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Zugeleitet mit Schreiben des Bundesministeriums für Familie, Frauen und Jugend vom 18. Oktober 2000 gemäß Beschluss des Deutschen Bundestages vom 10. Dezember 1982 – Drucksache 9/1286. Deutscher Bundestag Drucksache 14/4357 14. Wahlperiode 20. 10. 2000 Sechster Familienbericht Familien ausländischer Herkunft in Deutschland Leistungen – Belastungen – Herausforderungen und Stellungnahme der Bundesregierung Inhaltsverzeichnis Seite A Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht der Sachver- ständigenkommission – Sechster Familienbericht . . . . . . . . . . . XI Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI 1. Familien ausländischer Herkunft im Prozess der Differenzierung und Pluralisierung der modernen Gesellschaft in Deutschland . . . . . . . . . XII 1.1 Neue Herausforderungen für die Familienpolitik: Familien im Wandel . . XII 1.2 Vielfalt und Differenziertheit von Familien ausländischer Herkunft . . . . . XIII 1.3 Politische und rechtliche Rahmenbedingungen für Migration und Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIV 1.4 Neue Phase der Ausländerpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIV 2. Migration als Familienprojekt: Integrationsleistungen der Familien ausländischer Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV 2.1 Partnerwahl und Heiratsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVI 2.2 Innerfamiliale Aufgabenverteilung und Geschlechterrollen, Veränderungen in der Lebenssituation von Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVI 2.3 Generationenbeziehungen – Übereinstimmungen und Konflikte . . . . . . . XVIII 2.4 Stärkung der Erziehungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIX 2.5 Ältere Menschen ausländischer Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XX 3. Lebenslagen von Familien ausländischer Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . XXI 3.1 Erwerbssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXII 3.2 Einkommenssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIII Unterrichtung durch die Bundesregierung

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Zugeleitet mit Schreiben des Bundesministeriums für Familie, Frauen und Jugend vom 18. Oktober 2000 gemäßBeschluss des Deutschen Bundestages vom 10. Dezember 1982 – Drucksache 9/1286.

Deutscher Bundestag Drucksache 14/435714. Wahlperiode 20. 10. 2000

Sechster FamilienberichtFamilien ausländischer Herkunft in DeutschlandLeistungen – Belastungen – Herausforderungen

und

Stellungnahme der Bundesregierung

I n h a l t s v e r z e i c h n i sSeite

A Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht der Sachver-ständigenkommission – Sechster Familienbericht . . . . . . . . . . . XI

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI

1. Familien ausländischer Herkunft im Prozess der Differenzierung und Pluralisierung der modernen Gesellschaft in Deutschland . . . . . . . . . XII

1.1 Neue Herausforderungen für die Familienpolitik: Familien im Wandel . . XII

1.2 Vielfalt und Differenziertheit von Familien ausländischer Herkunft . . . . . XIII

1.3 Politische und rechtliche Rahmenbedingungen für Migration und Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIV

1.4 Neue Phase der Ausländerpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIV

2. Migration als Familienprojekt: Integrationsleistungen der Familien ausländischer Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV

2.1 Partnerwahl und Heiratsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVI

2.2 Innerfamiliale Aufgabenverteilung und Geschlechterrollen, Veränderungen in der Lebenssituation von Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVI

2.3 Generationenbeziehungen – Übereinstimmungen und Konflikte . . . . . . . XVIII

2.4 Stärkung der Erziehungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIX

2.5 Ältere Menschen ausländischer Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XX

3. Lebenslagen von Familien ausländischer Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . XXI

3.1 Erwerbssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXII

3.2 Einkommenssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIII

Unterrichtungdurch die Bundesregierung

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Drucksache 14/4357 – II – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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3.3 Bildung und Ausbildung im Migrationszusammenhang . . . . . . . . . . . . . . XXIII

3.4 Deutsche Sprachkenntnisse und Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXV

3.5 Wohnen und soziales Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXVI

3.6 Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus . . . . . . . . . . . . . . XXVI

3.7 Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXVIII

3.8 Pflege älterer Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIX

4. Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXX

B Sechster FamilienberichtFamilien ausländischer Herkunft in DeutschlandLeistungen – Belastungen – Herausforderungen . . . . . . . . . . . . 1

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

I.1 Auftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

I.2 Aufgabenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

I.3 Annäherung an den Gegenstand: Familien ausländischer Herkunft . . . . . 6

II. Migrantenfamilien als konstitutiver Bestandteil derDifferenzierung und Pluralisierung moderner Gesellschaften . . . . . . 18

II.1 Migration als Dauerphänomen im Bevölkerungsprozess . . . . . . . . . . . . . 18

II.2 Migration unter den Bedingungen beginnender Globalisierungsprozesse . 21

II.3 Wechselwirkungen zwischen der Pluralisierung moderner Gesellschaftenund Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

III. Zuwanderung und Eingliederung inDeutschland seit dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

III.1 Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland:Deutschland im Einwanderungskontinent Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

III.2 Arbeitswanderungen – Ausländerbeschäftigung – Einwanderungssituation 34

III.2.1 Von der Arbeitswanderung zur Einwanderung:die Bundesrepublik Deutschland bis zum Vereinigungsprozess . . . . . . . . 34

III.2.2 Arbeitswanderung und Ausländerbeschäftigung in der DDR . . . . . . . . . . 42

III.2.3 Appellatives Dementi und praktische Akzeptanz der Einwanderungs-situation im vereinigten Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

III.3 Flüchtlinge und Asylsuchende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

III.3.1 Flüchtlinge und Asylsuchende im Kalten Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

III.3.2 Flüchtlinge und Asylsuchende im vereinigten Deutschland . . . . . . . . . . . 50

III.4 Aussiedler in der Bundesrepublik Deutschland und im vereinigtenDeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

III.5 Illegale Zuwanderungen und irreguläre Aufenthalte . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

III.6 Daten zur demographischen Entwicklung und räumlichen Verteilung der Bevölkerung ausländischer Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – III – Drucksache 14/4357

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III.6.1 Einbürgerungen und Aufenthaltsdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

III.6.2 Räumliche Verteilung der ausländischen Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . 65

III.6.3 Altersstruktur der ausländischen Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

III.6.4 Geburten, Sterbefälle und Familienstand der ausländischen Bevölkerung 68

IV. Phasen und Lebensformen von Familien ausländischer Herkunft . . . 75

IV.1 Besondere Probleme der Beschreibung und Erklärung von Veränderungsprozessen in Familien ausländischer Herkunft . . . . . . . . . . 75

IV.2 Heiratsmärkte, Partnerwahl und Eheschließung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

IV.3 Geschlechterrollen und Aufgabenverteilung in der Ehe . . . . . . . . . . . . . . 89

IV.3.1 Ausländerinnen in der Wahrnehmung der Aufnahmegesellschaft . . . . . . . 89

IV.3.2 Veränderungen in den Ehegattenbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

IV.4 Intergenerative Beziehungen in Familien ausländischer Herkunft . . . . . . 95

IV.4.1 Generatives Verhalten und Familienbildungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . 101

IV.4.2 Erziehungsziele und familiäre Sozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

IV.5 Verwandtschaftskontakte und außerfamiliäre Netzwerke . . . . . . . . . . . . . 111

IV.5.1 Verwandtschaftsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

IV.5.2 Mitgliedschaft in ethnischen Vereinigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

IV.6 Ältere Menschen ausländischer Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

IV.6.1 Ältere Aussiedler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

IV.6.2 Ältere ausländischer Herkunft: Prognosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

IV.6.3 Wanderungsverhalten älterer Menschen ausländischer Herkunft . . . . . . . 118

IV.6.4 Lebenslagen der Älteren ausländischer Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

IV.6.5 Familienpotenziale der Älteren ausländischer Herkunft . . . . . . . . . . . . . . 120

IV.6.6 Bedingungen der Lebensgestaltung älterer Migranten . . . . . . . . . . . . . . . 122

IV.7 Remigration und Pendelmigration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

V. Familien ausländischer Herkunft in der Sozialstruktur derBundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

V.1 Lebenslagen von Familien ausländischer Herkunftim Sozialsystem der deutschen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

V.1.1 Die Verlaufsphasen der Migrationsprojekte bestimmen die Lebenslagen der Familien ausländischer Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

V.1.2 Leistungen und Belastungen in den Familienzyklusphasen im Zusammenhang mit Zeitereignissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

V.1.3 Lebenslagen von Aussiedlerfamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

V.2 Erwerbsarbeit und Lebenslagen ausländischer Familien undPrivathaushalte ausgewählter Nationalitäten im Vergleich . . . . . . . . . . . . 138

V.2.1 Zahl und Struktur der Familien im Vergleich der Lebenslagenvon Zuwanderern ausgewählter Nationalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

V.2.2 Überwiegender Lebensunterhalt, Haushaltsnettoeinkommen undVermögensbestände der Familien ausländischer Herkunft . . . . . . . . . . . . 142

V.2.3 Erwerbsarbeit der Frauen und Mütter ausländischer Herkunft . . . . . . . . . 144

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Seite

V.2.4 Struktur der Beschäftigung ausländischer Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148

V.2.5 Selbständigkeit im familienwirtschaftlichen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . 151

V.2.6 Erwerbschancen der zweiten Generation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

V.2.7 Der informelle Frauenarbeitsmarkt und die gefragten „weiblichen“Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

V.3 Wohnversorgung der Familien ausländischer Herkunft und ihr Wohnumfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

V.3.1 Wohnversorgung und Wohnungsausstattung der Familienausländischer Herkunft im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

V.3.2 Die Heterogenität der regionalen Lebensumfelder fürFamilien ausländischer Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

V.3.3 Siedlungsstrukturen und Ausländeranteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

V.3.4 Unterschiedliche regionale Lebensumfelder für ausländischeFamilien − ein Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

V.3.5 Sesshaftigkeit und Interesse an Wohneigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

V.3.6 Wohnumfeld und Infrastruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

V.3.7 Wohnwünsche von Ausländern und Wohnungsmärkte . . . . . . . . . . . . . . . 161

V.3.8 Konzepte zur Wohnintegration von Ausländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162

V.4 Selbsthilfepotenziale von Familien ausländischer Herkunft und ihreNetzwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

V.4.1 Selbsthilfeinitiativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

V.4.2 Migrantenselbstorganisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

V.5 Migration und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

V.5.1 Voraussetzungen und Platzierungsverhalten der Familienausländischer Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

V.5.2 Bilingualismus als Orientierung in Familien ausländischer Herkunft . . . . 172

V.5.3 Arbeiterkinder, Seiteneinsteiger und Besonderheiten der Länder . . . . . . . 174

V.5.4 Bildungsbeteiligung der Kinder aus Familien ausländischer Herkunft . . . 176

V.5.5 Migrantenkinder in Sonderschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

V.5.6 Jugendliche in der beruflichen Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

V.5.7 Aussiedlerfamilien und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

V.5.8 Familien- und Elternbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

V.6 Migration und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

V.6.1 Forschungsstand und methodische Schwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

V.6.2 Gesundheitliche Risiken bei Familien ausländischer Herkunft . . . . . . . . . 188

V.6.3 Typische Gesundheitsprobleme bei Familien ausländischer Herkunft . . . . 189

V.6.4 Gesundheitliche Versorgung von Kindern in Migrantenfamilien . . . . . . . 194

V.6.5 Pflege älterer Menschen in Familien ausländischer Herkunft . . . . . . . . . . 195

V.6.6 Sucht in Migrantenfamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

V.6.7 Gesundheitsfragen bei Aussiedlerfamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

V.6.8 Familienberatung in gesundheitlichen Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – V – Drucksache 14/4357

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VI. Kurzgefasste Ergebnisse der Kapitel IV und V . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

VII. Entwicklungspotenziale und Zukunftsszenarien für Familienausländischer Herkunft in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

VIII. Konsequenzen und Empfehlungen für die Politik . . . . . . . . . . . . . . . . 215

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

Verzeichnis der Abbildungen

III.1 Ausländische Bevölkerung in Deutschland nach derStaatsangehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

III.2 Zu- und Fortzüge von Ausländern über die Grenzen der Bundes-republik Deutschland sowie Wanderungssaldo, 1955–1996 . . . . . . . . . . . 33

III.3 Anzahl der ausländischen Bevölkerung sowie ihr Anteil an der Wohn-bevölkerung 1951 bis 1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

III.4 Entwicklung der Asylantragszahlen und Anerkennungsquoten1972 bis 1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

III.5a Asylanträge nach den Hauptherkunftsländern 1986 . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

III.5b Asylanträge nach den Hauptherkunftsländern 1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

III.6 Zahl der Aussiedler nach den drei wichtigsten Herkunftsländern1983 bis 1996 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

III.7 Ausländeranteil in Deutschland nach Kreisen 1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

III.8 Ausländeranteil in München nach Stadtbezirken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

III.9a Altersaufbau der ausländischen Bevölkerung im früherenBundesgebiet am 31.12.1970 (in Prozent) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

III.9b Altersaufbau der ausländischen Bevölkerung im früherenBundesgebiet am 31.12.1985 (in Prozent) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

III.9c Altersaufbau der ausländischen Bevölkerung im früherenBundesgebiet 31.12.1997 (in Prozent) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

III.9d Altersaufbau der deutschen Bevölkerung im früherenBundesgebiet 31.12.1997 (in Prozent) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

III.10a Lebendgeborene nach Staatsangehörigkeit der Eltern, 1975(Früheres Bundesgebiet) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

III.10bLebendgeborene nach Staatsangehörigkeit der Eltern, 1996(Deutschland) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

IV.1 Die Entwicklung der Eheschließungen von deutschen Männern mitausländischen Frauen der im Jahr 1997 häufigsten Nationalitäten seit 1959 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

IV.2 Die Entwicklung der Eheschließungen von deutschen Frauen mit ausländischen Männern der im Jahr 1997 häufigsten Nationalitäten seit 1959 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

IV.3 Selbst- und Fremdbild deutscher Frauen und türkischer Migrantinnen . . . 90

V.1 Ausländische Familien nach Altersjahrgängen, Familienzyklusphasenund Zeitereignissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

V.2 Haushaltsnettoeinkommen der deutschen, binationalen und ausländischenEhepaare, Schichtung in Prozent – Früheres Bundesgebiet 1995 . . . . . . . 142

V.3 Erwerbsquoten von ausländischen und deutschen Männern 1975–1997 . . 144

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Drucksache 14/4357 – VI – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Seite

V.4 Erwerbsquoten von ausländischen und deutschen Frauen 1975–1997 . . . 145

V.5 Arbeitslosenquoten 1980–1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

V.6 Anteile mittlerer und höherer Bildungsabschlüsse bei ausländischen Schulabsolventen, 1985–1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

V.7 Deutsche und ausländische Schüler nach Schulabschlussarten1997/98 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

V.8 Ausländeranteile in verschiedenen allgemeinbildenden Schultypen nach Bundesländern (West) 1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

V.9 Schulische Bildung von ausländischen Vätern und Kindern . . . . . . . . . . . 182

V.10 Säuglingssterblichkeit je 1000 Lebendgeborene in der BundesrepublikDeutschland nach der Staatsangehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

Verzeichnis der Tabellen

III.1 Einbürgerungen in die Bundesrepublik Deutschlandnach den fünf häufigsten Staatsangehörigkeiten 1981–1996 . . . . . . . . . . . 64

III.2 Ausländische Bevölkerung nach ausgewählten Staatsangehörigkeiten undAufenthaltsdauer am 31.12.1997 – Anzahl der Personen in Tausend . . . . 65

III.3 Geburten, Sterbefälle und Geburtensaldo nach der Staatsange-hörigkeit 1960–1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

III.4 Gestorbene und altersgruppenspezifische Sterbeziffern der Gesamtbe-völkerung und der ausländischen Bevölkerung in Deutschland 1997 . . . . 72

III.5a Deutsche Bevölkerung nach Altersgruppen und Familienstandam 31.12.1997 (in Prozent) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

III.5b Ausländische Bevölkerung nach Altersgruppen und Familienstandam 31.12.1997 (in Prozent) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

IV.1 Typologie der Partnerwahl im Einwanderungskontext . . . . . . . . . . . . . . . 79

IV.2 Binationale Eheschließungen und Geburten 1996(Früheres Bundesgebiet) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

IV.3 Die zehn häufigsten Nationalitäten deutsch-ausländischer Eheschließungen im Jahr 1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

IV.4 Einstellung ausländischer Eltern zur Heirat ihrer Kinder mit Deutschennach Nationalität und Geschlecht der Befragten 1985 und 1995(in Prozent) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

IV.5 Bereitschaft unverheirateter ausländischer Frauen und Männer zu einerEhe mit Deutschen (in Prozent) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

IV.6 Wahrscheinlichkeitseinschätzung einer Heirat mit einem einheimischenEhepartner bei italienischen, griechischen, türkischen und Aussiedler-Jugendlichen und ihren Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

IV.7 Soziale Distanz zu Angehörigen verschiedener Zuwanderungsgruppen . . 86

IV.8 Bildungshomogame und -heterogame binationale Partnerschaftenund Ehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

IV.9 Altersabstand und Heiratsalter in binationalen Ehen . . . . . . . . . . . . . . . . 87

IV.10 Aufgabenverteilung zwischen den Ehepartnern in Familien ausländischerHerkunft und in nichtgewanderten deutschen Familien . . . . . . . . . . . . . . 93

IV.11 Werte von Kindern für ihre Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

IV.12 Kosten von Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – VII – Drucksache 14/4357

Seite

IV.13 Erwartungen von Hilfeleistungen an Söhne und Töchter . . . . . . . . . . . . . 99

IV.14 Zusammengefasste Geburtenziffern für Westdeutsche und Ausländerinnen in der Bundesrepublik Deutschland 1975–1993 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

IV.15 Familienbildungsprozess bei türkischen Migrantinnen und nichtgewanderten Türkinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

IV.16 Entwicklung des Altenanteils (60-Jährige und Ältere) in der deutschen und ausländischen Bevölkerung bis 2030 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

IV.17 Zu- und Fortzüge von Ausländern, 1974–1994 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

V.1 Ehepaare ohne und mit Kindern nach ausgewählten Staatsangehörig-keiten – Früheres Bundesgebiet 1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

V.2 Alleinerziehende nach ausgewählter Staatsangehörigkeit – FrüheresBundesgebiet 1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

V.3 Deutsche und ausländische Alleinerziehende nach dem Familienstand – Früheres Bundesgebiet 1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

V.4 Verheiratet, getrennt lebende ausländische Alleinerziehende und Anteilder (noch) im Heimatland verbliebenen Ehepartner – Früheres Bundes-gebiet 1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

V.5 Deutsche, binationale und ausländische Ehepaare nach der Beteiligung am Erwerbsleben – Früheres Bundesgebiet 1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

V.6 Ausländische Ehepaare ausgewählter Staatsangehörigkeit nach der Betei-ligung am Erwerbsleben – Früheres Bundesgebiet 1995 . . . . . . . . . . . . . 147

V.7 Deutsche und ausländische Erwerbstätige nach Stellung im Beruf1984/89 und 1991/95 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

V.8 Deutsche und ausländische Erwerbstätige nach Stellung im Beruf undGeschlecht 1994 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

V.9 Berufsstatus der erwerbstätigen Ehemänner – Früheres Bundes-gebiet 1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

V.10 Berufsstatus der erwerbstätigen Ehefrauen – Früheres Bundes-gebiet 1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

V.11 Angaben der Arbeitnehmerhaushalte deutscher, binationaler und aus-ländischer Ehepaare mit Kindern zu ihrem Wohnverhältnis . . . . . . . . . . . 154

V.12 Ausstattung mit ausgewählten langlebigen Gebrauchsgütern der Arbeit-nehmerhaushalte der Ehepaare mit Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

V.13 Siedlungsstrukturelle Kreistypen und Ausländeranteil 1995 . . . . . . . . . . . 157V.14 Lebensumfeld-Unterschiede im Untersuchungs-Korridor

Hannover–Lüchow-Dannenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

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Drucksache 14/4357 – VIII – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Mitglieder der Sachverständigenkommission für den Sechsten Familienbericht

Prof. Dr. Klaus J. BadeUniversität Osnabrück, Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien

Prof. Dr. Maria Dietzel-Papakyriakou (Stellvertretende Vorsitzende)Universität Gesamthochschule Essen, Fachbereich Erziehungswissenschaften, Psychologie und Sport

Prof. Dr. Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny (Vorsitzender)Soziologisches Institut der Universität Zürich

Prof. Dr. Bernhard NauckLehrstuhl für Soziologie I der Technischen Universität Chemnitz

Prof. Dr. Rosemarie von SchweitzerUniversität Gießen, Institut für Wirtschaftslehre des Haushalts und Verbrauchsforschung

Geschäftsführung der Kommission

Annemarie Gerzer-SassMonika JaeckelJürgen SassSachbearbeitung: Gisela Schweikl

Deutsches Jugendinstitut e. V.Nockherstr. 2, 81541 MünchenPostfach 90 03 52, 81503 MünchenTel.: (0 89) 6 23 06-0Fax: (0 89) 6 23 06-1 62

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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – IX – Drucksache 14/4357

Expertisen zum Sechsten Familienbericht

Alamdar-Niemann, Monika Erziehungsstile und Erziehungseinstellungen in Migrantenfamilien

Diekmann, Hanjo Die italienischen Familien in Deutschland

Eichenhofer, Eberhard Familien ausländischer Herkunft im deutschen und europäischenSozialrecht – Probleme und Gestaltungsaufgaben***

Eichenhofer, Eberhard Die privatrechtliche Stellung ausländischer Familien in Deutschland***

Gaitanides, Stefan Arbeit mit Migrantenfamilien – Aktivitäten der Wohlfahrtsverbändeund der Selbstorganisationen**

Gille Martina u. a. Bereit zur politischen Teilhabe: Orientierungen und Handlungsbereit-schaften ausländischer Jugendlicher und junger Erwachsener inDeutschland*

Gogolin, Ingrid Bildung und ausländische Familien**

Herwartz-Emden, Leonie und Akkulturationsstrategien im Generationen- und Geschlechtervergleich Westphal, Manuela bei eingewanderten Familien*

Heuwinkel, Dirk und Die Situation der Ausländer in ihrem Lebensumfeld**Schubert, Herbert

Hillmann, Felicitas Familien ausländischer Herkunft und ihre Integration in den formellendeutschen Arbeitsmarkt sowie in informelle Arbeitsverhältnisse unterbesonderer Berücksichtigung der geschlechtsbezogenen Unterschiede

Jaeckel, Monika und Zur Situation von Familien ausländischer Herkunft im Spiegel ihresGerzer-Sass, Annemarie Lebensalltags**

Klein, Thomas Partnerwahl zwischen Deutschen und Ausländern*

Kohlmann, Annette Entscheidungsmacht und Aufgabenallokation in Migrantenfamilien*

Kontos, Maria Zur Bedeutung der Familie bei griechischen Migranten unter be-sonderer Berücksichtigung der weiblichen Familienangehörigen

Korporal, Johannes Zur gesundheitlichen Situation von Familien mit nicht deutscherStaatsangehörigkeit innerhalb der Wohnbevölkerung der Bundes-republik Deutschland**

Mammey, Ulrich Aussiedlerhaushalte und -familien in Deutschland

Nauck, Bernhard Eltern-Kind-Beziehungen in Migrantenfamilien – ein Vergleich zwischen griechischen, italienischen, türkischen und vietname-sischen Familien in Deutschland*

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Drucksache 14/4357 – X – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Niephaus, Yasemin Allgemeine Belastungen von Familien in der Migration* – Auswertungder Daten der Surveys zu Familien ausländischer Herkunft

Niesner, Elvira Interkulturelle Familien: Deutsche Männer und ausländische Frauen imGrenzbereich von Frauenhandel und informeller Reproduktionsarbeit

Renner, Günter Zur rechtlichen Lage ausländischer Familien in Deutschland***

Ritterbusch, Heike Zuwanderung und Eingliederung von Familien ausländischer Herkunftin Deutschland seit der deutsch-italienischen Anwerbevereinbarung1955

Roloff, Juliane Sonderauswertung des Mikrozensus 1995 und der Einkommens- undVerbrauchsstichprobe 1993 zu ausgewählten Aspekten der Lebens-situation ausländischer Familien in Deutschland

Schwarz, Karl Die Ausländer in Deutschland – demographische Aspekte

Seifert, Wolfgang Intergenerationale Bildungs- und Erwerbsmobilität

Straßburger, Gaby Das Heiratsverhalten von Frauen und Männern ausländischer Herkunftim Einwanderungskontext der Bundesrepublik Deutschland

Weidacher, Alois Vorfeld und Phase der Haushalts- und Familiengründung: Junge Er-wachsene aus Migrantenfamilien und deutschen Familien im Vergleich*

* Diese Expertisen erscheinen – teilweise gekürzt – in: Expertisen zum Sechsten Familienbericht, Band 1: Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Empirische Beiträge zur Familienentwick-lung und Akkulturation. Opladen: Leske und Budrich 2000.

** Diese Expertisen erscheinen – teilweise gekürzt – in: Expertisen zum Sechsten Familienbericht, Band 2: Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Beiträge aus der Praxis zur Darstellung ihrer Lebensumfelder. Opladen: Leske und Budrich 2000.

*** Diese Expertisen erscheinen – teilweise gekürzt – in: Expertisen zum Sechsten Familienbericht,Band 3: Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Rechtliche Rahmenbedingungen. Opladen:Leske und Budrich 2000.

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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – XI – Drucksache 14/4357

Der Deutsche Bundestag hat die Bundesregierungmit der Vorlage von Familienberichten beauftragtdurch die Entschließung vom 23. Juni 1965 (Druck-sache IV/3474), ergänzt und geändert durch

– Entschließung vom 18. Juni 1970 (DrucksacheVI/834),

– Beschluss vom 10. Dezember 1982 (Druck-sache 9/1982 und Drucksache 9/1286) und

– Beschluss vom 11. November 1993 (Druck-sache 12/5811 und Drucksache 12/189).

Die Bundesregierung wird darin unter anderem auf-gefordert, jeweils eine Kommission mit bis zu siebenSachverständigen einzusetzen und dem DeutschenBundestag in jeder zweiten Wahlperiode einen Be-richt über die Lage der Familien in der Bundesrepu-blik Deutschland mit einer Stellungnahme der Bun-desregierung vorzulegen. Dabei soll jeder dritteBericht die Situation der Familien möglichst umfas-send darstellen, während sich die übrigen Berichteausgewählten Schwerpunkten widmen können. DieBerichte sollen darüber hinaus Aufschluss geben, in-wieweit mit bereits getroffenen familienpolitischenMaßnahmen die angestrebten Ziele tatsächlich er-reicht werden. Mit seiner Entschließung vom 11. No-vember 1993 hat der Deutsche Bundestag gebeten,die künftigen Familien- und Jugendberichte um eineDarstellung der Situation der Kinder in der Bundes-republik zu ergänzen.

Der Erste Familienbericht war ein umfassender Be-richt; er wurde noch von der Bundesregierung selbsterstellt und am 25. Januar 1968 (Drucksache V/2532)vorgelegt. Der Zweite Familienbericht zum Thema„Familie und Sozialisation – Leistungen und Leis-tungsgrenzen der Familie hinsichtlich des Erzie-hungs- und Bildungsprozesses der jungen Genera-tion“ wurde dem Deutschen Bundestag am 15. April1975 (Drucksache 7/3502) zugeleitet, der Dritte Fa-milienbericht über die Lage der Familien in der Bun-desrepublik Deutschland am 20. August 1979 (Druck-sachen 8/3120, 8/3121), der Vierte Familienberichtüber „Die Situation der älteren Menschen in der Fa-milie“ am 13. Oktober 1986 (Drucksache 10/6145)und der Fünfte, der erste gesamtdeutsche Familienbe-richt, „Familien und Familienpolitik im geeintenDeutschland – Zukunft des Humanvermögens“ wurdeam 15. Juni 1994 (Drucksache 12/7560) vorgelegt.

Der Erste, der Dritte und der Fünfte Familienberichthaben die Situation der Familien umfassend dar-gestellt. Der Zweite und der Vierte Familienberichtwaren Schwerpunktberichte zu ausgewählten The-menbereichen. Der nunmehr vorgelegte Sechste Fa-milienbericht über „Familien ausländischer Herkunftin Deutschland – Leistungen – Belastungen – Her-ausforderungen“ ist wiederum ein Spezialbericht.

Am 14. März 1996 beauftragte die Bundesministerinfür Familie, Senioren, Frauen und Jugend eine Kom-mission aus fünf Sachverständigen mit der Erstel-lung des Sechsten Familienberichts. Entsprechendeiner Empfehlung des Bundesrates (Beschluss vom23. September 1994 – Bundesrats-Drucksache720/94) und einem Vorschlag der Kommission fürden Fünften Familienbericht erhielt die Kommissionden Auftrag, bis Juli 1999 die Situation ausländi-scher Familien in Deutschland darzustellen. DieSachverständigenkommission übergab ihren Berichtder Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauenund Jugend am 19. Januar 2000.

Die interdisziplinär zusammengesetzte Sachver-ständigenkommission hat ihren Bericht nicht aufFamilien mit ausländischer Staatsangehörigkeit be-schränkt, sondern alle Familien ausländischer Her-kunft in ihre Betrachtung einbezogen. Sie behan-delt daher sowohl ausländische und eingebürgerteals auch Aussiedlerfamilien, weil diese – unabhän-gig von ihrem Rechtsstatus – aus dem Auslandkommend, sich auf die Gesellschaft in Deutschlandeinstellen müssen. Der Kommission kam es dabeibesonders darauf an, der Prozesshaftigkeit der Ent-wicklung in Familien mit internationaler Migrati-onserfahrung, aber auch der Entwicklung des Ver-hältnisses zwischen der Aufnahmegesellschaft unddiesen Familien Rechnung zu tragen. Sie verstehtMigration als umfassenden Sozialprozess, der „vonder schrittweisen und unterschiedlich weitgehen-den Ausgliederung aus dem Kontext der Herkunfts-gesellschaft bis zur ebenfalls unterschiedlich weitreichenden Eingliederung in die Aufnahmegesell-schaft einschließlich aller damit verbundenen so-zialen, kulturellen, rechtlichen und politischen Be-stimmungsfaktoren undEntwicklungsbedingungen,Begleitumstände und Folgeprobleme“ reicht (Be-richt der Sachverständigenkommission, S. 16f).

Anliegen war, die Vielfalt der Lebenssituationen zu-gewanderter Familien darzustellen, die sich aus denteilweise sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungenihres Aufenthalts sowie aus der großen kulturellenVielfalt ihrer Herkunft ergeben. Familien ausländi-scher Herkunft sind für die Kommission ein integra-ler Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland unddamit Teil des sozialstrukturellen Differenzierungs-prozesses, der für alle modernen Gesellschaften alsallgemein kennzeichnend angesehen wird.

Mit ihrem Bericht will die Kommission zu einembesseren Verständnis der Migrationsprozesse beitra-gen und die Leistungen der Familien für das Wohl ih-rer Angehörigen ebenso wie ihren Beitrag zumWohlergehen der Aufnahmegesellschaft darstellen.

A Stellungnahme der BundesregierungEinleitung

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Drucksache 14/4357 – XII – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Belastungen werden ebenso wenig verschwiegenwie Herausforderungen für das Zusammenleben inDeutschland und für die Gestaltung seiner Rahmen-bedingungen. Der Bericht will im öffentlichen Dis-kurs über die Situation von Familien einen neuenAkzent setzen und erreichen, dass Familien auslän-discher Herkunft als ein selbstverständlicher Teil derGesellschaft wahrgenommen werden.

Die Kommission hat darauf verzichtet, ausführlichauf die Lebenssituation von Kindern ausländischerHerkunft einzugehen, da sich der unmittelbar vorhererschienene Zehnte Kinder- und Jugendbericht ein-gehend mit dieser Thematik beschäftigt hat.

Die Bundesregierung dankt der Kommission fürihren wissenschaftlich fundierten, sachlichen undumfassenden Bericht. Sie begrüßt, dass in ihm nichtnur die Lage und Lebenssituation der Familien aus-ländischer Herkunft in ihrer Komplexität beschrie-ben und analysiert, sondern auch Wege aufgezeigtwerden, wie diese Familien in ihren Aufgaben unter-stützt und in ihren Selbsthilfekräften gestärkt werdenkönnen und wie die Integration in die Gesellschaftder Bundesrepublik Deutschland erleichtert werdenkann.

1. Familien ausländischer Herkunft imProzess der Differenzierung und Plu-ralisierung der modernen Gesell-schaft in Deutschland

1.1 Neue Herausforderungen für die Familien-politik: Familien im Wandel

Familienleben in Deutschland ist vielfältig. WerdenFamilien ausländischer Herkunft in die Betrach-tung einbezogen, nimmt die Vielfalt familialer Le-bensformen zu. Diese Familien unterscheiden sichbeispielsweise nach ihren Migrationserfahrungen,ihrer kulturellen Herkunft, ihrer Integration in diedeutsche Gesellschaft, ihrem aufenthaltsrechtlichenStatus, ihrer nationalen und ethnischen Zusammen-setzung, ihrem Humanvermögen und ihren Wande-rungsoptionen.

In Familien übernehmen Menschen Verantwortungfüreinander. Sie erwerben Kenntnisse und Fähigkei-ten, die ihr ganzes Leben prägen. Sie lernen Grenzenkennen und Konflikte auszutragen. Mit der Erzie-hung und Bildung von Kindern eröffnen und sichernFamilien nachhaltig Lebenschancen. Familien leis-ten Alltagsbewältigung und Zukunftsvorsorge. Siehandeln selbständig, sind aber nicht autonom. IhreGestaltungsspielräume hängen von rechtlichen, wirt-schaftlichen und lebensräumlichen Rahmenbedin-gungen ab. Dies gilt in besonderer Weise für Fami-lien ausländischer Herkunft. Von ihnen hängt esentscheidend ab, ob und wie die Weichen für diekünftige Integration und Entwicklung der Kinder ge-stellt werden, ob und wie problematische Situationen

mit Arbeitslosigkeit, Krankheit oder im Alter bewäl-tigt werden können.

Wie der Sechste Familienbericht zeigt, ist in Fami-lien ausländischer Herkunft – zusätzlich zu den all-täglichen Aufgaben der Gestaltung des Familienle-bens – die Aufgabe zu lösen, sich in einer anderenKultur und in einer anderen Gesellschaft zurechtzu-finden, eine Balance zu erreichen zwischen Bewah-ren der eigenen Identität und dem Aufnehmen undGestalten neuer Möglichkeiten. Dies gilt für jedesMitglied der Familie, aber auch für die Familie alsganze.

Nach wie vor werden gerade auch in Familien aus-ländischer Herkunft hohe Solidarleistungen er-bracht, zum Beispiel wenn Kinder aufgezogen, wennkranke oder ältere Menschen, Pflege- oder Hilfebe-dürftige versorgt werden. Familien erbringen dieseLeistungen unabhängig davon, ob die Generationenunter einem Dach zusammen wohnen oder in er-reichbarer Nähe leben.

Die Bundesregierung geht von der Vielfalt der Le-benswirklichkeiten aus und akzeptiert, dass es in un-serer Gesellschaft unterschiedliche Vorstellungendarüber gibt, was eine Familie ist, wer zu einer Fa-milie gehört oder wie die Aufgaben in einer Familieverteilt sein sollen. Mit ihrer Familienpolitik schafftsie unter Beachtung von Artikel 3 und 6 GrundgesetzRahmenbedingungen dafür, dass Menschen in unse-rer Gesellschaft ihr Familienleben nach ihren eige-nen Vorstellungen gestalten können. Nach langemfamilienpolitischen Stillstand hat die neue Bundes-regierung begonnen, die Rahmenbedingungen fürFamilien unter dem Aspekt von Chancengleichheit,Gerechtigkeit und Solidarität wieder neu zu gestal-ten. Dabei achtet die Bundesregierung darauf, auchdie besonderen Belange von Familien ausländischerHerkunft angemessen zu berücksichtigen.

Die Verbesserung der wirtschaftlichen Situationvon Familien, insbesondere ihrer Einkommensver-hältnisse, ist ein wichtiger Ansatzpunkt. Gleich zuBeginn ihrer Amtszeit hat die Bundesregierung inzwei Schritten das Kindergeld für erste und zweiteKinder um monatlich insgesamt 50 DM erhöht so-wie innerhalb des Verrechnungssystems im Famili-enlastenausgleich neben dem Kinderfreibetrag ei-nen Betreuungsfreibetrag eingeführt. Im Rahmendes Steuerentlastungsgesetzes wurde der Eingangs-steuersatz gesenkt: dies entlastet gerade Familienmit geringem und mittleren Einkommen. Gegen-wärtig wird die Zweite Reformstufe des Familien-lastenausgleichs, wie vom Bundesverfassungsge-richt für das Jahr 2002 gefordert, vorbereitet.

Familien wollen den Lebensunterhalt durch Er-werbstätigkeit eigenständig sichern. Der von derBundesregierung eingeleitete Abbau von Arbeitslo-sigkeit und die Verbesserung der Berufschancen jun-ger Menschen eröffnen neue Perspektiven. Erwerbs-möglichkeiten für Familien hängen jedoch nicht

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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – XIII – Drucksache 14/4357

allein von der allgemeinen wirtschaftlichen Lageund ihrer Entwicklung, sondern auch davon ab, in-wieweit es gelingt, Familie und Beruf miteinander inEinklang zu bringen. Noch immer haben Frauenschlechtere Chancen im Beruf. Die Bundesregierunghat deshalb 1999 ein Programm „Frau und Beruf“ in-itiiert, das Schritt für Schritt umgesetzt wird und be-reits nach einem Jahr gute Erfolge zeigt.

Die zum 1. Januar 2001 in Kraft tretende Reform desBundeserziehungsgeldgesetzes, die für Geburten ab2001 gilt, erweitert die Gestaltungsmöglichkeitenvon Eltern und schafft die rechtlichen Voraussetzun-gen für eine stärkere Beteiligung junger Väter an derKindererziehung. Die Reform erhöht unter anderemdie Einkommensgrenzen und die Kinderzuschlägefür den Bezug von Erziehungsgeld ab dem siebtenLebensmonat (je nach Kinderzahl um rund 10 bis 24 Prozent). Die Eltern können den Erziehungsur-laub (künftig „Elternzeit“) von insgesamt drei Jahrenkünftig auch gemeinsam nehmen. Sie habenwährend der Elternzeit einen grundsätzlichen An-spruch auf Verringerung ihrer Arbeitszeit – sowohlVäter als auch Mütter dürfen gleichzeitig bis zu je-weils 30 Wochenstunden erwerbstätig sein.

Der Ausbau einer an den Bedürfnissen von Kindernund Familien orientierten Infrastruktur ist ein weite-res wichtiges familienpolitisches Anliegen. Hier sindnoch erhebliche Anstrengungen erforderlich, bis einangemessenes Angebot an Tageseinrichtungen fürKinder und an Ganztagsschulen erreicht ist. Dabeisind in erster Linie die Länder und Kommunen an-gesprochen. Die Bundesregierung arbeitet ihrerseitsan Vorschlägen zur Verbesserung des Angebots anTagesbetreuung.

Gewalt wird als Mittel der Erziehung geächtet undKindern ein Recht auf gewaltfreie Erziehung ein-geräumt. Eine entsprechende Änderung des Bür-gerlichen Gesetzbuchs ist von Bundestag und Bundesrat beschlossen. Damit wird sowohl dieRechtstellung des Kindes gestärkt als auch eine Be-wusstseinsänderung der Eltern erzielt werden, ohneden Familien mit strafrechtlichen Sanktionen zu dro-hen. Die Gesetzesnovelle wird durch vielfältige In-formations- und Aufklärungsmaßnahmen der Bun-desregierung begleitet, insbesondere durch dieKampagne „Respekt vor Kindern“ des Bundesmini-steriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,die Alternativen zu einer Erziehung mit körperlichenStrafen aufzeigen, die Erziehungskompetenz der El-tern stärken und eine entsprechende Sensibilisierungder Öffentlichkeit erreichen soll.

In einem Armuts- und Reichtumsbericht will dieBundesregierung unter anderem auch die Einkom-menssituation von Familien darstellen. Flankierendwerden Maßnahmen der Armutsprävention und Stra-tegien der Armutsvermeidung entwickelt, um Fami-lien vor dem Absinken in Armut zu bewahren.

Bei ihrer Politik für Familien achtet die Bundesre-gierung verstärkt darauf, wie bei den einzelnen Vor-

haben den besonderen Belangen von Familien aus-ländischer Herkunft Rechnung getragen werdenkann. Der Sechste Familienbericht ist dabei einewertvolle Hilfe. Er beschränkt sich nicht nur auf An-regungen und Hinweise für die Familienpolitik desBundes, sondern spricht ebenso die Länder und Ge-meinden in ihren Verantwortungsbereichen an. Erenthält darüber hinaus Anregungen, wie außerhalbdes staatlichen Bereichs zur Verbesserung und Er-leichterung der Lebenssituation von Familien aus-ländischer Herkunft beigetragen werden kann.

1.2 Vielfalt und Differenziertheit von Familienausländischer Herkunft

Die Sachverständigenkommission zeigt eindrück-lich, wie die nationale, ethnische und kulturelle Her-kunft mit unterschiedlichen Leitbildern und Normendas Leben dieser Familien, ihre Chancen in der deut-schen Gesellschaft und ihre Integration in diese Ge-sellschaft prägt. Doch auch die jeweiligen Möglich-keiten und Barrieren, welche die verschiedenenNationalitäten bei der Zuwanderung vorfinden, prä-gen das Leben von Familien ausländischer Herkunftin Deutschland.

Im Zeitverlauf hat sich vor allem der individuelleMigrationszeitpunkt im Familienzyklus verlagert.War in den 1950er- und 1960er-Jahren für eine Viel-zahl der Arbeitsmigranten ein typisches Migrations-muster, zunächst allein als verheirateter Vater in derAufnahmegesellschaft zu leben und dann die Fami-lie nachziehen zu lassen, hat sich inzwischen derzeitliche Abstand des Migrationszeitpunktes zwi-schen den Familienmitgliedern kontinuierlich ver-ringert. In zunehmender Zahl erfolgen Familien-gründungen in der Aufnahmegesellschaft; Migrationund Familiengründung fallen immer häufiger zu-sammen.

Migration ist in aller Regel ein „Familienprojekt“,das nicht in einer Generation abgeschlossen ist. Inder Mehrzahl der Familien ausländischer Herkunfthat mindestens ein Mitglied eine internationale Wan-derung unternommen. Die Mehrheit gehört der „ers-ten Generation“ der Zugewanderten an, Angehörigeder „dritten Generation“ sind noch relativ selten undfast ausschließlich Kinder. Aussiedlerfamilien ha-ben, obwohl sie deutsche Staatsangehörige sind, mitausländischen Familien diese Migrationserfahrun-gen gemeinsam.

Politik für Familien ausländischer Herkunft mussberücksichtigen, dass Familienmitglieder häufig zwi-schen der Herkunfts- und der Aufnahmegesellschaftpendeln. Die überwiegende Mehrzahl der Familienverfügt über verwandtschaftliche Beziehungen so-wohl in der Herkunftsgesellschaft als auch in der Auf-nahmegesellschaft. Familiennetzwerke funktionierenin solchen Familien transnational und sind die wich-tigsten Anknüpfungspunkte für soziale Beziehungen.In der Migrationssituation werden sie zu einer beson-

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Drucksache 14/4357 – XIV – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

deren Form von „sozialem Kapital“, das erheblich zurIntegration in die Aufnahmegesellschaft beitragenkann und deshalb gepflegt werden muss.

Das Ausmaß der Integration wird nicht nur von denHandlungszielen und -fähigkeiten der wanderndenFamilien bestimmt, sondern auch von den Hand-lungsmöglichkeiten, die ihrerseits wesentlich vonden Rahmenbedingungen in der Aufnahmegesell-schaft abhängen. Die Sachverständigenkommissionmacht zu Recht auf die hohe Komplexität des Inte-grationsprozesses aufmerksam, der für unterschiedli-che Gruppen jeweils verschieden verlaufen kann.

In Deutschland bestehen für die verschiedenenGruppen von Zuwanderern – je nach Vorliegen ent-sprechender Voraussetzungen – unterschiedlicheAufenthaltsrechte, die befristete und die unbefristeteAufenthaltserlaubnis, die Aufenthaltsberechtigung,die Aufenthaltsbewilligung, die Aufenthaltsbefug-nis, eine Aufenthaltsgestattung für Asylbewerber so-wie die Duldung, wenn bei ausreisepflichtigen Aus-ländern Abschiebehindernisse vorliegen.

Von besonderer Bedeutung für Familien erweist sichdie Sicherheit und Langfristigkeit der Aufenthalts-perspektive. Entscheidungen wie Heirat, Haushalts-gründung oder die Entscheidung für Kinder bedürfeneines längerfristigen Planungshorizontes.

Viele der Zugewanderten verlassen Deutschland zueinem späteren Zeitpunkt wieder. Ein wichtigesRückwanderungsmotiv ist die Hoffnung auf die Rea-lisierung eines weiteren sozialen Aufstiegs, vor al-lem bei jenen, die während ihres Aufenthalts inDeutschland gute Deutschkenntnisse erworben ha-ben, intensive Kontakte zu Deutschen unterhieltenund überdurchschnittlich beruflich qualifiziert sind.

1.3 Politische und rechtliche Rahmenbedin-gungen für Migration und Integration

Weil sich in Deutschland für Zuwanderer vielfältigeMöglichkeiten der Integration und des sozialen undwirtschaftlichen Aufstiegs bieten, zählt Deutschlandim weltweiten Vergleich zu den Hauptzielländernvon Migration.

Bereits durch das Ausländergesetz von 1991 wurdedie Integration der hier rechtmäßig lebenden Auslän-derinnen und Ausländer durch mehr Sicherheit inBezug auf ihren Aufenthaltsstatus erleichtert. Ent-sprechende Ansprüche lösten die bis dahin bestehen-den Ermessensregelungen ab. Diese Migranten ha-ben in vielen Bereichen die gleichen Rechte undPflichten wie Deutsche und damit gesetzlich abgesi-cherte Grundlagen für ihre weitere Lebensplanung.

Sie genießen grundsätzlich Versammlungs- undMeinungsfreiheit und haben insbesondere auf kom-munaler Ebene durch die Mitarbeit in Ausländeraus-schüssen und Ausländerbeiräten die Möglichkeit derpolitischen Mitwirkung.

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Sozialstaat;die sozialstaatlichen Regelungen schließen – auf derBasis der jeweiligen Bezugsbedingungen – grundsätz-lich die gesamte Wohnbevölkerung ein und eröffnendamit Migranten eine Vielzahl von Eingliederungs-möglichkeiten. Im Bereich der sozialen Sicherungsind dauerhaft und rechtmäßig in Deutschland lebende ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt.Für die Wahlen zu den Selbstverwaltungsorganen derSozialversicherungsträger haben versicherte Aus-länder das volle aktive und passive Wahlrecht. DieseEingliederungsmöglichkeiten haben in erheblichemMaße dazu beigetragen, dass Segregation und Mar-ginalisierung eher seltene Resultate des Eingliede-rungsprozesses sind.

Die Bundesregierung, die Länder und Kommunenhaben zur Integration von Migranten zahlreiche Pro-gramme und Maßnahmen aufgelegt, um Institutio-nen fachlich und organisatorisch zu stärken, die füreine Integration von Familien ausländischer Her-kunft besonders relevant sind wie Kindergärten,Schulen und Ausbildungsinstitutionen, Verbändeund Organisationen. Gleichzeitig wurden und wer-den spezifische, mit dem Ziel der sozialkulturellenIntegrationsförderung und der Pflege interethnischerKontakte und Beziehungen gegründete Institutionenunterstützt.

Der Bericht liefert einen ausführlichen historischenAbriss zu Zuwanderung und Eingliederung inDeutschland seit dem Zweiten Weltkrieg. Hinter-gründe und geschichtliche Entwicklungen von Wan-derungsprozessen werden dargestellt und die Zu-wanderung von Aussiedlern wird als einer dieserWanderungsprozesse erklärt. Migration ist fester Be-standteil unserer Geschichte und wird es in Zukunftauch weiterhin bleiben; dieser Auffassung der Sach-verständigenkommission stimmt die Bundesregie-rung zu, wenngleich sie zu einzelnen Darstellungenund Aussagen der Kommission abweichende Auf-fassungen vertritt.

1.4 Neue Phase der Ausländerpolitik

Mit dem Regierungswechsel 1998 wurde eine neuePhase der Ausländerpolitik eingeleitet. Basis dafürist die Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober1998, in der es heißt: „Wir erkennen an, dass ein un-umkehrbarer Zuwanderungsprozess in der Vergan-genheit stattgefunden hat und setzen auf die Integra-tion der auf Dauer bei uns lebenden Zuwanderer, diesich zu unseren Verfassungswerten bekennen.“ Da-mit macht die Bundesregierung die tatsächliche Ent-wicklung zum Ausgangspunkt ihrer Politik.

Seit dem Anwerbestopp 1973 war die deutsche Aus-länderpolitik darauf gerichtet, Zuwanderungen so-weit wie möglich zu begrenzen. Die Möglichkeitender Zuwanderung nach Deutschland zur Arbeitsauf-nahme wurden weitestgehend reduziert. Dies führte

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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – XV – Drucksache 14/4357

dazu, dass sich die Zuwanderung auf andere Berei-che verlagerte. Politisch Verfolgte, Spätaussiedler,nachziehende Familienangehörige, jüdische Zuwan-derer aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunionund EU-Bürger, die von ihrem Recht auf Freizügig-keit Gebrauch machten, prägten das Bild der Zu-wanderung nach Deutschland. Hinzu kamen Asylbe-werber sowie Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge.In all diesen Bereichen sind die Möglichkeiten derSteuerung und Beeinflussung hinsichtlich Quantitätund Qualität der Zuwanderung weitgehend einge-schränkt. Die notwendige Steuerung der Zuwande-rung nach Deutschland fand nicht statt. Die Bundes-regierung hält es für höchste Zeit, eine umfassendeZuwanderungspolitik zu entwickeln, die humanitäreGrundsätze wahrt und zugleich die legitimen wirt-schaftlichen und politischen Interessen Deutsch-lands berücksichtigt.

Der Bundesminister des Innern hat daher eine Unab-hängige Kommission „Zuwanderung“ berufen, diealle mit der Zuwanderung verbundenen Fragen prü-fen sowie praktische Lösungsvorschläge und Emp-fehlungen für eine neue Zuwanderungspolitik erar-beiten soll. Der Auftrag der Kommission ist keinenpolitischen Beschränkungen unterworfen. Die Kom-mission wird sich daher mit dem Zuwanderungsbe-darf ebenso auseinander zu setzen haben wie mit derde facto bestehenden Verknüpfung von Asylverfah-ren und Zuwanderung und auch die Wanderungsbe-wegungen zu berücksichtigen haben, die aufgrundder bevorstehenden Erweiterung der EuropäischenUnion nach Osten zu erwarten sind.

Zur Förderung der Integration der hier rechtmäßigund dauerhaft lebenden ausländischen Menschen hatdie Bundesregierung gleich nach ihrem Amtsantrittein modernes Staatsangehörigkeitsrecht geschaffen,das der Lebenswirklichkeit in Deutschland ent-spricht. Mit Wirkung ab Januar 2000 haben sich dieMöglichkeiten, die deutsche Staatsangehörigkeit zuerwerben, grundlegend verbessert. Ausländische Fa-milien und ihre Kinder haben dadurch neue Rechts-sicherheit und Möglichkeiten der Partizipation er-halten, ein entscheidender Beitrag zur rechtlichenIntegration von Ausländerinnen und Ausländern.

Folgende Regelungen sind für Familien von beson-derer Bedeutung:

Das traditionelle Abstammungsprinzip (ius sangui-nis), nach dem nur Kinder deutscher Eltern die deut-sche Staatsangehörigkeit erwerben, wird durch einneues Geburtsortprinzip (ius soli) ergänzt. InDeutschland geborene Kinder ausländischer Elternerwerben die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn einElternteil zum Zeitpunkt der Geburt seit mindestensacht Jahren rechtmäßig seinen gewöhnlichen Auf-enthalt in Deutschland hat und eine Aufenthalts-berechtigung oder seit mindestens drei Jahren eineunbefristete Aufenthaltserlaubnis besitzt. Bei Voll-jährigkeit müssen diese Personen sich zwischen derdeutschen und einer noch bestehenden ausländi-schen Staatsangehörigkeit entscheiden. Kinder aus-

ländischer Eltern, die vor dem Inkrafttreten des Ge-setzes in Deutschland geboren wurden und zu die-sem Zeitpunkt noch nicht zehn Jahre alt waren, wer-den bei Erfüllung der genannten Voraussetzungenbis Ende des Jahres 2000 auf Antrag eingebürgertund müssen bei Volljährigkeit zwischen der deut-schen und einer noch bestehenden ausländischenStaatsangehörigkeit wählen.

Ausländerinnen und Ausländer erhalten nach achtstatt bisher fünfzehn Jahren einen Anspruch auf Ein-bürgerung. Für die Miteinbürgerung ausländischerEhegatten und Kinder genügt ein wesentlich kürze-rer Aufenthalt in Deutschland, bei minderjährigenKindern drei Jahre, bei Ehegatten in der Regel vierJahre bei zweijähriger Dauer der ehelichen Lebens-gemeinschaft. Mehrstaatlichkeit soll weiterhin ver-mieden werden, aber eine Ausnahmeregelung für be-sondere Härtefälle wurde konkretisiert.

Die Bundesregierung hat außerdem erreicht, dass vordem 1. Juli 1993 eingereisten Asylbewerbern sowievor dem 1. Januar 1990 eingereisten alleinstehendenAsylbewerbern unter bestimmten Voraussetzungenein Bleiberecht eingeräumt wird. Die hiervon betrof-fenen etwa 24 000 Personen können nunmehr ihr wei-teres Leben für sich und ihre Familienangehörigen,insbesondere aber auch für ihre hier geborenen undaufgewachsenen Kinder, zuverlässig planen und sichauf der Grundlage einer langfristigen Perspektiveeine Existenz in Deutschland aufbauen. Des weiterenhat die Bundesregierung die Länder gebeten, schweroder chronisch traumatisierte Flüchtlinge aus Bos-nien-Herzegowina und dem Kosovo nicht zur Aus-reise in ihre Heimat aufzufordern und diesen vomBürgerkrieg besonders betroffenen Flüchtlingen Auf-enthaltsbefugnisse zu erteilen.

Das von der Bundesregierung und der Wirtschaftgemeinsam beschlossene Sofortprogramm zurDeckung des IT-Fachkräftebedarfs sieht eine Ver-knüpfung von Aus- und Weiterbildung sowie derbefristeten und auf maximal 20 000 Fachkräfte be-grenzten Zulassung ausländischer IT-Fachkräftevor. Auch nach dem Sofortprogramm bleibt es dasoberste Ziel, die Voraussetzungen dafür zu schaf-fen, dass der Bedarf an Fachkräften auf Dauer vominländischen Arbeitsmarkt gedeckt werden kann.Da die im Sofortprogramm vorgesehenen Maß-nahmen der beruflichen Ausbildung, der Hoch-schulausbildung und der beruflichen Weiterbil-dung aber erst mittelfristig Ergebnisse bringenkönnen, wurden flankierend zur Deckung des ak-tuellen Bedarfs hochqualifizierte IT-Fachkräfteaus dem Ausland vorübergehend zugelassen.

2. Migration als Familienprojekt: Inte-grationsleistungen der Familien aus-ländischer Herkunft

Die Sachverständigenkommission zeichnet ent-sprechend dem aktuellen Forschungsstand ein dif-ferenziertes Bild der Entwicklung und des Lebens

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in Familien ausländischer Herkunft. Sie trägt damitden durch die Wanderung bedingten vielfältigen Ver-änderungen in Struktur und Lebenswelt der FamilienRechnung. Gründlich räumt sie mit verallgemei-nernden Vorstellungen von „der ausländischen Fa-milie“ auf und weist vielmehr auf den Einfluss unddie Auswirkungen der jeweiligen Herkunft für dasZusammenleben in der Familie – aber auch für dasLeben in und mit der Aufnahmegesellschaft – hin.

Ein besonderes Verdienst der Sachverständigenkom-mission liegt darin, dass sie herausarbeitet:

– die Wechselwirkungen von gesellschaftlichemWandel in den Herkunfts- und den Aufnahmege-sellschaften,

– den intergenerativen Wandel zwischen den Wan-derungs- und den Folgegenerationen und denWandel der Familien im Familienzyklus sowie

– die damit verbundenen individuellen Verände-rungen der Familienmitglieder in deren Lebens-verläufen.

Viele häufig als „kulturell“ beschriebene Unter-schiede in Eingliederungsprozessen von Migranten-familien werden aus den unterschiedlichen Rahmen-bedingungen der jeweiligen Zuwanderungsprozesseplausibel erklärt. Es wird gezeigt, wie Migrations-prozesse als „Familienprojekte“ geplant und durch-geführt werden und das Leben ausländischer Fami-lien in Deutschland prägen.

2.1 Partnerwahl und Heiratsverhalten

Die Sachverständigenkommission hat die komple-xen Zusammenhänge herausgearbeitet, die das Fa-miliengründungsverhalten im Migrationskontext be-stimmen. Mit Recht weist sie darauf hin, dass dieHeirat zwischen Zuwanderern und Einheimischennicht ohne weiteres als Maßstab für Assimilation undIntegration und als Maß für soziale und kulturelleNähe oder Distanz bei unterschiedlichen Zuwande-rungsgruppen gelten kann.

Einerseits ist eine stetige Zunahme von Ehe-schließungen zwischen Einheimischen und Men-schen ausländischer Herkunft zu beobachten. DieseEntwicklung kann mit Recht als deutliche Zunahmeder Akzeptanz binationaler Ehen in Familien auslän-discher Herkunft gedeutet werden. Andererseitsmuss berücksichtigt werden, dass Staatsangehörig-keit und ethnische Herkunft in der Einwanderungs-situation oft nicht übereinstimmen. ZunehmendeEinbürgerungen von in Deutschland lebenden Aus-länderinnen und Ausländern führen dazu, dass natio-nale und ethnische Zugehörigkeiten mehr und mehrauseinander fallen. Das Ausmaß von Ehen, in denendie Partner zwar unterschiedliche Pässe, aber die-selbe ethnisch-kulturelle Herkunft haben, steigtebenso wie die Anzahl der Ehen, in denen eine Ein-bürgerung eine identische Staatsangehörigkeit derPartner bewirkt hat.

Viele Migrantinnen und Migranten sowohl der erstenals auch der zweiten Zuwanderergeneration suchen ei-nen Heiratspartner/eine Heiratspartnerin in der Her-kunftsgesellschaft. Insbesondere junge Männer derzweiten Generation türkischer Herkunft neigen häufigzur Heirat mit Partnerinnen aus der Türkei, auch we-gen der nach wie vor bestehenden Vorbehalte vonDeutschen gegenüber deutsch-türkischen Ehen. Wirt-schaftliche Ungleichheiten sowie die Tatsache, dassHeirat und Familienzusammenführung einen legiti-mierten Einreise- und Bleibegrund darstellen, lassenHeiratsmigration an Bedeutung gewinnen.

Wie die Kommission nachweist, sind Ehen, die miteiner Heiratsmigration verbunden sind, besonderenBelastungen ausgesetzt, weil die Ehepartner wegender häufig sehr unterschiedlichen Herkunfts- und Le-bensbedingungen sehr viel größere Aufgaben derehelichen Anpassung und der gemeinsamen Ausge-staltung der Partnerschaft zu lösen haben. Hinzukommen spezifische Probleme, zum Beispiel aufent-haltsrechtliche und solche der Familienzusammen-führung. Mit diesen befassen sich Verbände und Or-ganisationen, unter ihnen insbesondere der Verbandbinationaler Familien und Partnerschaften, iaf e.V.(früher: Interessengemeinschaft der mit Ausländernverheirateten Frauen) mit mehr als 50 regionalenGruppen im In- und Ausland, der vom Bundesmini-sterium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend fi-nanziell unterstützt wird.

Steigender Beratungsbedarf ist in Hinblick auf diebesondere Problematik gleichgeschlechtlicher bina-tionaler Partnerschaften zu erkennen, die von derSachverständigenkommission noch nicht berück-sichtigt wurde. Das Bundesministerium für Familie,Senioren, Frauen und Jugend unterstützt Projekte imVerband binationaler Familien und Partnerschaftenund im Lesben- und Schwulenverband mit dem Zielder Qualifizierung ehrenamtlicher Beraterinnen undBerater in rechtlichen Angelegenheiten und psycho-sozialer Begleitung. Der von den Koalitionsfraktio-nen vorgelegte „Entwurf eines Gesetzes zur Been-digung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicherGemeinschaften: Lebenspartnerschaften“, den dieBundesregierung begrüßt, verbessert die Situationdieses Personenkreises entscheidend.

2.2 Innerfamiliale Aufgabenverteilung und Geschlechterrollen, Veränderungen in der Lebenssituation von Frauen

Die Kommission belegt, wie mit der Migration häu-fig Umverteilungen in den ökonomischen, sozialenund zeitlichen Ressourcen der Ehepartner verbundensind, die die Entscheidungsmacht und Aufgabenver-teilung in der Familie nachhaltig beeinflussen und zuerheblichen Veränderungen in den Geschlechterrol-len führen können. Migration bewirkt in der Regelbei den als erste einreisenden Familienmitgliedern(„Pionierwanderstatus“) einen deutlichen Zuwachsan innerfamilialen Aufgaben und Entscheidungs-

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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – XVII – Drucksache 14/4357

kompetenzen, da dieses Familienmitglied als erstesKontakte mit der Aufnahmegesellschaft knüpft, dieihm offensichtlich dauerhafte Vorsprünge vor dennachkommenden Familienmitgliedern sichern.

Familien, in denen der (Ehe-)Mann Ersteinwandererist, zeigen in der Rollen- und Aufgabenverteilung diegrößte Traditionalität und geringste Flexibilität; allewesentlichen Entscheidungen und Aufgaben verblei-ben in der Kompetenz des Mannes. Demgegenübersind gemeinsam nach Deutschland kommende Fa-milien durch das höchste Maß gemeinsamer Ent-scheidungen und Kooperation in der Aufgabenerfül-lung gekennzeichnet. Sie verfügen damit überdeutlich günstigere Voraussetzungen für die Bewäl-tigung der mit der Migration verbundenen Aufgaben.

Wandern Frauen zuerst ein, gewinnen sie erheblichan Autonomie in der Aufgabenerfüllung; insbeson-dere steigt die Übernahme außerfamiliärer Aufgabenund Entscheidungen im außerfamiliären Bereich mitder Länge des Aufenthaltsvorsprunges an.

Die immer noch durch stereotype Muster geprägteWahrnehmung ausländischer Frauen in Deutschlandhat – wie der Bericht der Sachverständigenkommis-sion zeigt – wenig mit deren tatsächlicher Lebenssi-tuation und dem eigenen Rollenverständnis zu tun.Nicht allein die These von der „Dreifachdiskrimi-nierung“ ausländischer Frauen ist Ausdruck dieserverzerrten Wahrnehmung. Insbesondere zwischendeutschen Frauen und türkischen Migrantinnen wirdeine beträchtliche soziale Distanz wahrgenommen,während die jeweiligen Selbstkonzepte tatsächlichrelativ nahe beieinander liegen.

Die Bundesregierung begrüßt, dass die Sachverstän-digenkommission die mit dem Migrations- und Inte-grationsprozess verbundenen Veränderungen in derLebenssituation von Frauen aufgreift und heraus-stellt. Der Bericht trägt damit wesentlich zum Abbaustereotyper Wahrnehmungsmuster im öffentlichenBewusstsein wie auch in der Forschung bei, die aus-ländischen Frauen ausschließlich eine Benachteilig-ten- oder Opferrolle zuzuweisen versucht und dentatsächlichen Veränderungen in der individuellenEntwicklung und in der sozialen Rolle von ausländi-schen Frauen in keiner Weise gerecht werden.

Frauen gestalten den Eingliederungsprozess aktivmit, wie die von der Sachverständigenkommissionangeführten Befunde belegen. Von den Ressourcenund Handlungskompetenzen der Frauen hängt inentscheidendem Maße ab, in welche Richtung undin welcher Intensität sich der Eingliederungsprozessder gesamten Familie entwickelt. In allen unter-suchten Nationalitäten der zugewanderten Familiennimmt der Einfluss von Frauen auf die die Familiebetreffenden Entscheidungen und auf das Ausmaßder Kooperation zwischen den Ehepartnern mit stei-gendem Bildungsniveau, der Beteiligung am Er-werbsleben, der Aufenthaltsdauer und den Deutsch-kenntnissen zu. Hohe Kinderzahlen und starke

religiöse Bindungen haben allerdings im allgemei-nen einen gegenteiligen Effekt.

Insbesondere in Aussiedlerfamilien haben Fraueneine vergleichsweise starke Stellung in innerfa-miliären Entscheidungsprozessen, die mit einemRückzug des Mannes aus diesen Aufgabenbereicheneinhergeht. Die Lebenserfahrungen der Aussied-lerfrauen aus den östlichen Herkunftsgebieten (vorallem der Spätaussiedlerinnen) sind geprägt durchdie Gleichberechtigung der Geschlechter in derSchul- und Berufsausbildung sowie in Erwerbsarbeitund Erwerbsbeteiligung. Erwerbsarbeit war für sieneben den Haushalts- und Familientätigkeiten so-wohl Recht als auch Pflicht, aber auch finanziell notwendig. In den Herkunftsgesellschaften warensie die Gestalterinnen der familienwirtschaftlichenHaushaltssysteme; auch im Einwanderungsprozessbehalten sie diese Funktion, ohne ihren Anspruch aufBerufstätigkeit aufzugeben.

Aus familien- und frauenpolitischer Sicht ist derStärkung der Fähigkeiten (empowerment) vonFrauen und Müttern verstärkte Aufmerksamkeit zuwidmen. Dabei kommt der Möglichkeit, durch ei-gene Erwerbstätigkeit zur ökonomischen Absiche-rung der Familie beitragen zu können, wachsendeBedeutung zu.

Der Bedeutung von Ehefrauen und Müttern für Ver-lauf und Gelingen des Eingliederungsprozesses vonFamilien ausländischer Herkunft ist in der bisherigenfamilien- und migrationspolitischen Diskussionnoch nicht genügend Beachtung geschenkt worden.Das Bundesministerium für Familie, Senioren,Frauen und Jugend wird deshalb eine repräsentativeUntersuchung zur „Situation der ausländischenMädchen und Frauen sowie der Aussiedlerinnen inDeutschland“ in Auftrag geben. Die Untersuchungsoll Integrationserfahrungen und -wahrnehmungenaus der Sicht und Einschätzung der Betroffenen er-heben mit dem Ziel, aufgetretene Probleme und Ver-suche zu deren Bewältigung sowie Voraussetzungenzur sozialen Integration zu analysieren und Lösungs-wege aufzuzeigen. Neben einer quantitativen Unter-suchung, die sich schwerpunktmäßig mit den jungenausländischen Frauen befasst, wird auch eine quali-tative Studie zur Lebenssituation älterer alleinste-hender Frauen durchgeführt, deren zahlenmäßigesGewicht in den nächsten Jahren z. B. durch Verwit-wung oder Scheidung deutlich ansteigen wird.

Die Sachverständigenkommission benennt an ver-schiedenen Stellen auch die Probleme Frauenhandel,Heiratshandel und häusliche Gewalt gegen Frauen,ohne sich diesen vertieft widmen zu können. DieBundesregierung hat Ansätze zur Bewältigung die-ser speziellen Problematik in ihren Aktionsplan zurBekämpfung von Gewalt gegen Frauen aufgenom-men: Die Belange ausländischer Frauen sind dortinsbesondere im Bereich Prävention angesprochen.§ 19 Ausländergesetz wurde bereits novelliert, umvor allem die rechtliche Situation ausländischer Ehe-

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frauen, die Gewalt durch ihren Ehepartner erfahren,zu verbessern. Die Bundesregierung wird durch wei-tere gesetzgeberische Maßnahmen auf dem Gebietdes Zivilrechts zu einer Verbesserung des Schutzesvor häuslicher Gewalt beitragen. Das Bundesminis-terium der Justiz hat im März 2000 den Referenten-entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des zivil-gerichtlichen Schutzes bei Gewalttaten sowie zurErleichterung der Überlassung der Ehewohnung beiTrennung vorgelegt. Der Entwurf sieht vor, zum ei-nen die Zuweisung der Ehewohnung in Fällen häus-licher Gewalt zu erleichtern. Zum anderen soll auchbei anderen häuslichen Gemeinschaften die Mög-lichkeit der Wohnungszuweisung an das Opfer be-stehen, wenn in der Gemeinschaft Gewalt ausgeübtwird. Darüber hinaus ist beabsichtigt, eine klare ge-setzliche Grundlage für Schutzanordnungen des Ge-richts wie Kontakt-, Belästigungs- und Näherungs-verbote zu schaffen. Durch eine Ergänzung desEinführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuchwird sichergestellt, dass der Schutz der Vorschriftenauch ausländischen Mitbürgerinnen uneingeschränktzugute kommt.

Zur Bekämpfung des Frauenhandels beinhaltet derAktionsplan verschiedene Maßnahmen, wie dieBundesarbeitsgruppe „Frauenhandel“, die Regelungder besonderen Belange der Opfer von Men-schenhandel in der Verwaltungsvorschrift zum Aus-ländergesetz, die Förderung des Koordinierungs-büros der Beratungsstellen gegen Frauenhandel undGewalt im Migrationsprozess sowie gezielte Schu-lungen und Öffentlichkeitsarbeit. Im Bereich der In-terventionsprojekte gegen Gewalt an Frauen ist esder Bundesregierung wichtig, dass dort auch die spe-zifischen Belange ausländischer Frauen berücksich-tigt werden. Im April 2000 hat zudem eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Bekämpfung häuslicher Ge-walt“ ihre Arbeit aufgenommen.

2.3 Generationenbeziehungen – Übereinstim-mungen und Konflikte

Für Familien ausländischer Herkunft sind die Gene-rationenbeziehungen von besonderer Bedeutung,wie die Sachverständigenkommission darlegt: Diemeisten Familien ausländischer Herkunft stammenaus Gesellschaften, in denen Absicherungen gegendie Risiken des Lebens zum überwiegenden Teilnicht durch ein staatliches System sozialer Sicher-heit, sondern unmittelbar zwischen den Generatio-nen erbracht werden. Dies hat weitreichende Aus-wirkungen darauf, was Eltern und Kinderfüreinander bedeuten, was sie voneinander erwartenund welchen „Wert“ sie füreinander haben. DieSachverständigenkommission zeigt, welche unmit-telbaren Auswirkungen die Migration auf die Gene-rationenbeziehungen hat. Viele Migrationsziele las-sen sich nur im Generationenzusammenhanglegitimieren und realisieren, sowohl die Zuwande-rung („familiäre Kettenmigration“, Familienzusam-menführung) als auch die Rückwanderung. Bei (ge-

wünschter oder erzwungener) Rückkehr in die Her-kunftsgesellschaft muss in aller Regel auf die in Ge-nerationenbeziehungen liegende soziale Sicherungzurückgegriffen werden.

Eltern erbringen für die Versorgung, Betreuung undErziehung ihrer Kinder erhebliche materielle und im-materielle Leistungen, die in bedeutendem Maße zurIntegration der Kinder in die Aufnahmegesellschaftbeitragen und Ausgrenzungen verhindern. Von ihrenKindern erwarten Eltern ihrerseits materielle Unter-stützung wie frühe Mithilfe im Familienhaushalt,spätere Hilfe, Sorge und Unterstützung im Alter so-wie finanzielle Unterstützung bei der Beendigung dereigenen Erwerbstätigkeit, Krankheit und Not. Diese„Nützlichkeitserwartungen“ werden von den Kin-dern in hohem Maße wahrgenommen und sind somitein konstitutives Element der Generationenbeziehun-gen in Familien ausländischer Herkunft, die auchnach der Einwanderung intensiv gepflegt werden.Die gegenseitigen Erwartungen erweisen sich alsaußerordentlich stabil und äußern sich in einer festverankerten Arbeitsteilung zwischen den Generatio-nen, die von Eltern und Kindern akzeptiert wird.

Allerdings hat die Sachverständigenkommission inihrer Analyse vor allem die Eltern-Kind-Beziehungenin den Mittelpunkt gestellt. Eine durchgängige Drei-Generationen-Perspektive wäre sinnvoll gewesen,um die von den älteren Migrantinnen und Migrantenim familiären Kontext erbrachten Solidarleistungeneinzubeziehen und sichtbar machen zu können.

In den Generationenbeziehungen reproduzieren sich – zwar auf differenzierte Weise, jedoch durch-gängig – geschlechtsspezifische Rollenmuster:Töchter werden unabhängig von der ethnischen Her-kunft häufiger zur Erledigung von Aufgaben imHaushalt herangezogen als Söhne. Bei gleich hohenErwartungen der Eltern bezüglich ihrer Bildung,aber fehlender institutioneller Förderung und gerin-gen gemeinsamen innerfamilialen Aktivitäten kön-nen sich für Mädchen starke Belastungen und spe-zifische Konfliktsituationen ergeben. Potenziertwerden können diese durch widersprüchliche Erwar-tungshaltungen von Elternhaus und Mehrheitskultur.

Wie die Kommission am Beispiel türkischer Ju-gendlicher nachweist, können verinnerlichte Er-wartungen von Eltern auch für Söhne zu Überfor-derungen und Konflikten führen. Diese empfindenhöhere ökonomisch-utilitaristische Erwartungen ansich, als sie von ihren Eltern geäußert werden, undhaben stärkere normative Geschlechtsrollenorien-tierungen. Damit können sie in normative Konfliktenicht nur zu ihren Familien, sondern besondersauch zur Aufnahmegesellschaft geraten; vorhande-nes Konfliktpotenzial von Kindern und Jugendli-chen aus Familien ausländischer Herkunft sowohlmit ihren Eltern als auch mit der Mehrheitsgesell-schaft muss vor diesem Hintergrund gedeutet underklärt werden.

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Häufig führt die Migration dazu, dass die Kosten für Kinder erheblich steigen und gleichzeitig dieMöglichkeiten für ökonomische Beiträge der Kinderzum Familienhaushalt sinken. In dem Maße, wie dieEingliederung zu Berufspositionen mit stabilen, hö-heren Einkommenserwartungen und einer verläss-lichen gesetzlichen Rentenversicherung führt, neh-men Alternativen zur Versorgung durch die eigenenKinder zu. Wie die Entwicklung der Geburtenziffernbei ausländischen Frauen belegt, verringert sich mitder Migration im allgemeinen die Zahl der Geburten.Entgegen Erwartungen und gängigen Klischees trifftes deshalb nicht mehr zu, dass Familien ausländi-scher Herkunft deutlich höhere Kinderzahlen auf-weisen als deutsche Familien.

Wie die Sachverständigenkommission zeigt, gleichtsich das generative Verhalten aufgrund der veränder-ten sozialökonomischen Bedingungen sehr rasch andas der Aufnahmegesellschaft an. Dieser Wandel imgenerativen Verhalten geht aber nicht mit einemWertewandel in Bezug auf Kinder und Erziehungeinher. Erziehungseinstellungen und normative Ori-entierungen sind danach hauptsächlich das Ergebnisder kulturspezifischen Sozialisation und Teil der na-tionalen Identität. Sie werden durch die Migrationkaum beeinflusst und wenn doch, dann nur sehr lang-sam. Dies ist ein wichtiger Befund, der bei allen In-tegrationsbemühungen zu berücksichtigen ist. DieMigrationssituation zwingt Migrantenfamilien dazu,sich stärker auf die eigenen Fähigkeiten zu besinnenund sich der eigenen Werte und Handlungsziele zuvergewissern. Damit sollen „Gefährdungen“ für denfamiliären Erziehungsprozess abgewehrt werden,die aus der Migrationssituation entstehen können.

Das Bundesministerium für Familie, Senioren,Frauen und Jugend fördert in ModellprogrammenProjekte und Trägereinrichtungen, die an diesenspezifischen Konfliktlagen von Kindern und Ju-gendlichen, insbesondere von Mädchen ausländi-scher Herkunft anknüpfen und mit geschlechtsspe-zifischen Angeboten diesen Jugendlichen Hilfenund Unterstützung anbieten sowie deren Selbsthil-fepotenziale mobilisieren.

In die meisten sozialwissenschaftlichen Studien derneueren Kindheitsforschung wurden bislang nurdeutsche nicht aber ausländische Kinder einbezo-gen. Dies wurde in der Regel begründet mit demfehlenden Wissen über den Einfluss der kulturellenHintergründe auf die gewonnenen Daten. Damitwird jedoch ein großer Teil kindlicher Lebensrea-lität ausgeblendet, und es fehlen Informationen überdas Alltagsleben eines großen Teils der Kinder – In-formationen, die bedeutsam sind für die Gestaltungvon institutionellem und außerinstitutionellem Kin-derleben generell und für die Konzeption von inter-kultureller Pädagogik im besonderen.

Die Situation der ausländischen Kinder wird häufigals ein Leben zwischen den Stühlen der „eigenen“und der „fremden“ Kultur dargestellt, gekennzeich-

net durch Widersprüchlichkeit, Belastungen und De-privation. Das Forschungsprojekt „MultikulturellesKinderleben“ des Bundesministeriums für Familie,Senioren, Frauen und Jugend geht für die Alters-gruppe der 5- bis 11-Jährigen von einer anderen Per-spektive aus: Deutschland ist für Kinder alltäglicherOrt und alltägliche Zeit ihrer Kindheit, wo sie Chan-cen und Hindernisse für ihr Handeln entdecken undwo sie an den Institutionen teilhaben, die ihnen dienotwendige Bildung für eine eigenverantwortlicheGestaltung ihres jetzigen und zukünftigen Lebensvermitteln. Es wird nicht per se von Unterschiedenzwischen deutschen und ausländischen Kindern aus-gegangen; alle Kinder bilden eine gemeinsame,wenn auch heterogene Kinderkultur. Der Blick wirdauch auf die Unterschiede zwischen den Familienausländischer Herkunft gerichtet, die als größer ein-geschätzt werden als ihre Gemeinsamkeiten; die Le-benswirklichkeit einer Zuwandererfamilie, die be-reits in der dritten Generation in Deutschland lebt,birgt für Kinder andere Erfahrungen als die Situationeiner Aussiedlerfamilie oder einer Familie, die alsAsylbewerber einer unsicheren Zukunft entgegenge-hen. Es wird davon ausgegangen, dass Kinder ihre jeeigenen Umgangsformen mit Multikulturalität ent-wickeln; weder ihre Familie und erst recht nicht sieselbst können als Repräsentanten einer bestimmtenKultur oder gar Nation festgelegt werden.

2.4 Stärkung der Erziehungskompetenz

Die Bundesregierung hat sich für diese Legislaturpe-riode unter anderem die Bekämpfung häuslicher Ge-walt vorgenommen, die nicht nur deutsche sondernauch Familien ausländischer Herkunft betrifft.

Gewalt soll als Mittel der Erziehung geächtet werden,indem Kindern ein Recht auf gewaltfreie Erziehungeingeräumt wird. Die Fraktionen SPD und BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN haben dazu den „Entwurf einesGesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung“(Drucksache 14/1247) eingebracht, der am 6. Juli 2000vom Deutschen Bundestag verabschiedet und am 29.September 2000 vom Bundesrat gebilligt wurde. Mitdiesem Gesetz wird eine Regelung in das BürgerlicheGesetzbuch (BGB) aufgenommen, die Kindern einRecht auf gewaltfreie Erziehung einräumt und kör-perliche Bestrafungen, seelische Verletzungen undandere entwürdigende Maßnahmen für unzulässig er-klärt. Außerdem wird das Achte Buch des Sozialge-setzbuches um eine Regelung ergänzt, nach der dieKinder- und Jugendhilfe den Eltern Wege aufzeigensoll, wie Konfliktsituationen in der Familie gewalt-frei gelöst werden können.

Schon jetzt gilt § 1666 BGB. Nach dieser Vorschrifthat das Familiengericht einzuschreiten, wenn dasKindeswohl durch häusliche Gewalt gefährdet wird,und es hat die zur Abwendung der Gefahr erforder-lichen Maßnahmen zu treffen. Die gerichtlichenMaßnahmen können bei fortdauernder schwerer Ge-fährdung bis zur Entziehung des Aufenthaltsbestim-

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Drucksache 14/4357 – XX – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

mungsrechts, der Personensorge oder der gesamtenelterlichen Sorge sowie auch des Umgangsrechts rei-chen. Nach Artikel 21 des Einführungsgesetzes zumBürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB) findet das deut-sche Recht grundsätzlich auch auf das Eltern-Kind-Verhältnis ausländischer Kinder, die ihren gewöhnli-chen Aufenthalt in Deutschland haben, Anwendung.

Durch Gesetze allein lässt sich aber weder eine Be-wusstseinsänderung noch eine Verbesserung der Er-ziehungskompetenz hin zur gewaltfreien Konflikt-bewältigung erreichen. Die Gesetzesnovelle wirddaher durch Informations- und Aufklärungsmaßnah-men der Bundesregierung begleitet. Insbesondereführt das Bundesministerium für Familie, Senioren,Frauen und Jugend eine Kampagne zur gewaltfreienErziehung durch, die über die Neufassung des Ge-setzes informieren, die Öffentlichkeit sensibilisierenund Alternativen zu einer Erziehung mit körperli-chen Strafen aufzeigen soll. Eltern sollen darin un-terstützt werden, bei Konflikten, in Situationen derÜberforderung und der Überlastung gewaltfrei mitihren Kindern umzugehen. Kern der Kampagne sindVor-Ort-Aktionen, die neue Kooperationsformenzwischen Eltern und anderen an der Erziehung vonKindern Beteiligten erproben und dazu beitragensollen, Familien, die schwer zu erreichen sind, ins-besondere auch Familien ausländischer Herkunft,anzusprechen.

Familien ausländischer Herkunft haben in gleicherWeise Anspruch auf Beratung und Intervention. Siekönnen in unterschiedlichen Problem- und Lebens-lagen auf ein qualifiziertes Beratungsnetz zurück-greifen, das von öffentlichen oder freien Trägern an-geboten wird. Die Beratung ist grundsätzlich für allezugänglich und kostenfrei. Einen Überblick gibt dervom Bundesministerium für Familie, Senioren,Frauen und Jugend geförderte und von der Deut-schen Arbeitsgemeinschaft für Jugend- und Ehebe-ratung e.V. herausgegebene „Beratungsführer“, derein Verzeichnis der Beratungsstellen in Deutschlandsowie ihre Leistungen, ihre Träger und Anschriftenenthält und Beratungsstellen mit speziellen Angebo-ten für Ausländerinnen und Ausländer ausweist.Während die Förderung einzelner Beratungsstellenin die Zuständigkeit von Ländern und Kommunenfällt, sichert die Bundesregierung die Angebote familienorientierter Beratung über die Förderungzentraler Beratungsträger (unter anderem der imDeutschen Arbeitskreis für Jugend-, Ehe- und Fa-milienberatung – DAK – zusammengeschlossenenVerbände) sowie durch Fachveranstaltungen undModellprojekte, mit denen träger- und länderüber-greifende Standards in der Ehe-, Familien und Le-bensberatung entwickelt und gesichert werden. Da-bei sind auch Fragen der Beratung von Familienausländischer Herkunft mit der vom Bund finanzier-ten Studie zur „Bestandsaufnahme in der institutio-nellen Ehe-, Familien- und Lebensberatung“ und derJahrestagung „Ausländer in der Beratung“ der Deut-schen Arbeitsgemeinschaft für Jugend- und Ehe-beratung e.V. behandelt worden, deren Erkenntnisse

der Deutsche Arbeitskreis in die Konzipierung seinerAus- und Fortbildungsangebote für die Fachkräfte inden rund 1 900 Beratungsstellen überträgt.

Das Bundesministerium für Familie, Senioren,Frauen und Jugend fördert darüber hinaus das Pro-jekt Interkulturelle Elternarbeit im ArbeitskreisNeue Erziehung e.V., das mit der Herausgabe der„Türkisch- deutschen Elternbriefe“ sowie dem Auf-bau einer Infrastruktur interkultureller Elternarbeitdas Ziel verfolgt, Eltern türkischer Herkunft bei derErziehung ihrer Kinder zu unterstützen, ihre Hand-lungskompetenz zu stärken und durch die Vernet-zung von deutschen und türkischen Elternorganisa-tionen ein gleichwertiges Miteinander zu erreichen.

In den letzten Jahren hat die Inanspruchnahme derEhe-, Familien- und Lebensberatung durch Familienausländischer Herkunft kontinuierlich zugenommen.

Auch die Familienbildung muss sich stärker der Fa-milien ausländischer Herkunft annehmen. Bereits inModellvorhaben erprobte Ansätze sind weiter zu ent-wickeln. Familienbildungsstätten haben in Berei-chen, in denen ein hoher Anteil ausländischer Be-völkerung lebt, eine Vielzahl von Anstrengungenunternommen, um auf diese Bevölkerungsgruppenzuzugehen. Die Bundesregierung wird auch in Zu-kunft im Rahmen ihrer Zuständigkeit die Bemühun-gen der Bundesverbände der Familienbildung unter-stützen.

2.5 Ältere Menschen ausländischer Herkunft

In immer mehr Familien ausländischer Herkunft le-ben alte Menschen; sie sind als Migranten inDeutschland alt geworden oder als alte Menscheneingewandert. Die Bundesregierung begrüßt daher,dass die Sachverständigenkommission in ihrem Be-richt das Thema der älteren Migrantinnen und Mi-granten in Deutschland aufgegriffen und analysierthat. Bereits 1995 wurde im Auftrag des Bundesminis-teriums für Arbeit und Sozialordnung der For-schungsbericht „Entwicklung von Konzepten undHandlungsstrategien für die Versorgung älter wer-dender und älterer Ausländer“ erstellt.

Das Bundesministerium für Familie, Senioren,Frauen und Jugend unterstützt die Partizipation undIntegration älterer Menschen ausländischer Herkunftdurch modellhafte Projektförderungen, Tagungenund Publikationen. Die dreibändige Publikation „Äl-tere Ausländer und Ausländerinnen in Deutschland“bezieht sich auf Möglichkeiten der Selbstorganisa-tion und Eigeninitiative und stellt mit der „Daten-bank Migration: Projekte und Kontaktadressen“ einumfangreiches Informationswerk zum gesellschaft-lichen Engagement dar.

Die Beauftragte der Bundesregierung für Ausländer-fragen hat gemeinsam mit dem Bundesministeriumfür Familie, Senioren, Frauen und Jugend die Ent-

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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – XXI – Drucksache 14/4357

wicklung eines speziellen Informationspaketes „Äl-ter werden in Deutschland“ unterstützt, das einemModell aus den Niederlanden nachgebildet ist unddas Ziel hat, die Vernetzung von Migrationssozialar-beit und Altenhilfe anzustoßen und die Zielgruppeder älteren Migranten an die Altenhilfe heranzu-führen. Dazu arbeitet die Informationsreihe mit einerinnovativen, handlungs- und lebensweltorientiertenMethodik. Dieses Informationspaket steht interes-sierten Institutionen ab Oktober 2000 zur Verfügung.

In erster Linie unterstützen die eigenen Kinder dieälteren Migranten und sind deren wichtigste fami-liäre Bezugspersonen. Aber auch den Geschwister-und sonstigen Verwandtschaftsbeziehungen kommteine herausgehobene Rolle zu. Im Rahmen einesvom Bundesministerium für Familie, Senioren,Frauen und Jugend geplanten Forschungsprojektessoll bei unterschiedlichen Ethnien untersucht wer-den, inwieweit die stabilen Netzwerkbeziehungen inZukunft auch unter veränderten Bedingungen erhöh-ter Berufstätigkeit und Mobilitätsanforderungen andie Angehörigen der zweiten und dritten Migranten-generation aufrecht erhalten werden können.

Im Zusammenhang mit der Pflege älterer Auslände-rinnen und Ausländer in Deutschland kommt der Al-tenpflegeausbildung eine besondere Bedeutung zu.Am 1. August 2001 wird das von der Bundesre-gierung initiierte Gesetz über die Berufe in der Al-tenpflege in Kraft treten, das diese Ausbildung bun-desrechtlich neu regelt. Die darin enthaltenenAusbildungsziele sind auf die ganzheitliche Pflegealter Menschen ausgerichtet. Zu den gesondert fest-zulegenden Ausbildungsinhalten soll auch die Ver-mittlung interkultureller Kompetenzen gehören. Da-rüber hinaus besteht für Altenpflegerinnen undAltenpfleger im Rahmen von Fort- und Weiterbil-dungsmaßnahmen die Möglichkeit, Zusatzqualifika-tionen zu erwerben. Das entsprechende Angebotmuss auf der Länderebene unterbreitet werden. DerBund hat diesbezüglich keine Regelkompetenz.

Die Bundesregierung plant außerdem, ein Altenhilfe-Baumodell für ältere Migrantinnen und Migranten zufördern. Ziel ist die Schaffung und Erprobung einerWohn- und Pflegeeinrichtung, die beispielgebendauf die besonderen Bedürfnisse älterer Migrantinnenund Migranten zugeschnitten ist und einen Beitragzur Integration älterer Ausländer leistet.

Die Sachverständigenkommission rückt auch Fra-gen von Remigration (Rückkehr in das Herkunfts-land) und Pendelmigration, die bisher zu wenig be-achtet wurden, in das Blickfeld. Zu Recht macht siedarauf aufmerksam, dass der größte Teil der Mi-granten Deutschland zu einem späteren Zeitpunktwieder verlässt und es bei älteren Migranten einenhohen Rückkehrwunsch gibt. Die Frage nach demVerbleib oder der Rückkehr ins Heimatland wird je-doch von vielen Älteren ausländischer Herkunft ausvielerlei Gründen nicht endgültig entschieden. Mit einem ausgeprägten Pendelverhalten vieler Älterer

zwischen Herkunfts- und Immigrationsland wird das„Dilemma“ einer endgültigen Entscheidung überden Wohnort im Alter umgangen. Diesem Phänomenmuss zukünftig mehr Aufmerksamkeit gewidmetwerden. Hierbei wird die von der Sachverständigen-kommission angeregte Harmonisierung der Systemevon Versorgungsdienstleistungen im Fall von Hilfe-und Pflegebedürftigkeit von Bedeutung sein.

3. Lebenslagen von Familien aus-ländischer Herkunft

Die Bundesregierung begrüßt die differenzierte Ana-lyse der verschiedenen Aspekte der Lebenslagen vonFamilien ausländischer Herkunft, welche die den Fa-milien zur Verfügung stehenden Ressourcen sowiedie unterschiedlichen Phasen der sozioökonomi-schen Entwicklung in Deutschland in ihrem wech-selseitigen Einfluss auf die Lebenslagen und die er-folgreiche Integration einbezieht.

Wie die Kommission darlegt, ist mit der Migrationin der Regel eine Veränderung der Positionierung inden sozialen Strukturen der Aufnahmegesellschaftverbunden. So konnten Prozesse des sozialen Auf-stiegs sowohl bei der Zuwanderer- wie bei zweitenGeneration gezeigt werden. Bei der Zuwandererge-neration wird sozialer Aufstieg vor allem durcheine extensive Erwerbstätigkeit, verbunden mit ho-her Spar- und Investitionstätigkeit sowie durch ei-nen Wechsel in die Selbständigkeit erreicht. Bei derzweiten Generation führen die teilweise beacht-lichen Zuwachsraten bei weiterführenden Schul-abschlüssen zu einer deutlichen Statusmobilität innerhalb der Familien. Die Sozialstruktur der aus-ländischen Bevölkerung in Deutschland ist heuteweitaus heterogener und differenzierter als infrüheren Jahrzehnten und entspricht insgesamt im-mer weniger dem Stereotyp einer Randgruppe.

Hinsichtlich zukünftiger Entwicklungen der sozia-len Struktur sieht die Bundesregierung jedoch un-terschiedliche Verlaufsmöglichkeiten mit weiterenDifferenzierungen. Sie werden beeinflusst durchdie Arbeitsmarktentwicklung, die – wie in den meis-ten anderen entwickelten Industriestaaten – durcherheblich gestiegene und weiter steigende Qualifi-kationsanforderungen für Arbeitsplätze gekenn-zeichnet ist. Migranten, deren Schul- und Berufs-ausbildung nicht den Anforderungen in modernenIndustrie- und Dienstleistungsgesellschaften ent-sprechen, suchen Arbeit in den immer kleiner wer-denden Arbeitsmärkten für niedrig Qualifizierte.Dort übersteigt die Arbeitsplatznachfrage längstdas Arbeitsplatzangebot. Im Unterschied zur Auf-fassung der Sachverständigenkommission kann un-ter gegenwärtigen und zukünftigen Bedingungennicht mehr von einem permanenten Freiwerden vonPositionen am unteren Ende der Statushierarchiesowie einer stetigen und steigenden Nachfrage nachBevölkerungszuwanderung ausgegangen werden.An die Stelle eines „Fahrstuhleffektes“ (Bericht der

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Sachverständigenkommission, S. 38) können ver-mehrt Arbeitslosigkeit und problematische Arbeits-verhältnisse treten, wenn nicht gezielte Bildungs- undQualifikationsanstrengungen unternommen werden.Daher haben sich die Beteiligten des Bündnisses fürArbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit daraufverständigt, Modellprojekte zur Förderung von Be-schäftigungsmöglichkeiten gering qualifizierter Ar-beitnehmer und Langzeitarbeitsloser im Rahmen ei-nes Sonderprogramms durchzuführen und damitunter anderem zu klären, ob zusätzliche Beschäf-tigungsmöglichkeiten für gering Qualifizierte er-schlossen werden können. Die Erwartungen richtensich hier auf den vermuteten noch unerschlossenenBedarf im Dienstleistungssektor, vor allem im Be-reich der personellen haushaltsnahen Dienstleistun-gen mit niedriger Produktivität.

3.1 Erwerbssituation

Die Kommission hat bei der Beschreibung der Er-werbssituation den Schwerpunkt auf die Bedeutungder legalen Erwerbstätigkeit für die Integration derausländischen Bevölkerung gelegt; die illegale Be-schäftigung und insbesondere ihre negativen Aus-wirkungen auf die ausländischen Arbeitskräfte wer-den dagegen nicht vertieft behandelt.

In der Alters- und Sozialstruktur hat sich die auslän-dische inzwischen der deutschen Bevölkerung deut-lich angenähert. Der Anteil der ausländischen Nicht-erwerbspersonen hat ebenso zugenommen wie derAnteil von Kindern, Jugendlichen und Studierenden.Dass der Anteil der ausländischen Arbeiter von 1987bis 1995 um fast 10 Prozentpunkte gesunken und derAnteil an den Angestellten im gleichen Zeitraum umgut 7 Prozentpunkte gestiegen ist, ist hauptsächlichauf die Eintritte der zweiten Generation der Migran-tenfamilien in die Erwerbstätigkeit zurückzuführen.

Die Kommission weist – auch angesichts der Be-schäftigungssituation – auf den relativ hohen Stel-lenwert der Selbständigkeit in Familien ausländi-scher Herkunft hin. Selbständigkeit, unterstütztdurch mithelfende Familien- und Verwandtschafts-mitglieder sowie ergänzt durch Sozialeinkommenund Erwerbseinkommen aus Teil- oder auch Voll-zeitjobs, ist für nicht wenige Familien ausländischerHerkunft die Basis für materiellen Erfolg. Der Anteilder Selbständigen ist ständig angestiegen und hatsich mittlerweile dem der Deutschen angenähert.

Ausländische Erwerbstätige sind doppelt so starkvon Arbeitslosigkeit betroffen wie deutsche. Arbeits-losigkeit bringt vielfältige Belastungssituationen mitsich, für Familien ausländischer Herkunft in spezifi-scher Weise. Arbeitslosigkeit ist für die Betroffenennicht nur ein ökonomisches und psychosoziales Pro-blem, sie bedeutet auch, die Migrationsziele unterUmständen neu bestimmen zu müssen. In den Be-wältigungsstrategien kommen den Stützmechanis-

men der Verwandtschafts- und Familiennetze einebesondere Rolle zu.

Für die Bundesregierung ist die Bekämpfung der Ar-beitslosigkeit, insbesondere der Jugendarbeitslosig-keit Schwerpunktaufgabe. Das von ihr initiierteBündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbs-fähigkeit dient diesem Ziel. Um den Abbau der Ju-gendarbeitslosigkeit insgesamt zu beschleunigen,hat die Bundesregierung im November 1998 das So-fortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeitbeschlossen, das am 1. Januar 1999 in Kraft getretenist. Dieses Programm besteht aus Ausbildungsange-boten für Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatzgefunden haben, und Qualifizierungs- und Beschäf-tigungsangeboten für arbeitslose Jugendliche. Fürdieses Programm, das die Bundesregierung über dasJahr 2000 hinaus verlängert hat, standen 1999 sowieim Jahr 2000 jeweils rund 2 Mrd. DM zur Verfügung.Der Anteil der jungen Ausländerinnen und Ausländeran den verschiedenen Maßnahmen des Sofortpro-gramms betrug 1999 rund 13 Prozent. Um diesen An-teil weiter zu steigern, ist in den ab Januar 2000 gel-tenden Richtlinien festgeschrieben worden, dassausländische Jugendliche ohne Ausbildung und Ar-beitsplatz entsprechend ihrem Anteil an der Jugend-arbeitslosigkeit zu berücksichtigen sind. Damit ist si-chergestellt, dass gerade junge Ausländerinnen undAusländer angemessen gefördert werden und einePerspektive in unserer Gesellschaft erhalten, dennJugend- und Langzeitarbeitslosigkeit behindern inbesonderem Maße die Integrationsprozesse der Men-schen mit ausländischer Herkunft.

Die Arbeitsgruppe „Aus- und Weiterbildung“ desBündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbs-fähigkeit berät unter Federführung des Bundesminis-teriums für Bildung und Forschung das Thema „Aus-und Weiterbildung von Migranten und Migrantin-nen“. Es ist zu erwarten, dass Bildungsmaßnahmenvorgeschlagen werden, die insbesondere auf die spe-ziellen Bedürfnisse der beruflichen Bildung jungerAusländer und Spätaussiedler abgestimmt sind. Siesollen die Maßnahmen ergänzen, die bereits im Rah-men des „Benachteiligtenprogramms“ der Bundesan-stalt für Arbeit durchgeführt werden. Dort werden z.B. ausbildungsbegleitende Hilfen (Aufarbeitung vonSprachdefiziten und sozialpädagogische Hilfen) unddie außerbetriebliche Berufsausbildung von Auslän-derinnen und Ausländern gefördert. Damit werdendie Beschlüsse ergänzt, die bereits im Jahr 1999 zurWeiterentwicklung der Benachteiligtenförderung ge-fasst worden sind.

Das Bundesministerium für Bildung und For-schung unterstützt mit jährlich rund 11 Mio. DMdie Förderung der Eingliederung von Spätaussied-lern sowie von Kontingentflüchtlingen mit abge-schlossenem Hochschulstudium. Im so genanntenAkademikerprogramm für 30 bis 50-jährige Aka-demiker werden Beratung und berufliche Orientie-rung, Sprachkurse, Ergänzungsstudien, beruflicheAnpassungskurse und Stipendien als Hilfen ange-

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boten. Die Absolventen dieser Maßnahmen fanden1998 zu rund 80 Prozent einen qualifizierten Ar-beitsplatz, der ihrer Ausbildung entspricht.

Auch die Rechtsgrundlagen der Kinder- und Ju-gendhilfe (SGB VIII) und der Arbeitsförderung(SGB III) berücksichtigen die besondere Verant-wortung für benachteiligte junge Menschen. Nachder Aufgabenzuweisung des § 13 SGB VIII sollJugendsozialarbeit „...jungen Menschen, die zumAusgleich sozialer Benachteiligung und zur Über-windung individueller Beeinträchtigungen in er-höhtem Maße auf Unterstützung angewiesen sind“sozialpädagogische Hilfen anbieten, die „ihre schu-lische und berufliche Ausbildung, Eingliederung indie Arbeitswelt und ihre soziale Integration för-dern“. Die Förderung von benachteiligten Ausbil-dungs- und Arbeitsplatzsuchenden zur Verbesse-rung ihrer Möglichkeiten für eine Erwerbstätigkeitist ausdrücklich als eines der Ziele der Arbeitsför-derung aufgenommen (§ 1 Abs. 1 SGB III).

