Grad an Mobilität und sorgt andererseits dafür, dassdie Belastungen für Menschen und Umwelt möglichstgering sind.

(Beifall bei der SPD)

Wir Sozialdemokraten setzen gemeinsam mit unse-rem Koalitionspartner auf eine vorausschauende, inte-grierte Verkehrspolitik des Bundes, basierend auf einervernünftigen Kombination unterschiedlicher Verkehrs-träger. Was wir brauchen, ist ein ökonomisch effizientes,sozial angemessenes und ökologisch verträgliches Mobi-litätsangebot. Das ist im Koalitionsvertrag ausdrücklichunterstrichen und damit die Richtschnur für den Ver-kehrshaushalt – insbesondere für die Ausgaben –, überden wir heute in erster Lesung beraten.

Es gibt aber auch den grundgesetzlichen Allgemein-wohlauftrag der Bahn. Diesen Infrastrukturauftrag, derauch volkswirtschaftliche Implikationen hat, nehmenwir sehr ernst. Eine integrierte Verkehrspolitik basiertauf einem intakten, zukunftsfähigen Wasserstraßensys-tem, einem adäquaten Fernstraßensystem sowie einemam Allgemeinwohl und insbesondere an den Verkehrs-bedürfnissen orientierten Schienensystem der Eisenbah-nen. Diese Netze wollen wir gut unterhalten, wo nötig,ausbauen und dem Bedarf entsprechend unserer zentra-len Lage in Mitteleuropa anpassen.

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Uwe Beckmeyer

Das Bruttoanlagevermögen unserer Bundesfern-straßen inklusive der Brücken hat nach der Statistik desVerkehrsministeriums – Stand 2004 – einen Wert vonmindestens 478 Milliarden Euro. Der Wert des Schie-nennetzes beträgt laut dieser Statistik 130 MilliardenEuro und der unserer Wasserstraßen rund 40 MilliardenEuro. Würde man eine reine Ertragswertberechnungder Wertermittlung zugrunde legen, hätte das Autobahn-netz vor der Einführung der LKW-Maut den Wert nullgehabt und wäre selbst nach der Einführung der Mautnur gut 3 Milliarden Euro wert. Sie werden sich sicher-lich fragen, ob es sein kann, dass der Bruttoanlagewert478 Milliarden Euro und der Ertragswert nur 3 Milliar-den Euro beträgt. Sicher, das kann sein. Es kommt im-mer darauf an, wen Sie fragen: den Bauunternehmer, derein Bauwerk erstellen soll, oder den Kapitalverwerter,der private Kapitalgeber interessieren will. Ich will hiergerne – wir kennen das aus dem Ausschuss – die rhetori-sche Frage nach dem Wert des Kölner Doms oder derDresdner Frauenkirche wiederholen. Nach der Ertrags-wertmethode wären sie jeweils nur ihre Klingelbeutel-kollekte wert.

Ich sprach vorhin von der großen Bedeutung der Ver-kehrsinfrastruktur für den wirtschaftlichen Aufschwungin Deutschland. Sie ist natürlich in erster Linie in ihrervolkswirtschaftlichen Bedeutung für unser Land zu su-chen. So wird es auch in Zukunft bleiben. Deshalb wirdaus Sicht des Bundes eine pure Fixierung auf den Er-tragswert der Bewertung unserer Infrastrukturnetze nichtgerecht. Ich sage dies gerade mit Blick auf eine mögli-che Kapitalprivatisierung der Deutschen Bahn AG.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Wir wollen auch in Zukunft den freien Verkehrsmarktim Rahmen des EU-Binnenmarktes fördern. Wettbewerbinnerhalb und zwischen den Verkehrsträgern bleibt unsergemeinsames Ziel. Kabotage gab es überall. Regulierunggab es auf allen Feldern der Transportlogistik; ichglaube, wir haben sie nach und nach auf allen Feldernabgeschafft. Das Spannungsverhältnis zwischen Regu-lierung und Wettbewerb auszutarieren, ist eine Heraus-forderung, die der modernen Verkehrspolitik künftigteilweise noch bevorsteht.

Ich will noch etwas zu den Risiken, aber auch zu denChancen sagen. Ich meine hierbei Risiken nicht imSinne von Haushaltsrisiken. Verkehrspolitik hat natür-lich darüber hinaus vieles zu berücksichtigen – die unsi-chere weltpolitische Lage, drastisch steigende Ölprei-se –, was uns immer wieder bedroht, ob internationaloder europäisch. Insofern ist es wichtig – gerade wennman an die Rohstoffpreise denkt –, dass man innovativeForschungsprojekte für alternative Antriebsformen undAntriebsstoffe weiter unterstützt und fördert. Ich denke,das versteht sich von selbst.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Zu den Chancen. Der Minister hat vorhin mit Rechtauf den Masterplan „Güterverkehr und Logistik“hingewiesen. Es ist eine riesengroße Chance fürDeutschland, dieses Feld national so zu besetzen, dass

hier alle – die gesamte Branche, aber auch die nationaleVolkswirtschaft – etwas davon haben. Ich glaube, wirhaben eine gute Ausgangslage, um uns in dieser Fragewirklich nach vorne zu arbeiten und unsere Potenziale sozu bündeln und auszutarieren, dass wir daraus den best-möglichen Effekt erzielen.

Zum Thema Forschung und Innovation gibt es vieleszu sagen. Ich will nur einen ganz kleinen Teil anspre-chen, und zwar die Erforschung von umweltfreundliche-ren Motoren für die Binnenschifffahrt. Wir Sozialdemo-kraten sind entschlossen, es nicht nur bei der Forschungzu belassen, sondern auch zur Implementierung solcherMotoren zu kommen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der letzte Punkt, auf den ich eingehen möchte – ichmöchte meinen nachfolgenden Kollegen nicht die Zeitstehlen –, bezieht sich auf die Akzeptanz der Verkehrs-politik. Wir haben im letzten Haushalt – ich denke, wirsollten das fortsetzen – zusätzliche Mittel für die Lärm-bekämpfung eingestellt. Wir haben hierfür richtig Geldin die Hand genommen und haben die Ansätze verdop-pelt. Ich glaube, das ist der richtige Weg.

(Beifall bei der SPD)

Wir müssen den Lärm an der Quelle und auch den Lärman den Bundesverkehrswegen bekämpfen. Ansonstenbekommen wir in Deutschland für Verkehrswege keineAkzeptanz des Bürgers – und wir brauchen diese Akzep-tanz. Ich glaube, es ist wichtig, an dieser Frage zu arbei-ten und etwas Zusätzliches zu tun. Wir sollten vielleichtauch noch einmal über die Rahmenbedingungen – wiewird Lärm eigentlich empfunden, wie wird er bewertet,wie wird er gemessen? – nachdenken. Es kann nichtsein, dass die Leute sagen: „Ich höre das“, aber dannwird am Ende der Lärm nicht nach dem Gehör oder nachder gemessenen Lautstärke bewertet, sondern er wird be-rechnet. Auch das zeigt, wie schwierig es sein kann, Ak-zeptanz herzustellen.

Ich habe noch 26 Sekunden, in denen ich etwas zumInfrastrukturbeschleunigungsgesetz sagen will. Wir wol-len ganz entschieden dieses Thema so behandelt wissen,dass dieses Gesetz zum 1. Januar 2007 seine volle Wir-kung entfaltet.

(Beifall bei der SPD)

Ich glaube, das ist ein sehr wichtiger Punkt. Damit willich schließen.

Herzlichen Dank, meine sehr geehrten Damen undHerren. – Herr Präsident, ich habe zwei Minuten meinerKollegin überlassen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich wollte mich schon wundern, dass Sie uns zwei

Minuten schenken, aber Sie haben sie gleich weiter ver-teilt.

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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

Ich erteile das Wort dem Kollegen Joachim Günther,FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Joachim Günther (Plauen) (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

diskutieren heute den Haushaltsplan 2007. Ich möchtemich vorrangig mit dem Bereich Wohnungswesen undStädtebau auseinander setzen. Hier enthält der Haus-haltsplan – das sage ich klar vorweg – einen positivenAnsatz. Die im Vergleich zum Vorjahr um 260 MillionenEuro erhöhten Investitionen – so muss man das jasehen – lassen zumindest die Überzeugung aufkommen,dass die Bundesregierung das Vorhaben ernst nimmt,den politischen Stellenwert des Bauwesens wieder an-steigen zu lassen.

Sie als Koalitionsparteien hatten der Bauwirtschaftdas Versprechen gegeben, dass Sie die Rahmenbedin-gungen so gestalten würden, dass die Bauwirtschaft wie-der schwarze Zahlen schreiben kann und dass man es aufdem Arbeitsmarkt merkt. Herr Minister, Ihre Rede warabsolut positiv; sie hatte noch etwas von der Euphorieder Weltmeisterschaft.

Das ist ja nicht schlecht, aber als Opposition müssenwir auf den einen oder anderen Punkt hinweisen, mitdem man vorsichtig umgehen sollte. So hat zum Beispielder Kollege Friedrich gesagt, die Zahl der Bauauftrags-eingänge sei im Vergleich zum Vorjahr höher gewesen.Das stimmt, und zwar um 0,2 Prozent. Aber zu dieserWahrheit gehört noch etwas anderes. Im gleichen Zeit-raum sank im Vergleich zum Vorjahr die Zahl der Be-schäftigten im Bauhauptgewerbe um 28 000.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ja, ja!)

Das bedeutet, dass diese 28 000 Beschäftigten im Bau-hauptgewerbe arbeitslos geworden sind. Ich hoffe, dasses nur eine Episode in der Sommerpause war, als Siesagten, man könne diese Arbeitslosen als Hilfssheriffseinstellen. Ich gehe davon aus, dass es mittelfristig gelin-gen wird, diese wieder in Arbeit zu bringen. Diese Zah-len machen deutlich, dass die grundlegenden Rahmenbe-dingungen noch nicht geändert worden sind.

(Beifall bei der FDP)

Stattdessen steht uns die Mehrwertsteuererhöhung um3 Prozentpunkte bevor. Herr Minister, Sie selbst habenschon angekündigt, dass eine konjunkturelle Delle zu er-warten ist. Hoffen wir, dass es wirklich nur eine Dellewird und kein Rückgang der Konjunktur.

In diesem Zusammenhang sind viele Maßnahmen zuerwähnen, die die Bauwirtschaft schon in der Vergan-genheit beeinträchtigt haben. Die muss man nennen,wenn man über neue Steuererhöhungen spricht. Ichdenke an die Abschaffung der Eigenheimzulage, dieohne Kompensation – darum geht es mir – erfolgt ist.Wir haben vorgeschlagen, das Wohneigentum in die ge-förderte Altersvorsorge einzubeziehen. Da gibt es An-sätze, aber nach wie vor kein Ergebnis. Es gibt einenumstrittenen Referentenentwurf. Wann kommt die Vor-lage, die zugesagt wurde?