3.2 Einkommenssituation

Die Kommission kommt zum Ergebnis, dass Fami-lien ausländischer Herkunft ihren Lebensunterhaltüberwiegend durch Erwerbstätigkeit sichern, dassdabei jedoch die unteren Einkommensbereiche stär-ker mit ausländischen als mit deutschen Familien be-setzt sind. Soweit Familien ausländischer Herkunftniedrige Erwerbseinkommen erzielen, ist der Zu-gang zu Sozialleistungen sowie zu öffentlichen undprivaten Transferleistungen von Bedeutung. DasKorrektiv der Transferleistungen kann sowohl Ein-kommensarmut verhindern als auch die Integrationund Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermögli-chen und fördern. Niedrige Einkommen in Verbin-dung mit anderen ungünstigen oder problematischenLebensbedingungen bergen Armutsrisiken, von de-nen auch Familien ausländischer Herkunft betroffensein können.

Das Bundesministerium für Familie, Senioren,Frauen und Jugend erarbeitet gegenwärtig Maßnah-men zur Armutsprophylaxe für Familien, um mitStrategien der Armutsvermeidung Familien vor demAbsinken in Armut zu bewahren. Ein Forschungs-projekt soll die Umstände und Gründe für das Ab-gleiten von Familien in wirtschaftliche Armut he-rausfinden; zusammen mit den hauswirtschaftlichenVerbänden und Familienbildungsstätten wird darü-ber hinaus ein Maßnahmenkonzept entwickelt, wiedie Selbsthilfekräfte der Familien gestärkt und dieFamilien nach Möglichkeit von staatlichen Unter-stützungsleistungen unabhängig gemacht werdenkönnen. Im Mittelpunkt der Projekte stehen unter-schiedliche Zielgruppen, auch ausländische Fami-lien in prekären und defizitären Lebenslagen.

3.3 Bildung und Ausbildung im Migrations-zusammenhang

Die Sachverständigenkommission belegt, dass Bil-dung und Ausbildung zur gesellschaftlichen Integra-

tion von Familien ausländischer Herkunft entschei-dend beitragen und den Zugang zu beruflichen Posi-tionen und zu kulturellen Systemen ermöglichen.Ein hohes Bildungsniveau trägt zu einem positivenSelbstkonzept bei, insbesondere der Kinder und Ju-gendlichen, und zur Erhöhung ihrer Kompetenz imUmgang mit der eigenen kulturellen Differenz. Einqualifizierter Schulabschluss und eine abgeschlos-sene Berufsausbildung sind entscheidende Voraus-setzungen für eine erfolgreiche Platzierung in densozialen Strukturen der deutschen Gesellschaft.

Ein Anliegen der Sachverständigenkommission istes, Bildung und Ausbildung nicht nur als Leistungender Aufnahmegesellschaft für Familien ausländi-scher Herkunft zu begreifen, sondern zugleich dieBildungsanstrengungen dieser Familien als Leistun-gen für die Aufnahmegesellschaft deutlich zu ma-chen. Bildungserfolge der Kinder ausländischer Fa-milien sind wie bei einheimischen Kindern abhängigvon den materiellen, kulturellen und sozialen Res-sourcen, die den Familien zur Verfügung stehen.Häufig sind Eltern vor dem Hintergrund ihrer eige-nen andersartigen und meist geringeren Schulerfah-rungen nicht in der Lage, den Schulalltag zu beglei-ten und die schulischen Belastungen ihrer Kinderaufzufangen. Sie sind von den Erwartungen und An-forderungen der Schule, insbesondere bei fehlendenoder schlechten Deutschkenntnissen, überfordert.Die Sachverständigenkommission weist weiter da-rauf hin, dass Eltern ausländischer Herkunft zu denBildungsinstitutionen ein ambivalentes Verhältnisentwickeln können, da diese einen großen Teil dererzieherischen Beeinflussung der Kinder überneh-men, neben Kenntnissen auch gesellschaftlicheWerte und Normen der Aufnahmegesellschaft ver-mitteln und damit den Einfluss des kulturellen Sys-tems relativieren, dem die Familie angehört. Wenndie kulturellen Systeme stark voneinander abwei-chen, kann dies zu Widerständen in der Familie undzu Konflikten führen, insbesondere wenn die Ein-flussmöglichkeiten der Eltern mit zunehmendem Al-ter der Kinder schwinden.

Doch auch im Umgang der Bildungsinstitutionen mitFamilien ausländischer Herkunft können Vorurteileund Klischees eine nicht unbedeutende Rolle spie-len, wie die Sachverständigenkommission darlegt.Gespräche zwischen Eltern und Lehrerinnen bezie-hungsweise Lehrern können an der sozioökonomi-schen, kulturellen und sprachlichen Distanz schei-tern, die Kommunikation kann aus Angst undUnsicherheit vermieden werden. Lehrerinnen undLehrer konzentrieren sich eher auf ihre fachwissen-schaftliche Qualifikation und verfügen nicht immerin ausreichendem Maß über fundierte pädagogisch-psychologische Kenntnisse und Kompetenzen in derinterkulturellen Kommunikation. Für Kinder auslän-discher Herkunft wird häufig von der Annahme aus-gegangen, Fähigkeiten und Defizite richteten sichauch nach nationaler oder ethnischer Herkunft. Esüberwiegt häufig eine defizitäre Bewertung, Bikul-turalität und Bilingualität dieser Schülerpopulatio-nen werden eher als Integrationshindernis denn alsRessourcen betrachtet.

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Ein interkulturelles Lern- und Weiterbildungsange-bot für Lehrerinnen und Lehrer, Sozialpädagoginnenund Sozialpädagogen, Erzieherinnen und Erzieher istdaher notwendig. Dies ist eine Aufgabe, die sich inerster Linie an Länder und Kommunen richtet. DerBund nimmt seine Anregungsfunktion zum Beispieldurch die Förderung von Modellprojekten wahr. Sofördert das Bundesministerium für Bildung und For-schung seit 1999 das Projekt „Praxisnahes Weiter-bildungscurriculum für Lehrer, Sozialarbeiter und Mitarbeiter der Jugendämter zur Entwicklung vonHandlungsstrategien für die Bekämpfung von Frem-denfeindlichkeit und zur Vorbereitung der Umsetzungvon Konzepten der Gewaltprävention, insbesonderein den neuen Bundesländern“ beim Institut für beruf-liche Bildung und Weiterbildung e.V. in Göttingen.

Die Bundesregierung sieht in der Gewährleistungvon Chancengerechtigkeit für Familien ausländi-scher Herkunft in Bildung und Ausbildung eine zen-trale Aufgabe der Politik. Bund und Länder fördernauf Integration in die Gesellschaft orientierendeMaßnahmen mit erheblichen Mitteln. Darüber hi-naus leisten die unterschiedlichsten Institutionen undgesellschaftlichen Organisationen wie zum BeispielKirchen, Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften undKommunen, spezifische Beiträge. Die Bundesregie-rung unterstützt zentrale Forderungen des Berichtsfür den Bereich der Bildung. Eine Reihe von Forde-rungen richten sich in erster Linie auch an Länderund Kommunen. Dazu gehört auch die Forderung,Kindern ohne legalen Aufenthaltsstatus in Deutsch-land einen Schulbesuch zu ermöglichen.

Auch in der beruflichen Ausbildung bestehen wei-terhin deutliche Unterschiede zwischen deutschenund Jugendlichen ausländischer Herkunft. Unter denausländischen Jugendlichen bleibt jeder Dritte ohneBerufsabschluss. Die insgesamt geringe Beteiligungder ausländischen Jugendlichen an weiterführendenStufen des Schulsystems steigert deren Bedarf anLehrstellen. Die Konzentration auf wenige Berufeund die zunehmende Konkurrenz auf dem Ausbil-dungsmarkt erschweren jedoch die Aufnahme einerAusbildung.

Im Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbe-werbsfähigkeit wurden weitreichende Aktivitätenund Leitlinien zur Sicherung eines ausreichendenAusbildungsplatzangebotes insbesondere in denneuen Ländern, zur Förderung von Jugendlichen mitschlechteren Startchancen, zur Früherkennung vonneuem Qualifikationsbedarf sowie zur strukturellenWeiterentwicklung der dualen Berufsausbildung undder beruflichen Weiterbildung vereinbart.

Um Lehrstellen zu gewinnen, wird auch versucht,zusätzliche Ausbildungsplätze in ausländischen – vor allem in türkischen Unternehmen – zu er-schließen. In den vergangenen beiden Jahren habensich in vielen Regionen Initiativen entwickelt, diesich für die Ausbildungsteilnahme von ausländi-schen Unternehmen einsetzen. Um insbesondere

neuen Projekten den Einstieg in die Arbeit zu er-leichtern sowie den Erfahrungsaustausch zwischenden einzelnen Initiativen zu optimieren, wurde imJuli 1999 die „Koordinierungsstelle Ausbildung inausländischen Unternehmen“ (KAUSA) mit der fi-nanziellen Unterstützung des Bundesministeriumsfür Bildung und Forschung und des Bundesministe-riums für Arbeit und Sozialordnung mit dem Zieleingerichtet, in den nächsten drei Jahren durch einezentrale Informations- und Koordinierungsarbeit dieAnzahl der Ausbildungsplätze in Unternehmen mitInhabern ausländischer Herkunft zu erhöhen. Dazusollen die inzwischen angelaufenen Aktivitäten bes-ser aufeinander abgestimmt und vernetzt, der Infor-mationsaustausch über das Internet organisiert unddie Öffentlichkeitsarbeit weiter verstärkt werden, uminsgesamt eine größere Breitenwirkung zu erzielen.

Das Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen istjedoch nach wie vor nicht befriedigend. Die damitverbundene Verschiebung von Ausbildungslastenauf die öffentliche Hand ist nicht akzeptabel. DieBundesregierung appelliert an Wirtschaft, Länderund Kommunen, ihr Ausbildungsplatzangebot deut-lich auszuweiten.

Die Sachverständigenkommission vermutet wegendes relativ geringen Anteils ausländischer Jugendli-cher an allen Auszubildenden im öffentlichen Dienstdort eine gewisse „Zurückhaltung“ (Bericht derSachverständigenkommission, S. 193) bei der Aus-bildung dieser Jugendlichen. Eine solche „Zurück-haltung“ besteht nicht. Bewerbungen ausländischerJugendlicher um einen Ausbildungsplatz im öffentli-chen Dienst werden für alle Bewerberinnen und Be-werber nach gleichen Auswahlkriterien bearbeitet.Nach Auskunft großer Einstellungsbehörden im Be-reich der Bundesverwaltung gehen jedoch für Ver-waltungsberufe – wie z. B. Verwaltungsfachange-stellte/Verwaltungsfachangestellter, Fachangestellte/Fachangestellter für Arbeitsförderung, Sozialversi-cherungsfachangestellte/Sozialversicherungsfachan-gestellter – nur wenige Bewerbungen ausländischerJugendlicher ein. Der geringe Anteil von ausländi-schen Auszubildenden ist also auf das Bewerbungs-verhalten zurückzuführen, dessen Ursachen nachge-gangen werden muss.

Auch die Berufung in das Beamtenverhältnis istnicht ausschließlich Deutschen vorbehalten. Viel-mehr sind durch das „Zehnte Gesetz zur Änderungdienstrechtlicher Vorschriften“ vom 20. Dezem-ber 1993 Staatsangehörige anderer EU-Mitglieds-staaten hinsichtlich der Berufung in das Beamten-verhältnis Deutschen grundsätzlich gleichgestellt.Aber auch Nicht-EU-Ausländer können nach demBeamtenrechtsrahmengesetz und dem Bundesbeam-tengesetz in das Beamtenverhältnis berufen werden,wenn ein dringendes dienstliches Bedürfnis besteht.

Für besonders benachteiligte Jugendliche hat dasBundesministerium für Familie, Senioren, Frauenund Jugend das Programm „Entwicklung und Chan-cen junger Menschen in sozialen Brennpunkten

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(E&C)“ ins Leben gerufen. Mit dem Sozialen Trai-ningsjahr wird ein neues, maßgeschneidertes Ange-bot entwickelt, das den Jugendlichen die fehlendensozialen und beruflichen Schlüsselqualifikationenvermittelt. Auf der gesetzlichen Grundlage des Frei-willigen Sozialen Jahres wird erprobt, ob ein frei-williges Engagement geeignet ist, benachteiligtenJugendlichen berufliche und soziale Schlüsselquali-fikationen für den Zugang in Ausbildung oder Berufzu vermitteln. Den Kern des pädagogischen Kon-zepts bildet die Verbindung von Arbeitserfahrungenmit externen Qualifikationsbausteinen. Die Arbeitsoll der Orientierung dienen, Lernen am Arbeitsplatzermöglichen und Motivation für weitere Qualifizie-rungsschritte wecken. Die „ausbildungsähnlichen“Standards des sozialen Trainingsjahres eignen sichbesonders für die Gewöhnung der Zielgruppe an re-guläre Ausbildungsverhältnisse, die sie sowohl ausihrem persönlichen Erfahrungshorizont als auch ausihrem Sozialraum nur noch zum Teil kennen. Hierfürist eine enge Kooperation mit Schulen, Sozialamt,Jugendamt und der Arbeitsverwaltung erforderlich.Das soziale Trainingsjahr wird bundesweit in allenBundesländern an 41 Standorten mit 1 000 Jugendli-chen erprobt. Es wird wissenschaftlich ausgewertet,damit es systematisch verbessert und bei Erfolg dau-erhaft eingerichtet werden kann.

Junge Zuwanderer sollen im Rahmen des Pro-gramms (E&C) als besondere Zielgruppe angespro-chen und berücksichtigt werden; dazu wurden mo-dellhaft elf Anlaufstellen für zugewanderteJugendliche bei bestehenden Einrichtungen der Ju-gendsozialarbeit angegliedert. Diese Fach- und An-laufstellen für Jugendliche mit Migrationshinter-grund sollen als Anwalt der jungen Zuwandererderen Interessen in Stadtteilkonferenzen, bei derKinder- und Jugendhilfeplanung, in Verbänden undGremien einbringen und vertreten. Neben der indivi-duellen Beratung und Betreuung der Jugendlichenübernehmen sie die Aufgabe, dafür Sorge zu tragen,dass zugewanderte Jugendliche bei den Angebotenund Leistungen in allen Bereichen angemessenberücksichtigt werden.

3.4 Deutsche Sprachkenntnisse und Mehrsprachigkeit

Die Sachverständigenkommission macht deutlich,welche Bedeutung das Erlernen der deutschen Spra-che im Kindesalter hat. Die BildungsinstitutionenKindergarten und Schule müssen sich dieser Auf-gabe stärker als bisher mit erprobten und zu erpro-benden Ansätzen zuwenden.

Doch auch Eltern müssen in ihren sprachlichenKompetenzen deutlich gestärkt werden. Eine Kom-munikation ausschließlich über die Kinder kann zuderen Überforderung und zu Autoritätsverlustender Eltern führen. Darüber hinaus schränkenSprachbarrieren nicht nur die Erwerbschancen er-heblich ein, sondern auch die Möglichkeiten der

Beteiligung am gesellschaftspolitischen Leben undder demokratischen Teilhabe. Schließlich ist dieKenntnis der deutschen Sprache die Grundvoraus-setzung für die Kommunikation zwischen deutschenund ausländischen Familien, eine der Voraussetzun-gen also auch für den Abbau von gegenseitigen Vor-urteilen, von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.

Die Bundesregierung legt deshalb auf die Förderungder deutschen Sprachkenntnisse besonderes Ge-wicht. Bund und Länder fördern hierzu eine Vielzahlvon Maßnahmen mit erheblichen Mitteln. So werdenz. B. für die sprachliche Integration von ausländi-schen Arbeitnehmern und deren Familienangehöri-gen allein im Jahr 2000 durch das Bundesministe-rium für Arbeit und Sozialordnung 34 Millionen DMbereitgestellt, darüber hinaus sind 800 MillionenDM als Eingliederungsleistungen für Spätaus-siedlerinnen und Spätaussiedler, Asylberechtigteund Kontingentflüchtlinge vorgesehen. Das Bundes-ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Ju-gend fördert mit weiteren 151 Millionen DM dieSprachförderung jugendlicher Spätaussiedlerinnenund Spätaussiedler. Die Bundesregierung arbeitetzur Zeit an einem gruppenübergreifenden Gesamt-konzept für ein völlig neues System der Sprachför-derung mit der Leitidee, in Zukunft alle Zuwanderermit einer dauerhaften Aufenthaltsperspektive gleichzu behandeln. In dem neuen Gesamtsprachkonzeptsollen die unterschiedlichen Fördersysteme für Aus-siedlerinnen und Aussiedler sowie Ausländerinnenund Ausländer zusammengefasst und nach einheitli-chen Kriterien für eine bedarfsgerechte Integrationder Zuwanderer neu strukturiert werden. Damit solleine Förderung junger Migrantinnen und Migrantenmit einem dauerhaften Bleiberecht, unabhängig vonihrem Status oder von Berechtigungen durch Vorbe-schäftigungszeiten, sichergestellt werden.

In den Streitkräften werden Angebote zur sprachli-chen Weiterbildung für Russlanddeutsche im Grund-wehrdienst bereitgestellt, um die Integration jungerMänner aus Aussiedlerfamilien in die Bundeswehrzu erleichtern.

Die Sachverständigenkommission hebt hervor, dassneben der deutschen Sprache auch die Sprachpoten-ziale in der Herkunftssprache der Familien erhaltenund gepflegt werden müssen, um die kulturelle Iden-tität und die Kommunikation innerhalb der Familiensowohl in der Aufnahmegesellschaft als auch in derHerkunftsgesellschaft zu erhalten und die Rückkehrin das Herkunftsland offen zu halten. Zwei- oderMehrsprachigkeit ist darüber hinaus eine Ressource,die angesichts der Globalisierungsprozesse undwachsender Mobilität besonders zu fördern ist.

Dazu ist es wichtig, dass Kinder, Jugendliche undjunge Erwachsene die in der Familie gesprocheneSprache auch in der Schule und in der Berufsausbil-dung weiter lernen können. Hierfür gibt es bereitsgute Beispiele. So fördert das Bundesministerium fürBildung und Forschung das Projekt „Entwicklung

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von Curricula für den berufsbezogenen Fachunter-richt in türkischer Sprache“ für die Bereiche „kauf-männische Berufe“, „Metallberufe“ und „Elektrobe-rufe“. Das Projekt wird in Berlin, Dortmund undHamburg durchgeführt. Für die türkischen Jugendli-chen werden geeignete Unterrichtsmaterialien unterBeteiligung von deutsch-türkischen Sprachdidakti-kern, die die deutsche und türkische Sprache beherr-schen, erstellt. Diese können sowohl in der Türkei alsauch in Deutschland in der Berufsausbildung einge-setzt werden. Sie sind ein wichtiger Beitrag zur Er-weiterung bzw. Vereinfachung der Unterrichtspla-nung und Unterrichtsdurchführung und halten einemögliche Reintegration in das Herkunftsland offen.

3.5 Wohnen und soziales Umfeld

Eine generalisierende Problemsicht sieht die Fami-lien ausländischer Herkunft in erster Linie als aufdem Wohnungsmarkt benachteiligte und problembe-haftete Bevölkerungsgruppe an. Dem setzt die Sach-verständigenkommission eine differenzierte Analyseentgegen. Segregiertes Wohnen wird dabei nichtausschließlich als Indikator für eine mangelnde Inte-gration angesehen, sondern auch als Ausdruck vonfunktionierenden ethnischen Netzwerken undSelbsthilfepotenzialen in einem längerfristigen Inte-grationsprozess. Familien ausländischer Herkunftsuchen in der Migration in aller Regel Nachbar-schaften auf, wo bereits Angehörige der eigenen eth-nischen Kultur, ja mehr noch, der eigenen Familienleben. Dadurch wird das Entstehen bzw. die Nutzungvon funktionierenden ethnischen Netzwerken undSelbsthilfepotenzialen ermöglicht.

Wie die Sachverständigenkommission feststellt, ha-ben Familien ausländischer Herkunft nicht generellWohnraumversorgungsprobleme. Zum Teil ist abereine Konzentration von Zuwanderern auf Wohn-quartiere zu beobachten, die in der Wohnqualitätund im sozialen Status benachteiligt sind. Die Ursa-chen hierfür sieht sie nur zum Teil in dem geringenEinkommen dieses Personenkreises und den gegen-über einzelnen Ausländergruppen noch bestehendenVorbehalten am Wohnungsmarkt, in vielen Fällendagegen als bewusste Entscheidung von Zuwander-erfamilien, zeitweise oder dauerhaft in enger Ge-meinschaft mit Landsleuten, insbesondere bereitsansässigen Familienmitgliedern, und damit in einemvertrauteren Umfeld zu wohnen.

Bisherige Konzepte zur Wohnintegration von Aus-ländern zeigen, dass bestehende Nachteile von Fa-milien ausländischer Herkunft nur über einen län-gerfristigen Integrationsprozess abgebaut werdenkönnen. Zwischen dem sozial-kulturellen Zusam-menleben in den Familien und Nachbarschaftendeutscher und ausländischer Familien und den Stadt-teilstrukturen besteht eine enge Wechselwirkung.

Selbsthilfeinitiativen und stadtteilorientierte Treff-punkte wie Mütter-, Familien- oder Nachbarschafts-

zentren sind wegen ihrer niederschwelligen Ange-bote in besonderer Weise geeignet, die Integration zufördern und Familien bei der Bewältigung ihres All-tags zu unterstützen. Durch interkulturelle Ansätzeund Veranstaltungen leisten sie gleichzeitig einen er-heblichen Beitrag zum Abbau von Klischeevorstel-lungen bei ausländischen Familien als auch bei derdeutschen Bevölkerung. Selbsthilfepotenziale undehrenamtliches Engagement der Familien ausländi-scher Herkunft sind mit den institutionellen Dienstenzu vernetzen und zu fördern. In erster Linie sind hier-bei Länder und Kommunen in der Verantwortung.Kommunale Initiativen und Maßnahmen der kom-munalen Familienpolitik können einen wichtigenBeitrag dazu leisten.

Gute Verkehrsverbindungen und adäquate Einkaufs-möglichkeiten sowie eine spezifische Ausstattungmit sozialer und kultureller Infrastruktur sind auchfür Familien ausländischer Herkunft wichtige Be-dingungen für die Bewältigung ihres Alltags. Dieverschiedenen Ausländergruppen haben an der Ge-staltung dieser Infrastrukturen, wie die Sachverstän-digenkommission zeigt, einen eigenen Anteil, sei esdurch Geschäfte und Gaststätten oder Kulturtreffsund religiöse Einrichtungen. Kommunen können de-ren Entstehung und Existenz auf verschiedene Weiseunterstützen.

Häufig sind Stadtteile oder Quartiere, die sich imVerlauf der Zuwanderungsprozesse in Großstädtenzu ethnischen Enklaven entwickelt haben, von einerKumulation sozialer, wirtschaftlicher und städtebau-licher Probleme und sozialräumlicher Segregationbedroht. Unter anderem für diese Stadt- und Ortsteileist in Ergänzung der bisherigen Städtebauförderungdas neue Bund-Länder-Gemeinschaftsprogramm„Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf –die soziale Stadt“ geschaffen worden, mit dem in denWohnquartieren durch Bündelung und koordinier-ten Einsatz aller stadtentwicklungspolitisch bedeut-samen Ressourcen und Maßnahmen zusätzlicheMöglichkeiten zur Integration von Zuwanderfami-lien geschaffen werden. Das Förderungsprogramm,das 1999 mit einem Volumen (Verpflichtungsrah-men) von 300 Millionen DM (davon 100 MillionenDM Bundesmittel) angelaufen ist und im Jahr 2000in gleichem Umfang fortgesetzt wird, kann dazu bei-tragen, das Lebensumfeld des Wohnstandorts aus-ländischer und deutscher Familien zu verbessern.

3.6 Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit undRassismus

Bei der Bekämpfung von Rechtsextremismus, Anti-semitismus und Fremdenfeindlichkeit sind nebenkonsequenten polizeilichen und justiziellen Reaktio-nen Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, Kinder-, Ju-gend- und Familienpolitik ebenso gefordert wie dieBildungs-, Kultur- und Medienpolitik und dies nichtnur auf Bundes-, sondern auch auf Landes- undKommunalebene. Prävention setzt schließlich auch

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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – XXVII – Drucksache 14/4357

auf die verantwortliche Beteiligung der Privatwirt-schaft und des bürgerschaftlichen Engagements. Wiedie Sachverständigenkommission darstellt, lässt sichFremdenfeindlichkeit nicht auf die Gegensätzlichkeitvon „Einheimischen“ und „Zuwanderern“ reduzie-ren, es geht um kulturelle und nationale Identitäten.Es gilt, gemeinsame Erfahrungsräume zu schaffen,die auch persönliche Begegnung ermöglichen, damitkulturelle und ethnische Differenz nicht als Bedro-hung empfunden wird.

Die Bundesregierung ist entschlossen, ausländer-feindlichen, antisemitischen und rechtsextremenEntwicklungen mit allen zur Verfügung stehendendemokratischen Mitteln entschieden entgegenzutre-ten. Fremdenfeindliche und rassistische Gewaltgehören nicht zum Spektrum gesellschaftlich akzep-tierten Handelns. Mit dem bundesweit angelegten„Bündnis für Demokratie und Toleranz – gegen Ex-tremismus und Gewalt“ soll die Sensibilisierung derÖffentlichkeit für Demokratie und Toleranz und ge-gen Extremismus und Gewalt verstärkt werden.Bündnispartner werden gleichermaßen staatlicheStellen aller Ebenen, gesellschaftliche Gruppen, Ver-bände und bürgerliche Initiativen sein. Jugendliche,alle in der Erziehungsarbeit stehenden Multiplikato-ren und solche Institutionen und Vereinigungen, diedie Bündnisidee aktiv umsetzen können, sollen alsbesondere Zielgruppe im Vordergrund stehen.

Außerdem hat die Bundesregierung eine Initiative„Arbeit und Qualifizierung gegen Rassismus undFremdenfeindlichkeit“ beschlossen. Es werden übereinen Zeitraum von zunächst drei Jahren 75 Milli-onen DM aus dem Europäischen Sozialfonds vor-rangig für präventive Arbeit mit Jugendlichen bereit-gestellt. Dabei werden regionale Projekte undörtliche Initiativen – auch wenn sie nicht verbands-und trägerorientiert sind – gefördert und gestärkt.Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialord-nung und das Bundesministerium für Familie, Seni-oren, Frauen und Jugend übernehmen die Steue-rungsfunktion der Initiative.

Die beste Prävention gegen Gewalt und Rechts-extremismus ist eine sichere Lebensperspektive. Voraussetzung dafür ist ein politisches Handeln, dasallen Jugendlichen glaubwürdige Chancen auf ge-sellschaftliche Integration und Teilhabe eröffnet undsie befähigt, ihre Chancen auch wahrzunehmen.Und obwohl erfolgreiche Lebenslagenpolitik keinGarant für eine Verhinderung von Rechtsextremis-mus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit ist,gilt umgekehrt: ohne sie sind alle präventivenMühen vergeblich. Die Bundesregierung hat dahermit ihrem Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wett-bewerbsfähigkeit und der Offensive zur Bekämp-fung der Jugendarbeitslosigkeit wirksame Zeichengesetzt.

Das Bekenntnis zu den demokratischen und humani-stischen Grundwerten und die Absage an jeglicheForm von Extremismus und Fremdenfeindlichkeitgehört zu den fundamentalen Prinzipien der Jugend-arbeit in der Bundesrepublik Deutschland und findetin den verschiedensten Maßnahmeformen Ausdruck– von der klassischen politischen Bildung bis hin zusozialen Diensten und konkretem gesellschaftspoli-tischen Handeln. So wird zum Beispiel im Rahmendes Kinder- und Jugendplans des Bundes das Pro-gramm „Politische Bildung“ in Höhe von rund 20 Mil-lionen DM jährlich gefördert.

Das Bundesministerium für Familie, Senioren,Frauen und Jugend nimmt seine Verantwortung zurBekämpfung rechtsextremistischer, fremdenfeindli-cher und antisemitischer Einstellungen und Hand-lungen sehr ernst. Mit dem Ziel des Abbaus von Diskriminierung und der Schaffung von Chancen-gleichheit und gegenseitiger Toleranz werden imRahmen einer Vielzahl von Maßnahmen aus den Be-reichen der Integration von jungen Zuwanderinnenund Zuwanderern, der Kinder- und Jugendhilfe, derSenioren- und der Gleichstellungspolitik, Ursachenund Hintergründe erforscht, neue Wege und Ansätzeerprobt und konkrete Hilfestellungen gegeben. Sowird das Projekt „Rechtsextremismus und Fremden-feindlichkeit – jugendpolitische und pädagogischeHerausforderungen“ (DJI Arbeitsstelle Leipzig), ak-tiviert, um konzeptionelle Ansätze zur Extremismus-bekämpfung in der Kinder- und Jugendhilfe besserund gezielter verfolgen zu können. Weiter sind zumBeispiel Projekte zu nennen wie das Nationale Kon-zept „Sport und Sicherheit“ mit Förderung der „Ko-ordinationsstelle Fan-Projekte“ bei der DeutschenSportjugend in Frankfurt, das Projekt „Straßenfuß-ball für Toleranz“ der Brandenburgischen Sport-jugend, das Informations-, Dokumentations- undAktionszentrum für Antirassismus (IDA) der Ju-gendverbände und Jugendinitiativen Deutschlands,das Medienverbund-Trainings-Programm zur Stär-kung der Verhaltenssicherheit von Jugendleitern undJugendleiterinnen, Sozialarbeitern und Sozialarbei-terinnen und Pädagogen und Pädagoginnen gegen-über rechtsextremistischen Aktivitäten und Auslän-derfeindlichkeit bei Jugendlichen oder Maßnahmender Internationalen Seniorenbegegnung mit dem Zielder Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte undErfahrungsaustausch zum Abbau von Vorurteilenund der Vermittlung von Verständnis und Toleranzmit Schwerpunkten in Osteuropa, Israel und denNiederlanden.

Außerdem werden in Eingliederungsprogrammenfür jugendliche Spätaussiedler neben SprachkursenMaßnahmen der aufsuchenden Sozialarbeit zur Ver-meidung von Alkohol- und Drogenmissbrauch sowiezur Gewaltprävention angeboten. Es wird erwogen,diese Integrationsmaßnahmen in Zukunft auch aufjunge Ausländer auszuweiten.

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Drucksache 14/4357 – XXVIII – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

3.7 Gesundheit

Die Sachverständigenkommission arbeitet trotz ei-ner schwierigen Datenlage verschiedene Aspekteund Besonderheiten der gesundheitlichen Situationin Familien ausländischer Herkunft heraus und stelltinsbesondere die Potenziale und Leistungen der Fa-milien für die Gesunderhaltung ihrer Mitglieder dar.Familien helfen Stress zu bewältigen und geben Haltbei der Auseinandersetzung mit dem neuen Umfeld.Starke Bindungen der Familienmitglieder unterein-ander und klare Rollenverteilungen können alsSchutzfaktor wirken. Kulturelle Einstellungen, reli-giöse Orientierungen und verwandtschaftliche Netz-werke stellen für diese Familien emotionale und ma-terielle Unterstützungspotenziale dar.

Vor allem Migrantinnen der ersten Generation verfü-gen über ein Laienwissen, das sich auf viele Berei-che des Alltagslebens von der Ernährung bis zu denkulturellen Systemen der Wahrnehmung und Inter-pretation von Symptomen und Krankheiten er-streckt. Diese familialen Routinen im Umgang mitKrankheiten beeinflussen im Zusammenhang mitanderen Aspekten der sozialen Lage entscheidenddas Gesundheits- und Krankheitsverhalten der Fami-lien ausländischer Herkunft. Sie müssen erhaltenund gefördert werden.

Zur gesundheitlichen Situation von Migrantinnenund Migranten liegen weder spezielle repräsentativeUntersuchungen vor, noch wird diese Gruppe in Stu-dien über die Gesundheitssituation in Deutschlandbesonders berücksichtigt; auch die im Rahmen derGesundheitsberichterstattung des Bundes vom Stati-stischen Bundesamt erhobenen Daten lassen in allerRegel kaum Aussagen über spezifische Gesundheits-probleme von Migrantinnen und Migranten oder einspezifisches Verhalten der Inanspruchnahme von ge-sundheitlicher Versorgung zu. Um eine bessereKenntnis über die Datenlage und Qualität eventuellweiterer vorhandener Datenquellen gewinnen zukönnen, hat das Robert-Koch-Institut einen Auftragzur Ermittlung vorhandener Daten und Informatio-nen vergeben.

Neben spezifischen Gesundheitsrisiken an von Be-rufstätigen ausländischer Herkunft eingenommenenArbeitsplätzen stellt die Kommission höhere Tuber-kuloseinzidenzen insbesondere bei Migranten undMigrantinnen aus osteuropäischen Ländern fest.Schließlich kommt der Bericht zum Ergebnis, dassSuchterkrankungen sich als eines der gesundheitli-chen Risiken in Familien ausländischer Herkunftdarstellen und weist insbesondere auf die besondereBedeutung der Suchtprävention in Familien auslän-discher Herkunft hin.

In der Suchtprävention sind bereits auf Zielgruppenzugeschnittene spezifische Angebote der Suchtkran-kenhilfe entstanden. Bisher nur ungenügend über-prüft ist jedoch, inwieweit sie ihre Klientel erreichen.

Um gezielte Maßnahmen der Prävention und der ge-sundheitlichen Hilfe bei Suchterkrankungen ent-wickeln zu können, lässt das Bundesministerium fürGesundheit Expertisen erstellen. In diesen Experti-sen wird eine quantitative Bestandsaufnahme, eineLiteraturauswertung, die den Zusammenhang vonDrogenkonsum, kulturellem Hintergrund und Mi-grantenstatus untersucht, und eine Bestandsauf-nahme und Evaluation bestehender Angebote derSuchtkrankenhilfe vorgenommen. Die verschiede-nen Teilexpertisen werden noch im Jahr 2000 abge-schlossen sein. Anschließend wird geprüft, ob zu-sätzliche Forschung oder gezielte Einzelprojektedurchzuführen sind.

Erhebliche Schwellen bei der Inanspruchnahme vonDiensten und Einrichtungen durch Familien auslän-discher Herkunft sind unzureichende Kenntnisseüber Versorgungssysteme und medizinische Vor-gänge. Hier sieht die Bundesregierung ihre Aufgabein der Erfassung, Bewertung und verstärkten Infor-mation über verfügbare Angebote an Akteure undBerater (zum Beispiel Hausärzte, MedizinischerDienst der Krankenversicherung), in der Verbesse-rung des Kenntnisstandes des medizinischen Per-sonals über die spezifischen Kulturen sowie in derEinflussnahme auf Länder und Kommunen zur Aus-gestaltung wirksamer Unterstützung. Diese beginntbei zweisprachigen Broschüren und muttersprachli-chen Informationsveranstaltungen, umfasst Bera-tungsstellen und Sozialstationen mit muttersprachli-chem Personal und reicht bis zu interkulturellenGesundheitszentren. Viel Sensibilität ist erforder-lich, um die individuell vorhandenen – wie zum Beispiel familiären beziehungsweise nachbarschaft-lichen – Unterstützungs- und Hilfesysteme aufzu-greifen, einzubeziehen und zu stärken.

Die Beauftragte der Bundesregierung für Ausländer-fragen hat einen Arbeitskreis „Migration und öffent-liche Gesundheit“ eingerichtet, der eine Reihe vonVeröffentlichungen mit praktischen Anregungenherausgibt sowie zur Unterstützung und Verbreitungbereits praktizierter Modelle beiträgt. Ziel des Ar-beitskreises ist eine Verbesserung der Informations-verbreitung und Koordinierung von Maßnahmen.Mitglieder des Arbeitskreises sind sowohl das Bun-desministerium für Gesundheit als auch die Bundes-zentrale für gesundheitliche Aufklärung.

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärunggibt in Zusammenarbeit mit diesem Arbeitskreis ei-nen Info-Brief im Internet heraus. Damit steht ein In-strument zur Vernetzung der zahlreichen Aktivitätenzur Verfügung, um zentrale Informationen dezentralzugänglich zu machen und die Informationstranspa-renz zu verbessern.

Im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheitführt sie darüber hinaus Kampagnen und Maßnah-men zur gesundheitlichen Aufklärung in den The-menbereichen Gesundheit von Kindern, AIDS-

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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – XXIX – Drucksache 14/4357

Prävention und Suchtvorbeugung, sowie im Auftragdes Bundesministeriums für Familie, Senioren,Frauen und Jugend zur Sexualaufklärung und Fami-lienplanung durch. Die Kampagnen richten sichgrößtenteils an die Gesamtbevölkerung, aber auch anspezielle Zielgruppen wie ausländische Bürger undBürgerinnen, die in Deutschland leben.

Für die am häufigsten vertretenen Migrantengruppen bietet die Bundeszentrale für gesundheitliche Auf-klärung außerdem Basismaterialien in den Themen-bereichen Gesundheit des Kleinkindes, AIDS-Präven-tion, Sucht-Prävention und Sexualaufklärung an.Darüber hinaus erstellte sie zielgruppenspezifischeMedien für ausländische Bürgerinnen und Bürgerzum Thema AIDS-Prävention. So wird seit 1997 einevom Wissenschaftlichen Institut der Ärzte Deutsch-lands (WIAD) entwickelte Broschürenserie für türki-sche Männer („Ein Thema für Männer mit Verant-wortung“), für junge türkische Frauen („Es gibt etwas,das du vor deiner Ehe wissen musst“) sowie für türki-sche Jungen („Was du schon immer über Sex wissenwolltest“) angeboten. Die Medien tragen den beson-deren sozialen Strukturen innerhalb türkischer Fami-lien Rechnung und sind kulturspezifisch angepasst.Im Themengebiet Sexualaufklärung liegen Medienfür Jugendliche vor, die aus osteuropäischen Ländernstammen („Verhüten, aber wie?“). Diese Broschürenberücksichtigen sowohl im Sprachduktus als auch inder Gestaltung den jeweiligen kulturellen Hinter-grund. Insgesamt liegen 15 Broschüren in 14 Spra-chen vor, die sich an Bürgerinnen und Bürger aus an-deren Herkunftsländern richten.

Zur Familienplanung liegt ein Medienpaket derBundeszentrale für gesundheitliche Aufklärungzum unerfüllten Kinderwunsch in türkischer Spra-che vor („Ein kleines Wunder: Die Fortpflanzung“,„Wenn ein Traum nicht in Erfüllung geht“, „Sehn-sucht nach einem Kind“), um den besonderenSchwierigkeiten türkischer Paare im Hinblick aufDiagnostik und Therapie von Sterilität abzuhelfen.Zur Unterstützung der Beratungsarbeit mit Migran-tinnen in Schwangerschaftskonfliktberatungsstel-len wurde die Broschüre „Schwanger?“ in fünf ver-schiedenen Sprachen entwickelt.

Das Thema „Gesundheit von Migrationskindern“war Gegenstand der Tagung „Gesundheitsförderungim Kindergarten“ im Juni 2000. Im Rahmen einerPräsentation der „models of good practice“ wurdenProjekte vorgestellt, die erfolgversprechende Zu-gangswege im Rahmen der Kindergartenarbeit zudieser Personengruppe erschlossen haben. Die Er-gebnisse der Tagung werden in der wissenschaftli-chen Fachheftreihe der Bundeszentrale für gesund-heitliche Aufklärung publiziert werden.

Ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der medizi-nischen Versorgungssituation von ausländischenPatienten ist die Vermittlung interkulturellen Wis-sens für alle Tätigen im Gesundheitsbereich. ImZusammenhang mit der in der Koalitionsvereinba-

rung unter anderem vorgesehenen „Überprüfungder Berufsbilder der Medizinalfachberufe“ und be-sonders bei der geplanten Novellierung des Kran-kenpflegegesetzes wird die Einbeziehung interkul-turellen Wissens in die berufliche Erstausbildungihre Berücksichtigung finden. Im Bereich der Fort-bildungen auf diesem Gebiet sind zuständigkeits-halber die Länder, Berufsverbände und die Trägergefordert, derartige Bildungsangebote vorzuhalten(zum Beispiel: Nürnberger Vorstudie zu interkultu-reller Pflege aus der Perspektive von Pflegenden).

Das derzeit geltende Recht ermöglicht bereits dieEinbeziehung interkulturellen Wissens in die ärztli-che Ausbildung. Zwar ist der Bund nur befugt, dieMindestanforderungen an das Medizinstudium inder Approbationsordnung zu regeln; aber durch dieAusbildungszieldefinition und die Festlegung vonUnterrichtsveranstaltungen und Prüfungsinhaltenbesteht die Möglichkeit, auf den Inhalt der Aus-bildung Einfluss zu nehmen. So sieht die Appro-bationsordnung für Ärzte eine Reihe von Prüfungs-inhalten vor, bei denen die Einbeziehung interkultu-rellen Wissens erfolgen kann: in der vorklinischenAusbildung müssen entsprechend dem Prüfungs-stoffkatalog für die ärztliche Vorprüfung Grundla-gen über die Arzt-Patient-Beziehung, die verbaleund nonverbale Kommunikation und die Bevölke-rungsstruktur vermittelt werden, und in der Ärztli-chen Prüfung gehören Kenntnisse über den Umgangmit Patientinnen und Patienten und die ärztliche Ge-sprächsführung zum Prüfungsstoff. Wie im Einzel-nen interkulturelles Wissen in die ärztliche Ausbil-dung eingebunden wird, obliegt den Universitäten.Der Bund kann hierauf keinen Einfluss nehmen.

3.8 Pflege älterer Menschen

Mit den Empfehlungen zur Entwicklung und Förde-rung individueller Hilfen und Beratung – auch in derjeweiligen Muttersprache – spricht die Kommissioneinen Bereich der Seniorenpolitik an, in dem beson-ders großer Handlungsbedarf besteht. Einerseits gibtes auf örtlicher Ebene bereits eine Vielzahl sehr un-terschiedlicher zielgruppenspezifischer Aktivitäten,andererseits werden ältere Menschen ausländischerHerkunft noch zu oft mit gesundheitlichen Proble-men allein gelassen. Auf diese Problematik hatte dieGroße Anfrage der SPD-Fraktion des Deutschen Bun-destages „Situation ausländischer Rentner und Senio-ren in der Bundesrepublik Deutschland“ (Drucksache12/5796) bereits aufmerksam gemacht.

Sinnvoll ist es, wenn geriatrische Einrichtungen spe-ziell geschultes Personal einstellen, das in der Lageist, auf die besondere Situation der älteren Ausländereinzugehen. Mit dem verabschiedeten Gesetz überdie Berufe der Altenpflege wird die Altenpflegeaus-bildung bundeseinheitlich geordnet und ein einheit-liches Ausbildungsniveau sichergestellt.

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Drucksache 14/4357 – XXX – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Einige Bundesländer bemühen sich erfolgreich, diepersonelle Situation dadurch zu verbessern, dass ver-stärkt Pflegekräfte aus den jeweiligen Bevölke-rungsgruppen gewonnen werden. Unter anderemwurde im Rahmen eines Modellprogramms die Ver-besserung der Versorgung Pflegebedürftiger mit der Einrichtung eines mobilen Pflegedienstes mitmehrsprachigen Fachkräften, Kursen für Pflegendeaus Migrantenfamilien, Aus- und Fortbildung aus-ländischer Laienhelferinnen in häuslicher Kranken-und Altenpflege, Informationskursen für Pflegefach-kräfte zur Lebenssituation von Migrantenfamilien,Sprachkursen für Mitarbeiterinnen des ambulantenDienstes, Werbung für Berufe der Altenhilfe in derausländischen Bevölkerung erprobt und weiterent-wickelt. Die Förderung durch den Bund wurde umweitere drei Jahre bis zum 30. Juni 2003 verlängert.Nunmehr geht es vor allem darum, die Gesundheit-sinformation in Migrantenfamilien zu stärken, dasSelbsthilfepotenzial zu mobilisieren und fachlich zuqualifizieren, um durch Prävention und RehabilitationPflegebedürftigkeit nach Möglichkeit zu vermeiden.

Die Aussagen des Berichts zur gesundheitlichen Si-tuation älterer Migrantinnen und Migranten bestäti-gen weitgehend die Ergebnisse des zweiten Alten-berichts (Drucksache 13/9750). Die Träger dergesundheitlichen und sozialen Dienste werden dafürSorge zu tragen haben, dass die Aspekte der Alte-rung von Bürgern ausländischer Herkunft in denPlanungen ausreichend – entsprechend dem jeweili-gen Anteil an der Gesamtbevölkerung – berücksich-tigt werden.

Das deutsche Altenhilfesystem öffnet sich mehr undmehr interkulturell und bereitet sich damit auf neueHerausforderungen vor. Bereits in den Jahren 1996bis 1999 hat das Bundesministerium für Gesundheitden Aufbau eines mehrsprachigen Beratungs- undKoordinierungsdienstes der Arbeiterwohlfahrt Bre-men gefördert, der zu einem speziellen Angebot fürältere Migranten wie der Informationsreihe „Älter-werden in Deutschland“ und zur Vorbereitung einesmobilen Beratungssystems für ältere Migranten ge-führt hat.

Die Bundesregierung teilt die Auffassung der Sach-verständigenkommission, dass Familien ausländi-scher Herkunft bei ihrer ausgeprägten Bereitschaft,Pflegeleistungen im Falle von Krankheit und Alterihrer Familienangehörigen zu übernehmen, geför-dert und durch ambulante Dienste unterstützt wer-den müssen. Pflegerische Dienste sind noch nicht inausreichendem Maß auf die Übernahme der Pflegeälterer Migrantinnen und Migranten vorbereitet. Esgibt einen zunehmenden Handlungs- und Erpro-bungsbedarf bei der Betreuung hilfs- und pflege-bedürftiger älterer Migrantinnen und Migranten,insbesondere im stationären und teilstationären Be-reich. Zwar erbringen Familienangehörige tradi-tionell noch einen erheblichen Teil der Pflege. Jedoch darf die Tragfähigkeit familiärer Unterstüt-zungspotenziale gerade in besonders schwierigen

Lebenslagen – etwa bei schwerer Pflegebedürftig-keit oder unzureichenden Wohnverhältnissen –nicht überschätzt werden. Daher sind Hilfe- und Be-treuungsmöglichkeiten notwendig, die auf die be-sonderen ethnischen, sozialen, kulturellen, religiö-sen und sprachlichen Prägungen und Bedürfnisseälterer Migranten eingestellt sind. Die Vermittlunginterkultureller Kompetenzen muss demzufolgezum Bereich der Ausbildung und Weiterbildung so-zialer und pflegerischer Berufe gehören.

Für die Zukunft muss ein spezifisches Pflegeangebot(insbesondere an stationären Pflegeplätzen) vorgehal-ten werden. Die Entwicklung der Pflegeinfrastrukturmuss durch den Landesgesetzgeber gestaltet werden.Die konkrete Ausgestaltung der Versorgung in denPflegeeinrichtungen ist vorrangig Aufgabe der Pfle-geselbstverwaltung. Einige Bundesländer bemühensich erfolgreich, der Verbesserung der personellen Si-tuation dadurch Rechnung zu tragen, dass verstärktPflegekräfte aus den jeweiligen Bevölkerungsgrup-pen gewonnen werden.

Neurodegenerative Krankheiten nehmen europaweitauch bei älteren Menschen ausländischer Herkunftstark zu. Diese Thematik wurde in Deutschland undin den EU- Staaten bisher kaum aufgegriffen, sieblieb wissenschaftlich und versorgungspolitischweitgehend unberücksichtigt. Es fehlen Daten, dieGrundlage für eine aussagefähige Statistik und damitdie Basis für Bedarfsplanungen sein können. Des-halb fördert das Bundesministerium für Familie, Se-nioren, Frauen und Jugend die Veröffentlichung desBuches „Demenzerkrankungen bei Migranten inEU-Staaten – Prävalenzen, Versorgungssituationund Empfehlungen“ durch das Wissenschaftliche In-stitut der Ärzte Deutschlands (WIAD) e.V. Damitwerden die in neun europäischen Ländern gewonne-nen Daten und Erfahrungen nutzbar gemacht.

4. Schlussbemerkungen

Der Sechste Familienbericht wird in einer Zeit vor-gelegt, in der Zuwanderung und Integration in derBundesrepublik Deutschland zu zentralen Themender Zukunftsgestaltung unserer Gesellschaftgehören. Die mehr als sieben Millionen in Deutsch-land lebenden Ausländerinnen und Ausländer habenunsere Gesellschaft in den letzten Jahren und Jahr-zehnten verändert. Die Tatsache, dass Menschen un-terschiedlicher Herkunft und Kultur in Deutschlandzusammenleben, wurde zu lange und allzu oft in Ge-sellschaft und Politik ignoriert. Es wurde zu wenigdarüber nachgedacht, wie dieses Zusammenleben zugestalten sei.

Die Bundesregierung hat gleich nach ihrem Amtsan-tritt mit der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechtseine neue Phase der Ausländerpolitik eingeleitet. Da-bei wurde deutlich, wie viele unklare Vorstellungenund Vorurteile das Zusammenleben mit Menschenausländischer Herkunft noch bestimmen.

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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – XXXI – Drucksache 14/4357

Der Sechste Familienbericht trägt mit seiner Dar-stellung der Lebenslagen von Familien ausländi-scher Herkunft dazu bei, solche Vorstellungen undVorurteile zu überwinden. Die Bundesregierungsieht in diesem Bericht eine wichtige Bestätigungdes von ihr eingeschlagenen Wegs einer neuen Aus-länderpolitik. Wie der Sechste Familienbericht zu-treffend darstellt, ist Migration ein Dauerphänomen.Die Bundesregierung verschließt sich nicht längerder Tatsache, dass Deutschland ein Zuwanderungs-land ist. Es ist deshalb höchste Zeit, eine umfassendeZuwanderungspolitik zu entwickeln, die humanitäreGrundsätze wahrt und zugleich die legitimen wirt-schaftlichen und politischen Interessen Deutsch-lands berücksichtigt.

Die Bundesregierung strebt einen möglichst breitengesellschaftlichen Konsens für ihre neue Auslän-derpolitik an. Der Bundesminister des Innern hatdaher eine Unabhängige Kommission „Zuwande-rung“ berufen. Diese Kommission soll die mit derZuwanderung verbundenen Fragen prüfen undEmpfehlungen für eine neue Zuwanderungspolitikerarbeiten.

Der Sechste Familienbericht bietet eine Vielzahl vonwertvollen Hinweisen und Einschätzungen, die fürdie Entwicklung und Weiterentwicklung eines Zu-wanderungsgesamtkonzepts von Bedeutung seinkönnen. Besonders bedenkenswert erscheinen dieEmpfehlungen zu einer strukturierten und verein-heitlichten Integrationsförderung für alle rechtmäßigund dauerhaft nach Deutschland zuziehenden Men-schen sowie die vorgeschlagene Honorierung von er-brachten Integrationsleistungen. Eine besondereHerausforderung wird der Umgang mit den so ge-nannten Illegalen in Deutschland sein. Obwohl dieDurchsetzung der Gesetze in der BundesrepublikDeutschland hohe Priorität genießt, wird es in Zu-kunft auch erforderlich sein, über die soziale Situa-tion der so genannten Illegalen nachzudenken.

Die Bundesregierung geht davon aus, dass die Unab-hängige Kommission die Vorschläge und Anregungenaus dem Sechsten Familienbericht prüfen und in ihreStellungnahme einbeziehen wird. Die Beratungser-gebnisse der Kommission sollen im Laufe des kom-menden Jahres vorliegen. Die Bundesregierung willden Beratungen in der Unabhängigen Kommissionnicht vorgreifen und wird deshalb auch jetzt nichtvorab zu den ausländerpolitischen Vorstellungen undVorschlägen der Sachverständigenkommission fürden Sechsten Familienbericht Stellung nehmen.

Schließlich wird künftig die Europäische Union imBereich der Ausländer- und Zuwanderungspolitikdie entscheidende Rolle spielen. Mit der inzwischenerfolgten Vergemeinschaftung dieser Bereiche wer-den nationale Standards dem EU-Recht anzupassenund isolierte nationale Regelungen nur noch einge-schränkt möglich sein.

Bei allen weiteren Überlegungen müssen sowohl dieChancen des Zusammenlebens wie auch Problemeund Konflikte wahrgenommen werden. Eine breiteöffentliche Diskussion über Zuwanderung und Zu-sammenleben in Deutschland muss dazu beitragen,akzeptable Lösungen für Probleme zu finden undUnsicherheit und Angst zu überwinden. Eine beson-dere und wichtige Aufgabe liegt darin, gegen Frem-denhass und Gewalt gegen Ausländer entschiedenvorzugehen.

Der Sechste Familienbericht trägt in besondererWeise zu einer adäquaten Sicht der Lebenswirklich-keit der Familien ausländischer Herkunft bei. Er be-legt die tragende Rolle, die Familien ausländischerHerkunft im Integrationsprozess zukommt undräumt mit Vorurteilen auf, die Migrantinnen und Mi-granten in erster Linie als defizitär und damit derFürsorge bedürftig sehen. Integration wird von denFamilien aktiv gestaltet – Integration ist ein Aus-einandersetzungsprozess mit der Aufnahmegesell-schaft, der ebenso von Chancen und Entwicklungenwie auch von Konflikten und Problemen gekenn-zeichnet ist.

Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme imEinzelnen dargelegt, welch hohen Wert sie den Leis-tungen der Familien ausländischer Herkunft bei-misst und wie sie diese Familien in ihren unter-schiedlichen Aufgaben und Integrationsleistungenunterstützt und fördert. Sie erkennt an, dass Familienausländischer Herkunft sich in vielfacher Hinsichtuntereinander und von deutschen Familien unter-scheiden. Die Bundesregierung sieht im SechstenFamilienbericht eine gute Grundlage, die Politik fürFamilien ausländischer Herkunft auf allen Ebenenwirksamer und zielgerichteter zu gestalten. Sie lädtalle staatlichen und gesellschaftlichen Verantwor-tungsträger ein, an dieser für die Zukunft Deutsch-lands so entscheidenden Aufgabe mitzuwirken.Letztlich kann jedoch die Integration nur gelingen,wenn die deutsche Bevölkerung den ausländischenMitbürgerinnen und Mitbürgern Verständnis, Tole-ranz und Hilfsbereitschaft entgegenbringt und ihnendamit hilft, sich mit diesem Land zu identifizierenund hier eine neue Heimat zu finden.

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Der Sechste Familienbericht wurde mit der Ein-berufung einer Sachverständigenkommission am14. März 1996 durch die Ministerin für Familie,Senioren, Frauen und Jugend, Frau Claudia Nolte,in Auftrag gegeben. Nachdem der Fünfte Fami-lienbericht „Familien und Familienpolitik im ge-einten Deutschland – Zukunft des Humanver-mögens“ eine umfassende Darstellung der Familiengegeben hatte, galt es im Sechsten Familienberichteinen Spezialbericht über die besondere Situationder Familien ausländischer Herkunft in Deutsch-land zu erarbeiten. Es handelt sich dabei um denersten Bericht in der Geschichte der vom BMFSFJin Auftrag gegebenen Berichte, der sich explizitder Wohnbevölkerung ausländischer Herkunft inDeutschland zuwendet.

Die Entscheidung, die Situation von Familien aus-ländischer Herkunft als Gegenstand dieses Famili-enberichts zu wählen, geht auf eine Empfehlungder Sachverständigenkommission des Fünften Fa-milienberichts zurück, die sich der Bundesrat (Be-schluss vom 23.9. 1994 – BR-Drs. 720/94 –) zuEigen gemacht hat. Obwohl die Sachverständigen-kommission es grundsätzlich als wünschenswertund notwendig erachtet hatte, dass auch Familienausländischer Herkunft als integraler Bestandteileines allgemeinen Familienberichts Berücksichti-gung finden, sah sie sich aus Zeit- und Kapazitäts-gründen gezwungen, diese in ihrem Bericht auszu-klammern.

Tatsächlich sind „Familien ausländischer Her-kunft“ eine außerordentlich komplexe Thematik:Eine seriöse Berichterstattung hat nicht nur all dieBereiche anzusprechen, die auch für die nichtge-wanderte deutsche Wohnbevölkerung von Belangsind, sondern zusätzlich die besonderen Umstände,die sich aus der Migrationssituation mit ihren be-sonderen sozialen Anforderungen, aus den teilwei-se recht unterschiedlichen rechtlichen Rahmenbe-dingungen sowie aus der großen kulturellen Viel-falt von Familien ausländischer Herkunft ergeben.Die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen die-sen Faktorenbündeln zu verstehen und im Hinblickauf politischen Handlungsbedarf zu analysieren,stellt eine höchst anspruchsvolle Aufgabe und einegroße Herausforderung für die Sachverständigen-kommission dar. Die Anforderungen wurden wei-terhin dadurch vergrößert, dass durch die Erstma-ligkeit eines solchen Berichtes vielfach Neuland zubetreten war. Im Verlaufe der Arbeit musste dieSachverständigenkommission zudem feststellen,dass der sozialwissenschaftliche Forschungsstandzur Thematik „Familien ausländischer Herkunft“

viele Lücken aufweist. In den seltensten Fällenliegen gesicherte Befunde aus mehreren, voneinan-der unabhängigen Untersuchungen vor, und in denmeisten Fällen beschränken sie sich auf nur eineHerkunftsnationalität – schätzungsweise liegenüber Familien türkischer Herkunft mehr sozialwis-senschaftliche Untersuchungen vor als über alleanderen Herkunftsnationalitäten zusammen. Ent-sprechend musste der Bericht in vielen Teilen ausbruchstückhaften Einzelinformationen zusammen-gesetzt werden und fragmentarisch bleiben. Auchist der Kreis sozial-, erziehungs-, rechts- und poli-tikwissenschaftlicher Experten, der sich kontinu-ierlich mit dem Zusammenhang von Migration undFamilie beschäftigt, in Deutschland begrenzt. Ent-sprechend konnten nicht alle von der Sachver-ständigenkommission gestellten Fragen schlüssigbeantwortet werden.

Ein wesentlicher Grund für diese Situation dürftesein, dass sich in der Wissenschaftspraxis – auseiner Vielzahl von hier nicht zu thematisierendenGründen – arbeitsteilige Alltagsroutinen entwickelthaben, wonach sich sozialwissenschaftliche Groß-forschung mit Relevanz für Sozialberichter-stattung auf die Wohnbevölkerung deutscher Na-tionalität konzentriert hat und die Beschäftigungmit Migranten und Minoritäten davon losgelöstenund untereinander unverbundenen Spezialuntersu-chungen vorbehalten geblieben ist.

Die Sachverständigenkommission hat aus dieserSituation für sich die pragmatische Konsequenzgezogen, sich den disparaten Forschungsstand undden hochspezialisierten Sachverstand von Exper-tinnen und Experten durch eine vergleichsweisegroße Anzahl von Einzelexpertisen zu Eigen zumachen. Die Kommission hofft, durch das Zu-sammentragen dieser verstreuten Einzelinfor-mationen ein Gesamtbild erstellt zu haben, dasauch einem breiteren Leserkreis einen Einblick indie Vielgestaltigkeit und Besonderheit der Lebens-verhältnisse eröffnet.

Zudem konnte die Kommission mit zusätzlicherHilfe des BMFSFJ eine Erhebung in Migranten-familien ausgewählter Nationalitäten in Auftraggeben, deren Ergebnisse in die entsprechendenKapitel eingeflossen sind. Gleichwohl musste dieSachverständigenkommission eine Reihe wichtigerFragestellungen ausblenden:

– Die verfügbare Datenlage und die Komplexitätder Wechselwirkungen zwischen sozialen,kulturellen und rechtlichen Rahmenbedin-

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 1 – Drucksache 14/4357

B Sechster Familienbericht – Familien ausländischer Herkunft in Deutschland

Vorwort

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gungen hat es nicht zugelassen, die Situationder Familien ausländischer Herkunft in einervergleichenden Perspektive zu behandeln, inder z. B. die unterschiedlichen Entwicklungenin den verschiedenen Mitgliedsstaaten der Eu-ropäischen Union berücksichtigt würden.

– Ebenso war es nicht möglich, die rechtlicheSituation der Familien ausländischer Herkunftexplizit darzustellen, hierzu muss auf die ein-geholten Expertisen verwiesen werden.

– Da sich der Zehnte Kinder- und Jugendberichtausschließlich mit der Lebenssituation vonKindern und den Leistungen der Kinderhilfenin Deutschland beschäftigt hat und dabei auchausführlich auf die Lebenssituation von Kin-dern ausländischer Herkunft eingegangen ist,konnte darauf verzichtet werden, sich in diesemFamilienbericht erneut dieser Thematik zuzu-wenden.

– Aus der grundsätzlichen Entscheidung, in die-sem Familienbericht Migration und Integrationals sozialen Prozess zu verstehen und darzu-stellen, ergibt sich ferner, dass die konventio-nelle institutionelle Sichtweise, bei der die mitden Familien ausländischer Herkunft befasstenInstitutionen und Verbände mit ihren Aktivitä-ten und Leistungen evaluiert werden, in diesemBericht nicht verfolgt wird.

Eine grundlegende Prämisse des vorliegenden Fa-milienberichts ist, dass Familien ausländischerHerkunft ein integraler Bestandteil der Bundesre-publik Deutschland sind. Sie sind Teil des sozial-strukturellen Differenzierungsprozesses, der füralle modernen Gesellschaften allgemein kenn-zeichnend ist. Entsprechend sind internationaleMigration und das Zusammenleben von Menschenunterschiedlicher Herkunft keine zeitlich befriste-ten Phänomene, die etwa durch einmalige Anstren-gungen „überwunden“ werden könnten. Sie stellenvielmehr moderne Gesellschaften vor dauerhafteHerausforderungen an ihre Integrationsfähigkeitund fordern deshalb zu grundsätzlichen Überle-gungen heraus. Aus diesen Gründen hat sich dieKommission entschlossen, ihren Bericht nicht aufausländische Familien zu beschränken, sondern ineiner integrativen Perspektive die Besonderheitenund Probleme von Familien ausländischer Herkunftzu thematisieren; diese Entscheidung wird im Ein-leitungskapitel ausführlich begründet.

Für die Kommission verbindet sich mit diesemFamilienbericht ein zweifaches Anliegen:

(1) Sie möchte mit der Vorlage dieses Spezialbe-richts zur Lage der Familien ausländischerHerkunft zu deren besseren Verständnis bei-

tragen und darauf hinweisen, dass: deren täg-liche Leistungen für das Wohlergehen der inihr lebenden Mitglieder unter häufig nichteinfachen Lebens-bedingungen stattfindet; dieinnerfamiliären Voraussetzungen wesentlichfür eine Integration der Familienmitglieder indie Aufnahmegesellschaft und für einen Er-halt ihrer Mobilitätsfähigkeit sind; ihr Beitragfür die Wohlfahrtsproduktion in der deutschenGesellschaft nicht unerheblich ist und dieBelastungen, die sich für Familien ausländi-scher Herkunft aus ihrer besonderen Stellungergeben und den dadurch zusätzlich entste-henden Aufgaben resultieren. Sie möchteebenso auf die Herausforderungen hinweisen,die sich hierdurch für das Zusammenleben inder Bundesrepublik Deutschland und für dieGestaltung familienpolitischer Rahmenbedin-gungen ergeben.

(2) Die Sachverständigenkommission hält dieEntscheidung, mit einem Spezialbericht überdie Lage der Familien ausländischer Herkunftim öffentlichen Diskurs über die Situationvon Familien in Deutschland einen neuen Ak-zent zu setzen, für einen wichtigen erstenSchritt. Die Kommission möchte jedoch aucherreicht sehen, dass es nicht bei einer einma-ligen, gründlichen Auseinandersetzung inForm eines Spezialberichts bleibt. Es ist dieÜberzeugung der Kommission, dass einenachhaltige Wirkung nur dann erreichbar ist,wenn Familien ausländischer Herkunft als einselbstverständlicher Teil der Gesellschaftwahrgenommen werden. Dies hat auch zurKonsequenz, dass sich die allgemeine Be-richterstattung über Familien in Deutschlandan der Gesamtheit der Wohnbevölkerung zuorientieren hat, und dass von zukünftigenFamilienberichten zu erwarten ist, dass siedie Gesamtheit der in der BundesrepublikDeutschland lebenden Familien in ihrer kultu-rellen, sozialen und rechtlichen Vielfalt zumAusgangspunkt nehmen. Dies soll jedochnicht ausschließen, dass sich weitere Spezial-berichte auch in Zukunft der Bevölkerungausländischer Herkunft widmen – etwa alsBericht über die Lebensverhältnisse von Kin-dern und Jugendlichen ausländischer Her-kunft.

Die Sachverständigenkommission sucht mit Anla-ge und Zuschnitt dieses Berichts ganz bewusst diebewährte Tradition der Familienberichterstattungin Deutschland zu wahren, kontrovers diskutierteThemen der jeweiligen Zeit aufzugreifen und zuihrer Klärung beizutragen. So beschäftigte sich derZweite Familienbericht (1974) mit den Leistungenund Leistungsgrenzen der Familie in der Sozialisa-tion; der Dritte Familienbericht (1979) behandelte

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insbesondere die Platzierungs- und Haushaltsfunk-tion der Familie und Probleme der Bevölkerungs-entwicklung und enthielt bereits einen Exkurs, indem die damalige Situation ausländischer Familiendargestellt wurde; der Vierte Familienbericht(1986) thematisierte die Situation älterer Menschenin der Familie; der Fünfte Familienbericht (1994)hat in seiner umfassenden Darstellung der Lebens-verhältnisse von Familien in den alten und neuenBundesländern insbesondere die Leistungen derFamilie für die Erhaltung und Sicherung des Hu-manvermögens der Gesellschaft herausgestellt. Esist nur folgerichtig, dass gerade im Rahmen dieserneuen Grundsatzüberlegungen des Fünften Famili-enberichts und seinen Diagnosen auch der „Im-port“ von Humanvermögen mit all seinen Konse-quenzen für die Aufnahme- und für die Herkunfts-länder gesteigerte Aufmerksamkeit erlangen muss-te und sich damit die Frage nach den Leistun-gen und Belastungen in Familien ausländischerHerkunft stellte.

Der vorliegende Sechste Familienbericht ist in ei-ner Zeit und unter dem Eindruck konzipiert wor-den, dass nach wie vor die Familien von Arbeitsmi-granten den Großteil der Familien ausländischerHerkunft in Deutschland ausmachen. Die Situationhat sich jedoch insofern grundlegend geändert, alsdie gestiegene Anzahl der Familien von Asylbe-werbern, Aussiedlern und Saisonarbeitern sowiebinationaler Ehen das Spektrum qualitativ verän-dert hat. Der Familienbericht wird in einer Zeitvorgelegt, in der politische Kontroversen über dieRegelungen des Ausländer- und Staatsangehöri-genrechts andauern, und in einer Situation, in derintegrale Konzepte für Migrations- und Eingliede-

rungsfragen noch in weiter Ferne sind. Es ist zuhoffen, dass dieser Bericht zum Nachdenken übereine solche Neuorientierung insofern beiträgt, alser die Konsequenzen möglicher Regelungen für dieLebensbedingungen der Familien ausländischerHerkunft besser beurteilbar macht.

Die Familienberichtskommission dankt den Mit-gliedern der Geschäftsstelle im Deutschen Jugend-institut e.V., Frau Annemarie Gerzer-Sass, FrauMonika Jaeckel und Herrn Jürgen Sass, für die um-sichtige und fürsorgliche Unterstützung der Kom-missionsarbeit. Zur Wahrnehmung von Leitungs-und Koordinierungsaufgaben in der Familienbe-richtskommission war Bernhard Nauck von Okto-ber 1998 bis Juli 1999 von seinen Verpflichtungenan der Technischen Universität Chemnitz beur-laubt. Für einzelne Kapitel des Berichts haben je-weils einzelne Mitglieder der Kommission bzw.der Geschäftsstelle des DJI die Federführung über-nommen. Sie lag bei Klaus J. Bade für die KapitelIII.1, III.2, III.3, III.4 und III.5, bei Maria Dietzel-Papakyriakou für die Kapitel IV.6, IV.7, V.5 undV.6, bei Bernhard Nauck für die Kapitel I.1, I.3, II,IV.1, IV.2, IV.3, IV.4, IV.5, VI und VII, bei Rose-marie von Schweitzer für die Kapitel I.2, V.1, V.2und V.3, bei Annemarie Gerzer-Sass, MonikaJaeckel und Jürgen Sass für das Kapitel V.4 sowiebei Jürgen Sass für das Kapitel III.6. Die Ergebnis-se dieses Sechsten Familienberichts sind nach meh-reren Lesungen am 9. November 1999 einstimmigvon den Mitgliedern der Sachverständigenkommis-sion verabschiedet worden. Die Verantwortung fürdas Berichtsergebnis, die darin formulierten Leit-gedanken und Empfehlungen tragen die Mitgliederder Sachverständigenkommission gemeinsam.

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I. Einleitung

I.1 Auftrag

Der Auftraggeber, das Bundesministerium für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend hat der Sach-verständigenkommission für den Sechsten Famili-enbericht den Auftrag erteilt, insbesondere diepolitisch verantwortliche Öffentlichkeit über dieLage und die Lebenssituation ausländischer Fami-lien zu unterrichten. Die Aufgabe dieses speziellenFamilienberichts ist es, die Situation von ausländi-schen Familien in Deutschland in ihrer Komplexi-tät zu beschreiben und zu analysieren; er soll Wegeaufzeigen, wie diese Familien in ihren Aufgabenunterstützt, wie Selbsthilfekräfte gestärkt und dieIntegration in die Gesellschaft der BundesrepublikDeutschland erleichtert werden können.

Wichtig sind dem Auftraggeber Hinweise darauf,wie schädlichen Entwicklungen entgegengewirktund positive Tendenzen verstärkt werden können.Es soll gezeigt werden, wie bei unterschiedlichenFamilienkonstellationen das Leben in der Familieunterstützt und gefördert werden kann. Familien-politik soll dabei auch als Querschnittspolitik undals ordnungspolitische Aufgabe gesehen werden,die den Familien Entfaltungschancen eröffnet unddie Wahrnehmung von Aufgaben innerhalb derFamilien ermöglicht.

Der Auftraggeber erinnert daran, dass auch dieEhen und Familien von Ausländern unter dembesonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen,und verweist darauf, dass sich politisches Handelnfür Familien in Deutschland auf unterschiedlichenEbenen staatlicher Aufgabenwahrnehmung z. B.bei Bund, Ländern und Gemeinden vollzieht, dassnichtstaatliche Kräfte, z. B. die Wohlfahrtsverbän-de, die Rahmenbedingungen für ein Leben in derFamilie mitgestalten, und dass in zunehmendemMaße europäische Entwicklungen mitzubedenkensind.

I.2 Aufgabenstellung

Aufgabe des Sechsten Familienberichts ist es, überdie nach Deutschland zugewanderten Familienausländischer Herkunft mit ihren zu- oder auchwieder fortwandernden oder nachziehenden Fami-lienmitgliedern zu berichten. Es geht darum, aufdie bedeutsamen gesellschaftlichen Leistungendieser Familien und ihrer Mitglieder aufmerksamzu machen, aber auch auf die „strukturellen Rück-sichtslosigkeiten“ hinzuweisen, mit denen insbe-

sondere diese Familien in Deutschland zu kämpfenhaben. Ein Anliegen des Familienberichts ist es,aus der Analyse dieser besonderen Leistungen undBelastungen Empfehlungen für ein politischesHandeln zu gewinnen, das Familien ausländischerHerkunft das Leben und Zusammenleben inDeutschland erleichtern kann.

Die Pluralität der familialen Lebensformen derWohnbevölkerung Deutschlands, die bereits infrüheren Familienberichten thematisiert wurde,bekommt im Sechsten Familienbericht eine zwarnicht neue, jedoch eine zusätzliche Facette: Dieansässige Bevölkerung ist in den letzten Jahrzehn-ten nicht nur „älter“, sondern auch „bunter“ ge-worden. Der Berichtsauftrag bezieht sich deshalbspeziell auf die in Deutschland lebenden Familien,deren Mitglieder teilweise oder insgesamt die deut-sche Staatsbürgerschaft (noch) nicht besitzen bzw.früher nicht besessen haben. Viele Familien aus-ländischer Herkunft bzw. einzelne Personen ihrerfamilialen Lebensgemeinschaften verfügen überMigrations- und Sozialisationserfahrungen auseiner nichtdeutschen Herkunftskultur und überandere lebensweltliche Alltagskompetenzen als dieMehrheit der Wohnbevölkerung Deutschlands.

Die Reichweite unserer statistischen Kenntnisse istbegrenzter als vielleicht erwartet: Wie viele Fami-lien ausländischer Herkunft in Deutschland leben,wissen wir nicht; denn die Volkszählungen bzw.der Mikrozensus kennen nur die Unterscheidungnach der im Jahr der Zählung angegebenen Natio-nalität der Familienmitglieder. Ob sie als Aussied-ler bzw. Spätaussiedler oder über eine binationaleEhe oder Geburt bzw. über die in einer oder ande-ren Weise erlangten Einbürgerung zu Deutschengeworden sind und vordem Ausländer waren, obsie eigene Migrationserfahrungen oder Erfahrun-gen mit einer anderen Herkunftskultur haben, er-fahren wir nicht.

Die Wohnbevölkerung Deutschlands wird im grö-ßeren Abständen durch die Volkszählung und jähr-lich mittels des Mikrozensus gezählt und nach dengesetzlichen Vorgaben Familien- und Haushalts-typen aufgrund bestimmter Merkmale zugeordnet.Als Zähleinheit gilt die Wohnung. Als „Haushalts-angehöriger“ zählt, wer in einer Wohnung alleineoder mit anderen zusammenlebt und zusammen-wirtschaftet, wobei das „Zusammenwohnen“ unddie Benennung eines Haushaltsvorstandes als Indi-katoren für die Zuordnung der Haushaltsmitgliederzu einem „Haushaltstyp“ benutzt werden. Aus den

Gesamtzahlder Zuwan-derer nichtbekannt

Drucksache 14/4357 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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so festgestellten Haushaltsmitgliedern werdendann nach ihren biologisch-rechtlichen Status(Geschlecht, Familienstand und Generation) dieamtlichen Familientypen gebildet. Nur in 7,9 %der privaten Haushalte in Deutschland war 1993mindestens eine Person ausländischer Nationa-lität.

Die Begrenzung auf „private Haushalte“ in denamtlichen Statistiken, auf der Basis der Volkszäh-lungen, beruht auf gesetzlichen Vorgaben. Sie isteine notwendige, aber für die Familienberichter-stattung auch eine zu einseitige und zu starke Re-duktion der Komplexität familialer Lebenssituatio-nen. Da in der amtlichen Statistik das Zusammen-wohnen und Zusammenwirtschaften – also die ge-meinsame Haushaltsführung – konstitutiv für dieBildung von Familientypen ist, können die familia-len und haushaltswirtschaftlichen Vernetzungender Familien und Generationen über diese „Wohn-einheit“ hinaus mit amtlichen Zahlen nicht nach-gewiesen werden. Mehr noch als bei der deutschenWohnbevölkerung führt dies dazu, dass dieses Er-fassungssystem die Vernetzungen von Familienausländischer Herkunft und ihre familialen Lebens-formen im Herkunftsland wie in Deutschland nichterfassen kann. Es sind in der Regel Verwandt-schaftssysteme mehr oder minder stark in das Mi-grationsprojekt eines Familienangehörigen oder ei-nes Familienkerns eingebunden. Die mit dem Mi-grationsprojekt verbundenen besonderen Erwar-tungen und Hoffnungen, aber auch Ängste undSorgen werden miteinander getragen und möglichstgemeinsam bewältigt. Versteht man dagegen unter„Haushalt“ nicht primär eine „Wohneinheit“, son-dern – wie von Max Weber vorgeschlagen und inden Haushaltswissenschaften üblich – „die Einheitder auf Sicherung der gemeinsamen Bedarfsde-ckung einer Menschengruppe im Rahmen einessozialen Gebildes gerichteten Verfügungen“, dannkennzeichnet dies ein familiales Migrationsprojektweit zutreffender, das sich über Jahre und Jahr-zehnte erstrecken kann und in das zumeist transna-tionale Netzwerke involviert sind. Aber auch hiermuss zwischen den Familienhaushaltssystemenund den diese erweiternden oder ergänzendenNetzwerken unterschieden werden.

Da sich die politischen Gestaltungsaufgaben einesStaates grundsätzlich auf die Ordnung der Rah-menbedingungen für die Wohnbevölkerung be-zieht, haben die bisherigen Familienberichte auchstets die Wohnbevölkerung beschrieben und nichtzwischen „Inländern“ und „Ausländern“ unter-schieden. Die Berichterstattung war so allerdingsvon den Befunden der deutschen Bevölkerungs-mehrheit bestimmt. Zunehmend vermittelte sichjedoch der Eindruck, dass die Familienberichte denFamilien ausländischer Herkunft so nicht gerechtwerden konnten.

Der gesellschaftliche Beobachtungsbereich „Fami-lien ausländischer Herkunft“ umschließt einenaußerordentlich heterogenen Bevölkerungsteil. Aufganz besondere Weise wirken unterschiedlichesituative, kulturelle, sozialstrukturelle und rechtli-che Faktoren (Kap. I. 3) auf die Lebensformen undLebensbedingungen der Familien ein. Sie sollen inihrer Wirkungsintensität und -spezifität in diesemBericht herausgearbeitet werden. Einerseits kanndabei nicht oft genug auf diese Vielfalt hingewie-sen werden; andererseits muss der Bericht zugleichstark vereinfachen und sich auf allgemeine, auchfür die nichtzugewanderte Wohnbevölkerung gel-tende Strukturen beziehen, aus denen sich famili-enpolitischer Handlungsbedarf begründen lässt.

Die Familienberichtskommission möchte die ihrgestellte Aufgabe auch dazu nutzen, auf das beson-dere, aus dem „familialen Migrationsprojekt“ er-wachsene familiale Humanvermögen zu verweisen.Dieses Potenzial ist für das Aufnahmeland, für diezugewanderten Familien sowie für ihre Herkunfts-länder von außerordentlicher Bedeutung. Dieseserscheint der Kommission um so wichtiger, als deröffentliche Diskurs über „Ausländer“ und ihreFamilien durch extreme Vereinfachungen geprägtist. Das gilt für romantisierende bzw. exotischeBilder ebenso wie für Vorstellungen von vormo-derner Rückständigkeit bis hin zu Ängsten vordadurch verschärften sozialpolitischen Problemenund kulturellen Konflikten. Besonders verhängnis-voll und in der Wirkung diskriminierend ist es,wenn der Status „Ausländer“ als „Erklärung“ füralle möglichen Phänomene und Probleme herange-zogen wird. Dieser Familienbericht will schondadurch aufklärend auf diesen Diskurs einwirken,dass er weniger die statische Gegenüberstellungvon „inländischen“ und „ausländischen“ Familiensucht. Er trägt vielmehr bewusst der Prozesshaftig-keit der Entwicklung in Familien mit internationa-ler Migrationserfahrung, aber auch der Entwick-lung des Verhältnisses zwischen der Aufnahmege-sellschaft und diesen Familien Rechnung, indem er„Familien ausländischer Herkunft“ zu seinem Ge-genstand macht.

Dieser Bericht nimmt also Familien in den Blick,in denen die internationale Migration und die damitverbundenen Veränderungen zu einer wichtigenErfahrung, zu einem „Familienprojekt“ gewordenist. Diese Erfahrung beschränkt sich nicht auf Fa-milien, die im Aufnahmeland auf Zeit „Ausländer“sind oder es auf Dauer bleiben. Sie ist auch inFamilien präsent, die – wie Aussiedler bzw. Spät-aussiedler – als Deutsche nach Deutschland ein-wandern. Migration wird hier als ein umfassenderSozialprozess verstanden. Er reicht von derschrittweisen und unterschiedlich weitgehendenAusgliederung aus dem Kontext der Herkunftsge-sellschaft bis zur ebenfalls unterschiedlich weit-

Trans-nationale

Netzwerkeschwer zu

erfassen

ÖffentlicherDiskurs vonextremerVereinfachunggeprägt

Migrationist ein um-fassenderSozialprozessund einFamilien-projekt

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reichenden Eingliederung in die Aufnahmegesell-schaft einschließlich aller damit verbundenen so-zialen, kulturellen, rechtlichen und politischenBestimmungsfaktoren und Entwicklungsbedingun-gen, Begleitumstände und Folgeprobleme. Migra-tion ist deshalb nicht mit räumlicher Bevölke-rungsbewegung allein gleichzusetzen. Da das Fa-milienprojekt „Migration“ überdies typischerweisenicht in der „ersten“ Migrationsgeneration abge-schlossen ist, gilt es auch, langfristige Entwicklun-gen in den Folgegenerationen einzubeziehen. Auchnach einer erfolgten Einbürgerung – und dem da-mit verbundenen Verschwinden aus der Ausländer-statistik – bleibt die Migration ein das Denken undHandeln der Familienmitglieder bestimmendesProjekt. Auch deshalb ist eine Familienpolitikgefragt, die mit ihrem Selbstverständnis, Gesell-schaftspolitik zu sein, eine Generationen übergrei-fende und über Gegenwartssituationen hinausge-hende Vision familialer Lebensformen hat. Wäh-rend für die deutsche Wohnbevölkerung gilt, dasssich die familialen Lebensformen in jeder beliebi-gen Konstellation für kürzere oder längere Le-bensphasen in einem statistischen privaten Haus-halt herausbilden können – z. B. voreheliches Zu-sammenleben, Trennungen, das Mitbringen vonKindern aus früheren Ehen, das Zusammenlebenmit älteren Anverwandten oder Nichten und Neffen– ist dieses für Familien ausländischer Herkunft inder Regel nicht oder nur unter erschwerten undsich immer wieder ändernden rechtlichen Bedin-gungen möglich. Dies belastet häufig Familienbil-dungsprozesse, behindert die wechselseitige ver-wandtschaftliche Hilfe und erschwert es diesenFamilien, ihren Aufgaben bei der Betreuung undVersorgung pflegebedürftiger Angehöriger nach-zukommen.

Transnationale Migration stellt Familien mithin vorgroße Herausforderungen. Je größer die soziale undkulturelle Distanz zwischen Herkunfts- und Auf-nahmegesellschaft, desto größer sind die Aufgabender Alltagsbewältigung. Migrantinnen und Mi-granten kommen, sofern es sich nicht um Verfolg-te, Vertriebene und Flüchtlinge handelt, mit demZiel und hoher Motivation, ihr Humanvermögenzur eigenen Wohlfahrtsbildung voll einzusetzen.Sie kommen in Deutschland in eine Gesellschaft,deren Konsum- und Wohlfahrtsniveau eines derhöchsten in der Welt ist und das Wohlfahrtsniveauihrer Herkunftsgesellschaft zumeist deutlich über-steigt, und sie begeben sich zugleich in die Kon-kurrenz auf einem umkämpften Arbeitsmarkt.Damit das Migrationsprojekt nicht scheitert, bedarfes sowohl der gemeinsamen Ressourcen der Fami-lien als auch eines wettbewerbsfähigen Humanka-pitals. Anliegen des Sechsten Familienberichtes istes, darauf aufmerksam zu machen, dass rechtzeiti-ge und zureichende Investitionen in das Humanka-pital der Zuwanderer viel an langfristigen und

ökonomischen sozialen Folgekosten ersparen kann.Diese Investitionen müssen auch dann nicht verlo-ren sein, wenn das familiale Migrationsprojekt zueiner Fort- oder Rückwanderung der Familie odereinzelner Familienmitglieder führt; denn im Auf-nahmeland erworbene Kompetenzen und die Erfah-rungen aus der Zeit in Deutschland können nichtnur für zurückkehrende Migrantinnen und Mi-granten von außerordentlicher Bedeutung sein,sondern auch wesentlich zur positiven Gestaltungwirtschaftlicher, politischer und kultureller Bezie-hungen zwischen den Herkunftsländern undDeutschland beitragen.

I.3 Annäherung an den Gegenstand:Familien ausländischer Herkunft

Dieser Familienbericht handelt schwerpunktmäßigvon den Familien, in denen Ende des Jahres 1996die 7.3 Millionen Ausländer in Deutschland lebten;sie bilden damit 8,9 % der Wohnbevölkerung inder Bundesrepublik Deutschland (Grünheid/Mammey 1997). Es würde jedoch zu Missver-ständnissen führen und eine angemessene Problem-formulierung verhindern, würde die Situation derFamilien ausschließlich an der rechtlichen Unter-scheidung zwischen Ausländern und Inländernfestgemacht. Vielmehr gilt es, sich schon bei derbegrifflichen Abgrenzung die Vielschichtigkeit derLebenssituation dieser Familien zu vergegenwärti-gen, wobei der Ausländerstatus nur einer von meh-reren bedeutsamen Faktoren ist, der die Besonder-heit dieser Lebenssituation ausmachen kann. Ausdiesem Grunde wird der Begriff „Familien auslän-discher Herkunft“ gebraucht.

Würde der Ausländerstatus zum alleinigen Unter-scheidungsmerkmal erhoben, suggerierte dies grö-ßere Gemeinsamkeiten in dem hier zu analysieren-den Bevölkerungsteil, als sie faktisch gegeben sind.Vielmehr muss eine angemessene Beschreibungdes Berichtsgegenstandes der Heterogenität dieserGruppierung dadurch Rechnung zu tragen versu-chen, dass sie die Lebenslagen dieser Familienmehrdimensional begreift. Entsprechend unter-scheiden sich die Lebenslagen dieser Familientypischerweise danach, in welchem Ausmaß dieEigenschaften der im Folgenden genannten Dimen-sionen zusammenfallen oder nicht. Als wesentlicheDimensionen sind hier Migrationserfahrung, kultu-relle Herkunft, soziale Integration, aufenthalts-rechtlicher Status, Zugehörigkeit zu einer Minori-tät, Platzierung in sozialen Ungleichheitsstruktu-ren, nationale und ethnische Zusammensetzungund Migrationsmotivation zu nennen.

Der Bericht sucht damit nicht nur eine gegenstands-angemessene Differenzierung der Lebensverhält-nisse von Familien ausländischer Herkunft und

Korrekturenzu gängigenProblemfor-mulierungen:Heterogenitätund Mehrdi-mensionalität

RechtzeitigeFörderungerspart Folge-kosten

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eine Würdigung der Vielfalt der Phänomene vor-zunehmen, vielmehr sucht er damit auch Korrek-turen an gängigen Problemformulierungen unddem dabei implizierten Bild vom Menschenausländischer Herkunft und seiner Familie anzu-bringen. Die latente Botschaft der meisten an-wendungsorientierten wissenschaftlichen Unter-suchungen und insbesondere von Darstellungen,die sich an eine breitere Öffentlichkeit gewandthaben, kann wie folgt zusammengefasst werden:Ausländische Familien haben und machen Pro-bleme. Nun soll es hier keineswegs darum gehen,die zweifellos vorhandenen sozialen Probleme vonund mit Angehörigen von Familien ausländischerHerkunft zu ignorieren, gering zu schätzen oder zubeschönigen. Noch viel weniger wird es darumgehen, der deutschen Gesellschaft in einer Artrückwärtsgewandten Utopie Familien ausländis-cher Herkunft als Gegenbild vorzuhalten, in dem„noch“ alles in bester Ordnung ist. Vielmehr machtsich dieser Bericht die allgemeine Forderung(Kaufmann 1995) zu Eigen, dass in einer umfas-senden Familienberichterstattung komplementärdie Leistungen zu analysieren sind, die in Familienfür ihre Familienmitglieder und für die Gesell-schaft erbracht werden, denn diese Forderung giltfür Familien ausländischer Herkunft in gleicherWeise. Eine solche veränderte Perspektive in derFamilienberichterstattung kann nur gelingen, wennihr zugleich ein verändertes Menschenbild zu-grunde liegt.

Vielleicht mehr noch als in anderen Feldern derSozialberichterstattung (vgl. Zweiter Altenbericht1998; Zehnter Jugendbericht 1998) gilt es, dieVorstellung zu überwinden, Menschen seien vor-rangig als „Opfer“ ihrer Verhältnisse zu sehen, dieals „Gefangene“ von Traditionen „blind“ über-kommenen Werten und Normen folgen und aufgesellschaftliche Umbrüche nur mit „Anomie“reagieren können. Ein solches Bild vom Menschen,der sein Verhalten konformistisch an den gesell-schaftlichen Erwartungen hinsichtlich der von ihmausgeübten sozialen Rollen orientiert, hat einelange Tradition in den Sozialwissenschaften. Es istbesonders erfolgreich in Berufsgruppen aufgegrif-fen und gepflegt worden, die ihr Selbstverständnisdaraus beziehen, „Helfer“ zu sein, da es dazu bei-trägt, ein kustodiales Verhältnis zur jeweiligen„hilflosen“ Klientel dauerhaft zu legitimieren. Einsolches Menschenbild muss sich bei Menschenausländischer Herkunft als besonders verhängnis-voll erweisen, da es sie auschließlich als „Produk-te“ einer fremdkulturellen Sozialisation begreift,die mit ihren überkommenen Werten und Normenauf die Aufnahmegesellschaft anomisch mit einem„Kulturschock“ reagieren.

Ein solches Modell des Menschen berücksichtigtweder individuelle Veränderungen durch lebens-

lange Erfahrungen noch kann mit ihm sozialerWandel erklärt werden. Anthropologisch, histo-risch und sozialwissenschaftlich besser fundiertsind dagegen solche Leitbilder, die menschlicheAkteure als produktiv-realitätsverarbeitende Sub-jekte begreifen, die ihre individuellen Ziele verfol-gen und dabei die ihnen verfügbaren, zumeistknappen Mittel findig und kreativ einsetzen, sichnach Möglichkeit passende Umwelten für ihreZwecke suchen, diese mitgestaltend verändern unddabei auf Kooperation angewiesen sind. Manchmalhat es den Anschein, als verdeutlichten Migrantendieses Menschenbild in besonderer Weise, habensie doch ihr Schicksal ganz offensichtlich in dieeigene Hand genommen.

1. Familien ausländischer Herkunft unterscheidensich nach ihren Migrationserfahrungen

Es gehört zu den charakteristischen Eigenschaftender Mehrzahl der in Deutschland lebenden Famili-en ausländischer Herkunft, dass eines oder mehrereFamilienmitglieder selbst eine internationale Wan-derung unternommen hat. Nach wie vor gehört dieMehrzahl der in Deutschland lebenden Ausländerder „ersten Generation“ von Migranten an (dieselbst im Verlauf ihres Lebens eine internationaleWanderung unternommen haben), während dieAngehörigen der „zweiten Generation“ gegenwär-tig etwa das Alter erreichen, das ihre Eltern beiihrer Ankunft in Deutschland hatten, und Angehö-rige der „dritten Generation“ noch relativ seltenund fast ausschließlich Kinder sind.

Häufig kommt es in solchen Migrantenfamilien zueinem mehrfachen Hin- und Herpendeln von Fa-milienmitgliedern zwischen der Herkunfts- undAufnahmegesellschaft. Ebenso ist es ein häufigesWanderungsmuster in Migrantenfamilien, dass derErfahrung der internationalen Wanderung bereitsdie Erfahrung einer regionalen Wanderung (etwaaus ländlichen Regionen in die urbanen Metropo-len der Herkunftsgesellschaften) entweder in der-selben oder der vorhergehenden Generation vo-rausgegangen ist. Aber auch in solchen Familienmit ausländischen Familienmitgliedern, in denenkeines eine eigene internationale Wanderung un-ternommen hat, sind häufig Migrationserfahrungenstark präsent. Sie sind wichtiger Teil der intergene-rationalen Tradierung von Familienidentitäten, undsie sind ein häufiger Bestandteil von Zukunftspro-jekten, sei es als geplante Rückwanderung in dieHerkunftsgesellschaft, sei es als Weiterwanderungin eine andere Gesellschaft oder sei es als Teileines transnational funktionierenden familiär-ver-wandtschaftlichen Netzwerkes.

Andererseits sind Migrationserfahrungen nicht aufausländische Familien in Deutschland beschränkt.

Leitbild:Akteure, dieihr Schicksalin die eigeneHand nehmen

3 Genera-tionen vonMigranten mitunterschiedli-chen Migra-tionserfah-rungen

Migration undRemigrationfinden inmehrfachenSchritten statt

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 7 – Drucksache 14/4357

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Sie sind vielmehr eine gemeinsame Erfahrungvon ausländischen Familien und Aussiedlerfami-lien, die direkt nach ihrer Einreise in Deutschlandeingebürgert werden, und sie unterscheiden sichnur graduell von deutschen Familien mit regio-naler Mobilität. So sind mögliche Verluste vonsozialen Beziehungen und die Notwendigkeitsozialer Neuorientierung keineswegs alleinKennzeichen internationaler Wanderungen. Wiez. B. die mit großer Regelmäßigkeit auftretendenSchulprobleme von Kindern aus Familien zeigen,die einen Umzug unternommen haben, verursa-chen auch regionale Wanderungen in Deutsch-land erhebliche soziale Kosten. Entsprechendmuss bei großräumigen Wanderungen von Fami-lien davon ausgegangen werden, dass die sozialeIntegration in den jeweiligen Aufnahmekontexteine besondere Entwicklungsaufgabe für dieseFamilien darstellt, die besonderer Ressourcen undKompetenzen bedarf.

2. Familien ausländischer Herkunft unterscheidensich nach ihrer kulturellen Herkunft und dendamit verbundenen normativen Familienleitbil-dern

Migrantenfamilien weisen insgesamt eine großekulturelle Vielfalt auf, die sich aus der Verschie-denartigkeit ihrer nationalen, ethnischen und kultu-rellen Herkunft ergibt. Diese Vielfalt führt zumeinen dazu, dass Migrantenfamilien verschiedenerHerkunft selten untereinander Kontakt haben (dieMigrationssituation selbst ist selten ein Bezugs-punkt für Identifikation und Solidarisierung), sieverbietet jedoch zum anderen auch eine uniformeVerhaltensweise der Aufnahmegesellschaft undihren Institutionen ihnen gegenüber. Diese kultu-relle Vielfalt bezieht sich insbesondere auch auf dienormativen Leitbilder, an denen sich Migrantenfa-milien verschiedener sozialer und kultureller Her-kunft orientieren und nach denen in ihnen Familiegelebt wird. Ein differenziertes Verständnis dieserkulturellen Unterschiede im Familienleben hatinsbesondere die große Variabilität zu berücksich-tigen

– in der Bedeutung von Individualität als Be-standteil der personalen Identität, d. h. inwelchem Ausmaß sich Individuen primär alsautonome Persönlichkeiten mit hohen Indivi-dualrechten bzw. primär als Mitglieder derjeweiligen Familie mit entsprechend institu-tionalisierten Gruppenrechten gegenüber demEinzelnen erleben, was unmittelbare Auswir-kungen auf die Modi der Familiensolidaritätund der Loyalität des Einzelnen sowie auf dieMöglichkeit und die Legitimität der Aufkün-digung von ehelichen und familiären Bezie-hungen hat;

– in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung,d. h. in den normativen Erwartungen über dieAufgaben- und Machtverteilung zwischen denEhepartnern und in der geschlechtsspezifischenDifferenzierung von normativen Erwartungenan Söhne und Töchter, die in entsprechendenSozialisationsstilen ihren Ausdruck finden;

– in der Beziehung zwischen den Generationen,d. h. welche wechselseitigen Rechte undPflichten mit der Vater-, Mutter-, Sohn- undTochterrolle jeweils über den gesamten Le-bensverlauf hinweg verbunden sind, wie derTransfer von materiellen Gütern und Dienstleis-tungen zwischen den Generationen organisiertist, und welche Vorstellungen sozialer Gerech-tigkeit sich damit verbinden;

– in der subjektiven Definition von familialenGruppengrenzen, d. h. welche Person zur fami-liären Gruppe konkret „dazu“ gehört und wel-che Person nicht, und wie sich dies in Relationzu verwandtschaftlichen, nachbarschaftlichenoder ethnischen Grenzziehungen verhält;

– in der Arbeitsteilung zwischen Familie, Gesell-schaft und Staat, d. h. welche Aufgaben z. B.im Bereich der Erziehung und Betreuung derKinder, in der Versorgung der Alten, in der Ab-sicherung gegen Risiken der Gesundheit, desWohn- und Arbeitsmarktes, in den Transfer-zahlungen zwischen den Generationen und zwi-schen Arm und Reich jeweils von der Familieund Verwandtschaft, von Nachbarschaften, vonintermediären Organisationen oder vom Staatzu übernehmen sind.

Nimmt man die in Deutschland institutionalisiertennormativen Leitbilder von Ehe und Familie zumBezugspunkt, so wird man im Vergleich zu denmeisten der in Deutschland vertretenen Herkunfts-kulturen der Migrantenfamilien feststellen, dass inder deutschen Familienkultur Individualrechtestärker betont werden. Dies betrifft insbesonderedie Ausgestaltung der Ehe und die gegenseitigenErwartungen der Ehepartner, d. h. es entsprichtdem Selbstverständnis von Ehe als einer selbstge-wählten Intimbeziehung, dass sie sich dem indivi-dualistischen Glücksstreben unterordnet und es alslegitim angesehen wird, die Ehe dann – auch ein-seitig – aufzukündigen, wenn sie diesem Indivi-dualrecht entgegensteht. Demgegenüber ist in kor-poratistischen Familienkulturen nicht nur einegrößere Mitwirkung der jeweiligen Herkunftsfami-lien beim Zustandekommen von Ehen gegeben,vielmehr werden auch der Intimisierung der Gat-tenbeziehung durch ein höheres Ausmaß sozialerKontrolle ebenso Grenzen gesetzt wie der indivi-duellen Aufkündbarkeit; entsprechend erleben sichdie Menschen vornehmlich als Mitglieder und

Soziale Inte-gration alsbesondere

Entwicklungs-aufgabe von

Familien

KulturelleVielfalt von

Familien-bildern

Spannungenzwischenindividualis-tischen undkorpora-tistischenFamilien-kulturen

Drucksache 14/4357 – 8 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Repräsentanten der familiären Gruppe. Ebensowird man feststellen, dass das normative Leitbildder geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in derdeutschen Familienkultur von der „partnerschaftli-chen“ Vorstellung der prinzipiellen Gleichheit derRechte und Pflichten der Ehegatten und von einersituativ begründeten Aufgabenteilung ausgeht – beiallen sich daraus im Familienalltag häufig erge-benden Widersprüchlichkeiten. Dabei wird in einerVielzahl von Herkunftskulturen die Vorstellung derDifferenz der Geschlechter nicht nur als konstituie-rendes Element der geschlechtsspezifischen Allo-kation von Entscheidungsmacht und Aufgabenzwischen den Ehegatten legitimierend herangezo-gen, sondern auch für Strategien unterschiedlichenelterlichen Investments in Söhne und Töchter.Nachhaltige und gravierende Unterschiede zwi-schen der deutschen Aufnahmegesellschaft undvielen Herkunftskulturen der Migrantenfamilienlassen sich insbesondere hinsichtlich des Verständ-nisses vom Zusammenleben der Generationenfeststellen. Während das normative Leitbild derdeutschen Mehrheitsgesellschaft zunehmend voneiner lebenslangen Verpflichtung der Eltern aufihre Kinder und einer Stärkung der Kindesrechtebestimmt ist, wobei Sachwerte und Dienstleistun-gen intergenerativ mit großer Ausschließlichkeitvon der Eltern- auf die Kindgeneration transferiertwerden (während Transfers von jüngeren auf ältereKohorten indirekt über kollektive Sicherungssys-teme erfolgen), werden Generationenbeziehungenin anderen Kulturen häufig durch eine relativ früheinsetzende lebenslange Verpflichtung der Kinderauf ihre Eltern und vergleichsweise starke Eltern-rechte konstituiert.

In welcher Weise Generationenbeziehungen gere-gelt werden, erhält dann besonders große Bedeu-tung, wenn zugleich viele Aufgaben nicht vomStaat oder intermediären Organisationen, sondernin der jeweiligen Gesellschaft von Familie undVerwandtschaft direkt übernommen werden: InGesellschaften, in denen die Alterssicherung aufdirekten Transferzahlungen der Nachkommen undnicht auf kollektiven Sicherungssystemen basiert,hat (das Vorhandensein und) die unbedingte Loya-lität der Kinder gegenüber ihren Eltern eine ent-sprechend herausragende Bedeutung; in Gesell-schaften, in denen die Absicherung gegen Risikendes Lebens auf der unmittelbaren Solidarität vonVerwandtschaft im Falle von Krankheit, Obdachlo-sigkeit, Hunger, Unwetter und Arbeitslosigkeit undnicht auf durch Beitragszahlungen in Versicherun-gen erworbenen Anwartschaften basiert, werdenverwandtschaftliche Beziehungen nicht nur eineandere Bedeutung und Qualität haben, sondernzugleich sehr viel bestimmender für den individu-ellen sozialen Status in der Gesellschaft sein alsindividuell erbrachte Leistungen.

3. Familien ausländischer Herkunft unterscheidensich nach dem Ausmaß ihrer sozialen Integrati-on in die deutsche Gesellschaft

Immer schon hat die Frage der „Integration“ vonFamilien ausländischer Herkunft in die deutscheGesellschaft im Brennpunkt öffentlicher Diskus-sionen gestanden. Da hierbei immer auch normati-ve Vorstellungen darüber eine Rolle gespielt ha-ben, wie diese „Integration“ (insbesondere aus derSicht der Aufnahmegesellschaft) aussehen undwelches das wünschenswerte Ergebnis dieses Pro-zesses sein soll, konnte es nicht ausbleiben, dassalle in diesen Diskussionen gebrauchten Begriffe inihrer Bedeutung hochgradig schillernd und häufiggenug missverständlich sind, und als „Kampfbe-griffe“ in politischen Auseinandersetzungen star-ken Abnutzungen unterliegen. Entsprechend häufigwerden die Begriffe ausgetauscht, in ihrer Bedeu-tung verändert und mit neuen positiven oder nega-tiven Bewertungen versehen. Angesichts dieserSituation muss es geradezu hoffnungslos erschei-nen, die in den jeweiligen Verwendungszusam-menhängen unterschiedlich gebrauchten Begriff-lichkeiten aufeinander zu beziehen und in eineuniversale Terminologie verwandeln zu wollen, diein der öffentlichen Diskussion, in der politischenAuseinandersetzung, in der massenmedialen Be-richterstattung und in der sozialwissenschaftlichenAnalyse gleichermaßen trägt.

Allein in der sozialwissenschaftlichen Migrations-forschung ist eine Vielzahl konkurrierender Be-griffsysteme zur analytischen Durchdringung vonEingliederungsprozessen entwickelt worden, dieden darin verwendeten z.T. identischen Termininicht selten durchaus unterschiedliche Bedeu-tungsgehalte geben (Hoffmann-Nowotny 1973;Esser 1980; Heckmann 1992). Angesichts dieser –in einem auf Pluralismus und Konkurrenz setzen-den Wissenschaftssystem keineswegs unty-pischen – Situation kann es hier weder die Aufgabesein, eine „abschließende“ Begriffsklärung vorzu-nehmen, noch den bestehenden Begrifflichkeiteneine weitere hinzuzufügen. Es kann hier vielmehrgenügen, auf einige wichtige Bedeutungsdimensio-nen hinzuweisen, die für das Verständnis von Ein-gliederungsprozessen hilfreich sind und eine Ein-ordnung der verschiedenen, in den jeweiligen Dis-kursen verwendeten Begrifflichkeiten ermöglichen.

Grundsätzlich bezeichnet „Integration“ eine Rela-tion zwischen gesellschaftlichen Einheiten, die inunterschiedlichem Ausmaß „integriert“ bzw. „des-integriert“ sind; solche gesellschaftlichen Einheitenkönnen einzelne Akteure, Gruppen, Organisationenund Gesellschaften sein. Entsprechend kann sicham Beispiel der Familien ausländischer Herkunftdie Betrachtung richten

Integrations-begriff unein-heitlich undmissverständ-lich

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 9 – Drucksache 14/4357

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– auf das Ausmaß der Integration von einzelnenFamilienmitgliedern in die familiäre Gruppe, indie eigenethnische Kolonie, in andere Gruppenund Organisationen oder in „die“ Aufnahme-oder Herkunftsgesellschaft,

– auf das Ausmaß der Integration von Migranten-familien in ihren jeweiligen sozialen Kontextund in die jeweiligen Institutionen sowohl derAufnahme- als auch der Herkunftsgesellschaft,und schließlich

– auf das Ausmaß der Integration von Institutio-nen und Organisationen in einer Gesellschaft(und letztlich: auf das Ausmaß von Integrationvon Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft alsTeil der „Weltgesellschaft“).

Allein diese Unterscheidung von diesen drei Ebe-nen macht deutlich, dass sich die öffentliche „Inte-grations“-Diskussion zumeist vorschnell auf dasVerhältnis zwischen „dem“ Ausländer und derAufnahmegesellschaft reduziert und damit allegesellschaftlichen Zwischenebenen ebenso aus-blendet wie das Verhältnis zur Herkunftsgesell-schaft. In der einfachsten Vorstellung wird dann inder vollständigen Integration des Migranten derwünschenswerte, möglichst schnell zu realisierendeEndzustand gesehen, wobei das Verhältnis zurHerkunfts- und zur Aufnahmegesellschaft als Null-summen-Spiel verstanden wird: In dem Maße, wiesich Integration in die Aufnahmegesellschaft voll-zieht, nimmt demnach die Integration in die Her-kunftsgesellschaft ab. Eine solche Verengung derPerspektive, die sich auch in vielen Argumentenüber die Ausgestaltung von ausländer-, aufenthalts-und staatsbürgerrechtlichen Regelungen wie-derfinden lässt, kann weder der Komplexität derLebensverhältnisse von Familien ausländischerHerkunft und der Beziehungen zwischen ihnen undden Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft gerechtwerden noch entspricht sie den Gegebenheitenmoderner Gesellschaften überhaupt: Für diese istnämlich ein erhebliches Maß an Desintegration„normal“ in dem Sinne, dass ihre hohe Arbeitstei-ligkeit und institutionelle Ausdifferenzierung klareGrenzziehungen zwischen den gesellschaftlichenTeilsystemen und den in ihnen geltenden Hand-lungsnormen erfordert und zwangsläufig eine Plu-ralität im Selbstverständnis sozialer Gruppen, inden Lebensformen und in deren kulturellen Ausge-staltung auch dann mit sich bringt, wenn keineZuwanderungsminderheiten vorhanden wären.

Von der Zustandsbeschreibung einer mehr oderweniger gegebenen Integration zwischen gesell-schaftlichen Teilbereichen sind die Prozesse zuunterscheiden, durch die es im Falle des Kontaktesvon sozio-kulturell verschiedenen Individuen undGruppen zu individuellen und sozialen Verände-

rungen kommt. Damit folgt die hier verwendeteBegrifflichkeit nur dem ersten Teil des Sprachge-brauchs des Zweiten Zwischenberichts der En-quete-Kommission Demographischer Wandel(1998), nicht jedoch der ergänzenden Definition,wonach unter Integration zugleich auch ein Prozesszu verstehen sei, „der über Generationen verläuft,und in dem eine Abnahme von Unterschieden inden Lebensumständen von Einheimischen undZugewanderten erfolgt“.

Bei den migrationsbedingten Veränderungen wer-den zumeist ausschließlich individuelle Verände-rungen auf Seiten der Zuwanderer in den Blickgenommen, indem etwa folgende Prozesse unter-schieden werden:

– Akkomodation, d. h. das Erlernen von für dasLeben in der Aufnahmegesellschaft grund-legend wichtigen Informationen und Fertig-keiten, wozu insbesondere auch das Erlernender Sprache, aber auch das Zurechtfindenin den verschiedenen institutionellen Rege-lungen (Umgang mit Behörden, öffentlichenVerkehrsmitteln, am Arbeitsplatz) gehört,

– Akkulturation, d. h. die (partielle) Übernahmevon kulturellen Werten, Normen, Einstellun-gen, Überzeugungen aus der Mehrheitsgesell-schaft,

– Assimilation, d. h. die vollständige Identifikati-on mit der Mehrheitsgesellschaft unter gleich-zeitiger Aufgabe aller Eigenheiten, die mit derHerkunftsgesellschaft in Verbindung stehen, bishin zur vollständigen Ununterscheidbarkeit vonMitgliedern der Mehrheitsgesellschaft und desVerschwindens aller zuvor existierenden ethni-schen Identitäten.

Wenn auch „Assimilation“ als „politisches Un-wort“ aus dem öffentlichen Diskurs fast vollstän-dig verschwunden ist, so sagt dies nur bedingtetwas über die Realität aus: Tatsächlich ist Assi-milation selbst dann ein häufiges Ergebnis vonKulturkontakt, wenn kein entsprechender Zwangvon der Mehrheitsgesellschaft ausgeübt wird;ebenso bleibt „Assimilation“ auch als normativeLeitvorstellung im öffentlichen Diskurs präsent –auch wenn sie heute häufig anders benannt wird:„Integration“ als Prozess im oben zitierten Sinne istdem Inhalt nach von „Assimilation“ nicht ver-schieden.

Nicht berücksichtigt in dieser Perspektive sindeinerseits die Veränderungsprozesse auf Seiten derMehrheitsgesellschaft, für die in gleicher Weise zufragen wäre, inwiefern eine

Integrationkein Null-summen-

Spiel

Drucksache 14/4357 – 10 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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– Akkomodation durch das Erlernen von elemen-tarem Wissen über und von Fertigkeiten imUmgang mit Zugewanderten und eine

– Akkulturation durch die Übernahme von Ele-menten aus der Herkunftskultur im Sinne einerBereicherung der eigenen Lebensführung er-folgt.

Zugleich ergibt sich jedoch aus der Ungleichheitzwischen Mehr- und Minderheit die Frage, inwie-fern eine

– Diskriminierung als aktive oder strukturelleVerwehrung von Zugängen bzw. als „positiveDiskriminierung“ in der Vergabe von Privilegi-en („affirmative action“)

– und soziale Distanzierung im Sinne einer Tren-nung der sozialen Verkehrskreise auf der Basisvon ausgeprägten Vorurteilen und

– eine Segregation der Siedlungsstrukturen alsräumliche Ausgrenzung

erfolgt und kennzeichnend für die Beziehungenzwischen Mitgliedern von Mehrheitsgesellschaftund Zuwanderungsminderheit sind.

Ebenso wenig ist in dieser Perspektive berücksich-tigt, dass Eingliederungsprozesse nicht zwangsläu-fig ausschließlich individuelle Verhaltensänderun-gen sind, vielmehr lassen sich solche Eingliede-rungsprozesse auch kollektiv gestalten. Damitverbunden ist die Frage, ob Integration ausschließ-lich als Relation zwischen Individuum und Ge-samtgesellschaft zu verstehen ist bzw. in welchemAusmaß auch intermediäre Instanzen in den Blickgenommen werden. Daran entscheidet sich dieFrage, inwiefern Mitglieder von Einwanderungs-minoritäten auch als Gruppen anerkannt und miteigenen Gruppenrechten ausgestattet werden:

– Inkorporation ist das Einfügen von einzelnenInstitutionen der Herkunftskulturen in die Auf-nahmegesellschaften, indem z. B. das Schulwe-sen oder religiöse Organisationsformen über-tragen werden, ein eigenes Sozialwesen fürZuwanderminoritäten errichtet und als solchesgefördert wird, oder indem z. B. eigene Formender politischen Selbstverwaltung eigenerselbstgegründeter Kommunen von Zuwande-rern zugelassen werden.

– Von einer multikulturellen Gesellschaft (imstrengen Wortsinne) wäre schließlich dann zusprechen, wenn innerhalb eines Staatsgebildeszwei oder mehrere vollständig ausgestaltete in-stitutionelle Strukturen koexistierten.

Von der Integration der Migranten als Individuenund als soziale Gruppe ist schließlich in einer Mi-kro-Perspektive die Handlungsintegration zu unter-scheiden. Wie z. B. der einzelne Migrant die ver-schiedenen Elemente seiner Herkunfts- bzw. Min-derheitenkultur und diejenigen der Aufnahmege-sellschaft, die sich ihm bietenden Handlungsoptio-nen in Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft undseine verschiedenen sozialen Verkehrskreise ausMitgliedern beider Gesellschaften integriert. In derMigrationssituation besteht zwischen der Her-kunftskultur der Migrantenfamilien und den in derAufnahmegesellschaft vorfindbaren Handlungs-möglichkeiten häufig eine komplizierte Wechsel-wirkung. Entsprechend ist das Ergebnis diesesKulturkontaktes und des damit verbundenen Ak-kulturationsprozesses keineswegs eindeutig, viel-mehr lassen sich als Reaktion auf die Handlungs-möglichkeiten und -barrieren sehr unterschiedlicheAusgänge denken (Berry 1990; Nauck/ Kohl-mann/Diefenbach 1997):

– Marginalisierung der Migrantenfamilie ist danndie Folge dieses Kulturkontaktes, wenn die je-weilige Herkunftskultur aufgegeben bzw. verlo-ren worden ist, ohne dass zugleich ein Erwerbder Kultur der Aufnahmegesellschaft erfolgtwäre. Dieser Ausgang des Kulturkontakts wirdinsbesondere dann wahrscheinlich, wenn denZugewanderten hohe Zugangsbarrieren in derAufnahmegesellschaft in Bezug auf Bildung,Arbeit, Wohnen und soziale Partizipation ent-gegenstehen und wenn zugleich wenige Gele-genheiten für die Aufrechterhaltung einer eige-nen Minoritätensubkultur oder zur Herkunfts-gesellschaft gegeben sind.

– Segregation der Migrantenfamilie ist danngegeben, wenn die jeweilige Herkunftskulturaufrechterhalten oder als Minoritätensubkulturakzentuiert und weiterentwickelt wird, ohnedass es zu einer Interaktion mit Mitgliedern derAufnahmegesellschaft oder zu einem Aus-tausch zwischen Minderheits- und Mehrheits-kultur käme. Dieser Ausgang des Kulturkon-takts wird insbesondere dann wahrscheinlich,wenn entweder hohe Zugangsbarrieren zurAufnahmegesellschaft oder hohe Anreize zumVerbleib in der eigenethnischen Subkultur be-stehen. Zum Beispiel wegen eines attraktivenethnischen Arbeits- oder Heiratsmarktes inVerbindung von Gelegenheiten für eine ethni-sche Schließung, d. h. wenn sich bei einer hin-reichenden Größe der eigenen Migrantenmino-rität und bei ihrer institutionellen Vervollstän-digung genügend Gelegenheiten ergeben, mög-lichst viele Lebensbereiche innerhalb dereigenen ethnisch-kulturellen Minorität zu orga-nisieren.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 11 – Drucksache 14/4357

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– Assimilation der Migrantenfamilie ist danngegeben, wenn die jeweilige Herkunftskultur zuGunsten der Kultur der Aufnahmegesellschaftaufgegeben worden ist. Dieser Ausgang desKulturkontakts ist insbesondere dann wahr-scheinlich, wenn die Aufnahmegesellschaftkeine soziale Schließung aufweist, d. h. wenndie Zugehörigkeit zur Zuwandererminoritätkeinen Einfluss auf die sozialen Chancen undden Statuserwerb in der Aufnahmegesellschafthat, und zwar in dem Maße, wie sich individu-elle Qualifikation und Leistung unmittelbar insozialen Status umsetzen lässt. Eine kulturelleAngleichung der Familienleitbilder ist dabei andie Voraussetzung gebunden, dass sich die fa-miliären Beziehungen dauerhaft nach den Le-bensbedingungen in der Aufnahmegesellschaftund den in ihr vorhandenen Institutionen kol-lektiver Sicherung organisieren lassen.

– Handlungsintegration ist dagegen ein Ausgangdes Kulturkontakts, bei dem die Kulturen derHerkunfts- und Aufnahmegesellschaft dauer-haft nebeneinander bestehen bleiben und – jenach situativen Erfordernissen – zwischen bei-den gewechselt und in einen Gesamthandlungs-zusammenhang gebracht werden. Dieser außer-ordentlich anspruchsvolle und hohe individu-elle Kompetenzen erfordernde Modus ist nurdann ein wahrscheinlicher Ausgang des Kultur-kontakts, wenn dauerhafte Anreize für die Auf-rechterhaltung einer „Doppelkultur“ mit allenihren Notwendigkeiten des sozialen und kultu-rellen Lernens und der Aufrechterhaltung vonmehreren getrennten Verkehrskreisen bestehen.Dies wird z. B. bei solchen Familienunterneh-men der Fall sein, die sich zunehmend häufigerauch aus Familien von Arbeitsmigranten ent-wickeln, erfolgreich transnational operieren undaus ihrer sozialen und kulturellen Integration inmehreren Gesellschaften Nutzen ziehen.

Welchen Ausgang dieser migrationsbedingte Kul-turkontakt in der jeweiligen Aufnahmegesellschaftfür die Migrantenfamilie nimmt, hängt somit nichtnur von ihren eigenen Kompetenzen und Hand-lungszielen ab, sondern auch von ihren Hand-lungsmöglichkeiten. Diese werden maßgeblich vonihrer politischen Gestaltung in der Aufnahmege-sellschaft beeinflusst.

Ein in der Migrationsforschung häufig belegterBefund zu den Wechselwirkungen zwischen Her-kunftskultur und Migrationssituation ist, dass gera-de Familien mit einer korporatistischen Familien-kultur außerordentlich erfolgreich in „individuali-stischen“ Gesellschaften operieren können, wennes ihnen ermöglicht wird, die Migration als ein vonmehreren Generationen getragenes gemeinsamesProjekt des sozialen Aufstiegs zu gestalten: Die

Stabilität familiärer Bindungen schafft außeror-dentlich günstige Voraussetzungen für das Zu-sammenlegen knapper Ressourcen und für langfri-stige Investitionen. Zugleich bieten sie effektivereMöglichkeiten sozialer Kontrolle, als sie staatli-chen oder intermediären Organisationen zur Verfü-gung stünden – der Erfolg von „ethnic business“dürfte insbesondere durch diese beiden Mechanis-men zu erklären sein.

Ebenso deutlich ist jedoch auch, welche Ein-schränkungen und Risiken sich für viele Migran-tenfamilien und dem von ihnen verfolgten mehrge-nerationalen Projekt ergeben, wenn die Aufnahme-gesellschaft einerseits alle Eingliederungsmöglich-keiten an kulturelle Assimilation knüpft, d. h. zumBeispiel an die Aufgabe einer korporatistischenFamilienkultur zu Gunsten des Individualismus derAufnahmegesellschaft, aber andererseits umfas-sende Bleibegarantien vorenthält: Die dadurchmögliche Erosion der Generationenbeziehungenwürde eine ernstliche Gefährdung der materiellenLebensgrundlagen im Falle einer Rückwanderungbedeuten. Entsprechend kann es nicht verwundern,dass gerade solche Familien ihre Herkunftskulturso stark betonen, die die Option der Rückwande-rung in die Herkunftsgesellschaft offen haltenmüssen, weil ihnen ein dauerhafter Verbleib odereine erfolgreiche Platzierung in der Aufnahmege-sellschaft unwahrscheinlich erscheint.

4. Familien ausländischer Herkunft unterscheidensich nach ihrem aufenthaltsrechtlichen Status inDeutschland

Anders als in den meisten Staaten hat sich in derBundesrepublik Deutschland ein stark differen-ziertes System ausländer- und aufenthaltsrechtli-cher Regelungen für Personen entwickelt, die sichin Deutschland aufhalten bzw. aufhalten wollen.Während in den meisten vergleichbaren Staatennur wenige Abstufungen zwischen illegalem Auf-enthalt und staatsbürgerlicher Vollmitgliedschaftvorhanden sind, ist es ein Charakteristikum desdeutschen Rechtssystems, dass es sehr unterschied-liche Aufenthaltsformen kennt, die mit je unter-schiedlichen Rechtstiteln versehen sind und vonden ausländischen Anwärtern häufig in Form vonAufenthaltskarrieren mit unterschiedlichen Warte-zeiten durchlaufen werden, wobei diese Wartezei-ten wiederum typischerweise länger sind als die inden übrigen vergleichbaren Staaten.

Sieht man von den Sonderregelungen für Angehö-rige ausländischer Streitkräfte und ihre Familien-angehörigen ab, so ergibt sich ein breites Spektrumvon unterschiedlichem Aufenthalts- und Status-formen, das vom illegalen Aufenthalt über ver-schiedene Formen der Aufenthaltsduldung, der

Migration alskollektives

Aufstiegspro-jekt erfordert

Mobilitäts-chancen

Drucksache 14/4357 – 12 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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zeitlich begrenzten Aufenthaltsgenehmigung, derunbefristeten Aufenthaltsberechtigung bis hin zurGewährung der Einbürgerung als Vollmitglied derBundesrepublik mit allen staatsbürgerlichen Rech-ten reicht. Da nicht Angehörige aller Nationalitätenden gleichen Regelungen unterliegen, ergibt sichzwischen den einzelnen Herkunftsnationalitäteneine große Heterogenität in der Zusammensetzungnach Aufenthaltsstatus, was seinerseits erheblichenEinfluss auf die Eingliederung in die deutscheGesellschaft hat, d. h. nationale Unterschiede in derIntegration, Assimilation, Segregation und Margi-nalisierung sind nicht auf kulturelle Differenzenallein, sondern auch auf Unterschiede im Aufent-haltsstatus zurückführbar.

Als von besonderer Bedeutung für die Familien hatsich die Sicherheit und Langfristigkeit der Aufent-haltsperspektive erwiesen. Familiäre Entscheidun-gen, wie Heirat, Haushaltsgründung und Geburtvon Kindern, aber auch Familiennachzug, werdenvor einem weitaus langfristigeren Planungshorizontgetroffen als berufliche Entscheidungen, wie z. B.die Aufnahme einer Arbeit bzw. eine Arbeitsmi-gration. Entsprechend hängen familiäre Entschei-dungen sehr viel stärker von der Stabilität derRahmenbedingungen ab, da sie in der Zukunftentweder überhaupt nicht (bei generativen Ent-scheidungen) oder nur mit großen finanziellen undmenschlichen Kosten revidierbar sind. Dies betrifftinsbesondere auch Ausbildungsentscheidungen fürKinder. Als langfristige Investitionen in das inter-generative Migrationsprojekt müssen sie dannanders ausfallen, wenn die Familien nicht sichersein können, dass die auf den deutschen Arbeits-markt bezogenen spezifischen Kenntnisse im Her-kunftsland auch angeboten werden können: In denHerkunftsgesellschaften fehlt häufig der gleicheGrad der Verberuflichung des Arbeitsmarktes, sodass sich berufsspezifische Ausbildungsinvestitio-nen dort häufig als wertlos erweisen.

Ausländer- und aufenthaltsrechtliche Regelungenallein können jedoch nur begrenzt dazu beitragen,die Lebensbedingungen ausländischer Familiennachhaltig zu verbessern. Dies wird bereits deut-lich, wenn Zuwandererfamilien in Deutschlandmiteinander verglichen werden, die unterschiedli-chen rechtlichen Bedingungen unterliegen. Sohaben die rechtlichen Sonderstellungen der Aus-siedlerfamilien aus der ehemaligen Sowjetunion(etwa im Vergleich zu Familien vietnamesischeroder türkischer Herkunft) keineswegs den Erfolgihres Eingliederungsprozesses in die deutscheGesellschaft garantieren können, ihn aber häufigerleichtert.

5. Familien ausländischer Herkunft unterscheidensich nach ihrer Zugehörigkeit zu einer Minori-tät

Bei vielen Mitgliedern der deutschen Mehrheitsge-sellschaft herrscht die Vorstellung, Migranten derjeweiligen Nationalitäten bildeten eine in sichgeschlossene Gruppe mit vielfältigen sozialenKontakten untereinander und mit engen sozialenBeziehungen. Nach dieser Vorstellung entwickelndie Migrantennationalitäten jeweils ein starkesEigenleben in großer Abgeschlossenheit von derAufnahmegesellschaft. Unterstützt wird diese Vor-stellung durch die Wahrnehmung großer räumli-cher Konzentration von Migranten in bestimmtenWohnquartieren, in denen sie dann besonderssichtbar sind, sodass die in diesen Wohnquartierenlebenden Migranten der jeweiligen Nationalität alsihre besonders typischen Repräsentanten gelten.Genährt wird diese Vorstellung dadurch, dass alsUrsache für diese räumliche Konzentration dieNeigung der Migranten vermutet wird, vorzugs-weise unter ihresgleichen leben zu wollen unddeshalb zusammenzuziehen. Eine solche abge-schlossene Wohnsituation wird von Einheimischenhäufig als Bedrohung, als sozialer Sprengstoffempfunden, und zeitweilig wurden Integrati-onsempfehlungen aus diesen Gründen mit Zuzugs-beschränkungen verbunden.

Diese Prozesse der räumlichen Segregation undsozialen Schließung, verbunden womöglich mitkonflikthafter Polarisierung nach ethnischen, na-tionalen oder religiösen Kriterien, sind jedochkeineswegs zwangsläufig das Ergebnis von Zu-wanderung und für die gegenwärtige Situation inDeutschland eher untypisch. Vielmehr ist einegroße Variationsbreite in der Lebensweise vonMigrantenfamilien gegeben, die durch folgendeFaktoren bestimmt ist:

– Räumliche Segregation ist oft nicht das Er-gebnis freiwilligen Zusammenziehens vonAngehörigen derselben ethnischen, nationalenoder religiösen Minorität, sondern resultiertvielmehr aus den vorgefundenen Barrieren aufdem Wohnungsmarkt und teilweise aus staat-lichen Zuweisungsprozessen (Belegung vonSozialwohnungen, Zuweisung von Aussiedler-familien und Asylbewerbern). Entsprechendgroß ist die Tendenz von Migrantenfamilien,diese Wohnquartiere im Verlauf des weiterenEingliederungsprozesses nach Möglichkeit zuverlassen.

– Wohnquartiere mit hohen Anteilen von Zuwan-derern sind aus diesen Gründen auch zumeistethnisch weitaus heterogener, als es nach derWahrnehmung vieler Einheimischer den An-schein hat. Entsprechend sind in den seltenstenFällen in solchen Wohnquartieren die Voraus-setzungen für eine Gettoisierung im Sinne einersozialen und kulturellen Schließung gegeben.Vielmehr ist für Wohnquartiere mit hohem

Familienbrauchen

Aufenthalts-stabilität

RäumlicheSegregationund sozialeSchließungeher untypischfür gegenwär-tige Situation

Wohnquartiereheterogenerals wahrge-nommen

Große Hete-rogenität

zwischen deneinzelnen

Herkunftsna-tionalitäten

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 13 – Drucksache 14/4357

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Zuwandereranteil das Nebeneinander mehrererethnischer und nationaler Gruppen charakteris-tisch, wobei das Ausmaß nachbarschaftlicherBeziehungen wahrscheinlich das der einheimi-schen Bevölkerung nicht übersteigt.

Zudem sind die Voraussetzungen für die (von dereinheimischen Bevölkerung zumeist als bedrohlichempfundenen) Schließungstendenzen in Deutsch-land schon deshalb kaum gegeben, weil Wohn-quartiere (mit einer über den Wohnblock hinausge-henden Größe), in denen die Zuwanderer insgesamtdie Bevölkerungsmehrheit bilden, außerordentlichselten sind und der weit überwiegende Teil derZuwanderer in Wohnquartieren mit mehrheitlichEinheimischen zusammenlebt.

Für die sozialen Beziehungen unter Migranten sinddeshalb weniger nachbarschaftliche Nähe oderdieselbe Nationalität die Anknüpfungspunkte,sondern vielmehr die Zugehörigkeit zur eigenenFamilie und Verwandtschaft, d. h. sie haben vor-nehmlich privaten Charakter. Dieser Tendenzkommt der Umstand entgegen, dass die großeMehrzahl der Migrantenfamilien über verwandt-schaftliche Beziehungen auch in der Aufnahmege-sellschaft verfügt. Die Ursachen hierfür sind in derKettenmigration zu suchen, d. h., dass den Pio-niermigranten aus einer Herkunftsregion häufigVerwandte folgen, die dessen bereits erworbenesWissen über die Lebensbedingungen im jeweiligenAufnahmekontext für ihre eigenen Wanderungs-pläne nutzen. Für die Aufrechterhaltung und Wei-terentwicklung dieser Verwandtschaftsbeziehun-gen, die für die Migrantenfamilien von außeror-dentlich großer Bedeutung für die Bewältigungihrer Aufgaben sind, werden auch größere räumli-che Entfernungen überbrückt, d. h. verwandt-schaftliche Netzwerke sind nicht an räumlicheNähe bzw. an das Leben in einer ethnischen Ge-meinde gebunden. Die Integrationsleistungen in dieAufnahmegesellschaft, die in diesen Verwandt-schaftsbeziehungen von Familien ausländischerHerkunft erbracht werden, wären als institutionali-sierte Angebote personell und finanziell außeror-dentlich aufwändig und stellen damit eine wesent-liche Entlastung der Aufnahmegesellschaft dar.

Die Kehrseite des Umstandes, dass sich die Wahr-nehmung von Migranten durch die Einheimischenan ihrer Sichtbarkeit in hochkonzentrierten Wohn-quartieren und einer bestimmten Typik orientiert,ist, dass die Lebensweise eines großen Teils derMigrantenfamilien in dieses Bild nicht eingeht:Tatsächlich lebt ein erheblicher Teil der Familienausländischer Herkunft in einer Weise, die sie imöffentlichen Erscheinungsbild von einheimischenFamilien ununterscheidbar macht, d. h. ein Großteilder Migrantenfamilien hat den Weg der Assimila-tion oder Handlungsintegration längst gewählt.

Entsprechend gilt für diese Familien, dass sie sichselbst nicht primär als Angehörige einer ethni-schen, nationalen oder religiösen Minorität wahr-nehmen bzw. dies weit hinter anderen Bindungenund Loyalitäten zurücktritt.

Dieser Diagnose widerspricht nicht, dass unterbesonderen Bedingungen ethnische Mobilisierun-gen mit der Folge einer Polarisierung in der Gesell-schaft der Bundesrepublik Deutschland ebensoauftreten bzw. sich verstärken können wie religiö-ser Fundamentalismus. Da weder die Analyse derGenese interethnischer Konflikte noch die vonreligiösem Fundamentalismus Gegenstand diesesBerichtsauftrages sein können, muss hier der Hin-weis genügen, dass diese primär das Ergebnis un-terschiedlicher Rechtsstatus und damit verbundenersozialer Chancen, wechselseitiger Schließungspro-zesse zwischen Bevölkerungsmajorität und -minorität bzw. der Verlagerung solcher Konflikteaus den Herkunftsgesellschaften sind, seltener zwi-schen Minoritäten untereinander. Die massenme-diale Berichterstattung und der öffentliche Diskursüber solche Konflikte und insbesondere über ge-waltsame Übergriffe mit ausländerfeindlichemHintergrund in Deutschland hat sicher erheblichzur Sensibilisierung und zur Artikulation von Be-sorgnissen auch in Familien ausländischer Her-kunft beigetragen. Für den weit überwiegendenTeil der Familien ausländischer Herkunft bildenjedoch weder religiöser Fundamentalismus nochethnische Mobilisierung bedeutsame Bezugspunktefür die Wahrnehmung ihrer Lebenssituation in derBundesrepublik Deutschland.

6. Familien ausländischer Herkunft unterscheidensich nach ihrer Platzierung in sozialen Un-gleichheitsstrukturen

Mit internationaler Wanderung ist regelmäßig eineVeränderung der Positionierung der Familie in densozialen Ungleichheitsstrukturen der jeweiligenGesellschaft verbunden. Für die Mehrzahl derFamilien, die in den 60er- und 70er-Jahren alsArbeitsmigranten nach Deutschland gekommensind, bedeutete dies in aller Regel, dass die Arbeitin Deutschland zwar relativ zum Einkommen inden jeweiligen Herkunftsgesellschaften eine deutli-che materielle Besserstellung mit sich brachte. Dasich Arbeitsmigranten in ihren jeweiligen Her-kunftsgesellschaften jedoch eher aus den über-durchschnittlich schulisch Gebildeten und beruflichQualifizierten rekrutieren, bedeutete dies aberzugleich, dass diese materielle Besserstellung voneinem Verlust an sozialem Ansehen begleitet wur-de, denn typischerweise handelte es sich um dieÜbernahme von ungelernten oder angelerntenArbeitsplätzen.

Soziale Bezie-hungen unter

Migranteneher ver-

wandtschaft-lich als eth-

nisch geprägt

Integrations-leistungen derMigrantenfa-milien entlas-

ten die Auf-nahmegesell-

schaft

ReligiöserFundamenta-lismus undethnischeMobilisierungnicht weitverbreitet

Drucksache 14/4357 – 14 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Anders als in einigen klassischen Einwanderungs-ländern, die insbesondere mit Anreiz- und Selekti-onssystemen für die Zuwanderung von hochquali-fizierten Fachkräften oder selbständigen Gewerbe-treibenden operieren, haben Zuwanderungen inDeutschland im 20. Jahrhundert ganz wesentlichden Charakter von Unterschichtungsprozessen dereinheimischen Bevölkerung gehabt. Dagegen ha-ben die ständischen Strukturen und insbesonderedie Verberuflichung des deutschen Beschäfti-gungssystems den Arbeitsmigranten bislang wenigMöglichkeiten eröffnet, höherqualifizierte Berufs-positionen zu übernehmen.

Diese Beschäftigungssituation hat nachhaltigenEinfluss auf die soziale Lage der Familien auslän-discher Herkunft. Aus der Platzierung im Beschäf-tigungssysstem ergibt sich, dass unter ihnen beson-ders viele vertreten sind, die nicht zur Stammbe-legschaft des jeweiligen Betriebs zählen; entspre-chend wirken sich nicht nur Strukturwandel undRationalisierungsdruck besonders stark auf ihrRisiko des Arbeitsplatzverlustes aus; konjunktu-relle Schwankungen und Krisen treffen diese Ar-beiter auch zuallererst. Betont werden muss hier-bei, dass es sich bei den unterschiedlichen Ar-beitslosigkeitsrisiken ausschließlich um eine indi-rekte Folge der ungleichen Verteilung von in- undausländischen Arbeitern in Stamm- und Randbe-legschaften handelt, und nicht etwa um kulturelleUnterschiede (etwa in Leistungsbereitschaft, Quali-fikation und Arbeitseffizienz) oder direkte, aktiveDiskriminierung. Das heißt, wäre die Randbeleg-schaft ausschließlich mit inländischen Arbeits-kräften besetzt, hätte sie dieselben Risiken zu tra-gen. Aufenthaltsrechtliche Regelungen für Nicht-EU-Mitglieder und (damit unmittelbar verbunden)Familiennachzug haben dazu geführt, dass dieseArbeitsmarktrisiken immer seltener durch Pendel-migration zwischen Herkunfts- und Aufnahmelandbeantwortet werden, sondern vielmehr in den Le-bensverhältnissen der Familien ausländischer Her-kunft in Deutschland ihren Niederschlag finden.Aus ihrer sozialen Platzierung resultiert, dass sieneben einem annähernd doppelten Arbeitslosig-keitsrisiko auch ein doppelt so hohes Risiko tragen,zumindest zeitweilig unter die Armutsgrenze zufallen (Geißler 1996), wodurch insbesondere dieLebenschancen der Kinder stark beeinträchtigtwerden.

Von der Offenheit der Sozialstruktur der Bundes-republik Deutschland hängt es ab, inwieweit derUnterschichtung der deutschen Gesellschaft durchZuwanderer eine Statusmobilität folgt, sei es durchden individuellen Aufstieg im Sinne einer Karrie-remobilität, sei es als sozialer Aufstieg der nach-folgenden Generationen. Tatsächlich haben sich inder Sozialstruktur der ausländischen Bevölkerungin Deutschland deutliche Veränderungen ergeben,

die auf Prozesse des sozialen Aufstiegs sowohl beider Zuwanderer- wie bei der zweiten Generationhindeuten: Bei der Zuwanderergeneration erfolgtsozialer Aufstieg selten durch Karrieremobilität,wohl aber durch eine extensive Erwerbstätigkeit,verbunden mit hoher Spar- und Investitionstätig-keit (nicht zuletzt auch in Immobilien und Unter-nehmungen in den Herkunftsgesellschaften) sowiedurch einen Wechsel in die Selbständigkeit. Beider zweiten Generation führen die teilweise be-achtlichen (und über denen der deutschen Arbei-terkinder liegenden) Zuwachsraten in weiterfüh-renden Schulabschlüssen zu einer deutlichen inter-genenerationalen Statusmobilität in Familien aus-ländischer Herkunft.

Weder Zuwanderungs- noch Unterschichtungspro-zesse können in der Bundesrepublik Deutschlandals abgeschlossen gelten. Vielmehr tragen die jüng-sten Zuwanderungswellen deutliche Züge einerweiteren Unterschichtung der Wohnbevölkerungdurch Ausländergruppen mit geringer aufenthalts-rechtlichen Absicherung (insbesondere Asylbewer-ber und Saisonarbeiter). Die Sozialstruktur derausländischen Wohnbevölkerung in Deutschlandist damit heute weitaus heterogener und differen-zierter als in früheren Jahrzehnten und entsprichtinsgesamt immer weniger dem Stereotyp einerRandschicht.

7. Familien ausländischer Herkunft unterscheidensich nach ihrer nationalen und ethnischen Zu-sammensetzung

Ein wachsender Anteil der Familien ausländischerHerkunft zeichnet sich dadurch aus, dass er ausFamilienmitgliedern unterschiedlicher Nationalitätund ethnischer Herkunft zusammengesetzt ist. Dieskann z. B. dadurch geschehen, dass ein deutschesEhepaar ein ausländisches Kind adoptiert; zwar istmit der Adoption ausländischer Kinder die Einbür-gerung verbunden, aber solche Familien haben sichzumindest zeitweilig mit der Herkunft des Kindesauseinanderzusetzen, insbesondere wenn bereitswesentliche Teile der Primärsozialisation im Her-kunftskontext erfolgt sind, oder wenn dieses Kinddurch sein Aussehen dauerhaft mit seiner ausländi-schen Herkunft identifiziert wird.

Wesentlich häufiger sind binationale Ehen zwi-schen deutschen und ausländischen Ehepartnern.Solche Ehen mögen zwar wegen der vorhandenenKompetenzen bei einem der beiden Ehepartnerhöhere Kompetenzen bei der Eingliederung in dieAufnahmegesellschaft haben als national homoge-ne Familien ausländischer Herkunft. Aber dieseUngleichverteilung von Kompetenzen und diehäufig gegebene unterschiedliche Rechtsstellung

SozialerAufstieg bei

Zuwandererneher durch

extensiveErwerbstätig-

keit

Zuwan-derungen

habenUnterschich-

tungsprozessezufolge

BinationaleEhen vorbesonderenHerausforde-rungen

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 15 – Drucksache 14/4357

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der Ehepartner im Aufenthaltsland führt zu einemUngleichgewicht in der ehelichen Macht- undAufgabenverteilung, die für diese Ehen eine zu-sätzliche Belastung und Bewährungsprobe darstel-len. Insbesondere, wenn es sich um Eheschließun-gen zwischen Deutschen und Ausländern handelt,die nicht bereits seit längerem in Deutschland le-ben, fehlen häufig Gelegenheiten, die Passung derEhepartner in alltäglichen Situationen zu erfahrenund zu proben. Die ehelichen Anpassungsproblemesind wegen der häufig recht großen Unterschiede inder internalisierten Familienkultur von zusätzlichenAkkulturationsprozessen begleitet. BinationaleEhen haben aus diesen Gründen häufig weit größe-re Entwicklungsaufgaben zu bewältigen als natio-nal homogame Ehen. Es kann deshalb nicht ver-wundern, dass die Stabilität dieser Ehen insbeson-dere in der Anfangsphase besonderen Risiken aus-gesetzt ist. Mit der letzteren Entwicklungsaufgabesind selbstverständlich auch solche Ehen konfron-tiert, die aus zwei unterschiedlichen ausländischenNationalitäten zusammengesetzt sind (etwa dieEhe eines amerikanisch-japanischen Ehepaares inDeutschland) oder aus zwei unterschiedlichenEthnien derselben Staatsangehörigkeit (etwa dieEhe einer Türkin mit einem Kurden oder einesAussiedlers und einer Russin).

In der gegebenen ausländerrechtlichen Situation, inder nicht die Arbeitsaufnahme, wohl aber die Fa-milienzusammenführung einen legitimierten Ein-reise- und Bleibegrund darstellt, wird die Bedeu-tung binationaler Ehen innerhalb ausländischerFamilien und für Zuwanderungen weiter zuneh-men. Die ausländerrechtliche Situation erzeugtnämlich eine Konstellation auf dem internationalenHeiratsmarkt, die es deutschen Heiratswilligenleicht ermöglicht, statushöhere Ehepartner zu fin-den. Zudem muss der Anstieg dieser Ehen im Lau-fe der Zeit keineswegs zwangsläufig als ein direk-tes Indiz für Assimilation gedeutet werden. Viel-mehr wird eine zunehmende Anzahl von binatio-nalen Ehen zwar aus Ehepartnern unterschiedlicherStaatsangehörigkeit, aber gleicher ethnischer Her-kunft erfolgen, wenn etwa eine in Deutschlandeingebürgerte Frau türkischer Herkunft einen Mannaus der Türkei (oder einen Mann türkischer Her-kunft, der in Schweden eingebürgert worden ist)heiratet. Dieselbe ausländerrechtliche Situationwird ihrerseits dazu beitragen, dass für eingebür-gerte Ausländer auch der zweiten und dritten Gene-ration große Anreize bestehen, ihre Ehepartner inden jeweiligen Herkunftsgesellschaften zu suchen.Das Auseinanderfallen von Nationalität und Ethni-zität führt dazu, dass die kulturelle Heterogenität inFamilien ausländischer Herkunft typischerweiseunterschätzt wird.

8. Familien ausländischer Herkunft unterscheidensich nach Motivation, Humanvermögen und ih-ren Wanderungsoptionen

In der ausländerpolitischen Diskussion über dieBeendigung der Anwerbung von ausländischenArbeitskräften ist zumeist übersehen worden, dassdies nicht die Beendigung des Zuzugs vonAusländern beinhaltet; tatsächlich erfolgte unmit-telbar nach dem Anwerbestopp eine rasche Zu-nahme der ausländischen Bevölkerung insbeson-dere aus den Ländern, für die diese Anwerbe-beschränkung galt, während die Zahlen derAusländer aus den damaligen EU-Mitgliedsstaatenin Deutschland nahezu unverändert blieben. DieUrsache hierfür ist, dass Anwerbebeschränkungendieser Art lediglich eine Reduzierung der le-gitimierten Gründe des Zuzugs bedeuten, d. h. fürAusländer haben ab diesem Zeitpunkt die übrigenlegitimierten Gründe (Familienzusammenführung,politisches Asyl) eine weitaus stärkere Bedeutunggewonnen. Politische Regelungen des Zuzugs sinddeshalb primär als Selektions- und Anreizsystemezu verstehen. Sie tragen zwar einerseits zur Kana-lisierung von Wanderungsströmen bei, ohne diesejedoch – zumindest in Staaten mit naturrechtlichlegitimierten Grundrechten – zum vollständigenErliegen bringen zu können, sie haben jedoch aucheinen nachhaltigen Einfluss auf die Lebensbedin-gungen der bereits in der Aufnahmegesellschaftlebenden Familien ausländischer Herkunft. Es istdeshalb zu fragen, welche Veränderungen im An-reizsystem dieser ausländerpolitische Einschnittvon 1973 mit sich gebracht hat.

In der internationalen Migrationsforschung sindviele Belege dafür erbracht worden, dass insbe-sondere die „Pioniere“ unter den Arbeitsmi-granten nicht nur eine positiv selektierte Popula-tion nach Alter, Bildung, Gesundheit, d. h. nachihrem Humanvermögen, darstellen, sondern dasssie sich zugleich auch durch eine besondereMotivation auszeichnen: Sie besitzen typischer-weise eine überdurchschnittlich starke Auf-stiegs- und Leistungsorientierung und haben einean materiellen Zielen orientierte Lebensführung.Dahinter treten andere Orientierungen, wie etwaeine an postmateriellen Zielen orientierte Le-bensführung oder eine starke soziale und politi-sche Partizipation am Gemeinwesen stark zu-rück. Anders wäre auch kaum erklärlich, warumdiese Menschen die mit hohen sozialen Kostenverbundene internationale Migration überhauptauf sich genommen haben.

Eine einsetzende Konsolidierung der Wanderungs-ströme, insbesondere wenn bereits mehr soziale

Zunahmebinationaler

Ehen mitgleicher ethni-

scher Her-kunft, aber

unterschiedli-cher Staatsan-

gehörigkeitPioniermi-granten zeich-nen sich durchbesondereMotivationaus

Drucksache 14/4357 – 16 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Bezugspersonen in der Aufnahme- als in der Her-kunftsgesellschaft leben, führt zusammen mit derEinschränkung der Arbeitsmigration zu einem völligveränderten Anreizsystem. Nunmehr bilden nichtmehr Humankapital und sozialer Aufstieg durchindividuelle Leistung und die Auswahl des Aufnah-melandes nach den Arbeitsmarktopportunitäten dieBezugspunkte legitimen Handelns, sondern dieAusstattung mit sozialem Kapital in der Aufnahme-gesellschaft, d. h. die Verfügbarkeit von engen (fa-miliären und verwandtschaftlichen) Bindungen.Insbesondere, wenn der (zeitweilige) Aufenthaltauch noch mit einem Arbeitsverbot verbunden ist,kann es nicht verwundern, dass für viele unter die-sen Bedingungen die mit dem Aufenthalt verbun-denen Ansprüche auf Sozialleistungen ins Zentrumrücken („rent seeking“), insbesondere bei derEntscheidung für ein bestimmtes Aufnahmeland.Ohne dass hierfür gesicherte Informationen vor-liegen, kann davon ausgegangen werden, dassanaloge Selektionsmechanismen auch bestimmendfür die deutlichen Unterschiede im Eingliederungs-verhalten der frühen und der späten Aussiedler sind.

Nach wie vor verlässt der größte Teil der Auslän-der Deutschland zu einem späteren Zeitpunkt wie-der. Darum ist ein Hinweis darauf, dass hier je-

weils die selben Wirkungsmechanismen gelten,nicht bedeutungslos: Auch die Weiter- oder Rück-wanderungsoptionen verteilen sich nicht zufälligauf die in Deutschland lebenden Familien ausländi-scher Herkunft. Vielmehr ist davon auszugehen,dass auch Rück- und Weiterwanderungsentschei-dungen von der subjektiven Erwartung abhängen,diesen erneuten Akkulturationsprozess erfolgreichzu bewältigen. Entsprechend finden sich vieleempirische Hinweise aus Rückwanderungsstudien,dass unter den rückgewanderten Familien beson-ders viele zu finden sind, die aufgrund ihrer über-durchschnittlichen Ausstattung mit Human- undSozialkapital den Akkulturationsmodus der Inte-gration haben wählen können, während die margi-nalisierten Familien typischerweise in ihrer Situati-on im Aufnahmeland verbleiben: Nicht etwaHeimweh oder mangelnder Erfolg im Aufnahme-land sind wichtige Rückwanderungsmotive, son-dern Hoffnungen auf die Realisierung weiterensozialen Aufstiegs. Entsprechend finden sich unterden Rückwanderern vermehrt solche, die währendihres Aufenthalts in Deutschland gute Deutsch-kenntnisse erworben hatten, intensive Kontakte zuDeutschen unterhielten, eine überdurchschnittlicheBerufsqualifikation und stabile Beschäftigungsver-hältnisse hatten.

Die meistenAusländer

wandernzurück

Migrations-anreize durch

Familien- bzw.Verwandt-

schaftsnetz-werke

Rückwande-rung verbun-den mit Reali-sierung weite-ren sozialenAufstiegs

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17 – Drucksache 14/4357

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II. Migrantenfamilien als konstitutiver Bestandteil der Differenzie-rung und Pluralisierung moderner Gesellschaften

II.1 Migration als Dauerphänomen imBevölkerungsprozess

Bei Bevölkerungsprozessen richtet sich die öf-fentliche Aufmerksamkeit zumeist allein auf dieRelation von Geburten und Todesfällen in einerGesellschaft, zumeist unter dem Gesichtspunkt desbeklagten Geburtenrückgangs in Wohlstandsgesell-schaften oder des Geburtenüberschusses in Ar-mutsgesellschaften. Die Bevölkerung einer Gesell-schaft konstituiert sich jedoch durch vier elemen-tare Prozesse, nämlich durch Geburten und Todes-fälle sowie durch Zuwanderungen und Abwan-derungen. Dass ohne letztere das Gesamtbild nichtnur unvollständig wäre, sondern dass ihnen einegleichrangige Bedeutung zukommt, wird schnell ander Gegenwartssituation in Deutschland deutlich.Im Jahr 1995 wurden in der BundesrepublikDeutschland

– 765 221 Geburten (davon 99 700 mit ausländi-scher Nationalität)

– 884 588 Todesfälle (davon 12 383 von Auslän-dern)

– 1 096 048 Zuwanderungen (davon 792 701 vonAusländern)

– 698 113 Abwanderungen (davon 567 441 vonAusländern)

registriert (Grünheid/Schulz 1996; Roloff 1997).Dass die 1,65 Millionen natürlichen Bevölkerungs-bewegungen in diesem Jahr von den 1,80 Millio-nen wanderungsbedingten Bevölkerungsbewegun-gen übertroffen werden, verdeutlicht die großeBedeutung von Migrationsprozessen für den Be-völkerungsaufbau (vgl. Kapitel III.6.3). Dabeihaben die Wanderungsgewinne die Bevölkerungs-verluste des natürlichen Bevölkerungssaldos mehrals ausgleichen können. Zumindest nach diesemKriterium wird man zu Recht feststellen müssen,dass Deutschland tatsächlich ein Einwanderungs-land ist.

Es wäre jedoch verfehlt, diese Situation im gegen-wärtigen Deutschland als eine Besonderheit iminternationalen oder im historischen Vergleich zusehen:

(Zu-)Wanderungen sind nicht auf Deutsch-land beschränkt, sondern finden sich in ähnlicher

Weise auch in anderen Wohlstandsgesellschaften(Fassmann/Münz 1996). Aber auch Armutsgesell-schaften sind vielfach Ziel von Wanderungen, wiedie großen Migrationsbewegungen in Afrika, Asienund Südamerika als Reaktion auf Katastrophen,Hunger, Krieg, politische Umwälzungen immerwieder belegen. Ebenso wenig beschränkt sich die(Zu-)Wanderung in Deutschland auf die Gegen-wartsgesellschaft, vielmehr sind Wanderungenimmer schon ein konstitutiver Bestandteil der Be-völkerungsentwicklung in Deutschland gewesen(vgl. Kapitel III.). Migration muss deshalb als einuniversales Phänomen bezeichnet werden, das diegesamte Menschheitsgeschichte begleitet hat(McNeill 1987). Dass Migration bis in die vorin-dustrielle Zeit des Merkantilismus hinein als un-trennbar vom Bevölkerungsprozess verstandenworden ist, wird nicht zuletzt daran deutlich, dassbis in diese Zeit „Peuplierung“ als der aktive Pro-zess der Bevölkerung eines Territoriums durchGeburten und Immigration verstanden wurde.

Die Trennung beider Bevölkerungsprozesse istunmittelbar mit der Entwicklung und Durchsetzungdes Nationalstaatsgedankens verbunden, wodurchnunmehr Geburten und Todesfälle zu den „natürli-chen“ Bevölkerungsbewegungen zählten und Mi-gration über die Grenzen des Nationalstaates hin-weg zu einer als problematisch definierten Sonder-situation wurde. Der Nationalstaatsgedanke ist derbis heute wichtigste Bezugspunkt für den öffentli-chen Diskurs über Migration und Eingliederungvon Zuwanderern geblieben. Er findet seinen Aus-druck in der regulativen Idee der Kontingenz vonKultur, Gesellschaft und Territorium, d. h. derEinheit von ethnischer Zugehörigkeit, politisch-staatsverbandlicher Organisation und Staatsgebiet.Mit der Durchsetzung des Nationalstaatsgedankensverbunden sind eine Vielzahl von umfassendenRegelungen, wie z. B. der Geltungsbereich desRechts an die Territorialität des Staates, die Exklu-sivität staatsbürgerschaftlicher Mitgliedschaft ein-schließlich der daran geknüpften partizipativenRechte und Pflichten und insbesondere die Durch-setzung von nationalen Vergemeinschaftungspro-zessen.

Diese werden legitimiert durch Glaube an einegemeinsame Herkunft und schicksalhafte Verket-tung, an Gemeinsamkeiten von Kultur und Ge-schichte, an Zusammengehörigkeit, und ermögli-chen Gemeinschaftshandeln und Solidarität aufnationaler Ebene.

Deutschlandist Einwande-

rungsland

WanderungistuniversalesPhänomen

Drucksache 14/4357 – 18 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Komplementär hierzu gewinnen Unterscheidungen zwischen In- und Ausländern, zwischen ethnischenMinoritäten (die als Teil der Wohnbevölkerung desStaatsterritoriums aus dem Vergemeinschaftungs-prozess ausgeschlossen wurden bzw. sich aus-schlossen) und Bevölkerungsmajorität (die sichtypischerweise selbst nicht als ethnische Gruppe –unter mehreren – versteht), zwischen fremdenZuwanderern und Einheimischen an Schärfe undan Bedeutung für die Regelung aller sozialen,rechtlichen und politischen Beziehungen. Erst vordiesem Hintergrund erhalten Personalausweise,Pässe und Visa, Bürger-, Ausländer- und Aufent-haltsrecht, Einwanderungs-, Einbürgerungsgesetzeund Minderheitenschutz und die Diskussion umihre Ausgestaltung ihren herausgehobenen Sinn:Sie definieren den Status des Einzelnen im Natio-nalstaat und regeln so die statusspezifischen indi-viduellen Rechte, Ansprüche, Pflichten und Belas-tungen.

Über diese allgemeinen Rahmenbedingungen hin-aus, die mehr oder weniger für alle modernen Na-tionalstaaten in gleicher Weise gelten, sind jedochin Bezug auf Deutschland einige weitere Charakte-ristika zu verzeichnen, die die Ausgestaltung desstaatlichen Verhältnisses zu Migration und Mi-grantenminoritäten stark beeinflusst haben: dieAusgestaltung zum Sozialstaat, die Teilhabe vonMigranten am Sozialstaat als Individuen und nichtals Gruppen und die Akzentuierung des Abstam-mungsprinzips.

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Sozial-staat, der Sicherungssysteme gegen lebensbeglei-tende Risiken (Krankheits-, Arbeitslosigkeits- undRentenversicherung) sowie eine weit ausgebauteInfrastruktur für eine Vielzahl von institutionellenLeistungen (u. a. ein einheitliches, weitgehendkostenloses Bildungssystem) bereitstellt.

Ähnlich wie in den nordeuropäischen Staaten sinddie sozialstaatlichen Leistungen korporatistisch aufStaatsebene organisiert und erfassen praktisch diegesamte Wohnbevölkerung. Im Unterschied zudiesen Staaten beinhalten diese Sicherungssystemein Deutschland jedoch eine deutliche vertikaleDifferenzierung, ablesbar z. B. am vertikal geglie-derten Bildungssystem und an der Rentenversiche-rung. Im Unterschied zu angelsächsischen Staatenwird diese vertikale Differenzierung jedoch nichtdurch eine Reduktion von sozialstaatlichen Leis-tungen auf Armutsgruppen und eine Privatisierungder Leistungen für die übrige Bevölkerung erreicht(einschließlich der Bildung), sondern durch dieBindung von Leistungen an die Erwerbsbiographie:„Das deutsche Rentensystem ist international daseinzige, das seine Leistungen auf diese Weise fastganz von geleisteter Erwerbsarbeit abhängigmacht, statt beitragsunabhängig Leistungen zu

gewähren wie bei einer Staatsbürgerversorgung(Modell Schweden) oder fürsorgeartige, d. h. ein-kommensabhängige und bedarfsorientierte Zahlun-gen vorzusehen wie im residualen Wohlfahrtsstaat(Modell USA). Diese Erwerbsfixierung ist derKern des deutschen Sozialversicherungsstaates.Die Zielformel Sicherheit – die Sicherung eineseinmal erreichten Einkommensstatus über dasErwerbsleben hinaus – ist gegenüber der konkur-rierenden Zielformel Gleichheit im deutschen So-zialstaat besonders ausgeprägt. Umverteilung fin-det in diesem Modell weniger zwischen oben undunten als im Lebensverlauf statt, von Zeiten derBeitragszahlung zu Zeiten des Leistungsbezuges“(Leibfried u. a. 1995, 28).

Entscheidend für die Situation von Migranten ist,welche Regeln für ihre Einbeziehung in die ver-schiedensten sozialstaatlichen Regelungen gelten,d. h. wie die Inklusion in den Sozialstaat erfolgt. InDeutschland schließen die sozialstaatlichen Rege-lungen grundsätzlich die gesamte Wohnbevölke-rung ein und eröffnen damit Migranten eine Viel-zahl von sozialen Eingliederungsmöglichkeiten, diein individualistisch organisierten Gesellschaftenmit weithin privatisierten Systemen der Risikoab-sicherung weit weniger zur Verfügung stehen:„Migration unter Bedingungen des Sozialstaatesforciert ohnehin zu erwartende Prozesse der Nie-derlassung von Zuwanderern. Damit einher gehtaber auch soziale Integration, die in dem Maße,wie sie soziale Mitgliedschaften erzeugt, Migran-ten zu normalen Gesellschaftsmitgliedern in demSinne werden lässt, dass sie als Marktteilnehmer,Wohnungsnehmer, Patienten, Klienten, Kinder,Schüler in die entsprechenden sozialen Teilsystememit einem bearbeitbaren Ausmaß an Friktioneneinbezogen werden“ (Bommes 1994, 370). Diesedurch den Sozialstaat bereitgestellten Eingliede-rungsmöglichkeiten dürften in erheblichem Maßedazu beigetragen haben, dass bislang Segregationund Marginalisierung eher seltene Resultate desEingliederungsprozesses von Migranten in Deut-schland gewesen sind; vielmehr hat die Inklusionin den Sozialstaat dazu geführt, dass Assimilationund Integration trotz der am Abstammungsprinziporientierten Statuszuweisung zum wahrscheinlich-sten Ausgang des Eingliederungsprozesses der inDeutschland verbliebenen Migrantenfamilien ge-worden ist.

Unterstützt worden ist dies auch dadurch, dass inDeutschland die Teilhabe am Sozialstaat an indi-viduelle und nicht an kollektive Eigenschaftengebunden ist. Deutschland unterscheidet sich damitvon Sozialstaaten wie die Niederlande, Schwedenoder Kanada, in denen ein stärker korporatistischesModell der Inklusion realisiert wird, bei dem ins-besondere auch ethnische und religiöse Gruppennatürliche Rechte gegenüber dem Staat bean-

Inklusion inSozialstaatfördert Inte-gration

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 19 – Drucksache 14/4357

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spruchen können und diese so zum Ansprechpart-ner und Ziel wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmenwerden: Wohlfahrt wird in einem solchen Modellweniger individuell, sondern als Wohlfahrt sozialerGruppen verstanden, und die Inklusion in denSozialstaat erfolgt primär durch die Einbeziehungdieser Gruppen in staatlich-administrative Maß-nahmen. Migranten werden in einem solchen „ver-säulten“ Modell kollektiv eingegliedert, indem siean den intermediären (ethnischen und religiösen)Gruppen und Institutionen partizipieren, die ihrer-seits vom Staat weitgehende Unterstützungenerhalten (Soysal 1994). Obwohl in Deutschlandintermediäre Organisationen, wie Kammern,Kirchen, Verbände, Standesvertretungen, Gewerk-schaften, für die politische Willensbildung vonaußerordentlich großer Bedeutung sind, finden sichvergleichbare Regelungen allenfalls insofern, alsdie Wohlfahrtsorganisationen ihrerseits enge kirch-liche Bindungen aufweisen und für die Betreuungder Familien ausländischer Herkunft ein Modellder Arbeitsteilung praktizieren. Dabei haben diewenigen großen Wohlfahrtsverbände die wichtig-sten Herkunftsnationalitäten untereinander „auf-geteilt“. Kennzeichnend für die bedeutsamen in-termediären Organisationen in Deutschland istvielmehr, dass sie selbst in hohem Maße „univer-salistisch“ orientiert und ethnische Linien in ihnenvergleichsweise bedeutungslos sind. Entsprechendhaben Schließungstendenzen gegenüber Migran-tenminoritäten in diesen Organisationen ebensowenig Platz gegriffen, wie es Raum für an ethni-schen Linien orientierte Neugründungen gegebenhat: Das Prinzip der Einheitsgewerkschaft hat eth-nischen Konflikten ebenso stark entgegengewirktwie die Struktur der deutschen Wohlfahrtsverbändeoder der deutschen Sportorganisation.

Mehr als in anderen vergleichbaren modernenNationalstaaten gehört es zur Rechtstradition inDeutschland, dass das Abstammungsprinzip (jussanguinis) ein maßgebliches Kriterium der Be-stimmung der nationalen Zugehörigkeit ist, wohin-gegen das Territorialprinzip (jus soli) trotz derReform des Staatsangehörigkeitsrechts bislangvergleichsweise schwach ausgeprägt ist (vgl. Ka-pitel III). Etwa im Vergleich zu Frankreich und denangelsächsischen Staaten werden damit ethnischeLinien für die Bestimmung der nationalen Zugehö-rigkeit stärker gewichtet, wohingegen aktive Parti-zipation im Staatsgebilde („citizenship“) oder derErwerb von Bürgerrechten durch Geburt im Staats-gebiet deutlich zurücktreten. Nicht die Bindung anein Staatsterritorium und an eine für das demokra-tische Gemeinwesen vorauszusetzende politischeKultur ist maßgeblich für die nationale Zugehörig-keit, sondern der Glaube an eine gemeinsame Ab-stammung. Eine solch weitgehende Realisierungdes Abstammungsprinzips wie in Deutschlandweist unter den Wohlstandsgesellschaften nur

Japan auf (Takenaka 1994), wobei sich allerdingsfür ethnische Minoritäten durch die Unterschiedein der Sozialstaatlichkeit gänzlich andere Integrati-onsmodi ergeben. Es kann kein Zweifel bestehen,dass das „republikanische“ Nationenverständniseiner „civic society“ günstigere Voraussetzungenfür die Entwicklung von Eingliederungsmodellenfür Familien ausländischer Herkunft bietet als daseiner ethnisch-kulturellen Schicksalsgemeinschaft.

Das Abstammungsprinzip kann grundsätzlich denSonderstatus der Zugehörigkeit zur Ausländermi-norität über Generationen hinweg auf Dauer stellenund hat sicher dazu beigetragen, dass die Anzahlder Einbürgerungen in Deutschland hinter denender Nachbarländer weit zurückgeblieben ist. Dieshat insgesamt dazu beigetragen, dass die Auslän-derstatistik in Deutschland gänzlich andere Bevöl-kerungsgruppen umschließt, als dies in den Nach-barländern der Fall ist. Das Abstammungsprinzipin Verbindung mit dem Kriegsfolgenrecht ist auchlegitimatorische Grundlage gewesen für die Krea-tion einer eigenen Rechtsstellung von Migrantenals „Aussiedler“ (einschließlich der Ansprüche aufstaatliche Leistungen, die an diesen Status gebun-den sind) gegenüber solchen, die sich auf diesesPrinzip nicht berufen können. Diese einseitigePrivilegierung von Zuwanderergruppen hat zueiner neuen Konfliktlinie in interethnischen Bezie-hungen geführt. Bei Auseinandersetzungen zwi-schen Jugendlichengruppen von Aussiedlern undAusländern der zweiten und dritten Aufenthaltsge-neration fühlen erstere sich im Recht, weil sie sichauf ihr Abstammungsprivileg berufen, während diezweiten sich durch „citizenship“, d. h. durch ihrenlängeren Aufenthalt und die dadurch begründetenGewohnheitsrechte zu legitimieren suchen.

Es kann nicht verwundern, dass angesichts des imdeutschen Staatsgebilde weithin durchgesetztenAbstammungsprinzips die Arbeitsmigration nachDeutschland, auf die nach wie vor der Großteil derin Deutschland lebenden Familien ausländischerHerkunft zurückzuführen ist, im öffentlichen Dis-kurs und im politisch-gesetzgeberischen Raumlange Zeit als zeitlich begrenzte „Ausnahmesituati-on“, als „Irregularität“ und „Anomalie“ im Sinneder basalen politischen Philosophie wahrgenom-men worden ist – die Abfolge der politischen Be-nennung dieser Bevölkerungsgruppe als „ausländi-sche Wanderarbeiter“, als „Fremdarbeiter“ und als„Gastarbeiter“ zeigt dies überdeutlich. Tatsächlichhat sich die Migrationspolitik der BundesrepublikDeutschland auch dann noch durch große Hilflo-sigkeit ausgezeichnet, als allgemein anerkanntwurde, dass Arbeitsmigranten einen unverzichtba-ren Beitrag zur Lösung nationaler Wirtschaftspro-bleme darstellen (vgl. Kapitel III). Bis in die Ge-genwart hinein fehlen Überlegungen, wie eineGesellschaft dauerhaft mit (immer neuen, wech-

Abstamungs-oder Territo-

rialprinzip

Bisher wenigEinbürgerun-gen inDeutschland

Universalis-tische Orien-tierung ver-

hindertSchließungs-

tendenzen

Drucksache 14/4357 – 20 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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selnden) Familien ausländischer Herkunft lebenkann. Statt dessen orientiert sich die politischeRhetorik an Modellvorstellungen, die – zumindestlängerfristig – auf eine Beendigung des Lebens mitFamilien ausländischer Herkunft hinauslaufen,etwa durch Überlegungen zur weitgehenden Unter-bindung von Zuwanderung, zur Rückkehrförderungoder Abschiebung und zur endgültigen Absorptionder bereits seit längerem in Deutschland Lebenden.

Solche Vorstellungen waren in der Vergangenheitunrealistisch angesichts der Tatsache, dass sich dieausländische Bevölkerung immer schon durch einhohes Maß an Heterogenität in der Zusammenset-zung, in ihren Wanderungs- und Bleibemotivenund in der Aufenthaltsdauer ausgezeichnet hat. Inder Gegenwart haben sich die Rahmenbedingungenjedoch zusätzlich dadurch verschoben, dass diezunehmende Integration der Europäischen Unionund Globalisierungsprozesse den isolierten natio-nalstaatlichen Zugriff auf Migration und Personenausländischer Herkunft völlig obsolet werden las-sen.

II.2 Migration unter den Bedingungen begin-nender Globalisierungsprozesse

Als ein wesentliches Kennzeichen der Gegenwarts-situation wird die zunehmende Globalisierungangesehen. Sie ist zum Codewort für einen drama-tischen Souveränitätsverfall der Nationalstaatenund der nationalstaatlich strukturierten Gesell-schaften insgesamt geworden (Brock 1997). Ge-meinhin wird unter Globalisierung insbesonderedie Internationalisierung

– des Kapitals durch den freien Fluss von Inves-tivkapital zwischen den weltweiten Finanz-märkten in großer Geschwindigkeit,

– der Kommunikation durch den weltweiten undsofortigen Zugang zu Informationen durch Te-lefon, Satellitenfernsehen und Internet,

– der Produktion durch den dezentralen Aufbauvon Produktionsstätten weltweit operierenderKonzerne,

– des Warenverkehrs durch den zunehmendenWegfall von nationalstaatlich begründeten Han-delsbeschränkungen

verstanden. Solche Globalisierungsprozesse habenunmittelbar zur Folge, dass in bislang nicht ge-kanntem Ausmaß Ereignisse und Entwicklungenvoneinander weltweit abhängig werden und sichdamit zunehmend der unmittelbaren Kontrolle desNationalstaates entziehen. Nationalstaaten werdendamit zu Akteuren unter vielen und Staatsgrenzen

zu Grenzen neben vielen anderen. Diese gestiegeneweltweite Interdependenz zieht damit einen enor-men Komplexitätszuwachs im politischen Handelnnach sich; mehr und mehr ist es angebracht, voneiner Weltgesellschaft zu sprechen.

Wenn sich auch abzeichnet, dass es sich hierbei umeinen unumkehrbaren Prozess handelt, der seineKonsequenzen in Zukunft für immer mehr Lebens-bereiche entfalten wird, so muss für den gegen-wärtigen Zeitpunkt festgestellt werden, dass dieGlobalisierungsgeschwindigkeit in den einzelnenSegmenten der Gesellschaft außerordentlich unter-schiedlich ist: Während im Finanz- und Informati-onssektor die Entwicklung relativ weit fortge-schritten ist, bleiben Produktion und Warenverkehrbereits weit dahinter zurück und haben nach wievor entweder binationalen Charakter oder sindregional begrenzt – so wird der ganz überwiegendeTeil des Im- und Exports Deutschlands innerhalbder Europäischen Union abgewickelt.

Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass ökono-mische Globalisierung einen unmittelbaren Ein-fluss auf internationale Migration hat, da dieserProzess nicht nur eine Ausweitung des Geld-, In-formations-, Dienstleistungs- und Warenverkehrsbeinhaltet, sondern auch eine Ausweitung desinternationalen Personenverkehrs. Charakteristischhierfür ist, dass die modernen Informationstechni-ken es potenziellen Migranten ermöglichen, Wan-derungsgelegenheiten weltweit zu beobachten, unddass moderne Verkehrstechnologien hohe Kapazi-täten für den schnellen weltweiten Transport vonMenschen vorhalten. Beides trägt in entscheiden-dem Maße dazu bei, den Charakter internationalerMigration kontinuierlich zu verändern:

Wanderungsentscheidungen verlieren zunehmendden Charakter einer Zäsur im Lebensverlauf, beidem der „Herkunftskontext“ ein für allemal zugun-sten einer Einwanderung aufgegeben und allenfallssporadischer Kontakt unterhalten wird. ModerneInformationstechnologien ermöglichen es, diesenKontakt zu Bezugspersonen im Herkunftskontextdauerhaft zu unterhalten und sich kontinuierlichüber das Geschehen in der Herkunftsgesellschaftzu informieren. Verkehrstechnologien ermöglichenes, zeit- und kostengünstig den Herkunftskontextregelmäßig zu besuchen, Migrationsentscheidun-gen zu revidieren oder durch neue zu erweitern.

Diese technologischen Veränderungen haben dieTendenz verstärkt, dass familiär-verwandtschaft-liche Beziehungen von Migranten den Charaktervon transnationalen Netzwerken haben (Pries1997). Allerdings wäre es verfehlt, das Ausmaß derbislang eingetretenen Entwicklung zum gegenwär-tigen Zeitpunkt zu überschätzen: Nach wie vor istinsbesondere die Arbeitsmigration (und im Gefolge

Kontakt zumHerkunftskon-text bleibtaufgrundneuer Infor-mations- undVerkehrs-technologienbestehen

ZunehmendeEU-Integra-

tion machtisolierten

nationalstaat-lichen Zugriff

obsolet

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 21 – Drucksache 14/4357

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davon: die familiäre Kettenmigration) regionalbegrenzt, d. h. sie konzentriert sich auf eine be-grenzte Anzahl von süd- und osteuropäischen Her-kunftsstaaten; ebenso haben die Freizügigkeitsre-gelungen in der Europäischen Union in keinerWeise zu einer Ausweitung der internationalenMobilität geführt, vielmehr hat die parallel verlau-fende Angleichung der Lebensverhältnisse in denMitgliedsstaaten die europäische Binnenmigrationeher reduziert (Werner 1994). Die informations-technischen Veränderungen haben somit zwar dieSuchkosten für Migrationsopportunitäten und dieverkehrstechnischen Veränderungen die ökonomi-schen Kosten von Migration verringert, die sozia-len Kosten sind dagegen unverändert geblieben.

Supranationale Zusammenschlüsse sind nicht zu-letzt als politische Reaktionen auf Globalisierungs-prozesse zu verstehen, mit denen verlorene staatli-che Kontroll-, Gestaltungs- und Interventionsmög-lichkeiten zurückgewonnen werden sollen. Siehaben den Ebenen politischen Handelns zur Ebeneder Kommunal-, Landes- und Bundespolitik mitder Ebene der Europäischen Union eine weiterehinzugefügt – und damit komplementären (undgelegentlich gegenläufigen) Regionalisierungsbe-wegungen zugleich neue Handlungsräume eröffnetund zu einer gestiegenen Legitimität verholfen. Fürdie Politik für Familien ausländischer Herkunft giltin besonderem Maße, dass die Ebene, auf der Ur-sachen zu lokalisieren sind, selten mit der Ebenekonvergiert, auf der sich die politische Problembe-arbeitung vollzieht: Während die Ursachen derMigration insbesondere auf der Ebene der interna-tional unterschiedlichen Lebensbedingungen ange-siedelt sind, werden die Lebensbedingungen derMigrantenfamilien unmittelbar am stärksten vonden Gestaltungsmöglichkeiten der Kommunalpoli-tik und den Verfahrensweisen kommunaler Behör-den beeinflusst. Es sind also nicht allein die feh-lenden Möglichkeiten politischer Mitwirkung derMehrzahl der Betroffenen, sondern auch die offen-sichtlichen Diskrepanzen zwischen Problemlokali-sierung und Problembearbeitung, die den Gestal-tungsbereich der Politik für Familien ausländischerHerkunft besonders anfällig macht: Bei fehlenderpolitischer Vertretung unterliegt er stets der Ge-fahr, dass sich die jeweiligen politischen Hand-lungsebenen auf Kosten anderer Instanzen (und derBetroffenen) zu entlasten suchen. Hierbei handeltes sich zumeist um eine Umverteilung der Kostenvon groß- auf kleinräumige politische Akteure,d. h. Kommunen und Regionen haben die Kostendes Globalisierungsprozesses (ökologisch undfinanziell) zu tragen.

Parallel zu dieser ökonomisch-technischen Globa-lisierung hat jedoch gleichzeitig ein kulturellerDiffusionsprozess stattgefunden, der auf sehr un-terschiedlichen Ebenen die Migrationsbedingungen

verändert hat:

– Der weltweite Warenverkehr hat im Verlauf derzurückliegenden Jahrzehnte zu einer globalenDiffusion von vielen Elementen der Alltags-kultur geführt. Dies betrifft die massenmedialePopulärkultur mit der weltweiten Standardisie-rung von Musik-, Film- und Fernsehangebotenebenso wie die Vorfindbarkeit von identischenElementen des täglichen Konsums selbst in denentlegensten Gebieten (z. B. Cola) bis hin zurweltweiten Präsenz von Fastfood-Ketten. Die-ser mit „McDonaldisierung“ auf den Begriffgebrachte Prozess hat dazu beigetragen, dassMigranten stets bereits bekannte Anknüpfungs-punkte für die Reorganisation des Alltags imjeweiligen Aufnahmekontext vorfinden kön-nen. Zumindest für Wohlstandsgesellschaftenkommt hinzu, dass durch die enorme Auswei-tung des Waren- und Dienstleistungsangebotszunehmend auch Elemente der jeweiligen All-tagskultur der Herkunftsgesellschaften auch alsKonsumangebot für die Mitglieder der Mehr-heitsgesellschaft enthalten sind. So lassen sichschnell alltagskulturelle Nischen entdecken, diedie spezifischen Bedürfnisse der Migrantenfa-milien auch dann abdecken, wenn keine eigen-ethnische Kolonie in der Nähe ist.

– Mit der Globalisierung ist jedoch nicht nur einebeschleunigte Diffusion von Informationen,Gütern und Dienstleistungen verbunden, son-dern auch die zunehmende funktionale Diffe-renzierung im globalen Zusammenhang derWeltgesellschaft. Dieser Prozess beinhaltet ei-nerseits eine zunehmende Ausdifferenzierungvon (supranationalen) Organisationsstrukturenund Berufspositionen und eine Spezialisierungvon Wissensbeständen und Qualifikationen. Erführt jedoch andererseits dazu, dass die jeweili-gen Organisationsstrukturen und Berufspositio-nen sich global immer ähnlicher werden. Diesbedeutet einerseits, dass das berufsspezifischeWissen und die erworbenen Qualifikationen aufimmer weniger Positionen in anderen Funkti-onsbereichen übertragbar werden. Dagegenverlieren räumliche und kulturelle Kontexte je-doch zunehmend ihre spezifische Bedeutungfür die Effektivität von Organisationen oder fürdie erfolgreiche Ausübung von Berufstätigkeit.So wird sektorale Berufsmobilität wegen der(in einem Menschenleben) unaufholbaren fach-lichen Qualifikationsnotwendigkeiten immerunwahrscheinlicher. Der regionalen Mobilitätstellen sich dagegen zunehmend weniger Hin-dernisse entgegen. Dies gilt dann um so mehr,wenn auch soziales Kapital eher im Bezie-hungsgeflecht globalisierter Expertenkulturenals in ortsgebundenen Milieus aufgebaut undgepflegt wird. Es ist offensichtlich, dass diese

Globale Diffu-sion von vielenElementen derAlltagskultur

ZunehmendeVerlagerungvon Migrati-

onsfragen aufdie Kommu-

nalpolitik

Drucksache 14/4357 – 22 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Dimension des beginnenden Globalisierungs-prozesses ihre Auswirkungen weniger auf dieklassische Arbeitsmigration haben wird, mit derin einem Unterschichtungsprozess die niedrigenStatuspositionen in Wohlstandsgesellschaftenbesetzt worden sind. Vielmehr werden hiermit(wieder) die strukturellen Voraussetzungen fürdie Ausweitung internationaler Migration aufhochqualifizierte Berufspositionen geschaffen.Der Globalisierungsprozess führt zu einer zu-nehmenden Vernetzung von Funktionselitenund einer Strukturähnlichkeit ihrer Aufgaben-bereiche. So mag es immer unwahrscheinlicherwerden, dass in einem Unternehmen der Leiterder Einkaufsabteilung die Aufgaben eines La-borleiters im gleichen Werk übernimmt, dage-gen mag es immer wahrscheinlicher werden,dass er vergleichsweise problemlos dieselbePosition in einem anderen Werk auf einem an-deren Kontinent ausüben könnte.

Den vermutlich stärksten Einfluss auf die zukünfti-ge Entwicklung von internationalen Migrations-strömen wird jedoch der kulturelle Diffusionspro-zess auf der Ebene der zwischenstaatlichen Bezie-hungen haben. Ein wesentliches Kennzeichen desGlobalisierungsprozesses ist nämlich die zuneh-mende Selbstbindung von Nationalstaaten durchzwischenstaatliche Verträge, Beitritte zu interna-tionalen Konventionen und durch Mitgliedschaftenin internationalen Organisationen. Hierbei handeltes sich um einen kulturellen Diffusionsprozessinsofern, als zumeist dem Kulturkreis westlicherDemokratien entstammende Rechtsnormen erstenseine zunehmend globale Geltung erlangen, undsich zweitens eine zunehmende inhaltliche Aus-weitung solcher Rechtsnormen vollzieht. Beson-ders augenfällig ist dieser Diffusionsprozess amBeispiel des Leitbildes des humanistischen Indivi-dualismus zu verfolgen, der seinen Ausdruck ins-besondere in den individuellen Menschenrechtengefunden hat: Diese aus westlichen Demokratietra-ditionen stammende naturrechtliche Konzeption,mit dem Individuum als Träger unveräußerlicherRechte vor aller gesellschaftlichen Organisation, istinzwischen normative Grundlage vieler Staatsver-fassungen und internationalen Konventionen ge-worden. Die Verrechtlichung der internationalenBeziehungen beinhaltet dabei ihrerseits zugleichauch zunehmende Möglichkeiten der Nachprüfbar-keit einzelstaatlicher Entscheidungen auf demKlagewege und eine zunehmende Interdependenzeinzelner Rechtsbereiche durch Normkontrollen.

Es kann nicht verwundern, dass solche Selbstbin-dungen der Einzelstaaten durch eingegangenevertragliche Verpflichtungen oder durch Beitrittezu internationalen Konventionen oder Organisatio-nen – obwohl ursprünglich häufig auf ganz andereSachverhalte zielend – auch unmittelbare Auswir-

kungen auf internationale Migrationsprozesse ha-ben. In jedem Falle entziehen sie sich zunehmendder direkten einzelstaatlichen Kontrolle, da eineMigrationspolitik, die von anderen Politikbereichenund von der Politik in Nachbarstaaten isoliert zubetreiben wäre, zunehmend unmöglich wird. Eben-so wenig kann verwundern, dass unter diesen Be-dingungen jeder Versuch einer solchen national-staatlichen Migrationspolitik in direkten Konfliktmit der eingegangenen Selbstverpflichtung aufMenschenrechte geraten muss. Es entspricht demKomplexitätszuwachs des Globalisierungsprozes-ses und ist insofern normal, dass sich immer neueKonfliktlinien aus den Wechselbeziehungen mitanderen Politikbereichen entwickeln: Seien es z. B.die Implikationen des Beitritts zur internationalenKinderrechtskonvention für das Recht des Mi-grantenkindes auf den Umgang mit seinen beidenElternteilen, sei es die Frage, inwiefern die Verfol-gung von familiären oder familienähnlichen Le-bensformen einen Asylanspruch begründet, odersei es die Frage, ob der verfassungsmäßige Schutzvon Ehe und Familie Raum für die Einbeziehungvon in anderen kulturellen Kontexten legitim prak-tizierten, funktional äquivalenten Lebensformengibt.

Welch nachhaltigen Einfluss eine solche Universali-sierung von Rechtstiteln auf die Migrationsent-wicklung hat, kann eindrucksvoll am Beispiel derVereinigten Staaten studiert werden: Bis ca. 1965 istin den Vereinigten Staaten eine klassische national-staatliche Einwanderungspolitik verfolgt worden,bei der die staatliche Kontrolle wesentlich überQuotenregelungen für Zuwanderergruppen erfolgte.Das Ziel einer Assimilation der Zuwanderer wurdedabei von allen Beteiligten fraglos anerkannt („mel-ting pot“) und sollte mit Hilfe von schneller Natura-lisierung und Integration in universalistische Institu-tionen (englischsprachige Schulen, Militär, offenerArbeitsmarkt) erreicht werden. In unmittelbaremZusammenhang mit der Civil-Rights-Bewegungwurde dann jedoch die (im Sinne einer national-staatlichen Zuwanderungspolitik „rationale“) Quo-tenregelung dahingehend modifiziert, dass „Famili-ennachzug“ in Reaktion auf die unabweisbarenRechte der bereits in den USA Lebenden eine über-ragende Bedeutung erhielt. Ebenso wurde das Assi-milationsziel unter dem Eindruck der Gleichrangig-keit und -berechtigung von verschiedenem kulturel-len Erbe zunehmend in Frage gestellt, und die eth-nisch-kulturelle Differenz und Pluralität erhieltgegenüber nationalstaatlichen Einheitssymbolikeneine zunehmende Präsenz im öffentlichen Diskursund resultierte in entsprechenden Maßnahmen vonbilingualer Erziehung, von „affirmative action“,„ethnic revival“ und einem (auch) entlang ethni-schen Linien geführten Kampf um die kulturellenInhalte von Schulen und Hochschulen (Heckmann/Tomei 1997).

InternationaleKonventionen

bestimmennationalen

Gestaltungs-spielraum

Universalisie-rung vonRechtstitel hatEinfluss aufMigrations-entwicklung:Beispiel USA

Ausweitungvon Migration

auf hoch-qualifizierte

Berufs-positionen

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23 – Drucksache 14/4357

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Hier kann nicht zur Diskussion stehen, welche derbeiden gegenläufigen Bewegungen in der amerika-nischen Migrationspolitik erfolgreicher im Sinneder Durchsetzung ihrer jeweiligen Zielsetzungengewesen ist. Auch kann hier nur darauf hingewie-sen werden, dass die zumeist negative Beurteilungder jüngeren Entwicklungen und die daran ge-knüpften Befürchtungen hinsichtlich des Zusam-menhalts und der Überlebensfähigkeit des Staats-gebildes zwar eine verständliche Sorge (und einwohlfeiles Argument in der „ethnic competition“)ist, sich aber möglicherweise als unbegründet er-weisen kann. Es ist zumindest eine offene Frage,ob sich die Eingliederung der jüngeren Einwande-rungswellen von Lateinamerikanern und Asiaten inGeschwindigkeit und Nachhaltigkeit von der jenerGenerationen von Süd-, Mittel- und Osteuropäernunterscheidet (Alba 1990), die in der ersten Hälftedieses Jahrhunderts immigriert waren und denengegenüber damals dieselben Befürchtungen undÄngste (im Vergleich zur damaligen Referenz derbereits ansässigen Amerikanern angelsächsischerHerkunft) geäußert wurden und deren Eingliede-rungsprozess heute im Rückblick verklärt wird.Der Verweis auf dieses Beispiel ist nicht als Dis-kussionsgrundlage für „richtige“ und „falsche“Optionen der Migrationspolitik gedacht, sondernvielmehr als Hinweis auf unausweichliche Konse-quenzen, die sich aus der mit dem Globalisierungs-prozess ergebenden Universalisierung von Rechts-normen ergeben. Für diese These spricht insbeson-dere, dass andere Staaten wie Großbritannien undFrankreich – obwohl von anderen Ausgangspunk-ten kommend – einen ähnlichen Weg der Umori-entierung im Umgang mit Zuwanderung gegangensind.

II.3 Wechselwirkungen zwischen der Plu-ralisierung moderner Gesellschaftenund Migration

Wenn Pluralisierung und Individualisierung inGegenwartsgesellschaften beschrieben werden,dann werden sie zumeist in einen engen Zusam-menhang mit individuellen und gesellschaftlichenModernisierungsprozessen gebracht. IndividuelleModernisierung als säkularer Anstieg individuellerRessourcen, d. h. der enorme Zuwachs an Bildungund Wohlstand in modernen Gesellschaften, erfolgtdabei simultan zur gesellschaftlichen Modernisie-rung, die durch ebenso enorm erweiterte Hand-lungsmöglichkeiten in den sozialstrukturell bereit-gestellten Gelegenheitsstrukturen gekennzeichnetist. Da von einer solchen Optionsvielfalt in starkemUmfang auch Entscheidungszwänge ausgehen,führt dies zu einer Individualisierung von Lebens-verläufen und zu einer Pluralisierung der Lebens-führung.

Dieser Prozess hat in den letzten Jahrzehnten ins-besondere die Lebensverläufe von Frauen verän-dert: Sie haben von der Bildungsexpansion in be-sonderem Maße profitiert und z. B. in DeutschlandMänner im Erwerb von Bildungszertifikaten inzwi-schen übertroffen. Zugleich kommt ihren damitsteigenden Berufsaspirationen entgegen, dass mitder gesamtgesellschaftlichen Modernisierung eineTertiärisierung des Beschäftigungssystems verbun-den ist, da Berufe im Dienstleistungssektor immerschon in besonderem Maße Frauen geöffnet wor-den sind. Steigende Erwerbsbeteiligung in derForm eigenständiger Berufsbiographien ermöglichtdabei zugleich eine höhere Wahlfreiheit von Frau-en in ihrer privaten Lebensplanung insofern, alsdas Eingehen einer (Versorgungs-) Ehe nicht mehralternativlos die Normalbiographie bestimmenmuss und Mutterschaft zu einer eigenständigenEntscheidung geworden ist.

Dieser Modernisierungsprozess erfasst jedochweder alle Gesellschaften noch alle Individuengleichermaßen, vielmehr nimmt das Wohlstandsge-fälle zwischen Staaten ebenso zu wie z. B. dasBildungs- und Einkommensgefälle zwischen Men-schen. Als Träger solcher Individualisierungspro-zesse treten deshalb insbesondere solche Personen-gruppen hervor, die viele der mit dem Modernisie-rungsprozess zusammenhängenden Merkmale aufsich vereinigen können, nämlich die junge, gebil-dete (deutsche) Bevölkerung der urbanen Bal-lungszentren. Tatsächlich hat die gesamte sozial-wissenschaftliche Erforschung moderner Lebens-stile (Hradil 1995) und „neuer“ Lebensformen(Peuckert 1996) ihr Augenmerk hauptsächlich aufdiese Personengruppen konzentriert, die in der Tathäufiger ledig, kinderlos oder geschieden sind undin gleich- oder gemischtgeschlechtlichen Wohn-gruppen, nichtehelichen Lebensgemeinschaften,Commuter-Beziehungen oder als Single leben.Beck/Beck-Gernsheim (1990, 17) gehen davon aus,dass sich Individualisierung „als Nebenfolge lang-fristig angelegter Modernisierungsprozesse in rei-chen westlichen Industriegesellschaften vollzieht“,wobei als wesentliche Bedingungen Wohlstand,Ausbildung, Rechtsstaatlichkeit und Mobilitätaufgeführt werden. Als Zentren mit den ausge-prägtesten Individualisierungsmerkmalen benennensie die bundesdeutschen Großstädte München,Berlin und Frankfurt, die beispielsweise den höch-sten Anteil an Einpersonenhaushalten hätten. Ist eslediglich eine zufällige Koinzidenz, dass dieseStädte zugleich die höchsten Ausländeranteile ander Wohnbevölkerung in Deutschland aufweisenund über quantitativ bedeutende ethnische Koloni-en verfügen? Oder besteht möglicherweise zwi-schen der Entwicklung von individualisierten Mi-lieus einerseits und der Entstehung von ethnischenKolonien andererseits ein systematischer Zusam-menhang? Die Forschung über die Individualisie-

Höhere Wahl-freiheit fürFrauen

Drucksache 14/4357 – 24 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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rung und Pluralisierung moderner Gesellschaftenhat jedenfalls die Lebensformen der zugewandertenWohnbevölkerung niemals in den Blick genommen(vgl. Hoffmann-Nowotny 1998), obwohl diesequantitativ weit bedeutsamer sind als die sog.„neuen“ Lebensformen. Solche zeitdiagnostischenAnalysen haben auf diese Weise dazu beigetragen,dass ein systematisch verzerrtes Bild der Entwick-lung von Lebensformen und ihrer Entstehungsbe-dingungen gezeichnet worden ist. Tatsächlich er-öffnet die Einbeziehung der Lebensformen vonZuwanderern nämlich auch ein genaueres Ver-ständnis der Lebensformen der nichtgewandertenBevölkerung. Wird die Bevölkerungskategorie derArbeitsmigranten mit dem „individualisiertesten“Teil der autochthonen Bevölkerung verglichen,offenbart sich hier ein Modernisierungs-Paradox:Es sind gerade die Bevölkerungsgruppen mit hoherKollektivorientierung und starken Gruppenbindun-gen auf verwandtschaftlicher und ethnischer Basis,die sich als in besonderem Maße regional- undstatusmobil erweisen, und deren Lebensführungsich noch am weitesten von ihrer sozial-kulturellenHerkunft entfernt hat.

Dagegen zeigen die Ergebnisse aus Lebensver-laufsstudien mit einheimischer Bevölkerung, dassdie Bevölkerungsgruppen, denen eine „individuali-sierte“ und „postmoderne“ Orientierung in beson-derem Maße zugeschrieben wird, z. B. bezüglichdes Auszuges aus dem Elternhaus oder bezüglichregionaler Wanderungen, zunehmend immobilwerden (Wagner 1989). Ein wesentlicher Grundhierfür ist die im Gefolge der Bildungsexpansiongestiegene Erwerbstätigkeit von Frauen: In Ehenund Partnerschaften sinkt durch die Erwerbstätig-keit beider Partner die Wahrscheinlichkeit, dass derdurch räumliche Mobilität erzielbare Gewinn desberuflichen Aufstiegs des einen auch den ökonomi-schen Gesamtnutzen in der Partnerschaft steigert(vielmehr wird er womöglich sogar gesenkt). Ent-sprechend begünstigt dieser Modernisierungspro-zess einerseits unter den Hochqualifizierten denAnteil derjenigen, die keine gemeinsame Haus-haltsführung eingehen und ein „living-apart-together“ vorziehen (Hoffmann-Nowotny 1995);andererseits begünstigt es unter denjenigen, dieeinen gemeinsamen Haushalt gegründet haben undzudem keiner von beiden die Erwerbstätigkeitaufgeben will – wozu nicht zuletzt das gesunkeneVertrauen in die Stabilität von Partnerschaften undEhen erheblich beigetragen hat – räumliche Immo-bilität. Den gestiegenen Anforderungen an räumli-che Mobilität im Lebensverlauf kommen somitzwei gänzlich entgegengesetzte Lebensformenentgegen: Einerseits die „neuen“ individualisiertenLebensformen, andererseits aber auch sehr „tradi-tionale“ Familienformen mit einer ausgeprägtenArbeitsteilung zwischen Vätern und Müttern, El-tern und Kindern.

Die Auflösung des modernisierungstheoretischenParadoxons besteht also darin, dass die hohe Mo-bilitätsbereitschaft traditionaler Familienverbändesich darauf gründet, dass sie auf der Basis von alsdauerhaft, verlässlich und langfristig nützlich be-trachteten Familienbeziehungen das Migrations-projekt als gemeinsame Unternehmung ansehen.Solange die familiären Beziehungen „fraglos“ alsbeständig angesehen werden, ist es z. B. weit ehermöglich, in den beruflichen Erfolg des einen durchräumliche Mobilität zu investieren, denn es redu-zieren sich die Risiken des mitziehenden Ehepart-ners. Ebenso reduzieren sich die Risiken, in ge-meinsame Familienunternehmungen so z. B. durchmithelfende Familienangehörige zu investieren.Insofern ist es alles andere als zufällig, dass dieurbanen Ballungszentren, die den „systematischenTrend fortschreitender Modernisierung“ tragen(Beck), zugleich diejenigen mit hoher ethnischerDifferenzierung sind, und in denen „ethnic busi-ness“ vergleichsweise erfolgreich operiert: DieAusbreitung von „neuen“ Lebensformen und dieImmigration von traditionalen Familienstrukturensind beide das Ergebnis desselben Prozesses fort-schreitender Modernisierung.

Entsprechend lassen sich Entwicklungsprozessemoderner Gesellschaften nicht als ausschließlichendogene Wandlungen einer stationären Bevölke-rung begreifen, vielmehr zwingen die Migrations-prozesse großen Umfangs als charakteristischesMoment moderner Gesellschaften dazu, die Wech-selwirkungen zwischen exogenen Beeinflussungenund Differenzierungsprozessen zu berücksichtigen.Dieser Zusammenhang ist hier insbesondere imHinblick auf die Interdependenz zwischen ge-samtgesellschaftlichen Entwicklungen privater(insbesondere individualisierter) Lebensführung zuthematisieren: Sind Bevölkerungsimporte – darumhandelt es sich ja bei Zuwanderungen – eine we-sentliche Komponente der strukturellen Moderni-sierung von Gesellschaften?

Eine unstrittige Konsequenz zunehmender Indivi-dualisierung der Lebensverläufe ist die Reduktionder Geburten unter ein Niveau, das zur Reproduk-tion einer Gesellschaft ausreicht. Dieser Zusam-menhang ist sowohl auf der individuellen Ebeneder Unterschiede nach Bildung und Stellung imBeschäftigungssystem als auch auf der Ebene re-gionaler und internationaler Unterschiede nach-weisbar und wird durch regionale Migrationspro-zesse weiter verstärkt. In Deutschland liegt z. B.die Netto-Reproduktionsziffer zwischen 1991 und1996 bei unter 0.64, d. h. in jeder Generation feh-len mehr als ein Drittel Geburten für einen kon-stanten Bevölkerungsstand ohne Bevölkerungsim-porte (Grünheid/Mammey 1997). Reproduktions-raten sind dabei – dem Individualisierungstrendentsprechend – umso geringer, je größer die Ge-

Modernisie-rung begüns-tigt traditio-nelle wie neueLebensformen

Modernisie-rungsparadox:Bevölkerungs-

gruppen mithoher Kollek-

tivorientie-rung beson-

ders mobil

Lebensformenzugewander-ter Bevölke-

rung quantita-tiv bedeutsa-mer als sog.

„neue Lebens-formen“

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 25 – Drucksache 14/4357

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meinde bzw. je dichter die Region besiedelt ist.Solch niedrige Reproduktionsziffern haben nach-haltige Auswirkungen auf den Bevölkerungs-aufbau und auf das Verhältnis zwischen einheimi-scher und zugewanderter Bevölkerung:

1. Reproduktionsraten unter 1.00 führen dazu,dass für die autochthone Bevölkerung im in-tergenerativen Prozess ein Überangebot anhochbewerteten Positionen im Vergleich zunachwachsenden Bewerbern aus dieser Be-völkerung besteht, was eine Sogwirkung inRichtung dieser hochbewerteten Positionenauslöst. Diese Sogwirkung ist um so größer, jeniedriger die Reproduktionsrate ist. Dies er-möglicht für die nachwachsende Generationder autochthonen Bevölkerung einen kollekti-ven Aufstieg, ohne dass hierfür ein ökonomi-sches Wachstum oder ein Verdrängungswett-bewerb notwendig wäre.

2. Niedrige Reproduktionsraten führen weiterhindazu, dass im intergenerativen Transfer öko-nomische, soziale und kulturelle Ressourcenzusammengelegt werden. Ökonomisch ge-schieht dies durch die Vererbung von immermehr Gütern auf immer weniger Erben. DieBildungsexpansion mit ihrer gesteigerten Ver-gabe von Bildungszertifikaten an Mitglieder derautochthonen Gesellschaft stabilisiert diesenProzess auf der kulturellen Ebene – solangediese Zertifikate die Konkurrenz aus den Her-kunftsgesellschaften möglicher Zuwanderernicht fürchten müssen. Sozial hat dieser Prozesseine Verdichtung von Netzwerken und Kumu-lierung von Optionen zur Folge. Im Ergebnis istsozialer Aufstieg intergenerativ von einer Ge-neration zur nächsten wahrscheinlich, jedenfallsaber Statuserhalt (ziemlich) sicher.

3. Das permanente Freiwerden von Positionen amunteren Ende der Statushierarchie steigert dieNachfrage nach einem Bevölkerungsimportauch unter der Bedingung einer stagnierendenÖkonomie (allerdings nicht in rezessiven Pha-sen). Diese Nachfrage wird am günstigstendurch einen Bevölkerungsimport befriedigt, derdie Merkmale des klassischen Typs des Ar-beitsmigranten trägt, der – wie die empirischenBefunde der Migrationsforschung belegen – diedefizitären Bereiche dauerhaft, flexibel undhochmotiviert ausfüllt (Esser 1988, 245). DieFolge ist eine Unterschichtung durch Zuwande-rer, die zugleich eine demographische und einesozial-strukturelle Lücke schließen (Hoffmann-Nowotny 1973).

4. Die Bevölkerungsimplosion im Zentrum desModernisierungsprozesses und die damit ver-

knüpfte Verdichtung der Ressourcen führt zueinem sich selbst stabilisierenden System so-zialer Ungleichheit zwischen Einheimischenund Zuwanderern. Diese Stabilisierung wirdallein schon durch die Stärke des Bevölke-rungsprozesses und den damit verbundenenFahrstuhleffekt bewirkt: Durch den Rückgangvon Geburten in der autochthonen Bevölkerungwerden immer wieder hochbewertete Positio-nen frei, sodass es zu immer neuen Möglich-keiten der Aufwärtsmobilität kommt. DieseMobilitätsmöglichkeiten werden zuallererstwiederum von der autochthonen Bevölkerungwahrgenommen, schaffen aber dadurch immerneue Zuwanderungs- und Unterschichtungsge-legenheiten. Ein solches sich selbst stabilisie-rendes System sozialer Ungleichheit kommtauch dann zu Stande, wenn auf aktive Diskri-minierung der Zuwanderer oder explizite Pri-vilegierung der Einheimischen vollständig ver-zichtet wird – was solche jedoch nicht aus-schließen muss.

5. Kulturell wird dieser Prozess gestützt durch dieauch bei fortschreitender Individualisierungsich vollziehenden Vergemeinschaftungspro-zesse, mit denen sich die Frage verbindet, wel-che selbstgewählten sozialen Beziehungen ein-gegangen werden. Einerseits wird durch denGlobalisierungsprozess die Offenheit für flüch-tige bzw. für einen ganz speziellen Zweck ge-stiftete Kontakte verschiedenster Art zuneh-men. Dafür wird mit einer zunehmenden Indi-vidualisierung biographischer Entscheidungeneine gesteigerte Homogamie in den „starken“privaten Beziehungen immer wahrscheinlicher,d. h. es werden in den „wichtigen“ Entschei-dungen des Lebens vermehrt solche Bezugsper-sonen gewählt, die ähnliche soziale Merkmaleaufweisen: Private Partnerschaften werden aus-nahmslos als „Wahlverwandtschaften“ verstan-den, die die Übereinstimmung in kulturellenWerten, kognitiven und ästhetischen Urteilenvoraussetzen. So ist z. B. auch das in der deut-schen Gesellschaft universal durchgesetztenormative Leitbild des auf romantischer Liebebasierenden Eheideals stark selbstselektiv, d. h.es begünstigt sozial-kulturelle Homogamie. Dasolche Selektionsprozesse vornehmlich überkulturelle Ähnlichkeit gesteuert werden, führtder Individualisierungsprozess zur kulturellenAbschließung von Verkehrskreisen und mithinzu einer Abnahme von Statusinkonsistenzen aufdem Heiratsmarkt. Die Individualisierung bio-graphischer Entscheidungen begünstigt somit inden zentralen Entscheidungen der privaten Le-bensführung eine Stratifikation entlang eth-nisch-kultureller Linien. Dies trifft insbesonde-re dann zu, wenn individuelles Glücksstrebenweniger über beruflichen Erfolg und soziale

Soziale Un-gleichheitzwischenEinheimischenund Zuwan-derern

Drucksache 14/4357 – 26 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Partizipation, sondern eher über die Qualitätund Intensität privater Beziehungen zu realisie-ren versucht wird – provokant formuliert: ImTypus reiner Arbeitsgesellschaften sind ethni-sche Konflikte in geringerem Ausmaß zu er-warten als in der individualisierten Postmoder-ne.