Ich erinnere an den Wegfall der degressiven AfA imMietwohnungsbau und an die Verschlechterung bei denAbschreibungen für sanierungsbedürftige und denkmal-geschützte Gebäude durch das Haushaltsbegleitgesetz2004. All das hat die Bauwirtschaft in den vergangenenJahren belastet. Auch wir haben diesen Maßnahmen zumgrößten Teil zugestimmt, aber nur deshalb, weil wir imGegenzug eine umfassende Steuerreform gefordert ha-ben, die im Ergebnis die Senkung der Steuer- und Abga-benlast für den Bürger bewirkt. Dann kann man so etwasaufheben. Hier aber wurde nur abgeschöpft und das istnicht in unserem Sinne.

(Beifall bei der FDP)

Es gibt ein weiteres Thema, das Herr Steinbrück imSommer in die Diskussion geworfen hat. Ich meine dieAbschaffung der Wohnungsbauprämie. Ich hoffe, dassdas genauso wie die Forderung nach dem Verzicht aufUrlaub gemeint war, dass er es also nicht ernst genom-men hat. Wir als FDP werden in der jetzigen Situationauf keinen Fall der Abschaffung der Wohnungsbauprä-mie zustimmen; denn wir können nicht die Haushaltssa-nierung auf dem Rücken der Bürger betreiben, die priva-tes Wohneigentum erwerben wollen.

(Beifall bei der FDP)

Dass sich die Bundesregierung verstärkt dem Thema„zukunftsorientierte Stadtentwicklung“ zuwenden will,finde ich sehr positiv. Sie haben das als zentrales Themader deutschen EU-Präsidentschaft angekündigt. Das Zieleiner nachhaltigen Stadtentwicklung muss weiter ver-folgt werden. Das war das Ziel von vielen Akteuren, dieauf diesem Gebiet tätig waren. Ich hoffe, dass die Akti-vitäten sich nicht auf die Umbenennung des Ministe-riums beschränken, das jetzt auch das Wort „Stadtent-wicklung“ in seiner Bezeichnung trägt, sondern dasswirkliche Schritte erfolgen. Die Stärkung der Innen-städte ist ein wichtiges Kernthema. Hier bedarf es einesUmsteuerungsprozesses und noch vieler Anstrengungen.Die Erhöhung der Fördermittel für diesen Prozess inOst- und Westdeutschland begrüßen wir. Wir müssenaber auch darauf achten, dass sie zielgerichtet und effek-tiv eingesetzt werden. So werden zum jetzigen Zeitpunktüber 60 Prozent der Mittel für den Rückbau – sprich:Abriss – eingesetzt. Ich sage bewusst: Sie müssen dafürzum jetzigen Zeitpunkt eingesetzt werden. Wenn maneine positive Entwicklung auf diesem Feld einleiten will,dann muss man langsam umsteuern und von dem Abriss-programm zu einem Umbauprogramm, an dem alle Im-mobilienbesitzer beteiligt sind, kommen. Auch das ist inden Städten von großer Bedeutung.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. PeterHettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Zu-ruf des Abg. Rainer Fornahl [SPD])

– Wollen Sie mir sagen, dass dieser Herr uns gefragt hat,als er das umgebogen hat? Es geht doch darum, dass wirauch die privaten Immobilienbesitzer einbeziehen wol-len. Ich glaube, dass wir in dieser Beziehung im Aus-schuss des Bundestages weiter sind als die Kollegen inmanchen Ländern.

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Joachim Günther (Plauen)

Die Städte müssen für Menschen jedes Alters attrak-tiv gestaltet werden. Das erfordert eine Umgestaltungsowohl der sozialen Struktur als auch der Verkehrsinfra-struktur in den Städten.

Die älteren Menschen müssen integriert werden. Einstetiges Anliegen von uns, der FDP, im Zusammenhangmit dem Thema Stadtumbau war es, die Interessen der– das möchte ich bewusst betonen – privaten Hauseigen-tümer in dieses Programm zu integrieren. Herr Tiefensee,ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie dies auch per-sönlich auf dem Zentralverbandstag von Haus & Grundzugesagt haben. Wir warten jetzt darauf, wie sich das inVerordnungen und Erlassen niederschlägt.

Erfreulich ist auch die erhöhte Zuweisung für denDenkmalschutz Ost. Wir alle wissen: 90 MillionenEuro reichen auch hier nicht aus. Aber sie sind ein Si-gnal dafür, dass der Denkmalschutz im politischenBlickfeld bleibt. Die Innenstädte haben dadurch zweiChancen: zum einen, ihre Attraktivität zu erhöhen, undzum anderen, sichere Arbeitsplätze in Handwerksbetrie-ben zu schaffen. Das ist wichtig. Das muss verfestigtwerden. Aber vergessen Sie bitte nicht: Auch hier habenwir erst vor kurzem abgebaut, ehe wir jetzt wieder etwasaufbauen. Man sollte also immer erst die Ausgangsbasisbetrachten. Das ist das Entscheidende.

(Beifall bei der FDP)

Mit dem Haushaltsbegleitgesetz 2004 wurden die Ab-schreibungsmöglichkeiten verschlechtert. Jetzt hat manschon wieder ein wenig den Eindruck, dass über demGanzen ein Damoklesschwert schwebt. Ich verweise nurauf § 15 b des Einkommensteuergesetzes: Soll er wirk-lich auch den Bereich des Denkmalschutzes erfassen?Darüber sollten wir noch einmal ausführlich diskutieren.

In diesem Zusammenhang muss auch die geplante Än-derung von § 23 Einkommensteuergesetz – die Besteue-rung privater Veräußerungsgeschäfte – genannt werden.Sowohl die allgemeine Besteuerung als auch die ge-plante Bemessungsgrundlage können in diesem Zusam-menhang aus unserer Sicht einfach nicht akzeptiert wer-den. Weil aufgrund der Abschreibungsmöglichkeiten fürdenkmalgeschützte Gebäude nach zwölf Jahren nur nochein minimaler Buchwert besteht, würde die Differenzzwischen Veräußerungspreis und Buchwert zu einer sehrhohen Steuerbelastung führen. Glauben Sie im Ernst,dass in diesem Bereich dann noch große Investitionenstattfinden?

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist dasHexeneinmaleins der großen Koalition für denHaushalt!)

Lassen Sie uns über den Bereich „denkmalgeschützteWohnungsgebäude“ bitte noch einmal im Ausschuss dis-kutieren! Es ist ein wichtiger Punkt. Zu den bereits vor-handenen finanziellen Engpässen in diesem Bereichwürden weitere hinzukommen. Das wäre eine weitereschwere Belastung. Dem würden zumindest wir sehr kri-tisch gegenüberstehen.

(Beifall bei der FDP)

Zur Energieeinsparverordnung und zu den Energie-pässen könnte noch einiges gesagt werden. KollegeFriedrich von der CSU, Ihr Wort in Gottes Ohr. Ichhoffe, dass es eine Einigung zwischen den Ministern ge-geben hat. Ich glaube es nicht. Es liegt noch nichts vor.Wir werden auf jeden Fall aufpassen, dass eine Pflicht zuBedarfsausweisen keine Kostenlawine in der Immobi-lienwirtschaft auslöst. Wir wissen, was alles auf die Im-mobilienwirtschaft zukommen kann. Dem wollen wirentgegensteuern, und das mit allen Möglichkeiten, diewir hier zur Verfügung haben.

Leider ist meine Redezeit schon abgelaufen; Sie ken-nen das. Somit kann ich nur noch sagen: Ich freue michauf die konstruktiven Gespräche im Ausschuss.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Nun hat Kollege Dirk Fischer, CDU/CSU-Fraktion,

das Wort.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Die Mobilität der Gesellschaft ist eine wichtige Voraus-setzung für Fortschritt, Wohlstand, Wachstum und Be-schäftigung. Allein die Mobilitätswirtschaft hat 7 Millio-nen Arbeitsplätze. Die Logistikbranche boomt und eswerden weitere Arbeitsplätze entstehen. Die Automobil-industrie und ihre Zulieferer sichern fast jeden siebtenArbeitsplatz in unserem Land.

Grundlage dieser Entwicklung ist unsere gute Infra-struktur, die wir erhalten und stärken müssen. Dafür istnotwendig, solide finanzielle Rahmenbedingungen zuschaffen. Natürlich sind Zielsetzungen in der Sache ge-geben, die sich aus dem ergeben, was wir uns unter einersoliden und das Stabilitätskriterium einhaltenden Fi-nanzpolitik vorstellen. Wir kennen unsere Pflichten, diein einer soliden Haushaltsführung begründet sind.

Dem trägt die große Koalition Rechnung und sie wirddeshalb bis 2009 – im Vergleich zur letzten mittelfristi-gen Finanzplanung der rot-grünen Bundesregierung –zusätzlich 4,3 Milliarden Euro für Infrastrukturmaßnah-men bereitstellen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Der Bau der Verkehrswege sichert Beschäftigung in derBauwirtschaft, sodass zusätzlich große Beschäftigungs-impulse gegeben sind.

Im Einzelnen stellen wir 2007 Investitionsmittel zurVerfügung von 4,5 Milliarden Euro für den Straßenbau,3,5 Milliarden Euro für die Schiene – zusätzlich zu denTrassenerlösen, der Schienenmaut, von fast 4 MilliardenEuro – und 740 Millionen Euro für die Wasserstraßen.Insgesamt stehen 2007 aus dem Bundeshaushalt alsorund 8,8 Milliarden Euro für Verkehrsinvestitionen zurVerfügung.

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Dirk Fischer (Hamburg)

Auch in den Folgejahren 2008 bis 2010 wird diesesNiveau für die Investitionen bereitgestellt. Zudem müs-sen natürlich die Mittel für weitere Verkehrsprojekte wieTransrapid, Galileo und Flughafen BBI sowie die Mitteldes Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes gesehenwerden. Wenn man sie hinzuzählt, steht in den Jahren2007 bis 2010 ein stetiges Volumen von rund 10,7 Mil-liarden Euro pro Jahr bereit. Wir haben vereinbart, dieseMittel flexibel, ohne ideologische Scheuklappen dendrei Verkehrsträgern – Straße, Schiene und Wasserstra-ßen – zugute kommen zu lassen.

Mit dieser konstanten Investitionslinie wird Kontinui-tät für die Planung und die Baudisposition geschaffen.

(Jan Mücke [FDP]: Das ist ja nicht konstant!)

Die Aufteilung der Mittel erfolgt nach der Priorität,kurzfristig große Beschäftigungsimpulse zu geben. Indiesem Jahr konnte dies aufgrund der Anzahl vielerkleinteiliger Projekte am schnellsten im Straßenbau er-reicht werden. Deswegen wurden die zusätzlichen Mittel2006 überdurchschnittlich stark auf diesen Bereich kon-zentriert. Ab dem Jahr 2007 und den Folgejahren liegtder Investitionsschwerpunkt stärker beim Schienennetzund den Wasserstraßen. Die Gesamtinvestitionen im Be-reich der Wasserstraßen steigen 2008 auf 800 MillionenEuro und erreichen im Jahr 2009 über 850 MillionenEuro. Damit sind auch die dringenden Ersatzinvestitio-nen zur Erhaltung des vorhandenen Wasserstraßennetzesabgesichert.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Gleichzeitig können begonnene Ausbaumaßnahmenfortgeführt werden.

Ich sage es deutlich: Auch im Bereich der Schienekommt der Bund seiner Infrastrukturverantwortungnach. Der Bundestag soll im Herbst dieses Jahres ent-scheiden, ob die Kapitalprivatisierung der DeutschenBahn Aktiengesellschaft mit oder ohne Netz vorgenom-men wird.

(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Oder gar nicht!)

Verschiedene Varianten wurden in einem Gutachten vonBooz Allen Hamilton untersucht und im Fachausschussin diversen Anhörverfahren eingehend diskutiert undhinterfragt.

Während der Vorstand der DB AG eine Kapitalpriva-tisierung mit Netz favorisiert, hat sich meine Fraktionfür das so genannte Eigentumsmodell als Kompromiss-modell positioniert und wird in Gesprächen mit demKoalitionspartner versuchen, zu einer vernünftigen Lö-sung zu kommen. Bei diesem Modell bleibt das steuerfi-nanzierte Netz im Eigentum des Bundes und kann dannder Bahn auf vertraglicher Basis zur Nutzung überlassenwerden.

In diesem Zusammenhang müssen wir uns darüberklar werden, welche Vor- und Nachteile für den Bundes-haushalt mit dieser Entscheidung verbunden sind. DerBruttowiederbeschaffungswert des Netzes beläuft sichauf rund 220 Milliarden Euro, das Nettoanlagevermögen

auf circa 130 Milliarden Euro. Laut Gutachten würdeeine Privatisierung von 49,9 Prozent einen Erlös erbrin-gen, der lediglich zwischen 5 und 8,7 Milliarden Euroliegt und nach der Mehrjahresplanung der DB AG imUnternehmen bleiben soll.

Darüber hinaus basiert die Mehrjahresplanung derDB AG darauf, dass der Bund wie bisher für seinen An-teil vollständig auf Dividendenausschüttung verzichtet.Das heißt, die DB AG hat für sich entschieden, dass derBundeshaushalt überhaupt nichts bekommt.

Würde man diese Parameter verändern, würde diePlanung der DB AG für den Weg zur Kapitalprivatisie-rung entscheidend verändert werden müssen. Dies kannnach meiner Einschätzung auch nicht ohne Wirkung aufden gedachten Zeitablauf bleiben.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg.Dorothée Menzner [DIE LINKE])

Würde man eine materielle Privatisierung mit Netzvornehmen, würden die einmaligen Privatisierungser-löse in einem krassen Missverhältnis zu dem Nettoanla-gevermögen des Netzes stehen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich muss Ihnen, für mich ganz individuell gesprochen,sagen: Ich habe als Parlamentarier schlicht und ergrei-fend keine Lust, mir die Verscherbelung eines so gewal-tigen Staatsvermögens unserer Steuerzahler vorwerfenzu lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-geordneten der LINKEN – Renate Blank[CDU/CSU]: Das wäre eine Verschleude-rung!)

Außerdem soll der Bund sich gegenüber der DB AGja verpflichten, in den nächsten zehn Jahren 25 Milliar-den Euro für das Bestandsnetz zur Verfügung zu stellen.Darüber hinaus sind in diesem Zeitraum weitere15 Milliarden Euro für Neu- und Ausbau fällig. Diesehohen Summen, die der Bund gegenwärtig und auch zu-künftig für die Schiene bereitstellen muss, um seiner In-frastrukturverantwortung gerecht zu werden, zeigen esdeutlich: Der Bund würde bei einem Börsengang derBahn mit Netz nicht nur die Hälfte seines Eigentums ander Eisenbahninfrastruktur unwiderruflich aus der Handgeben; letztlich würde der Bund das Netz an private In-vestoren faktisch verschenken, ohne dabei den Bundes-haushalt zu entlasten.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was bliebe, verehrte Kolleginnen und Kollegen, vondem Verkaufserlös, wenn wir viel höhere Milliardenbe-träge wieder zurück in das Unternehmen pumpen müss-ten? Zudem bekämen private Miteigentümer dieser fastvollständig aus Steuermitteln finanzierten Infrastruktureinen Einfluss auf die Infrastrukturentwicklung, der zu

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Dirk Fischer (Hamburg)

ihrem relativ geringen finanziellen Engagement in kei-nem Verhältnis stünde.

Gleichzeitig würden wir eine Grundlage für außeror-dentlich hohe Haushaltsrisiken schaffen. Was passiert,wenn der Bund das Netz wieder zurückkaufen muss,weil es, wie in England geschehen, verrottet ist? Wiehoch sind dann die Belastungen für den Bundeshaushalt?Mit Sicherheit wird der Preis ein Vielfaches des heutigenVerkaufserlöses betragen.

Das steuerfinanzierte Netz muss daher auch in Zu-kunft bei seinem Geldgeber Bund bleiben und darf nichtzum Spekulationsobjekt für Renditeerwartungen derShareholder werden.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Eigentumsmodell ist dafür unseres Erachtensder richtige Weg. Wir vermeiden Sollbruchstellen beider Bewirtschaftung des Netzes, da der integrierte tägli-che Ablauf erhalten bleibt. Dafür wird jeder heute beste-hende Arbeitsplatz auch in der Zukunft benötigt werden.Die angeblichen Synergieeffekte eines integrierten Kon-zerns würden weitestgehend erhalten bleiben, jedenfallsdann, wenn man nicht wie Investmentbanker die Verhin-derung von Wettbewerb als Synergieeffekt betrachtet.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der Bund kann weiterhin aktiv seine Infrastrukturverant-wortung wahrnehmen, unabhängig von Interessen priva-ter Eigentümer. Unkalkulierbare Haushaltsrisiken wer-den vermieden, wenn der Konzern in eine finanzielleSchieflage oder in den Zugzwang von Kapitalerhöhun-gen gerät. Denn wegen Art. 87 e Grundgesetz müsste derBund bei einem integrierten Konzern dauerhaft Mehr-heitsaktionär eines globalisierten, immer stärker diversi-fizierten Logistikkonzerns bleiben, der schon heute Um-satz und Ertrag mehrheitlich nicht im Schienenverkehrerzielt.

Mit dem Eigentumsmodell stellen wir auch zukünftigsicher, dass die Haushaltsmittel für die Schiene wie beiden anderen Verkehrsträgern im Interesse der Volkswirt-schaft, im Sinne der Verkehrsbedürfnisse unserer Bevöl-kerung und damit zum Wohle der Allgemeinheit einge-setzt werden können.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDPund dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowiebei Abgeordneten der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Heidrun Bluhm, Frak-

tion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister! Das zu-künftige Bild der Bevölkerungsentwicklung ist, in Ad-jektiven ausgedrückt: weniger, bunter, grauer,

vereinzelter. Gemeint ist damit der demografische Wan-del, der sich in den nächsten Jahren auch in der Bundes-republik Deutschland vollziehen wird. Der Einwohner-rückgang wird bis zum Jahr 2020 0,5 Prozent betragen,bis zum Jahr 2050 sogar 5 Prozent. Dieser Prozess istsehr differenziert zu betrachten. Im Westen beträgt derEinwohnerrückgang bis 2020 im Durchschnitt 3,5 Pro-zent, im Osten allerdings 16,5 Prozent. Der Anteil derüber 60-Jährigen wird von 2005 bis 2020 von 24,7 Pro-zent auf 29,1 Prozent wachsen, so die Prognosen.

Diese Zahlen zeigen, dass die Probleme in Ost-deutschland verstärkt auftreten werden. Das bedeutetfür die Fraktion Die Linke erstens: Der Stadtumbau Ostkann und muss die Vorreiterrolle für Gesamtdeutschlandeinnehmen.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Haushaltsansatz 2007 im Bereich der Städtebauför-derung beträgt für Ostdeutschland 131 Millionen Euro.Das bedeutet eine Verschiebung von circa 10 MillionenEuro zugunsten des Stadtumbaus West – das begrüßenwir durchaus –, bedeutet aber für den Osten einen imVergleich zu 2006 verminderten Ansatz um 19 MillionenEuro.

In den nächsten Jahren wird und muss in den westli-chen Bundesländern ebenfalls eine höhere Förderungeingeplant werden. Wir alle wissen, dass in den Regio-nen, in denen Industrieanlagen zurückgebaut werden,städtebauliche Missstände bestehen, die beseitigt werdenmüssen. Wir brauchen auch hier eine entsprechende För-derung. Ich gehe davon aus, dass das Ministerium dasähnlich sieht.

Unser Vorschlag wäre, im Haushaltsplan nur nocheine Position mit zwei deckungsfähigen Untertiteln zubilden, so wie es bereits in der Bauministerkonferenzdiskutiert worden ist. Das hätte folgende Vorteile: Wirhätten erstens ein Ende der Ost-West-Diskussion, wennwir mit einem neuen Haushaltstitel „Allgemeine Städte-bauförderung“ und dann nur mit den Untertiteln „Ost“und „West“ arbeiten würden. Zweitens stünden uns nichtabgerufene Mittel einzelner Länder zur Verfügung undkönnten unkompliziert in andere transferiert werden.Drittens hätten wir weniger Haushaltsreste. Wir könntenviertens den Verwaltungsaufwand reduzieren und fünf-tens gäbe es auch auf der Basis der Föderalismusreformeinen schnelleren Austausch von Lösungen zwischenden Ländern.

Zweitens muss unserer Meinung nach die Kompatibi-lität der Förderprogramme verbessert werden. Trotzder Erfolgsstory „Städtebauförderung Ost“ hat sich inden vergangenen Jahren gezeigt, dass es hier Problemegibt. Auch diese müssen angegangen werden; auf einigewenige will ich eingehen.

Trotz der zusammengeführten Förderprogrammebeim Rückbau, bei der Wohnungsmodernisierung, derWohnumfeldverbesserung und der CO2-Gebäudesanie-rung gibt es keine Förderung für den Rückbau der tech-nischen Infrastruktur. Das heißt, die Einbeziehung der

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Heidrun Bluhm

Versorgungsträger ist hier mangelhaft oder sie fehlt zumTeil.