6. In dem Maße, wie der Bevölkerungsrückganganhält, werden permanent neue Opportunitätenfür Nachwanderungen geschaffen. Dies eröffnetspäter Nachgewanderten die Chance, am Fahr-stuhleffekt zu partizipieren und Mobilitätschan-cen wahrzunehmen. Auf diese Weise stabili-siert sich das System auch in der Weise, dass esallen Gesellschaftsmitgliedern positive Mobili-tätserwartungen eröffnet und dabei den existie-renden unterschiedlichen AnspruchsniveausRechnung trägt. Dieser Effekt beschleunigt sichin dem Maße, wie die Minoritäten sich in ihremgenerativen Verhalten an das negative Repro-duktionssaldo angleichen. Von der Größe die-ses Effektes hängt somit auch ab, inwieweitinsbesondere ethnische Stratifikation (aber auchsoziale Ungleichheit zwischen autochthonerBevölkerung und Zuwanderern) nicht zum Ka-talysator sozialer Konflikte oder individuellerAnomie werden. Tatsächlich erfasst der Rück-gang der Geburtenentwicklung in Deutschlandnicht nur die einheimische Bevölkerung, son-dern zugewanderte Bevölkerungsteile in glei-cher Weise (vgl. Kapitel III): Binnen 10 Jahrensind zwischen 1975 (dem Beginn der systema-tischen Beobachtung dieses Prozesses) und1985 die Geburtenziffern bei den Frauen derArbeitsmigranten-Anwerbenationen um einDrittel bis über 50 % zurückgegangen; Frauenaus mehreren Zuwandernationalitäten unter-bieten sogar die Nettoreproduktionsziffernwestdeutscher Frauen (Höhn und Schulz 1987).Migrantinnen bilden somit keine Ausnahmevom generellen Rückgang der Fertilität in Eu-ropa (Höpflinger 1987), sie scheinen vielmehrsogar den generellen Trend an Intensität nochzu übertreffen: Der Wandel im generativenVerhalten in der Nachmigrationssituation ent-spricht in seiner Intensität dem Wandel im ge-nerativen Verhalten in Ostdeutschland nach derpolitischen Vereinigung.

7. Unter dem Gesichtspunkt der funktionalenDifferenzierung sind Bevölkerungsimporte eineAuslagerung von Reproduktionsaufgaben. Diesbetrifft nicht allein die Geburten, sondern um-fasst die Gesamtheit der Reproduktionsaufga-ben z. B. auch in der Primär- und Sekundärso-zialisation sowie der Altenpflege. Insbesonderein Pioniermigrations-Situationen handelt es sichnämlich um überdurchschnittlich häufig männ-liche, junge und unverheiratete Personen in

vergleichsweise gutem Gesundheitszustand, fürdie die reproduktiven Leistungen der Primär-und Sekundärsozialisation in den Herkunftsge-sellschaften bereits in hohem Umfang erbrachtworden sind. Rückwanderer in die Herkunfts-regionen sind dagegen überdurchschnittlichhäufig ältere Personen am Ende ihrer Er-werbskarriere oder in der Ablösungsphase ihrerKinder, wenn dann auch wachsende Krank-heits- und Pflegekosten absehbar sind. Entspre-chend gilt für Aufnahmegesellschaften, dass dieBilanz zwischen produktiven Leistungen undreproduktiven Kosten bei den Zuwanderernvergleichsweise günstig ausfällt, wohingegendie Herkunftsgesellschaften (oder: Regionen)überdurchschnittliche Reproduktionsleistungenzu erbringen haben.

8. Globalisierung beinhaltet damit auch einefunktionale Differenzierung zwischen den Zent-ren und der Peripherie in Bezug auf die Bevöl-kerungsreproduktion; während in den Zentreneine zunehmende Spezialisierung auf produkti-ve Aufgaben erfolgt, fallen die reproduktivenAufgaben mehr und mehr der Peripherie zu.Diese regionale Ausdifferenzierung von Repro-duktionsaufgaben lässt sich auf einem Kontinu-um regionaler und internationaler Wanderun-gen abbilden, d. h. Wanderungssalden (Bevöl-kerungsimporte) indizieren immer auch eineregionale oder internationale Arbeitsteilung inden Reproduktionsaufgaben. Da dies die So-zialisation von Kindern genauso wie die Pflegeälterer Menschen betrifft, wird durch die un-gleiche Belastung der sozialen Räume mit denReproduktionsaufgaben die Modernisierungs-differenz und die soziale Ungleichheit weiterverstärkt. Hierbei handelt es sich um eine Ent-wicklung, die sowohl regional als auch interna-tional von außerordentlich großer Tragweite istund eine große Herausforderung für Struktur-politik darstellt.

9. In dem Maße, in dem Reproduktionsaufgabeneiner Gesellschaft durch Bevölkerungsimportegelöst werden, verlieren Kinder dann auch ih-ren kollektiven ökonomischen Nutzen für dieGesellschaft. Waren Kinder in vorindustriellenGesellschaften ein Gut individuellen ökonomi-schen Nutzens und Partner in einem direktenGenerationenvertrag mit ihren Eltern, in demVersorgungsleistungen der Kinderpflege gegensolche der späteren Altenpflege getauscht wur-den, so waren Kinder in Industriegesellschaftenals ökonomisches Gut kollektiviert geworden(während ihre ökonomischen Kosten weithinindividualisiert bleiben): Generationen sind nurmehr kollektiv füreinander verantwortlich, wasdie individuelle Einklagbarkeit von Rechtenund Pflichten zwischen Generationen drastisch

RegionaleAusdifferen-zierung vonReprodukti-onsaufgabenbedeutetVerstärkungder sozialenUngleichheit

Positive Mo-bilitätserwar-

tungen auchfür Minoritä-

ten durchGeburten-rückgang

In modernenGesellschaftenElternrolleeine lebens-lange, unauf-kündbareVerpflichtung

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 27 – Drucksache 14/4357

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vermindert und diese ausschließlich zum Ge-genstand politischer Interessenvertretungmacht. Der Wert von Kindern bestimmt sichdamit ausschließlich durch ihre sozial-emo-tionale Bedeutung für ihre Eltern (Nauck 1995;Nauck/Kohlmann 1999).

Diese Bedeutungsveränderung der Eltern-Kind-Beziehung hat dazu geführt, dass die Elternrollezur einzigen lebenslang unaufkündbaren Ver-pflichtung in modernen Gesellschaften gewor-den ist. Diese individuell akzeptierten hohennormativen Erwartungen an die Elternrolle sindeine wesentliche Ursache für eine Polarisierungder Entscheidung zugunsten bewusster Eltern-schaft (wahrscheinlich insbesondere für Frauendie konsequenzenreichste Lebensentscheidungüberhaupt) und (zunehmend ebenso bewusster)Kinderlosigkeit. Individualisierung bedeutetsomit auch, dass Alternativen zur Elternschaftwegen der akzeptiert hohen Konsequenzen vonElternschaft an Bedeutung gewinnen. Die Opti-on des „free riding“ gegenüber dem Kollektiv-gut „Kinder“ gewinnt schon wegen der lebens-langen Unaufkündbarkeit der individuellen El-tern-Kind-Beziehung gesteigerte Attraktivität.Bevölkerungsimporte lösen das „free rider“-Problem, indem sie die individuelle Eltern-Kind-Beziehung vollends von der Reprodukti-on der Gesellschaft entkoppeln. Auch hier sinddie Parallelen zum Outsourcing globalisiertenWirtschaftens überdeutlich: Was sich gegen-wärtig als sozialer Ausdifferenzierungsprozessvon Reproduktionsaufgaben aus dem Zentrumin die Peripherie der Moderne vollzieht, ist ausder Sicht dieser Moderne als „lean (re-) pro-duction“ zu bezeichnen. Ob dieses Bild der ge-sellschaftlichen Entwicklung in der Zukunft sobleiben wird, ist offen.

10. Durch die Ausdifferenzierung der Reprodukti-onsaufgaben im Modernisierungsprozess – seies durch regional differenzielle Reproduktion,sei es durch selektive Migration – verändernsich schließlich auch die Sozialisationsbedin-gungen von Kindern systematisch: Durch dieArbeitsteilung zwischen Zentrum und Periphe-rie in den produktiven und reproduktiven Auf-gaben werden für einen zunehmenden Teil derKinder in modernen Gesellschaften die Soziali-sationsbedingungen systematisch „unmoder-ner“ als die Lebensbedingungen der Gesamtheitder Erwachsenen.

Für einen zunehmenden Anteil der nachwachsendenBevölkerung wird damit „nachholende“ Modernisie-rung durch regionale oder internationale Wanderungund durch sich anschließende Eingliederungs- undAkkulturationsprozesse eine erwartbare Entwick-lungsaufgabe.

Migration erweist sich damit als ein Mechanis-mus moderner Wohlfahrtsgesellschaften, der inengem Zusammenhang mit der Ausdifferenzie-rung von Lebensformen der einheimischen Be-völkerung steht und – unter den allermeistenBedingungen – erheblich zur Stabilisierung (undnicht etwa zur Anomisierung) dieser Gesell-schaft beiträgt. Nicht zuletzt auf den Umstand,dass der Fahrstuhleffekt des Bevölkerungspro-zesses allen Beteiligten im Verteilungskampf umökonomische und soziale Ressourcen in derRegel eine positive Bilanz ermöglicht, ist eszurückzuführen, dass für die Zugewanderten dieAnreize für Assimilation oder Integration großund die Wahrscheinlichkeit von Segregation undMarginalisierung im Nachkriegsdeutschland ge-ring gewesen und trotz des großen Umfangs derZuwanderung dauerhafte soziale Konflikte aus-geblieben sind.

Migration alsStabilisatormodernerWohlfahrtsge-sellschaften

Drucksache 14/4357 – 28 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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III. Zuwanderung und Eingliederung in Deutschland seit demZweiten Weltkrieg

III.1 Vom Auswanderungsland zum Ein-wanderungsland: Deutschland imEinwanderungskontinent Europa

Seit dem späten 19. Jahrhundert haben sich imlangfristigen Wandel vom Auswanderungslandzum Einwanderungsland für Deutschland dietransnationalen Bewegungen und die damit ver-bundenen Probleme geradewegs umgekehrt. DieErfahrung des Wandels von Auswanderungslän-dern zu Einwanderungsländern ist heute fast alleneuropäischen Staaten gemeinsam, abgesehen vonNordirland, das kein Einwanderungsland wurde,und von Frankreich, das schon lange Einwande-rungsland war und Massenauswanderungen im19. Jahrhundert nicht kannte (Allg. hierzu: Bade2000a). Bis weit in die 1960er-Jahre hinein lag dieZahl der europäischen Übersee-Auswanderungennoch deutlich höher als diejenige der Zuwanderun-gen aus außereuropäischen Regionen. Europa ver-lor dadurch 1950 - 1959 netto 2,7 Mio. Einwohner.1960 - 1969 wurde die europäische Migrationsbi-lanz erst knapp positiv (+250.000). Die Wendezum Einwanderungskontinent kam in den 1970er-Jahren: Seit 1970 gab es auf gesamteuropäischerEbene durchweg erhebliche Zuwanderungsgewin-ne: 1970-79 waren es 1,9 Mio., 1980 - 1989 dann1,6 Mio. und 1990 - 1995 schließlich 2,1 Mio.Wanderungsgewinne und -verluste traten indesweniger auf europäischer als auf nationalstaatlicherEbene hervor; denn das Volumen der innereuropäi-schen transnationalen Migration übertraf, vor allemzur Zeit der organisierten Arbeitskräfteanwerbun-gen, bei weitem das der interkontinentalen Migra-tion. Deren Folgen blieben für Europa, allen euro-päischen Bedrohungsvisionen zum Trotz, bis zumJahrhundertende sehr beschränkt: Die gewaltigstenWanderungsbewegungen der Weltgeschichte in derzweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verliefen inaußereuropäischen Bahnen, besonders in der sog.„Dritten Welt“ und tangierten Europa nur zu ca.5 % (Nuscheler 1995; Faßmann/Münz 1996, 29f.;Münz 1997, 224).

In der Geschichte der Zuwanderungen nach Europadominierten nach dem Abschluss der unmittelbarkriegsbedingten Massenwanderungen („DisplacedPersons“ vorwiegend aus Deutschland, Vertriebeneund Flüchtlinge vorwiegend nach Deutschland)zunächst koloniale und postkoloniale Zuwanderun-gen, von denen Deutschland nicht betroffen war.Daneben traten von der Mitte der 1950er-Jahre bisin die frühen 1970er-Jahre innereuropäische, aber

auch interkontinentale Arbeitswanderungen hervor,die Europa zunächst intern in eine nördliche Zu-wanderungs- und in eine südliche Abwanderungs-region teilten. Von diesen Arbeitskräftewanderun-gen war Deutschland in absoluten – nicht in relati-ven – Zahlen unter den europäischen Aufnahme-ländern am stärksten betroffen: Im Blick auf dieGröße der Ausländerbevölkerungen in den einzel-nen europäischen Staaten stand im Spiegel absolu-ter Zahlen 1982 an erster Stelle die BundesrepublikDeutschland mit rund 4,7 Mio. Ausländern, gefolgtvon Frankreich mit ca. 3,7 Mio. Mit weitem Ab-stand folgten Großbritannien mit ca. 2,1 Mio. so-wie die Schweiz mit ca. 926.000, Belgien mit ca.886.000 und die Niederlande mit ca. 547.000 Aus-ländern. Misst man die gleichen Daten an der je-weiligen Gesamtbevölkerung, dann ergibt sich eineganz andere Rangfolge: Mit weitem Abstand an derSpitze stand 1982 – nach dem Sonderfall Liechten-stein (34,1 %) – Luxemburg mit seiner auch vieleBeschäftigte internationaler Organisationen undsupranationaler Institutionen umschließenden Aus-länderbevölkerung (26,3 %), gefolgt von derSchweiz (14,4 %) und Belgien (9,0 %). Erst dannfolgten die Bundesrepublik Deutschland (7,6 %),Frankreich (6,7 %), Großbritannien und die Nie-derlande (jeweils 3,8 %). Das Bild wird überdiesdurch ganz unterschiedliche Einbürgerungsregle-ments in den einzelnen europäischen Ländern be-einträchtigt: In Frankreich und Großbritannienverschwanden die meisten dauerhaft Zugewander-ten durch Einbürgerung bald aus der Ausländersta-tistik, sodass die Zahl der eingebürgerten Einwan-derer hier deutlich höher war als die der Ausländer.Das Gegenteil galt bis zur ab 1. Januar 2000 gülti-gen Reform des Staatsangehörigkeitsrechts in derBundesrepublik Deutschland, die „kein Einwande-rungsland“ sein oder werden wollte und wo Zu-wanderer auch bei Daueraufenthalt zumeist Aus-länder blieben. Deshalb verwiesen die oft dramati-sierten und skandalisierten Ausländerzahlen in derBundesrepublik Deutschland im Kern auf einhausgemachtes Problem (Santel 1995, 64).

Seit den späten 1970er-Jahren traten im NordenEuropas Zuwanderungen von Flüchtlingen undAsylsuchenden in den Vordergrund der öffentli-chen Diskussion. Deutschland war auch hier –ebenfalls nur in absoluten, nicht aber in relativenZahlen – am stärksten betroffen. Im Süden Europasdominierten statt dessen reguläre Süd-Nord-Zuwanderungen zu irregulärer Beschäftigung, diedie ehemaligen Ausgangsräume der innereuropäi-

Differenzie-rung Europasin eine nördli-che Zuwande-rungs- undsüdlicheAbwande-rungsregion

Asylsuchendeund Flüchtlin-ge gewinnenim NordenEuropas anBedeutung

Ab 1970:Wandlung

Europas vomAuswande-rungs- zumEinwande-

rungskonti-nent

Einbürge-rungserleich-terung inLändern wieEngland undFrankreich

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 29 – Drucksache 14/4357

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schen Arbeitswanderungen in Zuwanderungsräumezu verwandeln begannen. Hinzu kamen inDeutschland Zuwanderungen von Minderheitenaus Osteuropa, von denen Deutschland in Gestaltder Zuwanderung von Aussiedlern bzw. Spätaus-siedlern (seit 1993) in Europa mit weitem Abstandam stärksten betroffen war. Eine vergleichsweisekleine und erst in den 1990er-Jahren stärker zu-nehmende Gruppe bildeten in Deutschland Judenaus der UdSSR/GUS.

In der Konfrontation mit der seit Mitte der 1970er-Jahre steigenden Zuwanderung von asylsuchendenFlüchtlingen aus der Dritten Welt verwandelte sichin Europa die national unterschiedlich ausgeprägteAufnahmebereitschaft schrittweise in einen inter-nationalen Konsens der Abwehr gegen Arbeits-,Flucht- und Asylwanderungen sowie insbesonderegegen illegale Zuwanderungen und, sehr ambiva-lent, auch gegen irreguläre Beschäftigungsverhält-nisse. Die mit dem Ende des Kalten Krieges eben-falls stark wachsenden Ost-West-Wanderungenbeschleunigten den Weg zu jener migrations- undsicherheitspolitischen Verteidigungsgemeinschaftgegen Zuwanderungen von außen, die unter demNamen „Festung Europa“ in die Geschichte ein-ging.

Zwischen den verschiedenen Zuwanderergruppenund Zuwanderungsformen gab es Überschneidun-gen und fließende Grenzen: Über koloniale undpostkoloniale Brücken kamen auch Arbeitskräfte,Flüchtlinge und Asylsuchende nach Europa. Ausangeworbenen Arbeitswanderern wurden, de factooder de jure, vielfach Einwanderer mit anhalten-dem Familiennachzug. Nach dem Ende der An-werbungen Mitte der 1970er-Jahre nahmen fortlau-fende Kettenwanderungen auf den Pfaden der Ar-beitswanderer zuweilen auch die Gestalt vonFlucht- und Asylwanderungen an, weil sich dieLage in den Herkunftsländern dramatisch veränderthatte, aber auch, weil es kaum mehr andere Zugän-ge nach Europa gab. Die Gruppe der Flüchtlingeund Asylsuchenden selbst umschloss nicht nurindividuell politisch Verfolgte im immer engerwerdenden Sinne europäischer Asylrechtsdefinitio-nen, sondern auch Kriegs- und Bürgerkriegsflücht-linge sowie Zuwanderer aus ökonomischen undökologischen Krisenzonen (Nuscheler 1995; Opitz1997b, 1994; Wöhlcke 1992). Auch bei den seitdem Ende des Kalten Krieges stark angestiegenenZuwanderungen von lange unterdrückten oder aufsNeue bedrängten Minderheiten aus dem ehemali-gen „Ostblock“ überschnitten sich Motivationenund Identitäten im individuellen Selbstverständnis,besonders bei der Zuwanderung von binationalenFamilien. In allen genannten Bereichen gab esirreguläre bzw. illegale Zuwanderungen und Auf-enthalte, deren nur schätzbare Zahl mit der zuneh-

menden Abschließung Europas gegen Zuwande-rungen deutlich stieg.

Überschneidungen von Migrationsformen, Wande-rungsmotiven und Migrantenidentitäten sind keineBelege für die Plausibilität allfälliger Zweifel ander „richtigen“ Identität von „echten“ Flüchtlingen,Arbeitswanderern oder Einwanderern. Sie enthül-len nur die Vordergründigkeit geläufiger Vorstel-lungen über die sichere Unterscheidbarkeit vonMigrantenidentitäten, von statistischen und erhe-bungstechnischen Problemen einmal ganz abgese-hen. Zu den unbeabsichtigten Folgen gesetzlichverankerter Migrationspolitik und der damit ver-bundenen Einordnungs- und Anpassungszwängezählt überdies die Schaffung zwar gesetzeskonfor-mer, aber oft lebensfremder Zuschreibungen vonMigrantenidentitäten. Im transnationalen Wande-rungsgeschehen tragen die aus der Geschichtebekannten Migrationsnetzwerke und Herkunftsge-meinschaften (Heckmann 1992, 66-161) dazu bei,solche für das Leben von Ausländern innerhalb vonnationalen Grenzen oft unabdingbaren Zuordnun-gen und Selbstzuschreibungen mit ihren rechtli-chen und sozialen Begrenzungen im Alltag bewäl-tigen zu können. All dies muss bei dem folgendenÜberblick über die hier zusammengefassten Groß-gruppen bedacht werden, deren kleinste gemein-same Nenner nicht persönliche Identitäten, sondernrechtliche Statusmerkmale sind.

Ambivalenzen von Erfahrung und Belastung in derBegegnung von Einheimischen und Fremden be-stimmten in den beiden deutschen Staaten nachdem Zweiten Weltkrieg den in vieler Hinsichtgegensätzlichen Umgang mit Zuwanderung undEingliederung, Ausgliederung und Abwanderung.Das spiegelt sich z. T. heute noch in unterschiedli-chen Haltungen gegenüber zugewanderten Min-derheiten in alten und neuen Bundesländern: Dererste große Eingliederungsprozess nach demZweiten Weltkrieg war bestimmt durch die Inte-gration von Flüchtlingen und Vertriebenen aus demfrüheren deutschen Osten und aus dem osteuropäi-schen Raum. Fast zwei Millionen Menschen verlo-ren ihr Leben auf der Flucht oder auf den Trans-porten. 1950 wurden etwa 13 Millionen Flüchtlin-ge und Vertriebene in den im Vorjahr gegründetenbeiden deutschen Staaten gezählt. Im Westen wur-den sie appellativ „Heimatvertriebene“, im Ostenmit Rücksicht auf die östlichen Nachbarn euphemi-stisch „Umsiedler“ genannt. Was im Westen jahr-zehntelang von einflussreichen Vertriebenenorga-nisationen öffentlich als „Recht auf Heimat“ einge-fordert und demonstrativ offen gehalten wurde,blieb in der Deutschen Demokratischen Republik(DDR) nicht minder demonstrativ tabuisiert: DieEingliederung der „Umsiedler“ wurde in SBZ undDDR nach einem straffen Integrationskonzept der

Bundesrepu-blikanische„Heimatver-triebene“ imWesten, „Um-siedler“ imOsten

Herausbil-dung

„FestungEuropa“ abMitte 1970

RechtlicheStatusmerk-male stattpersönlicherIdentitäten

Nach 2. Welt-krieg Integra-tion vonFlüchtlingenund Vertrie-benen aus demOsten

Drucksache 14/4357 – 30 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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SED durchgesetzt und Anfang der 1950er-Jahreamtlich für abgeschlossen erklärt. Jede weitere,insbesondere öffentliche Diskussion der „Umsied-lerproblematik“ konnte danach rasch in den Ver-dacht „republikfeindlicher“ Intentionen geraten.Ähnliches galt für die öffentliche Beschäftigungmit den traumatischen Erfahrungen von Flucht undVertreibung.

Jenseits der Integration der Flüchtlinge und Vertrie-benen („Umsiedler“) dominierten in der DDR biszum Bau der Mauer 1961, in abnehmendem Umfangauch danach, nicht Zuwanderung und Eingliede-rung, sondern Abwanderung und Ausgliederungdurch Flucht und, in der Agonie des Systems zuletztzunehmend, legale „Übersiedlung“ in den Westen.Sie galt im Westen zur Zeit des Kalten Kriegeswegen des Bekenntnischarakters der „Flucht ausdem kommunistischen Machtbereich“ als eine ArtAbstimmung mit den Füßen zwischen den konkur-rierenden Systemen. Sie wurde deshalb politischgern akzeptiert, als Bewegung „echter“, nämlich„politisch“ verfolgter, bedrohter oder resistenterFlüchtlinge verstanden und zugleich verschämt alsArbeitskräftezufluss begrüßt. In der DDR hingegenwurde sie vorwiegend als Abfluss von Arbeitskraftregistriert, politisch als Verrat an der sozialistischenZukunft betrachtet, rechtlich als „Republikflucht“geahndet und in der öffentlichen Diskussion imÜbrigen nach Möglichkeit ebenso totgeschwiegenwie seit Anfang der 1950er-Jahre die „Umsiedler-problematik“. Viele mit Zuwanderung und Einglie-derung, mit Ausgliederung und Abwanderung zu-sammenhängende Fragen fielen in der DDR mithinöffentlicher Verdrängung anheim. Damit zusam-menhängende allgemeine Probleme und individuelleErfahrungen konnten nicht politisch artikuliert oder

gar in öffentlicher Auseinandersetzung ausgelebtwerden (Bade 1994b).

In den langen Entwicklungslinien der Wande-rungsgeschichte Deutschlands (Bade 1984a,1994d) markierte die Geschichte der Bundesrepu-blik Deutschland bis zum Vereinigungsprozess denendgültigen Umbruch im säkularen Wandel vomAuswanderungs- zum Einwanderungsland – imstatistischen, zunehmend auch im gesellschaftli-chen, noch nicht aber im rechtlichen Sinne (Renner1998, 1-37). Die wichtigsten Gruppen waren Ar-beitsmigranten und deren Familien, Aussiedlerfa-milien sowie Flüchtlinge und Asylsuchende zu-nächst aus Osteuropa, in den 1980er-Jahren dannvorwiegend aus der „Dritten Welt“. Die Wande-rungsgeschichte im vereinigten Deutschland derfrühen 1990er-Jahre war neben den hohen und alsBinnenwanderungen hier nicht zu behandelndenOst-West-Wanderungen der „Übersiedler“ geprägtvon einer starken Zunahme der Zuwanderungenvon Aussiedlern sowie von Flüchtlingen und Asyl-suchenden, insbesondere von Kriegs- und Bürger-kriegsflüchtlingen und Vertriebenen aus Ex-Jugoslawien. Die späten 1990er-Jahre waren imWanderungsgeschehen bestimmt von einem Rück-gang der Zuwanderung von Aussiedlern und Asyl-suchenden bei noch hoch liegenden Zahlen vonKriegs- bzw. Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem ex-jugoslawischen Raum. In der rechtlichen und poli-tischen Beschäftigung mit Zuwanderungsfragenwaren sie bestimmt durch die schrittweise Akzep-tanz der Einwanderungssituation im Staatsangehö-rigkeitsrecht, mit der die einseitige Orientierungam Vererbungsprinzip (jus sanguinis) durch dieImplementierung von Elementen des Territorial-prinzips (jus soli) ihr Ende fand.

„Republik-flucht“ aus

der DDR

Bundesrepu-blik Deutsch-land: Wandelzum fakti-schen Ein-wanderungs-land

VereinigtesDeutschland:Zunahme derZuwanderungvon Aussied-lern undFlüchtlingenund Asylsu-chenden

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31 – Drucksache 14/4357

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Deutsches Reich 19101,260 Millionen

Italien

Österreich

Schweiz

Sonstige

Russland

Niederlande

Deutsches Reich 1925957 000

Polen

Sonstige

Russland

Tschecho-slowakei

Österreich

Niederlande

Früheres Bundesgebiet 1961686 200

Spanien

Sonstige

Italien

Griechen-land

Asien

Österreich

AmerikaAfrika

Osteuro-päische Staaten

Türkei Niederlande

Deutschland 19977,366 Millionen

Italien

BR Jugoslawien

Polen

Türkei

AfrikaAmerika

Asien

Bosnien und Herzegowina

GriechenlandÖsterreich

Sonstige

Abbildung III.1: Ausländische Bevölkerung in Deutschland nach der Staatsangehörigkeit

Quelle: Statistisches Bundesamt; Statistische Jahrbücher 1970-97

Drucksache 14/4357 – 32 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Abbildung III.2: Zu- und Fortzüge von Ausländern über die Grenzen derBundesrepublik Deutschland sowie Wanderungssaldo, 1955 - 1996

Abbildung III.3: Anzahl der ausländischen Bevölkerung sowie ihr Anteil an derWohnbevölkerung 1951 bis 1997

-400000

-200000

0

200000

400000

600000

800000

1000000

1200000

1400000

Wanderungssaldo Zuzüge Fortzüge

Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 1, Reihe 1, 1970-97

0

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3000

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5000

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7000

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0,0

1,0

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4,0

5,0

6,0

7,0

8,0

9,0

10,0

Anzahl in Tausend Anteil

c

Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 1, Reihe 2, 1970-98

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33 – Drucksache 14/4357

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III.2 Arbeitswanderungen – Auslän-

derbeschäftigung – Einwande-rungssituation

III.2.1 Von der Arbeitswanderung zur

Einwanderung: die Bundesre- publik Deutschland bis zum Ver-einigungsprozess

Viele Flüchtlinge und Vertriebene waren in ihrer neuen Heimat im Westen noch fremd, als dort, nur 10 Jahre nach der Befreiung des Millionenheeres ausländischer „Fremdarbeiter“ (Herbert 1985) aus ihrer Versklavung in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft, der deutsch-italienische Vertrag von 1955 schon den Auftakt gab zur amtlich orga-nisierten Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte. Damit begann in Westdeutschland die Vorge-schichte des zweiten großen Eingliederungsprozes-ses. III.2.1.1 Zuwanderungen – Rückwande-

rungen – Einwanderungsprozess Auf die Anwerbevereinbarung mit Italien 1955 folgten entsprechende Verträge mit Spanien und Griechenland (1960), mit der Türkei (1961), Portu-gal (1964) und Jugoslawien (1968), daneben auch, mit vergleichsweise unbedeutenden Ergebnissen, mit Marokko (1963/66) und Tunesien (1965). In der Zusammensetzung der Ausländerbevölkerung nach Nationalitäten ergaben sich, annähernd der Vertragsfolge entsprechend, 1955 - 73 erhebliche Verschiebungen: Italiener, Spanier und Griechen waren bis in die späten 1960er Jahre am stärksten vertreten. Dann sanken ihre Anteile, während die-jenigen der Jugoslawen und Türken stetig zunah-men. Der Anteil der Türken verdoppelte sich allein 1968 - 73 von 10,7 % auf rd. 23 %; das gleiche galt für den Zuwachs der Jugoslawen von 8,8 % (1968) auf 17,7 % (1973). Seit 1971 ist die aus Zuwande-rungen aus der Türkei hervorgegangene Bevölke-rung die größte Gruppe innerhalb derjenigen aus den „Anwerbestaaten“. Wanderungsbestimmend war vor allem die aus dem wirtschaftlichen Entwicklungsgefälle resultierende Rangspannung (Hoffmann-Nowotny 1970, 97-140) zwischen oft noch stark agrarisch-vorindustriell geprägten Ausgangsräumen und industriell hoch-entwickelten Zielgebieten. Die Migranten suchten nach Auswegen aus struktureller Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung, oder nach Chancen, bei höhe-rem Verdienst in kürzerer Zeit ihre wirtschaftlichen Existenzgrundlagen in der Heimat zu verbessern oder zu erweitern. In industriewirtschaftlich hoch-

entwickelten Zielländern wie der Bundesrepublik Deutschland gab es ein Interesse an billigen un- bzw. angelernten Arbeitskräften für Ersatz-, Erwei-terungs- und Pufferfunktionen am Arbeitsmarkt. In den Ausgangsräumen war ein Interesse an vertrag-lich gestaltetem und kontrollierbarem Export von nicht oder wenig qualifizierten Arbeitslosen und an Devisenausgleich durch Lohngeldtransfer vorhan-den. Hinzu kamen auf beiden Seiten europapoliti-sche Gesichtspunkte: Neben den Interessen von Arbeitgebern und deren Verbänden in Aufnahme-ländern wie der Bundesrepublik Deutschland und Arbeitnehmern in den „Entsendeländern“ bzw. „Anwerbestaaten“ spielten auch politische Interes-sen an europäischer Integration und staatlicher Wirtschaftsförderung auf beiden Seiten eine Rolle. Es ging um Versuche, ein wirtschaftliches Zusam-menwachsen Europas in den Grenzen zunächst der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, aber auch darüber hinaus zu fördern und durch geregelte Transferbeziehungen zu strukturieren (Steinert 1992, 1995, 277-326). Am Beginn der Arbeitsmigrationen hatte Mitte der 1950er-Jahre gesamtwirtschaftlich durchaus noch kein dramatischer Arbeitskräftemangel gestanden. Es gab 1955 z. B. in der Bundesrepublik Deutschland noch über 900.000 Arbeitslose und nur knapp 200.000 offene Stellen. Die Arbeitslosigkeit lag 1955 noch bei knapp 7 %, in einigen ländlichen Regionen sogar über 10 % (Hornhues 1970, 104-111; Santel 1995, 57). Dennoch kamen hier die ersten Forderun-gen nach Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte gerade vom baden-württembergischen Bauernver-band. Es ging mithin anfangs weniger um absoluten Arbeitskräftemangel als um das abnehmende Interes-se einheimischer Arbeitskräfte an bestimmten Be-schäftigungsbereichen, also um Ersatzbedarf am Arbeitsmarkt. Bei starkem Wirtschaftswachstum wuchs auch der Erweiterungsbedarf, dessen Deckung Anfang der 1960er-Jahre abrupt erschwert wurde: Mit dem Ende des Zustroms aus der DDR nach dem Mauerbau 1961 zeichneten sich bei anhaltendem „Wirtschaftswunder“ Engpässe auf dem Arbeits-markt in Westdeutschland ab. Sie wurden noch ver-schärft durch die Wirkungen der auch in den anderen Industriegesellschaften Europas zu beobachtenden demographischen Veränderungen, die die deutsche Erwerbsbevölkerung deutlich schrumpfen ließen. Hinzu kamen Folgewirkungen der Verkürzung von Arbeits-, der Verlängerung von Ausbildungszeiten u. a. m. Der Anteil der erwerbstätigen Bevölkerung (15-65 Jahre) an der Gesamtbevölkerung ging von 67,2 % im Jahr 1961 auf 63,4% im Jahr 1970 zurück. Die einheimische Erwerbsquote sank von 47,6 % auf 43,7 %. Ohne die gewaltige Erweiterung des Arbeitskräfte-potenzials in Westdeutschland durch die Auslän-

Beginn der amtlich orga-

nisierten Anwerbung

1955

Verschiebung der Nationali-

tätenanteile Ende der 60er

Jahre

Nationale Interessen an transnationa-ler Arbeits-wanderung

Internationale Migration und europäische Integration

Drucksache 14/4357 – 34 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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derbeschäftigung wären die Engpässe auf dem Arbeitsmarkt wohl nur durch tiefgreifende und folgenreiche Strukturveränderungen zu bewältigen gewesen, so z. B. durch deutliche Lohnerhöhungen gerade in weniger attraktiven Beschäftigungsberei-chen oder aber kapitalintensive Modernisierung durch Übergang zu arbeitssparenden Einrichtungen mit der Folge einer wirtschaftlichen „Reinigungs-krise“ zu Lasten von ertragsarmen „Grenzbetrie-ben“, durch lohnintensive und sozialpolitische Beschäftigungsanreize zur Erhöhung der Frauen-erwerbsquote. Die Ausländerbeschäftigung, die seit Anfang der 1960er Jahre rasch in die Millionen stieg, bot hier eine billige und flexible Alternative: Sie balancierte bei anhaltendem und nur durch die Rezession 1966/67 schwerwiegender gestörtem Wirtschaftswachstum die Angebot-Nachfrage-Spannung auf dem Arbeitsmarkt und forcierte zugleich dieses Wachstum von der Arbeitsmarkt-seite her, wobei der Beschäftigtenanstieg in der Industrieproduktion entscheidend zu diesem Wirt-schaftswachstum beitrug. Ausländische Arbeits-kräfte übernahmen erneut wichtige Ersatz-, Erwei-terungs- und Pufferfunktionen. Sie waren denjeni-gen der „ausländischen Wanderarbeiter“ im Kaiser-reich während der wirtschaftlichen Wachstumspe-riode von der Mitte der 1890er Jahre bis zum Vor-abend des Ersten Weltkriegs durchaus ähnlich, abgesehen vom Wandel in Wirtschaftsstrukturen, Betriebsorganisation, Produktionstechniken und dem entfalteten Sozialsystem mit seinem Ein-schluss ausländischer Arbeitnehmer in die sozial-staatlichen Schutz- und Leistungsangebote (Bade 1984b). Es ging zunächst besonders um Ersatzfunktionen in Beschäftigungsbereichen, deren Lohn-, vor allem aber Arbeitsbedingungen für einheimische Ar-beitskräfte nicht mehr, für ausländische Arbeits-wanderer aber noch immer attraktiv waren – im Vergleich zu den Bedingungen im Herkunftsland ebenso wie im Blick auf ihr Hauptinteresse an möglichst hohem Lohngeldtransfer unter Vernach-lässigung der für dauerhafte Beschäftigung ent-scheidenden Arbeitsbedingungen: Einerseits domi-nierten hier mäßige, aber durch Überstunden oder im Akkord erheblich steigerbare Löhne in Berei-chen, bei denen eine durch Arbeitskräftemangel erzwungene kapitalintensive Modernisierung mög-licherweise zu einer „Reinigungskrise“ mit dem Absterben vieler kapitalschwacher Grenzbetriebe geführt hätte oder in Bereichen, die ohnehin nicht oder nur bedingt durch arbeitssparende Maßnah-men und Maschineneinsatz zu modernisieren wa-ren. Das galt z. B. bis zum allgemeinen „Textil-sterben“ im Europa der 1960er und frühen 1970er Jahre für zahlreiche an der Rentabilitätsgrenze liegende Betriebe der Textilindustrie sowie für die fisch- und fleischverarbeitende Industrie; es galt nach wie vor für den Bausektor und die Reini-

gungsdienste, aber auch für das Gaststättengewerbe sowie in geringerem Umfang auch noch für land-wirtschaftliche Saisonarbeiten, die nicht durch Maschineneinsatz zu bewältigen waren, z. B. bei der Wein- oder Spargelernte. In solchen Beschäfti-gungsbereichen – und nicht etwa gesamtwirtschaft-lich – führte die Ausländerbeschäftigung zeitweise zu einer Verlangsamung des Lohnanstiegs (Heck-mann 1981, 165-172). Andererseits konzentrierten sich ausländische Ar-beitswanderer bei durchaus gut bezahlten, aber besonders harten oder gefährlichen bzw. gesund-heitsgefährdenden Arbeiten, z. B. in der Asbestin-dustrie, oder in hochmodernen, aber nervenzehren-den Beschäftigungsbereichen, z. B. in der Fließ-bandmontage. Ausländische Arbeitskräfte litten unter solchen Arbeitsbedingungen nicht weniger als einheimische und schieden nach längerer Be-schäftigungszeit häufig mit den gleichen arbeitsbe-dingten Erkrankungen aus. Das fiel deswegen oft nicht weiter auf, weil viele Opfer solchen Ver-schleißes mit ihren Gesundheitsschäden in die Heimatländer zurückkehrten. Dennoch verbreitete sich – wie gegenüber den „willigen und billigen Wanderarbeitern“ in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg – erneut die Legitimationslegende, Aus-länder seien solchen Arbeitsbedingungen eben besser „gewachsen“ und überdies allgemein stärker „belastbar“ als einheimische Arbeitskräfte (Bade 1980).

Neben die Ersatzfunktionen traten bei starkem Wirtschaftswachstum und allgemein zunehmendem Arbeitskräftemangel, besonders im deutschen „Wirtschaftswunder“, die Erweiterungsfunktionen der ausländischen Reservearmee in Zentralberei-chen der Produktion, besonders in Bergbau und Schwerindustrie. Dass die Ausländerbeschäftigung zugleich als Konjunkturpuffer wirkte, zeigte sich erstmals in der Wirtschaftskrise 1966/67, als sie in stark konjunkturabhängigen Bereichen abrupt – in Deutschland um ca. 30 % – zurückging. Viele Ausländer „exportierten“ ihre Arbeitslosigkeit durch Rückwanderung, wodurch auch die Aus-gangsräume in die Pufferfunktionen zugunsten der Zielländer einbezogen wurden (Nikolinakos 1973, 98-100; Ronzani 1980, 182).

Für einheimische Arbeitskräfte gab es seit den 1960er-Jahren zunehmende Möglichkeiten zum beruflich-sozialen Aufstieg, die den un- bzw. an-gelernten ausländischen Arbeitnehmern nicht offen standen und doch indirekt von ihnen mitgetragen wurden – durch die Unterschichtung einheimischer Arbeitskräfte bei der neuerlichen Herausbildung eines gespaltenen Arbeitsmarktes mit stark inter-nationalisierter unterer Ebene: Als die transnatio-nale Arbeitsmigration in den 1960er Jahren zur

Ausländerbe-schäftigung als Konjunk-turpuffer

Mythos der stärkeren Belastbarkeit ausländischer Arbeiter

Ausländerbe-schäftigung

als Stütze des Wirtschafts-

wachstums

Unterschich-tung des einheimischen Arbeitsmark-tes durch ausländische Arbeitnehmer

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 35 – Drucksache 14/4357

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Massenbewegung anschwoll, hatte neben allgemei-nem Sinken der Arbeitszeiten eine unterschiedlich ausgeprägte soziale Aufwärtsmobilität einheimi-scher Arbeitskräfte begonnen, getragen von zuneh-mender, teils betrieblich, teils staatlich geförderter beruflicher Qualifikation. Der von der Sogwirkung solcher Beschäftigungsbereiche in anderen, von diesen Entwicklungen abgekoppelten Bereichen verstärkte Arbeitskräftemangel konnte mit Hilfe ausländischer Arbeitskräfte balanciert werden, so dass der soziale Aufstieg einheimischer mit Hilfe ihrer Unterschichtung durch ausländische Arbeits-kräfte betrieblich und volkswirtschaftlich erleichtert wurde: Während die Zahl der einheimischen Er-werbstätigen 1960-1972 um 2,3 Mio. sank, wuchs der Anteil der ausländischen an der Gesamtzahl der Arbeitnehmer von 1,3 % im Jahr 1960 auf den Gip-fel von 11,9 % im Jahr 1973. Der Zustrom von 2 Mio. „Gastarbeitern“ in den 1960er-Jahren aber ließ die Gesamtzahl der Erwerbstätigen nur von 26,3 Mio. auf 26,7 Mio. ansteigen, schloss mithin vor-wiegend Arbeitskräftelücken und steigerte nur ge-ringfügig die Gesamtzahl der Erwerbstätigen (Heckmann 1981, 165-172; Cohn-Bendit/Schmid 1992, 122-143). Die im Rahmen der Anwerbeabkommen zuwan-dernden ausländischen Arbeitskräfte waren meist zunächst nur auf Zeit oder mit offener Zeitper-spektive gekommen. Bei der ersten Generation (Pioniermigranten) handelte es sich überwiegend um alleinstehende Männer im Alter von 20 bis 40 Jahren (Nauck 1988, 28). Daneben gab es einen nicht unerheblichen Anteil von weiblichen Ar-beitskräften, die ebenfalls ohne Ehepartner bzw. Familien zuwanderten (Herwartz-Emden 1997, 186). Dennoch zeichneten sich bei noch hochlie-gender Fluktuation zwischen Ausgangsräumen und Zielgebieten seit den späten 1960er-Jahren eine langsame, seit Mitte der 1970er-Jahre be-schleunigte Zunahme von Daueraufenthalten und eine Verlagerung des Lebensmittelpunktes durch Familiennachzug in die Zielgebiete ab. Das hatte nicht nur mit dem Wanderungsverhalten der aus-ländischen Arbeitskräfte, sondern auch mit der Anwerbepolitik im Aufnahmeland zu tun: Wäh-rend z. B. in der Rezession von 1966/67 beste-hende Arbeitsverträge weithin nicht verlängert, neue vorübergehend nicht abgeschlossen wurden und die Gesamtzahl der ausländischen Arbeits-kräfte drastisch sank, wurden der Anwerbung weiblicher Arbeitskräfte in der Rezessionsphase nicht so starke Hindernisse entgegengestellt. An-werbung und Vermittlung von Frauen für Dienst-leistungsbetriebe blieben sogar ausdrücklich „von einer besonderen Pflicht zur zentralen Ausschrei-bung ausgenommen“. Überdies wurden „nament-liche Anforderungen“ von Ausländerinnen aus den Anwerbeländern berücksichtigt, wenn sie eine Familienzusammenführung bewirkten.

Über so eingeleitete familiäre Kettenwanderungen konnten bis 1973 gezielt Ehepartner oder Verwand-te (z. B. Großeltern) in die Bundesrepublik Deutschland nachgeholt werden. Der Frauenanteil innerhalb der Gruppe der Arbeitsmigranten stieg 1962 - 1967 kontinuierlich an. Das war das Gegen-teil dessen, was in den ersten Jahren der Anwer-bung ausländischer Arbeitskräfte in die Bundesre-publik Deutschland einmal als „Rotationsprinzip“ – befristete Arbeitsaufenthalte bei anschließender Rückkehr in die Herkunftsländer – zwar diskutiert bzw. konzipiert, aber nicht rechtlich geregelt wor-den war und in der Praxis auch kaum funktioniert hatte. Die Arbeitgeber selbst legten wegen der mit solcher Rotation verbundenen stets neuen Einarbei-tungskosten und Unfallrisiken Wert auf Kontinuität in der Ausländerbeschäftigung. Eine Ausnahme bildete die Rotationsklausel im deutsch-türkischen Anwerbevertrag von 1961, die bis zu ihrer Aufhe-bung am 30.9.1964 die Arbeitsaufenthalte auf zwei Jahre begrenzte und damit zunächst den Familien-nachzug unterband. Wachsende Aufenthaltszeiten und Familiennach-zug zeichneten sich immer deutlicher ab. Auf Sei-ten der Arbeitsmigranten und ihrer Familien war dies eine Frage der praktischen Alltagsgestaltung und in aller Regel noch keine lebensgeschichtliche Entscheidung für einen Daueraufenthalt oder gar für eine formelle Einwanderung im Sinne eines Wechsels der Staatsangehörigkeit. Für die Verlage-rung der Lebensmittelpunkte in die Bundesrepublik Deutschland verstärkend wirkten nicht intendierte Folgen des „Anwerbestopps“ vom November 1973, die gleich noch näher darzustellen sind (Ka-pitel III.2.1.2). Hinzu kam in vielen Fällen ein drohender Verlust von Humankapital dergestalt, dass im Aufnahmeland erworbene Zusatzqualifika-tionen im Herkunftsland nicht eingesetzt werden konnten. Durch den Wandel von Arbeitsaufenthalten zu Einwanderungssituationen änderten sich seither beschleunigt auch die demographischen Strukturen der Zuwandererbevölkerungen in den Aufnahme-ländern sowie ihre Funktionen am Arbeitsmarkt: Mit dem hohen Familiennachzug sank in der Bun-desrepublik Deutschland die bei temporären Ar-beitswanderungen gewöhnlich hohe Erwerbsquote. Das damit verbundene Zurücktreten der Erweite-rungsfunktionen zugewanderter Arbeitskräfte am Arbeitsmarkt fiel angesichts der in den 1980er-Jahren allgemein zunehmenden Arbeitslosigkeit nicht sonderlich ins Gewicht. Der Rückgang der transnationalen Fluktuation bei einem kontinuier-lich wachsenden Sockel von Daueraufenthalten verwandelte die vordem transnationale in eine interne Pufferfunktion im Wechsel von Auf-schwung und Krise: An die Stelle des Exports von Arbeitslosigkeit in die Herkunftsländer trat eine

Pionier-migranten

waren über-wiegend

männlich und

Kontinuierlich wachsender Sockel von Daueraufent-halten mit überdurch-schnittlich hoher Arbeits-losigkeit

Arbeits-migrantinnen

von der Rezes-sionsphase

weitgehend verschont

„Rotations-prinzip“ funktionierte in der Praxis nicht

Drucksache 14/4357 – 36 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

alleinstehend

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strukturelle und in Krisenzeiten weit überdurch-schnittliche Arbeitslosigkeit von Zuwandererbe-völkerungen im Inland. Die Ersatz- und Unter-schichtungsfunktionen indes blieben in der ersten Generation vielfach bestehen, wobei allerdings langfristig ein beschränkter beruflich-sozialer Aufstieg aus den Ebenen der unqualifizierten un- und angelernten Berufe auf die Facharbeiterebene zu beobachten war, abgesehen von stärkerer sozia-ler Aufstiegsmobilität einzelner Gruppen in be-stimmten Bereichen der Selbständigkeit, beson-ders im „ethnic business“ (Werner 1994; Seifert 1995). Spätestens im weiteren Verlauf der 1980er-Jahre wurden alle europäischen Aufnahmeländer zumin-dest in jenem quantitativen Sinne zu „Einwande-rungsländern“, dass die dauerhaften Zuwanderun-gen die Auswanderungen bei weitem übertrafen, abgesehen von Großbritannien, wo Irland ein Aus- und Abwanderungsraum mit negativer Wande-rungsbilanz blieb, aber auch insgesamt eine ver-gleichsweise stark anhaltende überseeische Aus-wanderung zu verzeichnen war. In allen Fällen trugen zugewanderte Bevölkerungen dazu bei, auf Zeit die Folgewirkungen des abnehmenden Bevöl-kerungswachstums der Aufnahmeländer zu balan-cieren. Wie in der Bundesrepublik Deutschland, so schieden sich auch in vielen anderen Aufnahme-ländern die Geister in Diskussionen um Einwande-rung und Integration. Dabei kann man mit Faist (1998) in den wohlfahrtsstaatlich organisierten europäischen Aufnahmeländern cum grano salis und mit mancherlei Zwischenformen eine stärkere „politik-orientierte“, d. h. über wohlfahrtsstaatli-che Programme von einer „markt-orientierten“, d. h. ökonomische Mechanismen am Arbeitsmarkt vermittelten Inklusion unterscheiden, die für die Bundesrepublik Deutschland wegbestimmend wurde. III.2.1.2 Öffnung und Abwehr: Soziale

Integration und politisches Dementi der Einwanderungs-situation

Was in der Bundesrepublik Deutschland Mitte der 1950er-Jahre als amtlich organisierte Arbeitswan-derung auf Zeit begonnen hatte, mündete spätes-tens Ende der 1970er-Jahre mit fließenden Über-gängen in eine echte Einwanderungssituation. Ausländischen Arbeitswanderern boten die Zeit-stufen im Aufenthaltsrecht eine wachsende Absi-cherung gegen die Unwägbarkeiten der „Gastar-beiterexistenz“. Daueraufenthalte und langfristige Bleibeabsichten nahmen stark zu. Auf den von Ausländerbeauftragten, Gewerkschaften, Kirchen und Migrationsforschern schon seit Ende der 1970er-und insbesondere seit Beginn der 1980er-

Jahre beobachteten und vielfältig belegten Wan-del von „Gästen“ auf dem Arbeitsmarkt zu Ein-wanderern war die Bundesrepublik Deutschland politisch nicht vorbereitet (Heckmann 1981, 1984; Bade 1983). Betrieben wurde eine in vieler Hinsicht widersprüchliche Politik: Sie war einer-seits gekennzeichnet durch die Verlängerung von Arbeitsaufenthalten und eine damit wachsende Sicherheit im Aufenthaltsstatus, andererseits durch die Entwicklung von Konzepten zur „För-derung der Rückkehrbereitschaft“ bzw. zu einer nur „sozialen Integration auf Zeit“, die diese „Rückkehrbereitschaft“ wachhalten sollte. Der kleinste gemeinsame Nenner aller „ausländerpoli-tischen“ Statements aller Bundesregierungen bis zum Ende der konservativ-liberalen Koalition 1998 lautete: „Die Bundesrepublik ist kein Ein-wanderungsland“. In der Ausländerpolitik der Bundesrepublik Deutschland, die auf die aus den „Anwerbeländern“ stammende Ausländerbevölke-rung zielte, lassen sich bis 1990 vier Phasen (Meier-Braun 1988, 7-74, 1995; Bade 1994d, 53-66) unterscheiden. Eine fünfte Phase begann mit der Reform des Ausländerrechts und dem Verei-nigungsprozess 1990/91, eine sechste im vereinig-ten Deutschland mit dem Regierungswechsel 1998 und der Aufnahme der Reform des Staats-angehörigkeitsrechts in die Koalitionsvereinba-rung der neuen „rot-grünen“ Bundesregierung (Kapitel III.2.3).

Die erste Phase der Ausländerpolitik (1955 - 1973), die auch „Anwerbeperiode“ oder „Gastar-beiterperiode“ genannt wird, umfasst die Zeit der gezielten, durch Anwerbevereinbarungen und staat-liche Organisation („Anwerbekommissionen“)flankierten Anwerbung ausländischer Arbeitskräf-te. Die Ausländerpolitik war in dieser Phase weit-gehend frei von Gedanken an soziale Folgeproble-me oder gar an sozialpolitische Konzepte. Sie blieb im Grunde Arbeitsmarktpolitik, angewendet auf Ausländer. Ein erstmals 1970 von der Bundesregie-rung formuliertes Konzept zur Ausländerpolitik legte fest, dass die Ausländerbeschäftigung unmit-telbar an der Entwicklung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt ausgerichtet werde. Angesichts der zunehmenden Aufenthaltsdauer ausländischerBeschäftigter, des langsam einsetzenden Familien-nachzugs und der daraus ableitbaren Niederlas-sungstendenzen bahnte sich im April 1972kurzfristig eine Neuorientierung an: „Grundsätze zur Eingliederung ausländischer Arbeitnehmer und ihrer Familien“ des Koordinierungsausschusses des Bundesarbeitsministeriums und des Länderaus-schusses „Ausländische Arbeitnehmer“ themati-sierten soziale Folgeprobleme der Ausländerbe-schäftigung. Eine langfristige Konzeption für eine neue Ausländerpolitik enthielten sie nicht. Im Juni 1973, wenige Monate vor Verabschiedung des

Erste Phase der Auslän-derpolitik: „Anwerbepe-riode“

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 37 – Drucksache 14/4357

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Anwerbestopps, legte die Bundesregierung ein „Ak-tionsprogramm zur Ausländerbeschäftigung“ vor. Es sah Maßnahmen vor, die Ausländerbeschäftigung insgesamt zu reduzieren und „sozial- verantwortlich“ zu gestalten.

Der Anwerbestopp vom November 1973 beendete die staatlich organisierte Arbeitsmigration und damit die erste Phase der Ausländerpolitik: Der „Ölpreisschock“ von 1973 war in Europa und in Deutschland weniger eigentliche Ursache als end-gültiger Anlass für Anwerbestopps und Zuwande-rungsbeschränkungen, mit denen die Schweiz schon 1970 und Schweden 1972 vorausgegangen waren. Zu den Motiven für die zunehmenden Re-striktionen zählten nicht nur wirtschafts- und ar-beitsmarktpolitische Überlegungen und Befürch-tungen, sondern auch die Skepsis gegenüber dem Wandel von Arbeits- zu Daueraufenthalten und faktischen Einwanderungssituationen sowie die Besorgnis über importierte soziale Probleme, die in der Bundesrepublik Deutschland Anlass zur Rede von der „Zeitbombe Gastarbeiterfrage“ waren. In Verbindung damit standen wachsende Abwehrhal-tungen gegenüber bestimmten Zuwanderergruppen, insbesondere gegenüber Türken.

Dass der Anwerbestopp nur kurzfristig die inten-dierten, langfristig aber sogar gegen seine Intentio-nen wirkende Folgen zeitigte, hatte vor allem drei Gründe: Zum ersten wurden auch ausländische Arbeitskräfte, die seit langem in temporärer Ar-beitnahme pendelten, durch den Anwerbestopp abrupt vor die Alternative „Bleiben oder Gehen“ gestellt, weil ein Ausscheiden aus dem Arbeitsver-trag zur Rückkehr für längere Zeit nun zum Ab-schied für immer wurde. Viele entschieden sich zu bleiben. Das verstärkte den Familiennachzug, wo-durch insgesamt die Fluktuation abnahm und die Verlagerung des Lebensmittelpunktes in die Ziel-länder wuchs. Der Familiennachzug aber war durch europäische Bestimmungen zum Schutz der Fami-lie (Art. 19, Abs. 6 der Europäischen Sozialcharta) gesichert, trotz aller auf Bundes- und Länderebene unternommenen Versuche zu seiner Einschrän-kung, insbesondere bei der Nachwanderung von im Ausland geborenen und aufgewachsenen Kindern und weiteren Familienangehörigen (Santel 1995, 64f.; Eichenhofer 1998c).

Als drittes Moment kam bei den EG-Staaten hinzu, dass, wie erwähnt, der Arbeitskräftetransfer in Europa von Beginn an auch mit Fragen der europä-ischen Integration zu tun hatte. Zu deren Zielper-spektiven aber zählte nicht nur der Abbau von Zollschranken, sondern auch die Freizügigkeit am Arbeitsmarkt, die den Anwerbestopp für Mitglieds-staaten wirkungslos bleiben ließ. Die Ausländer-

zahlen in der Bundesrepublik Deutschland gingen nach 1973 (3,97 Mio.) nur kurz zurück, stiegen 1978 bereits wieder über das im Jahr des Anwerbe-stopps erreichte Niveau hinaus (3,98 Mio.) und wuchsen fortan kontinuierlich weiter. Hinter der Dysfunktionalität der Zuwanderungsbegrenzungen stand jenes „liberale Paradox“ (Hollifield), das es liberalen rechtsstaatlichen Systemen nicht ermög-licht, in Gang gekommene Migrationsprozesse vollends abzuschneiden, ohne gegen grundlegende humanitäre Verpflichtungen oder menschenrechtli-che Prinzipien zu verstoßen (Hollifield 1992, 214-232; Seifert 1994, 13-17). Am härtesten trafen die Wanderungsbeschränkungen die am spätesten zur Massenbewegung aufgestiegene türkische Zuwan-derung, die durch die Anwerbestopps in einer ge-waltigen Expansionsphase abgebrochen wurde. Das weitere Wachstum der türkischen Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland und im europä-ischen Ausland resultierte vorwiegend aus natürli-chem Bevölkerungszuwachs, Familiennachzug und in geringem Umfang auch aus Asylzuwanderung (bes. Kurden) (Santel 1995, 63).

In der zweiten Phase der Ausländerpolitik (1973 - 1979) wurde der Schwerpunkt auf die „Konsolidie-rung“ der Ausländerbeschäftigung gelegt und eine Eingliederungspolitik für diejenigen Familien an-gekündigt, die sich längerfristig in der Bundesre-publik Deutschland niederlassen wollten. Famili-ennachzug war ausländischen Arbeitskräften unter besonderen Voraussetzungen (ausreichenderWohnraum, ausreichendes Einkommen, ununter-brochene Beschäftigung bzw. gesicherte Weiterbe-schäftigung, Nachzugsalter der Kinder, Wartezei-ten) weiterhin möglich. Gesetzliche Grundlagen waren das Ausländergesetz von 1965 und die da-zugehörigen Verwaltungsvorschriften, wobei die Entscheidungsbefugnis den einzelnen Ausländer-behörden oblag. Eine Aufenthaltserlaubnis wurde grundsätzlich unter dem Vorbehalt erteilt, dass durch die Anwesenheit der Ausländer die Belange der Bundesrepublik Deutschland (§ 2 AuslG 1965) nicht beeinträchtigt würden. Dieses Ausschlusskri-terium räumte den entscheidenden Behörden einen weiten Ermessensspielraum ein. Bis zur Reform des Ausländerrechts 1990/91 war gesetzlich nicht geregelt, unter welchen Bedingungen eine Aufent-haltsverlängerung genehmigt bzw. verweigert werden konnte. Außerdem konnte der Verlust des Arbeitsplatzes zur existenziellen Bedrohung wer-den und zu einer Ausweisung führen, wenn die Betroffenen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts auf Sozialhilfe angewiesen waren und nicht über den sichersten Status, die Aufenthaltsberechtigung, verfügten. Insofern war die Ausländer- und Ein-gliederungspolitik bis dahin durch einen immanent restriktiven Charakter bestimmt.

Zweite Phase der Auslän-derpolitik: „Konsolidie-rung“ der Ausländerbe-schäftigung

Trotz Anwer-bestopp Frei-zügigkeit für Arbeits-migranten aus EU-Staaten

„Zeitbombe Gastarbeiter-

frage“ –Besorgnis

über impor-tierte soziale

Probleme

Anwerbestopp von 1973

verstärkt den Familiennach-

zug

Drucksache 14/4357 – 38 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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1974 wurde die sog. Stichtagsregelung eingeführt.Nach dem 30.11.1974 eingereiste Kinder bzw.Jugendliche und Ehepartner ausländischer Arbeits-kräfte erhielten keine Arbeitserlaubnis mehr. DerStichtag wurde später auf den 31.12.1976 verlegtund 1980/81 durch eine Wartezeitregelung ersetzt.Von nun an konnte Jugendlichen nach einer War-tezeit von zwei und Ehepartnern nach einer Warte-zeit von vier Jahren eine Arbeitserlaubnis erteiltwerden. 1975 brachte die Änderung des Kinder-geldgesetzes die Senkung der Sätze für im Her-kunftsland verbliebene Kinder. Umstritten ist, obdiese Maßnahmen ausschlaggebend dafür waren,dass nun verstärkt Kinder in die BundesrepublikDeutschland nachgeholt wurden. Nachweisbar ist,dass die Anzahl der nachkommenden Kinder undJugendlichen zunahm. Im gleichen Jahr wurde dieVolljährigkeitsgrenze für Deutsche herabgesetzt, inderen Folge das Nachzugsalter für ausländischeJugendliche von ursprünglich 21 auf 18 Jahre ge-senkt wurde. Weil ausländischen Jugendlichen, dieohnehin schlechtere Ausgangsvoraussetzungenmitbrachten als Deutsche, damit auch der Zugangzu Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten erschwertwurde, nahm deren Arbeitslosigkeit erheblich zu(Geißler 1992, 195f.; Münscher 1979, 34, 53).

Nachdem die Anwerbepolitik dazu geführt hatte,dass sich die Mehrheit der ausländischen Bevölke-rung auf vier Bundesländer (Nordrhein-Westfalen,Baden-Württemberg, Bayern, Hessen) konzen-trierte, war diese Entwicklung in Folge des Nie-derlassungsprozesses noch verstärkt worden. 1975- 1977 wurde eine „Zuzugssperre“ (Sperrgebiets-erlass) für „überlastete Siedlungsgebiete“ verhängt,um die Binnenwanderung bzw. die regionale Ver-teilung der ausländischen Bevölkerung zu beein-flussen. Die Maßnahme geriet in Widerspruch zuden Mobilitätsanforderungen der Wirtschaft, war inder Praxis, besonders beim Familiennachzug, nichtdurchzusetzen und wurde zum April 1977 wiederaufgehoben, abgesehen von der „kleinen Zuzugs-sperre“ für Berlin. Die bei den ZuzugssperrenMitte der 1970er-Jahre diskutierten Höchstanteilevon ca. 12 % wurden bald in vielen Stadtviertelnweit, in den dortigen Grund- und Hauptschulenzuweilen sogar um ein Mehrfaches überschritten.Im Jahr der deutschen Vereinigung 1990 standenan der Spitze der Großstädte mit einer ausländi-schen Wohnbevölkerung von mehr als 10 %:Offenbach (23,5 %), Frankfurt a. M. (23,4 %),München (21,0 %) und Stuttgart (20,0 %), miteinigem Abstand gefolgt von Mannheim (17,4 %)und Köln (16,7 %); auf dem 11. Platz folgte West-Berlin (14,5 %) (Amt der Ausländerbeauftragten1993; Bernhardt u. a. 1993).

1976 berief die Bundesregierung eine Bund-Länder-Kommission zur Entwicklung einer Kon-zeption der zukünftigen Ausländerpolitik, die An-

fang 1977 Vorschläge zur Gestaltung einer „um-fassenden Konzeption der Ausländerpolitik“ vor-legte. An den bisherigen Leitlinien der Ausländer-politik – „Konsolidierung“ und „soziale Integrationauf Zeit“ – wurde festgehalten. Die Integration derin der Bundesrepublik Deutschland lebenden Fa-milien ausländischer Herkunft sollte jedoch voran-getrieben und eine stufenweise Verbesserung ihresrechtlichen und sozialen Status (Wohnsituation,Sprachförderung, Schulausbildung, beruflicheIntegration der Jugendlichen, Aufbau einer sozia-len „Betreuung“) erreicht werden. Folge diesesKonzeptes war zum einen die am 1.11.1978 inKraft gesetzte „Änderung der Allgemeinen Ver-waltungsvorschrift zur Ausführung des Ausländer-gesetzes“. Danach konnten ausländische Arbeits-kräfte nach fünfjährigem rechtmäßigem Aufenthaltim Bundesgebiet unter bestimmten Voraussetzun-gen eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis undnach acht Jahren eine Aufenthaltsberechtigungbeantragen. Diese Regelung wurde zwar als Ver-besserung der Rechtssicherheit gewertet, hob aberdie restriktive Praxis bei der Erteilung der befris-teten Aufenthaltserlaubnis und der unbefristetenAufenthaltsberechtigung nicht auf (López-Blasco1987, 173). Zum anderen wurde im November1978 beschlossen, einen Beauftragten für die Inte-gration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrerFamilienangehörigen zu berufen.

Damit begann die insgesamt kürzeste, dritte Phaseder Ausländerpolitik (1979/80), die man als Phasekonkurrierender Integrationskonzepte (Meier-Braun) bezeichnen kann. Der frühere Ministerprä-sident von Nordrhein-Westfalen, Heinz Kühn(SPD), der am 22.11.1978 das dem Bundesar-beitsministerium zugeordnete Amt des Beauftrag-ten der Bundesregierung angetreten hatte, legteEnde 1979 sein Memorandum „Stand und Weiter-entwicklung der Integration der ausländischenArbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesre-publik Deutschland“ vor. Die zentrale Forderungdes „Kühn-Memorandums“ war die Anerkennungder faktischen Einwanderungssituation. Darüberhinaus forderte das Memorandum: eine konse-quente Integrationspolitik und damit eine Abkehrvon der Priorität arbeitsmarktpolitischer Gesichts-punkte; verstärkte Bemühungen um die Integrationausländischer Kinder und Jugendlicher, vor allemim schulischen Bereich; den Ausbau des vollenRechtsanspruchs ausländischer Jugendlicher aufZugang zu Arbeits- und Ausbildungsplätzen; einOptionsrecht für in der Bundesrepublik Deutsch-land geborene und aufgewachsene Jugendliche aufEinbürgerung sowie das kommunale Wahlrecht fürAusländer nach längerem Aufenthalt.

Das Memorandum bewirkte eine Wende in derpolitischen Diskussion um eine Neuorientierungder Ausländerpolitik, nicht jedoch in der Auslän-

1975 - 1977Sperrgebiets-

erlass für„überlasteteSiedlungsge-

biete“

Leitlinien derAusländerpo-litik: „Konso-lidierung“ und „sozialeIntegrationauf Zeit“

„Kühn-Memoran-dum“ fordertAnerkennungder faktischenEinwande-rungssituation

Ab 1975verstärkter

Nachzug vonKindern undJugendlichen

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 39 – Drucksache 14/4357

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derpolitik selbst. Auf Drängen der Bundesregie-rung legte vielmehr kurz darauf der „Koordinie-rungskreis ausländische Arbeitnehmer“ beim Bun-desarbeitsministerium ein konkurrierendes, weithinter dem „Kühn-Memorandum“ zurückbleiben-des und herkömmlichen arbeitsmarktpolitischenVorstellungen verhaftetes Konzept mit Vorschlä-gen zur Integration der zweiten Ausländergenerati-on vor. In ihren Beschlüssen vom März 1980 hieltdie Bundesregierung – ungeachtet auch dieserVorschläge – an einer durch Konzepte zur „sozia-len Integration auf Zeit“ ergänzten Ausländerpoli-tik fest (Bade 1994d, 56f.). Das kommunale Wahl-recht für Ausländer wurde abgelehnt (Ende 1990vom Bundesverfassungsgericht schließlich fürgrundgesetzwidrig erklärt), von Einwanderungausdrücklich nur als Einzelfall gesprochen. ImJanuar 1981 trat die frühere Wirtschaftsministerinvon Nordrhein-Westfalen, Liselotte Funcke (FDP),die Nachfolge Kühns als Bundesbeauftragte an.

Die vierte Phase der Ausländerpolitik (1981 - 90)war bestimmt durch einen Wandel von der Konkur-renz von Integrationskonzepten zur Konkurrenzvon Begrenzungs- und Abwehrmaßnahmen (Mei-er-Braun 1988, 18f.), während sich in öffentlicherDiskussion und amtlicher Politik die Diskussions-spektren von Ausländer- und Asylpolitik (KapitelIII.3.3.1) zunehmend überschnitten. Das führteinsgesamt zu einer verschärften Politisierung des„Ausländerthemas“, das auch in dem Wahlkampf,der zum Regierungswechsel von der SPD-FDP-Koalition zur CDU/CSU-FDP-Koalition führte,eine zentrale Rolle spielte. Im Hintergrund standendie Entdeckung der Einwanderungssituation beiwachsendem öffentlichen Unbehagen an der Kon-zeptionslosigkeit in der Ausländerpolitik, anhalten-de Wirtschaftskrise, hohe und weiter steigendeArbeitslosigkeit, ein starker Anstieg der Zahl vonasylsuchenden Flüchtlingen und eine zu Horror-visionen verzerrte Asyldiskussion 1980/81. Vordiesem brisanten Hintergrund von mangelnderTransparenz und Irritation über die Entwicklungder in der Öffentlichkeit immer mehr beachtetenProbleme von Zuwanderung, Eingliederung undMinderheiten, von Angst „unten“ und Konzepti-onsmangel „oben“, wuchsen Besorgnis, Empörungund Abwehrhaltungen, die die Parteien in ihr Inter-essenkalkül einzubeziehen suchten (Bade 1994b).

Die „Wende in der Ausländerpolitik“ begann nochzur Zeit der SPD/FDP-Koalition: Auch, aber nichtnur unter dem wachsenden Druck der CDU/CSU-Opposition und der unionsregierten Bundesländerentwickelte die sozial-liberale Koalition im De-zember 1981 Empfehlungen an die Bundesländerfür eine „Begrenzungspolitik“. Es ging vor allemum die Verringerung des Familiennachzugs, kon-kret um Beschränkung des Ehegattennachzugs undSenkung des Nachzugsalters für Kinder. Das führte

zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen denRegierungsparteien SPD und FDP, die die Koaliti-on schließlich auf diesem Gebiet von innen lähm-ten. Von außen geriet sie immer mehr unter denDruck der CDU/CSU-Opposition, deren öffentlicheKritik sich besonders auf den Nachweis ausländer-politischer Handlungsunfähigkeit konzentrierte.

Noch im Juli 1982 beschloss das sozial-liberaleKabinett Maßnahmen zur Rückkehrförderung.Einiges deutet dabei darauf hin, dass hier nur nochzeichenhaft Handlungsbereitschaft demonstriertwerden sollte: Im Entscheidungsprozess war es zu– von der Opposition angeprangerten – Verzöge-rungen deswegen gekommen, weil man schließlichimmer weniger an eine Wirksamkeit finanziellerRückkehranreize glaubte und im Grunde nur mehrmit bloßen „Mitnahmeeffekten“ bei denen rechne-te, die ohnehin schon zur Rückkehr entschlossenwaren. Was dann nach dem Regierungswechsel inder CDU/CSU-FDP-Koalition weiter diskutiert,aber erst nach der Bundestagswahl vom März 1983schließlich im Juni 1983 als „Gesetzentwurf zurbefristeten Förderung der Rückkehrbereitschaftvon Ausländern“ beschlossen wurde, ging auf jenesvom sozial-liberalen Kabinett bereits verabschie-dete Maßnahmenbündel zurück. Die nur für einhalbes Jahr in Kraft gesetzten Maßnahmen, beidenen überdies die angekündigte Beratung bis zumSchluss fast ganz ausblieb, wurden zwar als Erfolgin der Rückkehrförderung vorgestellt, bewirktenkonkret aber wohl kaum mehr als die vordem be-fürchteten Mitnahmeeffekte. In der politischenWerbung weniger betont wurden der von den zu-rückkehrenden ausländischen Arbeitnehmern aufdiese Weise erbrachte, auf 3-4 Mrd. DM veran-schlagte Beitrag zur Stabilisierung der Rentenver-sicherung (der Arbeitgeberanteil wurde nicht aus-gezahlt) und die nicht minder großen Einsparungenan Arbeitslosen- und Kurzarbeitergeld durch denExport von Arbeitslosigkeit.

Zweck der Übung war die Beruhigung einer durchKonzeptions- und Perspektivlosigkeit in der Aus-länderpolitik irritierten und zunehmend – nicht nurgegen die politisch Handelnden bzw. Nichthan-delnden auf deutscher, sondern auch gegen dieBetroffenen auf ausländischer Seite – aufgebrach-ten Öffentlichkeit durch eine jener politischenErsatzhandlungen, die als „Symbolpolitik“ zu ei-nem besonderen Genre der Ausländerpolitik wur-den. Hierher gehört, jedenfalls im Ergebnis, auchdie aufsehenerregende Aufnahme der Ausländer-politik als gleichgewichtigem Gestaltungsbereichneben Wirtschafts-, Sozial- und Außenpolitik indas nur vier Punkte umfassende Dringlichkeitspro-gramm der christlich-liberalen Bundesregierungvom Oktober 1982. Von Ausländerpolitik indeswar dann schon bald immer weniger bzw. nur nochin Ankündigungen die Rede.

Angst „vonunten“ –

Konzeptions-losigkeit „von

oben“

Maßnahmenzur Rückkehr-förderung als„Symbolpoli-tik“

Drucksache 14/4357 – 40 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Die Ausländerpolitik der Bundesregierung war undblieb an drei Eckpositionen orientiert: Aufrechter-haltung des Anwerbestopps, Förderung der Rück-kehrbereitschaft und Ankündigung von vermehrtenIntegrationsangeboten für die anwesende Auslän-derbevölkerung, die lange ebenso ausblieben wiedie bis zur Jahrzehntwende folgenlos angekündigteReform des Ausländerrechts. Schon Ende 1982begann auch in der neuen Bundesregierung derStreit um die Ausländerpolitik, vor allem zwischenCSU und FDP. Einen Höhepunkt der Auseinander-setzungen bildete 1983 der Konflikt um die Sen-kung des Nachzugsalters für ausländische Kinderzwischen der Ausländerbeauftragten LiselotteFuncke und Bundesinnenminister Friedrich Zim-mermann (CSU), der – vergeblich – eine weitereSenkung des 1981 bereits auf 16 Jahre gesenktenNachzugsalters für Kinder und Jugendliche bis auf6 Jahre durchzusetzen suchte.

Insgesamt ließ die Ausländerpolitik seit der „aus-länderpolitischen Wende“ und besonders seit demRegierungswechsel mehrere Entwicklungstenden-zen erkennen:

1. eine mit dem Wandel von vorwiegend arbeits-marktpolitischen zu im weitesten Sinne innen-bzw. ordnungspolitischen Maßnahmen einher-gehende Verlagerung von Zuständigkeiten vomBundesarbeits- zum Bundesinnenministerium;

2. eine Tendenz zur Einbeziehung und Instru-mentalisierung der ganz anders gelagertenAsylthematik bei wachsender Abwehrpositiongegenüber dem Zuwanderungsdruck und Aus-bleiben der angekündigten Verbesserung derIntegrationsangebote durch eine Reform desAusländerrechts;

3. die schon im Vorfeld des Regierungswechselsbetriebene allgemeine Politisierung der Aus-länderthematik, auch um den Preis sachfrem-der, aber „öffentlichkeitswirksamer“, z. B. wahl-taktischer Instrumentalisierung.

Es gab aber auch ein wachsendes öffentliches Inte-resse an diesem stark politisierten Thema, das da-nach strebte, die Vertagung rechtspolitischer Ge-staltungsaufgaben zu beenden und zu verhindern,dass die Arena der Ausländerpolitik noch mehrzum Tummelplatz rechtsradikaler Demagogiewürde.

Im Frühjahr 1988 gelangte ein rund zweihundertSeiten starker, zweiteiliger Gesetzentwurf aus demBundesinnenministerium an die Öffentlichkeit.Sein erster Teil („Ausländerintegrationsgesetz“)enthielt Integrationsangebote, der zweite („Auslän-deraufenthaltsgesetz“) umfasste vor allem Abwehr-instrumentarien mit weiten Ermessensspielräumen.

Zunächst wurde die Existenz eines solchen Ent-wurfs bestritten; dann wurde seine Existenz bestä-tigt, aber seine Bedeutung („Referentenentwurf“)heruntergespielt; schließlich wurde er nach schärf-sten Protesten aus der Öffentlichkeit ganz zurück-gezogen. Das hatte wesentlich damit zu tun, dasssich in der Öffentlichkeit erstmals eine geschlosse-ne Front gegen die Ausländerpolitik des Bundesin-nenministeriums gebildet hatte – von den Kirchen,den Wohlfahrtsverbänden und den Ausländerbe-auftragten über die Gewerkschaften, die Bundes-vereinigung der Arbeitgeberverbände, in der Mi-grations- und Integrationsforschung engagierteWissenschaftler, Initiativgruppen, Medien und dieparlamentarische Opposition bis hinein in die Re-gierungsparteien, nämlich zur FDP und zum linkenFlügel der CDU. Nach der Kabinettsum-bildungspielte das Thema der Ausländerpolitik eine nichtzu übersehende Rolle beim Wechsel an der Spitzedes Bundesinnenministeriums von Friedrich Zim-mermann (CSU) zu Wolfgang Schäuble (CDU),der vordem Chef des Bundeskanzleramtes war.

Bundesweit wie ein Schock wirkten die zwar schonin einer längeren Trendlinie stehenden, aber inihren Größenordnungen doch überraschenden Er-folge rechtsradikaler Parteien bei den Wahlen zumBerliner Senat (29.1.1989) und in einigen Städtenbzw. Gemeinden bei den Kommunalwahlen inHessen (12.3.1989). Vor dem Hintergrund wach-sender Abwehrhaltungen hatten sie ihre Wahl-kämpfe um die Jahreswende 1988/89 wesentlichmit ausländer- bzw. fremdenfeindlichen Parolengeführt. Die Wahlergebnisse bestätigten die langeüberhörten Warnungen vor den Folgen einer Ver-tagung oder Verdrängung der in diesem gesell-schaftspolitischen Feld anstehenden Aufgaben. Fürdie Neugestaltung rechtspolitischer Handlungs-spielräume durch die Novellierung des Ausländer-rechts gründeten sich Hoffnungen auf den neuenBundesinnenminister. Der unter seiner Leitunggeradezu rasant vorbereitete Gesetzentwurf galtauch deshalb als besonders eilbedürftig, weil be-vorstehende Wahlen die absolute Mehrheit derUnion im Bundesrat in Frage stellen konnten, wasmit der Niedersachsenwahl am 13.5.1990 auchgeschah (Meier-Braun 1988, 68, 70; Bade 1994d,57-63).

Ergebnis des langen und am Schluss unter extre-mem Zeitdruck geführten Kampfes um die Rechts-reform war das am 26.4.1990 vom Bundestag be-schlossene und am 11.5.1990 vom Bundesrat be-stätigte neue Ausländergesetz, das am 1.1.1991 inKraft trat. Die Bestimmungen über Aufenthaltsver-festigung und Familiennachzug, über Rechtsan-sprüche der zweiten Generation und Einbürgerungboten Inländern ausländischer Staatsangehörigkeiterstmals eine Art legalen Einwandererstatus. Zu-gleich aber behandelte das neue Ausländergesetz

Erfolge vonrechtsradika-len Parteienmit fremden-feindlichenParolen

Breite Frontgegen die

Ausländerpo-litik des Bun-

desinnen-ministeriums

Streit umAusländerpo-litik in christ-lich-liberaler

Koalition

Neues Aus-ländergesetzvon 1991 setztmehr aufAssimilationals auf Inte-gration

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 41 – Drucksache 14/4357

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seine Adressaten mit einer Reihe von behörd-lichen Mitteilungs- und Überwachungsvorschriften(§§ 75, 76) nach wie vor als „potenzielle Gefahrfür die Gesellschaft“ und brachte darüber hinausauch Verschlechterungen in der Lage der Auslän-der: von der Verschärfung der nach wie vor relativunbestimmten Ausweisungsbefugnisse über die (ineiner Zeit knappen Wohnraumangebots besondersproblematische) Abhängigkeit der unbefristetenAufenthaltserlaubnis und der Aufenthaltsberechti-gung vom Nachweis ausreichenden Wohnraumsbis hin zu den weiten Ermessensspielräumen beider Verlängerung befristeter Aufenthaltserlaubnis-se. Für ausländische Jugendliche wurde es durchdas Gesetz im Grunde leichter, sich einbürgern zulassen, als unter Beibehaltung einer anderen Staats-angehörigkeit eine Aufenthaltsberechtigung zuerlangen. So betrachtet, stellte das Gesetz im Prin-zip mehr auf Assimilierung als auf Integration ab.Hinzu kam, dass es, als „typisches Juristengesetz“(Rittstieg), für den Laien wenig transparent und fürdie Betroffenen am schwersten verständlich war(Rittstieg 1991, 25f.)

Mit der Reform des Ausländerrechts von 1990/91begann im nunmehr vereinigten Deutschland diefünfte Phase der Ausländerpolitik (1990/91 - 98),die zunehmend geprägt wurde durch die Ende der1980er-Jahre einsetzenden starken Zuwanderun-gen, durch die hochkomplexe neue Einwande-rungssituation seit der deutschen Vereinigung unddurch die verstärkte öffentliche Wahrnehmung vonZuwanderung, Eingliederung und Minderheiten alsgesellschaftliche Problemfelder ersten Ranges(Kapitel III.2.3, III.3.2).

III.2.2 Arbeitswanderung und Auslän-derbeschäftigung in der DDR

Ausländerbeschäftigung gab es, anfangs mit Aus-bildungswanderung verbunden, auch in der DDR.Auslösendes Moment für die Anwerbung ausländi-scher Arbeitskräfte in der DDR war akuter Ar-beitskräftemangel, vor allem bedingt durch dieanhaltende Abwanderung in die BundesrepublikDeutschland bis zum Mauerbau 1961 und in ver-ringertem Umfang auch noch danach. Die Auslän-derbeschäftigung in der DDR lag zwar im Ver-gleich zur Bundesrepublik Deutschland deutlichniedriger. Mit einem Ausländeranteil von ca.1 Prozent an der erwerbstätigen Bevölkerung aberlag die DDR unter den Ländern des RGW (Rat fürgegenseitige Wirtschaftshilfe) dennoch an führen-der Stelle. Von den 1989 noch ca. 190.000 Auslän-dern in der DDR stellten die in DDR-BetriebenBeschäftigten die bei weitem stärkste Gruppe,unter ihnen am Vorabend der deutschen Einigung1989 noch ca. 59.000 Vietnamesen und ca. 15.000Mosambikaner. Die Ausländer arbeiteten in der

DDR – wie ehedem die „Gastarbeiter“ in der Bun-desrepublik Deutschland – zumeist in den vondeutschen Arbeitskräften am wenigsten geschätz-ten Beschäftigungsfeldern im unmittelbaren Pro-duktionsbereich unter härtesten Arbeitsbedingun-gen, z. B. zu drei Vierteln im Schichtdienst. Ein-wanderungsprobleme stellten sich im Zusammen-hang der Ausländerbeschäftigung nur im Falle der– seltenen – Eheschließungen zwischen „ausländi-schen Werktätigen“ und Bürgern bzw. Bürgerinnender DDR; denn die auf der Grundlage zwischen-staatlicher Vereinbarungen befristet zuwanderndenAusländer hatten nach Vertragsende in ihre Heimatzurückzukehren (Jasper 1991, 171, 179; Els-ner/Elsner 1994, 18; Bade 1994d, 178, 181-183;Ritterbusch 1998).

Die Arbeitsmigration in die DDR erfolgte imKontext der seit Mitte der 1960er-Jahre verstärktdiskutierten und auch praktizierten „Arbeitskräfte-kooperation“ innerhalb des Raumes des RGW (Ratfür gegenseitige Wirtschaftshilfe). Dabei wurde mitdem 1971 verabschiedeten „Komplexprogramm fürdie weitere Vertiefung und Vervollkommnung derZusammenarbeit und Entwicklung der sozialisti-schen ökonomischen Integration der Mitgliedslän-der des RGW“ erstmals eine offizielle Grundlagefür die „Arbeitskräftekooperation“ zwischen denRGW-Ländern geschaffen. Die Arbeits- und Le-bensbedingungen der ausländischen Arbeitskräfteund Auszubildenden waren für die Dauer ihresAufenthaltes in den meisten Bereichen über diebilateralen Regierungsvereinbarungen sowie in den„Rahmenrichtlinien“ vom 1.7.1980 geregelt. DerUmfang der getroffenen Regelungen zeigt, dass esfür sie praktisch keinen Lebensbereich gab, dernicht in irgendeiner Form reguliert bzw. kontrol-liert worden wäre. Das Ausländergesetz der DDRvom 28.6.1979 und die dazugehörige Ausländer-verordnung regelte die grundsätzlichen Fragen desAufenthaltes und des Rechtsstatus der ausländi-schen Bevölkerung während ihres Aufenthaltes inder DDR. Die dort formulierten rechtlichen Rah-menbedingungen blieben sehr grob: Einerseitswurde den in der DDR lebenden Ausländern, so-fern keine gesonderten Abkommen zu ausländer-rechtlichen Fragen mit einzelnen Herkunftsländernbestanden, die gleichen Rechte – ausgenommen diean die Staatsbürgerschaft gebundenen – wie DDR-Bürgern eingeräumt. Andererseits wurde festge-legt, dass die Genehmigung zum Aufenthalt in derDDR jederzeit ohne Begründung zeitlich und ört-lich beschränkt, versagt, entzogen oder für ungültigerklärt werden konnte (Jasper 1991, 151-153,174f.).

Darüber hinaus gab es Immobilisierungs- und Dis-ziplinierungsmaßnahmen: Die ausländischen Ar-beitskräfte waren z. B. in der Regel für die Dauerihres Aufenthalts in der DDR an einen Betrieb

In der DDRakuter Ar-beitskräf-

temangel alsMotiv der

AnwerbungausländischerArbeitskräfte

Arbeitsmigra-tion im Kon-text der „Ar-beitskräfteko-operation“innerhalb desRGW

Ausländerge-setz von 1979:Regelung desAufenthalts-und Rechts-status

Maßnahmenzur Stärkungder „Arbeits-disziplin“

Drucksache 14/4357 – 42 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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gebunden, ihr Kündigungsrecht war stark einge-schränkt. Der „Stärkung der Arbeitsdisziplin“diente die Drohung mit der Reduktion bzw. Ein-stellung der Zahlung einer Entschädigung für dieTrennung von der Familie. Für polnische Arbeits-kräfte z. B. wurde dieses „Trennungsgeld“ seit1973 gezahlt und für jeden Aufenthaltstag berech-net. Bei einmaligem unentschuldigtem Fehlen amArbeitsplatz wurde diese Zulage um 50 % gekürzt,bei zweimaligem unentschuldigtem Fernbleibenganz gestrichen. In den bilateralen Verträgen gabes ferner gruppenspezifische Vereinbarungen dar-über, ob und wieviel Geld anteilig vom Bruttover-dienst direkt an die Regierungen der Herkunftslän-der zu überweisen war, welcher Anteil des Ver-dienstes den Beschäftigten sofort und welcherihnen erst nach ihrer Rückkehr ausgezahlt werdensollte (Elsner/Elsner 1994, 57). Öffentliche Dis-kussionen über in der DDR lebende und arbeitendeAusländer und deren Probleme wurden von staatli-cher Seite konsequent unterdrückt, offizielle Do-kumente, Verträge etc. bis zur „Wende“ im Herbst1989 unter Verschluss gehalten. Aus diesen Grün-den gab es bis dahin, von Ausnahmen (z. B. Kir-chen) abgesehen, keine Lobby für die in der DDRlebenden Ausländer. Die ausländischen Beschäf-tigten und Ausbildungswanderer hatten, außer überAktivitäten im betrieblichen Rahmen, weder einMitspracherecht noch Mitentscheidungsmöglich-keiten in ausländerpolitischen Fragen. Eigene In-teressenvertretungen für Ausländer existiertennicht.

Familienzuwanderung gab es in diesem strengenRotationssystem nicht. Die ausländischen Arbeits-kräfte in der DDR kamen als einzelne Arbeitswan-derer. In den zwischenstaatlichen Vereinbarungenwar vor allem von jungen, ledigen Arbeitskräftendie Rede. Es gab auch direkt familienfeindlicheRegelungen, im Falle von Schwangerschaft z. B.die – prekär an ähnliche Bestimmungen in Arbeits-verträgen für die vorwiegend polnischen – auslän-dischen Arbeiterinnen auf ostelbischen Gütern vordem Ersten Weltkrieg erinnernde Alternative vonAbtreibung oder Abschiebung (Müggenburg 1996,18). Erst kurz vor der „Wende“ wurde diese Ver-einbarung modifiziert. Seitdem wurde es z. B.vietnamesischen Frauen in Ausnahmefällen ge-stattet, ihre Kinder in der DDR auszutragen – so-fern der Betrieb zustimmte. Sechs Wochen nachder Geburt hatten sie ihre Arbeit wieder aufzuneh-men – das Kind hatte Anspruch auf einen Krippen-platz – oder auszureisen (Jasper 1991, 179; Thomä-Venske 1990, 128).

Den „ausländischen Werktätigen“ gegenüber gabes in der DDR zwar administrativ geleitete, autori-täre „Betreuung“, aber insgesamt weniger sozialeIntegration und mehr staatlich verordnete sozialeSegregation. Sie wurden vielfach in separaten

Gemeinschaftsunterkünften einquartiert und damitauch sozial auf Distanz gehalten. Nähere Kontaktewaren genehmigungs- und berichtspflichtig. DieAbgrenzungen wurden als eine Art ostdeutsche„eigenen Form der Apartheid“ (Thierse) bzw. „Xe-nophobie hinter verschlossenen Türen“ (Schmalz-Jacobsen). Latente fremdenfeindliche Spannungensollten nach dem mit dem Zusammenbruch desSED-Regimes einhergehenden Ende der verordne-ten Sozialdisziplinierung offen zu Tage treten (Ba-de 1994d; Jasper 1991).

Die Einführung des kommunalen Wahlrechts fürAusländer im März 1989, das allen über 18-Jährigen nach einem sechsmonatigen Aufenthaltdas aktive und passive Wahlrecht auf kommunalerEbene einräumte, wirkt nach alledem auf den ers-ten Blick überraschend. Vor dem Hintergrund derzu dieser Zeit auch in der BundesrepublikDeutschland geführten Diskussion über die Einfüh-rung eines kommunalen Wahlrechts für Ausländer,die insgesamt äußerst kontrovers verlief, ist dessenEinführung in der DDR wohl auch im Kontext dernoch existierenden Systemkonkurrenz zu verste-hen. Die ausländerpolitische Diskussion in derDDR wurde im Kontext der politischen Ereignissezwischen der Grenzöffnung im Herbst 1989 undder Vereinigung im Herbst 1990 um so stärkerentfacht. In der Zeit bis zur Parlamentswahl(18.3.1990) war eine enorme Politisierung auslän-der- und eingliederungspolitischer Probleme querdurch alle politischen Lager in der DDR zu beob-achten. Die Frage, welche Richtung die Ausländer-politik der DDR in Zukunft nehmen würde, warabhängig davon, ob sich die politischen Kräftewürden durchsetzen können, die für eine eigen-ständige Verfassung plädierten und an einem ent-sprechenden Entwurf arbeiteten (Elsner/Elsner1994, 45).

III.2.3 Appellatives Dementi und prakti-sche Akzeptanz der Einwande-rungssituation im vereinigtenDeutschland

Während des Vereinigungsprozesses der beidendeutschen Staaten hatte mit der noch in der „alten“Bundesrepublik Deutschland 1990 verabschiedetenund 1991 in Kraft gesetzten Reform des Ausländer-rechts die fünfte Phase der Ausländerpolitik (1991/92-98) begonnen. Die zwischen Grenzöffnung undVereinigung angestrengten politischen Bemü-hungen, in einer neuen Verfassung der DDR u. a.eine Ausländerpolitik zu verankern, welche diespezifische Situation der in der DDR lebendenAusländer in angemessener Weise berücksichtigensollte, scheiterten. Der Vereinigungsprozess brach-te die Angleichung der Ausländerpolitik der ehe-

Familien-feindliche

Regelungen z.B. im Fall von

Schwanger-schaft

OstdeutscheVariante von„Apartheid“im Umgangmit ausländi-schen Arbeit-nehmern

Einführungdes Kommu-nalwahlrechts1989 im Kon-text der Sys-temkonkur-renz

Keine Lobbyfür die in der

DDR lebendenAusländer

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 43 – Drucksache 14/4357

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maligen DDR an diejenige der BundesrepublikDeutschland. Der Geltungsbereich des bundesdeut-schen Ausländer- und Asylrechts wurde auf dasGebiet der neuen Bundesländer ausgedehnt; dasneue Ausländergesetz trat dort am 1.1.1991 inKraft. In Folge der mit der Vereinigung einherge-henden politischen und wirtschaftlichen Umbruch-prozesse, die auch von zunehmender Ausländer-feindlichkeit begleitet wurden, wurde die sozialeSituation der ausländischen Bevölkerung in denneuen Bundesländern immer ungesicherter. Vielesahen sich gezwungen, in den informellen Sektorauszuweichen, wo sie zusätzlich den mit irregulä-ren Beschäftigungen verbundenen Risiken undGefährdungen ausgesetzt waren. Auch die Aktuali-sierung der Regierungsvereinbarungen mit Viet-nam, Mosambik und Angola, die den betroffenenArbeitskräften den Abschluss individueller Ar-beitsverträge ermöglichen sollte, führte letztlichnicht zu einer Verbesserung ihrer Lage. Zunächsterhielten die ausländischen Arbeitskräfte im Zugeder Umstellung der DDR-Aufenthaltstitel auf bun-desdeutsches Ausländerrecht Ende 1990 einezweckgebundene Aufenthaltsbewilligung. Im Mai1993 wurde durch die Bundesinnenministerkonfe-renz eine besondere Bleiberechtsregelung für dieseGruppe getroffen: Wer Arbeit hatte, bekam einezunächst auf zwei Jahre befristete Aufenthaltsbe-fugnis mit der Möglichkeit der Verlängerung. Ar-beitslose erhielten eine auf ein halbes Jahr befris-tete Duldung, um eine Stelle zu suchen. Im Juni1993 eröffnete das Bundesministerium für Arbeitund Sozialordnung den ehemaligen Vertragsarbeit-nehmern die Option einer besonderen Arbeitser-laubnis, sofern sie mit der allgemeinen Arbeitser-laubnis keine Stelle finden konnten (Mehrländer1995, 472). Dennoch waren sie die ersten Opferder vielschichtigen Veränderungsprozesse. Sofernsie im Zuge der Privatisierung ostdeutscher Betrie-be entlassen worden waren, stand ihnen eine un-gewisse Zukunft bevor, da die Konkurrenz auf demArbeitsmarkt zunahm und die Zahl der Erwerbs-losen stieg. Schätzungen aus dem Jahr 1994 gingendavon aus, dass nur noch ca. 10 – 15 % der ehema-ligen Vertragsarbeitnehmer über einen Arbeits-platz verfügten, obwohl z. B. die Gruppe der viet-namesischen Arbeitskräfte hohe schulische undberufliche Qualifikationen sowie Berufserfahrungaufwies (Bericht der Beauftragten 1994, 33; 1997,137).

Außerdem wurden die ehemals ausländerrechtlichverankerten, besonderen Zugeständnisse (z. B.Unterbringung, Verpflegung, Trennungsgeld, Ur-laubsflüge etc.) kontinuierlich abgebaut, währendsich die Lage auf dem Wohnungsmarkt zuspitzte.Die vietnamesischen Arbeitskräfte verloren z. B.drei Monate nach einer Kündigung ihr Wohnrechtin der Gemeinschaftsunterkunft ihres früherenBetriebes. Die Bleiberechtsregelung vom Juni 1993

führte für die Mehrheit der ehemaligen Vertragsar-beitnehmer nicht zu einem dauerhaften Aufent-haltsrecht, zumal die „Aufenthaltszeit in der DDRnicht als in der Bundesrepublik Deutschland ver-brachter Aufenthalt“ gewertet wurde (Bericht derBeauftragten 1997, 135f.). Für die noch inDeutschland lebenden Vietnamesen und Vietname-sinnen sank die Wahrscheinlichkeit, ein dauerhaf-tes bzw. langfristig gesichertes Bleiberecht zuerhalten, nach In-Kraft-Treten des zwischen derBundesrepublik Deutschland und der Sozialisti-schen Republik Vietnam geschlossenen „Rück-nahmeabkommens“ vom 21. September 1995 nochweiter. Besonders schwierig war die Situation deralleinerziehenden ehemaligen Vertragsarbeitneh-merinnen: Da ihnen lediglich eine Aufenthalts-befugnis erteilt wurde, erhielten sie weder Erzie-hungs- noch Kindergeld, während ihre Chan-cen, eine Stelle zu finden, angesichts der ange-spannten Lage auf dem Arbeitsmarkt sehr geringwaren.

Deutlich anders gestaltete sich die Lage der Fami-lien ausländischer Herkunft in den „alten“ Bundes-ländern, die sich im Verlauf der letzten vier Jahr-zehnte deutlich verbessert hat. Sie weist aber nachwie vor Merkmale auf, die auf eine spezifischeBenachteiligung dieser Familien hindeuten. Dasgilt nicht nur für Arbeits- und Beschäftigungssi-tuation, Bildungs- und Ausbildungssituation, Ein-kommens- und Wohnsituation, sondern auch fürrechtliche Rahmenbedingungen des Eingliede-rungsprozesses: Gemessen an den überwiegendlangen Aufenthaltszeiten der aus den ehemaligen„Anwerbeländern“ stammenden Bevölkerung bzw.daran, dass der Lebensmittelpunkt dieser Familienin der Bundesrepublik Deutschland liegt, ist derenAufenthaltsstatus vielfach noch immer nicht ent-sprechend verfestigt. Von den Ende 1996 inDeutschland lebenden 2,05 Mio. Personen türki-scher Staatsangehörigkeit verfügten von denen miteigenem Aufenthaltstitel z. B. nur 520.000 übereine Aufenthaltsberechtigung, während 535.000eine unbefristete und 271.000 eine befristete Auf-enthaltserlaubnis besaßen. Dabei lebten fast zweiDrittel (ca. 62 %) der Zuwanderer aus der Türkeibereits zehn Jahre und länger in der Bundesrepu-blik Deutschland. Die offensichtliche Diskrepanzzwischen Rechtsangeboten und deren Inanspruch-nahme wird auf die Unkenntnis der Rechtslagezurückgeführt. Insbesondere bei Zugehörigen derjüngeren Generation ist eine erhöhte subjektiveAufenthalts- bzw. Rechtsunsicherheit feststellbar.Sie verfügen in geringerem Ausmaß als ältereZuwanderer über eine unbefristete Aufenthaltser-laubnis oder eine Aufenthaltsberechtigung undmüssen ihre Aufenthaltsgenehmigung deshalbimmer wieder verlängern lassen. Neben den nega-tiven Auswirkungen auf die Lebensplanung wirddiese Situation als erhebliches Integrationshinder-

BesondereSituation dervietnamesi-schen Arbeit-nehmerinnenund Arbeit-nehmer

In alten Bun-desländerntrotz langjäh-riger Aufent-haltszeitennoch keinentsprechendverfestigterAufenthalts-status

Situation derausländischen

Bevölkerungin den neuen

Bundeslän-dern zuneh-

mend ungesi-cherter

Drucksache 14/4357 – 44 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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nis betrachtet (Bericht der Beauftragten 1997, 17f.;Mehrländer 1995, 377-389).