Die Idee, Herr Tiefensee, die Sie auf dem GdW-Kon-gress angedeutet haben, nämlich eine Aufsplittung derRückbauförderung in Höhe von jetzt 60 Euro je Qua-dratmeter Wohnfläche in 40 Euro für den Wohnungs-rückbau und 20 Euro für den Rückbau der technischenInfrastruktur, hat in der Fachlobby nicht nur zu positivenReaktionen geführt. Auch wir sind der Auffassung: Daswird nicht funktionieren. Denn damit wird der allge-meine Wohnungsrückbau für viele Bauunternehmennicht mehr finanzierbar. Letztlich werden auch wenigerFördermittel abgerufen werden. Das Fördererforderniswird nicht zu dem gewünschten Erfolg, den wir damitrealisieren wollten, führen.

Wir brauchen auch die Kompatibilität der GA-Förde-rung und der Städtebauförderung. Unser Vorschlag: Öff-nen Sie die allgemeine Städtebauförderung auch für denRückbau der technischen Infrastruktur. Der Vorteil wäre:Es gäbe mehr Planungssicherheit für die den Prozesssteuernden und beteiligten Kommunen und es käme zurAuflösung der starren Rolle der Versorger.

Des Weiteren können Förderprogramme wie EFREund die allgemeine Städtebauförderung nicht in einemProgrammgebiet Anwendung finden. Die Umsetzungder integrierten Stadtentwicklungskonzepte wird damitzum Flickenteppich. Unser Vorschlag: Aufhebung derstarren Förderkriterien innerhalb der einzelnen Förder-programme zur Herstellung der Kompatibilität.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir fordern drittens, eine ressortübergreifende För-derung zu organisieren. Die ISEKs, die integriertenStadtentwicklungskonzepte, sind mehr als eine Förde-rung in Beton. Sie erfordern ein abgestimmtes Vorgehenim Straßenbau, im ÖPNV sowie bei der sozialen undkulturellen Infrastruktur. Deshalb unser Vorschlag:Schluss mit der Einzelförderung, wie es im Zusammen-hang mit dem GVFG, den Regionalisierungsmitteln, derSchulbauförderung oder sozialen Programmen der Fallist. Lassen Sie uns alle einzelnen Förderprogramme zah-lenmäßig zusammenfassen. Lassen Sie uns die starrenFörderkriterien aufheben. Packen wir alles in einen Topfund nennen wir das Kind: kommunale Investitionsförde-rung.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Vorteil: Damit stärken wir die kommunale Selbst-verwaltung und reduzieren den Verwaltungsaufwand beiBund und Ländern. Damit schaffen wir moderne und zu-kunftsfähige Städte, die ihre Investitionen nachhaltig inInnovation sowie in die Bedürfnisse der Bürgerinnenund Bürger flexibel einsetzen und die nicht nur in Betoninvestieren.

Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu den Kostender Unterkunft – das ist Einzelplan 11 – machen. DieRückwirkungen auf die Stadtquartiere durch Zwangsum-züge und Entmischung werden letztlich auch die inte-grierten Stadtentwicklungskonzepte nicht greifen lassen.Wenn die Kommunen keine Unterstützung durch den

Bund bekommen, dann brauchen sie letztlich noch mehrFördermittel im Bereich Städtebauförderung, um damitdie jetzt schon bestehenden integrierten Stadtentwick-lungskonzepte nachschreiben zu können. Damit unddurch Reduzierungen in anderen Bereichen können dienegativen sozialen Folgen von Hartz IV gemildert wer-den.

Die Zahl der Bedarfsgemeinschaften ist 2006 im Ver-gleich zu 2005 um 220 000 gestiegen. Die Berechnun-gen des Deutschen Städte- und Gemeindebundes zeigen,dass der Bundesanteil 5,7 Milliarden Euro und nicht, wieim Haushaltsansatz geplant, 2,0 Milliarden Euro betra-gen muss. Hier ist zu erkennen, wo das Defizit liegt undwohin es führt.

Letztlich werden die Lasten zu Ungunsten der Kom-munen und der kommunalen Haushalte verschoben. Da-mit werden die Kommunen überlastet. Auch hier ist eineressortübergreifende Betrachtung erforderlich. Die fiska-lische Ressortbetrachtung muss durch eine ganzheitlicheBetrachtung ersetzt werden. Diesem Anspruch muss sichauch die Bundesregierung stellen.

(Beifall bei der LINKEN)

Lassen Sie mich zum Schluss deutlich machen: Eskommt für uns darauf an, ressortübergreifend dahin ge-hend tätig zu werden, dass endlich die restlichen Alt-schulden im Bereich der Wohnungsförderung gestrichenwerden

(Beifall bei der LINKEN)

und dass wir die Fristverlängerung für die Grunderwerb-steuerbefreiung für Wohnungsunternehmen und für Ein-zelpersonen über den 31. Dezember 2006 hinaus ermög-lichen.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Anna Lührmann, Bünd-

nis 90/Die Grünen.

Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Entscheidung über die Art des Börsen-ganges der Bahn ist ohne Zweifel die wichtigste ver-kehrspolitische Entscheidung der letzten Jahrzehnte. Füruns Grüne sind die Ziele dabei ganz klar: Wir wollenmehr Verkehr auf der Schiene und die staatlichen Mittelfür den Schienenverkehr sollen so effizient wie möglicheingesetzt werden.

Als Haushälterin ist es meine Aufgabe – dieserwidme ich mich auch in den Beratungen zu diesem Ein-zelplan –, zu überprüfen, ob die Zahlen hinsichtlich derVarianten des Börsenganges, die wir Parlamentarier alsEntscheidungsgrundlage bekommen, stimmen oder obes da Ungereimtheiten gibt. Momentan muss ich feststel-len – darüber ist öffentlich schon mehrfach diskutiertworden –, dass die Zahlen, die uns von der Regierungzur Verfügung gestellt werden, nicht stimmig sind. Es

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Anna Lührmann

gibt noch eine Reihe von Fragen, die vor der Entschei-dung über die Art des Börsengangs unbedingt geklärtwerden müssen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Uwe Beckmeyer [SPD]: Donnerwetter!)

Ich will in der verbleibenden Redezeit zwei Beispielenennen. Da ist zunächst einmal die schon oft erwähnteImmobilienzuordnung. Wir haben einen recht umfang-reichen Bericht des Ministeriums dazu bekommen. Abernach meinem ersten Studium dieses Berichts in den letz-ten 24 Stunden ergeben sich für mich eine ganze Reihevon Fragen, weil viele entscheidende Komplexe garnicht erst angesprochen werden.

Ich will einen Fragenkomplex, der nicht behandeltwurde, anschneiden, damit sich die Parlamentarierinnenund Parlamentarier, die sich in diese Materie noch nichteingearbeitet haben, eine Vorstellung davon machenkönnen, um welche Summen es hier geht. Im Jahre 2001wurden verschiedene Immobilien und Grundstücke– darüber ist ebenfalls schon oft berichtet worden – in ei-ner Immobilienverwertungsgesellschaft mit NamenAurelis zusammengefasst. Das ist mit Blick auf eineAufgabenteilung eigentlich eine sinnvolle Sache. DieseGesellschaft hat einen beachtlichen Verkehrswert inHöhe von 2,3 Milliarden Euro.

Aber es ist nicht klar, aus welchen Konzernspartendiese Immobilien stammen. Kamen sie vom Netz? Ka-men sie von der Holding? Kamen sie von verschiedenenBetriebsbereichen? Auf all das haben wir bisher keineAntworten bekommen. Es ist eine sehr entscheidendeFrage, weil diese Gesellschaft momentan Gewinnemacht, die in die Bilanz des Konzerns eingestellt wer-den, und weil es auch um die spannende Frage geht– wenn es, so wie Sie von der CDU-Fraktion gerade ge-sagt haben, zu einem Eigentumsmodell kommt –, wasmit dieser Gesellschaft hinterher passiert. Diese Frage istauch deshalb so spannend, weil dieser Gesellschaft einEntwicklungswert von 8 bis 12 Milliarden Euro zuge-schrieben wird. Sie hat einen Verkehrswert von2,3 Milliarden Euro und einen Entwicklungswert von8 bis 12 Milliarden Euro. Es geht also um gewaltigeSummen.

Und Sie vom Verkehrsministerium sagen uns imHaushaltsausschuss, es würde keine Rolle spielen, wodie Gewinne der Gesellschaft, wo die Gewinne generellvon Immobilienverkäufen eingestellt werden. Meine Da-men und Herren, das spielt aber sehr wohl eine Rolle.Wir müssen das aufklären und feststellen, bevor wir übereinen Börsengang entscheiden,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)

damit wir wissen, was passiert und wie wir auch für denSteuerzahler die beste Möglichkeit finden können. Dasspielt auch eine Rolle – da kann man die Argumente vonHerrn Mehdorn und Herrn Wiesheu anführen –, wenn esdarum geht, Vorteile für den DB-Konzern zu bekommen.Dann wird sehr wohl damit argumentiert, dass es unter-schiedliche Buchungsmöglichkeiten zwischen den ver-

schiedenen Sparten gibt. Es wird argumentiert, es wür-den so viele Schulden auf dem Netz liegen.

Herr Wiesheu hat öffentlich gesagt, dass 15 Milliar-den Euro Schulden auf dem Netz liegen würden, die derBund zu übernehmen hätte. Nach Ansicht der Bahnmacht es einen Unterschied, wo die Schulden verbuchtwerden. Es wird bei der Bahn aber kein Unterschied ge-macht, wo die Erlöse verbucht werden. Das kann dochnicht stimmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb müssen wir das möglichst bald nachprüfen.

Ein dritter Punkt kommt hinzu, der mich als Haushäl-terin besonders stark interessiert, nämlich die Frage, wieviel staatliche Zuschüsse für die Instandhaltung undErneuerung des Netzes ausgegeben werden. In denletzten Jahren ist etwas Erstaunliches passiert, was derRechnungshof aufgedeckt hat, und das, obwohl derRechnungshof – das muss man dazu sagen – momentannicht befugt ist, die Unterlagen der Bahn zu prüfen.

Das ist vielleicht eine Sache, bei der wir darübernachdenken sollten, das zukünftig zu ändern, damit wirals Parlamentarier auch unabhängige Zahlen und Datenbekommen. Der Rechnungshof hat uns also darauf ge-bracht – das hat das Ministerium auch bestätigt –, dassder Eigenanteil der DB Netz AG bei der Finanzierungdes Schienennetzes in den letzten Jahren konstant gesun-ken ist. Das wird immer mit dem Argument verbunden,die Eigenmittelsituation und das Betriebsergebnis vonDB Netz seien so schlecht. Das heißt, es macht doch ei-nen Unterschied, wie in den verschiedenen Sparten Ge-winne und Verluste verbucht werden – das als kleinerMerkposten zwischendurch.