Nicht belangvoll für die Lage der Familien auslän-discher Herkunft im vereinigten Deutschland, weilauf kontingentierte und befristete individuelleArbeitswanderungen zielend, waren Bestimmun-gen über die begrenzte Zulassung von ausländi-schen Arbeitskräften im Rahmen des „Asylkom-promisses“ von 1992/93, die, 20 Jahre nach demAnwerbestopp von 1973, neue Formen der Ar-beitsmigration eröffneten. Die Rechtsgrundlageselbst änderte sich dabei nicht, denn auch zuvorschon hatte es einen bundeseinheitlichen „Aus-nahmekatalog“ (z. B. für Seelsorger, Tennistraineru. a.) gegeben. Die neuen Formen der Arbeitsmi-gration unterschieden sich deutlich von denjenigender „Anwerbephase“ 1955 - 73: Während die„Anwerbestoppausnahme-Verordnung“ die recht-liche Grundlage für eine partielle, auf einzelneWirtschaftsbranchen (z. B. Baubranche) be-schränkte Aufhebung des Anwerbestopps darstell-te, blieb der Anwerbestopp selbst im Grundsatzunangetastet. Den neuangeworbenen auslän-dischen Arbeitskräften („Werkvertragsarbeitneh-mer“, „Gastarbeitnehmer“, „Saisonarbeitnehmer“)wurde unter besonderen Voraussetzungen einebefristete Beschäftigung in deutschen Betriebengestattet. Auf diesem Wege sollte zum einen derzusätzliche Bedarf an Arbeitskräften in bestimmtenBereichen gedeckt werden. Zum anderen solltendiese Maßnahmen dazu beitragen, den prognosti-zierten neuen Migrationsdruck aus Mittel- undOsteuropa zu kanalisieren und dabei gleichzeitigder illegalen Beschäftigung ausländischer Arbeits-kräfte entgegenzuwirken. Zuwandern oder zurErwerbstätigkeit pendeln können in diesem Zu-sammenhang nur erwachsene Einzelpersonen (inder Regel mit abgeschlossener Berufsausbildung),nicht aber deren Familienangehörige (Bade 1994d,67; Lederer 1997, 249-266).

Trotz aller bis in die 1990er-Jahre hinein fortge-schriebenen Dementis der Einwanderungssituation(„Die Bundesrepublik ist kein Einwanderungs-land“) zeichnete sich in der BundesrepublikDeutschland in der Praxis langfristig ein Weg voneiner „diskontinuierlichen“ zu einer „kontinuierli-chen“ Integrationspolitik ab: Aufenthalts-, Arbeits-und Sozialrecht vermittelten Ausländern bei le-galer Partizipation am Arbeitsmarkt in diesemsozialstaatlichen „muddling through“ langfristignachgerade alle wirtschaftlichen und sozialenGrundrechte, EU-Ausländern auch die transnatio-nale Freizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt und daskommunale Ausländerwahlrecht (Faist 1998, 157f.;Bommes 1997, 267-274; 1996; Eichenhofer1998c). Insoweit gab es im Wohlfahrtsstaat Bun-desrepublik Deutschland ein „markt-orientiertes“Modell der Integration, das EG- bzw. EU-Bürger

bevorzugte und andere Ausländer benachteiligte,unter ihnen auch die stärkste der aus Arbeitswande-rungen hervorgegangene türkische Minderheit.Kontrapunkt der „marktorientierten“ Integrationwar ein einwanderungsfeindliches, einseitig amVererbungsprinzip (jus sanguinis) orientiertesStaatsangehörigkeitsrecht (Hoffmann 1990, 61-117; Oberndörfer 1993, 34-77). Die Einbürge-rungserleichterungen von 1990/91 änderten wenigdaran, dass selbst die Enkel von vor Jahrzehntenzugewanderten ausländischen Arbeitskräften undderen Familien in der Bundesrepublik Deutschlandzumeist „Ausländer“ blieben. Das benachteiligteAusländer aus EU-Drittländern, die am „marktori-entierten“ Integrationsmodell nur zum Teil – imFalle der Türkei bis zum EU-Assoziierungs-abkommen – beteiligt waren; denn für sie hatte dieEinbürgerung ein erheblich größeres Gewicht alsfür EG- bzw. EU-Bürger, die damit neben wenigenanderen Rechten im Grunde nur das politischeWahlrecht auf Bundes- und Landesebene erwarben(Eichenhofer 1998b, 2).

Hintergrund all dessen war die auch aus der Tabui-sierung der Einwanderungssituation (Bade 1994b,1994e) resultierende, mangelnde Bereitschaft zurEntwicklung langfristiger, transparenter und inte-graler, d. h. alle Einwanderergruppen umfassenderEingliederungskonzepte, die der eindringlichenWarnung des ersten Ausländerbeauftragten, HeinzKühn, Rechnung getragen hätten. Was man in derGegenwart nicht für die Integration aufwende,werde später unter Umständen für Resozialisierungund Polizei zu bezahlen sein. Während die gesell-schaftlichen „Kosten der Nichtintegration“ (v.Loeffelholz/Thränhardt 1996) deutlich wurden,blieb eine aktive, bewusst auf Partnerschaft in derEinwanderungssituation zielende Eingliederungs-politik anstelle von bloßer „Ausländerpolitik“ebenso aus wie die Etablierung entsprechenderInstitutionen. Das galt für die immer wieder blo-ckierte Diskussion um Einwanderungsgesetzge-bung und Einwanderungspolitik ebenso wie für dasschon frühzeitig in der Öffentlichkeit diskutierte„Bundesamt für Migration und Integration“ mitangeschlossenem – etwa dem Institut für Arbeits-markt- und Berufsforschung bei der Bundesanstaltfür Arbeit vergleichbarem – Forschungsinstitut, dasbegleitende wissenschaftliche Beobachtung undden Informationstransfer zwischen Wissenschaft,Verwaltung und Politik hätte erleichtern können.Das galt nicht nur für die Bundesebene, sondernauch für die Kommunikation auf der EG- bzw. EU-Ebene und mit den im europäischen Ausland zumTeil seit langem vorhandenen Institutionen einer-seits und für die Abstimmung mit entsprechendenInstitutionen auf Landesebene andererseits. DasKonzept wurde von der Ausländerbeauftragten derBundesregierung Liselotte Funcke (1981 - 1991)übernommen und um den Vorschlag einer „Ständi-

Bevorzugungvon EU-Bürgern,Benachteili-gung vonBürgernandererLänder

„Markt-orientiertes“Integrations-modell

PragmatischeIntegrati-

onspolitik undpolitisches

Dementi derEinwande-

rungssituation

Fehlen einerInstitution fürden Informa-tionstransferzwischenWissenschaft,Verwaltungund Politik

Gesellschaftli-che Kostenvon „Nicht-Integration“

Neue Formender Arbeits-

migration imRahmen des

„Asylkom-promisses“

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45 – Drucksache 14/4357

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gen Kommission für Migration und Integration“ergänzt (Bade 1983, 121-124; 1991, 20f.; Beauf-tragte der Bundesregierung 1990, 307-316). Esüberlebte als unerfüllte Forderung den Rücktritt derzweiten Ausländerbeauftragten im Protest gegendie Konzeptionslosigkeit der bundesdeutschenMigrations- und Integrationspolitik 1991 ebensowie das Ende der Amtszeit ihrer NachfolgerinCornelia Schmalz-Jacobsen (1991 - 1998), diediese Forderung ausdrücklich nochmals in ihrerletzten Erklärung zum Ausscheiden aus dem Amtim August 1998 in den Vordergrund rückte(Schmalz-Jacobsen u. a. 1993, 269-289; Memoran-dum der Beauftragten 1998, 16f.; Bade 1999). Esgibt zwar ein „teilweise mit Hilfe komplizierterAuslegung“ aus dem Ausländergesetz und dendazugehörigen Verordnungen ableitbares „abge-stuftes und in sich geschlossenes Zuwanderungs-konzept“, das sich in seinen Finessen ausländer-rechtlich spezialisierten Juristen, nicht aber recht-lich unqualifizierten Bürgern und erst rechtnicht potenziellen Einwanderungsinteressentenerschließt (Renner 1999).

Es gab indes nicht nur ein ambivalentes De-facto-Einwanderungsland mit integrativer Wohlfahrts-praxis und exklusivem Staatsangehörigkeitsrecht.Es gab weithin auch eine in Einwanderungsfragenambivalente ausländische Wohnbevölkerung. DasAusbleiben von langfristigen und integralen Ein-gliederungskonzepten, das für die deutsche Seiteeine Gestaltungsfrage war, wurde für die schonlange ansässigen Familien der Pionierwanderer undbesonders für die in Deutschland geborene oderaufgewachsene zweite Generation zu einer durchmancherlei Irritationen und mentale Verletzungengezeichneten Lebensfrage. Die ehemalige „Gastar-beiterbevölkerung“ war, ähnlich wie das Aufnah-meland, sukzessive in eine echte Einwanderungs-situation hineingewachsen, ohne dass viele dieseHerausforderung an die individuelle und familiäreLebensplanung im Sinne einer Pro-/Contra-Ent-scheidung verstanden hätten. Diese ambivalenteHaltung wurde bestärkt durch die defensive Hal-tung der Politik des Aufnahmelandes, das sichlange gegen die formelle Akzeptanz dieser Ein-wanderungssituation sperrte und appellativ daraufbeharrte, „kein Einwanderungsland“ zu sein. Daserschwerte vielen Ausländern die Entscheidunggegen ihre bisherige Staatsangehörigkeit als Vor-aussetzung der Einbürgerung. Besonders bei derAusländerbevölkerung aus EU-Drittstaaten mitlangjährigem, in den 1990er-Jahren oft schon dreiGenerationen übergreifendem Daueraufenthaltentstanden in dieser künstlich offen gehaltenenEinwanderungssituation teils Doppelloyalitäten,teils transnationale bzw. transkulturelle Identitäten(Pries 1999b; Faist 1999; Glick-Schiller u. a. 1999;Todd 1998, 213-263). Sie hätten durch aktiveEingliederungspolitik mit integralen Konzepten

und/oder durch die Hinnahme der doppeltenStaatsangehörigkeit aufgefangen werden können,die indes auf Ausnahmen in Härtefällen beschränktblieb. Der rechtlichen Akzeptanz der Einwande-rungssituation durch eine begrenzte Reform desStaatsangehörigkeitsrechts in Gestalt der Imple-mentierung von Grundelementen des Territori-alprinzips (jus soli) standen noch bis zum Ende der1990er-Jahre weit in die deutsche Ideen- undRechtsgeschichte zurückreichende ethno-nationaleDenktraditionen im Wege. Hinzu kam die ge-schichtsfremde Vorstellung, dass Staatsangehörig-keit erst nach einem „abgeschlossenen“ Integrati-onsprozess verliehen werden dürfe, wozu auch dieDeutschen etwa in den Vereinigten Staaten oftmehr als eine ganze Generation gebraucht hatten(Kamphoefner 1995).

Gegen Ende des Berichtszeitraums (1998) begannnach dem Wechsel von der CDU/CSU-FDP-Koalition zur Koalition von SPD-Bündnis 90/DieGrünen nach den Wahlen vom September 1998 diesechste Phase der Ausländerpolitik mit der Auf-nahme der Reform des Staatsangehörigkeitsrechtsals Gestaltungsauftrag in die Koalitionsvereinba-rung der neuen „rot-grünen“ Bundesregierung. Esging um die Implementierung von Elementen einesbedingten Territorialprinzips (jus soli) in den bis-lang einseitig am Vererbungsprinzip (jus sanguinis)orientierten Kontext des Staatsangehörigkeitsrechtsund damit eine nicht nur in der Rechtsgeschichte,sondern zweifelsohne auch für das nationaleSelbstverständnis der Deutschen gravierende Ver-änderung durch die staatsangehörigkeitsrechtlicheAnerkennung der Einwanderungssituation. AmEnde stand 1999, jenseits des Berichtszeitraums,die Verabschiedung der Gesetzesänderung in Bun-destag und Bundesrat, die vorab im Sinne desFDP-Entwurfs abgeändert und in seinen Gestal-tungsperspektiven reduziert worden war. Das warnotwendig geworden nach der Landtagswahl inHessen im Februar 1999, bei der die neue Koalitiondie absolute Mehrheit im Bundesrat verlor. Ent-scheidend für den Wahlausgang war zweifelsohneauch der massive Widerstand der christlich-konservativen Opposition gegen den Gesetzent-wurf mit Hilfe einer gewaltigen Kampagne in deraußerparlamentarischen Öffentlichkeit, die zu 5 Millionen Namen tragenden Unterschriftenlistenführte. Das zeigte, dass ethno-nationales Denkendurch Gesetzesänderungen allein nicht zu verän-dern ist. Das sprach nicht zuletzt aus der bemer-kenswerten Frage, mit der sich viele Bürger nachden Listen erkundigten: „Wo kann ich hier gegenAusländer unterschreiben?“ Das ist die eine Seite.

Auf der anderen Seite steht die Tatsache, dass dieReform eines Gesetzes aus irritierten Einwanderernnicht notwendig glückliche Deutsche macht: Ineiner lange künstlich offen gehaltenen Einwande-

AmbivalenteHaltungen derEinwanderer-

bevölkerung

Ausbildungvon Doppel-loyalitäten,

transnationa-le, transkultu-relle Identitä-

tenEthno-nationaleEmotionengegen Geset-zesänderung

Rechtsreformallein ist zuwenig

Drucksache 14/4357 – 46 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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rungssituation haben sich zum Teil die erwähntenDoppelloyalitäten, transnationalen und transkultu-rellen Identitäten herausgebildet. Sie sind in Ein-wanderungsprozessen, zumal in der ersten Genera-tion nicht selten, entsprechen aber in einiger Hin-sicht auch einem generellen Wandel in den Menta-litäten von Zuwanderern und Familien ausländi-scher Herkunft. In Deutschland wurden sie zusätz-lich stabilisiert durch eine Kette von Zurückwei-sungen im Einwanderungsprozess. Das hat beivielen Familien ausländischer Herkunft kollektivementale Verletzungen erzeugt, die heute nicht mehrdurch bloßen Passwechsel zu korrigieren sind,anders gewendet: Man wirft die Papiere nicht weg,auf die man von der Aufnahmegesellschaft zur„Förderung der Rückkehrbereitschaft“ lange zu-rückverwiesen wurde, nur weil es nun leichtergeworden ist, deutsche zu bekommen. Die Ge-schichte des Einwanderungslandes wider Willenund seiner mitunter auch deshalb widerwilligenEinwanderer hat hier einen langen Schatten. Eswird entscheidend darauf ankommen, auf beidenSeiten, d. h. bei der Einwanderergesellschaft, aberauch bei der Mehrheitsgesellschaft, um ein höheresMaß an Akzeptanz und um klarere Optionen fürdie Einwanderungssituation zu werben, deren ge-sellschaftspolitische Bedeutung durch die Bann-formel, die Bundesrepublik Deutschland sei keinEinwanderungsland, zu lange verdunkelt wordenist (Bade 2000).

III.3 Flüchtlinge und Asylsuchende

III.3.1 Flüchtlinge und Asylsuchende imKalten Krieg

Die Entwicklung der Flüchtlings- und Asylpolitikund die davon unmittelbar abhängige Lage derFlüchtlinge und Asylsuchenden und ihrer Familienwaren in den beiden deutschen Staaten zum Teilebenso unterschiedlich wie diejenige der Auslän-derpolitik und Ausländerbeschäftigung.

III.3.1.1 Bundesrepublik Deutschlandbis 1990

Die Gruppe der Flüchtlinge und Asylsuchendenumfasst in der Bundesrepublik Deutschland mehre-re Statusgruppen: Asylsuchende im Verfahren,Asylberechtigte, Konventionsflüchtlinge, Kontin-gentflüchtlinge, Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlin-ge sowie De-facto-Flüchtlinge. Der Rechtsstatuswird, abgesehen von Kontingent- sowie Kriegs-und Bürgerkriegsflüchtlingen, erst nach der Einrei-se individuell geklärt. Die sozialen Partizipations-chancen sind von diesem Rechtsstatus abhängig.Bis zum In-Kraft-Treten des neuen Ausländerge-

setzes am 1.1.1991 mussten Familienangehörigevon Flüchtlingen und Asylsuchenden noch eigen-ständige Flucht- bzw. Asylgründe geltend machen.Aufgrund dieser Rechtsvorschrift konnte es vor-kommen, dass den Familienmitgliedern ein unter-schiedlicher Rechtsstatus bzw. nicht allen Famili-enmitgliedern ein Bleiberecht in der Bundesrepu-blik Deutschland gewährt wurde. Spezifische Ein-gliederungskonzepte für Flüchtlinge und Asylsu-chende als Gruppe gibt es nicht, weil die Eingliede-rung von Flüchtlingen, Asylsuchenden und derenFamilien insgesamt nicht als politische Aufgabeverstanden wird. Das ist insofern prekär, als nichtetwa nur die kleine Gruppe der – oft nach langerVerfahrensdauer – im Sinne des Grundgesetzes (ca.5 %) oder der Genfer Flüchtlingskonvention (ca.5 %) anerkannten Asylberechtigten, sondern einebei weitem größere Zahl von Flüchtlingen undAsylsuchenden für längere Zeit, zum Teil auch aufDauer im Lande blieb. Sie zählten zwar nicht imengeren Sinne von Art. 16 GG bzw. Art. 16a GG(seit 1993) als „politisch Verfolgte“, mussten aberaus anderen Gründen als Flüchtlinge anerkanntbzw. aus humanitären und anderen Gründen (z. B.Staatenlosigkeit, Drohung von Tod oder Folter)geduldet werden. Die Entwicklung von einemoffenen zu einem restriktiven Asylrecht in derBundesrepublik Deutschland hatte mit der Zeit derEntstehung des Grundgesetzes auf Asyl, mit demBegriff des „politischen Flüchtlings“ und mit un-vorhergesehenen Entwicklungen in der Zuwande-rung von Flüchtlingen und Asylsuchenden zu tun(Lederer 1997, 267ff.; Bericht der Beauftragten1997, 154-157; Bade 1994d, 285-287).

Falsch wäre jedoch die Annahme, dass in den Jah-ren nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mit massen-haften Fluchtbewegungen gerechnet worden wäre,zumal entsprechende Bewegungen zur aktuellenZeiterfahrung gehörten. Das galt auch für die Dis-kussion um das bald berühmte, 1993 scharf einge-schränkte deutsche Asylrecht, das nur aus vierWorten bestand, die allen politisch Verfolgteneinen Rechtsanspruch auf Inlandsaufenthalt bis zurabschließenden Prüfung ihrer Asylanträge garan-tierten sollten: „Politisch Verfolgte genießen Asyl-recht.“ Das war die Antwort der westdeutschenNachkriegspolitik auf die Erfahrung der Aufnahme– aber auch Nicht-Aufnahme – von durch das NS-Regime Verfolgten im Ausland 1933-1945. In derDiskussion um die Formulierung dieses Grund-rechts warnten schon 1948/49 einzelne Mitgliederdes Parlamentarischen Rates vor Massenfluchtbe-wegungen. In diesem Zusammenhang war sogarerstmals von „Wirtschaftsflüchtlingen“ die Rede –gemeint waren damit Zuwanderer aus der Sowjeti-schen Besatzungszone. Auf Einschränkungen desAsylrechts wurde trotzdem ausdrücklich verzichtet,weil jede zusätzliche Bestimmung als zu vermei-

Klärung desindividuell

unterschiedli-chen Rechts-

status nachEinreise

Asylrecht alsAntwort aufNS-Zeit

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47 – Drucksache 14/4357

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dende Einschränkung verstanden wurde (Bade1994d, 91-146; Münch 1993).

In der Bundesrepublik Deutschland lagen in den1950er- und 1960er-Jahren die Zahlen der jährli-chen Asylgesuche relativ niedrig, abgesehen vonden Fluchtbewegungen nach der Niederschlagungder Erhebungen in Ungarn und Polen 1956 und des„Prager Frühlings“ 1968. Bis Anfang der 1970er-Jahre stammten die meisten Asylanträge vonFlüchtlingen aus dem „Ostblock“. Ihre Aufnahmegalt als humanitäre Aufgabe und hatte zugleicheine politisch-ideologische Legitimationsfunktion:Ost-West-Flüchtlinge waren willkommene Votan-ten bei der Abstimmung mit den Füßen im Wett-streit der Systeme. Die Kehrseite der Ost-West-Werteskala der Flüchtlingsakzeptanz im KaltenKrieg war der Ausschluss von verfolgten sozialisti-schen Flüchtlingen im Westen. Das zeigte sich inder Bundesrepublik Deutschland im Jahr des An-werbestopps 1973, das zugleich das Jahr des Mili-tärputsches gegen den Sozialismus in Chile war:Überlegungen der sozialliberalen Bundesregierung,sozialistische Flüchtlinge aus Chile aufzunehmen,veranlassten eine von der CDU/CSU-Oppositiongeführte politische Kampagne gegen die als kom-munistische Terroristen bezichtigten Chilenen, vondenen umgekehrt etwa 2.000 in der DDR aufge-nommen und mit besonderen Eingliederungshilfenversorgt wurden (Elsner/Elsner 1992, 30f.; 1994,21f.).

Seit dieser Kampagne gegen die chilenischenFlüchtlinge gehörte die politische Verdächtigungpolitischer Flüchtlinge zum Asyldiskurs in West-deutschland. Hinzu kam, insbesondere gegenüberFlüchtlingen aus der „Dritten Welt“, die zuneh-mende Unterstellung wirtschaftlicher bzw. sozialerund nur vorgetäuschter politischer Fluchtgründe.Mit der von den Medien übernommenen Abwer-tung von Flüchtlingen und Asylsuchenden zu„Asylanten“ wurde in der politischen Semantik einfremdenfeindlicher Kampfbegriff geprägt, dessensystematischer Gebrauch ihn schließlich zu einemLeitbegriff der politischen Debatte werden ließ(Link 1992; 1993; Meyer 1997; Prantl 1993).

Beim Anstieg der Zahl von Asylgesuchen in derBundesrepublik Deutschland und bei den wachsen-den Abwehrreaktionen dagegen muss zweierleibeachtet werden: Von wenigen Ausnahmen beiFach- und Führungskräften sowie in Mangelberu-fen abgesehen, gab es vom Jahr des Anwerbe-stopps 1973 bis zur Einführung von Sonderrege-lungen für bestimmte Arbeitnehmergruppen ausOsteuropa 1993 legale Wege in die BundesrepublikDeutschland nur mehr für Ausbildungszwecke,Familiennachzug und Besuchsreisen sowie fürTouristen – oder aber eben für Asylbewerber.Wachsende Arbeitslosenzahlen verschärften öko-

nomische und soziale Ängste. Konkurrenzsorgengegenüber Flüchtlingen waren zwar unbegründet,weil es ein – seit der Asylnovelle 1987 fünfjähri-ges, d. h. in aller Regel das gesamte Asylverfahrenumschließendes – Arbeitsverbot für Asylsuchendeund auch nach dessen Aufhebung 1991 einen kla-ren Inländerprimat gab. Ängste und xenophobeAggressionen nahmen dennoch latent zu. Sie wur-den in der Diskussion um Missbrauch und Ein-schränkung des Asylrechts wach gehalten durchbesonders in Wahlkämpfen immer wieder aufflam-mende, von einem Teil der Medien gestützte politi-sche Kampagnen gegen „Scheinasylanten“ und„Wirtschaftsflüchtlinge“, vor allem aus der „Drit-ten Welt“.

In der Entwicklung des deutschen Asylrechts gabes in den 1970er-Jahren eine entscheidende defen-sive und restriktive Wende, die den Verfassungs-grundsatz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“aushöhlte: Der zentrale Begriff der „politischenVerfolgung“ wurde durch eine „asylfeindlicheRechtsprechung“ (Marx) immer weiter verengt und1977 verschoben von den Fluchtmotiven des Ver-folgten, nämlich der erlittenen oder befürchtetenVerfolgung, zu den Gründen, aus denen der Ver-folgerstaat die Verfolgung betrieb. So war z. B.Folter als Strafe für die gewaltlose Inanspruch-nahme verbotener demokratischer Grundrechte ineinem Verfolgerstaat, in dem die Tortur als Strafeoder Verhörinstrument üblich war, keine „politi-sche“ Verfolgung und deshalb auch kein Grundmehr für Asyl in der Bundesrepublik Deutschland(Marx 1988, 155).

Im Jahr des Anwerbestopps 1973 hatte es insge-samt 4.792 Anträge für 5.595 Personen gegeben.Die Zahl der Anträge verdoppelte sich zwar schonim Folgejahr, blieb dann aber bis 1976 mit 8.854Anträgen für 11.125 Personen noch annähernd aufgleichem Niveau. Seit dem letzten Drittel der1970er-Jahre stieg die Zahl der Asylgesuche deut-lich an. Der Flüchtlingszustrom stammte nun nichtmehr vornehmlich aus den „Ostblockstaaten“,sondern aus der „Dritten Welt“. Er war in seinenSchwankungen abhängig von dem Wechsel derKrisensituationen dort. Das war ein Beweis dafür,dass die Flucht nach Deutschland nicht – wie in derAnti-Asyl-Agitation stereotyp behauptet – nur vonder wirtschaftlichen Anziehungskraft des europäi-schen Hauptziellandes, sondern vorwiegend vonder Schubkraft der Probleme in den Herkunftslän-dern angetrieben wurde. Deshalb auch sprach ausdem bald ausbrechenden Kampf gegen „Wirt-schaftsflüchtlinge“ durch Verringerung der„Fluchtanreize“ eine in ihrem einseitigen Ansatzvon Anbeginn fragwürdige Perspektive. Hinzukam, dass das Ergebnis, die vermeintlich abschrek-kende Verschlechterung der Lebensbedingungenfür Asylsuchende, meist die Falschen traf, nämlich

„Asylant“ alsfremdenfeind-licher Kampf-

begriff

„PolitischeKampagnen

gegen„Scheinasy-lanten“ und

„Wirtschafts-flüchtlinge“

Verlagerungder Flücht-lingszuwande-rung vonOsteuropa zuDritte-Welt-Staaten

Bis Anfangder 70er-

JahreMehrheit von

Asylsuchen-den aus dem

„Ostblock

Drucksache 14/4357 – 48 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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„echte“ Flüchtlinge, während Asylbetrüger,Schleuser, Schlepper und Menschenhändler durchsolche Manöver wenig zu beeindrucken waren.

Die statistische Kurve der Asylgesuche stieg inWestdeutschland über 28.223 Anträge für 33.136Personen (1978) und 41.953 Anträge für 51.493Personen (1979) auf den damaligen Höchststandvon 92.918 Anträgen für 107.818 Personen imWahljahr 1980. Das entsprach fast zwei Drittelnaller Asylgesuche in Europa in diesem Jahr (ca.150.000). Auch weiterhin wurden in Europa mitgroßem Abstand die meisten Asylanträge in derBundesrepublik Deutschland gestellt, wo 1984 -1993 (ohne Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge)mehr als 1,7 Millionen Asylanträge gezählt wur-den, gefolgt von Frankreich mit ca. 356.000 undSchweden mit ca. 288.000 Anträgen im gleichenZeitraum (Santel 1995, 101-106). Vor dem Hinter-grund von Wirtschaftskrise, steigenden Arbeitslo-senzahlen, Entdeckung der Einwanderungssituationhinter der „Gastarbeiterfrage“ und Anstieg derjährlichen Asylgesuche über die magische Schwel-le von 100.000 im Jahr 1980 wurden die Skandali-sierung des „Asylmissbrauchs“ und Forderungennach „Beschleunigung der Asylverfahren“ bzw.„konsequenter Abschiebung“ abgelehnter Asylbe-werber zu zentralen Wahlkampfthemen. Die ein-mal geschaffene Stimmung hielt an, Argumenteerstarrten zu Stereotypen. Selbst bei dem starkenRückgang der Asylgesuche Anfang der 1980er-Jahre redeten Politiker weiter von der „anhaltendenFlut von Scheinasylanten und Wirtschaftsflüchtlin-gen“ (Uihlein/Weber 1989, 15; Deutscher Bun-destag 1982, 4897; Bade 1994d, 101).

Dass die Zahlen der Asylanträge Anfang der1980er-Jahre wieder steil abfielen – auf 16.335Anträge für 19.737 Personen im Jahr 1983 – hattewesentlich mit im Juni 1980 von der Bundesregie-rung beschlossenen Abwehrmaßnahmen gegenFlüchtlinge aus der „Dritten Welt“ zu tun, insbe-sondere mit der Einführung besonderer Kontroll-vermerke für eine Reihe von Hauptherkunftslän-dern. „Asylpolitik“ wurde immer mehr Ausdruckdes Bestrebens, Personen, die im Verdacht standen,Asylanträge stellen zu wollen, den Weg nachDeutschland zu verstellen. Die nach der politischenEntdeckung der wanderungsbestimmenden Kraftvon Kettenwanderungen und Migrationsnetzwer-ken in den 1980er-Jahren zunehmenden Versuche,den Übergang von Fluchtwanderungen in Ketten-wanderungen aus bestimmten Ländern sogleich mitverschärften Restriktionen zu bremsen, erinnertenmitunter an Methoden der vorbeugenden Seuchen-bekämpfung. Als Gegenbild zum edlen, heroi-schen, aber fiktiven politischen Flüchtling entstanddas Stereotyp des misstrauisch beargwöhnten„Scheinasylanten“ und „Asylbetrügers“, obgleichgerade die Anpassungszwänge in den an jenem

politischen Idealbild des Flüchtlings orientiertenAsylverfahren echte Flüchtlinge oft zu Notlügennötigten, um in das vorgegebene Bild des vomStaat individuell politisch Verfolgten zu passen.

Seit Mitte der 1980er-Jahre stiegen die Zahlen derAsylgesuche in Westdeutschland wieder zügig anund lagen 1986 bei 67.429 Anträgen für 99.669Personen. Gründe für den starken Anstieg im Jahr1986 waren die Verfolgung der tamilischen Min-derheit in Sri Lanka und die allgemeine Zunahmevon Krisen und bürgerkriegsähnlichen Zuständenin vielen Länder der „Dritten Welt“. Hinzu kamenwachsende Aktivitäten von Schlepperorganisatio-nen über das „Einfallstor“ des Ostberliner Flugha-fens Schönefeld und die verstärkte Einreise vontürkischen Asylbewerbern unter Umgehung derRichtlinien für den Familiennachzug und Hinwei-sen auf Verfolgungstatbestände in der Türkei.Defensive Steuerungsmaßnahmen drückten dieKurve der Asylanträge schon 1987 wieder nachunten. Sie reichten von der Sperre der Einreisewe-ge über die DDR und Ost-Berlin durch die Einfüh-rung von Anschlussvisa seit Oktober 1986 bis zurAsylrechtsnovelle vom Januar 1987 mit restrikti-ven Visavorschriften für Reisende aus neun afrika-nischen und asiatischen Ländern. Dass die An-tragszahlen in Westdeutschland seit Ende der1980er-Jahre erneut scharf anstiegen und dann imvereinigten Deutschland Anfang der 1990er-Jahregeradezu explodierten, hatte vor allem mit demFall des Eisernen Vorhangs und mit der Kri-senentwicklung in Osteuropa zu tun. Beides setzte,zusammen mit den Abwehrmaßnahmen gegenFlüchtlinge aus der „Dritten Welt“, eine gravieren-de Gewichtsverlagerung zwischen europäischenund außereuropäischen Flüchtlingen in Gang (Ka-pitel III.3.2).

III.3.1.2 DDR bis 1990Auch in der DDR war das Asylrecht in der Verfas-sung verankert: Die Wahrung und Aufrechterhal-tung der „Völkerfreundschaft“ war in der Verfas-sung der DDR von 1949 zur Pflicht der Staatsge-walt erklärt worden. Die „Bekundung von Glau-bens-, Rassen-, Völkerhass, militärische Propagan-da sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlun-gen, die sich gegen die Gleichberechtigung rich-ten“, wurden als verbrecherisch bezeichnet. BeideGrundsätze wurden in der Verfassung von 1968/1974 übernommen. Auch die Asylgewährung wur-de in der Verfassung von 1949 bzw. in denen von1968/1974 festgeschrieben und verankert. Wederausgewiesen noch ausgeliefert werden durftendemnach Personen, „wenn sie wegen ihres Kamp-fes für die in dieser Verfassung niedergelegtenGrundsätze im Ausland verfolgt werden“ (Art. 10Verfassung 1949). Nach der Verfassung von1968/1974 (Art. 23) konnte Bürgern anderer

Der wande-rungsbestim-

menden Kraftvon Ketten-wanderung

und Migrati-onsnetzwer-

ken wird mitverschärften

Restriktionenbegegnet

Nach Fall desEisernenVorhangsGewichtsver-lagerung hinzu Flüchtlin-gen aus Ost-europa

Asylrecht imSinne derVölkerfreund-schaft inDDR-Verfas-sung veran-kert

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 49 – Drucksache 14/4357

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Staaten oder Staatenlosen Asyl gewährt werden,„wenn sie wegen politischer, wissenschaftlicheroder kultureller Tätigkeit zur Verteidigung desFriedens, der Demokratie, der Interessen deswerktätigen Volkes oder wegen ihrer Teilnahmeam sozialen und nationalen Befreiungskampf ver-folgt wurden“. Im Ausländergesetz von 1979 wur-de festgelegt, dass ausschließlich der Ministerratüber die Asylgewährung und Anerkennung zuentscheiden hatte (Elsner 1990, 157; Ritterbusch).

Von der Staatsgründung 1949 bis Mitte der1970er-Jahre wurden vor allem Flüchtlinge ausGriechenland, Spanien und Chile in der DDR auf-genommen: Bei den griechischen Flüchtlingen, dieseit Mitte 1949 in der DDR aufgenommen wurden,handelte es sich hauptsächlich um Kinder (6-10Jahre) und Jugendliche (15-20 Jahre), deren Elternals Kommunisten oder Partisanen während undnach dem Bürgerkrieg Opfer politischer Verfol-gung geworden waren, sowie um Lehrer undFunktionäre demokratischer Jugendorganisationen.1961 lebten 980 Erwachsene und 337 griechischeKinder in der DDR, von denen viele das 1950 inDresden-Radebeul geschaffene Heimkombinat„Freies Griechenland“ durchlaufen hatten. Auchandere sozialistische Staaten hatten Flüchtlinge ausGriechenland aufgenommen (die Gesamtzahl der insozialistische Länder des ehemaligen „Ostblocks“geflüchteten Griechen wird auf 60-100.000 ge-schätzt). Deshalb gab es für die in der DDR Le-benden die Möglichkeit der Familienzusammen-führung, sodass die Gesamtgröße dieser Gruppenicht konstant blieb. Die griechischen Flüchtlingelebten in der DDR überwiegend in den BezirkenDresden, Karl-Marx-Stadt und Leipzig, wobei dieKinder und Jugendlichen in Familien oder Waisen-häusern aufwuchsen. Auf deren Schul- und Berufs-ausbildung wurde von der DDR-Regierung großerWert gelegt, da sie z. T. nur geringe Schulkenntnis-se mitbrachten. Während ihres Aufenthalts wurdendie griechischen Flüchtlinge vollständig in dasSystem der schulischen und beruflichen Ausbil-dung integriert und arbeiteten dann hauptsächlichin der Produktion. Seit Mitte der 1970er-Jahrewurden die Flüchtlinge von der griechischen KPund dem Komitee „Freies Griechenland“ auf dieRückkehr vorbereitet. Die DDR unterstützte dieseBestrebungen politisch und finanziell. Ein Großteilder griechischen Flüchtlinge kehrte deshalb seitMitte der 1970er-Jahre zurück. Statistischen Anga-ben zufolge lebten am 31.12.1989 noch 482 Perso-nen griechischer Staatsangehörigkeit in der DDR(Polm 1997, 63; Elsner/Elsner 1994, 20f. u. Tab. 2,78; 1992, 29).

Die spanischen Flüchtlinge in der DDR warenzumeist aus Frankreich ausgewiesene Antifaschi-sten, die nach dem Ende des spanischen Bürger-kriegs 1939 mehrheitlich ihr Herkunftsland hatten

verlassen müssen. Sie wurden zusammen mit ihrenFamilienangehörigen aufgenommen und haupt-sächlich in Dresden, wenige auch in Berlin, unter-gebracht. Ihre wirtschaftliche und berufliche Inte-gration scheint sich schwieriger gestaltet zu haben,was teils auf die nur als vorübergehend gedachteAufnahme, teils auf die möglicherweise damitzusammenhängende mangelnde Akzeptanz berufli-cher Qualifikationsmaßnahmen bei den Flüchtlin-gen zurückgeführt wird. Die spanische KP wirktedarauf hin, dass die Flüchtlinge, sofern möglich,nach Spanien zurückkehren sollten. Aus diesemGrund wurde die Annahme der Staatsbürgerschaftder DDR als nicht zweckmäßig erachtet. Hinsicht-lich der Größe und Zusammensetzung dieserGruppe gibt es insgesamt nur unzureichende An-gaben, die sich ferner nur auf die Jahre 1950, 1952und 1954 beziehen. In der Statistik über die aus-ländische Wohnbevölkerung in der DDR am31.12.1989 erscheint die Gruppe der spanischenFlüchtlinge nicht mehr (Elsner/Elsner 1994, 21;1992, 30).

Eine größere Gruppe von Flüchtlingen aus Chilewurde nach dem Sturz der Regierung Allende, derErmordung des Präsidenten und der Errichtung derMilitärdiktatur in Chile im September 1973 vonder DDR aufgenommen. Mitte 1974 befanden sichinsgesamt 945 Chilenen, darunter 338 Kinder inder DDR. Insgesamt wird von ca. 2.000 Chilenengesprochen, die als politische Flüchtlinge in derDDR Aufnahme fanden. Etwa 110 Personen reistenin andere Länder weiter. Nach vorübergehendemAufenthalt in „Aufnahmeheimen“ wurden dieFlüchtlinge aus Chile in den Bezirken Berlin, Karl-Marx-Stadt, Dresden, Halle, Gera, Leipzig undRostock untergebracht. Bei diesen Flüchtlingenhandelte es sich um eine hochqualifizierte Gruppe,die besonders Vertreter intellektueller Berufe,ehemalige Funktionäre des Staats- und Parteiappa-rates, Angestellte und Studierende umfasste. 80 %waren jünger als 40 Jahre. Sie erhielten Neubau-wohnungen, zinslose Einrichtungsdarlehen, nachFamiliengröße gestaffelte Überbrückungsgelder,politische und berufliche Eingliederungshilfen. Eswird davon ausgegangen, das viele der 334 Chile-nen, die am 31.12.1989 noch in der DDR registriertwaren, mit DDR-Bürgern/innen verheiratet warenund sich dauerhaft in der DDR niedergelassenhatten (Elsner/Elsner 1994, 21f.; 1992, 31f.).

III.3.2 Flüchtlinge und Asylsuchende imvereinigten Deutschland

Die Kurve der Asylgesuche hatte 1980 erstmals dieMarke von 100.000 überschritten und damit politi-sche sowie publizistische Panikmeldungen ausge-löst. Nachdem die Zuwanderung von Asylsuchen-den im Verlauf der 1980er-Jahre mit verschiedenen

StarkerAnstieg vonAsylgesuchenim vereinigtenDeutschland

Besondersgriechische,

spanischeund chileni-sche Flücht-linge in der

DDR

Drucksache 14/4357 – 50 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Mitteln und unterschiedlichem Effekt gedrosseltworden war, geriet sie Ende der 1980er-Jahre kurz-fristig außer Kontrolle: 1988 überstieg die Kurveder Asylgesuche erneut die Marke von 100.000.Sie kletterte im Jahr der europäischen Revolutio-nen 1989 auf ca. 120.000, erreichte 1990 ca.190.000 und stieg weiter: 1991 auf fast 260.000,1992 auf fast 440.000.

Dabei führten der Fall des Eisernen Vorhangs, dieKrisenentwicklung in Osteuropa und die Abwehr-maßnahmen gegen Armutsflüchtlinge aus der„Dritten Welt“ zu einer kompletten Umkehr dergeographischen Gewichtsverteilungen: 1986 warennoch rund 74,8 Prozent der Asylsuchenden in derBundesrepublik Deutschland aus der „DrittenWelt“ gekommen. 1993 stammten 72,1 Prozent ausEuropa und vor allem aus Osteuropa. Aber derKalte Krieg war vorbei. Flüchtlinge, zumal in Mas-sen, waren nicht mehr Erfolgsnachweis in der glo-balen Systemkonkurrenz, sondern Zusatzbelastungin der Krise des nationalen Sozialstaats. In denSensationsmedien multiplizierter Alarmismus(„Das Boot ist voll!“) und die Rede vom „Staats-notstand“ in Migrationsfragen (BundeskanzlerHelmut Kohl 1992) ließen „Asylanten“ nachgeradeals Staatsfeinde und das Land eine kurze Zeit langin Sachen Migration „unregierbar“ (BundeskanzlerHelmut Kohl) erscheinen. Fremdenfeindliche Pa-rolen und Gewalttaten rückten in den Vordergrundder öffentlichen Diskussion, bis die Mehrheit derfriedfertigen Bürgerinnen und Bürger selbst – undnicht etwa die wie unter Schock verharrende Poli-tik – mit ihren berühmten Demonstrationen undLichterketten die gewalttätige fremdenfeindlicheMinderheit in ihre Schranken wies. 1993 kam dieunter dem Druck der Gewalt auf den Straßenund der allgemeinen Empörung über politischeKonzeptionslosigkeit und Handlungsunfähigkeitbei gegenseitigen Schuldzuweisungen erzwungeneWende:

Die Asylrechtsreform von 1993, flankierendeMaßnahmen und verschärfte Grenzkontrollendrückten die Zahlen der Asylsuchenden 1993 aufca. 320.000 und 1994 sogar auf ca. 127.000, wo sieauch 1995 blieben. Bei dieser vom Bundesinnen-ministerium gern präsentierten bundesdeutschen„Erfolgsbilanz“ in Sachen Asyl wurde gelegentlichübersehen, dass die Zahlen von 1994/95 noch umca. 20.000 über derjenigen von 1980 (107.818) lag,die seinerzeit zu politischer Panikrhetorik geführthatte (zur Asyldebatte: Münch 1993; Blanke 1993;Bade 1994d, 91-146).

Die historische Botschaft des alten Artikels 16 GGträgt nicht mehr seit der Änderung des Grundrechtsauf Asyl durch den „Asylkompromiss“ von1992/93, der am 1.7.1993 rechtskräftig wurde:Nach dem seither gültigen Artikel 16a GG hat in

aller Regel keine Chance mehr auf Asyl, wer aus„verfolgungsfreien“ Ländern stammt oder über„sichere Drittstaaten“ einreist, mit denen sichDeutschland in einem „asylrechtlichen cordonsanitaire“ lückenlos umgeben hat (Expertise Ren-ner, 15). Die Bundesrepublik Deutschland ist damitfür asylsuchende Flüchtlinge auf dem Landweglegal nicht mehr erreichbar. Der Luftweg wiederumhat, der Kosten wegen, eine deutliche soziale Se-lektionsfunktion. Fliehen kann nur, wer das Geldfür den Flug oder aber für Agenten und Schlepperhat, weshalb oft viele zusammenlegen und zurück-bleiben müssen, um eine Flucht zu ermöglichen.Einfliegende Asylsuchende aus sog. „Nichtverfol-gerstaaten“ oder ohne gültige Papiere müssen imTransitbereich bleiben und dort auf ein Schnellver-fahren warten. Viele im Inland abgelehnte Asylbe-werber warten im „Asylknast“ auf ihre Abschie-bung, betreut von Gefängnispersonal, das für dieBewachung von verurteilten Kriminellen ausgebil-det ist. Psychische Zusammenbrüche, Suizidversu-che und gewaltsame Abschiebungen sind Alltaggeworden im Land von Artikel 16a GG.

Die Abwehrmaßnahmen aber haben nicht nur dieAsylbewerberzahlen gesenkt und den Transitver-kehr von Asylsuchenden durch Deutschland ver-stärkt, zum Missfallen der europäischen Nachbarn,z. B. der Niederlande, die sich auf ihre Weise ab-zuschotten suchten. Sie haben auch die Zahl derirregulären Inlandsaufenthalte und der versuchtenillegalen Grenzübertritte erhöht – je schärfer undunüberwindlicher die Abschottung für den hilflo-sen Einzelnen, desto höher die Konjunktur desorganisierten Verbrechens, das mit weltweitenSchleppernetzen operiert. Mit dem von Sensati-onsmedien kraftvoll angeheizten Thema der „ille-galen Einwanderung“ wurde nach dem „Asylan-ten“ seit Mitte der 1990er-Jahre ein neues gesell-schaftliches Feindbild hochgezogen: Der „illegaleEinwanderer“ war längst da, bevor es den legalenüberhaupt gab, denn ein Einwanderungsgesetz miteinem transparenten Regelsystem gab es am Endedes Berichtszeitraum (1998) nach wie vor nicht.

Solange sie sich im Anerkennungsverfahren befin-den, sind Asylsuchende durch Unterbringung in„Sammellagern“, eingeschränkte Bewegungsfrei-heit, Abhängigkeit von staatlichen Leistungen undIsolation von der einheimischen Bevölkerung ohnejede Form der eigenen Interessenvertretung sozialstigmatisiert. In diesem Sinne sind sie als Zuwan-derergruppe speziell in der Anfangszeit ihres Auf-enthalts in besonderer Weise sichtbar. Auf deranderen Seite werden die Familien von Flüchtlin-gen und Asylsuchenden, insbesondere nach länge-rem Aufenthalt, als Zuwanderergruppe statistischunsichtbar, da sie in die Gesamtgruppe der auslän-dischen Wohnbevölkerung eingehen. Die amtlicheStatistik weist Flüchtlinge und Asylsuchende

Änderung desGrundrechts

auf Asyl im„Asylkom-

promiss“1992/93

Zunahme vonillegalenAufenthaltenund Versu-chen desillegalenGrenzüber-tritts

Soziale Stig-matisierungvon Asylsu-chenden

Zunahmefremden-

feindlicherAktionen

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 51 – Drucksache 14/4357

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lediglich über die Merkmale Aufenthaltsstatus,Anzahl und Herkunftsland aus. Strukturmerkmale,wie z. B. Alter, Geschlecht, Familienstand oderQualifikation, werden nicht gesondert erhoben.Auch über den Verbleib von Asylsuchenden nachAbschluss des Verfahrens ist bisher wenig bekannt(Benzler 1997, 213f.; Lederer 1997, 267-316;Ritterbusch).

Als politische Aufgabe verstanden und gefordertwird die Eingliederung im Bereich von Flucht undAsyl ausschließlich bei Asylberechtigten und Kon-tingentflüchtlingen, deren Status in etwa dem vonAsylberechtigten entspricht: Asylberechtigte undderen Familien haben unbefristete Aufenthaltser-laubnis sowie Anspruch auf Eingliederungsleistun-gen und soziale Sicherung. Ihre Stellung entsprichtin weiten Bereichen des Rechts-, Sozial- und Wirt-schaftslebens derjenigen von Deutschen. Kontin-gentflüchtlinge erhalten eine unbefristete Aufent-haltserlaubnis mit Anspruch auf Ausbildungsförde-rung, Sprachkurs und Arbeitserlaubnis. Im Rahmender Kontingentierung gibt es auch die Möglichkeitzum Familiennachzug (Caritasverband der DiözeseHildesheim 1992; Omairi 1991; Barth 1997).

Die Tatsache, dass die Eingliederung der Familienvon Flüchtlingen und Asylsuchenden nicht alsgesellschaftspolitische Aufgabe verstanden wird,wirkt sich in spezifischer Weise auf deren Lebens-situation und -perspektiven aus. Ein Rückblick aufdie Entwicklung seit Beginn der 1980er-Jahre zeigteine Tendenz zur kontinuierlichen Absenkung desLebensstandards und zur sozialräumlichen Margi-nalisierung von Flüchtlingen und Asylsuchenden,vorwiegend zu Abschreckungszwecken: Vom Endeder 1970er- bis zum Ende der 1980er-Jahre warendie Asylverfahren zunächst stufenweise beschleu-nigt worden. Verschiedene neue Klassifizierungenvon Asylsuchenden bzw. Asylanträgen wurdengeschaffen, „unbeachtliche“ bzw. „offensichtlichunbegründete“ Anträge ausgegrenzt. Länder undKommunen drängten auf eine zentrale Unterbrin-gung von Flüchtlingen und Asylsuchenden inSammelunterkünften, wobei einige Bundesländerdies bereits praktizierten, bevor mit dem Asylver-fahrensgesetz von 1982 eine bundeseinheitlicheRegelung dafür geschaffen wurde. Flüchtlinge undAsylsuchende werden mit Hilfe eines gesetzlichfestgelegten Verteilungsschlüssels auf die Bun-desländer und weiter auf einzelne Kommunenverteilt. Mit diesem personenbezogenen Vertei-lungsschlüssel korrespondiert ein Finanzschlüssel,der den Lastenausgleich zwischen Bund und Län-dern regelt. Während die Kosten ihrer Unterbrin-gung von den Ländern finanziert werden, erfolgtihre Versorgung im Rahmen der Sozialhilfe(BSHG) durch die Kommunen, die Anfang der1980er-Jahre dazu übergingen, die Sozialhilfe nurnoch in Form von Sachleistungen plus Taschengeld

zu gewähren. Außerdem konnten diese Leistungenseitdem um 20 % bis zu 30 % gegenüber dem Re-gelsatz gekürzt werden.

Aus Kosten- wie aus Abschreckungsgründen wer-den Familien von Flüchtlingen und Asylsuchendenaus den verschiedensten Ländern für die Dauerihres Verfahrens in den Sammelunterkünften in derRegel voll verpflegt, ungeachtet ihrer Ernährungs-gewohnheiten bzw. -wünsche. Eigene Kochmög-lichkeiten stehen nur selten zur Verfügung. DieFamilien sind damit auch im privaten Lebensbe-reich praktisch zur Untätigkeit gezwungen. DieSammelunterkünfte sind, da sie meist nicht alssolche konzipiert wurden, oft weder familien- nochkindergerecht ausgestattet. Gemeinschaftsräumegibt es selten. Da keine Trennung von Wohn-, Ess-und Schlafbereich vorgesehen ist, mangelt es anRückzugsmöglichkeiten und an Privatsphäre fürdie Familien, die sich mitunter ein Zimmer mitfremden Personen teilen müssen. Das Leben spieltsich auf entsprechend engem Raum ab. Die Unter-künfte befinden sich zudem häufig in Stadtrandla-ge, z. B. in ehemaligen Gewerbegebieten, undhaben in der Regel eine schlechte Verkehrsanbin-dung. Hinzu kommt, dass die Familien den Bereichder für sie zuständigen Ausländerbehörde währenddes Anerkennungsverfahrens nicht ohne ausdrück-liche Erlaubnis verlassen dürfen (Residenzpflicht).Damit sind sie zusätzlich sozial isoliert. Aufgrundder spezifischen materiellen Ausgestaltung desAsylverfahrens leben Familien von Asylsuchendenfür die gesamte Dauer des Anerkennungsverfah-rens, das sich über Jahre hinziehen kann, am Randedes Existenzminimums. Da sie über die Sozialäm-ter krankenversichert sind, beschränkt sich ihremedizinische Versorgung auf lebensnotwendige,unaufschiebbare Untersuchungen und Operationen;eine psychosoziale oder psychologische Versor-gung ist nicht vorgesehen.

Bis 1991 unterlagen Flüchtlinge und Asylsuchendeaußerdem, wie erwähnt, einer fünfjährigen Warte-zeit auf Arbeitserlaubnis. Seitdem haben Asylsu-chende und Flüchtlinge die Möglichkeit, über eineallgemeine Arbeitserlaubnis eine Erwerbstätigkeitaufzunehmen. Dieser Chance aber steht vielfachder im Arbeitsförderungsgesetz festgelegte Inlän-derprimat im Wege, nach dem sie nach demGrundsatz der Nachrangigkeit gegenüber Deut-schen (auch zugewanderten Aussiedlern) sowieEU-Bürgern und Asylberechtigten zurücktretenmüssen, sofern diese auf die von den Antragstel-lern gefundenen Stellen vermittelt werden können.Die Chance, in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit regu-lär arbeiten und damit den Lebensunterhalt eigen-ständig sichern oder erweitern zu können, sinddementsprechend gering. Nur anerkannte Flücht-linge und Asylberechtigte, unter bestimmten Vor-aussetzungen auch De-facto-Flüchtlinge, haben

GesetzlichverordneteUntätigkeitfür Asylsu-chende inSammelunter-künften

Eingliederungder Familien

von Flüchtlin-gen und Asyl-

suchendennicht als

gesellschafts-politischeAufgabe

verstanden

Leben amRande desExistenzmi-nimumswährend desAnerken-nungsverfah-rens

Drucksache 14/4357 – 52 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Anspruch auf eine besondere Arbeitserlaubnis, diekeine derartigen Beschränkungen enthält. Auf deranderen Seite konnten Flüchtlinge und Asylsu-chende bis Ende 1993 durch das BSHG zu ge-meinnützigen Arbeiten verpflichtet werden. Kamensie dieser Verpflichtung nicht nach, drohte ihnenLeistungskürzungen oder sogar die Streichung der„Hilfe zum Lebensunterhalt“. Ansprüche auf Kin-der- und Erziehungsgeld haben diese Familienaufgrund der ungeklärten Anspruchsvoraussetzun-gen zunächst nicht; denn beide Leistungsansprüchesind davon abhängig, ob und mit welchem Statusein Bleiberecht gewährt wird. Eine bundeseinheit-liche Schulpflicht für Kinder und Jugendliche vonFlüchtlingen und Asylsuchenden existiert nicht.Die Möglichkeit des Schulbesuchs ist von derjeweiligen Länderregelung, der Besuch eines Kin-dergartens von den regional verfügbaren Kapazi-täten und der Aufnahmebereitschaft der Kinder-gärten abhängig. Integrationsfördernde Maßnah-men des Arbeitsamtes, z. B. schulische und beruf-liche Aus- und Weiterbildungen, können Asylsu-chende und geduldete Flüchtlinge in der Regelnicht in Anspruch nehmen. Die Teilnahme an einerdurch Bundes- oder Landesmittel finanziertenSprachförderung bleibt ihnen verwehrt. Die einzigeMöglichkeit der Sprachförderung sind Kurse, dievon den Kommunen oder anderen Trägern (Verei-ne, Wohlfahrtsverbände) angeboten werden.

Über das Asylverfahrens-Neuregelungsgesetz (seit1.7.1992) können Asylverfahren noch stärker be-schleunigt, Abschiebungen schneller vollzogenwerden. Alle asylrelevanten Gründe müssen seit-dem sofort bei der ersten Anhörung vorgetragenwerden; später angeführte Gründe gelten als „ge-steigertes Vorbringen“ und müssen nicht berück-sichtigt werden. Flüchtlinge und Asylsuchendewerden nach ihrer Einreise erkennungsdienstlichbehandelt, die Antragsbearbeitung wurde beimBundesamt für die Anerkennung ausländischerFlüchtlinge zentralisiert. Bei eingeleiteten Ge-richtsverfahren entscheiden seither Einzelrichter,die, außer von einer möglicherweise anwesendenÖffentlichkeit, nicht kontrolliert werden.

Kurz nach dem In-Kraft-Treten der Asylrechtsän-derung am 1.7.1993 führte das Asylbewerberlei-stungsgesetz (AsylbLG) am 1.11.1993 nochmalszu einer erheblichen Verschlechterung der ohnehinschon schwierigen Lebenssituation von Flüchtlin-gen und Asylsuchenden und deren Familien: DieLeistungssätze für den Lebensunterhalt wurdenstandardisiert, vollständig aus dem BSHG heraus-gelöst und auf einem Niveau unterhalb der Regel-sätze fixiert. Davon sind alle Flüchtlinge und derenFamilien, die nicht über einen anerkannten odersicheren (Sonder-)Status verfügen, betroffen. Sieerhalten seither reduzierte Leistungen, vielfach nurWertgutscheine, die sie in bestimmten Geschäften

oder in dafür speziell eingerichteten Lebensmittel-lagern einlösen müssen. Die Verpflichtung zugemeinnützigen Arbeiten, ursprünglich eine Kann-Bestimmung, wurde über das AsylbLG festge-schrieben. Begründet wurden diese Bestimmungen,wie alle Beschränkungen zuvor, mit dem Kampfgegen den „Asylmissbrauch“ durch die Minderungvon „Zuwanderungsanreizen“. Die Betroffenenwiederum werden vielfach mit den ihnen zugemu-teten unzulänglichen Lebensverhältnissen identifi-ziert, was Abwehrhaltungen seitens der einheimi-schen Bevölkerung noch verstärkt. Hinzu kommenmassive Einsparungen im Bereich der Flüchtlings-sozialarbeit. Folge dieser Kürzungen ist eine Ver-schlechterung der Beratungs- und Unterstützungs-angebote, obwohl angesichts der immer kompli-zierter werdenden Gesetzeslage und der extremenIsolation von Flüchtlingen und Asylsuchenden imGegenteil eine Ausweitung solcher Angebote not-wendig wäre.

Familien von Flüchtlingen und Asylsuchendenwerden außerdem häufig durch das Asylverfahrengetrennt, z. B. wenn sie verschiedene Familienna-men haben, auf unterschiedlichen Fluchtwegenkommen. Während der Dauer des Asylverfahrenshaben getrennte Familien weder Anspruch aufFamilienzusammenführung noch auf gegenseitigesBesuchsrecht, da sie in diesem Zeitraum den ihnenzugewiesenen Kreis nicht verlassen dürfen, ohnesich strafbar zu machen und ihren Aufenthalt selbstzu gefährden. Das hohe familiäre Selbsthilfepoten-zial wird auf diese Weise komplett außer Kraftgesetzt. Aufgrund der spezifischen Lebensumstän-de sind diese Familien in besonderer Weise auf dieUnterstützung und das Engagement von außen(Vereine, Wohlfahrtsverbände, Privatpersonen)angewiesen und von einer fundierten rechtlichenBeratung abhängig. Gleichzeitig sind die von ad-ministrativer Seite errichteten Barrieren kaumüberwindbar, sodass eine Teilnahme am sozialenLeben nicht stattfinden kann (Caritasverband derDiözese Hildesheim 1992; Omairi 1991; Barth1997; Lipka 1997; Thimmel 1994).

Außerhalb des Asylbereichs, zum Teil in Über-schneidung damit, wuchs Anfang der 1990er-Jahredie Zuwanderung von Kriegs- und Bürgerkriegs-flüchtlingen aus Ex-Jugoslawien. Davon gab es inDeutschland 1994 ca. 350.000, mehr als doppelt soviele wie in allen anderen Staaten der EuropäischenUnion zusammen. Während die Änderung von Art.16 GG in Art 16a GG (1.7.1993) den einschneidend-sten Wandel des Asylrechts gebracht hatte, wurdeder Status der Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingeaußerhalb des Asylrechts neu geschaffen. Da Bundund Länder sich nicht über die finanzielle Zustän-digkeit einigen konnten, kam der ihnen ursprünglichzugedachte Rechtsstatus (zweijährige Aufenthaltsbe-fugnis und Arbeitserlaubnis) bis zur Aufnahme der

Asylbewer-berleistungs-

gesetz 1993führt zu

erheblichenVerschlechte-

rungen

Trennung vonFamilien –Unterschät-zung desfamilialenSelbsthilfepo-tenzials

Aufnahme vonKriegs- undBürgerkriegs-flüchtlingenaus Ex-Jugoslawien

Keine bundes-einheitliche

Schulpflichtfür Kinder

und Jugendli-che von

Flüchtlingen

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53 – Drucksache 14/4357

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ersten 10.000 Kosovo-Flüchtlinge im Rahmen des Balkankrieges 1998/99 nicht zur Anwendung. Aus diesem Grund war z. B. die Gruppe der Bürger-kriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina sowie anderen Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugosla-wien, die Anfang der 1990er-Jahre in Deutschland aufgenommen wurden und zu einem großen Teil aus Frauen und Kindern bestand, nur geduldet, von einer überschaubaren Zahl von Ausnahmen (wie z. B. 6.000 traumatisierten Opfern u. a.) abgesehen. Nach freiwilliger Rückkehr unter dem Eindruck von Aus-reiseverpflichtungen, nach Abschiebungsdrohungen und spektakulären Abschiebungen sank die Zahl der Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina schließlich von ca. 345.000 Ende 1996 auf rund 245.000 Ende 1997. Sie sank noch stärker im Jahr 1998, in dem es – wegen dieser Rückreisebewegungen und sinken-der Zuwandererzahlen – in Deutschland erstmals wieder eine negative Wanderungsbilanz gab. Relativ jung noch ist ebenfalls die Zuwanderung von Juden aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. Sie begann in der Zeit der Agonie der DDR zwischen dem Untergang des SED-Regimes Anfang November 1989 und der Vereinigung mit der Bundesrepublik Deutschland 1990 (3.10.1990). In dieser postrevolutionären Zwischenzeit, in der z. B. auch das – nach der Vereinigung ungültig gewor-dene – kommunale Ausländerwahlrecht eingeführt wurde, erklärten sich 1990 die von der antizionisti-schen SED-Doktrin abgerückten Fraktionen der DDR-Volkskammer in einer gemeinsamen Erklä-rung bereit, „verfolgten Juden in der DDR Asyl zu gewähren“, was auch vom DDR-Ministerrat im Juli 1990 bestätigt wurde. Daraufhin beantragten bis Mitte April 1991 fast 5.000 Juden aus der Sowjet-union ihre Aufnahme im Staatsgebiet der ehemali-gen DDR. Die ersten 8.535 jüdischen Einwanderer, die schließlich im vereinigten Deutschland 1991 als Kontingentflüchtlinge anerkannt wurden, waren seit April 1990 in die noch existierende DDR eingereist (Harris 1999; Doomernik 1997, 2-5, 53-71; Mertens 1993, 132-138, 185-189). Vom Fall des Eisernen Vorhangs bis Ende 1998 haben insgesamt 122.593 Juden aus der Sowjetuni-on/ GUS eine Einreisezusicherung erhalten, 1991 - 98 sind knapp 93.000 eingewandert, 1998 allein 17.781 (Harris 1999). Sie werden angesichts des zwar nicht mehr staatlichen, dafür aber vielfach geradezu alltäglichen Antisemitismus in der GUS als Kontingentflüchtlinge aufgenommen, d. h. mit einem kollektiv zugebilligten Status (Ablehnungs-quote 1998 nur 0,48 Prozent), der annähernd demje-nigen von anerkannten Asylberechtigten entspricht. Die bevorzugte Behandlung der Juden aus der GUS im Land des Holocaust ist eine Antwort der Deut-schen auf dieses dunkelste Kapitel ihrer Geschichte. Es gibt deswegen, trotz aller Sympathiewerbung in

den Medien, nach wie vor mancherlei Probleme in der Begegnung zwischen Deutschen und jüdischen Einwanderern aus Osteuropa. Hinzu kommen die Identitätsprobleme der Einwanderer selbst, die als Juden auswanderten, als solche aufgenommen und von den jüdischen Gemeinden unterstützt werden, obgleich ein großer Teil von ihnen in der Herkunfts-gesellschaft keine jüdische Identität im religiös-kulturellen Sinne mehr besaß und sie oft im Auf-nahmeland erst wieder neu entdeckt (Schoeps u. a. 1996, 152f.). Eine besondere Gruppe innerhalb der Ost-West-Wanderungen von Minderheiten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs bildeten die Roma. Die Erinne-rung an die von den nationalsozialistischen Massen-verbrechen gegenüber Minderheiten nach den Juden am stärksten betroffene Gruppe – Sinti und Roma („Zigeuner“) – bot hier keine Brücke nach Deutsch-land. Die Zuwanderung von Roma in großer Zahl aus Rumänien, Jugoslawien und Bulgarien wurde durch die Revolution in Rumänien vom Dezember 1989 ermöglicht. Durch anschließende Kettenwan-derungen und die Konflikte in Jugoslawien forciert, gab es nach amtlichen Schätzungen vom Januar 1990 bis zum Inkrafttreten des neuen Asylrechts am 1.7.1993 ca. 250.000 Roma-Flüchtlinge in Deutsch-land, von denen die größte Gruppe (60 %) aus Ru-mänien, eine etwa halb so große (30 %) aus Jugos-lawien und eine kleine Gruppe (5 %) aus Bulgarien stammte. „Zigeuner-Asylanten“ galten bald als Inkarnation des „Asylmissbrauchs“ schlechthin. Kommunalverwaltungen gerieten in Deutschland 1992/93 unter den Druck von über allerlei Belästi-gungen im Alltag klagenden oder über das bloße Vorhandensein von „Zigeunern“ empörten Bürgern. Drohungen mit physischer Gewalt gegen die Zu-wanderer aus dem Osten alarmierten die Sicherheits-interessen. Nach geförderten „Repatriierungen“, „freiwilligen Rückwanderungen“, nach Ausweisungen unter Abschiebungsandrohung, regulären Abschiebungen und Weiterwanderungen in andere Länder ergab sich für Mitte 1993 eine Zahl von maximal 125.000 Roma in Deutschland, während Roma-Organisationen von nun mehr etwa 75.000 ausgin-gen. Seither sind die Zahlen noch bei weitem stär-ker geschrumpft. Im Hintergrund standen Maß-nahmen, die ein strenges Gegenbild zur Behand-lung von Aussiedlern und Juden aus Osteuropa erkennen ließen: Während es bei ihnen um staatlich begleitete Migration unter den Leitperspektiven von sozialstaatlicher Inklusion und gesellschaftli-cher Integration ging, galt für die unerwünschte Zuwanderung von „Zigeunern“ aus Osteuropa das Gegenteil – Exklusion und Repatriierung (Bla-husch 1994, 82; Mutz 1995; Frost u. a. 1995a, 1995b).

Anerkennung von Juden aus

UdSSR/GUS als Kontin-gentflücht-

linge

Zunahme der Zuwanderung von Roma-flüchtlingen – Verschärfung der Fremden-feindlichkeit

Identitäts- probleme jüdischer Einwanderer

Drucksache 14/4357 – 54 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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0

50000

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150000

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300000

350000

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500000

0

5

10

15

20

25

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35

40

45

Antragszahlen Anerkennungsquote (%)

Abbildung III.4: Entwicklung der Asylantragszahlen und Anerkennungsquoten 1972 bis 1997

Quelle: Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge 1998 (Entscheidungen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge)

Iran21,8%

Polen11,0%

Libanon10,9%Türkei

8,7%

Ghana5,8%

staatenlos,ungeklärt8,3%

sonstige16,7%

Pakistan3,2%

Indien6,6%

Afghanistan3,1%

Sri Lanka4,0%

Abbildung III.5a: Asylanträge nach den Hauptherkunftsländern 1986

Quelle: Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge 1998

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 55 – Drucksache 14/4357

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III.4 Aussiedler in der BundesrepublikDeutschland und im vereinigtenDeutschland

Auf deutschem Staatsgebiet östlich von Oder undNeiße hatten vor Beginn des Zweiten Weltkriegsrund 9 Millionen Deutsche in Schlesien, Ost-Brandenburg, Pommern und Ostpreußen gelebt.Jenseits der östlichen Reichsgrenzen waren esschätzungsweise weitere rund 8 Mio. Deutscheoder Personen deutscher Abstammung, vor allemin der Tschechoslowakei, in Polen, in Rumänien,Ungarn, Jugoslawien und in der Sowjetunion, aberauch in Estland, Lettland, Litauen, im Memelgebietund in der Freien Stadt Danzig. Nach den russi-schen Kriegsdeportationen nach Osten und nachden Massenbewegungen von Flucht und Vertrei-bung am Kriegsende und in der Nachkriegszeitblieben davon in Osteuropa und im eurasischenRaum 1950 noch schätzungsweise 4 Mio. Men-schen deutscher Abstammung. Viele waren nichtmehr in ihren herkömmlichen Siedlungsgebieten,sondern – wie fast alle Sowjetbürger deutscherAbstammung seit 1941 – durch Zwangsumsiedlungund Deportation weit verstreut in fremder Umge-bung, isoliert, entrechtet und als „Faschisten“ dis-kriminiert.

Die Zuwanderung aus Osteuropa überdauerte inWestdeutschland den Zustrom der Flücht-linge und Vertriebenen der Nachkriegszeit und diebis zum Mauerbau 1961 starke Zuwanderung ausder DDR. Die meisten der fast 1,6 Mio.(1.573.146) „Aussiedler“, die 1951-88 die Grenz-durchgangslager in der Bundesrepublik Deutsch-

land passierten, trafen jedoch erst seit der zweitenHälfte der 1970er-Jahre ein. Sie waren zum gerin-geren Teil aus den ehemaligen Reichsgebietendeportierte „Reichsdeutsche“ und zum größten Teil„Volksdeutsche“ ausländischer Staatsangehörig-keit, deren Vorfahren vor Generationen, zum Teilauch schon vor Jahrhunderten, den deutschsprachi-gen Raum verlassen hatten.

Die Aufnahme von „Aussiedlern“ als Deutschehatte einerseits mit dem am jus sanguinis orien-tierten und in einer langen ethno-nationalen Tradi-tionslinie stehenden deutschen Staatsangehörig-keitsrecht und andererseits mit dem deutschenKriegsfolgerecht zu tun. Die Orientierung desStaatsangehörigkeitsrechts am Vererbungsprinzipanstelle des bis dahin weitgehend gültigen Territo-rialprinzips war um die Mitte des 19. Jahrhundertshervorgetreten. Im Hintergrund standen wenigerGrundsatzdebatten um republikanisches und völ-kisch-romantisches Denken als nüchterne staats-rechtliche Erwägungen: Die Bevorzugung des jussanguinis, die keine Gesamtentscheidung, sonderneine aus einer großen Zahl von Einzelentscheidun-gen und Entwicklungslinien in den einzelnen deut-schen Staaten sprechende Entwicklungstendenzwar, hatte ihren Grund wesentlich darin, dassDeutschland im Gegensatz zu Frankreich keinZentralstaat, sondern ein Flickenteppich aus weni-gen großen, einigen mittleren und zahlreichenkleinen und kleinsten Territorien war. In denenhätte eine Bevorzugung des Territorialprinzips, wiein Frankreich, zu unübersehbaren Rechtsproble-men geführt. Ende des 19. Jahrhunderts wuchsenethno-nationale Vorstellungen zunehmend in den

Anwachsender Zuwande-rung derAussiedlerseit den 70er -Jahren

Türkei16%

Irak14%Iran

4%

ungeklärt2%

Sri Lanka4%

Armenien2%

sonstige34%

Georgien3%

Pakistan2% Afghanistan

5%

BR Jugoslawien14%

Abbildung III.5b: Asylanträge nach den Hauptherkunftsländern 1997

Quelle: Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge 1998

Drucksache 14/4357 – 56 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Rechtsrahmen des Vererbungsprinzips hinein undtraten in dessen Festschreibung im Reichs- undStaatsangehörigkeitsrecht von 1913 ganz in denVordergrund (Brubaker, 1994; Fahrmeir, 1997;Bade, 2000).

Voraussetzung der Anerkennung als „Aussiedler“waren der Nachweis deutscher Abstammung undein lebensgeschichtliches „Bekenntnis zumDeutschtum“. Hilfreich dazu waren neben deut-schen Sprach- und Kulturtraditionen in der Familiez. B. die Eintragung der „deutschen“ Nationalität inden sowjetischen Papieren, lange aber auch ent-sprechende Zuordnungen von NS-Behörden zurZeit der deutschen Besatzung und selbst die Mit-gliedschaft in Verbänden der Waffen-SS. Still-schweigend vorausgesetzt wurde ein mit dieserdeutschen Herkunft zusammenhängendes „Kriegs-folgenschicksal“. Danach wurden „Aussiedler“durch die Rechtsfiktion eines in ihren Herkunfts-räumen wirkenden „Vertreibungsdrucks“ denFlüchtlingen und Vertriebenen der Nachkriegszeitgleichgestellt, auch im Blick auf großzügige staat-liche Eingliederungshilfen.

Rechtsgrundlage der Aussiedlerzuwanderung und-integration in der Bundesrepublik Deutschlandwar bis 1990 das in seiner ersten Fassung am19.5.1953 (erweiterte Fassung 1957) in Kraft ge-tretene Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz(BVFG), das zwischen Vertriebenen/ Flüchtlingenund Aussiedlern unterschied. Nach § 1 Abs. 2 Nr. 3BVFG sind Aussiedler deutsche Staatsangehörigeoder Volkszugehörige, die vor dem 8. Mai 1945ihren Wohnsitz in den ehemaligen deutschen Ost-gebieten bzw. in Polen, der ehemaligen Sowjetuni-on, der ehemaligen Tschechoslowakei, Ungarn,Rumänien, Jugoslawien, Danzig, Estland, Lettland,Litauen, Bulgarien, Albanien oder China hattenund diese Länder nach Abschluss der allgemeinenVertreibungsmaßnahmen bis zum 31.12.1992 ver-lassen haben. Durch Aufnahmebescheid anerkannteAussiedler gehen nach einem Jahr statistisch in denBevölkerungsbestand als Deutsche ein. Dement-sprechend erscheinen sie, außer in den Statistikender Bundesanstalt für Arbeit, wo sie nach der Ein-reise noch fünf Jahre als Aussiedler ausgewiesenwerden, nicht mehr als eigenständige Gruppe in derBevölkerungsstatistik der Bundesrepublik Deutsch-land (Bade 1994d, 285; Lederer 1997, 228). In derDDR gab es nur eine ganz geringfügige Zu-wanderung von Aussiedlern (Fleischhauer/Pinkus1987, 558).

Bis 1986 blieben die jährlichen Zuwandererzahlender Aussiedler in der Bundesrepublik Deutschlandin der Regel relativ niedrig, weil die Ausreisege-nehmigungen äußerst restriktiv gehandhabt wur-den: In den 1950er-Jahren konnten größere Kon-tingente, vorwiegend deutsche Staatsangehörige,

ausreisen. Aussiedler aus Polen und Rumänienstellten dabei die größten Anteile. Die Zuwande-rung von Aussiedlerfamilien stieg kurzfristig 1955auf 13.202 und 1956 auf 25.302 Personen an, er-reichte ihre Höhepunkte in den Jahren 1957(107.690) und 1958 (129.655), um dann 1959(27.136) und 1960 (18.171) wieder auf ein niedri-geres Jahresniveau abzusinken. Ende der 1960er-Jahre entspannten sich die Beziehungen zwischender Bundesrepublik Deutschland und den Ausrei-seländern, obwohl die in diesem Zeitraum ge-schlossenen Ausreisevereinbarungen weiterhinrestriktiv gehandhabt wurden. Verschiedene Ver-träge und Vereinbarungen über erleichterte Ausrei-se wurden geschlossen: 1970 mit der Sowjetunion,1970/1975 mit Polen, 1973 mit der Tschechoslo-wakei und 1978 mit Rumänien.

1971 - 1982 kam es deshalb zu erheblichenSchwankungen bei der Aussiedleraufnahme: DieZahlen bewegten sich zwischen einem Minimumvon 19.329 (1975) und einem Maximum von69.336 (1981). Schätzungen zufolge lebten 1982noch insgesamt 3,8 Mio. Menschen deutscher Ab-stammung in Mittel- und Osteuropa, davon 1,1Mio. in Polen, 110.000 in der Tschechoslowakei,1,97 Mio. in der UdSSR und 615.000 in südosteu-ropäischen Ländern (Jugoslawien, Rumänien, Un-garn). 1982 - 84 gab es eine kurzfristige Abnahmeder jährlichen Zuwanderungszahlen von 47.992(1982) auf 36.386 (1984). 1985 - 1987 begann dieZuwanderung von Aussiedlern zunächst langsam,dann beschleunigt zu steigen, von 38.905 im Jahr1985 über 42.729 im Jahr 1986 auf 78.498 im Jahr1987. 1950-87 blieb Polen das Hauptherkunftslandder Aussiedler: 62 % aller Aussiedler (848.000)kamen von dort, nur 8 % (110.000) aus der Sow-jetunion mit ihrer noch restriktiven Ausreisepolitik.An zweiter Stelle nach Polen und mit deutlichemVorsprung vor Russland folgte Rumänien mit 15 %der Aussiedler (206.000) (Reichling 1995, 45f.;Haberl 1991, 8f.).

Aussiedlern stand lange ein umfangreiches Ange-bot an Eingliederungsmaßnahmen bzw. -hilfen zurVerfügung. Dazu zählten u. a.: Maßnahmen zurSprachförderung; Hilfen zur beruflichen Ein-gliederung, wie z. B. die Förderung einerselbständigen Erwerbstätigkeit oder Hilfen bei derZulassung zur Ausübung von Gewerben; Hilfen imRahmen des Arbeitsförderungsgesetzes, wie z. B.Umschulungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten;die Förderung der Wohnungsversorgung überWohnungsbauprogramme oder günstige Darlehenfür den Wohnungs- und Hausbau; die Gewährungvon Unterstützungs- und Entschädigungsleistungenim Rahmen des Lastenausgleichs, wie z. B. Auf-baudarlehen oder Hausratsentschädigungen; dieFörderung der Kinder und Jugendlichen im Schul-und Bildungsbereich über den Garantiefonds und

Anerkennungals Aussiedler:

deutscheAbstammung

und „Be-kenntnis zumDeutschtum“

Aussiedlerzunächstüberwiegendaus Polen undRumänien

Umfangrei-ches Angebotan Eingliede-rungshilfen

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 57 – Drucksache 14/4357

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den Aufbau sozialer Beratungs- und Betreuung-sangebote (Herwartz-Emden/Westphal 1997, 185).

Die so konzipierte, finanziell wesentlich vom Bundgetragene Eingliederungspolitik mit ihren großzü-gigen Entschädigungs- und Wiedergutmachungs-leistungen hatte zur Zeit des Kalten Krieges aucheine enorme politische Bedeutung. Nach dem ers-ten Sonderprogramm zur Eingliederung von Aus-siedlern von 1976 verabschiedete die Bundesregie-rung angesichts der steigenden Aussiedlerzuwan-derung 1988 ein zweites Sonderprogramm. Länder,Kommunen und freie Wohlfahrtsträger wurden zurZusammenarbeit bei der Aussiedlereingliederungaufgerufen. Das Sonderprogramm von 1988, dassich zunächst nicht nur auf Aussiedler, sondernauch auf die zunehmende Zahl der Übersiedler ausder DDR bezog, setzte für die Eingliederung vonAussiedlern Schwerpunkte auf verstärkte Sprach-förderung, schulische und berufliche Ein-gliederung sowie die Ausweitung der individuellenBeratung und Betreuung durch die Vertriebenen-und Wohlfahrtsverbände, verbunden mit der Ge-währung von Zuschüssen an diese Träger. DieEingliederung von Aussiedlerfamilien wurde zurgesellschaftlichen und nationalen Aufgabe erklärtund galt zu diesem Zeitpunkt noch uneingeschränktals demographischer, wirtschaftlicher, sozialpoliti-scher und kultureller Gewinn für die Bundesrepu-blik Deutschland (Haberl 1991, 25f.).

Die Zuwanderung und Eingliederung der Aussied-ler in Westdeutschland (Bade 1994d, 147-174)vollzog sich bis zum letzten Drittel der 1980er-Jahre weitgehend im Stillen. Sie geriet nur gele-gentlich ins grelle Licht einer empörten Öffentlich-keit, wenn von finanziellen Gegenleistungen dieRede war: Mit der Zusage von Ausreisegenehmi-gungen durch die polnische Regierung für 125.000polnische Staatsangehörige deutscher Abstammunginnerhalb eines Jahres war z. B. u. a. ein Kredit vonüber 2,3 Milliarden DM an Polen (Schmidt/Gierek-Abkommen von 1975) verbunden. In Rumäniennahm das Migrationsgeschäft zudem den Charaktereines milliardenschweren Menschenhandels an;denn das fast bankrotte Regime des größenwahn-sinnigen, am Ende offenkundig auch verwirrtenund bei der Revolution in Rumänien 1989 hinge-richteten „Conducators“ („Führers“) Ceaucescukassierte für die Ausreise einer einzigen Person biszu 100.000 DM. Hinzu kamen horrende, von denAussiedlern selbst an die korrupte Bürokratie zuzahlende Bestechungsgelder.

Die stille Akzeptanz der Aussiedlerzuwanderungänderte sich seit der Konfrontation mit den gesell-schaftlichen Problemen einer Massenzuwanderung,mit der niemand ernsthaft gerechnet hatte: Diebeschwörende Erinnerung an die scheinbar uner-füllbaren Ausreisewünsche der „Brüder und

Schwestern im Osten“ hatte im Kalten Krieg jahr-zehntelang zum festen Repertoire westdeutscherOstpolitik gehört. Der Fall des Eisernen Vorhangsbrachte im Osten massenhafte Wunscherfüllungund im Westen die Angst vor „neuen Völkerwan-derungen“ aus dem Osten im Anschluss an dieabrupt zur Massenbewegung anschwellende Aus-siedlerzuwanderung. 1987 bereits zogen die jährli-chen Aussiedlerzahlen scharf an, übersprangen1988 knapp die Marke von 200.000, erreichten1989 die Höhe von 377.055 und stiegen 1990 sogarnoch leicht weiter auf 397.073. 1991 gingen dieZuwanderungen, trotz nach wie vor hoher Antrags-zahlen, stark zurück auf 221.995 und stabilisiertensich auf diesem hochliegenden Niveau von 1992(230.565) bis 1995 (217.898). Dann sanken dieZuwandererzahlen deutlich und erreichten über177.751 im Jahr 1996 und 134.419 im Jahr 1997mit 103.080 im Jahr 1998 wieder ein Niveau, dassie zehn Jahre zuvor in rasantem Anstieg durchbro-chen hatten.

Zu dieser „Verstetigung“ der Aussiedlerzuwande-rung trug ein ganzes Ursachenbündel bei: zunächstder deutsch-sowjetische Vertrag über gute Nach-barschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit(9.11.1990), Siedlungsinitiativen, massive deutscheHilfen für die Russlanddeutschen in den Aussied-lungsgebieten; die Torschlusspanik dämpfendeWirkung („Das Tor bleibt offen“) zunächstdes Aussiedleraufnahmegesetzes (1.7.1990) undschließlich des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes(1.1.1993). Bremswirkungen verursachten aberauch der Bearbeitungsstau beim Bundesverwal-tungsamt, Anerkennungsprobleme bei in binatio-nalen Ehen lebenden und aufgewachsenen Antrag-stellern deutscher Abstammung und vor allem imZusammenhang des „Asylkompromisses“ von1992/93, der in Wirklichkeit ein weitreichenderMigrationskompromiss war, und die darin festge-schriebene Kontingentierung der Aufnahmebe-scheide auf das durchschnittliche Jahresmaximumvon 1991/92 (ca. 225.000) als Höchstgrenze fest-legte. Hinzu kam seit Juli 1996 die deutlich ab-schreckend wirkende Barriere der – nicht wieder-holbaren – Sprachprüfungen in den Ausgangsge-bieten als Hürde auf dem Weg zum Aufnahmebe-scheid.

Zeitgleich war eine gewaltige Verlagerung derAusgangsräume zu beobachten: Schon seit Endeder 1980er-Jahre trat Polen, das zunächst, mit gro-ßem Abstand vor Rumänien, an der Spitze gestan-den hatte, beschleunigt hinter die Nachfolgestaatender früheren Sowjetunion zurück. Bis 1990 warderen Anteil auf 37,3 % gestiegen und schnellte1991 auf 66,4 % hoch. Die Zuwanderung von Aus-siedlern aus den GUS-Staaten erreichte über 84,8% im Jahr 1992 und 94,7 % im Jahr 1993, schließ-lich 96,8 % im Jahr 1996, als von 177.751 aufge-

Aussiedlerzu-wanderungwird zurMassenbewe-gung

Seit 1990Aussiedler ausUdSSR/GUS-Staaten anerster Stelle

Eingliederungvon Aussied-

lerfamilien alsgesellschaftli-

che und natio-nale Aufgabe

Drucksache 14/4357 – 58 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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nommenen Aussiedlern allein 172.181 aus derehemaligen Sowjetunion kamen. Die Anteile derAussiedler aus Polen und Rumänien sanken dem-entsprechend steil ab: 1994 und 1996 kamen nurnoch 2,6 % bzw. 2,4 % aller Aussiedler aus Rumä-nien, der Anteil Polens sank auf 1,1 % bzw. 0,6 %.Die Verlagerung der Ausgangsräume war nicht nurErgebnis der Ausreisepolitik der GUS-Staaten mitihrem auch im Blick auf Minderheiten deutscherHerkunft ungleich höheren Migrationspotenzial.Sie wurde auch durch Veränderungen des deut-schen Anerkennungsverfahrens beeinflusst, dieAussiedler aus Polen und Rumänien benachteilig-ten: Das „Kriegsfolgenschicksal“ („Vertreibungs-druck“), eine der entscheidenden Rechtsgrundlagenfür die Anerkennung als Aussiedler, war seit 1993(Kriegsfolgenbereinigungsgesetz) im Falle Polensund Rumäniens von den Antragstellern nachzuwei-sen, während es bei Antragstellern aus dem GUS-Bereich widerleglich angenommen blieb.

Die Aufnahme und Verteilung von Aussiedlerfa-milien, die aufgrund der vergleichsweise niedrigenZuwanderungszahlen bis 1987 im Rahmen desländerspezifischen Verteilungsschlüssels weitge-hend konfliktfrei verlaufen war, gestaltete sich beijährlich steigenden Zuzugszahlen zunehmendschwieriger. Da viele Aussiedlerfamilien danachstrebten, sich in der Nähe von Familienangehörigenund Verwandten niederzulassen (Kettenwande-rung) und die Verteilungspraxis sich lange an die-sen Wünschen orientiert hatte, waren einige Bun-desländer (z. B. Niedersachsen, Hessen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg) bis zum Ende der1980er-Jahre deutlich stärker von der Aussiedler-zuwanderung betroffen als andere. Als 1988 vonderen Seite Protest gegen die bisher übliche Ver-teilungspraxis laut wurde, reagierte die Bundesre-gierung 1989 mit dem „Gesetz über die Festlegungeines vorläufigen Wohnortes für Aussiedler undÜbersiedler“. Damit konnten Aussiedler für denZeitraum von drei Jahren einer bestimmten Ge-meinde zugewiesen werden und nur dort ihrenAnspruch auf Eingliederungsleistungen entspre-chend ihrem Status geltend machen. Nur wenn sieeinen Arbeits-, Ausbildungs- oder Studienplatz ineiner anderen Gemeinde nachweisen konnten,wurde ein Umzug ohne Verlust der Ansprüchegenehmigt. Im Einigungsvertrag von 1990 wurdevereinbart, dass fortan auch die neuen Bundeslän-der in den Verteilungsschlüssel einbezogen werdensollten. Angesichts der mit den steigenden Aus-siedlerzahlen wachsenden Aufgaben wurde imSeptember 1988 ein mit seinem Amt beim Bun-desminister des Innern angesiedelter Beauftragterder Bundesregierung für Aussiedlerfragen (HorstWaffenschmidt, CDU) berufen, dem nach demRegierungswechsel 1998 Jochen Welt (SPD) nach-folgte.

Aussiedler wandern in der Regel im Familienver-band zu. Ihre Zuwanderung hatte von Beginn andefinitiven Charakter. Rück- oder Pendelwande-rungen gab es in nennenswertem Umfang erst inden 1990er-Jahren. Aussiedlerfamilien sind eineökonomisch, sozial, aber auch religiös-welt-anschaulich sehr vielgestaltige Gruppe. Jenseits derGemeinsamkeiten in der Absicht „als Deutscheunter Deutschen“ zu leben und im Anspruch aufdie deutsche Staatsangehörigkeit beginnen bereitsdie Unterschiede: nicht nur nach Deutschkenntnis-sen oder verschiedenen Vorstellungen vonDeutschland, sondern auch nach Herkunftsländern,danach, wann die Vorfahren dort eingewandertsind, nach Art und Grad der Unterdrückung ihres„Deutschtums“ bzw. dessen, was sie nach Genera-tionen noch darunter verstehen, und nicht zuletztnach ihren Wegen im Zeichen von Zwangsum-siedlung und Deportation.

Die Rede von „deutschen Aussiedlern“ bzw.„Spätaussiedlern“ ist ein ethno-nationaler Euphe-mismus; denn anerkannte „Aussiedler“ sind Deut-sche und Einwanderer zugleich. Sie kamen undkommen nicht rechtlich, aber kulturell, mental undsozial in eine echte Einwanderungssituation. Siewurde materiell erleichtert durch den direktenEinschluss in alle Leistungsbereiche des Sozial-staats und zusätzlich durch die lange erheblichenEingliederungshilfen, die die Aussiedler zu einerim Vergleich z. B. zur zugewanderten Ausländer-bevölkerung auch materiell privilegierten Minder-heit machten. Sie wurde auf beiden Seiten zugleichmental erschwert durch die Unterschätzung ihrerProblematik im Aufnahmeland im Glauben an dievermittelnde Kraft ethno-nationaler Bindewirkun-gen (Dietz/ Hilkes 1994; Dietz 1996; Bade 1997b,24; Herwartz-Emden 1997, 184f.; Herwartz-Emden/ Westphal 1997, 208-210).

Die Integration der deutschen Einwanderer ausOsteuropa konnte dennoch selbst im internationa-len Vergleich lange als ein mustergültiges, auch fürandere Einwanderergruppen in Deutschland emp-fehlenswertes Modellunternehmen gelten.

Angesichts steigender Zuwandererzahlen und dermit dem Vereinigungsprozess einhergehendensozialen und ökonomischen Umschichtungsprozes-se seit 1989/90 kam es in der öffentlichen Diskus-sion zu wachsender Kritik an der „Besserstellung“von Aussiedlern bzw. an ihrer uneingeschränktenAufnahme. Auch vor diesem Hintergrund wurdenim Bereich der Eingliederungspolitik verstärktMittel und Maßnahmen genutzt, um eine Umver-teilung der sozialen Lasten und Risiken zu er-reichen, die letztlich eine „Kommunalisierungder Aussiedlerintegration“ bewirkten (Herwartz-Emden/Westphal 1997, 185ff.; Thränhardt 1999).

Schwerpunkt-bildung in

einigen Bun-desländern

aufgrund vonKettenwande-

rungen derAussiedlerfa-

milien

Aussiedlersind Deutscheund Einwan-derer zugleich

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 59 – Drucksache 14/4357

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Das gilt für das Eingliederungsanpassungs- undAussiedleraufnahmegesetz von 1990 ebenso wiefür das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz (KfbG)von 1993 und für das Wohnortezuweisungsgesetzvon 1996. Über die Einführung einer Quotierungder Aufnahmebescheide auf das durchschnittlicheJahresmaximum von 1991/92 (ca. 225.000) alsHöchstgrenze wurde die Aussiedlerzuwanderungselbst seit 1993 indirekt kontingentiert. Über dasKfbG von 1993 wurden innerhalb der Zuwanderer-gruppe der Aussiedler zudem verschiedene rechtli-che Statusgruppen geschaffen.

Differenziert wird seither zwischen Spätaussied-lern, „Abkömmlingen“, nichtdeutschen Ehepart-nern und weiteren Familienmitgliedern, derenAufnahme und Einreise jeweils von spezifischenVoraussetzungen abhängig ist. Entsprechend ihremjeweiligen Status haben diese Personengruppenauch unterschiedliche Ansprüche auf soziale Leis-tungen bzw. Eingliederungshilfen. Das hat dazugeführt, dass auch innerhalb der Aussiedlerfamilientiefgreifende Unterschiede in Eingliederungschan-cen und Zukunftsperspektiven entstanden, die fürdie Betroffenen mitunter schwer nachvollziehbarsind: So können z. B. erwachsene Kinder, denender Spätaussiedlerstatus nicht gewährt wird, zwarin den Aufnahmebescheid eines anerkannten Fa-milienmitglieds aufgenommen werden und einrei-sen. Sie werden in Deutschland jedoch nach demAusländerrecht behandelt und haben demzufolgez. B. keinen Anspruch auf Eingliederungsleistungen(Hülskemper 1994, 49).

Einsparungen unter wachsendem Haushaltsdruckhaben die Eingliederungsbedingungen für Aus-siedlerfamilien bei hohen Zuwanderungsratendeutlich verschlechtert: Aussiedler erhalten seit1993 nur noch eine an der Arbeitslosenhilfe ausge-richtete Eingliederungshilfe, die nur bei Bedürftig-keit gewährt wird. Die Anspruchsdauer von 9 Mo-naten, die durch Teilnahme an einem Sprachkursauf 15 Monate verlängerbar war, wurde seit dem1.1.1994 auf maximal 6 Monate (156 Tage) ver-kürzt. Parallel dazu wurde die Dauer der staatlichgeförderten Sprachkurse auf 6 Monate herabge-setzt. Aussiedlerfamilien waren folglich nach Ab-lauf der halbjährigen Eingliederungshilfezahlungauf die von den Kommunen zu finanzierende Sozi-alhilfe angewiesen, es sei denn, sie konnten indieser kurzen Zeit eine Arbeitsstelle finden. Dasaber wurde im Zuge der Leistungskürzungenschwieriger, zumal ausreichende Sprachkenntnisseeine wesentliche Einstiegsvoraussetzung darstelltenund auch in diesem Bereich die Förderung erheb-lich reduziert wurde. Bis Mitte der 1990er-Jahreerhöhten die Fördermaßnahmen tatsächlich dieberuflichen Eingliederungschancen, wenngleichfast ausschließlich für Aussiedler und nicht fürAussiedlerinnen. Seitdem ist für die meisten Aus-

siedler und Aussiedlerinnen bei hohen Arbeitslo-senzahlen eine ihrer Qualifikation entsprechendeberufliche Eingliederung kaum noch möglich.Migrationsbedingte Dequalifikationsprozesse sinddeshalb auch bei Aussiedlern und insbesondere beiAussiedlerinnen sichtbar. Aussiedlerfamilien sindaus diesen Gründen seit Mitte der 1990er-Jahreimmer häufiger auf Sozialleistungen angewiesen.Um dem zu entgehen, sind viele Aussiedler vonvornherein auf „unterwertige“ Beschäftigungenausgewichen (Koller 1995).

Auch Kinder und Jugendliche wurden von denLeistungskürzungen betroffen: Sie weisen bei derAnkunft in Deutschland in der Regel die geringstenDeutschkenntnisse innerhalb der Familie auf, weilaufgrund der kulturellen Unterdrückung der deut-schen Minderheit in der Sowjetunion schon dieEltern kein Deutsch mehr in der Schule lernen bzw.als Verkehrssprache pflegen konnten. Die über denGarantiefonds für Kinder und Jugendliche ge-währten Beihilfen zur schulischen, beruflichen undgesellschaftlichen Eingliederung (z. B. verstärkteSprachförderung, Internate) aber wurden auf eineHöchstdauer von 24 Monaten verkürzt. Deshalbmussten viele Träger dieser Maßnahmen ihre An-gebote massiv eingrenzen oder sogar ganz einstel-len. Damit verschlechterten sich die Möglichkeitenfür junge Aussiedler weiter, einen qualifiziertenAbschluss zu erreichen bzw. eine ihren Fähigkeitenentsprechende Berufsausbildung zu beginnen(Dietz/Hilkes 1994, 29-31; Hülskemper 1994, 50;Koller 1995, 7f.; Ritterbusch).

Die Kürzungen der Eingliederungshilfen, darunterauch der Maßnahmen zur beruflichen Qualifizie-rung und der Sprachkurse, waren aber nicht nurdeswegen prekär, weil die beruflichen Qualifika-tionen oft nicht den Anforderungen im Aufnahme-land entsprachen; auch die Sprachfertigkeit derZuwanderergruppen nahm seit den frühen 1990er-Jahren stark ab, was schließlich die 1996 einge-führten Sprachprüfungen in den Ausgangsräumenveranlasste, die zugleich als Mittel indirekter Zu-wanderungsbeschränkung wirkten. Die Arbeitslo-sigkeit unter Aussiedlern stieg dramatisch an undlag nach einer repräsentativen Befragungsstudieschon 1993 bei 32 %: Von den Männern hatten nur46 %, von den Frauen sogar nur 17 % eine Arbeit(Koller 1995). Seither scheinen die Erwerbslosen-zahlen in der Aussiedlerbevölkerung noch gestie-gen zu sein, abgesehen von der „Schwarzarbeit“ iminformellen Sektor (Greif u. a. 1999).

Obgleich die Aussiedler auch mit den gekürztenEingliederungshilfen noch immer eine unter allenZuwanderergruppen in Deutschland deutlich pri-vilegierte Gruppe blieben, traten Ende der 1990er-Jahre bei der Aussiedlerintegration bereichsweiseZüge einer Integrationskrise zu Tage. Zum Hinter-

Merkmale vonAussiedlerfa-milien: Tren-nende Status-

differenzen

Einsparungs-druck ver-schlechtertEingliede-

rungsbedin-gungen

Umverteilungder sozialenLasten und

Risiken führ-ten zu einer

„Kommunali-sierung“ der

Drucksache 14/4357 – 60 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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grund gehörte in der ersten Hälfte der 1990er-Jahreauch ein Wandel in der aus den GUS-Staaten zu-wandernden Aussiedlerbevölkerung: Bei denhochmotivierten Pioniermigranten, die – zum Teilunter schweren persönlichen Einbußen – schon seitJahren bzw. Jahrzehnten um ihre Ausreisegeneh-migung gekämpft hatten und in großer Zahl Ende1980er- und Anfang der 1990er-Jahre zuwander-ten, standen anfangs ethno-nationale Vorstellungenvom „Leben als Deutsche unter Deutschen“ beiweitem im Vordergrund. Die Dominanz der ethno-nationalen Vorstellungen trat im ersten Jahrfünftder 1990er-Jahre zurück zugunsten einer Massen-bewegung, die viele in bloßem Anschlusshandelnmit sich riss. Unzureichende Motivation aber setztesich im Eingliederungsprozess, gerade bei jugend-lichen Aussiedlern, rasch in Enttäuschung undDesorientierung um (Dietz 1996; Dietz/Roll 1998;Kossolapow 1989).

Bei stark abnehmenden Sprachkenntnissen der neuzugewanderten Aussiedler verstärkte sich um somehr die Konzentration in den durch Kettenwande-rungen gewachsenen russischsprachigen Enklavenmit den Zügen und Problemen der Koloniebildungin der Spannung von Integration und Segregation,die aus Einwanderungsprozessen des 19. Jahrhun-derts bekannt sind. Andere Siedlungskonzentratio-nen verdanken ihre Entstehung Immobilienspeku-lanten, die ganze Wohnkomplexe aufkauften undsie, in Eigentumswohnungen zerlegt, weiterver-kauften, hohe, weil subventionierte Aussiedler-mieten inbegriffen. In solchen Fällen entstandenzum Teil abrupt relativ geschlossene große Aus-siedlerkolonien. Ortsnamen wie Belm in Nieder-sachsen und Lahr in Baden-Württemberg bildennur zwei frühzeitig von den Medien entdeckteBeispiele (Wenzel 1999; Oberpenning 1999;Mammey 1999). Während verschiedene Zielge-biete, z. B. im ländlichen Niedersachsen, gegen zustarke Aussiedlerzuwanderung protestierten, gab eserhebliches Interesse an Aussiedlerzuwanderung indurch Abwanderung dezimierten Siedlungsgebie-ten in den neuen Bundesländern. Einiges deutetdarauf hin, dass in den neuen Bundesländern Feh-

ler der alten Bundesländer durch die künstlicheAnlage von Aussiedlerkolonien – z. B. durch dieUmnutzung freigewordener, früher von deutschemoder russischem Militärpersonal genutzter Wohn-komplexe – wiederholt werden, mit durchaus ver-wandten gesellschaftlichen Problemen.