Aber gut, der Eigenanteil ist gesunken. Ich habe alsHaushälterin bisher keine Antwort darauf bekommen,wie groß der Eigenanteil in letzter Zeit wirklich ist. EinStichwort zur Informationspolitik des Ministeriums:Sie haben uns einen Bericht vorgelegt, in dem steht – icherlaube mir, diesen einen Sachverhalt vorzutragen –,dass 153 Millionen Euro für Bestandsinvestitionen in ei-ner Vereinbarung mit der Bahn zugesagt worden sind.Der naive Leser denkt sich: Zugesagt, das heißt auch be-zahlt.

Wenn man das nachprüft, stellt man fest, dass an dergleichen Stelle für die Jahre zuvor noch steht, dass dieGelder auch ausgezahlt worden sind.

Meine Damen und Herren, eine transparente Informa-tionspolitik, mit der wir als Haushälter etwas anfangenkönnen, sieht anders aus.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Da wird uns klar gesagt, wann welche Zahlungen geflos-sen sind, wer wann etwas aufgrund welcher rechtlichenGrundlage zugesagt hat. Ich kann momentan nicht beur-teilen, wie viel DB Netz wirklich in das Netz investiert.Ich würde das aber gerne wissen, bevor ich mitent-scheide, wer was mit dem Netz in nächster Zeit anstellensoll.

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Anna Lührmann

Für mich ist es ganz klar: Die Regierung hat das ander Stelle in der Hand. Wir brauchen die notwendigenInformationen, um Entscheidungen verantwortungsvolltreffen und auch um verantwortungsvoll staatliche Zu-schüsse ins Netz zu geben zu können. Dafür brauchenwir bessere und transparentere Informationen. Entwederwir erhalten diese Informationen im Haushaltsausschussbzw. im Verkehrsausschuss auf dem normalen parlamen-tarischen Weg oder wir müssen – wenn uns nichts ande-res übrig bleibt, weil die Regierung verschleiert – zudem Mittel des Untersuchungsausschusses greifen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Jetzt hat das Wort Kollege Klaas Hübner, SPD-Frak-

tion.

(Beifall bei der SPD)

Klaas Hübner (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Einmal mehr ist der Verkehrshaushalt der größte In-vestitionshaushalt des Bundes. Das haben viele Rednervor mir bereits gesagt. Fast zwölfeinhalb MilliardenEuro sind für Investitionen im Verkehrs- und Baubereichgebunden.

Eine Maßnahme, die schon viele vor mir genannt haben,will auch ich herausstreichen, aber in einen anderen Zusam-menhang stellen: das CO2-Gebäudesanierungspro-gramm. Die FDP hat in der Generaldebatte am Mittwochunterstellt, die Koalition würde keine Mittelstandspolitikbetreiben. – Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm ist einexzellenter Beitrag zur Mittelstandspolitik.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Die KfW hat heute berichtet, dass sie im Zeitraum vonJanuar bis August dieses Jahres insgesamt rund182 000 Kredite gewährt hat und damit ein Investitions-volumen in Höhe von rund 9,6 Milliarden Euro ausge-löst hat.

Die FDP hat Anfang des Jahres gesagt, dass wir mitdiesem Programm nur ein Wachstumsstrohfeuer entzün-den würden. Angesichts dieser Zahlen müssen auch Sieeinsehen: Wir haben ein Leuchtfeuer entzündet. Es istgut, dass wir dieses Programm fortführen und die Mitteldafür aufstocken.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Das Programm ist darüber hinaus ein gutes Beispielfür eine ganzheitliche, konsistente Politik. Selten gab esein Programm, das ressortübergreifend so viele Freundegefunden hat: Der Bundesumweltminister freut sich überden wachsenden Beitrag der Gebäudeeigentümer zumKlimaschutz; der Arbeitsminister und der Wirtschafts-minister freuen sich über die Sicherung von Arbeit undBeschäftigung im Baugewerbe; der Bauminister kannmit Recht stolz darauf sein, gemeinsam mit der KfWeine hervorragende Initiative angestoßen zu haben.

Eine weitere – zukünftige – Erfolgsgeschichte ist indiesen Tagen in der Presse besprochen worden: derFlughafen Berlin Brandenburg International. Amvergangenen Dienstag wurde der erste Spatenstich fürdieses ambitionierte Projekt gesetzt. Die Hauptstadtre-gierung kann sich damit aus dem Mittelfeld der Bundes-liga in die Champions League europäischer Großflugha-fen spielen. Dieses wichtige Infrastrukturprojekt bieteteine Perspektive für mehr Arbeitsplätze, für die Wirt-schaft und den Tourismus in Ostdeutschland.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Damit sobald wie möglich das erste Flugzeug vomdann drittgrößten Flughafen Deutschlands abhebenkann, sorgt der Bund für Planungssicherheit. Wir haben27 Millionen Euro Gesellschaftsbeiträge in den Ver-kehrshaushalt eingestellt. Der auf den Bund entfallendeGesamtanteil in Höhe von 112 Millionen Euro ist damitsichergestellt.

Wir haben aber mehr getan. Wir stellen zur Realisie-rung der Schienen- und Straßenanbindung Investitions-mittel in Höhe von insgesamt 650 Millionen Euro bereit.Zeitgleich zur Eröffnung des neuen Flughafens sollendie ersten Züge vom Berliner Hauptbahnhof direkt unterdas Flughafengebäude fahren, und das in einer Fahrzeitvon nur 20 Minuten.

(Beifall bei der SPD – Winfried Hermann[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leider ohneICE-Anschluss!)

Wenn wir über die Schiene reden, müssen wir aberauch über die Teilprivatisierung der Deutschen Bahn AGreden. Ich denke, wir müssen aufpassen, dass wir unsnicht in Bahnbefürworter und Bahngegner aufspalten.Ich unterstelle allen in diesem Hause, dass sie Bahnbe-fürworter sind. Wir alle wollen eine starke Bahn haben.

(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Starke Bahnen!)

Insofern müssen wir uns verantwortungsvoll mit deneinzelnen Fragen auseinander setzen. In der Koalitionhaben wir Folgendes vereinbart: Wir wollen sicherstel-len, dass die Bahn insofern weiterhin ein integrierterKonzern bleibt, als sie die Bewirtschaftung des Netzes injedem Fall vornimmt. Was wir noch zu prüfen haben, istdie Eigentumsfrage. Wer wird bzw. bleibt Eigentümerdes Netzes?

Drei Modelle sind momentan in der Diskussion: ZweiModelle gehen davon aus, dass der Bund Eigentümerwird. Das ist das so genannte Nießbrauchmodell. Wennich den Kollegen Fischer vorhin richtig verstanden habe,favorisieren Sie das Eigentumsmodell. Das dritte Modellbeinhaltet eine so genannte Call Option, das heißt, dieBahn bleibt Eigentümer des Netzes, der Bund erhält abereine Call Option, kann sich das Netz zu einem bestimm-ten Zeitpunkt zu einer fest definierten Summe aneignen.

Das sind die drei Varianten, die momentan zur Dis-kussion stehen. Ich denke, wir werden in den nächstenzwei Wochen darüber zu diskutieren haben. Wir werdeneine gute Variante finden. Ich mache keinen Hehl daraus,

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Klaas Hübner

dass unsere Meinungsbildung noch nicht abgeschlossenist und dass die Haushaltspolitiker der SPD-Fraktionnach dem momentanen Kenntnisstand eher einer Vari-ante zuneigen, durch die das Eigentum an den Bundübergeht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber die Entscheidung ist am Ende des Monats zu fäl-len.

Herr Minister, Sie haben uns, glaube ich, einen sehrguten Etat zur Beratung vorgelegt. Wir werden verant-wortungsvoll damit umgehen. Ich bin mir sicher, dasswir dann auch mit einem guten Etat in die zweite unddritte Lesung gehen können.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Ingo Schmitt, CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ingo Schmitt (Berlin) (CDU/CSU): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Wenn wir uns heute mit dem wichtigen Thema„Aufbau Ost“ beschäftigen, so erwarten viele zunächsteine Rückschau auf die Leistungen und Ergebnisse derAngleichung der Lebens- und Wirtschaftsverhältnissezwischen den alten und den neuen Bundesländern. Diesist natürlich ein wichtiges Kernstück der Bestandsauf-nahme, lässt aber, nur für sich betrachtet, wichtige undwertvolle Aspekte außer Acht. Denn der Aufbau ist ausheutiger Sicht nicht nur eine eindirektionale Förderungmit dem Bestreben einer gezielten und gewollten Verän-derung, sondern auch die Rückwirkung des sich verän-dernden Gebietes auf andere Regionen.

Zunächst blicken wir auf die konkreten Fakten in denneuen Ländern als Ergebnis einer konsequenten Förder-politik. Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, denAufbau Ost weiter voranzubringen. Dies ist nach wie voreine große Herausforderung. Ich bin stolz, heute sagenzu können, dass wir einen Teil unseres Versprechens be-reits in den ersten Monaten der großen Koalition einlö-sen konnten. Mit dem Investitionszulagengesetz 2007haben wir den Weg für eine verlässliche und dauerhafteFörderung in Ostdeutschland freigemacht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Mit einem jährlichen Volumen von rund 600 Millio-nen Euro werden bis zum Jahre 2009 bei einer Förder-quote von circa 20 Prozent Investitionen in Höhe von10 Milliarden Euro angestoßen. Daneben trägt auch dieFörderpolitik des Bundesforschungsministeriums maß-geblich zum Aufbau Ost bei. Mit der Innovationsinitia-tive „Unternehmen Region“ wurden im letzten JahrProjekte mit insgesamt 90 Millionen Euro gezielt unter-stützt. Es wäre wünschenswert, wenn dieses Programm

auch in Zukunft im bisherigen Umfang fortgeführt wer-den kann.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Denn neben dem Mut ist vor allem die Möglichkeit zuInnovation und Ideenverwirklichung notwendige Vo-raussetzung für eine positive Wirtschaftsentwicklung. Indiesem Zusammenhang möchte ich mich auch nach-drücklich für den weiteren Ausbau des Wissenschafts-standorts Ost aussprechen. Das zu 95 Prozent staatlichgetragene Max-Planck-Institut hat bis zum Jahr 2000sein selbst gesetztes Ziel, in den neuen Ländern mitebensoviel Instituten vertreten zu sein wie im alten Bun-desgebiet, erfüllt.

Durch diese neue Ansiedlung von renommierten For-schungseinrichtungen zieht es mittlerweile viele jungeWissenschaftler aus Gebieten weit über die GrenzenDeutschlands hinaus unter anderem nach Halle, Leipzigund Jena. Dort, wo viel investiert wird und gute Hoch-schulen oder Institute entstehen, siedeln sich häufig auchUnternehmen an. Mehr denn je ist eine gute AusbildungMultiplikator für Wachstum.

Wachstum einer Volkswirtschaft kann aber nur dortentstehen, wo auch Volk ist. Genau das ist ein ostdeut-sches Sorgenkind. Die demografische Entwicklung inden neuen Ländern – sie wurde hier bereits angespro-chen – ist besorgniserregend. Während der Bevölke-rungsrückgang zwischen 1990 und 2004 7,5 Prozent be-trug, wird bis zum Jahr 2020 ein weiterer Verlust von 10bis 15 Prozent der Bevölkerung erwartet. Dass insbeson-dere junge und gut ausgebildete Menschen diese Regio-nen verlassen, verschärft das Problem und fordert prag-matische und schnell greifende Konzepte von Bund undLänder gleichermaßen.

Im Zusammenhang mit dieser Forderung müssen wiraber zugleich nach den Ursachen für diese dramatischeAbwanderungsdynamik fragen. Eine Rolle spielt diehohe Arbeitslosigkeit, deren Reduzierung nach wie vorunser zentrales Ziel sein muss. Im August dieses Jahresbetrug sie in Ostdeutschland 16,7 Prozent. Damit ist sieknapp doppelt so hoch wie in den alten Ländern.

Dass der Arbeitsmarkt Ost viele Potenziale in sichbirgt und durchaus wettbewerbsfähig ist, zeigt diejüngste Mitteilung des Statistischen Bundesamtes: Wäh-rend eine Arbeitsstunde in Sachsen-Anhalt nur20,84 Euro kostet, kostet sie in Hamburg, Herr KollegeFischer, satte 31,80 Euro.

(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Ja! Das ist teuer bei uns!)

Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass dieEinführung eines Mindestlohns gerade in den neuenLändern kein geeignetes Mittel zur Schaffung von mehrArbeitsplätzen darstellt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

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Ingo Schmitt (Berlin)

Denn gerade in Ostdeutschland würde dieses Instru-ment insbesondere die Existenz mittelständischer Unter-nehmen gefährden. Man bedenke, dass 80 Prozent derostdeutschen Unternehmen weniger als 20 Beschäftigtehaben. Hier bestünde eindeutig die Gefahr der Abwan-derung der Arbeit in Richtung Osteuropa. Denn warumsollte sich ein Unternehmer in den neuen Ländern ansie-deln, wenn ein paar Kilometer weiter östlich keinMindestlohn gezahlt werden muss? Hier könnte ein Kom-bilohnmodell zum Einsatz kommen. Deshalb ist es drin-gend an der Zeit, dass insbesondere im Interesse der Pro-blemgruppen auf dem Arbeitsmarkt, der unter 25-Jährigenund der über 50-Jährigen, zielorientiert über ein solchesModell diskutiert wird.

Ein zusätzlicher Wachstumsfaktor ist eine gut funk-tionierende Infrastruktur. Ostdeutschland muss hier dop-pelte Lasten tragen, da zum einen die teilungsbedingtenDefizite und zum anderen die durch die EU-Erweiterunganfallenden Verkehrsströme bewältigt werden müssen.Darum sind die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ zü-gig abzuschließen

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

und darum ist das Infrastrukturplanungsbeschleuni-gungsgesetz, wie im Koalitionsvertrag versprochen, inKraft zu setzen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Bei allem Fortschritt und aller Erneuerung dürfen wirauch Vergangenes nicht übersehen. Es wird Zeit, dassdie Opfer der SED-Diktatur endlich eine angemesseneEntschädigung erhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

In knapp einem Monat, am 3. Oktober, feiern wir den16. Jahrestag der deutschen Einheit. In diesem Zusam-menhang werden wir zum 16. Mal der Opfer des DDR-Regimes gedenken: der während der kommunistischenDiktatur Inhaftierten, deren Leid nicht in Worte zu fas-sen und nicht mit Geld aufzuwiegen ist. Diesen Men-schen müssen wir eine Würdigung ihres Einsatzes zu-kommen lassen: für ihren Mut, sich für mehrDemokratie und Freiheit und für die Menschenrechteeinzusetzen.

Die Rentennachzahlungen an die ehemals dem SED-Staat nahe stehenden Personen kosten den Steuerzahlerjährlich rund 3 Milliarden Euro. Für die Pensionen derOpfer müssen lediglich 71 Millionen Euro aufgewandtwerden. Deswegen richte ich an unseren Koalitionspart-ner, aber auch an Sie, Herr Minister, die herzliche Bitte,diesen Weg mitzugehen und Ihre Unterstützung zu si-gnalisieren.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-geordneten der SPD)

Nachdem wir Ostdeutschland in vielen Bereichen iso-liert betrachtet haben, müssen wir nun aber auch danachfragen, welchen Einfluss der Standort Ost auf Gesamt-

deutschland bzw. auf ganz Europa hat. Denn dort, wo et-was Neues entsteht bzw. wo Altes neu entsteht, entfaltensich Wirkungen auf die umliegenden Regionen. Deshalbist die Frage nach dem Projekt „neue Länder“ immerauch eine Frage nach dem Projekt „Gesamtdeutschland“.Denn ein durch Arbeitslosigkeit und Wirtschaftsflautegebeutelter Osten behindert auch das Wachstum in ganzDeutschland.

In europäischer Hinsicht eröffneten uns die neuenLänder das Tor zum Osten und ließen Deutschland insZentrum der EU rücken. Das ist eine Schlüsselfunktion,die für uns ein Sprungbrett zu den Zukunftsmärkten Mit-tel- und Osteuropas darstellt. Für mögliche Investoren istdas ein klarer Standortvorteil. Nun gilt es, diese Chancendurch eine verlässliche Politik, die sowohl Gesamt-deutschland als auch unsere Position in der EU weiterstärkt, zu nutzen.

Lassen Sie mich abschließend einen Punkt erwähnen,der schon von vielen Kollegen angesprochen wurde– ich habe in den Beiträgen aller Kollegen, die sich zudiesem Thema geäußert haben, nur Positives gehört –:das Gebäudesanierungsprogramm. In diesem Zusam-menhang sollte berücksichtigt werden, dass bestimmteBaumaßnahmen insbesondere in den neuen Bundeslän-dern bis zum Jahre 1990 gar nicht möglich waren. Des-wegen sollten wir gemeinsam einen Vorstoß unterneh-men, die heutige Baujahrsgrenze von 1983 zukünftig aufdie Zeit nach 1990 zu verlegen. Das ist die Bitte an Sie,Herr Minister; vielleicht können wir diesen Weg ge-meinsam gehen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollegin Petra Weis, SPD-Fraktion.

Petra Weis (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

hoffe, dass ich fast zum Schluss dieser Debatte nieman-den über Gebühr langweile, wenn meine Anmerkungenzum Einzelplan 12 für das Jahr 2007 sich nicht wesent-lich von dem unterscheiden, was ich noch vor kurzerZeit an dieser Stelle über den Vorgängerhaushalt gesagthabe. Das hat aus meiner Sicht zum einen damit zu tun,dass wir in der Stadtentwicklungspolitik in einer über-zeugenden Kontinuität stehen, zum anderen damit, dassdas, was wir mit der Verabschiedung des diesjährigenHaushalts vor wenigen Wochen begonnen haben, sichschon jetzt auszuwirken beginnt. Das sind – das istschon angesprochen worden – die erfolgreichen Städte-bauförderungsprogramme, von der „Sozialen Stadt“ überden „Stadtumbau Ost“ und den „Stadtumbau West“ bishin zum „Städtebaulichen Denkmalschutz“. Dass wir imLichte des demografischen Wandels die Weichen füreine nachhaltige Stadt- und Regionalplanung stellen unddabei vor allem vier Schwerpunkte unterstützen, ist nurfolgerichtig. Ich meine den Umbau der sozialen Infra-struktur, die Schaffung von alten- und familiengerechtenStadtquartieren, die Gestaltung urbaner Freiräume und

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Petra Weis

nicht zuletzt – auch das ist schon angesprochen worden –die dringend notwendige Vernetzung der verschiedenenPolitikfelder und Fachressorts im Zuge einer wahrhaftintegrierten Stadtentwicklungspolitik.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dass wir das auch 2007 mit einem erweiterten Fi-nanzrahmen untermauern können, ist ebenso erfreulichwie politisch vernünftig. Die Umsetzung des Programms„Stadtumbau West“ zeigt darüber hinaus, dass wir denStädten hier ein unverzichtbares Instrument in die Handgegeben haben, auf den wirtschaftlichen Strukturwandelin Verbindung mit einem signifikanten Bevölkerungs-rückgang angemessen zu antworten. Von besonderemWert ist dabei – das ist jedenfalls meine Erfahrung –,dass die Städte zur Entwicklung von städtebaulichenKonzepten ermutigt werden, die sie mittelfristig undnachhaltig in die Lage versetzen, auf Veränderungspro-zesse nicht mehr allein zu reagieren, sondern sie mithilfezukunftsträchtiger Konzepte zu antizipieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Minister Tiefensee hat in einem anderen Zusammen-hang kürzlich davon gesprochen, dass Realitätssinnund strategisches Denken unerlässliche Anforderungenan eine Stadtentwicklungspolitik sind, die eine zeitge-mäße Antwort auf den demografischen Wandel sein will.Sosehr ich dieses Begriffspaar für geeignet halte, die He-rausforderungen zu beschreiben, würde ich gerne einzweites hinzufügen: Kreativität und Mut. Damit meineich Kreativität zu gelegentlich sicherlich auch unkon-ventionellen Lösungen und Mut zur Zukunftsgestaltung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Demografischer Wandel ist nämlich keine gesell-schaftliche Katastrophe, sondern letztendlich eineChance für intelligente Gesellschaftspolitik, zu der dieStadtentwicklung, wie ich meine, einen unverzichtbarenBeitrag leistet. Das gilt auch und vor allem vor dem Hin-tergrund der unterschiedlichen Entwicklungen in Ost-und Westdeutschland; darauf hat Kollege Schmitt ja ge-rade hinwiesen.

Auch ich komme nicht um ein paar wenige Wortezum CO2-Gebäudesanierungsprogramm herum, des-sen Erfolgsgeschichte mir fast unheimlich ist. Der hoheZuspruch, den das Programm bundesweit gefunden hat,macht deutlich, dass man mit intelligenten Anreizen– Kollege Friedrich hat sich ähnlich geäußert – den Zie-len des Energiesparens und des Klimaschutzes ebensogerecht werden kann wie der Steigerung der Wohnquali-tät, des Immobilienwertes und nicht zuletzt der Siche-rung und Schaffung von Arbeitsplätzen im Handwerkund im Baubereich. Die energetische Gebäudesanierungist inzwischen eine der tragenden Säulen für Arbeit undBeschäftigung, von der neben den Beschäftigten selbstauch kleine und mittlere Betriebe profitieren. KollegeHübner hat darauf hingewiesen, er hat von einem Leucht-feuer gesprochen – nicht von einem Strohfeuer! –; diesenVergleich kann ich nur nachdrücklich unterstützen. Kol-lege Friedrich hat darauf hingewiesen, dass man dasCO2-Gebäudesanierungsprogramm immer im Zusam-

menhang mit der Einführung des Gebäudeenergieaus-weises sehen muss. Kollege Günther hat seine Skepsisdaran formuliert, dass wir mit diesem Projekt langsamzu einem erfolgreichen Ende kommen. Ich bin mir abso-lut sicher, dass das so ist. Ich bin mir noch viel sicherer,dass wir die Menschen davon überzeugen können, dasses ein gutes Konzept ist, wenn wir relativ ideologiefreian die Sache herangehen und zunächst eine Wahlmög-lichkeit anbieten; wir werden à la longue sehen, welchesModell sich durchsetzt.