Für Siedlungsgebiete mit dichter Aussiedlerkon-zentration zeigten 1996/97 vorgelegte Untersu-chungen, dass bei starker Zuwanderung, hoherErwerbslosigkeit und sinkenden Eingliederungshil-fen die Kriminalitätsraten unter perspektivlosenund desillusionierten jugendlichen Aussiedlern imVergleich zu anderen Jugendlichen ähnlicher Sozi-allagen deutlich gestiegen waren (Pfeiffer, Brett-feld und Delzer 1997; zuletzt: Pfeiffer, Delzer,Enzmann und Wetzels 1998, 23f., 40-47). Sozial-dienste und Landeskrankenhäuser berichteten überauffällige soziale und psychische Folgen von Be-lastungen in einem Eingliederungsprozess, derEnde der 1990er-Jahre für viele Kommunen zueinem sozialen Problem erster Ordnung gewordenwar. Das gilt besonders für junge Aussiedler, denendie Rede der Eltern und Großeltern vom „Leben alsDeutsche unter Deutschen“ nur mehr wenig be-deutet, weil sie die deutschen Freunde, die ihnenversprochen wurden, nicht fanden und statt dessenals „Russen“ gelten. Hinzu kamen wachsendeSpannungen zwischen jugendlichen „Russen“ undEinheimischen, aber auch mittlerweile nicht min-der einheimischen, aber den Aussiedlern gegenüberdeutlich benachteiligten Deutsch-Türken. Die Sta-tistiken über soziale Entgleisungen, Hilfsbedürftig-keit und Straffälligkeit sprechen eine deutlicheSprache, bergen aber auch die Gefahr in sich, dassOpfer als Täter erscheinen, allgemeine Vorurteilenur weiter bestärkt werden und aus dem Blickgerät, dass die Eingliederung der Aussiedler bis-lang insgesamt ohne größere gesellschaftlicheBrisanz verlaufen ist, trotz Massenarbeitslosigkeitund reduzierten Eingliederungshilfen. Gesell-schaftspolitisch fahrlässig indes wäre die Selbst-gewissheit, dass das so bleiben muss (Walter/Grübl1999; Eckert/Reis/Wetzstein 1999; Marschalck/Wiedl 2000).

Enttäuschungund Desorien-

tierung beijüngeren

Aussiedlern

Entstehungvon Aussied-

lerkolonien

Soziale undpsychischeEingliede-rungsproble-me bei ju-gendlichenAussiedlern

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61 – Drucksache 14/4357

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III. 5 Illegale Zuwanderungen und irre-guläre Aufenthalte

Auch nur annähernd sichere oder sicher erschließ-bare Zahlen über illegale Zuwanderungen undirreguläre Aufenthalte bzw. Beschäftigungsver-hältnisse in der Bundesrepublik Deutschland gibtes nicht. Aus „Aufgriffen“ an den Grenzen oder imInland nach in der Regel nicht transparenten Krite-rien extrapolierte Zahlenangaben schwanken zwi-schen minimal 150.000 und maximal ca. 1 Millionmit der höchsten Verdichtung im Annahmebereichvon ca. 500.000 (Lederer 1999; Lederer/Nickel1997). Die in vereinfachenden und nicht seltenFremdenfeindlichkeit forcierenden Formeln als„illegale Migration“ umschriebenen nichtlegalenZuwanderungs-, Aufenthalts- und Beschäftigungs-formen sind vielfältig und haben fließende Gren-zen, zumal es „keine einheitliche Definition deslegalen Aufenthalts und damit keine allgemeingül-tige Unterscheidung zwischen legalem und illega-lem Aufenthalt gibt“ (Renner 1999).

Grundsätzlich können folgende Erscheinungsfor-men illegalen bzw. irregulären Verhaltens bei Ein-reise, Aufenthalt und Beschäftigung im Inlandunterschieden werden: Einerseits die illegale Zu-wanderung in Gestalt von unbemerktem Grenz-übertritt ohne Einreisegenehmigung oder aber inGestalt der Einreise mit gefälschten Papieren, ge-folgt von illegalem Inlandsaufenthalt und illegaler

Arbeitnahme, unangemeldet oder mit Hilfe ge-fälschter Papiere; andererseits Illegalisierung nachlegaler Einreise zu befristetem Aufenthalt (z. B. alsTourist, Saisonbeschäftigter, Geschäftsreisender,Asylsuchender, Flüchtling) durch nicht dokumen-tierten, mithin rechtswidrigen Verbleib nach Über-schreiten der gewährten Aufenthaltsfrist und/oderdurch Arbeitnahme ohne Arbeitserlaubnis (Vogel1999).

Es gibt mithin auch aufeinander folgende odermiteinander in Verbindung stehende Regelverstößebei illegaler Arbeitnahme ohne Arbeitserlaubnisoder aber auch ohne Aufenthaltsgenehmigung odersogar nach illegaler Zuwanderung, ganz abgesehenvon damit verbundenen, mitunter in der Illegalitätunumgänglichen Regelverstößen bzw. Folgedelik-ten, z. B. bei der Wohnungsanmietung unter fal-schen Angaben u. a. m.

Dazwischen liegen vielfältige Übergangsformen.Sie reichen von der regelmäßigen legalen Pendel-wanderung („Touristen“) zur illegalen Arbeitnah-me (z. B. über die polnische Grenze in den Groß-raum Berlin) bis zum „Abtauchen“ nach dem Ein-treffen von Ausreiseaufforderungen oder der An-kündigung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen(Abschiebung). Es gibt sie aber etwa auch in Ge-stalt von durch entsprechende „Agenturen“ ver-mittelten, häufig im Ausland geschlossenen„Scheinehen“ zur Ermöglichung eines legalen

Keine sicherenZahlen überillegale Zu-wanderung

VielfältigeÜbergangs-formen imRahmen derIllegalität

0

50000

100000

150000

200000

250000

300000

350000

400000

45000019

83

1984

1985

1986

1987

1988

1989

1990

1991

1992

1993

1994

1995

1996

Polen Rumänien ehem. SU/GUS

Quelle: Statistisches Bundesamt; Statistische Jahrbücher 1985-98

Abbildung III.6: Zahl der Aussiedler nach den drei wichtigsten Herkunftsländern 1983 bis 1996

Drucksache 14/4357 – 62 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Inlandsaufenthaltes – der zu folgenreichen Formender Abhängigkeit führen kann, weil bei einerScheidung innerhalb von drei Jahren die Aufent-haltsgenehmigung erlischt. Rechtswidrige Formenvon Einreise, Aufenthalt und Arbeitnahme iminformellen Sektor sind die Kehrseite von immerweiter verschärften und für die Betroffenen immerunübersichtlicheren Zugangs-, Aufenthalts- undPartizipationsbegrenzungen auf der einen undeinem stets expandierenden, aus den verschieden-sten Gründen auf irreguläre Arbeitnahme ausge-richteten informellen Sektor auf der anderen Seite.Er hat seine Schwerpunkte z. B. im Bau- undBaunebengewerbe, den Reinigungsdiensten, orts-festen saisonabhängigen Beschäftigungsbereichensowie bei anderen Ersatz- und Zusatzbeschäftigun-gen der verschiedensten Art.

Solche rechtswidrigen Verhaltensweisen im Be-reich von Zuwanderung, Aufenthalt und Arbeit-nahme begegnen in schwer kalkulierbarem Umfangbei nachgerade allen Zuwanderergruppen: Im Be-reich von Familien ausländischer Arbeitnehmer ausEU-Drittländern, aber auch von Flüchtlingen undAsylsuchenden gilt dies für den illegalen Familien-nachzug. Im Bereich der Aussiedlerbevölkerunggilt es für den nicht genehmigten und deshalb ille-galen Familiennachzug z. B. bei Verwandten ausbinationalen Ehen mit unterschiedlichem Rechts-status, aber auch für die – seit 1990 nicht mehrgenehmigte – Einreise zum Daueraufenthalt vorErhalt des Aufnahmebescheides, dessen weitereBeantragung über eine ausländische Scheinadressebetrieben wird, während die Antragsteller längst alsillegale „Dauergäste“ im Inland leben. In diesem,aber auch im Bereich von jüdischen Kontingent-flüchtlingen aus der GUS gilt es für Zuwanderer,die mit gefälschten Nachweisen deutscher oderjüdischer Abstammung scheinlegal einreisen oder,umgekehrt, tatsächlich solcher Abstammung sind,aufgrund von unüberbrückbaren Schwierigkeitenbei deren Nachweis aber auf entsprechende Fäl-schungen zurückgreifen oder aber ebenfalls zuBesuchszwecken einreisen und dann irregulärbleiben.

Weil Ausländer ohne Aufenthaltsstatus in Deutsch-land nur sehr geringe Möglichkeiten zur Inan-spruchnahme von Sozialleistungen haben und esrückwirkende – die Lebens- und Ausbildungspro-bleme von Kindern und Jugendlichen ebenfallsnicht berücksichtigende – Legalisierungsprogram-me wie z. B. in Italien oder in den VereinigtenStaaten nicht gibt, kommt in allen diesen und vie-len anderen, hier nicht näher auszuleuchtendenFällen den sozialen, in der Regel durch Herkunfts-gemeinschaften und besonders durch familialeBezüge geprägten Migrationsnetzwerken außeror-dentliche Bedeutung zu. Dabei haben Familienausländischer Herkunft nicht nur Auffang-, Schutz-

und Vermittlungsfunktionen; sie werden zum Teildurch solche nach ihrer Selbsteinschätzung nichtanders realisierbare Formen der illegalen Familien-zusammenführung auch intern stabilisiert. Fließen-de Grenzen zwischen den Gruppen ergeben sichauch bei rechtswidrigen Formen von Zuwande-rung, Aufenthalt und Arbeitnahme aus dem Wech-sel bzw. der Überschneidung von Migranteniden-titäten. Das gilt z. B. für abgelehnte, zur Ausreiseverpflichtete oder von Abschiebung bedrohteAsylbewerber bzw. Flüchtlinge, die über Her-kunftsgemeinschaften bzw. Migrationsnetzwerkeim Inland verfügen, die auf frühere Arbeitswande-rungen zurückgehen. Am schwierigsten ist deshalbdie Situation für ausländische Familien ohne solcheNetzwerke, für die ein rechtswidriger Aufenthaltohne deutsche Nachbarschaften, Solidaritätsgrup-pen oder „Kirchenasyl“ zumindest im Familienver-band nachgerade unmöglich ist.

Weil diese hier nur grob skizzierte Vielgestaltigkeitder „Illegalität“ bei Zuwanderung, Aufenthalt undArbeitnahme in der Regel in sehr selektiver Wahr-nehmung bzw. in Gestalt einer Verabsolutierungvon abschreckenden Teilbereichen perzipiert wird(Menschenhandel, Prostitution, organisiertes Ver-brechen u. a.) können solche Zuschreibungen inerheblichem Maße zu Fremdenfeindlichkeit beitra-gen. Hinzu kommen in der konkreten Lebenserfah-rung gründende Konkurrenzängste gegenüber „il-legalen“ Arbeitnehmern im informellen Sektor, dieeinerseits bei dadurch bedrohten bzw. ihrerseitszum irregulären Kostendumping („Schwarzarbeit“)genötigten kleinen Selbständigen und nicht zuletztbei denen verbreitet sind, die selbst als „Schwarz-arbeiter“ oder in semilegalen Erwerbsformen tätigsind.

Insgesamt bewegt sich das Aufnahmeland Deutsch-land mit zunehmend dereguliertem Arbeitsmarktund wachsendem informellem Sektor, wie vielemoderne Sozialstaaten, gegenüber illegaler Zu-wanderung bzw. irregulärer Beschäftigung in einerdoppelten Antinomie: Einerseits forcieren ver-schärfte Kontrollen der Illegalität beim Grenzüber-tritt oder der illegalen Partizipation am Arbeits-markt die Professionalisierung krimineller Ver-mittlungsfunktionen, von denen Illegale durch dieVerdichtung der Kontrollnetze um so abhängigerwerden. Andererseits können alle Versuche zurEindämmung illegaler Ausländerbeschäftigungnicht darüber hinwegtäuschen, dass der expandie-rende informelle Sektor in vielen Bereichen ausden verschiedensten Gründen auf illegale Beschäf-tigungsverhältnisse angewiesen ist. Eine konse-quente Bekämpfung der Illegalität würde deshalbmanche „Grenzbetriebe“ ruinieren, im Dienstleis-tungssektor zu folgenschweren Einbrüchen führenund in der Praxis zweifelsohne „mehr Staat, mehrPolizei, mehr Kontrolle, mehr Befugnisse für Poli-

FamilialeMigrations-

netzwerkeübernehmen

zentrale Auf-gaben

Expandieren-der informel-ler Sektor istauf irregulä-re bzw.illegaleBeschäftigun-gen angewie-sen

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63 – Drucksache 14/4357

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zei und Behörden, mehr Bürokratie“ und damit auch mehr Einengung oder sogar Unfreiheit für alle bedeuten, von der allgemeinen Vergiftung der Atmosphäre durch eine Art Jagd auf „Illegale“ ganz abgesehen (Eichenhofer 1999b; Bade 1994d, 132, 143f.). Einer Legalisierung von illegalen Beschäftigungs-verhältnissen durch nachträgliche Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen wiederum steht eine inten-sive Interessengemeinschaft von Arbeitgebern (Einsparung von Lohnnebenkosten) und Arbeit-nehmern (Unsicherheit der Aufenthaltsverlänge-rung nach Erfassung, Steuern u. a. Abgaben) ent-gegen. Hinzu kommt, dass es sich bei illegal be-schäftigten Ausländern häufig um solche aus Drittstaaten handelt. Sie würden bei einer Legali-sierung ihrer Beschäftigungsverhältnisse nicht nur ihren prekären „Arbeitsmarktvorteil“ in Gestalt der Selbstausbeutung als Billiglohnarbeiter verlieren. Sie unterliegen auch der – bei angemessener Ent-lohnung wirksamen – Bevorzugung von Deutschen und anderen EU-Angehörigen und könnten damit das legalisierte Beschäftigungsverhältnis gar nicht wieder antreten. Umgekehrt käme eine Zusiche-rung des entsprechenden Arbeitsplatzes bei Bereit-schaft zur Legalisierung über Selbstanzeige einer Art Protektion der Illegalität gleich (Hollifield 1999; Marschall 1994, Deutscher Gewerkschafts-bund 1997). III.6 Daten zur demographischen Ent-

wicklung und räumlichen Vertei-lung der Bevölkerung ausländi-scher Herkunft

III.6.1 Einbürgerungen und Aufenthalts-

dauer Zwischen 1981 und 1996 wurden 1,875 Millionen Personen in die Bundesrepublik eingebürgert, al-lein in den letzten sechs Jahren (1991/96) 1,4 Mil-lionen; das sind 74 % aller Einbürgerungen im Zeitraum von 1981 - 1996. Der starke Anstieg ab etwa 1989/90 ist auf den verstärkten Zuzug von (Spät-) Aussiedlern zurückzuführen. Dabei handelt

es sich vor allem um Bürger aus der ehemaligen Sowjetunion, aus Polen und Rumänien. Ab 1995 sind die Zahlen wieder rückläufig; dies gilt insbe-sondere für Polen und Rumänien. Die größte Gruppe eingebürgerter Personen nach den Spätaus-siedlern sind ehemalige Staatsangehörige der Türkei. Sie haben seit 1981 um fast das 90fache zugenommen und stellen 1996 mit rund 46.000 Ein-bürgerungen nach den GUS-Staaten die zweit-größte Gruppe. Gemessen an den über 2 Millionen türkischen Staatsangehörigen in der Bundes-republik ist der Anteil der Einbürgerungen aller-dings sehr gering (1996 waren dies 2,3 %).

Tabelle III.1: Einbürgerungen in die Bundesrepublik Deutsch-land nach den fünf häufigsten Staatsangehörig-keiten 1981 - 1996

Jahr Sowjetunion/GUS-Staaten

Rumä- nien

Türkei Polen Jugos- lawien

1981 3.583 10.860 534 4.206 3.131

1982 3.243 11.737 580 7.807 3.201

1983 2.446 12.917 853 7.182 3.117

1984 1.704 13.284 1.053 5.988 3.334

1985 1.146 12.153 1.310 5.925 2.815

1986 945 12.386 1.492 7.251 2.721

1987 1.111 11.557 1.184 9.439 2.364

1988 4.810 10.881 1.243 13.958 2.119

1989 13.557 10.868 1.713 24.882 2.076

1990 33.339 14.410 2.034 32.340 2.082

1991 55.705 29.011 3.529 27.646 2.832

1992 84.660 37.574 7.377 20.248 2.328

1993 105.801 28.346 12.915 15.435 5.241

1994 164.296 17.968 19.590 11.943 10.962

1995 214.927 12.028 31.578 10.174 8.871

1996 194.849 9.777 46.294 7.872 8.307

Quelle: Statistisches Bundesamt; Statistische Jahrbücher 1982 - 1997

Drucksache 14/4357 – 64 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Tabelle III.2:Ausländische Bevölkerung nach ausgewählten Staatsangehörigkeiten und Aufenthaltsdauer am31.12.1997 – Anzahl der Personen in Tausend

Staatsange-hörigkeit

Aufenthaltsdauer von ... bis unter ... Jahren

Insg. < 1 1-4 4-6 6-8 8-10 10-15 15-20 20-25 25-30 < 30Türkei 2107,4 67,1 247,1 166,1 169,6 155,2 210,3 356,4 366,4 311,4 57,9Jugoslawien* 721,0 24,0 101,2 177,2 84,4 33,6 30,0 43,2 65,4 140,1 21,9Kroatien 206,6 4,6 16,2 20,4 15,3 6,9 10,8 19,6 30,0 69,0 13,8Griechenland 363,2 9,8 35,0 23,7 30,3 31,3 23,3 26,8 40,8 87,7 54,5Italien 607,9 21,2 63,0 28,7 31,1 30,5 59,4 75,8 77,3 120,3 100,6

Insgesamt** 7365,8 380,2 1162,7 976,0 713,7 507,2 663,9 752,2 762,6 961,7 485,5

* Serbien/Montenegro** Alle Staatsangehörigkeiten einschl. staatenlos bzw. ungeklärt und ohne Angabe

Quelle: Statistisches Bundesamt; Statistisches Jahrbuch 1998

Für die Einbürgerung ist die Aufenthaltsdauer einewesentliche Voraussetzung. Die Aufenthaltsdauereines in der Bundesrepublik Deutschland lebendenAusländers ergibt sich ohne Berücksichtigung derAufenthaltsunterbrechungen als Differenz zwi-schen Auszählungsstichtag und Datum der erstenEinreise. Damit sind in Wirklichkeit die Aufent-haltszeiten insgesamt kürzer als offiziell ausgewie-sen. Dies hat auch zur Folge, dass die Zahl dertatsächlich im Land lebenden Ausländer durch dieamtliche Meldestatistik in den meisten Jahrenüberschätzt wurde.

Ende 1997 hielten sich 3,6 Millionen oder knapp50 % der in Deutschland lebenden ausländischenStaatsangehörigen 10 Jahre oder länger in der Bun-desrepublik auf (vgl. Tab. III.2). Rund 30 %(2,2 Millionen) hatten Aufenthaltszeiten von 20Jahren und länger. Dabei dürfte es sich vorwiegendum die bis zum Anwerbestopp 1973 zugewander-ten „Gastarbeiter“ handeln. Das Merkmal Aufent-haltsdauer spiegelt somit die jüngere Migrationsge-schichte der Bundesrepublik Deutschland wider:Auf der einen Seite lässt sich eine große Auslän-derpopulation mit einer sehr langen Aufenthalts-dauer identifizieren (fast ein Drittel mehr als20 Jahre im Land); auf der anderen Seite lebtenzum Jahresende 1997 mehr als ein Drittel allerAusländer (34,2 %) fünf oder weniger Jahre inDeutschland. Der Grund hierfür hängt vor allemmit dem verstärkten Zuzug von Asylsuchenden,Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen und Werk-vertragsarbeitnehmern zu Beginn der 90er-Jahrezusammen. Nach Staatsangehörigkeiten aufge-schlüsselt lebten vier Fünftel der Spanier, etwa dreiViertel der Italiener und jeweils zwei Drittel derGriechen und Türken länger als 10 Jahre im Bun-desgebiet.

III. 6.2 Räumliche Verteilung der auslän-dischen Bevölkerung

Die räumliche Verteilung der ausländischen Be-völkerung zeigt neben den Stadtstaaten Hamburg,Bremen, Berlin eine Konzentration auf den Westenund Süden Deutschlands. In den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen leben fast drei Viertel aller Ausländer.Die derzeit bestehende Konzentration hängt vor-nehmlich mit den regionalen Wirtschaftsstruk-turen und den damit verbunden Erwerbsmöglich-keiten zusammen.

Am höchsten ist der Ausländeranteil in den städti-schen Ballungsräumen Nordrhein-Westfalens,Baden-Württembergs und Hessens mit einem ho-hen Anteil an Industrie, verarbeitendem Gewerbeund spezialisierten Dienstleistungen; dazu zählennoch der Großraum München und Westberlin. Diegroße Mehrheit (mehr als 60 %) der ausländischenBevölkerung lebt demnach in Kernstädten und inRegionen mit großen Verdichtungsräumen. Dage-gen leben z. B. nur etwa 41 % der Deutschen indiesen urbanen Regionen.

Gering ist die Ausländerdichte in den neuen Bundes-ländern. 1991 lebten dort nur 110 Tausend Ausländer(ohne Ostberlin); ihr Anteil an der Wohnbevölkerungbetrug rund 0,8 %. Bis 1997 hat sich die Anzahl auf201 Tausend erhöht (ohne Berlin), ihr Anteil stieg auf1,4 %. Gemessen an den westdeutschen Flächenstaa-ten, die im Durchschnitt einen Ausländeranteil vonetwa 10 % aufweisen, leben in Ostdeutschland aller-dings immer noch wenige Ausländer. Die Zunahmevon Ausländern in Ostdeutschland erklärt sich vorallem durch die bundesweite Aufteilung von Asylbe-werbern und Bürgerkriegsflüchtlingen.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 65 – Drucksache 14/4357

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Abbildung III.7: Ausländeranteil in Deutschland nach Kreisen 1997

LändergrenzenKreisgrenzen

Ausländer je 1000 Einwohner 1997

Häufigkeiten

175

38 26 36 25

139bis unter 50,0

50,0 bis unter 60,0

60,0 bis unter 70,0

70,0 bis unter 80,0

80,0 bis unter 90,0

90,0 und mehr

Quelle: DJI-Regionaldatenbank, Daten auf der Basis absoluter Zahlen der Statistischen Landesämter

Drucksache 14/4357 – 66 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Kleinräumig gesehen sind der Wohnungsmarkt, dieörtlichen Industrieansiedlungen und die in vielenGroßstädten entstandenen „ethnischen Quartiere“bestimmend für die Verteilung der ausländischenBevölkerung. Die Stadt München steht hierfür alsexemplarisches Beispiel:

Die Landeshauptstadt München hatte 1997 einenAusländeranteil von ca. 22 %. Die höchsten Aus-länderanteile – zwischen 36 und 39 % – befindensich in den Stadtbezirken Milbertshofen (Nr.11),Schwanthalerhöhe (Nr.8), Ludwigsvorstadt (Nr. 2)und Obergiesing (Nr. 17). Diese Stadtteile sindStandorte von großen Industrieansiedlungen:BMW, MAN und MTU im Norden, Metzler in derMitte sowie Siemens und MBB im Süden. Sie sindvon daher bevorzugtes Wohngebiet der ausländi-schen Bevölkerung. Aber auch in den angrenzen-den Stadtbezirken findet sich noch eine hohe Kon-zentration von Ausländern.

Im Münchener Norden ist infolge der frühzeitigenIndustrialisierung eine Gemengelage von Industrieund Wohnen vorherrschend. Ausgedehnte Indus-trie- und Gewerbeflächen und Mietwohnanlagen,

häufig entstanden aus den Nachkriegszeiten desErsten und Zweiten Weltkriegs, prägen das Bilddieser Region. Der Anteil von Sozialbauten, da-runter viele in Substandardausführung, ist dortrelativ hoch. Für die Mittelschicht (Beamte, Ange-stellte) ist der Norden keine attraktive Wohnge-gend. Mit Ausnahme des Olympiadorfs überwiegtdaher die Arbeiterschaft. Der westliche Innenstadt-bereich (Nr.8 u. Nr.2) ist eng mit der Mitte desletzten Jahrhunderts einsetzenden Industrialisie-rung verknüpft, die heute allerdings keine Rollemehr spielt. In deren Folge sind aber eine Reihegründerzeitliche Arbeiterquartiere in hochverdich-teter Blockbebauung entstanden. Noch heutestammt etwa die Hälfte des Wohnungsbestandesaus der Zeit vor 1919. Wegen der schlechten Bau-substanz, der unzureichenden Wohnungsstandardsund der Wohnumfeldbelastungen waren die mei-sten Wohnungen nur an Ausländer vermietbar. SeitMitte der 70er-Jahre begannen dann allmählichSanierungsmaßnahmen, in deren Gefolge sich auchdie Wirtschaftsstruktur verändert hat. Mittlerweileentfallen zwei Drittel aller Arbeitsplätze auf denDienstleistungsbereich, den Handel sowie auf dieöffentliche Verwaltung.

13,2 - 17,0

17,1 - 20,0

20,1 - 26,0

26,1 - 38,7

222222222222222222

232323232323232323

212121212121212121

242424242424242424

101010101010101010

202020202020202020 777777777 666666666

191919191919191919

181818181818181818

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555555555

121212121212121212

444444444

141414141414141414151515151515151515

131313131313131313

161616161616161616

111111111

333333333

252525252525252525

Abbildung III.8: Ausländeranteil in München nach Stadtbezirken

Quelle: Statistisches Jahrbuch der Stadt München 1998© DJI Regionaldatenbank

Aubing-Lochhausen-Aubing-Lochhausen-Aubing-Lochhausen-Aubing-Lochhausen-Aubing-Lochhausen-Aubing-Lochhausen-Aubing-Lochhausen-Aubing-Lochhausen-Aubing-Lochhausen-LangwiedLangwiedLangwiedLangwiedLangwiedLangwiedLangwiedLangwiedLangwied

Allach-Allach-Allach-Allach-Allach-Allach-Allach-Allach-Allach-UntermenzingUntermenzingUntermenzingUntermenzingUntermenzingUntermenzingUntermenzingUntermenzingUntermenzing

Pasing-Pasing-Pasing-Pasing-Pasing-Pasing-Pasing-Pasing-Pasing-ObermenzingObermenzingObermenzingObermenzingObermenzingObermenzingObermenzingObermenzingObermenzing

Feldmoching-Feldmoching-Feldmoching-Feldmoching-Feldmoching-Feldmoching-Feldmoching-Feldmoching-Feldmoching-HasenberglHasenberglHasenberglHasenberglHasenberglHasenberglHasenberglHasenberglHasenbergl

MoosachMoosachMoosachMoosachMoosachMoosachMoosachMoosachMoosach

Neuhausen-Neuhausen-Neuhausen-Neuhausen-Neuhausen-Neuhausen-Neuhausen-Neuhausen-Neuhausen-NymphenburgNymphenburgNymphenburgNymphenburgNymphenburgNymphenburgNymphenburgNymphenburgNymphenburg

HadernHadernHadernHadernHadernHadernHadernHadernHadern

Thalkirchen-Obersendling-Thalkirchen-Obersendling-Thalkirchen-Obersendling-Thalkirchen-Obersendling-Thalkirchen-Obersendling-Thalkirchen-Obersendling-Thalkirchen-Obersendling-Thalkirchen-Obersendling-Thalkirchen-Obersendling-Forstenried-FürstenriedForstenried-FürstenriedForstenried-FürstenriedForstenried-FürstenriedForstenried-FürstenriedForstenried-FürstenriedForstenried-FürstenriedForstenried-FürstenriedForstenried-Fürstenried

MaxvorstadtMaxvorstadtMaxvorstadtMaxvorstadtMaxvorstadtMaxvorstadtMaxvorstadtMaxvorstadtMaxvorstadt

Sendling-Sendling-Sendling-Sendling-Sendling-Sendling-Sendling-Sendling-Sendling-WestparkWestparkWestparkWestparkWestparkWestparkWestparkWestparkWestpark

Schwabing-Schwabing-Schwabing-Schwabing-Schwabing-Schwabing-Schwabing-Schwabing-Schwabing-WestWestWestWestWestWestWestWestWest

SendlingSendlingSendlingSendlingSendlingSendlingSendlingSendlingSendling

Untergiesing-Untergiesing-Untergiesing-Untergiesing-Untergiesing-Untergiesing-Untergiesing-Untergiesing-Untergiesing-HarlachingHarlachingHarlachingHarlachingHarlachingHarlachingHarlachingHarlachingHarlaching

Altstadt-Altstadt-Altstadt-Altstadt-Altstadt-Altstadt-Altstadt-Altstadt-Altstadt-LehelLehelLehelLehelLehelLehelLehelLehelLehel

Au-Haid-Au-Haid-Au-Haid-Au-Haid-Au-Haid-Au-Haid-Au-Haid-Au-Haid-Au-Haid-hausenhausenhausenhausenhausenhausenhausenhausenhausen

Schwabing-Schwabing-Schwabing-Schwabing-Schwabing-Schwabing-Schwabing-Schwabing-Schwabing-FreimannFreimannFreimannFreimannFreimannFreimannFreimannFreimannFreimann

BogenhausenBogenhausenBogenhausenBogenhausenBogenhausenBogenhausenBogenhausenBogenhausenBogenhausen

Berg am LaimBerg am LaimBerg am LaimBerg am LaimBerg am LaimBerg am LaimBerg am LaimBerg am LaimBerg am Laim

Ramersdorf-Ramersdorf-Ramersdorf-Ramersdorf-Ramersdorf-Ramersdorf-Ramersdorf-Ramersdorf-Ramersdorf-PerlachPerlachPerlachPerlachPerlachPerlachPerlachPerlachPerlach

TruderingTruderingTruderingTruderingTruderingTruderingTruderingTruderingTrudering

LaimLaimLaimLaimLaimLaimLaimLaimLaim

8Schwanthaler-

höhe

11Milbertshofen-

Am Hart

2Ludwigsvorstadt-

Isarvorstadt

15Ober-

giesing

Ausländeranteil in denStadtbezirken am 31.12.1997 (%)

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 67 – Drucksache 14/4357

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III. 6.3 Altersstruktur der ausländischenBevölkerung

Die gegenwärtige Altersstruktur der ausländischenBevölkerung ist im Vergleich zur deutschen Be-völkerung deutlich jünger. Während z. B. 1997 derAnteil der unter 30-Jährigen bei der ausländischenBevölkerung 51,9 % betrug, lag dieser Anteil beiden Deutschen entsprechenden Alters bei 34,3 %.

Die Struktur der ausländischen Wohnbevölkerungin Deutschland war anfänglich stark durch diebereits erwähnten Anwerbemaßnahmen (vgl. Kap.III.2.1) gekennzeichnet; sie konzentrierten sich vorallem auf Männer im Alter zwischen 20 und 30Jahren. Dies zeigt sich am Altersaufbau der aus-ländischen Bevölkerung von 1970, wo in der Al-tersgruppe der 20- bis 45-Jährigen ein deutlicherMännerüberschuss herrscht (vgl. Abbildung III.9a).Im Vergleich zu 1970 hat sich bis 1997 die Alters-struktur und Geschlechterrelation der in Deutsch-land lebenden Ausländer allerdings fast „normali-siert“ (vgl. Abbildung III.9b und III.9c). Dies istvor allem auf den seit Mitte der 70er-Jahre einset-zenden Familiennachzug zurückzuführen, der zueinem erheblichen Anstieg des Frauen- und Kin-deranteils beitrug. Dennoch gibt es bis heute unterder ausländischen Bevölkerung einen sichtbarenMännerüberschuss, wie der Altersaufbau von 1997zeigt. Insgesamt sind etwa 56 % aller in Deutsch-land lebenden Ausländer Männer und 44 % Frauen.Bei der deutschen Bevölkerung ist die Relationumgekehrt: 48 % Männer und 52 % Frauen, wasvor allem durch den hohen Frauenüberschuss inden oberen Altersgruppen (ab etwa 70 Jahre) zu-rückzuführen ist (vgl. Abbildung III.9d).

Wegen der stärkeren Zuwanderung junger Erwach-sener ist der Ausländeranteil in der Altersgruppeder 20- bis 35-Jährigen mit 15,6 % besonders hoch(1997). In der Gruppe der über 65-Jährigen beträgtdieser Anteil demgegenüber nur 2,5 % (vgl. Abbil-dung III.9c und III.9d). Im Vergleich zu 1970 hatder Anteil der über 65-Jährigen allerdings um mehrals das Dreifache zugenommen; damals betrug derAnteil nur 0,7 %.

Die Altersgliederung einer Bevölkerung ist einwichtiger Indikator für die „Belastung" derErwerbsfähigen durch die Nachwuchssicherung(für noch nicht Erwerbsfähige) und die Älteren(nicht mehr Erwerbsfähigen). Die Altersstrukturhat wesentlichen Einfluss auf die Finanzierung derSozial- und Rentenversicherung, wobei es hier vorallem auf die Relation von Beitragszahlern und

Leistungsempfängern ankommt. Allerdings hängtdie Finanzierung nicht allein von demographischenFaktoren ab, sondern wird auch von der jeweiligenErwerbsquote der 19- bis 65-Jährigen, der Ar-beitsmarktsituation und dem durchschnittlichenRenteneintrittsalter bestimmt. Einfluss hat dieAltersstruktur außerdem auf die Kosten des Ge-sundheitswesens, da ältere Menschen in der Regeldie Leistungen der Gesundheitsversorgung und seiteinigen Jahren auch die Leistungen der Pflegever-sicherung stärker und auch kostenintensiver inAnspruch nehmen als jüngere.

Als grober Indikator für die Belastungen, die sichaus demographischer Sicht ergeben, dient diesogenannte „Altenlastquote“. Damit ist die Zahlder Menschen über 60 Jahre je 100 Personen imAlter von 20 bis 60 Jahren gemeint. Dieser „Bela-stungsquotient" betrug 1995 bei der deutschenBevölkerung 0,41 und bei der ausländischen Be-völkerung 0,08. Anders ausgedrückt heißt dies:Auf 100 Personen im Alter von 20 bis 60 Jahrenkamen bei der deutschen Bevölkerung 41 Personenim Alter über 60 Jahren. Bei der ausländischenBevölkerung lag die Altlastenquote dagegen nurbei 8 Personen im Alter über 60 Jahre je 100 20-bis 60-Jährige (Schwarz 1998). Der hohe Anteiljüngerer Personen an der Alterspyramide der aus-ländischen Bevölkerung brachte der deutschenSozial- und Krankenversicherung in den letztenJahrzehnten im Vergleich zur deutschen Bevölke-rung deutlich mehr Beitragszahler und deutlichweniger Leistungsempfänger.

III.6.4 Geburten, Sterbefälle und Famili-enstand der ausländischen Bevöl-kerung

Für die demographische Struktur einer Bevölke-rung ist es wichtig, neben dem Wanderungsver-halten auch die Entwicklung der Sterblichkeit(Mortalität) und Fruchtbarkeit (Fertilität) zu ken-nen. Die Geburtenstatistik ist allerdings nur be-dingt aussagefähig für die Fertilität von Migranten,da nur die in der Bundesrepublik Deutschland zurWelt gekommenen ausländischen Kinder registriertwerden. Hinzu kommen also die Kinder von Mi-granten, die im Herkunftsland geboren wurden undim Laufe ihrer Kindheit nach Deutschland einreis-ten. Zwei Drittel aller ausländischen Kinder undJugendlichen sind allerdings in der Bundesrepublikgeboren (Beauftragte der Bundesregierung für dieBelange der Ausländer 1995: 16).

Drucksache 14/4357 – 68 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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90

2,6 2,4 2,2 2 1,8 1,6 1,4 1,2 1 0,8 0,6 0,4 0,2 0

Alter

Prozent0 0,2 0,4 0,6 0,8 1 1,2 1,4

Prozent

Berechnungsgrundlage: Bevölkerungsfortschre ibung 1970 u. 1985

Männer Frauen

Männer-überschuß

Frauen-überschuß

1,4 1,2 1 0,8 0,6 0,4 0,2 0

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Prozent

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0 0,2 0,4 0,6 0,8 1 1,2 1,4Prozent

Männer-überschuß

Frauen-überschuß

© DJI-Regiona ldatenbank

Männer Frauen

Abb. III.9a: Altersaufbau der ausländischenBevölkerung im früheren Bundesgebiet am31.12.1970 (in Prozent)

Abb. III.9b: Altersaufbau der ausländischenBevölkerung im früheren Bundesgebiet am31.12.1985 (in Prozent)

Abb. III.9c: Altersaufbau der ausländischenBevölkerung im früheren Bundesgebiet am31.12.1997 (in Prozent)

Abb. III.9d: Altersaufbau der deutschenBevölkerung im früheren Bundesgebietam 31.12.1997 (in Prozent)

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Männer Frauen

Männer-überschuß

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Berechnungsgrundlage: Bevölkerungsfortschreibung 1997

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Prozent0 0,2 0,4 0,6 0,8 1 1,2 1,4

Prozent © DJI - Regionaldatenbank

Männer Frauen

Männer-überschuß

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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69 – Drucksache 14/4357

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Tabelle III.3: Geburten, Sterbefälle und Geburtensaldo nach der Staatsangehörigkeit 1960–1997

Jahr * Lebendgeborene Gestorbene Überschuss der Geborenen bzw. der

Gestorbenen (-)

Insgesamt Ausländer insgesamt Ausländer Staatsangehörigkeit

Anzahl Anteil %

Anzahl insgesamt deutsch ausländisch

1960 968.629 11.141 1,2 642.962 3.593 325.667 318.119 7.548 1965 1.044.328 37.858 3,6 677.628 5.535 366.700 334.377 32.323 1970 810.808 63.004 7,8 734.843 8.005 75.965 20.966 54.999 1975 600.512 95.873 16,0 749.260 8.991 -148.748 -235.630 86.882 1980 620.657 80.695 13,0 714.117 8.511 -93.460 -165.644 72.184 1981 624.557 80.009 12,8 722.192 8.529 -97.635 -169.115 71.480 1982 621.173 72.981 11,7 715.857 8.524 -94.684 -159.141 64.457 1983 594.177 61.471 10,3 718.337 8.064 -124.160 -177.567 53.407 1984 584.157 54.795 9,4 696.118 7.835 -111.961 -158.921 46.960 1985 586.155 53.750 9,2 704.296 7.694 -118.141 -164.197 46.056 1986 625.963 58.653 9,4 701.890 7.845 -75.927 -126.735 50.808 1987 642.010 67.191 10,5 687.419 8.030 -45.409 -104.570 59.161 1988 677.259 73.518 10,9 687.516 8.598 -10.257 -75.177 64.920 1989 681.537 79.868 11,7 697.730 8.695 -16.193 -87.366 71.173 1990 727.199 86.320 11,9 713.335 9.482 13.864 -62.974 76.838 1991 830.019 90.753 10,9 911.245 10.604 -81.226 -161.375 80.149 1992 809.114 100.118 12,4 885.443 11.267 -76.329 -165.180 88.851 1993 798.447 102.874 12,9 897.270 11.884 -98.823 -189.813 90.990 1994 769.603 100.728 13,1 884.661 12.383 -115.058 -203.403 88.345 1995 765.221 99.714 13,0 884.588 12.800 -119.367 -206.281 86.914 1996 796.013 106.229 13,4 882.843 13.394 -86.830 -179.665 92.835 1997 812.173 107.182 13,2 860.389 13.678 -48.216 -141.720 93.504

* Bis 1990 früheres Bundesgebiet, ab 1991 Deutschland

Quelle: Statistisches Bundesamt; Statistische Jahrbücher 1960-98

Wie bereits weiter oben deutlich wurde, ist die längerfristige demographische Entwicklung in Deutschland durch eine drastische Änderung der Altersstruktur gekennzeichnet. Dies zeigt sich auch an der Entwicklung der Geburten (vgl. Tab. III.3). Bis Mitte der 60er-Jahre kamen noch jährlich über eine Million Kinder in der Bundesrepublik Deutschland zur Welt; davon hatten rund 95 % die deutsche Staatsangehörigkeit und rund 5 % eine andere Staatsangehörigkeit. Seit den 70er-Jahren stieg der Anteil der Kinder mit einer nichtdeut-schen Staatsangehörigkeit deutlich an, mit einem Höhepunkt von 17,3 % (1974). Danach vermin-derte sich der Anteil wieder und pendelte sich seit den 90er Jahren auf jährlich etwa 100 000 Gebur-ten ein, was einem Anteil von ca. 13 % entspricht. Das heißt, dass Ende der 90er-Jahre jedes achte in

Deutschland geborene Kind Eltern mit auslän-discher Staatsangehörigkeit hatte.

Aus Tabelle III.3 geht deutlich hervor, dass bei der ausländischen Bevölkerung der Saldo aus Geburten und Sterbefällen deutlich größer ist als bei der deut-schen, bei der dieser Saldo seit 1971 negativ ist. Der Geburtenausfall bei den Deutschen kann allerdings nicht durch die Geburten von Kindern mit ausländi-scher Staatsangehörigkeit vollständig ausgeglichen, sondern bestenfalls abgemildert werden. Bei einer Gegenüberstellung der Lebendgeburten von Auslän-dern mit den Gesamtausländeranteilen des jeweili-gen Jahres zeigt sich, dass die ausländische Bevölke-rung anteilsmäßig stets mehr Kinder zur Welt brachte als dies ihrem Bevölkerungsanteil entsprach (insbesondere in den 70er-Jahren).

Drucksache 14/4357 – 70 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Mutter Deutsche/Vater

Ausländer1,9%

Nichtehelich Geborene/Mutter

Deutsche5,5%

Vater Deutscher/Mutter

Ausländerin1,8%

Beide Eltern Deutsche

74,8%

Eltern mit gleicher ausl.

Staatsangehörigkeit14,5%

Nichtehelich Geborene/Mutter

Ausländerin 0,7%

Eltern mit verschiedener ausländischer

Staatsangehörigkeit0,8%

Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie1, Reihe 1, 1997

Abbildung III.10a: Lebendgeborene nach Staatsangehörigkeit der Eltern , 1975 (Früheres Bundesgebiet)

Mutter Deutsche/ Vater Ausländer

3,3%

Nichtehelich Geborene/Mutter

Deutsche15,4%

Vater Deutscher/ Mutter Ausländerin

3,4%

Beide Eltern Deutsche

64,5%

Eltern mit gleicher ausl.

Staatsangehörigkeit8,2%

Nichtehelich Geborene/Mutter

Ausländerin 1,6%

Eltern mit verschiedener ausländischer

Staatsangehörigkeit3,6%

Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie1, Reihe 1, 1997

Abbildung III.10b: Lebendgeborene nach Staatsangehörigkeit der Eltern, 1996 (Deutschland)

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 71 – Drucksache 14/4357

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Knapp ein Fünftel (17,3 %) aller in Deutschlandgeborenen Kinder hatte 1996 eine Mutter, einenVater oder beide Elternteile mit einer ausländi-schen Staatsangehörigkeit. Im Vergleich zu 1975,wo dieser Anteil 19,7 % betrug, ist sogar einleichter Rückgang zu verzeichnen (vgl. AbbildungIII.10a und Abbildung III.10b). Der hohe Anteil1975 dürfte auf die starken Zuwanderungen Endeder 60er/Anfang der 70er-Jahre zurückzuführensein (vgl. auch Abbildung III.10b). Einen umge-kehrten Effekt hatten die relativ hohen Abwande-rungen Mitte der 70er-Jahre, die in den Folgejahrenzu einer vorübergehenden Abnahme der Lebend-geborenen mit ausländischer Staatsangehörigkeitführten (vgl. auch Tab. III.4): So betrug z. B. derAnteil der in Deutschland geborenen Kinder mitmindestens einem ausländischen Elternteil 1985nur 13,8 %.

Wie schon aus Tabelle III.4 hervorgeht, unter-scheidet sich die ausländische von der deutschenBevölkerung nicht nur in Bezug auf die Lebendge-borenen, sondern auch hinsichtlich der Sterbefälle.Die Zahl der in Deutschland gestorbenen Auslän-der liegt seit 1990 zwischen etwa 10.000 und13.000 Personen jährlich, bei steigender Tendenzin den letzten Jahren. Bezogen auf 1.000 Ausländersind es weniger als zwei. Für die deutsche Bevöl-kerung beträgt diese allgemeine oder „rohe" Ster-beziffer rund 12, ist also deutlich höher. Das be-sagt, wegen der sehr abweichenden Altersstrukturder Ausländer, für ihr Sterblichkeitsniveau oderSterblichkeitsrisiko allerdings so gut wie nichts.Um darüber trotzdem etwas aussagen zu können,wurden die Sterbefälle der Ausländer altersspezi-fisch mit den Sterbefällen verglichen, die sich

ergeben, wenn man von den entsprechenden alters-spezifischen Sterbeziffern der Gesamtbevölkerungausgeht.

Es zeigt sich, dass die ausländische Bevölkerungab der Altersgruppe 15 bis 20 Jahre deutlich gerin-gere altersgruppenspezifische Sterbeziffern auf-weist als die vergleichbaren Gruppen der Gesamt-bevölkerung (vgl. Tab. III.4). Besonders hoch sinddie Unterschiede ab dem 65. Lebensjahr. Dieskönnte als Beleg für den außerordentlich gutenGesundheitszustand der in Deutschland lebendenAusländer angesehen werden. Auch wenn mandavon ausgeht, dass nur selten kranke Ausländernach Deutschland als Einwanderer kommen, kön-nen die Unterschiede jedoch kaum als Beweis fürein geringeres Sterberisiko in diesem Umfanggewertet werden.

Statt dessen ist zu vermuten, dass in Deutschlandschwer krank gewordene Ausländer in größererZahl in ihre Herkunftsländer zurückkehren, so dasssie im Todesfall nicht in die Statistik eingehen. Dasdürfte vor allem bei älteren Ausländern der Fallsein, für die besonders große Unterschiede zurGesamtbevölkerung ermittelt wurden. Wie schonbei der Aufenthaltsdauer erwähnt, liefert die amtli-che Meldestatistik nur sehr ungenaue Angabenüber die Zahl der tatsächlich in Deutschland leben-den Ausländer. Der Vergleich zwischen der Volks-zählung von 1987 und der Bevölkerungsfortschrei-bung weist eine Fehlerdifferenz von ca. 400.000Personen auf, und zwar durch nicht erfolgte Ab-meldungen – insbesondere bei Nicht-EU-Bürgern(Beauftragte der Bundesregierung für Ausländer-fragen 1997, 83).

Tabelle III.4:Gestorbene und altersgruppenspezifische Sterbeziffern der Gesamtbevölkerung und der ausländi-schen Bevölkerung in Deutschland 1997

Gestorbene insgesamt Ausländer Altersgruppenspezifische Sterbeziffern*

Gesamtbevölkerung AusländerMännlich Weiblich Männlich Weiblich Männlich Weiblich Männlich Weiblich

unter 1 2.260 1.691 371 311 5,473 4,319 6,772 6,024 1-5 510 391 97 66 0,313 0,253 0,450 0,323

5-10 364 236 47 37 0,154 0,106 0,171 0,142 10-15 369 250 41 32 0,158 0,113 0,170 0,143 15-20 1.714 630 121 59 0,737 0,286 0,436 0,235 20-25 2.166 674 271 72 0,938 0,306 0,694 0,197 25-30 2.935 1.033 301 99 0,914 0,344 0,601 0,243 30-35 4.245 1.742 293 110 1,125 0,497 0,601 0,318 35-40 5.777 2.716 281 117 1,671 0,832 0,761 0,433 40-45 8.071 4.050 358 187 2,685 1,401 1,237 0,75 45-50 11.347 5.790 550 295 4,139 2,162 2,077 1,201 50-55 15.315 7.537 810 329 6,592 3,309 3,506 1,879 55-60 29.977 13.957 1.201 356 10,022 4,661 6,031 2,741 60-65 38.483 18.408 1.072 359 16,325 7,430 8,484 4,322 65-70 50.257 27.135 839 321 27,039 12,569 13,114 6,111 70-75 52.089 45.838 799 447 40,738 21,770 24,113 12,08 75-80 51.055 61.549 588 407 64,730 37,744 34,669 19,636 80-85 50.955 85.947 435 422 111,608 75,665 47,298 35,148 85-90 46.266 104.658 285 407 172,244 129,474 55,762 46,881

90 und älter 24.158 77.844 160 325 256,162 235,585 51,159 52,949Insgesamt. 398.313 462.076 8.920 4758 9,961 10,985 2,200 1,399

* Gestorbene je 1.000 der jeweiligen Altersgruppe nach Geschlecht im JahresdurchschnittQuelle/ Berechnungsgrundlage: eigene Berechnungen nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes

Drucksache 14/4357 – 72 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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In den jüngeren Altersjahrgängen – bis etwa zum15. Lebensjahr – ist bei der ausländischen Bevölke-rung im Vergleich zur Gesamtbevölkerung eine hö-here Sterblichkeit zu verzeichnen; besonders hochsind die Abweichungen für die ersten Lebensjahre.Die Ursache hierfür liegt vermutlich in der geringe-ren Inanspruchnahme der Gesundheitsvorsorge undder gesundheitlichen Aufklärung. Im Vergleich zufrüheren Jahren ist die höhere Sterblichkeit derAusländerkinder zwar geblieben, hat sich aber imgleichen Umfang wie bei den deutschen Kindern inden vergangenen Jahren doch stark vermindert(Schwarz 1998). Dies würde dafür sprechen, dassdie gesundheitliche Vorsorge in stärkerem Umfangals früher auch die ausländische Bevölkerung er-reicht.

In Bezug auf den Familienstand unterscheidet sichdie ausländische Bevölkerung kaum mehr von derdeutschen. Während in früheren Jahrzehnten we-gen des hohen Männerüberschusses vor allem

jüngere ausländische Männer häufiger ledig warenals deutsche, ist es jetzt eher umkehrt. Dementspre-chend höher ist auch ihre Verheiratungsquote inden jüngeren und mittleren Altersgruppen, obwohlin diesen Altersgruppen immer noch ein Män-nerüberschuss besteht (vgl. Abbildung III.9c).Lediglich bei den über 70-Jährigen findet sich nochein höherer Ledigenanteil als bei den Deutschenentsprechenden Alters.

Bei den Ausländerinnen fällt auf, dass sie schon injungen Jahren (20 bis 30 Jahre) deutlich häufigerverheiratet sind als die deutschen Frauen. So sindz. B. die 25- bis 30-jährigen deutschen Frauen zuknapp 36 % bereits verheiratet, die ausländischenFrauen dagegen zu 45 %. Deutlich niedriger ist beiden Ausländerinnen auch der Anteil der Geschie-denen in den jüngeren und mittleren Altersgruppen.Dagegen steigen diese Anteile ab etwa dem 60.Lebensjahr an und liegen damit sogar über denentsprechenden Anteilen bei den deutschen Frauen.

Tabelle III.5a:Deutsche Bevölkerung nach Altersgruppen und Familienstand am 31.12.1997 (in Prozent)

Männliche Bevölkerung Weibliche Bevölkerung

unter ...Jahren

Insge-samt Ledig Verhei-

ratetVerwit-

wetGeschie-

den Insgesamt Ledig Verheiratet Verwitwet Geschieden

unter 5 100 100,0 - - - 100 100,0 - - -5 bis 10 100 100,0 - - - 100 100,0 - - -

10 bis 15 100 100,0 - - - 100 100,0 - - -15 bis 20 100 99,9 0,1 0,0 0,0 100 99,4 0,6 0,0 0,020 bis 25 100 96,2 3,7 0,0 0,1 100 88,8 10,8 0,0 0,425 bis 30 100 78,3 20,3 0,0 1,4 100 61,2 35,8 0,2 2,830 bis 35 100 51,0 44,3 0,1 4,5 100 34,4 58,8 0,5 6,435 bis 40 100 29,9 62,0 0,3 7,8 100 17,8 71,7 1,1 9,340 bis 45 100 18,1 71,8 0,6 9,6 100 10,7 76,2 2,1 11,145 bis 50 100 12,2 76,7 0,9 10,1 100 7,0 77,4 3,6 11,950 bis 55 100 9,2 79,2 1,6 10,0 100 5,2 77,2 6,1 11,555 bis 60 100 7,8 81,3 2,7 8,2 100 5,0 75,3 10,3 9,460 bis 65 100 6,0 83,6 4,3 6,0 100 5,4 69,7 17,6 7,265 bis 70 100 4,3 84,1 7,5 4,1 100 6,7 58,8 28,7 5,870 bis 75 100 3,3 82,0 11,7 3,0 100 8,6 44,4 41,7 5,375 bis 80 100 2,7 77,2 17,8 2,3 100 8,5 28,0 58,4 5,080 bis 85 100 2,9 65,9 29,2 1,9 100 7,6 13,3 75,0 4,1

85 und 100 4,4 38,4 55,9 1,3 100 8,3 4,8 84,8 2,2älter

Insgesamt 100 44,5 48,1 2,8 4,6 100 35,8 44,8 13,6 5,7

Quelle: Statistisches Bundesamt, Berechnungsgrundlage: Bevölkerungsfortschreibung

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 73 – Drucksache 14/4357

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Tabelle III.5b:Ausländische Bevölkerung nach Altersgruppen und Familienstand am 31.12.1997 (in Prozent)

Männliche Bevölkerung Weibliche Bevölkerung

unter ...Jahren

Insge-samt Ledig Verhei-

ratetVerwit-

wetGeschie-

den Insgesamt Ledig Verheiratet Verwitwet Geschieden

unter 5 100 100,0 - - - 100 - - - -5 bis 10 100 100,0 - - - 100 - - - -

10 bis 15 100 100,0 - - - 100 - - - -15 bis 20 100 99,3 0,6 0,0 0,0 100 94,3 5,7 0,0 0,020 bis 25 100 89,4 10,2 0,0 0,4 100 72,3 27,1 0,1 0,525 bis 30 100 71,5 26,8 0,1 1,5 100 52,8 45,1 0,3 1,730 bis 35 100 47,5 48,7 0,2 3,6 100 29,6 66,0 0,8 3,635 bis 40 100 27,6 65,7 0,4 6,2 100 14,8 78,0 1,5 5,640 bis 45 100 13,8 77,1 0,7 8,3 100 8,0 82,5 2,5 7,045 bis 50 100 8,7 81,9 1,0 8,4 100 5,7 83,2 3,6 7,550 bis 55 100 6,0 85,6 1,4 7,0 100 4,4 82,4 5,7 7,455 bis 60 100 5,1 86,6 2,0 6,2 100 4,5 77,7 10,0 7,860 bis 65 100 4,9 86,3 2,9 5,9 100 4,6 70,5 16,5 8,365 bis 70 100 4,5 84,0 4,9 6,6 100 4,7 60,0 26,5 8,870 bis 75 100 6,1 78,3 8,8 6,9 100 5,2 43,9 42,3 8,775 bis 80 100 6,5 72,8 13,2 7,4 100 6,1 28,6 58,1 7,280 bis 85 100 7,8 66,9 19,0 6,3 100 6,4 18,0 70,1 5,5

85 und 100 11,4 53,1 30,9 4,6 100 9,0 12,9 73,7 4,5älter

Insgesamt 100 54,1 41,6 0,8 3,5 100 48,4 44,6 3,6 3,4

Quelle: Statistisches Bundesamt, Berechnungsgrundlage: Bevölkerungsfortschreibung

Drucksache 14/4357 – 74 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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IV. Phasen und Lebensformen von Familien ausländischer Herkunft

IV.1 Besondere Probleme der Beschrei-bung und Erklärung von Verände-rungsprozessen in Familien ausländi-scher Herkunft

An weitreichenden Annahmen über migrationsbe-dingten Wandel familiärer Strukturen hat es in dersozialwissenschaftlichen Diskussion niemals ge-fehlt. Keine Dimension familiärer Strukturen istvon der Vermutung, dass sie von Migration dras-tisch beeinflusst werde, ausgeschlossen worden(Nauck 1985). Keines der zahlreichen Textbücherüber die sozialen Folgen von Migrationsprozessenund zur Ausländerpädagogik verzichtet z. B. aufein Kapitel über „die“ türkische (= traditionale,patriarchalische, islamische, ländliche, autoritäre...)Familie, um sie von „der" deutschen Familie abzu-heben und zugleich die disruptiven Veränderungenin den Migrantenfamilien in den buntesten Farbenzu schildern. Solche Darstellungen neigen zu einerRhetorik, die die Unterschiede akzentuiert, ihrAugenmerk auf das Ungewöhnliche und Exotischerichtet. Dies hat eine eigene Folklore des Halbwis-sens hervorgebracht, die selbst bei wohlmeinendenEinheimischen und vielen Praktikern des Umgangsmit Ausländern immer wieder bestätigt und fortge-führt wird.

Tatsächlich handelt es sich jedoch bei familiärenVeränderungen, die auf die Migrations- und Mino-ritätssituation zurückzuführen sind, um einen Un-tersuchungsgegenstand hoher Komplexität, dessenErforschung zudem mit großen methodischen Pro-blemen verbunden ist. Die folgende Darstellungverfolgt deshalb zunächst das Ziel, einen Einblickin diese methodischen Probleme zu geben, um denBlick für diese Besonderheiten zu schärfen, bevoranschließend sozialwissenschaftliche Befunde zuFamilien ausländischer Herkunft in Deutschlanddargestellt werden. Die Darstellung orientiert sichdabei grob an Phasen, die typischerweise von die-sen Familien durchlaufen werden.

Der Wandel in Migrantenfamilien vollzieht sichauf mehreren Ebenen gleichzeitig, die idealerweisegleichzeitig in den Blick genommen werden müs-sen:

1. der gesellschaftliche Wandel in den Herkunfts-und Aufnahmegesellschaften,

2. der intergenerative Wandel zwischen den Wan-derungs- und Folgegenerationen,

3. der intragenerative Wandel der Familien imFamilienzyklus und die damit verbundenen in-dividuellen Veränderungen der Familienmit-glieder im Lebensverlauf.

Viele Befunde der empirischen Migrations- undEingliederungsforschung legen nahe, dass es nichtdie für gewöhnlich als „kulturell“ umschriebenenUnterschiede sind, die zur Verschiedenheit vonEingliederungsprozessen von Migrantenfamilienunterschiedlicher Herkunft geführt haben, sonderndie jeweilige Konstellation von Möglichkeiten undBarrieren, die die jeweilige Nationalität mehrheit-lich bei den zumeist wellenförmig verlaufendenZuwanderungsprozessen vorgefunden hat. Weralso Eingliederungsprozesse von Italienern undGriechen mit denen von Vietnamesen und Türkenin Deutschland vergleicht (und möglicherweisederen fehlende Eingliederungs„bereitschaft“ be-klagt), wird somit zu berücksichtigen haben, wannund in welchen Proportionen die jeweiligen Natio-nalitäten im historische Zuwanderungsprozess nachDeutschland zugewandert sind, welche Gelegen-heitsstrukturen dabei vorzufinden waren und wieviel Lebenszeit die Migranten jeweils individuellbereits in den Eingliederungsprozess investierenkonnten.

Sozialer Wandel findet jedoch nicht nur in derjeweiligen Aufnahmegesellschaft, sondern auch inden Herkunftsgesellschaften statt. Dies ist übrigensein Sachverhalt, der von den Arbeitsmigrantenselbst häufig nicht reflektiert wird, nämlich dasssich ihr jeweiliges Herkunftsland während ihresAufenthaltes im Ausland ebenfalls verändert: So istz. B. die Türkei heute nicht mehr dieselbe, die derArbeitsmigrant vor 15, 20 oder 30 Jahren verlassenhat und seitdem nur mehr aus der Urlauberper-spektive wahrnimmt. So haben sich die Familien-strukturen, die Geschlechter- und Generationenbe-ziehungen in diesem Zeitraum in der Türkei wahr-scheinlich stärker verändert als Familienstrukturenin Deutschland. Migranten tendieren zudem dazu,sich ein Bild ihrer Herkunftsgesellschaft zu bewah-ren, dass sie sich bis zur Migration erstellt haben,sodass die meisten ein konservativeres Bild vonihrer Herkunftsgesellschaft haben, als es der aktu-ellen Wirklichkeit entspricht. Diese Tendenz wirddurch minoritätenspezifische Massenmedien ehernoch unterstützt: Da diese ein außerordentlichhohes Interesse am Erhalt ihrer ethnisch-nationaldefinierten Klientel haben müssen, liegt es für siesehr nahe, an einem konservativen Bild der jewei-ligen Herkunftsgesellschaft festzuhalten, deren

SozialerWandel auchin Herkunfts-gesellschaften

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 75 – Drucksache 14/4357

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Besonderheiten zu betonen und sie von anderenGesellschaften abzuheben.

Auf der familiären Ebene ist zwischen intergenera-tivem und intragenerativem Wandel zu unterschei-den. In der Migrationsforschung hat intergenerati-ver Wandel seit ihrem Beginn in den 30er-Jahrenstets eine bedeutsame Rolle gespielt, wenn dasVerhalten von Migranten der ersten, zweiten unddritten Generation einander gegenübergestellt wird.Zumeist ist dabei das Assimilationsniveau derZuwanderergeneration mit der der Folgegeneratio-nen verglichen worden. In Bezug auf Zuwanderernach Nordamerika haben sich z. B. Indizien dafürfinden lassen, dass die zweite Generation der be-reits in der Aufnahmegesellschaft geborenen Mino-ritätsangehörigen stets ein höheres Assimilations-niveau aufgewiesen hat als die erste Generation derZuwanderer. Bei der dritten Generation findet abernicht selten ein „ethnic revival“ statt, d. h. eineRückbesinnung auf kulturelle Traditionen der Her-kunftsgesellschaft – wenn auch häufig in der Formvon kulturellen Transformationsprozessen. Beidenen müssen die gewählten Symbolkomplexeethnischer Identifikation nicht unbedingt authenti-sche Bestandteile der Herkunftskultur sein, sondernkönnen vielmehr eine Minoritäten-Subkultur her-vorbringen, die in der Herkunftsgesellschaft wenigoder gar keine Entsprechung finden (Gans 1979).

Ein weiteres Ergebnis dieser Analysen ist gewesen,dass eine erstaunliche Streuungsbreite sowohlindividuell zwischen dem Eingliederungsverhalteneinzelner Zuwanderer bzw. von Generationen-Ketten von Zuwanderern als auch kollektiv zwi-schen den verschiedenen Zuwanderernationalitätenzu beobachten ist und Assimilation keineswegs ein„zwangsläufiges“ Ergebnis von Eingliederungspro-zessen sein muss (Esser 1980). So lässt sich fürNordamerika belegen, dass jüdische, griechischeund türkische Zuwanderer um vieles stärker ge-schlossene eigenethnische Verkehrskreise bilden,über Generationen hinweg aufrechterhalten und anihrer ethnischen Identität festhalten als z. B. deut-sche oder schwedische Zuwanderer (Isajiw 1990).

Solche Überlegungen über Generationszugehörig-keit sind relativ früh auch auf das Eingliederungs-verhalten von Arbeitsmigranten und deren Nach-kommen in Deutschland zu übertragen versuchtworden (Schrader/Nikles/Griese 1979), wobeistarke Werte-Differenzen zwischen der Migranten-und den Nachfolgegenerationen erwartet wurden.Eine empirische Analyse von Richtung und Inten-sität der intergenerationalen Veränderungen imEingliederungsverhalten von Zuwanderern inDeutschland ist jedoch bislang nur ansatzweisemöglich gewesen. Das liegt nicht daran, dass dieempirische Forschung diesem Phänomen bislangkeine Aufmerksamkeit geschenkt hätte, sondern

daran, dass die zweite Zuwanderergeneration inDeutschland aus „historischen“ Gründen derzeitmehrheitlich etwa das Alter erreicht, das ihre El-tern zum Zeitpunkt ihrer Zuwanderung aufgewie-sen hatten.

Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass Familiensich selbst verändern und verschiedene Stadien imFamilienzyklus von der Familiengründung bis zurFamilienauflösung durchlaufen. Bei der verglei-chenden Analyse von Migrantenfamilien verschie-dener Herkunftsnationalitäten ist die Stellung imFamilienzyklus in zweierlei Weise von Bedeutung.Einmal hat sich historisch der individuelle Migrati-onszeitpunkt im Familienzyklus verändert: Für eineVielzahl von Arbeitsmigranten bis zum Anwerbe-stopp Mitte der 70er-Jahre war es ein typischesMigrationsmuster, als verheirateter Vater zunächstallein in der Aufnahmegesellschaft zu leben unddann die Familie (häufig viele Jahre später undkeineswegs immer gleichzeitig) nachziehen zulassen, d. h. Heirat und die ersten Phasen der Fa-miliengründung erfolgten in der Herkunftsgesell-schaft nach deren normativen und sozialen Regula-rien. Seitdem hat sich nicht nur der zeitliche Ab-stand des Migrationszeitpunktes zwischen denFamilienmitgliedern kontinuierlich verringert, viel-mehr erfolgt eine zunehmend größere Zahl vonFamiliengründungen in der Aufnahmegesellschaft.Dies bedeutet keineswegs, dass die juristischeEheschließung auch in der Aufnahmegesellschafterfolgt (dies ist nach wie vor – aus einer Vielzahlvon Gründen – mehrheitlich nicht der Fall), dochist den Beteiligten als „Vertragsbedingung“ klar,dass die Ehe in der Aufnahmegesellschaft geführtwerden soll. Nicht zuletzt die ausländerrechtlichenRegelungen haben dazu geführt, dass in einer zu-nehmenden Zahl von Fällen Migration (eines Ehe-partners) und Familiengründung zusammenfallen:Familienzusammenführung ist (außer politischemAsyl) zum einzigen legalen Zuwanderungsgrundfür Nicht-Mitglieder der Europäischen Union ge-worden. Durch diese Situation besteht ein großerAnreiz, einen Heiratspartner nicht etwa in der Auf-nahme- sondern in der jeweiligen Herkunftsgesell-schaft zu suchen. Dies führt dazu, dass der Adap-tationsprozess der Ehepartner in der Familiengrün-dungsphase typischerweise zusammenfällt mit demBeginn der Eingliederung eines Ehepartners in dieAufnahmegesellschaft. Welche Konsequenzen diesfür den Familienverlauf hat, ist bislang völlig uner-forscht.

Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass die Zu-wanderung der verschiedenen Herkunftsnationali-täten wellenförmig verlaufen ist. Entsprechenddurchlaufen diese Zuwanderernationalitäten denEingliederungsprozess, die einzelnen Phasen desFamilienzyklus und die Lebensphasen mehr oderweniger als Gruppen gleichen Alters, d. h. die

Migration undFamilien-gründungfallen zuneh-mend zusam-men

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Angehörigen der einzelnen Nationalitäten „altern“gemeinsam, unterscheiden sich aber darin vonvorher und nachher gekommenen Wellen andererNationalitäten. Wenn Untersuchungen nicht sorg-fältig durchgeführt werden, kann dies dazu führen,dass Familien einer Nationalität, die sich typi-scherweise häufiger in fortgeschrittenen Phasen desFamilienzyklus befinden, mit Familien andererNationalitäten verglichen werden, die sich auf-grund einer historisch späteren Zuwanderungswellein eher frühen Phasen des Familienzyklus befin-den: So sind vietnamesische Familien in Deutsch-land durchschnittlich jünger als italienische Famili-en in Deutschland. Ähnliche Probleme einer reinquerschnittlichen Betrachtung treten auf, wennNationalitäten miteinander verglichen werden, diesich darin unterscheiden, in welchem Maße (undaufgrund welcher rechtlicher Zuwanderungsoptio-nen) weiterhin Zuwanderungen erfolgen. So wer-den beispielsweise Migranten türkischer Nationa-lität routinemäßig mit solchen anderer klassischerAnwerbenationalitäten verglichen, ohne zu berück-sichtigen, dass in den letzten Jahren durch Asylbe-werber kurdischer Ethnizität die Angehörigentürkischer Nationalität mit kurzer Aufenthaltsdauernicht nur stark zugenommen, sondern sich auch inihrer demographischen Zusammensetzung starkverändert haben. Entsprechend werden sichzwangsläufig bei Querschnittsvergleichen deutlicheNiveau-Unterschiede für die geläufigen Eingliede-rungs-Indikatoren im Vergleich zu anderen Natio-nalitäten zeigen, ohne dass dies mit Unterschiedenim individuellen Verhalten, in der individuellenEingliederungsbereitschaft oder -geschwindigkeitirgendetwas zu tun haben muss.

Schließlich sind auch Rückschlüsse auf den Wan-del in Migrantenfamilien nicht durch einfacheVergleiche mit Familien in den jeweiligen Her-kunftsgesellschaften möglich: Migrantenfamiliensind keine „Zufallsauswahl“ der in den Herkunfts-gesellschaften lebenden Familien. Vielmehr unter-scheiden sich Migranten von der Bevölkerung ihrerHerkunftsgesellschaft (und der der Aufnahmege-sellschaft) nach einer Vielzahl sozialer Merkmale(wie Alter, Geschlecht, Familienstand, Gesundheit,Bildung, beruflicher Qualifikation, Aufstiegsmoti-vation, materiellen Lebenszielen, sozialen Bindun-gen etc.), d. h. es handelt sich um eine in vielfacherHinsicht selektive Bevölkerungskategorie. Mi-granten sind außerdem keine sozialen Monaden,die ohne Not darauf verzichten, ihre sozialen Be-ziehungen für ihre (Migrations-) Zwecke zu mobi-lisieren: Entsprechend wahrscheinlich ist es, dasssie in ihren Wanderungsentscheidungen an Er-fahrungen von Menschen anknüpfen, die sich fürsie als Informanten, Rat- und Hilfegeber als ver-lässlich herausgestellt haben. Es kann deshalb nichtverwundern, dass Kettenmigration, d. h. der Nach-zug von mehreren Familien- und Verwandtschafts-

mitgliedern an denselben Zielort, ein außerordent-lich verbreitetes Phänomen ist.

Dies führt u. a. dazu, dass sich in verschiedenenRegionen Deutschlands die Migranten derselbenHerkunftsnationalität nach ihrer regionalen Her-kunft deutlich voneinander unterscheiden: Türki-sche Familien in Nordrhein-Westfalen haben typi-scherweise eine andere Herkunftsregion als türki-sche Familien in Berlin. Während z. B. im Ruhrge-biet viele Familien den Bergbauregionen der Nord-Türkei entstammen, finden sich in Berlin besondersviele Familien kurdischer Abstammung aus derSüdost-Türkei; ebenso ist anzunehmen, dass sichitalienische Arbeitsmigranten in der Schweiz häu-figer aus Norditalien rekrutieren als italienischeArbeitsmigranten in Deutschland. Besonders dann,wenn sich in den Herkunftsgesellschaften großeUnterschiede in ihren regionalen Kulturen undLebensumständen finden (wie dies z. B. zwischender West- und Osttürkei, zwischen Nord- und Süd-italien, zwischen Festland- und Insel-Griechen-landder Fall ist), wirft dies für sozialwissenschaftlicheAnalysen ein ernstzunehmendes theoretisches Pro-blem auf. Wann immer Unterschiede im Migra-tions- oder Eingliederungsverhalten von Familienausländischer Herkunft in den Regionen Deutsch-lands (oder: zwischen Deutschland und anderenwesteuropäischen Staaten) gefunden werden:

– Ist dies ein Sozialisationseffekt der direktenBeeinflussung durch den jeweiligen Aufnah-mekontext

– oder ist dies ein Selektionseffekt der nach einerVielzahl von sozialen Merkmalen unterschied-lichen Zuwanderungspopulationen?

In der vergleichenden Migrations- und Eingliede-rungsforschung wird mit großer Ausschließlichkeit(häufig unreflektiert) nur von der ersten Möglich-keit ausgegangen und entsprechend werden geradebei internationalen Vergleichen vorgefundeneUnterschiede nur den jeweiligen Migrationspoliti-ken in den jeweiligen Aufnahmegesellschaften zu-geschrieben.

Ein analoges Problem ergibt sich insbesondere fürAnalysen der Familienentwicklung bei Migranten:Anders als bei der autochthonen Bevölkerung fin-den vielfach Ereignisse in den Lebensverläufenvon Migranten außerhalb des Gebietes statt, das inder jeweiligen sozialwissenschaftlichen Untersu-chung (oder in einer amtlichen Statistik) erfasstwird, d. h. Migranten wandern typischerweise inein Erfassungsgebiet ein und gegebenenfalls auseinem Erfassungsgebiet wieder heraus und haltensich in ihm nur für einen bestimmten Lebensab-schnitt auf. Dies kann zu erheblichen Fehlinterpre-tationen sozialwissenschaftlicher Befunde führen:

Migrantensind keine

repräsentati-ve, sondern

eine selektiveBevölkerungs-

kategorie

Problemebeim Quer-schnittsver-

gleich vonverschiedenenNationalitäten

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77 – Drucksache 14/4357

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– So geben z. B. die Register von Standesämtern(der Aufnahmegesellschaft) ein völlig verzerr-tes Bild über die Geburten, Heiraten und Ster-befälle in Migrantenfamilien, da ein Großteildieser Ereignisse außerhalb ihres Erfassungs-gebietes stattfindet. Je nach Nationalität unter-schiedlich werden der überwiegende Teil derEhen (auch unter Migranten der zweiten Gene-ration) in den Herkunftsländern (oder vor denKonsulaten dieser Länder in der Aufnahmege-sellschaft) geschlossen. Für die Sterbefälle giltin noch stärkerem Maße, dass sie zum ganzüberwiegenden Teil in den jeweiligen Her-kunftsgesellschaften stattfinden und registriertwerden, sodass beispielsweise zuverlässige An-gaben über Mortalität und Lebenserwartung beiMigranten bislang völlig fehlen. Dieses Pro-blem verschärft sich noch dadurch, dass Zu-wanderungen bei weitem vollständiger erfasstwerden als Abwanderungen. Lediglich für dieGeburten ist zumindest für den Großteil derNationalitäten, aus denen sich die Arbeitsmi-granten früherer Jahrzehnte rekrutieren, anzu-nehmen, dass sie nach der Migration inzwi-schen zu einem ganz überwiegenden Teil inDeutschland stattfinden.

– Da jedoch in den Herkunftsgesellschaften Mi-granten, die ihren Hauptwohnsitz in Deutsch-land haben und in den Herkunftsgesellschaftenheiraten, Kinder bekommen oder sterben, nichtgesondert ausgewiesen werden, ist auch eineRekonstruktion auf der Basis mehrerer natio-naler Erfassungen nicht möglich. Da zudem diedeutsche amtliche Statistik querschnittlich-haushaltsbezogen und nicht längsschnittlich-lebenslaufbezogen konzeptualisiert ist, ist esausgeschlossen, z. B. Angaben über vollständi-ge familienbezogene Verläufe hinsichtlich Ehe-schließungen und Scheidungen sowie Geburtenbei Migranten aus solchen Datenquellen zu re-konstruieren.

Doch selbst wenn diese methodischen Problemegelöst werden könnten, bliebe ein weiteres Problemder Daten von Migranten bestehen: Migrantenwandern zu einem ganz erheblichen Teil wiederaus der Aufnahmegesellschaft ab. Für eine metho-disch einwandfreie Erfassung des Verlaufs derFamilienentwicklung bei Migranten wäre es zwin-gend erforderlich, auch diese wieder abgewander-ten Migranten in die Analyse einzubeziehen. Daauch Rückwanderungen (oder Weiterwanderungenin Drittländer) keineswegs zufällig erfolgen, sindauch Rückwanderer keine Zufallsauswahl aus derGesamtzahl der Migranten in der jeweiligen Auf-nahmegesellschaft, d. h. sie werden sich wiederumvon diesen in einer Vielzahl von sozialen Eigen-schaften unterscheiden, die auch für das Familien-leben ausschlaggebend sind. Entsprechend besteht

auch hier das Problem, wann immer Unterschiedezwischen Migrantenfamilien und nichtgewandertenFamilien (seien sie aus der Herkunfts- oder seiensie aus der Aufnahmegesellschaft) gefunden wer-den:

– Ist dies ein Sozialisationseffekt der direktenBeeinflussung durch die Migrations- und Mino-ritätensituation?

– Ist dies ein Akkulturationseffekt des Kontaktesder Migrantenfamilien mit der Kultur der Auf-nahmegesellschaft und deren (partieller) Über-nahme?

– Oder ist dies ein Selektionseffekt der nach einerVielzahl von sozialen Merkmalen unterschied-lichen Abwanderungspopulation?

Diese einleitende Darlegung der methodischenProbleme hat beabsichtigt, auf Diskrepanzen zwi-schen den methodischen Voraussetzungen fürangemessene Schlussfolgerungen und der zumeistverfügbaren Datenlage aufmerksam zu machen,vor vorschnellen Schlüssen zu warnen und aufmögliche Alternativinterpretationen vorliegenderBefunde aufmerksam zu machen. Dies soll aberweder Fatalismus angesichts unüberwindlich schei-nender Methodenprobleme begründen, noch kannes darum gehen zu warten, bis maximalistischeForderungen bezüglich der Erfassungsmethodender amtlichen Statistik oder der Realisierung auf-wendiger sozialwissenschaftlicher Erhebungsde-signs erfüllt würden. Vielmehr sollen diese Über-legungen dazu beitragen, die aus vielfältigen Quel-len verfügbaren Befunde angemessen einzuordnen.

IV.2 Heiratsmärkte, Partnerwahl undEheschließung

Die Etablierung von Verwandtschaftsbeziehungenüber die Heirat zwischen Zuwanderern und Ein-heimischen lässt sich als ein Maßstab der Assimi-lation und Integration interpretieren. Das Ausmaßfamilialer Verflechtungen gibt außerdem übersoziale und kulturelle Nähe und Distanz zu unter-schiedlichen Zuwanderergruppen Auskunft. Es istferner ein Maß für die Offenheit der Gesellschaftund ein Indikator für ethnische Subgruppenbildungund damit verbundene Konfliktpotenziale. Undnicht zuletzt wirken sich binationale familiale Ver-flechtungen auf die Sozialstruktur der Bundesrepu-blik aus. Empirische Untersuchungen von Heirats-beziehungen zwischen ethnischen Minoritäten undder Bevölkerungsmajorität haben deshalb in denklassischen Einwanderungsländern, insbesondere inden USA, eine lange Tradition (Crester/Leon 1982;Heer 1985). In der Bundesrepublik sind hinge-gen entsprechende Untersuchungen nach wie vor

Register vonStandesäm-tern geben

eine verzerrteDatenlage

wieder

KorrekteAnalyse müss-

te auch zu-rückgewan-

derte Migran-ten miteinbe-

ziehen

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spärlich (Buba u. a. 1984; Kane/Stephen 1988; Klein1998; Müller-Dincu 1981; Scheibler 1992; Straß-burger 1998). Heiratsbeziehungen haben sich hierbeials der „härteste“ Indikator für assimilatives Ver-halten erwiesen (Gordon 1964; 1975).

Bevor im Einzelnen auf die Entwicklung der Ehe-schließungen im Einwanderungskontext eingegan-gen wird, soll eine Typologie vorgestellt werden,mit der verschiedene Heiratsmuster unterschiedenwerden können (Tabelle IV.1): Für das Verständnisvon Eheschließungen bei Migranten ist es nämlichnotwendig, einerseits zwischen ethnisch endogamenund exogamen Heiraten zu unterscheiden, d. h. obinnerhalb der eigenen ethnisch-kulturellen Gruppegeheiratet wird oder nicht, und andererseits zwi-schen nationalitätsinternen und -externen Heiraten.Die Einführung dieser Unterscheidung ist nötig, weilStaatsangehörigkeit und ethnische Herkunft in der

Einwanderungssituation oft nicht übereinstimmen.Zunehmende Einbürgerungen von in Deutschlandlebenden Ausländern werden dazu führen, dassnationale und ethnische Zugehörigkeiten zunehmendauseinander fallen. Entsprechend muss z. B. eineZunahme deutsch-türkischer Eheschließungen nichtzwangsläufig ein Indiz für eine Annäherung zwi-schen der türkischen Minderheit und der deutschenMehrheitsbevölkerung sein. Das Ausmaß von Ehen,in denen die Partner zwar unterschiedliche Pässe,aber dieselbe ethnisch-kulturelle Herkunft haben,steigt ebenso wie die Anzahl der Ehen, in denen eineEinbürgerung bewirkt hat, dass die Staatsangehörig-keit der Partner identisch ist, obwohl sich ihr eth-nisch-kultureller Hintergrund unterscheidet.

Dieser Entwicklung muss eine begriffliche Differen-zierung folgen, die der Komplexität der SituationRechnung trägt (Straßburger 1998).

Tabelle IV.1:Typologie der Partnerwahl im Einwanderungskontext

Staatsangehörigkeitder Eheschließenden

Übereinstimmend verschieden

übereinstimmend Nationalitätsinterne, ethnisch endogamePartnerwahl

binationale,ethnisch endogame PartnerwahlEthnische Zugehörigkeit

der Eheschließendenverschieden Nationalitätsinterne, interethnische

(bikulturelle) Partnerwahlbinationale, interethnische(bikulturelle) Partnerwahl

Mit ethnischer Zugehörigkeit ist im Unterschiedzur Staatsangehörigkeit der Eheschließenden hier,stark vereinfachend, die Zugehörigkeit zu einerHerkunftsgemeinschaft gemeint; sie kann mit derHerkunftsnationalität übereinstimmen, muss esaber dann nicht, wenn die Person bereits in derHerkunftsgesellschaft einer Minderheit angehörte.Diese Begriffsdifferenzierung ist notwendig, umz. B. binationale interethnische Ehen, in denen diePartner verschiedener ethnischer Herkunft sind,von binationalen innerethnischen Ehen unterschei-den zu können, in denen beide Partner dieselbeethnische Zugehörigkeit teilen, aber verschiedeneStaatsangehörigkeiten besitzen, z. B. aufgrund dererfolgten Einbürgerung eines Partners.

Binationale Partnerwahl hängt vor allem ab (1) vonder Gruppengröße der jeweiligen ausländischenBevölkerungsgruppe, (2) von dem Anteil vonMännern und Frauen in den ausländischen Bevöl-kerungsgruppen sowie (3) von weiteren Unterglie-derungen des Heirats- bzw. des Partnermarkts und(4) der Etablierung eines internationalen Heirats-marktes.

(1) Partnerwahl findet nicht nur nationalitätsbe-zogen statt, sondern ist auch an der Bildung,der Religion, dem Alter, dem Wohnort undvielen anderen Merkmalen potenzieller Part-ner orientiert. Große ausländische Bevölke-rungsgruppen bieten eine größere Auswahlmöglicher Partner als kleinere Gruppen undtragen auch dadurch zu einer kleineren Exo-gamierate bei.

(2) Noch vor der Größe ausländischen Bevölke-rungsgruppen wird die Relation von Männernund Frauen als zentrale Strukturkomponenteinterethnischer Partnerwahl benannt: UnterMigranten herrscht oft ein sehr unausgewo-genes Zahlenverhältnis zwischen Männernund Frauen. Dies betrifft in Deutschland dieArbeitsmigranten ebenso wie die hier zu Lan-de stationierten ausländischen Streitkräfte undAsylbewerber. Da nicht immer auf den Hei-ratsmarkt in der Herkunftsgesellschaft zu-rückgegriffen werden kann, führt dies dazu,dass männliche Migranten insbesondere inPionierwanderungssituationen verstärkt in die

Auseinander-fallen von

nationalenund ethni-

schen Zugehö-rigkeiten

durch zuneh-mende Ein-

bürge-rungen

BinationaleEhen können

interethni-scher sowie

gleich-ethnischer

Herkunft sein

Zunahme derKonkurrenzauf demHeiratsmarktin der Auf-nahmegesell-schaft

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79 – Drucksache 14/4357

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einheimische Bevölkerung einheiraten. Daseit geraumer Zeit auch in der deutschen Be-völkerung im heiratsfähigen Alter ein Män-nerüberschuss herrscht, führt dies zu einer er-heblichen Konkurrenz auf dem Heiratsmarktin Aufnahmegesellschaften.

(3) Eine wichtige Steuerung der Heiratsgelegen-heiten geht schließlich von weiteren Unter-gliederungen des Heiratsmarktes aus. Indivi-duen sind über den Wohnort, den Arbeitsplatzund über Freizeit- und andere Aktivitäten inverschiedene Handlungskontexte eingebun-den, die Begegnung ermöglichen. Nationalhomogene Beschäftigungs- und Wohnver-hältnisse erhöhen deshalb die Wahrschein-lichkeit, einem Partner gleicher Herkunft zubegegnen und vermindern die Wahrschein-lichkeit einer binationalen Partnerwahl.

(4) Teil des Globalisierungsprozesses ist es, dasssich der internationale Heiratsmarkt auswei-tet. Insbesondere dann, wenn zwischen denHerkunftsländern der Ehepartner ein starkeswirtschaftliches Ungleichgewicht besteht, be-günstigt dies (zusammen mit dem von derEhe abhängigen aufenthaltsrechtlichen Statusdes migrierenden Teils) zugleich eine starkeUngleichheit in der Ehe, die diese Beziehunganfällig für jede Form der innerehelichenAusbeutung macht. Das wirtschaftliche Un-gleichgewicht und der Umstand, dass eineHeirat häufig die einzige Migrationsmöglich-keit darstellt, bietet zudem einen großen An-reiz für in rechtlichen Grauzonen operierendekommerzielle Partner- und Heiratsvermittlun-gen (Ratenzahlung und „Rückgaberecht“ in-klusive), die Zwangssituationen für ihre eige-nen Profite auszunutzen. Entsprechend findensich immer wieder spektakuläre „Fälle“, diein der massenmedialen Berichterstattung re-gelmäßig auf breite Resonanz stoßen. DasProblem dieser Form der Sensationsberichter-stattung besteht allerdings darin, das binatio-nale Ehen insgesamt in den Kontext von Sex-Tourismus, „Katalogbräute“, Frauenhandelund Prostitution gestellt worden sind.

Interethnische Partnerwahl wird jedoch nicht aus-schließlich von den Gelegenheitsstrukturen desPartnerschaftsmarkts beherrscht, vielmehr sind mitkulturellen Faktoren wichtige Selektionsregelnverknüpft. Das jeweilige soziale Prestige der ethni-schen Gruppen hat hierbei ebenso Auswirkungenauf die interethnische Partnerwahl wie die wahrge-nommene kulturelle Nähe bzw. Distanz zur eige-nen Kultur (Heer 1985, 180; Müller-Dincu 1981,69; Pagnini/Morgan 1990). Solche Selektionsre-

geln werden darüber hinaus geschlechtsspezifischmodifiziert: Eine empirische Regelmäßigkeit ausweltweit vorliegenden Befunden ist, dass Männeraus Minoritäten eine höhere Einheiratsrate in diedominierende Bevölkerung haben als Frauen, bzw.dass Frauen aus der Mehrheitsgesellschaft eherbereit sind, Minoritätsangehörige zu heiraten alsMänner. Diese Regelmäßigkeit gilt auch dann,wenn keine Ungleichgewichte auf dem Partner-schaftsmarkt herrschen. Eine weitere empirischeRegelmäßigkeit ergibt sich aus der gegenläufigenWirkung von Gelegenheitsstrukturen auf demHeiratsmarkt einerseits und dem fortschreitendenEingliederungsprozess von Zuwanderungsminori-täten andererseits: Zu Beginn einer Einwande-rungswelle, in der „Pionier“-Situation, führen feh-lende Heiratsmöglichkeiten in der eigenen ethni-schen Gruppe zu einer vergleichsweise hohen Rateinterethnischer Heiraten, die dann mit zunehmen-den Nachwanderungen zunächst absinkt, bis dannder verzögert einsetzende kollektive Eingliede-rungsprozess zu einer erneuten Zunahme inter-ethnischer Heiraten führt. Dieser Verlauf der Ein-heiratungsquoten kann inzwischen auch inDeutschland für die meisten Nationalitäten vonArbeitsmigranten beobachtet werden (Kane/ Ste-phen 1988; Klein 1998).

Insgesamt wurden 1996 im früheren Bundesgebiet373.245 Ehen geschlossen, davon 82,6 %(308.201) von zwei Ehepartnern deutscher Natio-nalität. Beinahe jede sechste Ehe war binational. In24.784 Fällen heirateten deutsche Frauen einenausländischen Mann, in 27.739 Fällen deutscheMänner eine ausländische Frau. Verglichen mitdiesen deutsch-ausländischen Ehen spielen dieEheschließungen zwischen zwei ausländischenPartnern in deutschen Standesämtern zahlenmäßigeine geringe Rolle. Lediglich bei 3,4 % (12.521)der Eheschließungen hatten beide Partner eineausländische Staatsangehörigkeit. Der geringeAnteil der ausländischen Eheschließungen sagtjedoch wenig über das Heiratsverhalten der auslän-dischen Bevölkerung aus, da sehr viele ausländi-sche Ehen nicht in einem deutschen, sondern ineinem ausländischen Standesamt oder von einerzur Trauung ermächtigten Person z. B. in einemausländischen Konsulat geschlossen werden. DieseEhen werden entsprechend in ein ausländischesStandesregister eingetragen und bleiben in derdeutschen Statistik unberücksichtigt, selbst wennsie – wie dies bei Konsulatsehen der Fall ist – inDeutschland geschlossen werden. Diese Unterer-fassung von Ehen unter Ausländern führt auchdazu, dass der „Assimilationsfaktor“ binationalerEheschließungen auf der Basis amtlicher Datenüberschätzt wird.

Ausweitungdes interna-

tionalenHeiratsmark-

tes

Wenig aus-ländischeEheschließun-gen in deut-schen Stan-desämtern

Drucksache 14/4357 – 80 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Tabelle IV.2:Binationale Eheschließungen und Geburten1996 (Früheres Bundesgebiet)

Eheschlie-ßungen

Geburten

deutsch – deutsch 83 % 77 %

deutsche Frau – ausländischerMann

7 % 4 %

ausländische Frau – deutscherMann

7 % 4 %

ausländisch – ausländisch 3 % 15 %

Datenbasis: Statistisches Bundesamt; eigene Berechnun-gen

Ein Anhaltspunkt dafür, dass die meisten Auslän-der nicht in deutschen Standesämtern heiraten,ergibt sich aus der Geburtenstatistik, die hier zurKontrolle der Heiratsdaten herangezogen werdensoll (Tabelle IV.2). Man kann davon ausgehen,dass die Geburtenstatistik die Zahl der neugebore-nen Kinder von ausländischen Eltern weitaus voll-ständiger erfasst als die Heiratsstatistik die Ehe-schließungen von Personen ausländischer Staats-

angehörigkeit registriert, denn Migrantinnen brin-gen ihre Kinder in aller Regel nicht im Herkunfts-land, sondern in Deutschland zur Welt. Der Anteilder Eheschließungen der ausländischen Bevölke-rung an denen der Gesamtbevölkerung ist damitwesentlich höher anzusetzen als die Statistik desStatistischen Bundesamtes vermuten lässt; entspre-chend kurz greifen alle Analysen, die ausschließ-lich auf der amtlichen deutschen Statistik basieren.

Die verschiedenen Nationalitäten heiraten in sehrunterschiedlichem Umfang in die deutsche Bevöl-kerung ein. Die dominierenden Nationalitätendeutsch-ausländischer Eheschließungen des Jahres1997 gehen aus Tabelle IV.3 hervor (Klein 1998).Bei deutschen Männern wird die Liste der häufigstgewählten Ausländerin mit großem Abstand vonPolinnen angeführt, gefolgt von Frauen aus Russ-land, Thailand, Jugoslawien und der Türkei. Beideutschen Frauen dominieren hingegen Jugoslawi-en und die Türkei, gefolgt von Italien, den USAund Österreich. Allerdings ist auch diese Reihen-folge der Nationalitäten mit dem Problem belastet,dass die verschiedenen Nationalitäten u. U. zuunterschiedlichen Anteilen vor deutschen Standes-ämtern heiraten und damit in der Eheschließungs-statistik erfasst werden. Die Bereitschaft zur Heiratin der Bundesrepublik hängt außerdem vermutlichauch davon ab, ob der Mann oder die Frau deutschist.

Tabelle IV.3:Die zehn häufigsten Nationalitäten deutsch-ausländischer Eheschließungen im Jahr 1997

deutscher Mann heiratet Frauaus ...

Anzahl deutsche Frau heiratet Mannaus ...

Anzahl

Polen 5.230 Jugoslawien 5.858

Russische Föderation 1.886 Türkei 3.934

Thailand 1.617 Italien 1.772

Jugoslawien 1.260 Vereinigte Staaten 1.220

Türkei 1.073 Österreich 934

Österreich 919 Polen 780

Italien 815 Großbritannien 776

Tschechische Republik 766 Niederlande 730

Philippinen 672 Russische Föderation 560

Frankreich 595 Griechenland 524

Quelle: Klein (1998)

Geburtensta-tistik ist voll-ständiger als

Heiratssta-tistik

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 81 – Drucksache 14/4357

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Wie die Abbildungen IV.1 und IV.2 zeigen, ist dieEntwicklung der binationalen Eheschließungen inDeutschland mit den Angehörigen dieser Nationa-litäten durchaus unterschiedlich verlaufen. Da voneiner mehr oder weniger gleichbleibenden Präfe-renz für das Land der Eheschließung ausgegangenwerden kann, ist dieser Zeitreihenvergleich ver-mutlich weniger von den Problemen der Ehe-schließungsstatistik belastet. Binationale Ehendurchlaufen durchaus „Konjunkturen“ und Zyklen,wobei die internationalen Heiratsmärkte deutscherMänner und Frauen nur partielle Überschneidun-gen aufweisen. Keine geschlechtsspezifischenUnterschiede gibt es in der Wahl von spanischen,österreichischen, französischen oder niederländi-schen Ehepartnern; bei diesen Nationalitäten, diealle der Europäischen Union angehören, hat in denletzten dreißig Jahren stets ein etwa ausge-glichenes Verhältnis zwischen den Heiraten mitBeteiligung deutscher Männer und Frauen auf

deutschen Standesämtern geherrscht. Ein (deutli-ches) Übergewicht der Beteiligung deutscherMänner findet sich dagegen bei Eheschließun-gen mit Ehepartnern von den Philippinen, ausThailand und Polen, während ein (ebenso deutli-ches) Übergewicht der Beteiligung deutscher Frau-en bei Eheschließungen mit Ehepartnern aus Itali-en, der Türkei, den USA und Afrika zu verzeich-nen ist. Bis auf die Ehen mit Frauen von den Phi-lippinen (nach rapidem Anstieg in den frühen1980er-Jahren seit 1987 rückläufig) und Amerika-nern (starke Abnahme in den 1960er- Jahren, seit-dem weiterhin leicht rückläufig) hat die Entwick-lung binationaler Ehen mit anderen Nationalitäten(z. T. stark) ansteigende Tendenz. Die Entwick-lung bei den fünf häufigsten Nationalitäten in denbinationalen Eheschließungen deutscher Männerund Frauen zeigt die unterschiedlichen ge-schlechtsspezifischen Muster der Partnerselektiondeutlich.

Unterschiedli-che „Kon-

junkturen“binationaler

Ehen

Quelle: Statistisches Bundesamt Wiesbaden; Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, Fachserie 1, Reihe 1; Bevölkerung und Kultur,Fachserie A, Reihe 2 sowie unveröffentlichte Daten des Statistischen Bundesamtes (eigene Darstellung). Mit „Jugoslawien“ ist ab1993 das ehemalige Jugoslawien gemeint, für 1991 und 1992 sind aufgrund der Gebietsänderungen keine exakten Werte bekannt.

Polen

Jugoslawien

Mann heiratet Frau aus...

PolenRussische FöderationThailandJugoslawienTürkei

Anzahl

0

500

1000

1500

2000

2500

3000

3500

4000

4500

5000

5500

Jahr

1960 1970 1980 1990 2000

RussischeFörderation

ThailandTürkei

Mann heiratet Frau aus ....

Abbildung IV.1: Die Entwicklung der Eheschließungen von deutschen Männern mit ausländischen Frauen der im Jahr 1997 häufigsten Nationalitäten seit 1959

Drucksache 14/4357 – 82 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Bei den deutschen Männern spielen interethnischeHeiraten eine deutlich geringere Rolle als bei dendeutschen Frauen. Dies wird nicht nur am absolu-ten Aufkommen binationaler Ehen deutlich, son-dern insbesondere auch daran, dass die beidenstärksten Nationalitäten (Polen und Russland)deutliche Hinweise darauf geben, dass es sich hierzu einem großen Teil um Ehen von Aussiedlernmit Frauen aus der gleichen Herkunftsregion han-deln wird, d. h. es sind zwar binationale Ehen, abermit vergleichsweise geringer kultureller Distanz.Frauen aus der ausländischen Wohnbevölkerung inDeutschland sind dagegen als potenzielle Hei-ratspartner für deutsche Männer nach wie vor vongeringer Bedeutung, wenn auch die Heiraten mittürkischen Frauen kontinuierlich ansteigen (soferndiese Entwicklung nicht auf Heiraten mit einge-bürgerten Männern türkischer Herkunft zurückzu-

führen ist). Dagegen sind die binationalen Partner-wahlen deutscher Frauen sehr viel stärker vonden diesbezüglichen Gelegenheitsstrukturen inDeutschland bestimmt, denn außer den klassischenAnwerbestaaten der Arbeitsmigranten finden sichauch die Staaten mit ausländischen Streitkräften inDeutschland unter den wichtigsten Nationalitäten.

Auskunft darüber, in welchem Ausmaß soziale Dis-tanz zwischen einheimischen und zugewandertenBevölkerungsgruppen interethnische Heiraten beein-flusst, geben Bevölkerungsumfragen. In zwei vomBundesministerium für Arbeit und Sozialordnung inAuftrag gegebenen Repräsentativerhebungen (Mehr-länder u. a. 1996) wurden 1985 und 1995 ausländi-sche Eltern danach gefragt, ob sie damit einverstan-den wären, wenn ihr Kind einen Deutschen oder eineDeutsche heiraten würde (Tabelle IV.4).

Geschlechts-spezifische

Unterschiedeinter-

ethnischerEhen

Quelle: Statistisches Bundesamt Wiesbaden; Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, Fachserie 1, Reihe 1; Bevölkerung und Kultur,Fachserie A, Reihe 2 sowie unveröffentlichte Daten des Statistischen Bundesamtes (eigene Darstellung). Mit „Jugoslawien“ ist ab1993 das ehemalige Jugoslawien gemeint, für 1991 und 1992 sind aufgrund der Gebietsänderungen keine exakten Werte bekannt.

USA

Jugoslawien

JugoslawienTürkeiItalienUSAÖsterreich

Anzahl

0

1000

2000

3000

4000

5000

6000

7000

8000

Jahr

1960 1970 1980 1990 2000

TürkeiItalien

Österreich

Frau heiratet Mann aus ....

Abbildung IV.2: Die Entwicklung der Eheschließungen von deutschen Frauen mit ausländischenMännern der im Jahr 1997 häufigsten Nationalitäten seit 1959

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 83 – Drucksache 14/4357

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Tabelle IV.4:Einstellung ausländischer Eltern zur Heirat ihrer Kinder mit Deutschen nach Nationalität undGeschlecht der Befragten 1985 und 1995 (in Prozent)

Türken Italiener Griechen

1995 1985 1995 1985 1995 1985

Einverstanden Mütter 50,0 % 31,2 % 84,8 % 61,0 % 88,6 % 44,8 %Väter 55,9 % 35,3 % 93,0 % 72,0 % 89,9 % 50,7 %

Nicht einverstanden Mütter 46,3 % 68,8 % 7,1 % 39,0 % 9,5 % 55,2 %Väter 38,1 % 64,7 % 3,8 % 28,0 % 8,5 % 49,3 %

Keine Angabe Mütter 3,7 % - 8,1 % - 1,9 % -Väter 6,0 % - 3,2 % - 1,5 % -

Quelle: Mehrländer/Ascheberg/Ueltzhöffer (1996, 227)

1995 sagten etwas mehr als 50 % der türkischenund rund 90 % der italienischen und griechischenEltern, sie wären mit einer Heirat ihrer Kinder miteinem deutschen Partner bzw. einer deutschenPartnerin einverstanden. Die Gegenüberstellung zuden 10 Jahre zurückliegenden Befragungsergebnis-sen zeigt insbesondere, dass in diesem – ver-gleichsweise kurzen – Zeitraum die Akzeptanzinterethnischer Ehen bei den Familien ausländi-scher Herkunft aller befragten Nationalitäten starkzugenommen hat: Die Anteile derjenigen, die bi-nationale Ehen ihrer Kinder akzeptieren würden, istbei allen Eltern um etwa 20 Prozent gestiegen.Die Unterschiede zwischen den Türken einerseits

und den Italienern und Griechen andererseits dürf-ten dabei vor allem auf die längere Aufenthalts-dauer dieser Bevölkerungsgruppen in Deutsch-land zurückzuführen sein: Mit zunehmendem Al-ter der befragten Eltern nimmt nämlich derenBereitschaft zur Akzeptanz einer binationalenEhe zu (Mehrländer/Ascheberg/Ueltzhöffer 1996,224).

In der gleichen Befragung wurden auch ausländi-sche Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, dienoch nicht verheiratet sind, aber heiraten möchten,gefragt, ob sie einen deutschen Partner oder einedeutsche Partnerin wählen würden (Tabelle IV.5).