Auch auf die Förderung von Innovation und Quali-tät beim Bauen ist schon hingewiesen worden. Die For-schungsinitiative „Zukunft Bau“ im Rahmen des 6-Mil-liarden-Euro-Sonderprogramms für Forschung undEntwicklung und der runde Tisch „Bauforschung“ sinddafür gute Beispiele. Das Gleiche gilt für die erneuteMittelbereitstellung für den allgemeinen Forschungs-schwerpunkt Bau.

Gestatten Sie mir eine Anmerkung, die jetzt nicht sosehr persönlich gemeint ist, aber ich möchte sie machen,weil ich Berichterstatterin bin. Liebe Kollegin Blank, ichglaube, zur Qualität und zur Wettbewerbsfähigkeit desdeutschen Bauwesens gehört auch, dass wir jetzt dieBundesstiftung Baukultur auf den Weg bringen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Ich empfinde eine gewisse Form der Vorfreude, dass wirhier in wenigen Wochen hoffentlich noch einmal darüberdiskutieren werden. Ich wünsche mir, dass wir das dannzu einer etwas prominenteren Tageszeit als heute zu die-ser späten Stunde tun können.

Natürlich würde es mich auch im Anschluss an das,was der Kollege Schmitt gesagt hat, reizen, noch etwaszum Thema Aufbau Ost zu sagen. Das verbietet miraber die Redezeit. Ich denke, wir können dieses Quer-schnittsthema der Bundespolitik auch im Rahmen derDebatte über den Bericht der Bundesregierung zumStand der Deutschen Einheit in Zukunft nachholen.

Ich will aber noch auf einen kleinen feinen Titel imZusammenhang mit Ostdeutschland hinweisen, nämlichauf die Initiative „Wirtschaft trifft Wissenschaft“. Wennwir zunächst in Ostdeutschland dazu beitragen, dass derTransfer von wissenschaftlichen Forschungsergebnissenzur wirtschaftlichen Anwendung gelingt, dann glaubeich, dass wir den regionalen Akteuren damit ein sehr gu-tes Angebot machen. Ich darf mir hierzu noch folgendeBemerkung erlauben: Sollte sich das Programm als er-folgreich herausstellen, dann kann ich mir auch vorstel-len, dass wir in Zukunft einmal darüber reden, ob sichdas nicht auch auf vergleichbare Regionen in West-deutschland übertragen lässt.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Ich will noch ganz kurz einwerfen, dass dieser Haus-haltsentwurf erstmals auch die Ergebnisse der Födera-lismusreform widerspiegelt. Ich kann nur hoffen und

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Petra Weis

wünschen, dass die Bundesländer die jährlichen Kom-pensationszahlungen in Höhe von rund 518 MillionenEuro im Rahmen der sozialen Wohnraumförderung tat-sächlich für die Gestaltung und Umsetzung von kreati-ven und nachhaltigen Programmen nutzen. Ich hoffesehr, dass das sozusagen ein Grundstein für einen weiter-führenden Dialog zwischen dem Bund, den Ländern undletztendlich auch den Gemeinden ist; denn wir alle wis-sen ja, dass man das Thema „Stadtentwicklung undWohnungspolitik“ als eine staatliche Gemeinschaftsauf-gabe aller Ebenen begreifen muss.

Ich denke, dass mit diesem Haushaltsentwurf einegute Grundlage für eine moderne, den ökonomischen,sozialen und demografischen Gegebenheiten angepassteWohnungs- und Stadtentwicklungspolitik gelegt ist.Dass ich jetzt nicht alle Themenbereiche angesprochenhabe, die Ihnen und vielleicht auch mir wichtig sind,liegt in dem begrenzten Zeitbudget begründet. MancheThemen werden wir in Zukunft hier in diesem Hausenoch einmal aufrufen. Dazu zählen die Novellierung desBaugesetzbuches und das Thema, welches vorhin schonangesprochen worden ist, nämlich die Einbeziehung desWohneigentums in die staatlich geförderte private Al-tersvorsorge.

(Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU])

Ich hoffe wie immer, dass wir diese Diskussionen of-fen, konstruktiv und kritisch führen und dass wir dabeiimmer im Kopf haben, dass es Sinn macht, die Stadtent-wicklungspolitik als etwas zu begreifen, das wir mög-lichst im Konsens angehen sollten. Das Thema eignetsich wirklich dazu, Bestandteil einer modernen Gesell-schaftspolitik zu sein. In diesem Sinne freue ich michauf die Debatten der nächsten Wochen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Als letztem Redner des heutigen Abends erteile ich

dem Kollegen Bartholomäus Kalb, CDU/CSU-Fraktion,das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU – Winfried Her-mann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir er-warten jetzt eine zusammenfassende Debatte!)

Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Der Einzelplan 12, der jetzt im Entwurf vorliegt,macht deutlich, dass es der Koalition in besondererWeise darum geht, die Investitionen wieder zu verstär-ken. Herr Minister, Sie haben das vorhin sehr zutreffenddargestellt. Es geht nicht nur darum, dass wir wieder inder Lage sind, Art. 115 des Grundgesetzes einzuhalten,sondern es geht auch darum – darüber haben wir vor einoder zwei Jahren schon diskutiert –, den Substanzver-zehr, der eingesetzt hat, aufzuhalten und Substanzsiche-rung und Substanzmehrung zu betreiben. Ich glaube,hier ist ein ganz wesentlicher Schritt in Richtung einer

guten und positiven Entwicklung gelungen. Das ist auchdem Prinzip der Nachhaltigkeit geschuldet.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Die Infrastruktur- und die Verkehrsnetze sind die Le-bensadern eines Landes, sind auch die Lebensadern derVolkswirtschaft. Gegenüber den zugegebenermaßen sehrdeprimierenden Zahlen der mittelfristigen Finanzpla-nung des Jahres 2004 ist es der großen Koalition hier ge-lungen, die Mittel in einem großen Maß zu erhöhen undzu verstetigen. Ich gebe zu, Herr Kollege Mücke: Wirkönnen uns durchaus vorstellen, hier oder dort, insbe-sondere im Straßenbau, für mehr Investitionen einzutre-ten. Wir müssen schauen, ob sich in den Beratungennoch Möglichkeiten eröffnen, die Mittel zu erhöhen. Ichmuss jedoch sagen: Die Spielräume, auch die Umschich-tungsmöglichkeiten, werden gering sein.

Ich sage das auch vor dem Hintergrund, dass unsereStraßeninfrastruktur durch die heißen Sommerwochenin diesem Jahr in besonderer Weise in Mitleidenschaftgezogen wurde. Hier steigt, wie vorhin dargestelltwurde, der Unterhaltsaufwand in besonderem Maße, so-dass die Gefahr besteht, dass wir mit neuen Maßnahmen,auch mit Lückenschlüssen, die lange auf eine Realisie-rung warten, nicht vorankommen. Gleichzeitig stellt sichdie Situation so dar, dass der Verkehrsträger Straße sehrviel zur Staatsfinanzierung beiträgt. Ich verweise hierbeiauf die Maut und die Steuern aus diesem Bereich.

Wir sollten unter dem Eindruck der gestiegenen Un-terhaltungskosten einen Blick auf die Diskussionen wer-fen, die in Europa über die Erhöhung des zulässigen Ge-samtgewichtes bei LKW geführt werden. Befürwortermögen sagen: Wir erhöhen einfach die Zahl der Achsen.Ich glaube, diese Rechnung geht nicht auf. Es geht näm-lich nicht nur um statische, sondern auch um dynami-sche Lasten. Es geht um die enge Abfolge und damit umdie Knet- und Walkwirkung, die zu berücksichtigen ist.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist ja sehr wis-senschaftlich!)

– Wer in den letzten Wochen und Monaten die Auto-bahnauf- und -abfahrten und die dort entstandenen Schä-den besichtigt hat, der kann sich das ungefähr vorstellen,ohne Physiker zu sein.

Ich brauche zum Thema CO2-Minderungspro-gramm nicht mehr viel zu sagen. Es wurde von allenRednern angesprochen; gestern schon wurde es von un-serem Fraktionsvorsitzenden hoch gelobt. Das belegt:Wenn man die richtigen Anreize setzt, werden sie vonden Menschen genutzt und die Wirtschaft springt an. Da-von gehen positive Impulse aus, und zwar im Hinblickauf die CO2-Minderung, auf Energieeinsparung und ins-besondere auf den Arbeitsmarkt. Das sollte in besonde-rer Weise gewürdigt werden. Es findet auch entspre-chende Würdigung; viele sind mittlerweile ganz stolz.Kollege Hübner hat es erwähnt: Wir haben in dieser Wo-che im Haushaltsausschuss die Weichen dafür gestellt,dass kein Strömungsriss entsteht und zügig weiterge-macht werden kann – dafür sollen Mittel in Höhe von

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Bartholomäus Kalb

350 Millionen Euro vorgezogen werden –, weil es sichwirklich um ein sehr nützliches Programm handelt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowieder Abg. Anna Lührmann [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN])

Die Bundeskanzlerin hat gestern ausgeführt – ichhabe es, soweit ich das in der Eile konnte, sinngemäßmitgeschrieben –: Aus Ideen müssen wieder Produktewerden. Es hat keinen Sinn, wenn aufgrund unsererIdeen in anderen Ländern Produkte entstehen. Das musswieder bei uns geschehen. – Diese Sätze sind ausdrück-lich zu unterstreichen.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr wahr!)

Ich greife nur einen Aspekt heraus: Was die Kanzleringesagt hat, gilt auch für die bei uns entwickelte Idee desTransrapids, der Magnetschwebebahntechnologie.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und der FDP)

Wir sollten hier versuchen, bald Nägel mit Köpfen zumachen. Ich würde es sehr begrüßen, wenn die Verhand-lungen zwischen dem Bundesministerium und der Baye-rischen Staatsregierung bald erfolgreich zum Abschlussgebracht würden, sodass dieses Projekt in die Tat umge-setzt werden kann. Wir sollten beweisen, dass wir ausIdeen, aus Entwicklungen nutzbringende Anwendungenim Lande schaffen können, wodurch wir uns internatio-nal Marktchancen eröffnen.