Tabelle IV.5:Bereitschaft unverheirateter ausländischer Frauen und Männer zu einer Ehe mit Deutschen(in Prozent)

Türken Italiener Griechen

1995 1985 1995 1985 1995 1985

Frauen 44,3 % 13,8 % 73,8 % 50,6 % 70,6 % 27,5 %Positive Einstellung

Männer 42,8 % 49,1 % 63,4 % 58,3 % 71,9 % 31,7 %

Frauen 38,3 % 63,1 % 18,7 % 31,0 % 7,3 % 43,1 %Negative Einstellung

Männer 34,3 % 35,2 % 26,9 % 20,5 % 18,8 % 33,3 %

Unentschlossen Frauen 17,4 % 23,1 % 7,6 % 18,4 % 22,1 % 29,4 %

Männer 22,9 % 15,7 % 9,7 % 21,2 % 9,3 % 34,9 %

Quelle: Mehrländer/Ascheberg/Ueltzhöffer (1996, 243)

ZunehmendeAkzeptanz

inter-ethnischer

Ehen

Drucksache 14/4357 – 84 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Die Bereitschaft zur Ehe mit deutschen Partnernvariiert nach Nationalität und Geschlecht. Über70 Prozent der griechischen Frauen und Männersagten 1995, sie wären bereit, Deutsche zu heira-ten. Hier liegt sowohl der insgesamt höchste Anteilals auch die größte Steigerungsrate im Vergleich zu1985 vor. Die Bereitschaft italienischer Frauen undMänner war hingegen auch schon 1985 relativhoch. Bei türkischen Männern ist mit rund 43 %die geringste Zustimmung zu einer Ehe mit einerdeutschen Partnerin zu verzeichnen; sie ist imVergleich zu 1985 sogar um rund 6 Prozent gesun-ken. Hingegen hat sich die Einstellung türkischerFrauen im selben Zeitraum erheblich zugunstengemischtnationaler Ehen verändert und ist von14 auf 44 Prozent gestiegen.

In der Tendenz ähnliche Ergebnisse ergeben sich inder Befragung „Intergenerative Beziehungen in

Migrantenfamilien“, in der Eltern und Jugendlichezwischen 13 und 16 Jahren aus Familien italieni-scher, griechischer und türkischer Herkunft sowieaus Aussiedlerfamilien gefragt worden sind, fürwie wahrscheinlich sie eine Ehe (bzw. ihres Kin-des) mit einem einheimischen Ehepartner halten(Tabelle IV.6). Bei den Eltern beurteilen jeweilsdie Mütter die Wahrscheinlichkeit einer Heiratihres Kindes mit einem deutschen (einheimischen)Ehepartner zurückhaltender als Väter (auch inAussiedlerfamilien).

Ganz erhebliche Unterschiede gibt es zwischen denAngaben der Eltern und ihrer Kinder – besondersin den türkischen Familien: Während nur 6 % derVäter und 3 % der Mütter glauben, dass ihr Kind„auf jeden Fall“ einen deutschen Ehepartner heira-ten wird, sind dies bei ihren Söhnen 31 % und beiden Töchtern sogar 46 %.

Tabelle IV.6:Wahrscheinlichkeitseinschätzung einer Heirat mit einem einheimischen Ehepartner bei italienischen,griechischen, türkischen und Aussiedler-Jugendlichen und ihren Eltern

Italiener Griechen Türken Aussiedler

Väter Mütter Väter Mütter Väter Mütter Väter Mütter

ja, auf jeden Fall 17,0 % 16,6 % 15,2 % 9,7 % 6,3 % 3,0 % 4,2 % 3,3 %

ja, möglicherweise 63,1% 56,3% 58,6% 56,9% 39,5% 18,5% 47,0% 56,5%

nein, wahrscheinlichnicht 17,5% 21,6% 22,2% 24,1% 28,8% 32,0% 46,0% 34,4%

nein, auf keinen Fall 2,4% 5,5% 4,0% 9,2% 25,4% 46,5% 2,8% 5,7%

N (206) (199) (198) (195) (205) (200) (215) (212)

Söhne Töchter Söhne Töchter Söhne Töchter Söhne Töchter

ja, auf jeden Fall 30,2% 22,5% 23,1% 14,7% 31,2% 46,0% 5,6% 6,2%

ja, möglicherweise 56,6% 59,0% 57,8% 62,4% 31,2% 30,0% 38,0% 41,6%

nein, wahrscheinlichnicht 8,6% 15,0% 10,1% 16,8% 34,6% 22,5% 42,7% 41,1%

nein, auf keinen Fall 1,5% 2,0% 3,0% 4,1% 2,9% 1,5% 13,6% 11,0%

möchte nicht heiraten 2,9% 1,5% 6,0% 2,0% - - - -

N (205) (200) (199) (197) (205) (200) (215) (212)

Quelle: Nauck (1998)

Griechen undItaliener

heiraten eherin die deutsche

Gesellschaftein als Türken

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85 – Drucksache 14/4357

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Dass die Wahrnehmung sozialer Distanz ein wech-selseitiger Prozess ist, wird an einer Gegenüber-stellung mit Befragungsergebnissen bei Deutschendeutlich. In der ALLBUS-Erhebung 1996 bei Ost-und Westdeutschen wurde nach ihrer Bereitschaftgefragt, persönliche Beziehungen mit verschiede-nen Zuwanderergruppen einzugehen. Sie solltenbeurteilen, wie angenehm ihnen Angehörige dieserGruppen als Nachbarn und als Mitglied der eigenenFamilie wären (Tabelle IV.7).

Tabelle IV.7:Soziale Distanz zu Angehörigen verschiedenerZuwanderungsgruppen

Westdeutschland Ostdeutschland

Nachbarn Familien-mitglied

Nachbarn Familien-mitglied

Italiener

angenehm 53 % 40 % 34 % 24 %

weder noch 41 % 43 % 53 % 46 %

unangenehm 6 % 17 % 13 % 30 %

Türken

angenehm 27 % 15 % 14 % 7 %

weder noch 40 % 31 % 43 % 35 %

unangenehm 33 % 54 % 43 % 58 %

Quelle: Koch/Wasmer (1997, 465)

Wie in anderen Untersuchungen wiederholt bestä-tigt, ist die Bereitschaft, Angehörige einer anderenNationalität zu akzeptieren, am geringsten, wenn esum die Mitgliedschaft in der eigenen Familie geht(gegenüber der Akzeptanz als Nachbar oder amArbeitsplatz). Fehlende Erfahrung im Umgang mitPersonen anderer Nationalität erhöht die sozialeDistanz, wie die Unterschiede zwischen west- undostdeutschen Befragten zeigen. Schließlich ist diewahrgenommene soziale Distanz zu den Italienernweit geringer ausgeprägt als zu Türken: nur 15 %der westdeutschen Befragten und 7 % der ostdeut-schen Befragten wären sie als Familienmitglied„angenehm“. Vergleicht man diese Werte mit denEinstellungen türkischer Eltern zu einer Heiratihrer Kinder mit deutschen Partnern, so scheinenauf deutscher Seite erheblich größere Vorbehaltegegenüber deutsch-türkischen Ehen zu existierenals auf türkischer Seite.

Einen begrenzten Einblick in die Bedeutung vonTeilheiratsmärkten ermöglichen Befunde zu Bil-dungs- und Altersunterschieden in deutsch-ausländischen Partnerschaften und Ehen (Klein1998). Entgegen weitverbreiteten Vorstellungenkommt eine binationale Partnerwahl gehäuft vor,wenn zumindest ein Partner Abitur oder Fachhoch-schulreife hat. Binationale Partnerwahl erscheintsomit bei Deutschen wie bei Ausländern an geho-bene Bildungsschichten gekoppelt. Wie eingehen-dere Analysen zeigen, ist der Anteil binationalerPartnerschaften dann besonders hoch, wenn derBeginn der Partnerschaft in die Studienzeit fiel;Universitäten geben somit offenbar vergleichswei-se günstige Gelegenheiten, eine deutsch-aus-ländische Partnerschaft zu beginnen (Tabelle IV.8).

Tabelle IV.8:Bildungshomogame und -heterogame binationale Partnerschaften und Ehen

Ehen alle Partnerschaften

Bildungsniveau der Frau Bildungsniveau der FrauBildungsniveaudes Mannes

ohne Abitur mit Abitur ohne Abitur mit Abiturbeide deutsch beide deutsch

ohne Abitur 75,5 % 3,4 % 69,1 % 5,4 %mit Abitur 12,8 % 8,3 % 13,5 % 12,0 %

deutscher Mann, ausländische Frau deutscher Mann, ausländische Frauohne Abitur 48,2 % 12,4 % 45,8 % 14,8 %mit Abitur 22,2 % 17,3 % 20,4 % 19,0 %

ausländischer Mann, deutsche Frau ausländischer Mann, deutsche Frauohne Abitur 55,1 % 5,5 % 51,9 % 7,9 %mit Abitur 14,7 % 24,8 % 14,4 % 25,9 %

Quelle: Familiensurvey (1988); nach Klein (1998)

Deutschezeigen mehrBedenken beiinterethni-schen Ehenmit Türken alsumgekehrt

BinationaleEhen häufigerbei höheremBildungsni-veau

Drucksache 14/4357 – 86 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Wie aus Tabelle IV.8 hervorgeht, ist die Bildungs-homogamie weitaus deutlicher ausgeprägt, wennbeide Partner deutsch sind oder ein ausländischerMann mit einer deutschen Frau zusammenfindet.Nur ein geringes Maß an Bildungshomogamiezeigen hingegen die deutsch-ausländischen Part-nerschaften mit einem deutschen Mann: Hierüberwiegen ganz eindeutig Eheschließungen mitPartnerinnen, die einen höheren Bildungsabschlussaufweisen als sie selbst.

Tabelle IV.9:Altersabstand und Heiratsalter in binationalenEhen

Durchschnittlicher Altersab-stand

beide deutsch 2,71 Jahre

deutscher Mann, auslän-dische Frau

3,70 Jahre

ausländischer Mann,deutsche Frau

2,53 Jahre

Durchschnittliches Heiratsalterdes Mannes

beide deutsch 25,65 Jahre

deutscher Mann, auslän-dische Frau 27,19 Jahre

ausländischer Mann,deutsche Frau 26,92 Jahre

Durchschnittliches Heiratsalterder Frau

beide deutsch 22,95 Jahre

deutscher Mann, auslän-dische Frau 23,25 Jahre

ausländischer Mann,deutsche Frau 24,38 Jahre

Quelle: Familiensurvey (1988); nach Klein (1998)

Wie aus Tabelle IV.9 ersichtlich, haben deutsch-ausländische Partnerschaften mit deutschen Män-nern einen im Durchschnitt besonders großen Al-tersabstand. Dies zeigt sich insbesondere bei Ehenzwischen einem deutschen Ehemann und einerFrau aus den Ländern Thailand, Philippinen undSüdamerika. Hier liegt der Altersunterschied beineun Jahren und ist damit dreimal höher als derBundesdurchschnitt. (Niesner 1998). Dabei hatallerdings in deutsch-ausländischen Partnerschaftender Altersabstand generell eine größere Streuung,und das Heiratsalter bzw. das Alter bei Beginn derPartnerschaft ist generell höher, wenn ein Partnereine ausländische Staatsangehörigkeit hat.

Die Wahl des Ortes, an dem in Deutschland leben-de Ausländer und Ausländerinnen heiraten, hängtvon vielen verschiedenen Faktoren ab, die sich jenach der sozialstrukturellen Zusammensetzung derBevölkerungsgruppe, ihrer Ausstattung mit einereigenethnischen Infrastruktur in Deutschland undnach ihrer rechtlichen Position unterscheiden. Ent-scheidend kann beispielsweise sein, wie stark dieBindungen der Eheleute zum Herkunftsland sind,wie weit das Herkunftsland entfernt ist oder obbeide Partner aus derselben Gegend stammen undwo ihre engsten Angehörigen leben. Unterschiedekönnen sich auch daraus ergeben, dass ein Her-kunftsland zur Europäischen Union gehört und dasandere nicht. Davon hängt ab, ob im Ausland le-bende Heiratskandidaten und Hochzeitsgäste ohneVisum in die Bundesrepublik Deutschland einrei-sen können. Schließlich kann ein bestimmter Trau-ungsort deshalb gewählt werden, weil dort diebürokratischen Hindernisse, um die für die Heiraterforderlichen Papiere zu beschaffen, geringer sindals andernorts. Ausschlaggebend kann außerdemsein, wie weit entfernt die nächste Auslandsvertre-tung ist, in der man heiraten kann.

Verglichen mit anderen scheinen sich vergleichs-weise viele türkische Ehepaare nicht in deutschenStandesämtern, sondern im Ausland oder in einemKonsulat trauen zu lassen. Aufgrund der Tatsache,dass die Türkei nicht zur Europäischen Uniongehört, besitzt die türkische Population in der Bun-desrepublik Deutschland einen deutlich schlechte-ren Rechtsstatus als die übrigen hier behandeltenGruppen. Das hat vor allem Konsequenzen für denNachzug von im Ausland lebenden Ehegatten.Männer der zweiten Generation türkischer Her-kunft scheinen häufiger als Frauen Ehen mit Perso-nen einzugehen, die in der Türkei aufgewachsensind, um diese dann im Rahmen des Ehegatten-nachzugs nach Deutschland zu holen. Möglicher-weise hat der Männerüberschuss in der zweitenGeneration nicht etwa eine erhöhte Bereitschaft zuexogamen Eheschließungen mit Frauen nicht-türkischer Herkunft zur Folge, sondern verstärkt imGegenteil die Neigung zu einer innerethnischenHeirat mit einer Partnerin aus der Türkei.

Bei türkischen Migrantinnen und Migranten derzweiten Generation ist ein leichter Anstieg derHeiraten vor deutschen Standesämtern zu beob-achten. Sie integrieren sich damit auch verstärkt indas deutsche Rechtssystem, da Ehen in deutschenStandesämtern nicht nach türkischem, sondernnach deutschem Recht geschlossen werden. Diesist um so bemerkenswerter, als die Eheschließungnach deutschem Recht für Ausländer mit relativhohen bürokratischen Schwierigkeiten verbundenist. Das gilt insbesondere, wenn sie im Auslandgeboren sind und deshalb die zur Trauung erfor-derlichen Unterlagen von dort herbeischaffen und

InterethnischePartnerschaf-ten mit deut-

schen Män-nern habengroßen Al-

tersabstand

Heiratsort vonverschiedenenFaktorenabhängig

VerstärkteNeigung zurinnerethni-schen Heiratmit Partnerinaus Türkei

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 87 – Drucksache 14/4357

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übersetzen lassen müssen. Dies erübrigt sich für inDeutschland geborene Türken; insofern dürfte derzunehmende Prozentsatz der in deutschen Standes-ämtern getrauten türkischen Paare auch den stei-genden Anteil junger Erwachsener mit türkischemPass reflektieren, die bereits in Deutschland gebo-ren sind.

In deutschen Standesämtern haben 1996 insgesamt2.210 Frauen und 5.028 Männer türkischer Staats-angehörigkeit geheiratet. Fünf Jahre zuvor warenes erst 1.395 Frauen und 4.154 Männer gewesen.Innerhalb dieser Jahre stieg die Zahl also um 30 %.Bei fast 85 % (4.920) der nationalitäts-internenEhen, die 1996 in der Bundesrepublik Deutschlandgeschlossen wurden, gaben sich die türkischenPaare das Jawort nicht in einem deutschen Stan-desamt, sondern in einem türkischen Konsulat. Derbei weitem größte Teil nationalitäts-interner Ehenwurde jedoch in der Türkei geschlossen. Dies lässtsich indirekt aus der Zahl der Visa ableiten, die diedeutschen Auslandsvertretungen in Ankara, Istan-bul und Izmir für den Familiennachzug nachDeutschland ausstellen. 1996 erteilten die deut-schen Auslandsvertretungen rund 17.500 Visa fürden Ehegattennachzug zu nicht-deutschen (d. h. zutürkischen) Männern und Frauen. Dabei wurdendeutlich mehr Visa für Frauen als für Männer aus-gestellt, was darauf schließen lässt, dass mehr inDeutschland lebende türkische Männer eine Frauaus der Türkei heiraten, als Migrantinnen einen inder Türkei lebenden Mann zum Ehemann nehmen.Andererseits gibt es deutlich mehr türkische Män-ner als Frauen mit einem Ehegattennachzug zueiner Person deutscher Staatsangehörigkeit. DiesesUngleichgewicht fällt allerdings geringer aus alsbei den binationalen Ehen, die in deutschen Stan-desämtern geschlossen wurden. Es ist auch schwä-cher als bei der Gesamtheit der deutsch-türkischenPaare, die in der Türkei getraut wurden (1993:1.041; 1995: 1.287; Basbakanlik Devlet IstatistikEnstitüsü 1996; 1997), wobei es sich wiederum zueinem Teil um Ehen mit eingebürgerten Migrantenund Migrantinnen handeln dürfte.

Heiratsmigration wird in seiner quantitativen Be-deutung in Zukunft zunehmen. Dies ergibt sichnicht nur aus Ungleichgewichtigkeiten auf deminländischen Heiratsmarkt, sondern auch aus demWunsch vieler Migranten sowohl der ersten wieder zweiten Zuwanderergeneration, einen Hei-ratspartner in der Herkunftsgesellschaft zu suchen.Ob als binationale Eheschließung, wie im erstenFalle, oder als Kettenmigration, wie im zweitenFalle, der Heiratsmigration muss schon deshalbfamilienpolitische Aufmerksamkeit entgegenge-bracht werden, weil die Schutzwürdigkeit von Eheund Familie es gebietet, dass diesen Eheschließun-gen möglichst günstige Ausgangsbedingungengeschaffen werden. Ehen, die mit einer Heiratsmi-

gration verbunden sind, stehen unter besondersgroßen Belastungen, weil die Ehepartner sehr vielgrößere Aufgaben der ehelichen Anpassung undder gemeinsamen Ausgestaltung der Partnerschaftwegen der häufig sehr unterschiedlichen Her-kunfts- und Lebensbedingungen beider Ehepartnerzu lösen haben. Räumliche Trennung in der vor-ehelichen Phase bedingt, dass den Ehepartnern nurwenig Zeit für voreheliches Kennenlernen zurVerfügung steht. Aufenthaltsrechtliche Regelungenmachen es zudem unmöglich, viele der inDeutschland praktizierten Lebensformen und Pha-sen im Familienbildungsprozess zu wählen. Beideswäre jedoch für die positive Ausgestaltung der Eheund die Erzielung einer hohen Ehezufriedenheitaußerordentlich wünschenswert. Die Phase derPartneranpassung ist einerseits besonders sensibelfür ungünstige Außeneinflüsse, von ihrem Gelin-gen hängt jedoch nicht zuletzt auch ab, wie sich derFamilienbildungsprozess gestaltet und welchefamiliären Sozialisationsbedingungen sich für diein dieser Ehe geborenen Kinder ergeben.

Aus familienpolitischer Sicht erscheint es deshalbdringend geboten, den ehelichen Anpassungspro-zess nicht durch zusätzliche Hemmnisse und exter-ne Erschwernisse weiter zu belasten, wie dies inder Vergangenheit häufig durch ehefeindlicheaufenthaltsrechtliche Regelungen geschehen ist.Durch eine Verminderung solcher externen Belas-tungen können die Entwicklungs- und Stabilitätsri-siken binationaler und bikultureller Ehen deutlichvermindert werden.

Heiratsmigration vollzieht sich auch nach kultu-rellen Mustern, die den jeweiligen Herkunftsgesell-schaften entstammen. Hierzu kann es beispielswei-se auch gehören, dass Ehen nicht unmittelbar Aus-druck „romantischer Liebe“ sind und auf der indi-viduellen, gegenseitigen Partnerwahl beruhen,sondern durch arrangierte Heiraten (seitens derEltern des Paares oder durch institutionalisierte„Heiratsvermittler“) zu Stande kommen oder unterVerwandten geschlossen werden. Dies hat in derbreiten Öffentlichkeit, aber auch in Behörden undInstitutionen, die mit binationalen Ehen zu tunhaben, häufig Missverständnisse hervorgerufen.Begünstigt worden sind diese Missverständnisseauch dadurch, dass die Diskussion um die sog.Scheinehen im Wesentlichen auf einer Unterschei-dung von „wahren“ (legitimen) und „falschen“(illegitimen) Heiratsmotiven beruht. Dies hat allenicht der Entwicklungslogik des mitteleuropäi-schen Familienideals folgenden Ehen vorschnellund häufig zu Unrecht in den Verdacht einer„Scheinehe“ gebracht. Ein genaueres Verständnisfür kulturspezifische Entwicklungslogiken von Eheund Familie seitens derer, die beruflich mit bina-tionalen Ehen in Kontakt treten, trägt wesentlichdazu bei, auf die spezifischen Bedürfnisse von

Eheschließun-gen nach

türkischemRecht bevor-

zugt

Die Zunahmeder Heirats-

migration hatfamilienpoliti-

sche Konse-quenzen

Drucksache 14/4357 – 88 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Familien ausländischer Herkunft einzugehen. Dasolche Kompetenzen in den Studien- und Ausbil-dungsgängen in aller Regel nicht enthalten sind, isteine Revision der Lehrinhalte zu empfehlen.

Im Vergleich zur gegenwärtigen und zukünftigenfamilien- und migrationspolitischen Bedeutung vonHeiratsmigration ist das über sie verfügbare Wis-sen außerordentlich gering. Es besteht deshalb eindringender Forschungsbedarf, um genauere Auf-schlüsse über die Entwicklung von internationalenHeiratsmärkten, über die Partnerwahlprozesse beibinationalen Ehen und bei Angehörigen der zwei-ten Migrantengeneration unterschiedlicher Natio-nalitäten und über die Familienbildungsprozesseunter Migrationsbedingungen zu erfahren.

IV. 3 Geschlechterrollen und Aufgaben-verteilung in der Ehe

IV. 3.1 Ausländerinnen in der Wahrneh-mung der Aufnahmegesellschaft

Ausländerinnen in der Bundesrepublik Deutsch-land haben stets in ganz besonderer Weise öffentli-che Aufmerksamkeit der Einheimischen auf sichziehen können, und selten hat es eine Thematikgegeben, die – außerhalb des engsten Expertenkrei-ses – so auffällig unkontrovers dargestellt unddiskutiert wird. Dies ist um so bemerkenswerter,als die Diskussion um Ausländer, Zuwanderungenund ethnische Minderheiten sonst eher durch anta-gonistische Standpunkte und Polarisierungen zwi-schen unterschiedlichen Gruppen gekennzeichnetist.

Ihren systematischen Ausdruck hat diese Wahr-nehmung ausländischer Frauen in der These der„Dreifachdiskriminierung“ gefunden (Esser 1982,89ff):

– als Arbeiterin ist die Ausländerin auf status-niedrige, unattraktive und mit hoher Wahr-scheinlichkeit von Arbeitslosigkeit betroffeneArbeitsplätze verwiesen (als letzte Einsatzre-serve innerhalb der industriellen Reservear-mee),

– als Ausländerin und Minoritätsangehörige istsie rechtlichen Diskriminierungen durch dasAusländer-Aufenthaltsrecht und sozialen Dis-kriminierungen auf dem Wohnungs-, Ausbil-dungs- und Arbeitsmarkt ausgesetzt und in derReichweite persönlicher sozialer Netzwerkebegrenzt (als Bürgerin zweiter Klasse und min-deren Rechts),

– als Frau ist die Ausländerin dem System ge-schlechtsspezifischer Arbeitsteilung und Un-

gleichheit in Familie und Beruf ausgesetzt, dassich in der innerfamiliären Machtverteilungebenso auswirkt wie in der sozialen Partizipati-on und im „gespaltenen Arbeitsmarkt“.

Die skizzierten Tendenzen der öffentlichen Wahr-nehmung kulminieren im Bild der türkischen Frau,an der sich alle Diskussionen über Ausländerinnenprototypisch entzünden, d. h. zumeist stellen „Aus-länderin“ und „Türkin“ gegeneinander substituier-bare Begriffe dar. „Die Türkin“ ist damit in beson-derer Weise zum Objekt der Fremdwahrnehmungund der Stereotypenbildung geworden. Bereitwilligaufgenommen werden alle Berichte, die besonderskrasse Beispiele der Unterdrückung und Miss-handlung türkischer Frauen zum Inhalt haben –wenn sie durch türkische Männer (Väter, Brüder,Ehemänner, Söhne) begangen worden sind undsich als eklatantes Exempel einer fremdkulturellenLebensweise darstellen lassen (man weiß es jaohnehin: „die“ türkischen Männer sind „patriar-chalisch und gewalttätig“). Dann lässt sich das(konsequenzenlose) Mitleid mit „der“ türkischenFrau mit einer Feindlichkeit gegenüber „dem“türkischen Mann verbinden und als Legitimationethnischer Distanzierung verwenden. Auch vorder-gründig wohlmeinende Stereotype von Auslände-rinnen haben somit eine ambivalente Funktion inder Beziehung zwischen Majorität und Minorität:Indem sich Mitleid mit einer Faszination durchExotik und Fremdartigkeit verbindet, werden dieohnehin bestehenden Urteile darüber, was das„türkische“ an den Türkinnen ist, immer wiederbekräftigt und nur solche Türkinnen überhauptwahrgenommen, die diesem mit einer Vielzahl vonexotisch-folkloristischen Attributen ausgestattetenGesamtbild entsprechen. Fremdenfeindlichkeit, dieauf fehlenden Kontakt zwischen Angehörigen vonMinorität und Majorität zurückgeht, basiert auffehlenden Überprüfungsmöglichkeiten des eigenenUrteils und auf immer wiederkehrenden Bestäti-gungen innerhalb der Eigengruppe. Die Stabilitätsolcher Urteilsbildungen über Türkinnen werdenanhand einer sozialpsychologischen Untersuchungvon Schmidt-Koddenberg (1989) deutlich, in dermit der Methode von Polaritätenprofilen die gegen-seitigen Selbst- und Fremdbilder von deutschenFrauen und türkischen Migrantinnen erhoben wor-den sind, d. h. es wurde gefragt, wie die deutschenund türkischen Frauen sich selbst und wie sie diejeweils anderen sehen (Abbildung IV.3).

Wesentliches Ergebnis dieser Untersuchung ist,dass die jeweiligen Fremdbilder jeweils viel extre-mer sind als die Selbstbilder: Türkische Frauenwerden von deutschen Frauen sehr viel stärker inRichtung „viele Kinder“, „nicht körperlich freizü-gig“, „wenig gleichberechtigt“ und „religiös“ ein-gestuft, als sie es selbst tun – Ähnliches gilt auchfür die (gegensätzliche) Einstufung der deutschen

„Die Türkin“als Objekt derStereotypen-bildung

Fremdbilderextremer alsSelbstbilder

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 89 – Drucksache 14/4357

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Frauen durch die Türkinnen. Die jeweiligenSelbstkonzepte liegen dagegen relativ dicht beiein-ander im mittleren Bereich der Skala und weisenteilweise weniger Differenzen voneinander auf alszu den jeweiligen Fremdkonzepten.

Aus diesen Befunden ergibt sich eine beträchtlichewahrgenommene soziale Distanz zwischen deut-schen Frauen und türkischen Migrantinnen, undzwar auf beiden Seiten gleichermaßen.

denkt an sich selbst

viele Kinder

berufstätig

selbstsicher

gleichberechtigt

außerhalb des Hauses

nicht religiös

kauft gern ein

keine Kinder

nicht berufstätig

sorgt für andere

körperlich freizügig nicht körperlich freizügig

wenig selbstsicher

weniggleichberechtigt

innerhalb des Hauses

religiös

kauft gern ein kauft nur das Notwendigste

Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass dieArt und Weise, wie die wissenschaftliche Diskus-sion zur Situation ausländischer Frauen lange Zeitgeführt worden ist, nicht unbeteiligt an der Pro-duktion solcher stereotyper Wahrnehmungsmustergewesen ist: Insbesondere in Einzelfallstudien sindstets die Unterschiede betont oder geradezu ge-sucht und Gemeinsamkeiten vergessen worden;indem frühkindliche und geschlechtsspezifischeSozialisation als bestimmende Kraft für das Ver-halten ausländischer Frauen angesehen werden,wird ein (Herkunfts-) kulturdeterministisches Bildausländischer Frauen gezeichnet, in dem wederindividuelle Entwicklung noch sozialer Wandelvorkommt.

Begünstigt worden ist diese Tendenz sicherlichdurch die Spezialisierung zu einer Forschung, die

sich ausschließlich mit Migranten beschäftigt hat(„Ausländerforschung“) und sich damit von dentheoretischen und methodischen Entwicklungender allgemeinen Sozialforschung ebenso herme-tisch ausschließt wie von einem Austausch mit der(sehr wohl existierenden) empirischen Forschungin den jeweiligen Herkunftsgesellschaften. Einsolcher Ergebnisaustausch mit Wissenschaftlerin-nen aus den Herkunftsgesellschaften und eine Re-zeption der dortigen empirischen Sozialforschung(vgl. z. B. die über die Türkei in englischer oderdeutscher Sprache erschienenen Bände: Kagitcibasi1982; 1982a; 1996; Abadan-Unat 1985; Erder1985; Hacettepe University 1989; Neusel/ Teke-li/Akkent 1991) ist bislang nur zögernd in Ganggekommen. Ein solcher Austausch kann nicht nurwesentlich zur Validierung von Befunden derAusländerinnen-Forschung und zu einer Differen-

Selbstbild deutscher FrauenBild deutscher Frauen bei türkischen MigrantinnenSelbstbild türkischer MigrantinnenBild türkischer Migrantinnen bei deutschen Frauen

Quelle: Schmidt-Koddenberg (1989)

Abbildung IV.3: Selbst- und Fremdbild deutscher Frauen und türkischer Migrantinnen

Drucksache 14/4357 – 90 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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zierung des Bildes über die Herkunftsgesellschaf-ten und deren rasanter Wandlungsdynamik beitra-gen, er wäre zugleich der bescheidene Ausdruckeines partnerschaftlicheren Verhältnisses zu diesenAusländer-Nationalitäten. Solchen Analysen istbeispielsweise zu entnehmen, dass die Türkei

– nicht nur ein Land mit einer in den höherenAltersgruppen noch vergleichsweise hohen An-alphabetinnen-Quote, sondern zugleich dasLand auf der Welt mit dem höchsten Anteil vonFrauen im Professorenamt und in den freibe-ruflichen akademischen Berufen ist (Öncü1985),

– nicht nur ein Land mit einer vergleichsweisehohen Geburtenrate von 2,8 ist (1993), sonderndass diese sich seit 1950 von 6,9 mehr als hal-biert hat und sich bei Akademikerinnen nichtvon der deutscher Frauen unterscheidet (Nauck1997a; Hacettepe University 1989; Shor-ter/Macura 1982),

– zu keinem Zeitpunkt ein Land gewesen ist, indem großfamiliäre Lebensformen von mehr alseiner kleinen Minderheit praktiziert wordensind (Timur 1972; 1985).

IV.3.2 Veränderungen in den Ehegatten-beziehungen

Mit der Migration sind häufig Umverteilungen inden ökonomischen, kognitiven, sozialen und zeitli-chen Ressourcen der Ehepartner verbunden, dieeinen nachhaltigen Einfluss auf die Entschei-dungsmacht und Aufgabenverteilung zwischen denEhepartnern haben. Mit dem migrationsbedingtenKontextwechsel ist zumeist eine veränderte Be-rufstätigkeit, häufig eine erstmalige außerhäuslicheErwerbstätigkeit der Frau, ungleiche Kompetenzenin der Partizipation an der Aufnahmegesellschaftdurch unterschiedliche Aufenthaltsdauer und eineNeuzusammensetzung sozialer Netzwerke mitveränderten Koalititionsmöglichkeiten verbunden.So ist mit dem Pionierwandererstatus ein deutlicherZuwachs an innerfamiliären Aufgaben und Ent-scheidungskompetenzen verbunden, der daraufzurückzuführen ist, dass das ersteinreisende Fami-lienmitglied als erstes Kontakte in der Aufnahme-gesellschaft knüpft, die ihm offenbar dauerhafteVorsprünge vor den anderen Familienmitgliedernsichern. So ist noch nach über 10 Jahren Aufent-haltsdauer an der innerfamiliären Aufgabenorga-nisation und Entscheidungskompetenz die Formder Wanderungsabfolge zwischen den Ehepart-nern nachweisbar, d. h. ob der Ehemann zuerst,die Ehefrau zuerst oder beide gemeinsam nachDeutschland gegangen sind (Nauck 1985a).

Migration stellt eine große Herausforderung an dieFlexibilität der Ehegattenbeziehungen dar. Kultu-relle Faktoren nehmen einen erheblichen Einflussdarauf, wie Ehepaare auf die veränderten Lebens-bedingungen in der Aufnahmegesellschaft miteiner Neuorganisation der innerfamiliären Interak-tionsstruktur reagieren können, d. h. in welchemAusmaß sie Anpassungskapazitäten besitzen oderob sie an einer starren, geschlechtsrollenspezifi-schen Aufteilung der Aufgaben und Entschei-dungskompetenzen festhalten. Grundsätzlich be-wegt sich beides auf zwei Dimensionen:

– Aufgaben und Entscheidungen können koope-rativ oder autonom erledigt werden, d. h. ent-weder begleitet von gemeinsamen Abstim-mungsprozessen und Diskussionen oder ge-trennt in selbständige Entscheidungs- und Auf-gabenbereiche, in die der jeweils andere „nichthinein zu reden hat“;

– nur für relativ autonome Bereiche stellt sichsodann die Frage der Entscheidungs- und Auf-gabendominanz, ob sie stärker in den „männli-chen“ oder „weiblichen“ Kompetenzbereichfallen.

Von einer „patriarchalischen“ Familienstrukturwird man entsprechend dann zu sprechen haben,wenn alle wesentlichen Entscheidungen und Auf-gaben in die Kompetenz des Ehemannes fallen,von einer „matriarchalischen“ Struktur dann, wenndie Entscheidungsmacht bei der Frau liegt.

Einen Einblick in die Dynamik der durch Famili-enmigration ausgelösten Veränderungen gibt einVergleich von verschiedenen Formen familienin-terner Kettenmigration, d. h. von solchen Familien,bei denen entweder die Ehefrau oder der Ehemannzuerst gewandert sind bzw. solchen Familien, beidenen beide Ehepartner gemeinsam nach Deutsch-land gekommen sind. Nach einer Untersuchungüber türkische Familien (Özel/Nauck 1987) isthierbei der Typus der männlichen Erstwanderungam häufigsten (76,4 %), gefolgt von der Ersteinrei-se der Ehefrau (13,1 %) und der gemeinsamenEinreise beider Eheleute (10,4 %). Im historischenVerlauf verändert haben sich dabei die Trennungs-zeiten: Betrugen diese Anfang der 60er-Jahre nochdurchschnittlich mehr als 10 Jahre, so ist seitdemdie Trennungsdauer kontinuierlich auf weniger alszwei Jahre zurückgegangen. In dieser Untersu-chung zeigte sich, dass die ausgeprägtesten Leitbil-der der Trennung von Aufgaben zwischen solchendes Mannes und solchen der Frau am stärksten inFamilien männlicher Pionierwanderer zu findensind. Demgegenüber favorisieren gemeinsam ge-wanderte Familien häufiger das Leitbild geringerGeschlechterrollendifferenzierung. Dem entspre-chen die Ergebnisse zur Entscheidungsmacht und

Migrations-bedingte Tren-nungszeitenzurückge-gangen

Pionierwan-dererstatusbringt Zu-

wachs aninnerfamilia-len Entschei-

dungskompe-tenzen

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 91 – Drucksache 14/4357

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Aufgabenverteilung zwischen den Ehepartnern:Gemeinsam gewanderte Familien zeigen dashöchste Ausmaß an gemeinsamen Entscheidungenund Kooperation in der Aufgabenerfüllung, Fami-lien männlicher Pionierwanderer zeigen dagegendie größte Rollentrennung.

Auf die Dominanzverhältnisse in den autonomenAufgaben- und Entscheidungsbereichen hat dieWanderungsabfolge zwischen den Ehepartnerneinen stärkeren Einfluss als auf gemeinsame Ent-scheidungen und Kooperation. Dabei zeigt sich,dass insbesondere die weibliche Pionierwanderungmit deutlichen Verschiebungen in der autonomenAufgabenerfüllung zugunsten der Frau verbundenist. Dagegen sind die Familien männlicher Pio-nierwanderer durch eine vergleichsweise hohemännliche Dominanz in der Entscheidungsmachtund Aufgabenerfüllung geprägt. Familien männli-cher Pionierwanderer zeigten die geringste Struk-turflexibilität, d. h. sie versuchen am wenigsten,sich durch Reorganisation der familiären Interakti-onsstruktur den wechselnden Umweltbedingungenanzupassen. Gemeinsam gewanderte Familienzeigen dagegen eine durchgängig hohe Anpas-sungsbereitschaft. Familien weiblicher Pionier-wanderer mit der ihnen abgeforderten Reorganisa-tion des Familienalltags zeigten sich dagegen amkonfliktanfälligsten. Offenbar durchzieht dieseKonfliktanfälligkeit den gesamten Migrationspro-zess, angefangen bei den der Wanderung voraus-gehenden schwierigen Entscheidungsprozessenüber die Bewältigung der unmittelbaren Nachwan-derungssituation bis hin zur Reorganisation derfamiliären Aufgabenverteilungen im Verlaufe desgemeinsamen Eingliederungsprozesses.

Weibliche Ersteinwanderung verdient somit auszweierlei Gründen Aufmerksamkeit:

(1) In der Phase der ArbeitskräfteanwerbungEnde der 60er/Anfang der 70er-Jahre hatzeitweilig eine größere Nachfrage nach weib-lichen als nach männlichen Arbeitsmigrantenbestanden, was dazu geführt hat, dass um1970 ca. 1 Million türkischer Männer nichtnur für sich selbst, sondern auch für ihre Ehe-frauen und Töchter eine Arbeitserlaubnis be-antragt haben: Bei eigenem Misserfolg solltedie Arbeitserlaubnis indirekt über die Famili-enzusammenführung erreicht werden. Tat-sächlich hat dies zu einer vergleichsweisegroßen Zahl weiblicher Pioniermigrantinnengeführt, ohne dass diese Frauen jemals zu ei-ner besonderen „Problem“-Gruppe oder fürsozialpädagogische Maßnahmen „auffällig“geworden wäre. Vielmehr sprechen die vor-liegenden Befunde dafür, dass auch für dieseFrauen zutrifft, was allgemein über den Zu-sammenhang zwischen Wanderungsabfolge

und Handlungsautonomie gilt: Die auf dieAufnahmegesellschaft bezogenen kulturellen,sozialen und ökonomischen Ressourcen ver-schieben sich dauerhaft zugunsten des Erst-einreisenden; insbesondere die autonomeÜbernahme außerfamiliärer Aufgaben und dieEntscheidungen im außerfamiliären Bereichsteigt mit der Länge des Aufenthaltsvorsprun-ges an.

(2) Obwohl hierzu bislang keine Forschungsbe-funde vorliegen, ist anzunehmen, dass diesel-ben Mechanismen auch beim neuen Typusweiblichen Erstaufenthalts in der Aufnahme-gesellschaft wirksam sind, wenn nämlichFrauen der zweiten Migrationsgeneration ih-ren Ehepartner nicht unter Angehörigen dereigenen Minorität in der Aufnahmegesell-schaft wählen, sondern in der Herkunftsge-sellschaft, um ihn dann nachzuholen. Auchhier ist davon auszugehen, dass solche Ehenvor besonderen Entwicklungsaufgaben stehenund dabei kaum durch – traditionale – Rol-lenleitbilder kulturell unterstützt werden unddeshalb besonders – seitens der Männer –konfliktanfällig sind und hohe Handlungs-kompetenzen bei den Frauen erfordern. Siedurchleben damit einen ähnlichen Prozess wiedie Ehen von Kriegsheimkehrern im Nach-kriegsdeutschland, in denen Frauen ebenfallsaus situativen Erfordernissen heraus hohe au-ßerfamiliäre Handlungsautonomie erwarben,was zu dem bekannt hohen Stabilitätsrisikendieser Ehen geführt und zur außergewöhnlichhohen Scheidungsrate in den Nachkriegsjah-ren beigetragen hat.

Einen eingehenderen Einblick in die Rollenvertei-lung in den Familien ausländischer Herkunft bietenErgebnisse zur Aufgabenverteilung und zur Betei-ligung an familiären Entscheidungsprozessen.Zunächst ist hierzu festzustellen, dass die innerfa-miliären Aufgaben ganz überwiegend in der El-terngeneration erledigt werden (Kohlmann 1998):Haushaltsbezogene Tätigkeiten wie Einkäufe,Putzen und Behördengänge werden bei allen Na-tionalitäten im überwiegenden Maße von der El-terngeneration erledigt, Kinder und Jugendlichesind hieran nur in ca. 10–20 % der Familien betei-ligt. Auch Entscheidungsprozesse sind größtenteilsauf die Elterngeneration konzentriert. Jugendlichehaben lediglich auf die familiäre Freizeitgestaltung(Italiener: 66 %, Griechen: 59 %, Türken: 52 %)sowie die Wahl ihrer Schule (Italiener: 73 %, Grie-chen: 75 %, Türken: 84 %) einen deutlichen Ein-fluss.

Wie sich die Aufgaben und Entscheidungen zwi-schen den Eheleuten in den einzelnen Nationalitä-ten verteilen, ist in Tabelle IV.10 wiedergegeben.

Migrations-zeitpunkte

beeinflussenFamilienbe-

ziehungen

Drucksache 14/4357 – 92 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Wiederum handelt es sich um Familien ausländi-scher Herkunft, die mindestens ein Kind im Ju-gendalter haben, sowie um eine nichtgewandertedeutsche Vergleichsgruppe. Berichtet werden je-weils ausgewählte Aufgaben und Entscheidungen,

die entweder überwiegend von der Frau oder ge-meinsam bzw. abwechselnd erledigt werden; nichtwiedergegeben sind die Prozentwerte für Bereichemit männlicher Dominanz, die jeweils die Diffe-renz zu 100 % ausmachen.

Tabelle IV.10:Aufgabenverteilung zwischen den Ehepartnern in Familien ausländischer Herkunft und in nichtge-wanderten deutschen Familien

über-wiegend ...

Italiener Griechen Vietnamesen Türken Aussiedler Deutsche

die Frau 87,2 % 88,4 % 64,1 % 40,3 % 70,4 % 66,5 %Einkaufen

gemeinsam 9,3 % 7,6 % 22,0 % 47,5 % 25,1 % 25,7 %die Frau 96,0 % 95,2 % 79,6 % 88,0 % 94,0 % 82,7 %

Putzengemeinsam 2,7 % 3,3 % 15,1 % 11,3 % 3,0 % 13,9 %

die Frau 18,8 % 15,7 % 14,1 % 10,6 % 52,8 % 34,3 %Behördengänge

gemeinsam 23,2 % 24,2 % 17,8 % 23,5 % 22,9 % 34,2 %

die Frau 6,4 % 7,3 % 9,5 % 9,8 % 8,5 % 2,7 %Entscheidungüber größereAnschaffungen gemeinsam 46,3 % 44,2 % 56,3 % 71,7 % 65,3 % 94,4 %

die Frau 14,2 % 16,8 % 11,5 % 15,5 % 15,6 % 3,9 %Entscheidungüber die Freizeit-gestaltung gemeinsam 68,2 % 64,2 % 78,4 % 71,7 % 72,9 % 93,2 %

die Frau 14,1 % 11,6 % 10,3 % 8,5 % 14,6 % 8,2 %Entscheidungüber die Schul-wahl der Kinder gemeinsam 63,5 % 62,1 % 62,6 % 74,7 % 71,3 % 89,9 %

die Frau 10,1 % 10,7 % 11,6 % 5,2 % 18,4 % 19,8 %Entscheidungüber beruflicheVeränderung gemeinsam 46,5 % 51,3 % 45,2 % 66,0 % 42,6 % 63,4 %

Quelle: Nauck (1998)

Die Tabelle zeigt zunächst, dass weniger Variabi-lität in Bezug auf Aufgabenverteilung und Ent-scheidungskompetenz zwischen den jeweiligenHerkunftsnationalitäten bestehen, als die vielfälti-gen Annahmen über die kulturelle Prägung derGeschlechterrollen nahe legen. So sind hier bei denAusländern Einkaufen und Putzen durchgängig„weibliche“, die Erledigung von Behördengängeneine „männliche“ Tätigkeit, während wichtigeEntscheidungen in der Familie zu einem sehr gro-ßen Teil gemeinsam getroffen werden. Erst inzweiter Linie stellen sich Unterschiede ein, die mitder jeweiligen Herkunftskultur in Zusammenhangstehen: Auch andere als die hier dargestellten Be-funde deuten darauf hin, dass in italienischen undgriechischen Familien eine etwas stärkere Polari-sierung der Geschlechterrollen gegeben ist als z. B.in den türkischen und vietnamesischen Familien:Nicht nur sind „männliche“ und „weibliche“ Tätig-keiten deutlicher unterschieden, vielmehr ist auch

das Ausmaß gemeinsamer Entscheidungen gerin-ger und männlicher Entscheidungen höher. Umge-kehrt zeichnen sich vietnamesische und türkischeFamilien durch eine höhere Involviertheit desMannes in allen familiären Aufgabenbereichen unddurch ein höheres Ausmaß gemeinsamer Entschei-dungen aus. Dass die türkischen Familien unterallen Familien ausländischer Herkunft diejenigenmit der höchsten Kooperation zwischen den Ehe-partnern sind (Nauck 1985a; Kohlmann 1998),entspricht dabei (erneut) nicht dem Stereotyp, dasin Deutschland über diese Herkunftsnationalitätexistiert.

Aussiedlerfamilien sind den nichtgewandertendeutschen Familien keineswegs ähnlicher als dieübrigen Familien ausländischer Herkunft, sie wei-sen vielmehr eigene Spezifika auf: Hierzu gehörtinsbesondere der Rückzug des Mannes aus allenAufgaben (auch die Behördengänge werden über

In italieni-schen und

griechischenFamilienstärkere

Polarisierungder Ge-

schlechterrol-len

Bei Aussied-lerfamilienstarke Stel-lung derFrauen nachaußen undinnen

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 93 – Drucksache 14/4357

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wiegend von den Aussiedlerinnen übernommen)und eine vergleichsweise starke Stellung der Frauauch in den innerfamiliären Entscheidungsprozes-sen. Diese innerfamiliären Interaktionsstrukturenstehen dabei in engem Zusammenhang mit denindividuellen Ressourcen und sind im Eingliede-rungsprozess deutlichen Veränderungen unterwor-fen: Mit dem Bildungsniveau der Ehefrau, mit ihrerBeteiligung am Erwerbsleben, mit der Aufenthalts-dauer und den Deutschkenntnissen nimmt in allenHerkunftsnationalitäten der Einfluss der Frau auffamiliäre Entscheidungen und das Ausmaß derKooperation zwischen den Ehepartnern zu, wohin-gegen hohe Kinderzahlen und starke religiöse Bin-dungen den gegenteiligen Effekt haben (mit Aus-nahme der vietnamesischen Familien, bei denenreligiöse Bindungen die Kooperation der Ehepart-ner steigert).

Bestätigt werden diese Befunde durch eine Unter-suchung, in der türkische Migrantenfamilien, Aus-siedlerfamilien und nichtgewanderte deutscheFamilien miteinander verglichen worden sind(Gümen/Herwartz-Emden/Westphal 1994): Frauenaus der Türkei können danach weitaus häufiger aufdie Hilfe des Mannes bei der Betreuung der Kinderzurückgreifen als Aussiedlerfrauen oder deutscheFrauen; diese greifen eher auf institutionelle Be-treuungsformen und auf weibliche Mitglieder derVerwandtschaft zurück. Deutliche Unterschiedeergaben sich auch hinsichtlich der Frage, wieidealerweise die Hausarbeit zwischen den Famili-enmitgliedern aufgeteilt sein sollte. In allen dreiGruppen ordneten sich die Frauen auch im Idealfallden größten Teil der Hausarbeit zu. Die Kindersollen ebenso zur Hausarbeit beitragen, wobei dieTochter einen größeren Anteil übernehmen soll alsder Sohn. „Die Frauen aus der Türkei setzten ihreneigenen Anteil an der Hausarbeit höher an als diebeiden anderen Gruppen. Ebenso wiesen sie denKindern mehr Hausarbeit zu als den anderen bei-den Gruppen, wobei der Tochter sogar mehr Haus-arbeit zugeteilt wird als dem Mann. Die deutschenFrauen teilten den Kindern den geringsten Anteilder Hausarbeit zu. Überraschenderweise zeigtesich, dass der Mann bei den deutschen Frauenweniger Hausarbeit machen soll als bei den Aus-siedlerinnen oder den Frauen aus der Türkei. Ande-re Verwandte wurden von den Aussiedlerinnenoder den Frauen aus der Türkei stärker in dieHausarbeitsverteilung einbezogen, als es bei deut-schen Frauen üblich zu sein scheint“ (Gü-men/Herwartz-Emden/Westphal 1994, 73).

Der Bedeutung von Ehefrauen und Müttern für denVerlauf und das Gelingen des Eingliederungspro-zesses von Familien ausländischer Herkunft ist inder bisherigen familien- und migrationspolitischenDiskussion immer noch nicht genügend Beachtunggeschenkt worden. Sie gestalten den Einglie-

derungsprozess aktiv mit, und von ihren Ressour-cen und Handlungskompetenzen hängt es letztlichab, in welche Richtung und in welcher Intensitätsich der Eingliederungsprozess der gesamten Fa-milie entwickelt und wie nachhaltig die Anpassungder Familie an ihren neuen Kontext erfolgt. Ausfamilienpolitischer Sicht sind alle Maßnahmen, diezur Stärkung der Fähigkeiten (Empowerment) vonFrauen und Müttern beitragen, zugleich ein wirk-sames Mittel zur Bewältigung der familiären Auf-gaben im Eingliederungsprozess. Hierzu gehörtinsbesondere auch die unmittelbare Möglichkeit,durch eigene Erwerbstätigkeit zur ökonomischenAbsicherung der Familie beitragen zu können. DieReichweite und die Wirksamkeit von familien-unterstützenden Einrichtungen und von Bil-dungsmaßnahmen, die zur Stärkung der Fähig-keiten von Frauen ausländischer Herkunft beitra-gen wollen, werden wesentlich davon abhängen,wie sie deren Nützlichkeit für die gesamte Mi-grantenfamilie unmittelbar einsichtig machen kön-nen. Gerade für Frauen aus Herkunftskulturen, indenen familiärverwandtschaftliche Solidarpoten-ziale ohnehin eine hohe Bedeutung haben undsich in der Migrationssituation nochmals verstär-ken, sollte darauf geachtet werden, dass dasEmpowerment dieser Frauen erhalten und gestärktwird.

Selbstverständlich sind solche Überlegungen zuden Solidarpotenzialen in Migrantenfamilien nichtauf Frauen und Mädchen zu beschränken, noch sollder Eindruck erweckt werden, als wäre familialeSolidarität ausschließlich oder überwiegend eineAngelegenheit von Frauen. Allerdings sind dieRisiken, die sich im Falle der Preisgabe von tradi-tionalen, familiären Beziehungen ohne zureichendeAlternativen ergeben, für Frauen oftmals weithöher als für Männer, insbesondere dann, wenn sieaus einer Herkunftskultur stammen, in der dieQualität sozialer Beziehungen höher bewertet wer-den als Individualität. Solche besonderen Gefähr-dungsrisiken können durch institutionelle Ange-bote der Aufnahmegesellschaft oftmals nicht auf-gefangen werden. In der Vergangenheit sind invielen der mit guten Absichten durchgeführtenBildungsmaßnahmen und Modellprojekten fürFrauen ausländischer Herkunft solche Gefähr-dungsrisiken übersehen oder unterschätzt worden.

Nach allen vorliegenden Befunden haben gemein-sam nach Deutschland kommende Familien diedeutlich günstigeren Voraussetzungen für die mitder Migration verbundenen Aufgaben als solche,bei denen sich der Kettenemigrationsprozess übergrößere Zeiträume hinweg gestaltet. Es kommtnämlich darauf an, dass sich die Dynamik desEingliederungsprozesses zeitgleich mit der Eigen-dynamik der Veränderung inner- und außerfamiliä-rer Aufgabenverteilungen und Kompetenzen ge-

Migrantinnengestalten den

Eingliede-rungsprozess

aktiv mit

Drucksache 14/4357 – 94 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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staltet. Andernfalls sind zusätzliche Belastungenfür die Familien zu erwarten, die deren Stabilitätauf eine starke Belastungsprobe stellt. Aus famili-enpolitischer Sicht kann deshalb nur empfohlenwerden, alle Rahmenbedingungen so zu gestalten,dass eine Trennung der Ehepartner oder der Kindervon ihren Eltern sich minimalisiert.

IV.4 Intergenerative Beziehungen in Fa-milien ausländischer Herkunft

Generationenbeziehungen sind aus zwei Gründenvon besonderer Bedeutung für das Verständnis derFamilien ausländischer Herkunft.

1. Die meisten Familien ausländischer Herkunftstammen aus Gesellschaften ohne ein ausge-bautes sozialstaatliches System sozialer Siche-rung. Entsprechend werden alle Sozialleistun-gen und alle Absicherungen gegen die Risikendes Lebens zum ganz überwiegenden Teil un-mittelbar zwischen den Generationen erbracht.Diese Funktionen der unmittelbaren materiellenAbsicherung durch Generationenbeziehungenhaben weitreichende Auswirkungen auf ihrekulturelle Ausgestaltung, d. h. darauf, was El-tern und Kinder füreinander bedeuten, was siegegenseitig voneinander erwarten und welchen„Wert“ sie füreinander haben.

2. Die Migrationssituation selbst hat unmittelbareAuswirkungen auf die Generationenbeziehun-gen, lassen sich doch viele Migrationsziele nurim Generationenzusammenhang legitimierenund realisieren. Von besonderer Bedeutungsind diese Generationenbeziehungen bei einemungesicherten Aufenthaltsstatus. Eine ge-wünschte oder erzwungene Rückkehr in dieHerkunftsgesellschaft bedeutet zugleich, wiederauf soziale Sicherungssysteme zurückgreifen zumüssen, die nicht auf Versicherungsleistungen,sondern auf Generationenbeziehungen basieren.

Als die zentrale Dimension der Ausgestaltungkultureller Unterschiede in den Generationen-beziehungen hat sich in kulturvergleichenden Stu-dien erwiesen, inwiefern hier jeweils ökonomisch-utilitaristische bzw. psychologisch-emotionale Er-wartungen eine Rolle spielen:

– Ökonomisch-utilitaristische Erwartungen anKinder beinhalten dabei z. B. die frühe Mithilfeim Familienhaushalt, die (junge, vergleichswei-se billige, vielseitig und flexibel einsetzbare)Arbeitskraft im Familienbetrieb, die spätereHilfe, Sorge und Unterstützung im eigenen Al-ter und finanzielle Unterstützung nach Beendi-gung der eigenen Erwerbstätigkeit, im Fallevon Krankheit, Not und Arbeitslosigkeit.

– Psychologisch-emotionale Erwartungen an Kin-der betonen die Bereicherung des eigenen Le-bens durch Kinder, die Selbsterfahrung in derElternrolle, den Aufbau einer engen, die ge-samte Lebensspanne umgreifenden, einmaligenund unverwechselbaren emotionalen Bezie-hung.

Wenngleich in allen Gesellschaften immer beideDimensionen der Eltern-Kind-Beziehungen präsentsind, ergeben sich doch deutliche Unterschiedein der Wertigkeit: Nur in Wohlstandsgesellschaf-ten mit hohen sozialstaatlichen Leistungen istdenkbar, dass ausschließlich psychologisch-emo-tionale Erwartungen bei der Entscheidung derÜbernahme elterlicher Verantwortung bedeutsamsind und ökonomische Aspekte der Eltern-Kind-Beziehungen nur mehr als Kostenfaktoren inErscheinung treten. Demgegenüber werden inArmutsgesellschaften ohne sozialstaatliche Leis-tungen immer Nützlichkeitserwägungen bei derEntscheidung für Elternschaft im Vordergrundstehen. Hierzu liegt ein systematisch ausgearbei-teter Erklärungsansatz vor, der die Werte vonKindern für ihre Eltern (values of children = VOC)in das Zentrum der Erklärung von interkulturel-len Unterschieden im generativen Verhalten undin der Ausgestaltung von Eltern-Kind-Beziehun-gen stellt (Hoffman/Hoffman 1973; Fawcett1976; Friedman/Hechter/Kanazawa 1994; Nauck/Kohlmann 1999).

Solche Unterschiede reflektieren insbesondere,inwiefern in den jeweiligen Kulturen Kinder be-deutsame „Zwischengüter“ für die Erlangung vonmaterieller Sicherheit und sozialer Anerkennungdarstellen bzw. in welchem Ausmaß institutionali-sierte Alternativen außerhalb von intergenerativenBeziehungen bestehen. So sind in einigen Gesell-schaften Investitionen in Kinder unerlässlich, um inder Subsistenzwirtschaft zu überleben, als Erwach-sener in der Dorfgemeinschaft ernst genommen zuwerden, oder um eine Absicherung im eigenenAlter und bei Pflegebedürftigkeit zu haben, wäh-rend in anderen Gesellschaften dies vielleichtdurch Investitionen in Technisierung, in akademi-sche Ehrentitel und in sozialstaatliche oder privat-wirtschaftliche Versicherungen geschieht. Selbst-verständlich variieren auch die direkten und indi-rekten Kosten von Kindern erheblich entsprechendden jeweiligen institutionellen Voraussetzungenund Erfordernissen einer Gesellschaft für die Be-treuung und Sozialisation von Kindern, d. h. derHöhe und der Länge der von den Eltern zu erbrin-genden Leistungen und den durch Investitionen inKinder entgangenen Nutzen aus anderen Tätig-keiten.

Solche unterschiedlichen Erwartungen und Wertevon Kindern finden sich auch in Familien aus

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95 – Drucksache 14/4357

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ländischer Herkunft in Deutschland. Zu berück-sichtigen ist bei der nachfolgenden Ergebnisinter-pretation, dass es sich ausschließlich um die Ant-worten von Eltern handelt und sich bereits bei derBereitschaft, Verantwortung für Kinder zu über-nehmen, deutliche kulturelle Unterschiede ergeben,die sich in unterschiedlichen Anteilen von Kinder-losen an der erwachsenen Gesamtbevölkerung erge-

ben: Ein Vergleich der Befragungsergebnisse vonEltern deutscher, griechischer, italienischer, türki-scher und vietnamesischer Herkunft und aus Aus-siedlerfamilien in Tabelle IV.11 zeigt, dass sich dienachhaltigsten interkulturellen Differenzen im Hin-blick auf ökonomisch-utilitaristische Erwartungenan die Kinder ergeben:

Tabelle IV.11:Werte von Kindern für ihre Eltern

Psychologisch-emotionale Werte (volle Zustimmung)

Deutsche Griechen Italiener Türken Vietnamesen Aussiedler

Kinder...Väter

%Mütter

%Väter

%Mütter

%Väter

%Mütter

%Väter

%Mütter

%Väter

%Mütter

%Väter

%Mütter

%...machen dasLeben erfüllter 73,6 79,2 51,5 58,4 57,3 61,5 92,2 84,0 66,5 75,6 61,9 72,6

...geben dasGefühl, ge-braucht zu wer-den

55,1 62,8 53,5 54,3 51,9 59,5 77,1 85,5 57,6 61,4 63,7 69,3

...im Haus ma-chen Spaß 82,8 86,9 60,0 53,8 51,9 60,0 99,5 96,0 74,4 84,3 60,5 73,9

Ökonomisch-utilitaristische Werte (volle Zustimmung)

Deutsche Griechen Italiener Türken Vietnamesen Aussiedler

Kinder...Väter

%Mütter

%Väter

%Mütter

%Väter

%Mütter

%Väter

%Mütter

%Väter

%Mütter

%Väter

%Mütter

%...helfen im Alter 9,4 10,6 29,5 28,9 21,4 35,0 73,7 68,5 45,8 59,4 32,9 36,9

...sind gut inNotfällen

15,2 20,1 36,5 34,0 30,1 34,5 69,8 79,5 55,2 61,4 40,5 40,6

...bringen Ehe-partner zusammen 31,9 30,4 40,0 35,5 33,5 32,5 92,7 81,0 66,0 69,5 49,3 47,6

Quelle: Nauck (1998)

– Die stärkste Zustimmung zu psychologisch-emo-tionalen Werten von Kindern äußern die Elternaus den türkischen Migrantenfamilien: 99 % derVäter und 96 % der Mütter stimmen voll undganz zu, dass Kinder im Hause Freude bereiten,92 % bzw. 84 % sehen in ihnen eine Bereiche-rung des Lebens, 77 % bzw. 85 % geben an, dassihnen Kinder das Gefühl geben, gebraucht zuwerden. Es folgen die deutschen Mütter undVäter vor den Eltern aus vietnamesischen Mi-grantenfamilien und aus den Aussiedlerfamilien.Weniger deutlich fallen die Zustimmungen dergriechischen und italienischen Eltern aus Mi-grantenfamilien aus, obwohl auch bei ihnen dieAnteile völliger Zustimmung in allen Items beiüber 50 % liegen.

– Die Antworttendenzen lassen insgesamt stärkereUnterschiede nach Nationalität als nach Ge-schlecht erkennen, gleichwohl lassen sich kleine-re Unterschiede auch zwischen Vätern undMüttern beobachten. Für alle Nationalitäten gilt,

dass Mütter sich durch Kinder häufiger „ge-braucht“ fühlen als Väter; allerdings fallen dieUnterschiede bei den deutschen, italienischenund türkischen Eltern mit 8 % stärker aus als beiden Vietnamesen, Griechen und Aussiedlern.Werden diese Antworten als Indiz für die Invol-viertheit in Eltern-Kind-Beziehungen gewertet,so lässt sich feststellen, dass psychologisch-emotionale Aspekte der Eltern-Kind-Bezie-hungen in deutschen Familien sowie in italieni-schen, vietnamesischen und Aussiedler-Familienbesonders von Müttern getragen werden. In grie-chischen, insbesondere aber in türkischen Fami-lien sind in diese Dimension intergenerativerBeziehungen sehr viel stärker auch Väter einbe-zogen.

– Am stärksten unterscheiden sich die Eltern derunterschiedlichen Herkunftsnationalitäten da-nach, ob Kinder als Hilfe im Alter wahrge-nommen werden oder nicht. Die geringstendiesbezüglichen Erwartungen haben die deut-

InterkulturelleDifferenzenim Hinblickauf Erwar-tungen anKinder

Größte natio-nale Unter-schiede zeigensich in derFrage, obKinder alsHilfe im Altergelten

Drucksache 14/4357 – 96 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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schen Väter (9 % Zustimmung) und Mütter(11 % Zustimmung), die höchsten Erwartungensind bei den vietnamesischen Eltern (46 % bzw.59 % Zustimmung) und insbesondere bei dentürkischen Eltern zu finden, während die grie-chischen, italienischen und Aussiedler-Familieneine Mittelstellung einnehmen. Diese Antwort-unterschiede stehen zweifellos mit kulturellenUnterschieden in der Ausgestaltung von Eltern-Kind-Beziehungen in engem Zusammenhang,die ihrerseits die Bedeutung der direkten Gene-rationenbeziehungen für die Institutionalisie-rung der Alterssicherung in einer Gesellschaftreflektieren. Während in der deutschen Gesell-schaft eine staatlich organisierte, korporatis-tische Alterssicherung auf der Basis von Trans-ferzahlungen zwischen Angehörigen unter-schiedlichen Lebensalters als „verlässlich“ gilt,spielen in Gesellschaften wie der Türkei undVietnam Transferzahlungen zwischen Genera-tionen in konkreten Eltern-Kind-Bezie-hungeneine sehr viel größere Rolle als die aus korpo-ratistischen Alterssicherungssystemen. Dass imHinblick auf die Ausgestaltung der Generatio-nenbeziehungen die Erwartungen außerordent-lich stabil sind (Nauck 1997a) und eine Akkul-turation der Migrantenfamilien nur sehr langfri-stig erfolgt, ist durch zwei Faktoren bedingt:Einerseits steht dem entgegen, dass Generatio-nenbeziehungen die Ausgestaltung von gegen-seitigen Rechten und Verpflichtungen über diegesamte Lebensspanne umfassen und deshalbnur unter Inkaufnahme der Erosion von Soli-darpotenzialen änderbar sind, andererseits trägtaber auch die Migrationssituation selbst dazubei, den unmittelbaren Generationenbezug zuintensivieren (Nauck/Kohlmann 1998): Je ge-ringer die Inklusion in die Aufnahmegesell-schaft, sei es aufgrund vermeintlicher oder tat-sächlicher Unsicherheit im Aufenthaltsstatusoder sei es aufgrund faktisch geplanter Rück-kehr in die Herkunftsgesellschaft oder der Auf-rechterhaltung einer diffusen Rückkehroption(Dietzel-Papakyriakou 1993), desto mehr ge-winnen auf unmittelbar familiale Solidarität ge-gründete Sicherungsysteme Bedeutung gegen-über korporatistischen Organisationsformen.

– Deutliche Unterschiede sind auch hinsichtlichder Frage zu verzeichnen, ob Kinder die Ehe-partner „zusammenbringen“ oder nicht: Wäh-rend türkische und vietnamesische Eltern insehr starkem Maße diese Erwartung haben, istdies in den deutschen, griechischen und italie-nischen nicht der Fall. Auch dieser Befundsteht in engem Zusammenhang mit Unterschie-den in der jeweiligen Herkunftskultur, in die-sem Falle bezüglich der Alltagstheorien überdie „Entwicklungslogik“ von Familienbil-dungsprozessen (Nauck 1997a):

– In Deutschland herrscht hoher Konsens, dasserst durch eine allgemeine und berufliche Bil-dung das Humankapital für eine Familien-gründung geschaffen werden muss, dann diemateriellen Voraussetzungen für die Fa-miliengründung zu erbringen sind („Nestbau“)und erst dann die Familiengründung erfolgenkann und zumindest so lange etwa bestehendePartnerschaften im Status eines Moratoriumsverbleiben sollen. Die Entwicklungslogik derFamiliengründung lautet also: (1.) romantischeLiebe, (2.) Partnerschaft/Ehe, (3.) ökonomischeSicherheit, (4.) Kinder.

– In der türkischen Gesellschaft gibt es (koexis-tierend mit dem beschriebenen Modell westli-cher Industriegesellschaften im urbanen, gebil-deten Segment dieser Gesellschaft) eine gänz-lich andere Alltagstheorie über die Entwick-lungslogik von Familienbildungsprozessen, diesehr stark mit ökonomisch-utilitaristischen Er-wartungen an die Generationenbeziehungenverknüpft ist. Mit gleicher subjektiver Gewiss-heit wird dabei die folgende „Logik“ des Fami-lienbildungsprozesses als gegeben angesehen:(1.) (konsensuelle oder arrangierte) Ehe, (2.)Kinder, und dann stellt sich auch (3.) Liebezwischen den Ehepartnern und – durch dieKinder – (4.) ökonomische Sicherheit ein.

Selbstverständlich erhält die Frage nach der Be-deutung von Kindern für die Entwicklung der Gat-tenbeziehung im zweiten Entwicklungsmodell einevöllig andere Bedeutung als im ersten Modell:Während im ersten Modell Kinder die Folge einerverfestigten Paarbeziehung sind, sind sie im zwei-ten Entwicklungsmodell dessen Ursache. Bei denökonomisch-utilitaristischen Werten von Kindernergeben sich ähnliche geschlechtsspezifische Ant-wortmuster wie bei den psychologisch-emotionalenWerten. Deutsche, italienische und vietnamesischeMütter äußern etwas stärker solche utilitaristischenErwartungen als die Väter dieser Nationalität,während dies in den türkischen und griechischenFamilien umgekehrt ist.

Zusammenfassend lässt sich zu den interkulturellenUnterschieden feststellen, dass bei allen Nationali-täten psychologisch-emotionale Werte von Kindernstärkere Zustimmung erfahren als ökonomisch-utilitaristische Werte. Zugleich ergeben sich jedocheinige charakteristische Unterschiede:

– In den deutschen Familien sind Generationen-beziehungen mit großer Ausschließlichkeit alsemotionale Beziehungen organisiert, bei denenintergenerative Transfers von Dienstleistungen,Geld und Gütern zwar vorhanden sind, diese„definieren“ jedoch nicht diese Beziehungen.Zugleich belegen die Befunde erneut, dass Ge-

Unterschiedli-che Entwick-lungslogiken

von Familien-bildungspro-

zessen zwi-schen Natio-

nalitäten

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 97 – Drucksache 14/4357

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nerationenbeziehungen in deutschen Familienmatrilinear organisiert sind, d. h. von Frauengetragen werden und in der weiblichen Liniestärker ausgeprägt sind.

– Die größte Ähnlichkeit zu deutschen Familienhinsichtlich der Werte haben die italienischenund griechischen Familien. Sie unterscheidensich von den deutschen Familien dadurch, dassdie kulturelle Spezialisierung der Generationen-beziehungen auf psychologisch-emotionale As-pekte weniger stark ausgeprägt ist. Intern unter-scheiden sie sich dadurch, dass die italienischenFamilien stärker matrilinear, die griechischenFamilien stärker patrilinear organisiert sind.

– Vietnamesische und türkische Familien zeich-nen sich dadurch aus, dass ökonomisch-utilita-ristische Erwartungen an intergenerative Bezie-hungen eine deutlich größere Bedeutung habenals in deutschen, italienischen und griechischenFamilien. Dies ist jedoch nicht mit einer ver-minderten Bedeutung psychologisch-emotiona-ler Werte verbunden. Die Generationenbezie-hungen haben vielmehr einen multifunktionalenCharakter, statt (wie in deutschen Familien) aufihre emotionale Dimension spezialisiert zu sein.

– Aussiedlerfamilien sind den einheimischendeutschen Familien in den Erwartungen an Kin-der und in der Ausgestaltung der Generationen-beziehungen keineswegs am ähnlichsten. Mitder vergleichsweise starken Betonung vonNützlichkeitserwägungen in den Generationen-beziehungen platzieren sie sich zwischen dengriechischen und italienischen Familien einer-seits und den vietnamesischen und türkischenFamilien andererseits.

Deutliche Unterschiede ergeben sich auch hin-sichtlich der wahrgenommenen Kosten von Kin-dern bei den Eltern der jeweiligen Herkunftsnatio-nalitäten (Tabelle IV.12):

– Für alle Nationalitäten gilt, dass Mütter stärkerals Väter die Opportunitätskosten wahrnehmen(und zu tragen haben), die durch Kinder entste-hen. Jeweils mehr Mütter geben an, dass Kinderkeine Zeit für eigene Interessen lassen; diesscheint in der Migrationssituation besondersstark der Fall zu sein, denn bei allen Migran-teneltern liegt die Zustimmung zu diesem Itemdeutlich über dem der deutschen Eltern (insbe-sondere bei türkischen und vietnamesischenMüttern). Ebenso geben mehr Mütter an, dassKinder eine Einschränkung der Berufsarbeitnach sich ziehen; besonders deutsche Mütterstimmen diesem Item zu, während türkischeEltern diese Opportunitätskosten am wenigstenwahrnehmen.

– Bei den direkten Kinderkosten fällt zunächstauf, dass die sozialen Kosten (Kinder schaffenProbleme in der Öffentlichkeit; Kinder belastendie Ehe) von den Eltern aller Nationalitäteneher gering veranschlagt werden; noch am häu-figsten nehmen türkische Mütter Probleme inder Öffentlichkeit wahr (25 %), eine Belas-tungder Ehe durch Kinder sehen Aussiedler-Mütterund griechische Väter noch am häufigsten(9 %). Am seltensten werden psychische undsoziale Kosten von Kindern von Seiten deut-scher Eltern geäußert. Dies trifft auch bezüglichder finanziellen Kosten zu: Sie werden am sel-tensten von deutschen Eltern genannt (17 %),am häufigsten von türkischen Eltern (Väter:28 %; Mütter: 36 %).

Tabelle IV.12:Kosten von Kindern

volle Zustimmung Deutsche Griechen Italiener Türken Vietnamesen Aussiedler

Kinder... Väter%

Mütter%

Väter%

Mütter%

Väter%

Mütter%

Väter%

Mütter%

Väter%

Mütter%

Väter%

Mütter%

... lassen keine Zeitfüreigene Interessen

6,9 9,3 19,5 20,3 18,0 21,0 20,0 31,0 19,7 24,4 16,3 19,3

... schaffen Problemein der Öffentlichkeit

3,3 6,3 7,0 6,1 9,2 10,5 11,7 25,0 8,9 4,1 7,0 6,1

... belasten die Ehe 1,2 2,0 8,5 6,6 5,8 8,5 2,9 4,5 4,4 2,5 4,2 9,4

... sind eine finan-zielle Belastung

17,6 16,8 28,0 18,3 22,3 22,0 28,3 36,0 19,7 20,8 19,5 19,3

... bringen Sorgen 26,0 26,6 32,5 25,4 23,8 28,5 23,4 36,5 19,.2 27,4 26,5 28,3

...schränken Berufs-arbeit ein

14,6 46,3 16,0 30,5 18,4 35,5 7,3 24,0 29,1 29,4 11,6 25,0

Quelle: Nauck (1998); Familiensurvey (1988)

Drucksache 14/4357 – 98 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Sicher kann man davon ausgehen, dass Familienausländischer Herkunft durch die Migrationssitua-tion und ihre Platzierung im Beschäftigungssystemim Durchschnitt stärkeren Belastungen bei derVersorgung von Kindern unterliegen als nichtge-wanderte deutsche Familien. Um so bemerkens-werter ist es, dass die durch die Migranten-Elternwahrgenommenen Kosten von Kindern nicht deut-lich über denen der deutschen Eltern liegen. Diewahrgenommenen Kosten bleiben außerdem weithinter den positiven Erwartungen an die Kinderzurück. Dies unterstreicht nochmals die grundsätz-liche Bedeutung der Generationenbeziehungen inder Migrationssituation. Da es sich als ein Charak-teristikum bei allen Familien ausländischer Her-kunft herausgestellt hat, dass Nützlichkeitserwar-tungen ein konstitutives Element dieser Beziehun-gen sind, soll dies abschließend an ergänzendenBefunden zu elterlichen Erwartungen an Söhne undTöchter im Hinblick auf Hilfeleistungen illustriertwerden. In der ersten Hälfte der Tabelle IV.13werden die Befunde zu den Erwartungen der Elternan ihre Kinder dargestellt, in der zweiten Hälfte dieBefragungsergebnisse für deren jugendliche Kin-der, d. h. in welchem Umfang diese solche Nütz-lichkeitserwartungen wahrnehmen bzw. antizi-

pieren. Es handelt sich somit in diesem Teil umeine Analyse von Erwartungs-Erwartungen, die inbesonderer Weise wechselseitige Rollenverpflich-tungen repräsentieren.

Diese Befunde zeigen ein durchweg konsistentesMuster geschlechtsspezifisch differenzierter inter-generativer Erwartungen:

– Für alle Migrantennationalitäten gilt, dass häu-figer von Töchtern als von Söhnen erwartetwird, immer in der Nähe der Eltern zu wohnenund damit für unmittelbare persönliche Hilfe-leistungen verfügbar zu sein (kommunikativeKontakte ließen sich auch ohne räumliche Näheaufrechterhalten). Am stärksten geht diese Er-wartung von den Müttern aus, worin sich nichtnur die Enge in der Mutter-Tochter-Beziehungausdrücken dürfte. Dies ist vielmehr auch Aus-druck der zum Kulturmuster gewonnenen Er-wartung, dass Frauen aufgrund der zumeist ge-gebenen Altersdifferenz zwischen Ehepartnernund ihrer ohnehin längeren Lebenserwartungmit größerer Wahrscheinlichkeit auf solche Hil-feleistungen angewiesen sind.

Tabelle IV.13:Erwartungen von Hilfeleistungen an Söhne und Töchter

Erwartungen von Aussiedlern Griechen Italiener Türken Vietnamesen

Erwartungen an ...Befragte

Töchter Söhne Töchter Söhne Töchter Söhne Töchter Söhne Töchter Söhne

Mütter 60,8 % 46,2 % 50,8 % 42,1 % 53,0 % 44,9 % 75,8 % 71,7 %Immer in der Nähewohnen Väter 55,8 % 48,4 % 46,9 % 42,5 % 41,0 % 37,9 % 67,4 % 56,5 %

Mütter 20,8 % 24,4 % 29,4 % 32,0 % 24,5 % 27,9 % 20,0 % 44,0 % 30,4 % 40,4 %Teile des Gehalts beiBerufsbeginn abgeben Väter 30,5 % 29,8 % 20,4 % 29,5 % 22,9 % 25,2 % 24,9 % 14,2 % 20,9 % 33,2 %

Mütter 39,3 % 47,8 % 40,8 % 51,3 % 35,2 % 38,9 % 29,0 % 54,5 % 57,8 % 75,8 %Jüngere Geschwister inSchullaufbahn unterstüt-zen Väter 45,8 % 45,6 % 35,2 % 44,5 % 34,6 % 38,8 % 50,2 % 39,0 % 57,2 % 71,9 %

Mütter 68,4 % 75,3 % 66,0 % 74,1 % 69,5 % 71,7 % 65,0 % 77,5 % 78,9 % 85,8 %Finanzielle Hilfe infamiliären Notfällen Väter 73,2 % 74,0 % 58,7 % 71,0 % 59,5 % 68,9 % 70,2 % 52,2 % 76,6 % 84,5 %

Mütter 79,2 % 44,6 % 73,1 % 26,9 % 69,8 % 34,3 % 84,0 % 36,0 % 88,5 % 53,5 %Hilfe bei der Hausarbeit

Väter 80,0 % 37,7 % 73,0 % 28,0 % 72,5 % 29,1 % 62,4 % 90,2 % 88,9 % 50,3 %

Mütter 76,9 % 78,5 % 56,9 % 69,5 % 59,0 % 68,7 % 69,0 % 80,5 % 84,0 % 93,4 %Finanzielle Hilfe imAlter Väter 69,5 % 76,7 % 48,5 % 62,0 % 48,5 % 60,7 % 78,0 % 58,0 % 78,1 % 82,3 %

PersönlicheHilfeleistun-gen von Töch-tern mehr alsvon Söhnenerwartet

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 99 – Drucksache 14/4357

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Tabelle ÍV. 13 (Fortsetzung)

Erwartungen von Aussiedlern Griechen Italiener Türken

Erwartungen an ...Befragte

Töchter Söhne Töchter Söhne Töchter Söhne Töchter Söhne

Töchter 55,2 % 43,7 % 43,7 % 35,9 % 41,2 % 37,2 %Immer in der Nähe wohnen

Söhne 48,7 % 41,4 % 36,2 % 31,5 % 35,0 % 27,3 %

Töchter 18,9 % 26,3 % 20,3 % 23,6 % 18,6 % 20,1 % 30,0 % 49,5 %Teile des Gehalts bei Be-rufsbeginn abgeben Söhne 23,3 % 26,0 % 20,4 % 23,6 % 5,0 % 18,0 % 35,6 % 46,8 %

Töchter 39,0 % 50,8 % 28,9 % 33,8 % 22,1 % 28,6 % 26,0 % 42,0 %Jüngere Geschwister inSchullaufbahn unterstützen Söhne 44,0 % 47,4 % 28,1 % 32,5 % 27,7 % 33,7 % 35,6 % 46,3 %

Töchter 73,6 % 74,7 % 55,3 % 59,5 % 49,7 % 54,3 % 79,0 % 85,0 %Finanzielle Hilfe in familiä-ren Notfällen Söhne 73,6 % 76,3 % 48,0 % 53,5 % 51,0 % 58,5 % 74,6 % 84,9 %

Töchter 77,8 % 55,3 % 64,0 % 28,2 % 57,8 % 25,6 % 79,0 % 29,5 %Hilfe bei der Hausarbeit

Söhne 77,2 % 37,2 % 62,8 % 22,5 % 57,8 % 23,9 % 84,4 % 72,2 %

Töchter 76,4 % 76,8 % 47,2 % 61,5 % 51,8 % 57,3 % 80,0 % 86,5 %Finanzielle Hilfe im Alter

Söhne 73,6 % 78,6 % 42,3 % 55,0 % 48,1 % 58,0 % 74,1 % 85,9 %

Quelle: Nauck (1998)

Allgemein gilt für die Migrantennationalitäten,dass von Töchtern eine stärkere Mithilfe im Haus-halt erwartet wird als von Söhnen. Diese Ge-schlechtsdifferenzierung in den Erwartungen ist beiden italienischen und griechischen Eltern und inAussiedlerfamilien deutlich stärker ausgeprägt alsbei den türkischen und vietnamesischen Eltern;insbesondere von den türkischen Söhnen werden inhohem Maße eigene Beiträge zur Hausarbeit er-wartet – von den türkischen Vätern werden dieseErwartungen sogar häufiger genannt als gegenüberTöchtern. Dieses Ergebnis macht erneut deutlich,dass die vielfältigen Klischeevorstellungen geradeüber türkische Väter und türkische Töchter in derRealität keine Entsprechung haben. Unterschiedezwischen den Kulturen hinsichtlich der Dominanzvon ökonomisch-utilitaristischen bzw. psycholo-gisch-emotionalen Werten von Kindern wirkensich somit dahingehend aus, dass Geschlechtsun-terschiede hinsichtlich elterlicher Nützlichkeitser-wartungen eher eingeebnet werden.

– Schließlich gilt für alle Migrantennationalitä-ten, dass alle Erwartungen, die mit Transfer-zahlungen von der jüngeren an die ältere Gene-ration in Zusammenhang stehen, eher vonMüttern ausgehen und sich eher an Söhne rich-ten. Mütter erwarten am stärksten von Söhnen,dass sie Teile ihres Einkommens bei Berufsbe-ginn abgeben, dass sie jüngere Geschwister inihrer Schullaufbahn unterstützen, dass sie inNotfällen finanziell helfen und dass sie sie imAlter finanziell unterstützen. Durchgängig gilt,dass in den Kulturen mit ökonomisch-utilita-ristischen Werten von Kindern diese Transfer-

zahlungs-Erwartungen stärker ausgeprägt sindund stärker auch Töchter in diese Erwartungeneinbeziehen als dies in den Kulturen mit eherpsychologisch-emotionalen Werten von Kin-dern der Fall ist. Erneut zeigen Aussiedler-Familien ein Erwartungsmuster, das dem dertürkischen und vietnamesischen Familien mitihren hohen Nützlichkeitserwartungen an Kin-dern nicht unähnlich ist.

Ein Vergleich der Antworten der Eltern mit denenihrer jugendlichen Kinder zeigt, dass diese dieelterlichen Erwartungen in hohem Maße antizipie-ren und internalisiert haben. Ihre Antwortmusterfolgen denen der Elterngeneration in hohem Maße,so dass sich bei ihnen die gleichen geschlechtsspe-zifischen Differenzierungen wiederfinden.

– Töchter antizipieren am häufigsten, dass ihreMütter von ihnen erwarten, dauerhaft in ihrerNähe zu wohnen, wohingegen diese Erwartungzwischen Vätern und Söhnen die geringsteRolle spielt.

– Für alle Nationalitäten gilt, dass es Jugendlichebeiderlei Geschlechts es vorrangig als Aufgabevon Mädchen ansehen, bei der Hausarbeit zuhelfen. Unterschiede gibt es allein hinsichtlichder Erwartung, wie sich Jungen beteiligensollten: Während diese Erwartung bei italieni-schen, griechischen und Aussiedler-Jugend-lichen kaum ausgeprägt ist, antizipieren türki-sche Söhne die diesbezüglich hohen Erwartun-gen ihrer Väter genau.

JugendlicheantizipierenElternerwar-tungen

Drucksache 14/4357 – 100 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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– Schließlich gilt auch für alle Jugendlichen, dassdie Erwartungen, die mit Transferzahlungenvon der jüngeren an die ältere Generation inZusammenhang stehen, eher für die Beziehungvon Söhnen zu ihren Müttern von Bedeutungsind. Durchgängig gilt auch hier, dass in dentürkischen Familien mit ihren ausgeprägterenökonomisch-utilitaristischen Werten von Kin-dern und in Aussiedler-Familien diese Trans-ferzahlungs-Erwartungen auch von den Kin-dern stärker wahrgenommen werden und sichauch die Töchter in diese Erwartungen stärkereinbeziehen lassen als in den griechischen unditalienischen Familien mit ihren eher psycholo-gisch-emotionalen Werten.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass keine gravie-renden geschlechtsspezifischen Unterschiede zwi-schen den Migrantennationalitäten hinsichtlich derintergenerativen Erwartungen bestehen; die Ähn-lichkeit der Antwortmuster lässt vielmehr auf einefest verankerte Arbeitsteilung zwischen den Gene-rationen und Geschlechtern schließen, die vonEltern und Kindern in hohem Maße akzeptiertsind – wenn auch je nach der Dominanz von psy-chologisch-emotionalen bzw. ökonomisch-utilita-ristischen Werten in unterschiedlichem Ausmaß: Inden italienischen und griechischen Familien sinddie Erwartungen der Eltern jeweils stärker vorhan-den als dies von den Jugendlichen antizipiert wird;in den türkischen Familien und in den Aussiedler-Familien übertreffen dagegen die Antizipationender Jugendlichen gelegentlich die faktischen Er-wartungen ihrer Eltern.

IV. 4.1 Generatives Verhalten und Fami-lienbildungsprozess

Elterliche Erwartungen und Werte von Kindernhaben unmittelbare Konsequenzen für das genera-tive Verhalten, d. h. für die Anzahl der in den Fa-milien geborenen Kinder:

– Wenn nämlich mit Kindern ökonomisch-utilitaristische Werte verbunden werden, dannist es durchaus vernünftig, kinder-„reich" zusein, da jedes zusätzliche Kind den ökono-misch-utilitaristischen Nutzen steigert – sei esals zusätzliche Quelle zum Familieneinkommendurch (frühe) Mitarbeit, sei es als zusätzlicheQuelle zur Alterssicherung, wobei die Lastendann auf möglichst viele Schultern verteiltwerden, vorausgesetzt, man kann die An-fangsinvestitionskosten aufbringen.

– Wenn dagegen Kinder mit psychologisch-emotionalen Werten verbunden werden, dannist es keineswegs vernünftig, viele Kinder zuhaben, da sich psychologisch-emotionaler Nut-

zen nicht in gleicher Weise steigern lässt: Einoder zwei Kinder können genausoviel psychi-sche Befriedigung schaffen wie vier oder mehrKinder. Gleichzeitig steigen aber die absoluten(ökonomischen – und wahrscheinlich auch psy-chologischen) Kosten. Entsprechend sind beipsychologisch-emotionalen Werten von Kin-dern niedrige Kinderzahlen günstig, dagegen istKinderlosigkeit ebenso ungünstig wie es hoheKinderzahlen sind. Entsprechend zu erwartenist, dass es deutliche Unterschiede in den ver-schiedenen Herkunftsgesellschaften der Famili-en ausländischer Herkunft gibt, je nachdem, obdie Generationenbeziehungen eher auf ökono-misch-utilitaristischen oder auf psychologisch-emotionalen Erwartungen aufgebaut sind. Beider Frage, inwiefern sich das generative Ver-halten durch die Migration verändert, ist zu be-rücksichtigen, dass mit internationaler Migrati-on ein sehr umfassender und tiefgreifenderWechsel des sozialökologischen Kontextes derFamilien verbunden ist. Entsprechend müssendrei elementare Ursachen für Veränderungen inden Generationen-Beziehungen berücksichtigtwerden (Nauck 1997a):

1. Internationale Migration bewirkt eine unmittel-bar veränderte Opportunitätenstruktur für vieleKinder, wobei nicht nur die ökonomischenKosten für Kinder erheblich steigen, sondernauch die Opportunitäten für ökonomische Bei-träge der Kinder zum Familienhaushalt sinken.Ist die Migrationsentscheidung erst gefallen,nachdem bereits zuvor (aufgrund ökonomisch-utilitaristischer Erwartungen) mehrere Kindergeboren worden sind, verändert sich die Situa-tion durch die Migration drastisch: Die Elternkommen in eine Zwangslage, in der Kinderplötzlich zu einem hohen Kostenfaktor werden,deren ökonomischer Nutzen für den Familien-haushalt dagegen geringer und – wenn über-haupt – nach zusätzlichen Investitionen in eineverlängerte Berufsausbildung allenfalls langfri-stig zu erwarten ist. Häufig bleibt deshalb keineandere Wahl, als die familiären Gesamtkostendurch einen Verbleib der Teilfamilie in derHerkunftsgesellschaft und durch die Mithilfe(insbesondere von älteren Mädchen) im Famili-enhaushalt zu reduzieren.

2. Internationale Migration kann außerdem mittel-fristig veränderte individuelle Alternativen zuökonomisch - utilitaristischen intergenerativenBeziehungen bewirken: Die Alternativen zurVersorgung durch eigene Kinder werden stei-gen, wenn die Eingliederungskarriere zu Be-rufspositionen mit stabilen, hohen Einkom-menserwartungen und einer verlässlichen ge-setzlichen Rentenversicherung führt. Dies istkeineswegs „zwangsläufig“, sondern an ent-

Familienwertehaben Einfluss

auf generati-ves Verhalten

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 101 – Drucksache 14/4357

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sprechende Voraussetzungen in der Aufnahme-gesellschaft und an individuelle Bedingungengeknüpft. Seitens der Aufnahmegesellschaftsetzt dies einen offenen Arbeitsmarkt und einevollständige Einbeziehung der Migranten in dieSozialversicherungssysteme voraus, seitens derMigranten dürften insbesondere Bildung undeine Akkomodation an das Beschäftigungssys-tem die wichtigsten Voraussetzungen darstel-len.

3. Internationale Migration kann schließlich lang-fristig veränderte Einstellungen zu und denWerten von Kindern bewirken. Aufgrund vonBindungen an ein verändertes kulturellesMilieu, als Ergebnis eines vollzogenen Ein-gliederungsprozesses oder aufgrund veränderterLebenspläne kann als Langzeit-Effekt von Mi-gration eine veränderte Bewertung von Gene-rationen-Beziehungen eintreten, wobei die el-terlichen Erwartungen entsprechend dem Kul-turmuster der Aufnahmegesellschaft auf diepsychologisch-emotionale Dimension redu-ziert werden. Es lässt sich annehmen, dass sich

solche Veränderungen in den Bewertungen al-lenfalls langfristig vollziehen und nur bei sol-chen Familien verhaltensrelevant werden, die infrühen Stadien des Familienzyklus gewandertsind und insbesondere wenige Kinder besitzen,da nur für diese Familien überhaupt die Wahlzwischen verschiedenen Familienentwürfennoch besteht. Entsprechend haben die Befundezu den Werten von Kindern und den Nützlich-keitserwartungen und -antizipationen zeigenkönnen, dass diese außerordentlich stabil sind.

Aus diesen Bedingungen ergibt sich, dass hinsicht-lich des generativen Verhaltens (wegen der dras-tisch veränderten Opportunitätenstrukturen) inMigrantenfamilien eine rasche Verhaltensänderungohne Wertewandel zu erwarten ist.

Wie ein Blick auf die Entwicklung der Geburten-ziffern bei ausländischen Frauen in Deutschlandzeigt, scheinen sich die Rahmenbedingungen mo-derner Industriegesellschaften negativ auf die Ver-wirklichung von Kinderwünschen auszuwirken(Tabelle IV.14).

Tabelle IV.14:Zusammengefasste Geburtenziffern für Westdeutsche und Ausländerinnen in der BundesrepublikDeutschland 1975 - 1993

Migrantinnen Frauen im Herkunftsland

1975 1980 1985 1987 1990 1993 1975 1985 1990 1993

Westdeutsche 1.3 1.3 1.4 1.3

Türkinnen 4.3 3.6 2.4 2.9 3.0 2.5 5.1 4.1 3.0 2.8

Italienerinnen 2.3 2.0 1.5 1.6 1.5 1.3 2.2 1.5 1.4 1.3

Griechinnen 2.8 1.8 1.2 1.2 1.2 1.2 2.3 1.7 1.4 1.4

Portugiesinnen 2.2 1.6 1.3 1.5 1.2 1.2 2.6 1.7 1.5 1.5

Spanierinnen 2.0 1.7 1.2 1.3 0.7 0.6 2.8 1.8 1.3 1.2

Quellen: Höhn/Schulz (1987); Höhn/Mammey/Wendt (1990); Shorter/Macura (1982); Hacettepe University Instituteof Population Studies (1987); Koller-Tejeiro Vidal (1988); Council of Europe (1990); Schwarz (1996).

Die Geburtenziffern der Migrantinnen liegen fürden jeweiligen Beobachtungszeitpunkt allgemeinniedriger als bei der Referenzbevölkerung im Her-kunftsland, d. h. Migration ist allgemein mit einerReduzierung von Geburten verbunden. Außerdemgehen die zusammengefassten Geburtenziffern beiden Frauen aller Arbeitsmigranten-Anwerbe-nationen im Beobachtungszeitraum drastisch zu-rück und liegen seit 1980 nur mehr bei den türki-schen Migrantinnen bei einer positiven Nettorepro-duktionsziffer. Bei allen anderen Anwerbenationen

unterbieten 1993 die zusammengefassten Gebur-tenziffern sogar die der deutschen Frauen. Diegrößten Rückgänge in den zusammengefasstenGeburtenziffern sind dabei am Anfang des Beo-bachtungszeitraumes zu verzeichnen gewesen, d. h.unmittelbar im Anschluss an die mit dem Anwer-bestopp von 1973 einsetzende Familienzusammen-führung. Dass auch bei den türkischen Migrantin-nen die Geburten sich innerhalb von nur zehn Jah-ren annähernd halbiert haben, ist ein um so bemer-kenswerterer Sachverhalt, als die amtliche Statistik

Migration istmit Reduzie-

rung vonGeburten

verbunden

Drucksache 14/4357 – 102 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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die tatsächlichen Verhaltensänderungen eher unter-schätzt: Da am Anfang des Beobachtungszeitrau-mes ein größerer Anteil der Geburten dieser Frauennoch in der Herkunftsgesellschaft erfolgt sein dürf-te als am Ende des Beobachtungszeitraumes, ist dietatsächliche migrationsbedingte Geburtenreduktionhöher als an den erhobenen Zahlen ablesbar.

Analysen zu Veränderungen im Familienbildungs-prozess bei Familien ausländischer Herkunft liegenbislang nur für türkische Migrantenfamilien vor(Nauck 1997a). Da hierbei gewanderte mit nicht-gewanderten türkischen Familien verglichen wor-den sind, werden die Auswirkungen der Migrationauf den Familienbildungsprozess unmittelbar sicht-bar.

Zwei sich überlagernde Trends des sozialen Wan-dels im Familienbildungsprozess türkischer Frauenkonnten dabei beobachtet werden: Erstens zeigtsich (bei Geburtskohorten zwischen 1940 und1960) eine kontinuierliche Vorverlagerung desFamilienbildungsprozesses im Lebensverlauf; der

Median des Heiratsalters (d. h. des Lebensalters,bei dem die Hälfte der Frauen verheiratet ist)nimmt von 20,8 Jahre auf 18,0 Jahre ab, der ent-sprechende Wert für die Geburt des ersten Kindesvon 24,6 auf 19,4 Jahre – einen ähnlichen histori-schen Trend spiegeln übrigens auch demographi-sche Erhebungen in der Türkei wider. Da auch dieAbstände zwischen den weiteren Geburten zurück-gehen, bedeutet dies eine deutliche Schrumpfungder Familienbildungsphase. Zweitens macht sichzwischen den Kohorten der säkulare Geburten-rückgang bemerkbar. Dieser betrifft allerdingsausschließlich die später nachfolgenden Geburten(ab dem 4. Kind). Keinen Wandel gibt es hingegendarin, dass praktisch alle Frauen einen Familienbil-dungsprozess erleben: Unverheiratete Frauen sindebenso selten wie Kinderlose. Die Frage nach Un-terschieden im Familienbildungsprozess nichtge-wanderter und gewanderter türkischer Frauen be-antwortet Tabelle IV.15, in der der Familienbil-dungsprozess beider Gruppen türkischer Frauengegenübergestellt worden ist, die bis 1945 bzw.danach geboren worden sind.

Tabelle IV.15:Familienbildungsprozess bei türkischen Migrantinnen und nichtgewanderten Türkinnen

nichtgewanderte Türkinnen türkische MigrantinnenGeburtskohorte

bis 1945 ab 1946 bis 1945 ab 1946

Heirat bis 35 99,0 % 100,0 % 91,5 % 99,5 %Median Heirat 20,1 18,8 28,2 20,1

1. Geburt bis 35 97,8 % 99,5 % 89,5 % 98,8 %Median 1. Geburt 22,8 20,5 28,9 21,8

2. Geburt bis 35 82,5 % 92,0 % 71,0 % 92,2 %Median 2. Geburt 30,9 24,9 32,5 25,3

3. Geburt bis 35 54,9 % 71,1 % 40,8 % 58,3 %Median 3. Geburt 35,3 28,8 40,0 32,8

4. Geburt bis 35 26,6 % 44,4 % 13,2 % 19,8 %5. Geburt bis 35 13,2 % 23,7 % 3,9 % 5,7 %6. Geburt bis 35 5,9 % 8,4 % 3,9 % 2,3 %7. Geburt bis 35 1,5 % 2,8 % 1,3 % 1,0 %

Quelle: Nauck (1997)

Für die nichtgewanderten türkischen Frauen bestä-tigen die Befunde den Trend zur Vorverlegung derFamiliengründung, was insbesondere in den ver-ringerten Altersmedianen und der höheren Zahlvon bis zum 35. Lebensjahr eingetretenen Famili-enbildungsereignissen ablesbar ist. Für die Migran-tinnen gelten dagegen zwei zusätzliche Sonderent-wicklungen: Bei den (wenigen) Frauen der älterenKohorten, die vor der Geburt ihres ersten Kindesgewandert sind, fällt das (für türkische Standards)

außerordentlich hohe Heiratsalter auf; entspre-chend spät werden auch ihre – vergleichsweisewenigen – Kinder geboren. Dieser Befund lässtdarauf schließen, dass die Pioniermigrationssituati-on, in der sich noch vergleichsweise wenige Ange-hörige der eigenen Minorität in der Aufnahmege-sellschaft befinden, den Familienbildungsprozessder Migrantinnen außerordentlich verzögert. Fürdie nachfolgenden Kohorten türkischer Migran-tinnen lässt sich nämlich eine weitgehende

Schrumpfungder Familien-bildungsphasedurch Migra-tion

Sondersituati-on der türki-

schen Pio-niermigran-tenfamilien

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103 – Drucksache 14/4357

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„Normalisierung" des Familienbildungsprozessesbeobachten. Zwar liegen die Familienbildungs-ereignisse etwas später als bei der Vergleichsgrup-pe der nichtgewanderten türkischen Frauen, unddie Geburten höherer Parität gehen deutlich zurück,doch ähnelt der Familienbildungsprozess dieserMigrantinnen weit mehr dem der Angehörigen dergleichen Kohorte in der Herkunftsgesellschaft alsdem der älteren Türkinnen, die sich (unverheiratetbzw. kinderlos) in der Ausnahmesituation der Pio-niermigrantin befunden haben.

Ab der Geburt des dritten Kindes zeigen sich deut-liche Unterschiede im Familienbildungsprozessgewanderter und nichtgewanderter türkischer Frau-en: 76 % der nichtgewanderten türkischen Frauenbekommen ein 3. Kind (aber nur 69 % der Frauen,die sich bereits vor der Geburt ihres ersten Kindesin Deutschland befunden haben), 51 % ein 4. Kind(21 %), 34 % ein 5. Kind (5 %), 18 % ein 6. Kind(6 %) und 13 % ein 7. Kind (3 %). Insgesamt istdamit festzustellen, dass unter Migrationsbedin-gungen die Geburt von 4 und mehr Kindern beitürkischen Frauen schon sehr selten ist; ebensoselten ist die Geburt von weniger als 2 Kindern,sodass die „typische“ in der Aufnahmegesellschaftentstandene Migrantenfamilie zwei oder drei Kin-der hat. Höhere Kinderzahlen sind also vornehm-lich das Ergebnis eines mit Kettenwanderungeneinhergehenden Kinder-„Imports“ gewesen.