In dieser Debatte ist heute schon viel über den anste-henden Börsengang der DB AG gesprochen worden. Ichmache keinen Hehl daraus, dass ich eine differenzierteMeinung dazu habe. Es hätte keinen Sinn, den Mei-nungsbildungsprozess, der in der Fraktion und innerhalbder Koalition stattfindet, weiter auszutragen. Mir geht esnur darum, darauf zu achten, dass wir durch den anste-henden Prozess keine Effizienz- und Wettbewerbsver-luste der Schiene und unseres Unternehmens erleiden,und die Interessen der Beschäftigten zu berücksichtigen.Es muss auch deutlich gemacht werden – das will ich alsHaushälter tun –, dass ich nicht die Erwartung einigermeiner Kollegen an einige Modelle, zum Beispiel an dasEigentumsmodell, teile, dass der Bundeshaushalt da-durch entlastet wird. Der Bund wird vielmehr auch inZukunft erhebliche finanzielle Verantwortung haben. Ichsehe keine Möglichkeiten, die finanziellen Risiken desBundes zu mindern.

(Zuruf des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP])

– Ich will diese Diskussion hier nicht führen. Ich will nurdarauf hinweisen, dass man keinen falschen Hoffnungenanhängen sollte.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich erinnere nur daran, dass der Schienenmarkt in Eu-ropa ab Januar liberalisiert wird. Wir müssen darauf ach-ten, dass wir dann nicht noch mit der Diskussion überdie Gestaltung der Umstrukturierung und einen mögli-chen Börsengang beschäftigt sind.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Mach dochnicht alles, was dir die Deutsche Bahn er-zählt!)

– Nein. – Ich möchte nicht erleben, dass wir noch überdie Frage der Aufteilung diskutieren, während anderebereits die Märkte in Europa unter sich aufteilen. Das istsicherlich vernünftig und richtig.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das widerspricht auch nicht der Linie, auf die wir unsgemeinsam geeinigt haben.

Ich möchte abschließend noch ein Thema aufgreifen,Herr Minister.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, gerade Sie als letzter Redner sollten

Ihre Redezeit nicht unbedingt überziehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Herr Präsident, erlauben Sie mir eine abschließende

Bemerkung. Der Bundesminister ist kritisiert worden,weil er vorgeschlagen hat, unter Umständen Hartz-IV-Empfänger als Begleiter in öffentlichen Verkehrsmit-teln einzusetzen. Ich glaube, es ist durchaus zumutbarund richtig, dass jemand, der gesund ist und Transfer-leistungen bekommt, für gemeindienliche Tätigkeiteneingesetzt werden kann. Arbeit ist nach meiner Überzeu-gung nicht nur eine Bürde, sie gehört auch zu einem er-füllten Leben.

(Zuruf des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP])

– Wenn ich noch auf den Zuruf eingehen darf – –

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Nein, Herr Kollege, Sie sollten zum Schluss kommen.

Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Viele im ländlichen Raum wären froh und dankbar,

wenn in den Schulbussen Begleiter wären, die sich einbisschen kümmern würden. Das hat nichts mit Terroris-musbekämpfung zu tun.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf Freitag, den 8. September 2006, 9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche einen heite-ren Abend und eine gute Nacht.

(Schluss: 21.43 Uhr)

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Anlagen zum Stenografischen Bericht

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Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-sammlung des Europarates

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

Ahrendt, Christian FDP 07.09.2006

Bär, Dorothee CDU/CSU 07.09.2006

Bätzing, Sabine SPD 07.09.2006

Bellmann, Veronika CDU/CSU 07.09.2006

Brand, Michael CDU/CSU 07.09.2006

Goldmann, Hans-Michael

FDP 07.09.2006

Groneberg, Gabriele SPD 07.09.2006

Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 07.09.2006

Hilsberg, Stephan SPD 07.09.2006

Höfer, Gerd SPD 07.09.2006*

Homburger, Birgit FDP 07.09.2006

Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

07.09.2006

Dr. Jung, Franz Josef CDU/CSU 07.09.2006

Kühn-Mengel, Helga SPD 07.09.2006

Kunert, Katrin DIE LINKE 07.09.2006

Meckel, Markus SPD 07.09.2006

Meierhofer, Horst FDP 07.09.2006

Pflug, Johannes SPD 07.09.2006

Polenz, Ruprecht CDU/CSU 07.09.2006

Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 07.09.2006

Dr. Staffelt, Ditmar SPD 07.09.2006

Wieczorek-Zeul, Heidemarie

SPD 07.09.2006

Zapf, Uta SPD 07.09.2006

Anlage 2

Erklärung

des Abgeordneten Jörg van Essen (FDP) zurAbstimmung über die Beschlussempfehlung zudem Antrag: Entlastung der Bundesregierungfür das Haushaltsjahr 2004 – Vorlage der Haus-halts- und Vermögensrechnung des Bundes(Jahresrechnung 2004) (Tagesordnungspunkt 3 a)

Namens der Fraktion der FDP erkläre ich, dass unserVotum „Enthaltung“ lautet.

Anlage 3

Erklärung nach § 31 GO

der Abgeordneten Ute Koczy, Undine Kurth(Quedlinburg), Cornelia Behm, Sylvia Kotting-Uhl, Bärbel Höhn, Winfried Hermann, Dr.Anton Hofreiter, Peter Hettlich und UlrikeHöfken (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zurAbstimmung über den Antrag: Die weltweitletzten 100 westpazifischen Grauwale schützen(Zusatztagesordnungspunkt 3)

Wir begrüßen es, dass sich die große Koalition end-lich mit den gravierenden Auswirkungen des Ölförder-projektes Sachalin II auf die Artenvielfalt beschäftigtund die Bundesregierung zum Handeln auffordert. Lei-der lässt der Antrag die notwendige Klarheit in den Auf-forderungen an die Bundesregierung vermissen. Esreicht nicht aus, die Schädigung der akut bedrohtenGrauwalpopulation „soweit irgend möglich“ zu vermei-den.

Zudem suggeriert der Antrag der Koalition, dassdurch Umweltauflagen der Osteuropabank – Europäi-sche Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, EBWE –die Umweltschäden und insbesondere das Aussterbender letzten westpazifischen Grauwalpopulation abzu-wenden seien. Dies entspricht nicht der Realität. 75 Pro-zent des Projekts wurden bereits realisiert. Das Konsor-tium Sakhalin Energy Investment Company Ltd. – SEIC– hat beim Bau von Sachalin II bereits gegen zahlreicheStandards verstoßen, die für die Osteuropabank und dieWeltbank – IFC – grundsätzlich zu den Voraussetzungeneiner Finanzierungsbeteiligung zählen. Dazu gehört un-ter anderem, dass mit der Umsetzung des Projekts vorOrt begonnen wurde, ohne die Umweltbeeinträchtigun-gen anhand einer Umweltverträglichkeitsprüfung unter-suchen zu lassen. Die Folgen für die Natur und die Men-schen vor Ort sind katastrophal. Schlimmeres ist nur zuverhindern, wenn das Projekt gestoppt wird. Keinesfallsdarf solcherart Umweltfrevel mit einem Kredit der Ost-europabank finanziert werden.

Anders als die große Koalition fordern wir deshalb inunserem Antrag „Schaden von der Reputation der Osteu-ropabank abwenden – Das Öl- und Gasprojekt Sachalin

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II als Lackmustest für die Einhaltung internationalerUmwelt- und Sozialstandards“ – Drucksache 16/1668 –vom 31. Mai 2006 die Bundesregierung auf, die Kredit-vergabe an das Konsortium Sakhalin Energy InvestmentCompany zu verweigern.

Das Fördergebiet um die Pazifikinsel Sachalin ist daseinzige sommerliche Nahrungsgebiet der verbliebenenGrauwalpopulation. Vergeblich warnen internationaleFachleute, dass Lärm und Verschmutzung durch dieBohrinseln, ihre Versorgungsschiffe und die Seepipe-lines die Wale regelrecht verhungern ließen. Setzen wiruns nicht für den Erhalt dieses Nahrungshabitats ein, ris-kieren wir das Aussterben dieser Art.

Die Koalition hat zudem die Dramatik der Ereignissevor und auf Sachalin nicht in ihrem vollen Ausmaß er-kannt. Gefährdet sind nicht nur die letzten 100 westpazi-fischen Grauwale. Gefährdet ist die gesamte Artenviel-falt Sachalins. Quer durch die ganze Insel wurde eine800 Kilometer lange unterirdische Pipeline verlegt, umdas Öl an den Hafen der Aniva-Bucht zu befördern.Beim Bau der Pipelines wurden hunderte Flussläufefahrlässig verschlammt und große Mengen Bauschutts inder sensiblen Aniva-Bucht verklappt. Existenziell ge-fährdet ist dadurch auch die Wirtschaft auf Sachalin, diezu über 30 Prozent vom Fischfang abhängig ist. DieFänge der lokalen Fischer sind seit dem Bau der Pipelinestark zurückgegangen.

Die Osteuropabank verbindet ihre Kreditzusagen mitder Einhaltung international gültiger Sozial- und Um-weltstandards. Aufgrund der im Regelfall äußerst auf-merksamen Prüfung von Finanzierungsanträgen durch

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- uVertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 1

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die EBWE hätte eine Beteiligung an Sachalin II Signal-wirkung auch für andere Banken. Eine Entscheidung derOsteuropabank für eine Finanzierungsbeteiligung an Sa-chalin II würde ein starkes Signal der Aufweichung vonStandards an zukünftige ähnliche Erschließungsvorha-ben aussenden. Zudem würde die Osteuropabank durcheinen Ölunfall vor oder auf dem stark erdbebengefährde-ten Sachalin in besonders akutem Maße an Reputationverlieren.

Jetzt hat sich auch das russische Umweltaufsichtsamtder vehementen nationalen und internationalen Kritikangeschlossen. Aufgrund der Nichteinhaltung von Um-weltstandards musste der Bau der Pipelines bereits imAugust 2006 vorübergehend eingestellt werden. Am5. September 2006 hat das russische Ressourcenministe-rium zudem bekannt gegeben, dass es eine Klage gegenden Weiterbau des Projekts eingereicht hat. Die russi-sche Regierung bezieht damit klar Stellung. Deutschlandsollte hinter dieser Position nicht zurückfallen. Jetzt istes an der Zeit, dass sich die Bundesregierung im Auf-sichtsrat der Osteuropabank gegen eine Kreditvergabeeinsetzt. Deutschland darf die verheerenden Umweltver-stöße von Sakhalin Energy Ltd, nicht im Nachhinein le-gitimieren. Würde die Bundesregierung im Aufsichtsratder Osteuropabank für eine Kreditvergabe stimmen, tätesie genau das.

Obwohl die Absicht der großen Koalition, die letzten100 Grauwale vor dem Aussterben zu bewahren, richtigist, geht uns der Antrag nicht weit genug. Aufgrund derbeschriebenen Mängel kann dem Antrag nicht zuge-stimmt werden.

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