Die Migration führt somit innerhalb einer Genera-tion zu einer deutlichen und raschen Standardisie-rung des Lebenslaufs türkischer Frauen in derfür Unterschicht-Angehörige in Industriegesell-schaften typischen Form des Familienzyklus. Wieschnell diese Reorganisation der weiblichen Le-bensläufe erfolgt, hängt dabei insbesondere von derschulischen Bildung der Frau ab. Geringe bzw.fehlende schulische Bildung wirkt sich hierbei indoppelter Hinsicht auf die Strukturierung des Le-benslaufs der Migrantin aus: Sie begünstigt hoheKinderzahlen und einen längeren Verbleib in derHerkunftsgesellschaft; die Anzahl der zu versor-genden Kinder vermindert zugleich aber auch dieMöglichkeiten der Eingliederung in die Aufnah-megesellschaft durch Erwerbstätigkeit, wobeidurch die fehlende Ausbildung ohnehin die indivi-duellen Voraussetzungen hierzu ungünstig sind.Umgekehrt verstärken sich bei gut ausgebildetenFrauen diese Effekte zu einer rascheren Reorgani-sation des Lebenslaufs. Die Differenzen zwischenden Frauen werden an folgendem Vergleich sicht-bar: Frauen ohne Primarschulabschluss sind in derTürkei zu 50 % mit 18,6 Jahren verheiratet undhaben mit 21,1 Jahren ihr erstes Kind geboren;Frauen mit Primarschulabschluss sind zu 50 % mit19,6 Jahren verheiratet und haben mit 21,6 Jahrenihre erste Geburt. Bei den Migrantinnen gibt eszwar keine Unterschiede im mittleren Heiratsalter

(20,6 bzw. 20,7 Jahre), doch wird bei den gebilde-teren Frauen der Geburtstermin des ersten undzweiten Kindes näher an den Heiratstermin heran-gerückt (Median: 22,3 und 26,5 Jahre gegenüber23,6 und 27,7 Jahre). Ab dem dritten Kind werdennicht nur die Unterschiede in der zeitlichen Platzie-rung des Familienbildungsprozesses, sondern auchdie in der Wahrscheinlichkeit weiterer Geburtenerheblich: 99 % der Frauen ohne Schulabschluss(aber nur 56 % mit Schulabschluss) bekommen inder Türkei ein drittes Kind, 88 % (26 %) ein viertesKind, 66 % (12 %) ein fünftes Kind, 33 % (12 %)ein sechstes Kind und 23 % (10 %) ein siebtesKind. Demgegenüber ebnen sich Bildungsniveau-Unterschiede in der Migration – auf niedrigemNiveau – weitgehend ein: 77 % der Frauen ohneSchulabschluss (gegenüber 64 % der Frauen mitSchulabschluss) bekommen ein drittes Kind, 21 %(22 %) ein viertes Kind, 5 % (5 %) ein fünftesKind, 7 % (5 %) ein sechstes Kind und 0 % (4 %)ein siebtes Kind.

Aufenthaltsland und Bildungsniveau wirken sichsomit durch drei voneinander unabhängige Ten-denzen auf den Familienbildungsprozess aus. Ers-tens liegt nach einer Migration der Familienbil-dungsprozess später, zweitens reduziert die Migra-tion die Anzahl der geborenen Kinder, und drittensführt Schulbildung – trotz des späteren bzw. annä-hernd gleichen Heiratstermins – dazu, dass derFamilienbildungsprozess insgesamt verkürzt wird,d. h. die (wenigen) Geburten folgen unmittelbarerauf die Heirat, womit die generative Phase insge-samt stark zusammenschrumpft: Für die nichtge-wanderten Türkinnen ohne Schulabschluss beträgtdie durchschnittliche Spanne zwischen der Heiratund der Geburt ihres letzten (fünften) Kindes21 Jahre; für türkische Migrantinnen mit Schulab-schluss beträgt die durchschnittliche Spanne bis zurGeburt des letzten (dritten) Kindes nur mehr12 Jahre.

Die konkreten engräumigen Lebensbedingungen inder Aufnahmegesellschaft haben dagegen keinenweiteren Einfluss auf diese Prozesse (Nauck 1987);so unterschieden sich Familien in Wohngebietenmit hoher Ausländerkonzentration (auch) in dieserHinsicht nicht von Familien in Wohnquartieren mitniedrigem Ausländeranteil.

IV. 4.2 Erziehungsziele und familiäreSozialisation

Die Werte, die Kindern von ihren Eltern beigemes-sen werden, haben nicht nur einschneidende Kon-sequenzen für das generative Verhalten und denFamilienbildungsprozess, sondern auch für dieErziehungsziele der Eltern und ihre Sozialisa-tionspraktiken.

Im Schnitt 2-3Kinder beitürkischen

Migrantenfa-milien

Drucksache 14/4357 – 104 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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– Ökonomisch-utilitaristische Werte von Kindernlassen sich zweckmäßig dann realisieren, wennsie mit Erziehungseinstellungen und Sozialisati-onspraktiken kombiniert werden, die eine le-benslange Loyalität und ein Engagement desKindes für seine Eltern höchst wahrscheinlichmachen (Kagitcibasi 1985; 1989; 1996). Ent-sprechend plausibel ist in einem solchen kultu-rellen Kontext eine starke Betonung des kindli-chen Gehorsams in den Erziehungspraktiken undeine starke elterliche Behütung und Kontrolle inden Erziehungseinstellungen selbst dann, wenndie Kinder das Adoleszenzalter erreicht habenbzw. dass mit dem Lebensalter der Kinder elter-liche Behütung und Kontrolle sogar zunehmen.

– Psychologisch-emotionale Werte von Kindernhaben dagegen völlig andere Konsequenzen fürdie Erziehungspraktiken, weil sie die Autono-mie der kindlichen Persönlichkeit als normativeVorgabe voraussetzen, zu der möglichst früheine enge gefühlsbetonte, unverwechselbareBeziehung aufgebaut werden soll. Deshalbwerden psychologisch-emotionale Erwartungenmit Unabhängigkeit, Individualismus undSelbstständigkeit in den Erziehungszielen ver-bunden und mit zunehmendem Alter des Kin-des einerseits abnehmende Behütung und Kon-trolle, andererseits steigender Permissivität.

Beide Typen von Werten von Kindern haben inihrem jeweiligen kulturellen Kontext eine hoheFunktionalität für die Gestaltung der Eltern-Kind-Beziehungen und führen zu je eigenen Formen dessolidarischen Handelns in den Generationenbezie-hungen.

IV. 4.2.1 Frühkindliche Pflegepraktikenbei türkischen Familien

Grundlegende Unterschiede ergeben sich im Hin-blick auf frühkindliche Pflegepraktiken, da diekulturell geprägten Werte von Kindern für dieEltern auch den Umgang mit Kleinkindern struktu-rieren. So ist häufig zu beobachten, dass in Gesell-schaften mit utilitaristischen Erwartungen in dieGenerationenbeziehungen Eltern ihre Kleinkindersehr viel stärker gewähren lassen. Dabei richtetsich die elterliche Sorge weit weniger auf das früheErlernen von Fertigkeiten und Kulturtechniken alsdies z. B. bei deutschen Eltern der Fall ist, die sichtypischerweise an einer weitgehenden Pädagogisie-rung des kindlichen Alltags als Leitbild orientieren.Entsprechend unterschiedlich vollziehen sich auchsozialhistorische Wandlungsprozesse frühkindli-cher Pflegepraktiken: Während in Gesellschaftenmit psychologisch-emotionalen Erwartungen in dieGenerationenbeziehungen ein zunehmendes Einge-hen der Eltern auf wahrgenommene kindliche Be-

dürfnisse zu beobachten ist, zeichnet sich (mögli-cherweise als Übergangsphänomen) in Gesell-schaften mit ökonomisch-utilitaristischen Erwar-tungen eine Tendenz zur „Rationalisierung“ früh-kindlicher Pflegepraktiken ab. Hierbei kann Mi-gration durchaus einen wichtigen Auslöser für einesolche Veränderung der Pflegepraktiken darstellen.Vergleichende Untersuchungen zu Veränderungenvon frühkindlichen Pflegepraktiken in Familienunterschiedlicher nationaler Herkunft liegen bis-lang nicht vor, sodass diese Veränderungen (er-neut) nur am Beispiel türkischer Migrantenfamilienillustriert werden können (Nauck 1990).

– Die Betreuung von Kleinkindern durch Perso-nen, die nicht zur Gattenfamilie gehören, ist intürkischen Familien sehr viel üblicher als indeutschen Familien. Bei den türkischen Famili-en sind dabei deutliche Variationen in den Ar-rangements der Kinderbetreuung nach Ausbil-dungsstand (der Mütter) und Wohnkontext fest-stellbar: Urbane Familien verwenden sehr vielhäufiger Verwandte für die Betreuung ihrerKinder als ländliche Familien, und diese Ten-denz wird verstärkt durch das Ausbildungsni-veau der Mutter. Migration beeinflusst die Ten-denz zur außerfamiliären Betreuung stark. Mi-grantenfamilien verwenden außerfamiliäre Be-treuungsformen mehr als doppelt so häufig wietürkische Nichtmigranten, im Falle der Famili-en mit hohem Ausbildungsniveau und ländli-cher Herkunft wird diese Betreuungsform sogarmehr als fünfmal so häufig gewählt, d. h. mitdem Bildungsniveau scheinen auch die Mög-lichkeiten, auf verwandtschaftliche Hilfe zu-rückgreifen zu können, anzusteigen. Es ist alsodie Gruppe der gut ausgebildeten türkischenMigrantenfamilien, die außerfamiliäre Betreu-ung ihrer Kinder durch ihre ländlichen Ver-wandten praktizieren, wohingegen die wenigausgebildeten Familien ihre Kinder unmittelbarmit nach Deutschland bringen.

– Interessante gegenläufige Effekte lassen sich imStillverhalten bei türkischen und deutschenMüttern beobachten, die in engem Zusammen-hang mit den beschriebenen Erwartungen anGenerationenbeziehungen stehen: Während beideutschen Müttern die Länge der Stillzeiten mitihrem Ausbildungsniveau zunimmt, nimmt siebei türkischen Müttern mit dem Bildungsniveauab. Von den besser ausgebildeten, urbanenFrauen in der Türkei wird Stillen stark „ratio-nalisiert“, d. h. sie haben eine durchschnittlicheStillzeit von 7,1 Monaten (gegenüber 15,4 Mo-naten bei unterdurchschnittlich gebildeten Frau-en aus der ländlichen Türkei). Migration ver-stärkt diesen Rationalisierungsprozess weiter:Die durchschnittliche Stillzeit türkischer Mütterin Deutschland beträgt 4,5 Monate.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105 – Drucksache 14/4357

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– Die Verwendung von Diätplänen bei der Mahl-zeitenzusammenstellung für Kleinkinder vari-iert in der Türkei von 12 % bei den wenig ge-bildeten Müttern aus ländlichen Wohnkontex-ten bis 57 % bei den besser ausgebildeten,städtischen Frauen. Die Festlegung von Mahl-zeiten variiert von 30 % bis 85 %. Dies zeigt,dass die besser ausgebildeten, urbanen türki-schen Frauen in besonderer Weise ein stark ge-plantes Verhalten ihren Babys gegenüber anden Tag legen und sich in dieser Hinsicht deut-lich von vergleichbaren deutschen Müttern un-terscheiden, von denen 20 % Diätpläne und50 % Festlegung von Mahlzeiten verwenden.Türkische Migrantenfamilien übertreffen je-doch deutsche und nichtgewanderte türkischeFamilien in der Verwendung von festen Fütte-rungszeiten und von Diätplänen bei weitem:Festlegung von Mahlzeiten bevorzugen 64 %der wenig ausgebildeten Migrantinnen in länd-lichen Wohngebieten Deutschlands, aber 94 %der gut ausgebildeten Migrantinnen in städti-schen Wohnquartieren. Die Verwendung vonDiätplänen variiert analog von 32 % bis 64 %.

– Diese Rationalisierungstendenz ist auch amGebrauch von räumlichen Begrenzungen desBewegungsspielraums im Krabbelalter und amSauberkeitstraining ablesbar. Migrantenfamili-en verwenden Möglichkeiten wie Gitterbettenund Laufställe weit häufiger als nichtgewan-derte türkische oder deutsche Familien, und esist gleichzeitig eine leichte Tendenz zu einemfrüheren Abschluss des Sauberkeitstrainingsfeststellbar. Auch hierbei sind die gegenläufi-gen Tendenzen im Verhalten türkischer unddeutscher Mütter unterschiedlichen Bildungs-grades gegeben: Während bei deutschen Müt-tern mit zunehmender Bildung die Verwendungvon räumlichen Begrenzungen im Krabbelalterabnimmt und den Kindern mehr Zeit für dasSauberkeitstraining gelassen wird, ist es beitürkischen Müttern genau umgekehrt; bei ihnennimmt die Rationalisierung auch diesbezüglichmit ihrem Bildungsgrad zu.

Die Migrationssituation scheint somit deutlicheVeränderungen in der Mutter-Kind-Beziehung inRichtung auf eine starke Rationalisierung der früh-kindlichen Pflege hervorzurufen, wobei ärztlicherRat, Diätpläne und festgelegte Zeitintervalle ingleicher Weise an Bedeutung gewinnen. DieseÖkonomisierung und Rationalisierung der früh-kindlichen Pflegepraktiken wird im Verlauf desEingliederungsprozesses weiter verstärkt. Je längerdie schulische Ausbildung und Integration (unddamit verbunden geringere religiöse Bindungen,bessere Beherrschung der Sprache der Aufnahme-gesellschaft und häufigere private Kontakte zuDeutschen und Partizipation an Institutionen der

Aufnahmegesellschaft) türkischer Mütter,

– desto eher werden außerfamiliäre Alternativender Betreuung von Kleinkindern in Anspruchgenommen,

– desto regelmäßiger ist die ärztliche Betreuungdes Kleinkindes,

– desto kürzer ist die Stillzeitdauer,

– desto eher werden feste, regelmäßige Ernäh-rungszeiten bevorzugt,

– desto strenger werden ärztliche Diätvorschriftenbei der Mahlzeitenzusammenstellung für Klein-kinder befolgt,

– desto eher wird die Reinlichkeitserziehung ab-geschlossen,

– desto geringer ist der kindliche Bewegungs-raum im Krabbelalter.

Obwohl sich die türkischen Migrantenfamilienhinsichtlich ihrer Werte von Kindern nicht grund-legend von den nichtgewanderten türkischen Fa-milien unterscheiden und am normativen Musterder Generationenbeziehungen festhalten, verändernsie ihr Verhalten hinsichtlich der frühkindlichenPflegepraktiken in der Migrationssituation grund-legend. In ihrem Verhalten sind diese Migranten-familien in vieler Hinsicht deutschen Familienähnlicher als den nichtgewanderten türkischenFamilien. Dies ist jedoch weniger Ergebnis einesAkkulturationsprozesses und der Übernahme vonErziehungsidealen und Leitbildern von Eltern-Beziehungen aus der Aufnahmegesellschaft (d. h.die Handlungsmotive bleiben durchaus unter-schiedlich), sondern vielmehr eine unmittelbareAnpassung an die veränderte Situation unterBeibehaltung ihrer Einstellungen und Orientierun-gen.

IV. 4.2.2 Erziehungsstile

Im Vergleich zu den frühkindlichen Pflegeprak-tiken, die im Wesentlichen von den jeweiligensituativen Erfordernissen abhängen und nach derMigration einem raschen Akkomodationsprozessunterliegen, sind Erziehungseinstellungen undnormative Orientierungen hauptsächlich das Ergeb-nis einer kulturspezifischen Sozialisation und Teilder nationalen Identität der Eltern. Sie variierenhauptsächlich in Abhängigkeit vom Ausbildungs-niveau der Eltern, ihrer Nationalität und nachder Geschlechterkonstellation der Eltern-Kind-Beziehung, sie werden jedoch zunächst durch dieMigration kaum beeinflusst, d. h. eine Akkultura-tion erfolgt – wenn überhaupt – außerordentlichlangsam.

Ökonomisie-rung und

Rationalisie-rung früh-kindlicher

Pflegeprakti-ken durchMigration

Drucksache 14/4357 – 106 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Zum Erziehungsklima und zur Sozialisation inMigrantenfamilien liegen sowohl vergleichendeBefunde zu verschiedenen Herkunftsnationalitäten(Nauck 1998) als auch (am Beispiel türkischerFamilien) im Vergleich zu Familien der Herkunfts-und Aufnahmegesellschaft vor (Nauck/Özel 1986;Nauck 1990; 1997a). Da jeweils Eltern und Ju-gendliche befragt worden sind, können die Wahr-nehmungen des Erziehungsklimas aus der Per-spektive beider Generationen miteinander vergli-chen werden. Der Grad der Wahrnehmungsüber-einstimmung zwischen Eltern und Jugendlichenlässt dabei auch Rückschlüsse auf die Bezie-hungsintensität zwischen den Generationen zu.Untersucht worden sind die Erziehungsziele „Reli-giöse Orientierung“ und „Schulische Leistungsori-entierung“ sowie die Erziehungseinstellungen„autoritäre Rigidität“ (unnachgiebiges Durchsetzenelterlicher Forderungen gegen die Interessen desJugendlichen), „Behütung“ (ängstliches Beschüt-zen des Jugendlichen insbesondere vor außerfami-liären Einflüssen durch die Eltern, die dem Ju-gendlichen damit wenig Gelegenheit zur Entwick-lung von Selbstkontrolle geben) und „Einfühlsam-keit“ (großes Einfühlungsvermögen der Eltern indie Situation des Jugendlichen und starkes gegen-seitiges Verständnis).

Den untersuchten Familien griechischer, italieni-scher und türkischer Herkunft ist gemeinsam, dassEltern an sich eine weit höhere Einfühlsamkeit indie Situation und die Gefühlslage ihrer Kinderwahrnehmen, als dies ihre Kinder registrieren.Gleichfalls bedeutsam sind die Unterschiede zwi-schen den Geschlechtern: Bei allen Nationalitätenist die Empathie in der Mutter-Tochter-Dyadestärker ausgeprägt als in der Vater-Sohn-Dyade.Die gleichen empirischen Regelmäßigkeiten erge-ben sich für das Ausmaß der Behütung als Dimen-sion elterlichen Erziehungsstils: Eltern aller Her-kunftsnationalitäten nehmen sich selbst behütenderwahr als ihre Kinder es wahrnehmen und Mädchenwerden stärker behütet als Söhne. Ebenfalls ein-heitlich sind die Befunde bezüglich elterlicherLeistungserwartungen: Eltern aller Nationalitätenerleben sich selbst tendenziell als fordernder als sievon ihren Kindern wahrgenommen werden; elterli-che Leistungserwartungen sind in der Vater-Sohn-Beziehung etwas stärker ausgeprägt als in derMutter-Tochter-Beziehung.

Geringfügige Unterschiede zwischen den Nationa-litäten in der geschlechtsspezifischen Ausprägungdes Erziehungsstils gibt es allein hinsichtlich derReligionserziehung und in der Rigidität der Durch-setzung elterlicher Forderungen. Zwar gilt auch füreinen religiösen Erziehungsstil, dass die Eltern vonsich stärker annehmen, zur Religiösität anzuhalten,als dies von ihren Kindern tatsächlich erlebt wird.Doch zeigen sich Akzentverschiebungen zwischen

den Geschlechtern in den türkischen Familieneinerseits und den griechischen und italienischenFamilien andererseits. Während in den türkischenFamilien die Religionserziehung in der Vater-Sohn-Beziehung eine deutlich stärkere Rolle spieltals in der Mutter-Tochter-Beziehung, ist dies inden griechischen und italienischen Familien genauumgekehrt, d. h. Religion ist in türkischen Familien„männlich“, in griechischen und italienischen Fa-milien „weiblich“. Auch bei der Rigidität in derDurchsetzung elterlicher Forderungen sind nurgeringfügige Modifikationen festzustellen. In Fa-milien aller Herkunftsnationalitäten ist „Strenge“eher ein maskulines Merkmal, d. h. es kommt zwi-schen Vätern und Söhnen eher zum Tragen alszwischen Müttern und Töchtern. Werden dieRangplätze der einzelnen Erziehungseinstellungenbei den einzelnen Nationalitäten miteinander ver-glichen, so lassen sich erneut große Übereinstim-mungen zwischen griechischen und italienischenFamilien feststellen. Hiervon weicht der familiäreErziehungsstil in den türkischen Migrantenfamilienetwas ab, wenngleich erneut in einer Weise, dieden üblichen Vorstellungen in Deutschland übertürkische Familien stark widerspricht.

Gemeinsam ist allen Familien die große Bedeutungder Einfühlsamkeit in den Eltern-Kind-Beziehun-gen, die von beiden Generationen in beiden Dya-den in gleicher Weise wahrgenommen wird. Wäh-rend in den griechischen und italienischen Familiendie Erziehung zur Religiosität an zweiter Stellegenannt wird, spielt diese in den türkischenFamilien eine im Durchschnitt eher untergeordneteRolle: Insbesondere bei Töchtern nimmt die Erzie-hung zur Religiosität den letzten Rangplatz ein.Feinanalysen hierzu zeigen, dass innerhalb dertürkischen Familien eine starke Polarisierung hin-sichtlich der religiösen Bindungen zu verzeichnenist: Einer großen Gruppe mit starker Distanz zurReligion steht eine kleine Gruppe mit intensivenreligiösen Bindungen gegenüber, während mode-rate Einstellungen zur Religion in türkischen Fa-milien kaum zu finden sind (Merkens 1997). Wei-terhin zeigt diese Aufstellung, dass auch für denErziehungsstil in türkischen Familien die rigideDurchsetzung elterlicher Forderungen nicht cha-rakteristisch ist – sie unterscheiden sich diesbezüg-lich nicht von griechischen und italienischen Fa-milien. Damit widersprechen die Befunde erneutder verbreiteten Auffassung, dass Religiosität undAutoritarismus die wesentlichen Charakteristika„türkischen“ Erziehungsstils sind (Nauck/Özel1986; Nauck 1990; Alamdar-Niemann 1991;1992). Gerade der Vergleich mit anderen Her-kunftsnationalitäten macht deutlich, dass in türki-schen Familien enge emotionale Bindungen mithohen Leistungserwartungen verknüpft werden.Diese liegen weit über denen in griechischen oderitalienischen Familien und sind als Hinweise auf

ElterlicheEinfühlsam-

keit vonEltern höhereingeschätzt

als vonKindern

In türkischenFamilienPolarisierungin Bezug aufreligiöseBindungen

Religion intürkischenFamilien„männlich“,in griechi-schen unditalienischenFamilien„weiblich“

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107 – Drucksache 14/4357

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eine „Modernisierung“ utilitaristischer Erwartun-gen in dem Sinne zu deuten, dass intergenerativeMobilitätsaspirationen in der Migrationssituationvornehmlich auch über den Schulerfolg gesichertwerden sollen (Nauck/Diefenbach/Petri 1998):Sind für griechische und italienische Migrantenfa-milien „Empathie“ und „Religiosität“ die beidenwesentlichen Komponenten elterlichen Erzie-hungsstils, so sind dies in den türkischen Migran-tenfamilien „Empathie“ und „Leistung“ – und zwarsowohl in den männlichen als auch in den weibli-chen Generationenbeziehungen.

Aus Vergleichen zwischen nichtgewanderten undgewanderten türkischen Familien lassen sich Hin-weise auf den Wandel von Erziehungseinstellungenin der Migrationssituation entnehmen. Zwar sinddie Einstellungsänderungen durch die Migrationnicht sehr gravierend, aber überraschend in derRichtung: Türkische Migrantenfamilien sind dies-bezüglich deutschen Familien unähnlicher als Fa-milien in der Türkei. Während für deutsche Famili-en „Behütung“ und „autoritäre Kontrolle“ ver-gleichsweise geringbewertete Erziehungseinstel-lungen sind, entwickeln türkische Familien in derMigration einen stärker behütenden und kontrol-lierenden Erziehungsstil als Familien in der Türkei.Zugleich nehmen sie sich die eigenen Eltern stärkerzum Vorbild in Erziehungsfragen. Diese Verände-rungen können somit kaum als Assimilationspro-zess gedeutet werden. Sie spiegeln vielmehr dieReaktion der Eltern auf eine Migrationssituationwider, die als den familiären Erziehungsprozessgefährdend wahrgenommen wird. Entsprechendsehen sich diese Eltern dazu aufgerufen, die Be-hütung und Kontrolle der Kinder und Jugendlichen(noch weiter) zu steigern. In den untersuchtenitalienischen, griechischen und türkischen Her-kunftsnationalitäten gibt es keine signifikantenUnterschiede zwischen den Generationen in derWahrnehmung des Ausmaßes, in dem die Kinderdurch außerfamiliäre Aktivitäten gefördert werden;in allen Nationalitäten werden tendenziell Jungeneher durch außerfamiliäre Aktivitäten gefördert alsMädchen, allerdings ist diese Differenz nur in dentürkischen Migrantenfamilien bedeutsam. Amstärksten profitieren von dieser Förderung türki-sche Söhne und italienische Töchter. Verglichenmit Familien in der Türkei beschäftigen sich türki-sche Migranteneltern weniger häufig mit ihrenKindern; dies verweist auf die veränderte Bean-spruchung durch die Erwerbstätigkeit in der Mi-grationssituation, die den Zeithaushalt auch dertürkischen Mütter verändert.

Sowohl in der Wahrnehmung der Eltern wie derjugendlichen Kinder werden in allen Herkunftsna-tionalitäten Töchter signifikant häufiger zur Erledi-gung von Aufgaben im Haushalt herangezogen alsSöhne. Während es in den griechischen und italie-

nischen Familien keine Unterschiede in der Wahr-nehmung zwischen Eltern und Kindern gibt, fühlensich die türkischen Kinder stärker belastet als vonihren Eltern wahrgenommen wird, wobei der Mit-telwert für die türkischen Töchter deutlich überdem aller anderen Gruppen liegt. Wiederum zeigtder Vergleich mit Familien in der Türkei, dass dieBelastung türkischer Mädchen bedeutsam ansteigt,wenn die Eltern nach Deutschland ziehen, d. h. inder Herkunftsgesellschaft ist das Belastungsniveauniedriger als in der Migrationssituation. Somitscheinen türkische Mädchen zunächst stark für dieMigrationsaktivitäten ihrer Eltern zu bezahlen: Sieerhalten weniger Unterstützung durch gemeinsameAktivitäten mit den Eltern, ihre institutionelleFörderung ist unterdurchschnittlich, während dieHaushaltsverpflichtungen rapide ansteigen. Be-merkenswert hierbei ist, dass die Migration dieSituation insbesondere für ältere Töchter aus bessergebildeten Familien verändert. Vergleicht man siemit Töchtern desselben familiären Hintergrunds inder Türkei, nehmen für sie in besonders starkemMaße die institutionelle Förderung und die ge-meinsamen innerfamiliären Aktivitäten ab, wohin-gegen die Beteiligung an Haushaltsaufgaben Spit-zenwerte erreicht. Die Migrationssituation führtoffenbar dazu, dass insbesondere Mädchen ausbesser ausgebildeten Familien (in denen derenMütter attraktive Erwerbschancen wahrnehmen)für einen Spannungsausgleich zwischen inner- undaußerfamiliären Aufgaben instrumentalisiert wer-den, indem sie ihre Mütter in den innerfamiliärenAufgaben ersetzen.

Ist die Weitergabe von Einstellungen und Verhal-tensweisen zwischen den Generationen innerhalbder Familie generell schon der wichtigste Faktorinnerhalb des Sozialisationsprozesses von Kindernund Jugendlichen, so trifft dies für die Sozialisationvon Jugendlichen der zweiten Generation in Mi-grantenfamilien und in Minoritätensituationen inbesonderem Maße zu. Die hohen Aufgaben, mitdenen Migrantenfamilien konfrontiert sind, zwin-gen sie dazu, sich stärker auf die eigenen Fähig-keiten zu besinnen und sich stärker der eigenenWerte und Handlungsziele zu vergewissern, alsdies Familien müssen, die in einem kulturell ho-mogenen Milieu leben. Dieses Phänomen hat be-reits Helmut Schelsky (1953) an den Flüchtlings-familien nach dem Zweiten Weltkrieg beobachtet.

Am Beispiel türkischer Migrantenfamilien konntegezeigt werden, dass die intergenerative Transmis-sion, d. h. die Weitergabe zwischen den Generatio-nen von Situationswahrnehmungen, Einstellungenund Handlungspräferenzen in den Migrantenfami-lien durchgängig höher als in den in der Türkeiverbliebenen Familien ist. Dies lässt auf eine hoheIntegration und Interaktionsdichte in Familienschließen, die in einer Migrations- und Minoritä-

Jungen inaußerfamiliä-ren Aktivitä-

ten stärkergefördert als

Mädchen

Stärkste Be-lastung fürältere Töchteraus bessergebildetentürkischenFamilien

Töchter stär-ker für Auf-gaben imHaushaltherangezogenals Söhne

Drucksache 14/4357 – 108 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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tensituation leben, und entsprechend auf eine ge-ringe Abschließung der Generationen voneinander(Nauck 1997a). Vergleichende Analysen mit italie-nischen und griechischen Migrantenfamilien zei-gen zusätzlich, dass diese Übereinstimmung zwi-schen den Generationen bei ihnen sogar noch höherausfällt als in den türkischen Migrantenfamilien(Nauck 1998). Somit kann ausgeschlossen werden,dass es sich bei der hohen Transmission von Ein-stellungen zwischen den Geschlechtern um einSpezifikum der türkischen Familienkultur handelt,vielmehr kann dies nur als Ergebnis einer Akko-modation der Migrantenfamilien an ihre Minoritä-tensituation gedeutet werden. Diese hohe Überein-stimmung zwischen den Generationen lässt aufeine hohe wechselseitige Abstimmung in den in-tergenerativen Beziehungen in den Migrantenfa-milien schließen, d. h. die einzelnen Familienmit-glieder wissen mehr übereinander und richten ihrVerhalten mehr aneinander aus, als dies bei nicht-gewanderten Familien normalerweise der Fallist. Die Migrationssituation scheint somit interge-nerative Beziehungen nicht zu schwächen, sondernin der Mehrzahl der Fälle zu stärken. Angesichtsder dennoch bestehenden Einstellungsunterschiedezwischen den Generationen lässt sich der Be-fund im Zusammenhang nur so deuten, dasszwar die Migration den intergenerativen Wandelin den Familien außerordentlich zu beschleuni-gen scheint, aber die Migrantenfamilien diesenakkulturativen Wandel als Generationen-Konvoisdurchleben.

Die größte Übereinstimmung zwischen den Ge-nerationen herrscht dabei in den Migrantenfamilienaller Herkunftsnationalitäten in den Bildungsaspi-rationen, d. h. die erwartete Sicherheit, mit dem eingrößtmöglicher Schulabschluss erwartet wird.Allerdings mit deutlichen Unterschieden zwischenden griechischen und italienischen Familien einer-seits und den türkischen Familien andererseits: Inden griechischen und italienischen Familien habendie Eltern jeweils niedrigere Bildungserwartungenals ihre Kinder, in den türkischen Familien dage-gen höhere Aspirationen, d. h. in den italienischenund griechischen Familien sind die Eltern weniger„sicher“, dass ihre Kinder einen angestrebtenBildungsabschluss erreichen, während in dentürkischen Familien die Kinder unsicher sind, obsie den hohen Bildungsaspirationen ihrer Elterngenügen können. Diese Befunde belegen erneut,dass türkische Migranteneltern außerordentlichhohe Bildungsaspirationen für ihre Kinder be-sitzen, wobei kein Geschlechtsunterschied gemachtwird. Dies lässt darauf schließen, dass sich in dentürkischen Familien ein Wandel in der Ge-schlechtsrollenorientierung andeutet, der in man-cherlei Hinsicht nach einem anderen Muster ver-läuft als in westlichen Industriegesellschaften:Vorstellungen zur Gleichwertigkeit der Ge-

schlechter werden nicht verknüpft mit Individua-lismus und Selbstfindung, vielmehr wird Legalitätals Gleichwertigkeit der Töchter im bestehendenutilitaristischen Verständnis intergenerativer Be-ziehungen gedeutet, was in hohen utilitaristischenund Bildungserwartungen an Nachkommen bei-derlei Geschlechts seinen Ausdruck findet.

Boos-Nünning (1989) hat die seit Beginn der 70er-Jahre mehrfach replizierten Befunde zu den über-höhten Bildungsaspirationen türkischer Migranten-familien auf eine starke Bevorzugung der schuli-schen Ausbildung gegenüber der Ausbildung imdualen System zurückgeführt, welches den Elternund vielfach auch den Jugendlichen nicht zuletztwegen seiner Unbekanntheit in den Herkunfts-gesellschaften unverständlich sei. Darüber hinausist für die Wahl von Ausbildungswegen die Orien-tierung an der Herkunftsgesellschaft in mehrererHinsicht von Bedeutung: Nicht zuletzt wegen desunsicheren Aufenthaltsstatus als Ausländer werdensolche Ausbildungswege präferiert, die in beidenGesellschaften als aussichtsreich für die Realisie-rung intergenerativer Statusmobilität angesehenwerden; da jedoch in der HerkunftsgesellschaftBerufe mit qualifizierter Ausbildung unterhalb derakademischen Professionen weitgehend fehlen, isteine Entscheidung für diese beinahe zwangsläufig,da als Alternative nur Erwerbstätigkeiten gesehenwerden, die (auch wenn sie als Selbständige ausge-übt werden) keine berufliche (Weiter-) Qualifizie-rung im Sinne von formalisierten Abschlüssenbeinhalten.

Intergenerative Transmissionsprozesse sind auchfür das Eingliederungsverhalten in beiden Genera-tionen von ausschlaggebender Bedeutung (Nauck/Kohlmann/Diefenbach 1997). So lassen sich zu-nächst vergleichsweise große Unterschiede zwi-schen den Generationen in ihren Reaktionen aufdie Aufnahmegesellschaft feststellen:

– In Migrantenfamilien gibt es typischerweise einerhebliches Gefälle in der Beherrschung derSprache der Aufnahmegesellschaft zwischenden Generationen zu Gunsten der Kinder und inder Elterngeneration ein Gefälle zwischen Ge-schlechtern zu Gunsten der Väter, das dann inder Kindgeneration völlig verschwunden ist.

– Diskriminierungen in der Aufnahmegesell-schaft werden von Eltern häufiger wahrge-nommen als von jugendlichen Kindern. Amseltensten berichten italienische Jugendlichevon Diskriminierungserfahrungen, am häufig-sten vietnamesische Eltern, die mit ihren Dis-kriminierungserfahrungen weit vor allen Mi-grantennationalitäten liegen. Auffällig ist, dasszwischen den Generationen übereinstimmende

HoheBildungs-

aspiration intürkischen

Familien fürJungen und

Mädchen

Generations-unterschiedein der Reakti-on auf dieAufnahmege-sellschaft

Starke Bevor-zugung vonformalisiertenBildungsab-schlüssen

Hohe Integra-tion und

Interaktions-dichte bei

Migranten-familien

Migrationstärkt inter-

generativeBeziehungen

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 109 – Drucksache 14/4357

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Diskriminierungserfahrungen in türkischenFamilien weitaus seltener sind als in griechi-schen oder italienischen Familien, was auf einedeutlichere Trennung der Interaktionsfelder, indenen die Generationen mit Mitgliedern derAufnahmegesellschaft in Kontakt kommen,schließen lässt.

– Deutlichere Unterschiede, die die Migrations-geschichte der jeweiligen Herkunftsnationali-täten reflektieren, sind bezüglich der Entfrem-dung der Familienmitglieder von ihrer Her-kunftsgesellschaft zu verzeichnen. Generellsind diese Entfremdungsgefühle bei den Ju-gendlichen jeweils stärker ausgeprägt als beiden Eltern. Eine Ausnahme stellen türkischeVäter und Söhne dar: Türkische Väter äußernvon allen Elterngruppen am allerhäufigsten sol-che Entfremdung von der Herkunftsgesell-schaft, türkische Söhne äußern sie dagegen vonallen Kindgruppen am allerseltesten.

Eine Reihe von Befunden zu türkischen Söhnendeuten darauf hin, dass sich bei ihnen am ehestendas Phänomen der „ethnic retention“ bzw. eines„ethnic revival“ zeigt: Türkische Migrantensöhneantizipieren höhere ökonomisch-utilitaristischeErwartungen an sich, als sie von ihren Eltern geäu-ßert werden, sie haben stärkere normative Ge-schlechtsrollenorientierungen und stärkere exter-nale Kontrollüberzeugungen als ihre Väter, d. h. siegehen von einer eher geringen Situationskontrolleaus. Diese Akzentuierung von Einstellungen beiden männlichen türkischen Jugendlichen bringt siein einen normativen Konflikt nicht nur zu ihrenFamilien, sondern besonders auch zur Aufnahme-gesellschaft, in der weder utilitaristische Erwartun-gen an Kinder, noch ausgeprägte normative Ge-schlechterrollenorientierungen oder externaleKontrollüberzeugungen positive Bewertungenerfahren. Entsprechend häufig – im Vergleich zuanderen Migrantenjugendlichen – fühlen sich türki-sche Söhne diskriminiert und haben an sich selbstdie geringste Erwartung, sich der Aufnahmegesell-schaft anzugleichen. All dies kann als ein Belegdafür gewertet werden, dass männliche türkischeJugendliche in der Migrationssituation häufig vonden an sie herangetragenen Erwartungen über-fordert werden.

Sieht man als Hauptquelle von Konflikten ent-täuschte Erwartungen an, so haben die Erwar-tungen an Söhne in türkischen Migrantenfamilienein weitaus größeres Risiko, häufiger, langan-haltender und tiefgreifender enttäuscht zu werdenals solche, die an die Töchter gerichtet werden:Utilitaristische Elternerwartungen an Söhne sindhöher und längeranhaltender als an Töchter; hinzukommt, dass unter den Lebensbedingungen der

Aufnahmegesellschaft die Investitionen in dieAusbildung der Kinder – im Vergleich zur Her-kunftsgesellschaft – sehr viel höher ausfallen, dar-an aber extrem hohe intergenerative Mobilitäts-aspirationen geknüpft werden. Das Konfliktpo-tenzial liegt bei Söhnen also nicht nur darin, dasssie die hohen Mobilitäts-Aspirationen ihrer Elternin aller Regel nicht erfüllen können, sondern dassdarüber hinaus der „individuelle Generationen-vertrag“ bezüglich lebenslanger Loyalität undUnterstützung der Eltern unter den Lebens-bedingungen der Aufnahmegesellschaft eine au-ßerordentlich hohe Bürde darstellt. Damit aberwird die familiäre Migrationsentscheidung insge-samt prekär: Die gewanderten Eltern werden be-züglich der intergenerativ – auch materiell – zuerbringenden Leistungen unvermittelt zu einer „lostgeneration“, die einerseits den Loyalitätsver-pflichtungen zur Herkunftsfamilie (häufig genug:mit erheblichem finanziellen Aufwand) weiterhinnachkommen, andererseits aber durch die ver-änderten Bedingungen in der Aufnahmegesell-schaft solche Leistungen von den eigenen Kindernnicht mehr erwarten können.

Demgegenüber spielen sich Konflikte zwischenEltern und Töchtern eher in vordergründig sichtba-rer Weise ab, sind häufig von situativen Normver-letzungen verursacht und deshalb leicht zu regeln;tiefgreifende Erwartungsenttäuschungen bei denEltern sind dagegen weniger „zwangsläufig“: DieseErwartungen der Eltern an ihre Töchter sind eherkurzfristig angelegt und von den Töchtern prinzipi-ell erfüllbar. Gleichwohl dürften solche Erwartun-gen an die Mithilfe im Haushalt und an die Versor-gung der Geschwister dann zu situationsorientier-ten Zielkonflikten bei den Mädchen führen, wennsie mit Ausbildungsaspirationen und an Deutschenorientierten Bezugsgruppenbindungen konkurrie-ren.

Wie die Befunde zur hohen Wahrnehmungs- undEinstellungsübereinstimmung zwischen Eltern undJugendlichen in Migrantenfamilien eindrucksvollbelegen, sind Generationenkonflikte in diesenFamilien seltener, als es nach der massenmedialenund sozialpädagogischen Berichterstattung denAnschein hat. Entsprechend gering ist auch derEinfluss von Generationenkonflikten auf das ge-sundheitliche Wohlbefinden und das Stress- undBelastungserleben der Eltern (Nauck 1997 ab;Niephaus 1998; Herwartz-Emden/ Westphal 1998):Als belastend erlebt werden von den Eltern in ers-ter Linie Konflikte mit der Aufnahmegesellschaft,die aus Diskriminierungserfahrungen resultierenund Konflikte in der Beziehung zwischen denEhepartnern; Konflikte mit den jugendlichen Kin-dern, die womöglich mit unterschiedlichen Inte-grationsvorstellungen in Zusammenhang stehen,gehören eher nicht dazu.

„Ethnicrevival“ am

stärksten beitürkischen

Migranten-söhnen

Drucksache 14/4357 – 110 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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IV.5 Verwandtschaftskontakte undaußerfamiliäre Netzwerke

IV. 5.1 Verwandtschaftsbeziehungen

Obwohl Verwandtschaftsbeziehungen in Migra-tions- und Eingliederungsprozessen von einigerBedeutung sind, sind sie – anders als in der histori-schen Migrationsforschung (Kamphoefner 1982;Ostergren 1988; Alexander 1981; Vecoli 1983) – inden Sozialwissenschaften selten thematisiert wor-den. Die Ursachen hierfür sind in den For-schungstraditionen der Migrationssoziologie zusuchen. Einerseits wurde dem individuellen Akteurim Migrationsprozess und andererseits der „ethniccommunity“ im Aufnahmekontext große Beach-tung geschenkt, nicht jedoch den familialen undverwandtschaftlichen Beziehungen, die die Akteurewährend ihrer Migrations- und Eingliederungspro-zesse unterhalten. Insbesondere mit Blick auf diesozialen Ressourcen von Migranten hat man sichnahezu vollständig auf „ethnische Kolonien“ kon-zentriert. Verwandtschaftsbeziehungen werden da-bei allenfalls beiläufig als Bestandteile dieserSelbsthilfegemeinschaften erwähnt.

Es gibt jedoch eine Reihe von Anhaltspunktendafür, diese in der Migrationsforschung dominie-rende Perspektive in Zweifel zu ziehen. Es fragtsich nämlich, ob die Bedeutung von ethnischenKolonien für den Eingliederungsprozess von Mi-granten nicht häufig deshalb überschätzt wordenist, weil ihnen die Leistungen zugeschrieben wor-den sind, die tatsächlich mit großer Ausschließ-lichkeit innerhalb von Verwandtschaftsbeziehun-gen erbracht worden sind, während nichtverwandteMitglieder von ethnischen Kolonien für Verlaufund Geschwindigkeit von Eingliederungsprozessennahezu bedeutungslos sind. Verwandtschaftsbezie-hungen weisen nämlich eine Reihe von Eigen-schaften auf, die sie in der Migrationssituation zueiner besonderen Form von sozialem Kapital wer-den lassen:

– Soziale Beziehungen mit Verwandten besitzeneinen vergleichsweise geringen Legitimations-bedarf, d. h. dauerhafte, vertrauensvolle Bezie-hungen lassen sich vergleichsweise schnell undunaufwendig herstellen und auch nach längerenZeiträumen reaktivieren.

– Verwandtschaftsbeziehungen basieren darauf,dass sie nicht nur bilateral unterhalten werden,sondern dass sich die Verwandtschaftsmitglie-der untereinander kennen; entsprechend wirddie wechselseitige soziale Kontrolle größer,und es sinken die Gefahren, in solchen Bezie-hungen einseitig ausgebeutet zu werden.

– Durch die Vernetzung der Verwandtschaftsbe-ziehungen ist es außerdem möglich, die Rezi-prozität in den sozialen Beziehungen nicht nurbilateral zu organisieren, sondern es sind z. B.auch Formen des „Ringtausches“ möglich, wasdie Effizienz dieser Beziehungen beträchtlicherhöhen kann.

Natürlich ist es möglich, dass auch nicht-verwandtschaftliche Beziehungen die genanntenMerkmale mehr oder weniger ausgeprägt aufwei-sen: Eine gemeinsame Migration großer Teile einesDorfes käme dem z. B. sehr nahe. In diesem Fallewären dann die gleichen Effekte auf den Verlaufdes Eingliederungsprozesses zu erwarten.

Verwandtschaftsbeziehungen stellen damit (soferndie benannten Bedingungen im Einzelfall zutref-fen) unter Migrationsbedingungen eine erheblicheRessource dar. Dies gilt besonders dann, wenndiese Beziehungen selbst bereits transnationalorganisiert sind, d. h. „Stützpunkte“ sowohl in derHerkunfts-, als auch in der Aufnahmegesellschaftbesitzen. Gerade die besonders erfolgreichen Mi-grationsbeispiele mit kosmopolitischer Orientie-rung und weltweitem Aktionsradius etwa vom Typder Hongkong-Chinesen sind ohne ihre Basis intransnationalen Verwandtschaftsbeziehungen nichtdenkbar.

Zugleich wird aber auch deutlich, dass die Inan-spruchnahme dieser Ressource ihren Preis hat, d. h.die kollektiven Investitionen in die (zunächst auf-wendige und teuere) Migration muss sich für alleBeteiligten auch lohnen. Dies wird in den häufigromantisierenden und stereotypen Vorstellungenüber die verwandtschaftlichen Solidarleistungen inmediterranen Familienstrukturen übersehen, die dieDiskussion über Verwandtschaft in Migrantenfa-milien stark geprägt haben. Nach dem dabei ge-zeichneten Bild ist

(a) jede zugewanderte Kernfamilie in ein umfas-sendes Netz verwandtschaftlicher Beziehun-gen eingebettet,

(b) funktionieren diese Beziehungen dauerhaft, harmonisch und konfliktfrei,

(c) stellen ein fraglos gegebenes Reservoir so-zialer und psychischer Unterstützung dar und

(d) in ihnen findet ein nahezu grenzenloser unddurch keinerlei Restriktionen eingeschränkterTransfer von materiellen Gütern und Dienst-leistungen statt.

Es ist leicht erkennbar, dass dieses Bild seineÜberzeugungskraft daraus schöpft, dass es sich in

Integrations-funktion der„ethnic com-

munity“

Verwandt-schaftsbezie-hungen inMigrationsind einegroße Res-source

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111 – Drucksache 14/4357

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der Rhetorik des „Zerfalls von Verwandtschaftsbe-ziehungen in modernen Gesellschaften“ zu einemGegenmodell stilisieren lässt, in dem „noch“ allesin Ordnung ist. Eine als Altruismus missverstande-ne Tauschbeziehung wird damit zum Kernbe-standteil der Beschreibung kultureller Differenzzwischen Deutschen und Migrantenminoritäten.Negative Bilanzen in den verwandtschaftlichenTauschbeziehungen, wenn Erträge aus dem Migra-tionsprojekt nicht sichtbar eintreten oder nichtmehr erwartbar erscheinen, bringen dann nämlichdie Migrantenfamilien, die hohe verwandtschaftli-che Unterstützung in Anspruch genommen haben,in eine prekäre Lage, in der häufig nur ein Auswegin „symbolische“ Verhaltensweisen bleibt. Ritua-listische Konformitätsbezeugungen an die Her-kunftskultur gehören hierzu; „Fundamentalismus“in Migrantenminoritäten dürfte hierin seine we-sentliche Ursache haben.

Empirische Anhaltspunkte für die Vermutung, dassdie Bedeutung räumlich verdichteter ethnischerSelbsthilfegemeinschaften für den Verlauf vonEingliederungsprozessen eher überschätzt wordenist, geben einerseits Befunde, wonach allenfallseine sehr schwache Beziehung zwischen der in derWohnungsumgebung gegebenen Konzentrationvon Angehörigen der eigenen Nationalität und derHäufigkeit von Kontakten zu ihnen besteht (Al-pheis 1988; 1990; Bonacker/Häufele 1986;Koch/Schöneberg 1984; Schöneberg 1993). Ande-rerseits haben Befunde bei türkischen Migranten-familien gezeigt, dass Verwandtschaftskontakte inhoher Intensität auch dann aufrechterhalten wer-den, wenn die Verwandten nicht in der näherenUmgebung wohnen: „Entfernung“ scheint somitbei ihnen kein relevanter Kostenfaktor für die Auf-rechterhaltung intensiver Verwandtschaftsbezie-hungen zu sein. Diese Beobachtungen legen esnahe, dass es sich um ein ethnozentrisches Miss-verständnis handelt, wenn von der Häufigkeit desAuftretens von „sichtbaren“ Ausländern in be-stimmten Wohnquartieren darauf geschlossen wird,dass diese dann auch untereinander intensive Be-ziehungen hätten (Nauck 1988): In ihren Wohn-formen entsprechen türkische Migrantenfamiliendem Typus der „isolierten Gattenfamilie“ weitmehr als z. B. deutsche Familien. Ihre Wohnent-scheidungen sind nämlich zuallererst an der mate-riellen Qualitätsverbesserung der Wohnverhältnisseorientiert, der die Verfügbarkeit verwandtschaftli-cher oder freundschaftlicher Kontakte untergeord-net wird.

Einen weiteren Anhaltspunkt für die im Vergleichzur ethnischen Kolonie großen Bedeutung vonVerwandtschaftsbeziehungen im Migrationspro-zess liefern Daten zur regionalen Verteilung vonMigranten. Ein stets wiederkehrendes Ergebnisverschiedener Untersuchungen in Europa ist, dass

jeweils große Klumpungen von Migranten dergleichen regionalen bzw. örtlichen Herkunftfestzustellen sind. Dieses Phänomen ist nicht aufSuche nach Angehörigen der gleichen ethnischenGruppe, sondern vielmehr auf familialverwandt-schaftliche Kettenmigration zurückzuführen(MacDonald und MacDonald 1964; Tilly undBrown 1968; Boyd 1989). Personen mit extensivenVerwandtschaftsbeziehungen weisen eine höhereMigrationsbereitschaft auf (Litwak 1960; Hendrix1975; 1979; Choldin 1973), wobei diese Ver-wandtschaftsnetze sowohl als Operationsbasis inder Herkunftsgesellschaft z. B. für die Versorgung(zunächst) zurückbleibender Familienmitgliederdienen (Jitodai 1963; Friedl 1976; Abadan-Unat1977), als auch die bevorzugte erste Anlaufstelle inder Aufnahmegesellschaft sind. Beides sindLeistungen, für deren Erwartbarkeit die gleicheethnische Zugehörigkeit allein keine Basis bietet.Vielmehr bedarf es für solch weitreichende Hilfe-leistungen des langfristigen Aufbaus verlässlichersozialer Beziehungen auf Gegenseitigkeit, für diedie lebenslang „unausweichlichen“ Verwandt-schaftsbeziehungen weitaus bessere Eingangs-voraussetzungen bieten.

Dies dürfte bei modernen Migrationsformen, beidenen stets auch die Rückkehroption offen gehal-ten werden kann (Dietzel-Papakyriakou 1993),wahrscheinlich noch an Bedeutsamkeit gewinnen.In westeuropäischen Aufnahmekontexten, in denensowohl der eigene Aufenthalt als auch der derzugewanderten Nachbarschaft fraglich bleibt, wer-den – wenn nicht noch andere Bindungen vorliegen(z. B. über dritte Personen aufgrund derselbenlokalen Herkunft) – gegebenenfalls sogar transna-tionale Verwandtschaftsbeziehungen die verlässli-chere Basis für langfristige reziproke Beziehungensein als nur die Gemeinsamkeit der nationalenHerkunft.

Nur vor diesem Hintergrund ist erklärlich, warumvergleichende Ergebnisse über Verwandtschaftsbe-ziehungen von Migrantenfamilien zeigen, dass sichdie Verwandtschaftsdichte im Verlauf der Migrati-onsperiode nur unwesentlich erhöht hat. Bei An-fang der 70er-Jahre durchgeführten Untersuchun-gen hatten ca. 60 % der Arbeitsmigranten Ver-wandte in der Bundesrepublik (Schrader, Niklesund Griese 1979; Becher und Erpenbeck 1977), 10Jahre später ist der Anteil auf über 70 % angestie-gen (Bonacker und Häufele 1986). In einer 1982durchgeführten Untersuchung lebten 30 % derGriechen und Italiener und 24 % der Türken ohneVerwandte in Deutschland, aber jeweils über 50 %der Migranten hatten Verwandte am gleichen Ort(Schöneberg 1993). Bei den Italienern mit Ver-wandten in Deutschland lebten bei fast 90 % zu-mindest ein Teil der Verwandten am Wohnort desBefragten und bei 57 % lebten die Verwandten

RegionaleVerteilungvon Migran-ten weist auffamilial-verwandt-schaftlicheKettenmigra-tion hin

TransnationaleVerwandt-schaftsbezie-hungen alsverlässlicheBasis

Drucksache 14/4357 – 112 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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ausschließlich dort. Von den Türken hatten dage-gen nur zwei Drittel einen Teil der Verwandten amWohnort, und nur bei einem Viertel lebten dieVerwandten ausschließlich dort. Dies deutet aufdas unterschiedliche Konsolidierungsniveau derverschiedenen nationalen Minoritäten hin, das beiden Türken zeitlich verzögert erreicht wird. Mehrals 90 % der Migrantenfamilien, die Verwandte inder Aufnahmegesellschaft, und fast alle (99 %), dieVerwandte am Ort haben, pflegen einen regelmä-ßigen Besuchskontakt, davon bei Italienern (39 %)und Türken (34 %) mit täglichen und mehrmalswöchentlichen Besuchen. Dabei sind keine Varia-tionen nach Geschlecht, Alter, Bildung, Familien-stand, Aufenthaltsdauer und Berufstätigkeit (derFrau) festzustellen, was zunächst den hohen Insti-tutionalisierungsgrad verwandtschaftlicher Bezie-hungen unterstreicht (Koch/Schöneberg 1984).

In der gleichen Untersuchung werden auch unter-schiedliche Funktionen der Verwandtschaft für dieAkteure aus den jeweiligen Herkunftsgesellschaf-ten berichtet: Türken betonen besonders stark dieinstrumentellen Leistungen eines loyal organisier-ten Verwandtschaftssystems, in dem „Hilfe in jederLage“, „Zusammenhalt in der Fremde“ und „Ein-flussnahme“ zur Durchsetzung eigenfamilialerInteressen erwartet werden. Demgegenüber erwei-sen sich italienische Verwandtschaftssysteme eherals auf Sympathie und expressive Aktivitäten ge-gründet, wobei bei ihnen eine starke Differen-zierung von Verwandtschafts- und Freundschafts-beziehungen erfolgt. So wird eine Vielzahl von(expressiven) Aktivitäten bei Italienern überwie-gend oder ausschließlich mit Verwandten zusam-men unternommen. Während von den Italienern dieVerwandtschaftsbeziehungen unter Migrationsbe-dingungen in hohem Maße als subjektiv zufrieden-stellend bewertet werden, ist dies bei den Türkennicht der Fall. Sie äußern sich am häufigsten ent-täuscht, weil die Funktionstüchtigkeit des ver-wandtschaftlichen Zweckverbandes in der Auf-nahmegesellschaft erheblich beeinträchtigt ist.Türken äußern vergleichsweise häufig Differenzenmit Verwandten, fühlen sich entweder ausgenutztoder von ihnen im Stich gelassen und berichtenvon einer Lockerung verwandtschaftlicher Bezie-hungen und von gegenseitiger Entfremdung.

Am Beispiel türkischer Migrantenfamilien sind diesozialen Beziehungen der Familienmitglieder un-tereinander, zu Verwandten, zu nichtverwandtenMitgliedern der eigenen Herkunftsnationalität undzu Deutschen untersucht worden (Nauck undKohlmann 1998). Lediglich 34 % der türkischenVäter und 14 % der türkischen Mütter nennenKontakt zu mindestens einem gleichgeschlechtli-chen Mitglied der eigenen Nationalität außerhalbder Verwandtschaft. Vollkommen bedeutungslosfür die Elterngeneration in türkischen Familien

sind dagegen Beziehungen zu Angehörigen derAufnahmegesellschaft: Nur 7 % der Väter und 5 %der Mütter nennen mindestens eine deutsche Be-zugsperson des gleichen Geschlechts. Bei dentürkischen Jugendlichen hat sich diese Situationdeutlich verändert. 40 % der türkischen Söhne und29 % der türkischen Töchter nennen mindestenseinen deutschen Freund gleichen Geschlechts alsTeil ihres Netzwerks. Trotz der eindeutigen Ent-wicklung zu mehr interethnischen Kontakten in derzweiten Generation haben damit nur relativ wenigetürkische Migranten beider Generationen über-haupt interethnische Netzwerkbeziehungen. Ziehtman nun die sehr unterschiedlich verteilte quanti-tative Verfügbarkeit von Angehörigen der Ver-wandtschaft und der eigenen Ethnie in Betracht, soergeben sich deutliche Hinweise, dass Verwandt-schaftsbeziehungen zumindest für die erste Zu-wanderergeneration türkischer Eltern eine sehrwesentliche Rolle spielen. Sie konstituieren derensoziale Integration – wohingegen darüber hinaus-gehende Kontakte innerhalb der eigenen Ethniequantitativ kaum noch ins Gewicht fallen: „Bin-nenintegration” in türkischen Migrantenfamilienverläuft damit nicht entlang ethnischen, sondernentlang verwandtschaftlichen Linien. Dies wirdauch daran deutlich, dass die genannten außerver-wandtschaftlichen Netzwerkmitglieder keineswegsalle in der unmittelbaren Nachbarschaft wohnen.Beziehungen zu Mitgliedern der eigenen Her-kunftsnationalität gestalten sich damit eher seltennach dem Muster einer „ethnic community“, siesind vielmehr lose, bilaterale Sozialbeziehungen.

Charakteristisch für Verwandtschaftsbeziehungenin türkischen Migrantenfamilien ist die ausgeprägteStrukturierung nach Generation und Geschlecht:

– Väter nennen häufiger Verwandtschaftsmitglie-der in ihrem Netzwerk als Mütter, und zwarsowohl zu weiblichen als auch zu männlichenVerwandtschaftsmitgliedern. Die Verwandt-schaftsbeziehungen der Mütter sind besondersstark am eigenen Geschlecht orientiert (sienennen zu 31 % entweder die eigene Mutter,Großmutter oder Schwiegermutter als Netz-werkmitglied, jedoch nur zu 16 % den eigenenVater, Großvater oder Schwiegervater; bei denVerwandtschaftsbeziehungen innerhalb der ei-genen Generation, d. h. zu Geschwistern undSchwagern, ist die Relation mit 29 % zu 21 %weniger ausgeprägt). Da aber außerhalb derVerwandtschaft für die türkischen Mütter prak-tisch kaum soziale Beziehungen existieren unddiese dann ganz eindeutig auf das gleicheGeschlecht beschränkt sind, bleibt festzuhalten,dass die – in der Migrationssituation nichtselbstverständlich gegebene – Verfügbarkeitvon Verwandtschaft den Aktionsraum türki-scher Frauen erheblich erweitert und ihnen

Verwandt-schaft erwei-tert Aktions-raum beitürkischenFrauen

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 113 – Drucksache 14/4357

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Koalitionsmöglichkeiten zur Durchsetzungihrer Interessen eröffnen. Verwandtschaftsbe-ziehungen sind insbesondere die einzige Formund Gelegenheit für gemischtgeschlechtlicheBeziehungen.

– Durch die Migration verändert gegenüber derSituation in der Herkunftsgesellschaft dürftendagegen die Proportionen zwischen den inter-und intragenerativen Verwandtschaftsbezie-hungen sein. So lebt bei den türkischen Mütternvon den genannten Brüdern, Schwagern undübrigen männlichen Verwandten bei 22 % min-destens einer in derselben Stadt bzw. Region,bei den Vätern sind es sogar 40 %; bei denSchwestern, Schwägerinnen und sonstigenweiblichen Verwandten sind es 31 % bzw. 18%. Dagegen lebt nur bei 3 % der befragtenFrauen und 6 % der Männer ein genannter Va-ter, Schwiegervater oder Großvater in der glei-chen Umgebung; nicht zuletzt aufgrund der ge-schlechtsspezifisch unterschiedlichen Überle-bensraten sind die entsprechenden Werte für dieMütter, Schwiegermütter und Großmütter derBefragten mit 5 % bzw. 11 % etwas höher.Dass der Anteil der Mütter in der Nähe der be-fragten Männer mehr als doppelt so hoch aus-fällt wie der befragten Frauen, verweist erneutauf die patrilineare Organisationsform der tür-kischen Migrantenfamilie.

Insgesamt ist jedoch charakteristisch, dass dieMigrationssituation und die verwandtschaftlicheKettenmigration eine deutliche Akzentverschie-bung mit sich bringt: An Stelle der Ansiedlung inder Nähe der Eltern aus der väterlichen Linie ist einräumliches Zusammenziehen mit den Brüdern desMannes getreten (intragenerativ-patrilokale Wohn-form), wohingegen die Eltern der befragten Mütterund Väter typischerweise in der Herkunftsgesell-schaft verblieben sind. Die eigenen Eltern undSchwiegereltern sind – wenn sie genannt werden –ausschließlich als Berater in persönlich wichtigenAngelegenheiten auf der Basis einer engen Bin-dung von Bedeutung, dagegen werden sie – nichtzuletzt wegen der bestehenden räumlichen Tren-nung – kaum als Bezugspersonen genannt, denenHilfe gewährt wird oder von denen die BefragtenHilfe erhalten. Demgegenüber werden diese in-strumentellen Aktivitäten in den Beziehungen zuGeschwistern, Schwagern und Schwägerinnendeutlich häufiger genannt, und zwar wiederumvornehmlich in den gleichgeschlechtlichen Bezie-hungen: 18 % der Väter erhalten Hilfe von mindes-tens einem Bruder oder Schwager, 21 % gebenselbst Hilfe, bei den Müttern fallen diese gegen-seitigen Hilfeleistungen mit 7 % bzw. 14 % deut-lich geringer aus.

Räumliche Verfügbarkeit ist keineswegs der aus-schlaggebende Faktor für die Aufrechterhaltungvon sozialen Beziehungen: 70 % der befragtenMänner (aber nur 19 % der Frauen) haben entwe-der zu ihrem Vater, Schwiegervater oder einemGroßvater mindestens einmal in der Woche Kon-takt und 74 % zu ihrer Mutter, Schwiegermutteroder einer Großmutter (aber nur 29 % der Frauen),obwohl diese zum ganz überwiegenden Teil in derTürkei leben.

Auffällig ist, welch große Bedeutung Geschwister-und Verwandtschaftsbeziehungen im Netzwerktürkischer Jugendlicher in Deutschland haben.50 % der Töchter und 60 % der Söhne nennenmindestens einen Bruder als Bezugsperson, 60 %der Töchter und 52 % der Söhne eine Schwester.Die Beziehung zu Geschwistern ist sicher auch auf„Gelegenheit“ in Mehrkindfamilien zurückzufüh-ren. Da diese Beziehungen jedoch nicht an dasWohnen im gemeinsamen Haushalt gebunden sind,scheinen sich schon im Jugendalter Geschwisterbe-ziehungen soweit zu verselbständigen, dass darausdie intensiven Verwandtschaftsbeziehungen inner-halb der gleichen Generation entstehen, die für dieElterngeneration in Migrantenfamilien charakteris-tisch sind. In einem erstaunlichen Ausmaß habentürkische Jugendliche auch Kontakt zu Verwandtender Eltern- und Großelterngeneration auch dann,wenn diese in der Türkei wohnen: Mehr als 70 %der weiblichen Jugendlichen und mehr als 50 %der männlichen Jugendlichen haben mindestenseinmal wöchentlich Kontakt sowohl zu männlichenals auch zu weiblichen Verwandtschaftsmitglie-dern. Wie bei den Geschwisterbeziehungen dürfteauch im Jugendalter aufrechterhaltene Kontinuitätin den verwandtschaftlichen Kontakten ein wichti-ger Mechanismus für die Entwicklung hoher Soli-darpotenziale in Verwandtschaftsbeziehungen tür-kischer Migrantenfamilien sein.

Diese hohen Kontakte zu Mitgliedern der Ver-wandtschaft dürfen jedoch nicht als erweiterte odergroßfamiliäre Lebensformen missverstanden wer-den. Qualität und Intensität der sozialen Beziehun-gen familiärer und verwandtschaftlicher Beziehun-gen unterscheiden sich insgesamt deutlich, d. h. esgibt eine deutliche Demarkation zwischen Familieund Verwandtschaft. Insofern weist die türkischeMigrantenfamilie alle Charakteristika des Typusder modernen, intimisierten Gattenfamilie auf,jedoch mit einer klaren internen Statusdifferenzie-rung nach Geschlecht, Generation und Geschwis-terrangfolge. Diese familieninterne Differenzierungbezieht sich auch auf die Beziehungen zur Ver-wandtschaft, zu außerverwandtschaftlichen Mit-gliedern der eigenen Herkunftsnationalität und zuMitgliedern der Aufnahmegesellschaft.

Bedeutungs-zuwachs von

erweitertenFamilienfor-

men in derMigration

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Die Geschlechterdifferenzierung hat weitreichendeKonsequenzen für den sozialen Aktionsraum in derMigrationssituation. Außerverwandtschaftlich ge-gengeschlechtliche Beziehungen – auch innerhalbder eigenen Ethnie – kommen für Männer sehrselten, für Frauen praktisch überhaupt nicht vor;entsprechend ist der Aufbau persönlicher Bezie-hungen in sehr starkem Maße an die Verfügbarkeitvon Verwandtschaft gebunden. Diese Geschwister-und Verwandtschaftsbeziehungen weisen einebemerkenswerte Kontinuität im Lebensverlauf auf.Im Vergleich zu den Verwandtschaftsbeziehungendeutscher Familien ergeben sich damit einige be-merkenswerte Unterschiede: Die Verwandtschafts-beziehungen konzentrieren sich nämlich in deut-schen Familien weitgehend auf solche zwischenden Generationen in direkter Linie, wohingegenBeziehungen zu Verwandten der gleichen Genera-tion (Bruder und Schwester, Schwager und Schwä-gerin, sonstige Verwandte) sehr viel unbedeutendersind. Ebenso sind die Verwandtschaftsbeziehungeneher matrilinear organisiert und werden von Frauenunterhalten. Bedeutung erhalten verwandtschaftli-che Beziehungen durch die Konzentration auf engepersönliche Bindungen und als Freizeitpartner.Hilfeleistungen verlaufen (in dieser Lebensphase)intergenerativ in genau entgegengesetzter Richtungzu denen in den türkischen Familien, d. h. die Leis-tungen fließen von der jeweils älteren Generationzur jüngeren: Großeltern helfen Eltern häufiger alsdiese Hilfe zurückgeben, Eltern helfen häufigerihren Kindern, während deren Beiträge praktischbedeutungslos sind.

IV. 5.2 Mitgliedschaft in ethnischen Ver-einigungen

Weit stärker als die Verfügbarkeit von Verwandt-schaft im Aufnahmekontext hängt für Familienausländischer Herkunft die Möglichkeit der Mit-gliedschaft in ethnischen Vereinigungen und dieMöglichkeit der Partizipation an öffentlich organi-sierten Aktivitäten von der Größe der jeweiligenNationalitätengruppe und der Länge der Anwesen-heit solcher Gruppen in der jeweiligen Wohnum-gebung ab. Insofern ist die Herausbildung undAusdifferenzierung eines ethnischen Vereinsnetzesimmer auch ein Hinweis auf den jeweiligen Standder Konsolidierung von Wanderungsströmen. Eth-nische Vereinigungen haben dabei stets eine Dop-pelfunktion:

– Die Rekrutierungsmechanismen dieser Vereini-gungen basieren in erster Linie auf der gemein-samen ethnischen Herkunft; sie ist der primäreMobilisierungsfaktor der Partizipation. Deshalbsind diese Vereinigungen stark darauf angewie-sen, dass der Bezug zur Herkunftsgesellschafterhalten bleibt, da andernfalls die Mobilisie-

rungsbasis verloren ginge; entsprechend müs-sen solche Vereinigungen stets die ethnischeDifferenz betonen und die Kultur der Her-kunftsgesellschaft tradieren und zu konservie-ren versuchen.

– Zugleich sind diese Vereinigungen aber immerauch auf die besonderen Bedürfnislagen derMinorität in der jeweiligen Aufnahmegesell-schaft ausgerichtet, indem sie einerseits Infor-mationen an ihre Mitglieder weitergeben, Inter-essen artikulieren, Aktivitäten kanalisieren undmobilisieren. Sie leisten damit regelmäßig nichtnur einen erheblichen Beitrag zur individuellensozialen Integration ihrer Klientel in die Auf-nahmegesellschaft, sondern auch zur Durchset-zung kollektiver Minderheitsinteressen. In demMaße, wie sich dieses organisatorische Netz in-stitutionell vervollständigt, bieten diese Verei-nigungen aber zugleich auch die Basis für eineStatusdifferenzierung innerhalb der ethnischenGemeinschaft, d. h. einer sozialen Schichtungauch innerhalb der Zuwanderungsminorität.Damit eröffnen sich dann zunehmend auch be-rufliche, politische und soziale Karrierepfadeinnerhalb dieser Gemeinschaft, die – insbeson-dere bei Schließungstendenzen in der Aufnah-megesellschaft – als attraktive Alternativen zuden in der Gesamtgesellschaft angebotenenMöglichkeiten wahrgenommen werden können.

Von der Größe der jeweiligen Nationalitätengruppeund der Länge des Anwesenheit solcher Gruppenin der jeweiligen Wohnumgebung hängt auch ab,welchen Grad der Ausdifferenzierung und Spezia-lisierung das Netz ethnischer Vereinigungen über-haupt erreichen kann, um eine hinreichende Anzahlvon Vereinsmitgliedern zu rekrutieren. Darausergibt sich, dass sich – anders als bei Vereinen derMehrheitsgesellschaft – ethnische Vereinigungenin ihren Aktivitäten nicht auf die Verfolgung engbegrenzter, einzelner Interessen beschränken kön-nen. Charakteristisch für die meisten von ihnen istvielmehr, dass sie mehrere, sehr verschiedenartigeZiele anstreben und ein vielfältiges Angebot anMöglichkeiten der Befriedigung materieller, so-zialer und kultureller Bedürfnisse bereitstellen.Eine anhand von Vereinssatzungen durchgeführteAnalyse der Ziele griechischer, italienischer undtürkischer Vereine führte zu folgendem Ergebnis(Schöneberg 1993, 122):

1. Die meisten Vereinigungen verstehen sich alsklientel- bzw. besucherzentrierte Einrichtungen.Dementsprechend ist die Mehrzahl ihrer Akti-vitäten und Leistungen auf die Befriedigungindividueller Bedürfnisse der Arbeitsmigrantengerichtet. Dagegen ist das Ziel, als politischeInteressenvertretung der Minderheit öffentlichwirksam zu werden, dieser Dienstleistungsori-entierung untergeordnet.

EthnischeVereinigungen

abhängig vonder Größe der

Nationalitä-tengruppe

VielfältigeAngebote zurBefriedigungmaterieller,sozialer undkulturellerBedürfnisse

Aufbau per-sönlicher

Beziehungenan Verfüg-

barkeit vonVerwandt-

schaft gebunden

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2. Die Mehrzahl der Vereinigungen sind multi-funktional, d. h. sie bieten ein reichhaltigesSpektrum verschiedener Leistungen an und ver-suchen auf diese Weise, sich für ihre Mitgliederund Besucher in vielerlei Hinsicht nützlich undunentbehrlich zu machen (siehe auch Kap. V.4),so z. B. durch:

– die Befriedigung grundlegender Integrati-onsbedürfnisse z. B. in Form von Sozial-und Rechtsberatung, Sprachkursen, berufli-cher Weiterbildung, Kursen zur Erreichungvon deutschen Schulabschlüssen, Kinder-betreuung,

– die Bereitstellung von Gelegenheiten fürsoziale Kontakte, für Freizeitaktivitäten unddie Einrichtung von Folkloremusik-, Tanz-,Sport- und Theatergruppen,

– die Bewahrung und öffentliche Darstellungkultureller Traditionen und den Erhalt derethnischen Identität,

– die Vertretung von Interessen und Ansprü-chen der Einwanderungsminderheit in derÖffentlichkeit.

Gemessen an der Vielfalt der Bedürfnisse vonFamilien ausländischer Herkunft (aber auch amAusmaß der Aufmerksamkeit, das ethnischen Ver-einigungen in der deutschen Öffentlichkeit entge-gengebracht wird), ist der Versorgungsgrad mitVereinen für Migranten eher gering: In Frankfurt(der deutschen Stadt mit dem höchsten Auslän-deranteil) entfielen Anfang der 80er Jahre auf je500 Griechen, auf je 1.000 Türken und auf je 1.700Italiener je eine ethnische Vereinigung. Gleichwohlhaben diese Vereinigungen in den jeweiligen Mi-grantennationalitäten einen hohen Bekanntheits-grad: Jeweils mehr als zwei Drittel der Befragten ineiner im Jahre 1983 durchgeführten Untersuchung(Schöneberg 1993, 147ff.) kannten mindestenseinen Verein. Der Bekanntheitsgrad war dabei amgrößten bei italienischen Männern (97 %) undFrauen (94 %), am geringsten bei den griechischenFrauen (62 %) und Männern (78 %); die türkischenFrauen (81 %) und Männer (89 %) nahmen eineMittelstellung ein. Der Vereinsbesuch lag bei allenMigrantennationalitäten über dem der deutschenVergleichsgruppe (Griechen 39 %; Italiener 52 %;Türken 42 %; Deutsche 31 %). Aber eine formelleVereinsmitgliedschaft hatten weitaus mehr Deut-sche (42 %) als die befragten Ausländer (Griechen21 %; Türken 26 %; Italiener 29 %), was den kli-entel- und besucherzentrierten Charakter ethnischerVereinigungen unterstreicht. Ähnliche Befundeberichten Mehrländer/Ascheberg/Ueltzhöfer (1996)für ihre 1995 durchgeführte Repräsentativ-Er-hebung, nach der 22 % der Italiener, 26 % derTürken und 28 % der Griechen Mitglied in einemVerein der eigenen Nationalität und 22 % der Ita-

liener, 17 % der Griechen sowie 14 % der Türkenin einem deutschen Verein Mitglied waren. Inbeiden Untersuchungen ist der Organisationsgradjeweils bei den Männern höher ist als bei den Frau-en. Jüngere Ausländer sind häufiger in deutschen,ältere Ausländer häufiger in Vereinen der eigenenNationalität organisiert. Auch neuere Untersuchun-gen dazu (Gille u. a. 1998) bestätigen dies.

Nach der regional begrenzten Untersuchung vonSchöneberg (1993) nutzen die türkischen Vereins-besucher diese Angebote am intensivsten. Sie sindnicht nur überdurchschnittlich oft regelmäßigeBesucher der Vereinsaktivitäten, sondern nutzenauch ein breiteres Spektrum verschiedenartigerAngebote. Demgegenüber nutzen Griechen dieseAngebote eher selektiv und bei speziellen Anläs-sen, während Italiener trotz ihres hohen Organisa-tionsgrades nur selten von den Angeboten ihrerVereine Gebrauch machen: „Je größer die rechtli-che, materielle und soziale Unsicherheit der Situa-tion ist, in der sich eine sesshaft gewordene Ein-wanderungsminderheit befindet, um so stärker istbei ihr die Tendenz ausgeprägt, sich in ethnischenVereinigungen zu organisieren und aktiv am Ver-einsleben zu beteiligen“ (Schöneberg 1993, 167).Entsprechend ambivalent sind die Auswirkungender Partizipation an ethnischen Vereinsangebotenauf den individuellen Eingliederungsprozess(Diehl/Urbahn/Esser 1998):

– Einerseits deutet eine Reihe von empirischenBefunden darauf hin, dass solche Organisatio-nen eine Rückzugsmöglichkeit darstellen, inder negative Erfahrungen mit Angehörigen undInstitutionen des Aufnahmelandes besser verar-beitet und Alltagswissen zur Bewältigung die-ser Probleme weitergegeben werden. So klagenz. B. sowohl die gewerkschaftlich organisiertenZuwanderer als auch die Besucher religiöserVeranstaltungen seltener über Orientierungslo-sigkeit als Unorganisierte, d. h. diese Wirkungstellt sich sowohl bei der aufnahmelandorien-tierten Gewerkschaftspartizipation als auch beider eher herkunftslandorientierten religiösenPartizipation ein.

– Andererseits verringert die Beteiligung in die-sen Organisationen die Notwendigkeit, Fähig-keiten zu erwerben, die für eine erfolgreichesoziale und strukturierte Integration in die Auf-nahmegesellschaft vonnöten sind. Vor allemdann, wenn eine zunehmende Anzahl verschie-dener Alltagsbereiche innerhalb einer ethni-schen Kolonie organisiert werden. Hier bestehtdann die Gefahr, dass innerhalb der KolonieKontakte zur Aufnahmegesellschaft nur mehrdurch einzelne Personen gepflegt werden, diedie Fertigkeiten besitzen, in beiden Gesell-schaften zu agieren, während es den restlichen

JüngereAusländereher in deut-schen, ältereAusländerhäufiger inVereineneigener Natio-nalität

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Mitgliedern unter Umständen dann an Mög-lichkeiten, aber auch an den Anreizen mangelt,diese zu erwerben.

IV. 6 Ältere Menschen ausländischerHerkunft

In immer mehr Familien ausländischer Herkunftleben alte Menschen. Sie sind als Migranten inDeutschland alt geworden oder als alte Menscheneingewandert. Hierzu gehören auch Aussiedler,die zwar die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen,deren Lage im Alter jedoch durch die Migrations-situation entscheidend geprägt wird. Die genaueZahl der Älteren ausländischer Herkunft ist nichtbekannt. Bekannt ist nur die Zahl derjenigen unterihnen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeitbesitzen. Bezogen auf 1998 sind etwa 500.000Ausländer in Deutschland 60 Jahre alt und älter.Sie sind eine sehr heterogene Gruppe: Nur etwa60 % von ihnen kommen aus den ehemaligen An-werbeländern, die Übrigen zumeist aus den Anrai-nerstaaten wie die Niederlande und Österreich.Unter diesen älteren Menschen ausländischer Her-kunft befinden sich auch hochaltrige Personen, dienoch vor dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschlandgekommen oder nach dem Krieg als „displacedpersons“ in Deutschland geblieben sind. Betrachtetman das Geburtsland der Ende 1995 lebendenAusländer in der Altersgruppe von 66 Jahren undälter, sind ca. 9 % in Deutschland geboren.

Unter Asylsuchenden sind ältere Menschen unter-repräsentiert, jedoch sind unter den Kriegsflücht-lingen der letzten Jahre und den Kontingentflücht-lingen, bei denen ganze Familienverbände aufge-nommen werden, häufiger ältere Menschen vertre-ten. Bei den anderen älteren Ausländern, die erstseit einigen Jahren zugewandert sind, handelt essich meist um hilfe- bzw. pflegebedürftige Elternund Großeltern, die von ihren Kindern nachDeutschland geholt werden, um ihre Versorgungzu gewährleisten. Innerhalb dieser Altenpopulatio-nen ausländischer Herkunft nimmt die erste Gene-ration der Arbeitsmigranten aus den Anwerbelän-dern einen besonderen Stellenwert ein. DieserGruppe werden die meisten Älteren ausländischerHerkunft in den nächsten Jahren angehören.

IV. 6.1 Ältere Aussiedler

1997 waren 7,2 % aller Spätaussiedler 65 Jahre altund älter. Sie sind zu unterschiedlichen Zeitpunk-ten und aus Ländern mit unterschiedlichen histori-schen und kulturellen Bedingungen in Ost-, Ost-mittel- und Südosteuropa zugewandert. Die Hete-rogenität dieser Gruppe wird durch Unterschiedenach Schichtzugehörigkeit, Bildungsstand, Erfah-rungen in unterschiedlichen sozialen Kontexten

und Abwanderungsmotivation weiter verstärkt. Dabei Spätaussiedlern Zuwanderungen häufig vonganzen Familienverbänden erfolgen, sind viele vonihnen erst als alte Menschen nach Deutschlandgekommen. Obwohl sie Rentenleistungen in An-lehnung an das Rentenrecht der BundesrepublikDeutschland erhalten und sozial abgesichert sind,kann das Problem der Altersarmut vor allem beigeschiedenen oder verwitweten älteren Frauennicht ausgeschlossen werden. Aufgrund ihrer Le-benserfahrungen als Angehörige einer Minoritätsind viele von ihnen traditionalistisch orientiert,was sich in einem ausgeprägten Familismus und inReligiosität niederschlägt. Im Unterschied zu denArbeitsmigranten, die häufig rückkehrorientiertsind, sind Spätaussiedler nach Deutschland ge-kommen, um sich hier für immer niederzulas-sen. Ihre meist idealisierenden Erwartungen anDeutschland führen unausweichlich zu Enttäu-schungen. Als ältere Menschen knüpfen sie beson-ders stark an die in einem anderen Kontext erwor-benen Einstellungen an. Dies äußert sich in Ängst-lichkeit im Umgang mit Behörden, in Unsicherheitund Passivität und in hohen Erwartungen an diestaatlichen Fürsorgesysteme.

IV. 6.2 Ältere ausländischer Herkunft:Prognosen

Gliedert man die ältere ausländische Bevölkerungnach Herkunftsländern, zeigen die Anteile derÄlteren an der jeweiligen Gesamtpopulation dereinzelnen Nationalitätengruppen beträchtlicheUnterschiede. Während – bezogen auf 1995 –14,6 % der Spanier, 9,2 % der Griechen, 7,7 % derItaliener und 5,9 % der Migranten aus dem ehema-ligen Jugoslawien 60 Jahre und älter sind, habenerst 3,8 % der Migranten aus der Türkei diesesAlter erreicht. Allerdings tritt vor allem bei Ar-beitsmigranten das psycho-soziale Alter viel früherals das chronologische ein, da sie sich in ihrenLebensphasen an eigenen kulturellen Alterspassa-gen wie frühere Eheschließung und frühere Groß-elternschaft orientieren.

In den zehn Jahren zwischen 1987 und 1997 hatsich die Zahl der älteren Ausländer mehr als ver-doppelt. Es ist zu erwarten, dass der Anteil derälteren Ausländer an der Gesamtzahl der 60-Jährigen und Älteren in Deutschland von 1,3 % imJahre 1987 bis zum Jahre 2010 auf 6,4 %(1,3 Mio.) ansteigen wird. Während der Anteil der60-Jährigen und Älteren Ende 1995 bei der auslän-dischen Bevölkerung 5,8 % und bei der deutschenBevölkerung 22,5 % betrug, wird nach vorliegen-den Modellrechnungen bis zum Jahre 2030 einAnstieg des Altenanteils auf 24,1 % bei der auslän-dischen Bevölkerung und auf 36,2 % bei der deut-schen Bevölkerung erwartet.

Bei Arbeits-migrantenpsycho-soziales Alterfrüher alschronologi-sches Alter

Modellrech-nungen zeigenAnstieg desAltenanteilsbei der aus-ländischenBevölkerung

Ältere Mi-granten

stellen eineheterogene

Gruppe dar

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 117 – Drucksache 14/4357

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Tabelle IV.16:Entwicklung des Altenanteils (60-Jährige undÄltere) in der deutschen und ausländischenBevölkerung bis 2030

Jahr

Bevölkerung über60 Jahre 2010 2020 2030

Deutsche in 1.000 19.180,3 18.305,6 22.407,9

% der deutschenBevölkerung 26.8% 27.2% 36.2%

Ausländer in 1.000 1.307,8 1.999,2 2.859,5

% der ausländischenBevölkerung 13,5% 18,2% 24,1%

% derGesamtbevölkerung 6,4% 9,8% 11,3%

Quelle: Deutscher Bundestag (1993), S. 12, Modell-rechnung, Stand 31. August 1993; Dietzel-Papakyriakou/Olbermann (1996b)

IV. 6.3 Wanderungsverhalten älterer Men- schen ausländischer Herkunft

Die Frage von Verbleib oder Rückkehr ins Hei-matland wird von vielen Älteren ausländischerHerkunft nicht endgültig entschieden, sondernoffen gelassen. Auch aus anderen Migrationslän-dern wird berichtet, dass der Wunsch nach Rück-kehr selbst nach jahrzehntelangem Aufenthalt imAusland aufrechterhalten wird. Für die einen ist derVerbleib in Deutschland im Alter ein während derlangen Aufenthaltszeit gereifter positiver Ent-schluss, für andere ist es ein Verbleib wider Wil-len. Auch wenn ein Verbleib vieler älterer Mi-granten zunehmend wahrscheinlicher wird, mussdies nicht zwangsläufig mit einer Aufgabe derRückkehrorientierung einhergehen. Viele ältereArbeitsmigranten halten an dem Gedanken derRückwanderung fest, weil mit dem Ausscheidenaus dem Erwerbsleben der ursprüngliche Grunddes Aufenthalts in der Bundesrepublik nicht mehrgegeben ist. Rückwanderung bedeutet dann auchdie Nutzung der materiellen Ressourcen, die wäh-rend des Erwerbslebens in Deutschland als Erspar-nisse und Altersvorsorge im Herkunftsland inves-tiert wurden. Nicht selten verfügen ältere Migran-ten im Herkunftsland über bessere Wohnbedingun-gen als in Deutschland, und die relativ niedrigenRenten vieler älterer Arbeitsmigranten stellen beimTransfer ins Herkunftsland ein weit ansehnlicheresEinkommen dar als in Deutschland. Dies auchdeshalb, da die meisten Migranten in Ballungsräu-men leben, in denen die Lebenshaltungskostenüberdurchschnittlich hoch sind. Für das Her-kunftsland kann zudem ein angenehmeres Klimaund die größeren Möglichkeiten für soziale Kon-

takte aufgrund noch vorhandener familiärer Bezie-hungen sprechen. Nach vorliegenden Erhebungenhaben etwa die Hälfte älterer ArbeitsmigrantenKinder im Herkunftsland (Deutsches Ro-tes Kreuz1991; Olbermann/Dietzel-Papakyriakou 1996; ZfT1993).

Zwischen 1974 und 1994 sind Fortzüge von ca.9,9 Mio. Ausländern aus Deutschland registriertworden. Hiervon waren 1.145.271 fünfzig Jahreund älter (11,6 % aller Fortzüge). Die realen Zah-len dürften weit höher liegen, da Rückwanderun-gen aufgrund unterbliebener Abmeldungen unterer-fasst werden. Ein sicheres Indiz hierfür stellt dasaltersbezogene Sterblichkeitsniveau dar. So wäre z.B. für 1993 die Erwartungszahl an Sterbefällen vonAusländern im Alter von 60-64 Jahren 1795 Perso-nen gewesen, die tatsächliche Zahl betrug jedochmit 787 weniger als die Hälfte (Schwarz 1997).Obwohl die Bedeutung der grenzüberschreitendenMobilität für die älteren Migranten inzwischenerkannt und damit begonnen wurde, ausländer-rechtliche Hindernisse auszuräumen, nehmen ältereMigranten bei ihrer Rückwanderung teilweiseerhebliche Nachteile vor allem im Bereich dersozialen Absicherung und gesundheitlichen Ver-sorgung in Kauf. Dies gilt weniger für die 32 % derüber 60-jährigen Ausländer aus den Ländern derEuropäischen Union, die seit Anfang der 90erJahre unter bestimmten Voraussetzungen Freizü-gigkeit genießen. Für „Drittstaatler“ ist dagegen dieWiederkehroption (§16 Abs. 5 AG) von Bedeu-tung, wonach Ausländer, die von einem Träger imBundesgebiet Rente beziehen, unter bestimmtenVoraussetzungen einen Regelanspruch auf Ertei-lung einer Aufenthaltserlaubnis haben, wenn sie insHerkunftsland zurückgekehrt waren und sich wie-der in Deutschland niederlassen wollen.

Die Migrationsbereitschaft älterer Menschen hat inden zurückliegenden Jahren zugenommen; dieVerlegung des Wohnsitzes nach der Pensionierungist ein weltweit sich verbreitendes Phänomen(Dietzel-Papakyriakou 1999). Zwar sind dies meistNahwanderungen, doch ist zu erwarten, dass auchFernwanderungen in Zukunft erheblich an Bedeu-tung gewinnen werden. Hierzu werden die durchhäufiges Reisen erworbenen Kompetenzen sowiedie Zunahme der materiellen Ausstattung alterMenschen beitragen. Günstige institutionelle Rah-menbedingungen, wie innerhalb der EU die freieWahl des Wohnortes für Rentner der Mitglied-staaten, die fortschreitende Harmonisierung derrechtlichen Bestimmungen und die Ermöglichungdes Transfers sozialer Leistungen, wie z. B. derPflegeversicherung, werden diese Tendenz ver-stärken. Zudem können strukturelle Probleme,u. a. hohe Arbeitslosigkeit, hohe Wohndichte undschlechte Wohnumfeldbedingungen, hohe Lebens-haltungskosten und geringe Erholungsmöglichkei-

Bei älterenMigranten

bleibt Rück-kehrorientie-rung vielfach

vorhanden

Verlegung desWohnsitzesnach derPensionierungein sich ver-breitendesweltweitesPhänomen

Drucksache 14/4357 – 118 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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ten zur Abwanderung alter Menschen führen. Sinddie meisten Wanderungen der einheimischen älte-ren Menschen Nah- bzw. Binnenwanderungen, soist dies bei den älteren Arbeitsmigranten umge-kehrt. Bei ihnen handelt es sich häufiger um Fern-wanderungen über nationale Grenzen hinweg –zumeist in die Herkunftsgesellschaft. Solche Fern-wanderungen kommen bei der einheimischen Ar-beiterbevölkerung vergleichbarer sozialer Lagekaum, sondern – wenn überhaupt – in den einhei-mischen Ober- bzw. Mittelschichten vor.

Auffallend ist bei vielen Befragungen der relativhohe Anteil der Unentschlossenen. Entweder stehteiner der Ehepartner noch im Erwerbsleben bzw.ist noch nicht rentenbezugsberechtigt, oder dieKinder sind noch auf Unterstützung angewiesen,oder die Entscheidung wird von der nicht absehba-ren Entwicklung der persönlichen gesundheitlichenund finanziellen Situation abhängig gemacht. Umdas Dilemma einer endgültigen Entscheidung überihren Wohnort zu umgehen, pendeln viele Ältereausländischer Herkunft zwischen Herkunfts- undImmigrationsland. Dieses Arrangement wird auchaus den anderen Immigrationsländern z. B. ausFrankreich oder den Niederlanden bei den maghre-binischen Immigranten berichtet. Für die einen istdas Pendeln eine Übergangslösung bis zu einerendgültigen Entscheidung, für andere ist es eineDauerlösung, die es erlaubt, die jeweiligen landes-spezifischen Vorteile zu nutzen. Pendeln ist einMigrationsmodus vor allem der jungen Alten.Wenn die gesundheitlichen und materiellen Vor-aussetzungen es erlauben, bietet das Pendeln dieMöglichkeit, den Kontakt zu den Kindern zu er-halten, bei Bedarf z. B. die ärztliche Versorgung inDeutschland zu sichern und die klimatischen undsozialen Vorzüge des Herkunftslandes zu erleben.Migranten verfügen somit über Mobilitätspoten-ziale, die sich aus ihren vorausgegangenen Mobi-litätserfahrungen ergeben. Rückwanderungen vonÄlteren ausländischer Herkunft haben deshalb inden meisten Fällen den Charakter von freiwilligenWanderungen und stellen eine Form der aktivenGestaltung des Alters dar. Kontraproduktiv wäre esdeshalb, Wanderungen älterer Migranten zu behin-dern.

Eine besondere Gruppe stellen die Flüchtlinge dar,die häufig weder rückwandern noch pendeln kön-nen. Gerade politische Flüchtlinge leiden deshalbunter Heimweh, weil sie ihren Auslandsaufenthaltals Provisorium betrachten, sich mit ihren Her-kunftsländern verbunden fühlen und die politischenEntwicklungen in der Hoffnung auf baldige Rück-kehr verfolgen. Heimweh und Depression wegendes Verlustes des sozialen und des beruflichenStatus und der Fähigkeit zur sprachlichen Kommu-nikation äußern sich dann in Symptomen, die imAlter oft als Senilität fehlinterpretiert werden.

Sind finanzielle und gesundheitliche Erwägungensowie die Nähe zu den hier lebenden Kindernwichtige Gründe für den Verbleib in Deutschland,so stellt Letzteres auch das wichtigste Motiv fürdiejenigen dar, erst im Alter nach Deutschland zukommen. Zwischen 1974 und 1994 sind 1,1 Mio.Ausländer nach Deutschland zugezogen, die 50Jahre und älter waren (9,0 % aller Zuzüge). Vieledieser älteren Personen kommen als Familienange-hörige der hier lebenden Migranten oder im Rah-men der Familienzusammenführung zu ihren Ehe-partnern. Ausländern aus EU-Staaten wird untergewissen Bedingungen für Verwandte in aufstei-gender Linie, die von ihnen Unterhalt erhalten (§ 1,Abs. 2 AufenthG/EWG), Freizügigkeit gewährt.Für Drittstaatler ist der Zuzug im Alter bei Über-nahme aller notwendigen Garantien durch die Fa-milie in Deutschland möglich.

IV. 6.4 Lebenslagen der Älteren ausländi-scher Herkunft

Ältere Arbeitsmigranten verfügen häufig überniedrige Renten, da sie häufig spät in eine renten-relevante Erwerbstätigkeit in Deutschland eintretenund auf kürzere Versicherungs- und Beitragszeitensowie auf ein geringeres Erwerbseinkommen ausBeschäftigungsverhältnissen in wenig qualifizier-ten Berufen und auf ein überdurchschnittlichesArbeitslosigkeitsrisiko zurückblicken. In einerSonderauswertung des Mikrozensus 1994 ermitteltEggen (1997), dass das durchschnittliche Pro-Kopf-Nettoeinkommen der 60-jährigen und älterenAusländer mit 1.414 DM etwa 85 % des Einkom-mens der gleichaltrigen Deutschen erreicht. DieEinkommen der älteren Migranten aus der Türkeiliegen mit durchschnittlich 1.100 DM (66 % desDurchschnittseinkommen der älteren Deutschen)noch deutlich niedriger, aber auch die älteren Mi-granten aus dem ehemaligen Jugoslawien(1.185 DM) und die älteren Griechen (1.298 DM)weisen deutlich geringere Einkommen auf als diedeutsche Vergleichsgruppe. Während Ende 1994lediglich 1,1 % der in Privathaushalten lebendendeutschen Bevölkerung im Alter von 65 Jahren undmehr auf Sozialhilfe angewiesen sind, sind dies beider gleichaltrigen Bevölkerung ausländischerStaatsangehörigkeit 7,8 % (Statistisches Bundes-amt 1995).

Über die Zahl der in Altenheimen lebenden Älterenausländischer Herkunft liegen keine repräsentati-ven Daten vor; Untersuchungen in einzelnenKommunen deuten darauf hin, dass sie weit weni-ger in Altenheimen leben, als es ihrem (ohnehingeringen) Anteil an der älteren Bevölkerung ent-spräche: Einerseits ist das Wohnen in Altenheimenfür ältere Arbeitsmigranten in noch höherem Maßeals bei der einheimischen Bevölkerung sozial

Nähe zu denhier lebendenKindernZuwande-rungsgrundim Alter

Behinderungvon Wande-

rungen ältererMenschen

wäre kontra-produktiv

Ältere Mi-granten lebenselten inAltersheimen

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 119 – Drucksache 14/4357

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stigmatisiert, andererseits sind die stationärenAltenhilfeeinrichtungen im Allgemeinen nicht aufdie spezifischen Bedürfnisse dieser Gruppe alterMenschen eingestellt. Schwierigkeiten und Ver-sorgungsdefizite bestehen vor allem im Bereichder sprachlichen Verständigung und Kommunika-tion, der Ernährung, der Pflege, der religiösenBedürfnisse und des Umgangs mit den Angehöri-gen.

Die Älteren ausländischer Staatsangehörigkeitleben deshalb ganz überwiegend in privaten Haus-halten, jedoch nur ca. ein Viertel lebt 1995 in Ein-personenhaushalten (deutsche: ca. ein Drittel).Besonders niedrig ist der Anteil an Alleinlebendenbei der älteren türkischen Bevölkerung (14,9 %),vergleichsweise häufig allein leben dagegen dieÄlteren aus dem ehemaligen Jugoslawien (27,7 %)und aus Italien (26,3 %). Insgesamt hat sich dieWohnsituation der alteingesessenen Migrantenrelativ zu früheren Phasen der Migration deutlichzum Positiven verändert. Die Bereitschaft zumEigentumserwerb bei der ausländischen Bevölke-rung nimmt zu. Große Familien können durchgemeinsame Finanzierung und kollektiven Arbeit-seinsatz Altbauten erwerben, renovieren unddas Zusammenleben mehrerer Generationen untereinem Dach realisieren. Die 1 %-ige Gebäude-und Wohnungsstichprobe 1993 weist aus, dassdie Eigentumsquote der ausländischen Haus-halte mit einem Wohnungsinhaber über 65 Jahremit einem Anteil von 22,7 % zwar niedriger alsbei der deutschen Bevölkerung liegt, aber den-noch auf eine beträchtliche Eigentumsbildunghindeutet.

Für die Mehrzahl der älteren Ausländer gilt jedoch,dass sie – insbesondere in urbanen Ballungsgebie-ten – zur Miete wohnen. Wohnungen ohne Bad undSammelheizung sowie bei mehrgeschossiger Bau-weise in alten Gebäuden ohne Fahrstuhl stellen imAlter zusätzliche gesundheitliche Belastungen undGefährdungen dar. Sie erschweren den Alltag,erhöhen die Unfallgefahr, beschränken die Mobi-lität und verringern damit die Selbstversorgungsfä-higkeit und die soziale Aktivität. Es ist bekannt,dass ausländische Familien von häuslichen Unfäl-len in viel stärkerem Maße betroffen sind als dieeinheimischen. Die schlechten Wohnbedingungender Ausländer sind mit ein Faktor für die höhereInzidenz von bronchopneumonalen Erkrankungen.Ungünstige Wohnbedingungen stellen angesichtsder großen Häufigkeit von Frühinvalidität und vonErkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparatesbei dieser Gruppe ein erhebliches Hindernis für dieAlltagsbewältigung dar.

IV. 6.5 Familienpotenziale der Älterenausländischer Herkunft

Charakteristisch für die ältere ausländische Bevöl-kerung ist der vergleichsweise hohe Anteil vonMännern. Ende 1995 betrug der Männeranteil inder ausländischen Bevölkerung über 60 Jahre53,3 % (deutsche Bevölkerung: 38,9 %); die höch-sten Männeranteile weisen Migranten aus Marokko(82,9 %) und Tunesien (80,0 %) auf. Der Anteilder Verheirateten ist bei den ausländischen Älterendeutlich höher (66,9 %) als bei den älteren Deut-schen (56,3 %). Nach dem Mikrozensus von 1994sind 85 % der älteren Migranten aus der Türkeiverheiratet (Eggen 1997). Vergleichsweise seltenverheiratet sind dagegen z. B. ältere Migranten ausOsteuropa (52 %) und den Niederlanden (55 %).Neben dem Ehepartner stellen die Kinder diewichtigsten Bezugspersonen dar. Die Familien derersten Migrantengeneration haben in der Regelmehr Kinder und leben häufiger mit ihnen zusam-men als die deutschen Älteren. Nach dem Mikro-zensus 1995 wohnen 30,2 % der älteren Ausländermit ihren Kindern oder Enkelkindern in einemgemeinsamen Haushalt, bei den älteren Einheimi-schen liegt der Anteil der in Mehrgenerationen-haushalten Lebenden bei lediglich 14,5 %. Beson-ders häufig sind Mehrgenerationenhaushalte inFamilien türkischer Herkunft: Etwa die Hälftewohnt mit den Kindern und jeder zehnte sogar mitKindern und Enkelkindern zusammen (Eggen1997).

Die kollektiven Ziele der Migrantenhaushalte, indenen die Älteren ausländischer Herkunft zumeistleben, haben beträchtliche Auswirkungen auf derenStatus. In dieser Situation können die Angehörigender ersten Migrationsgeneration in ihrer Großel-ternrolle ihren Kindern Unterstützung und Entlas-tung anbieten und ihnen einen maximalen Einsatzfür das gemeinsame Anliegen der Familie ermögli-chen. Die Übernahme von neuen nützlichen Funk-tionen durch die Alten stärkt wiederum die Famili-enkohäsion als wichtige Ressource für die Be-hauptung der Familie im Aufnahmekontext. DieHilfenetzwerke der instrumentellen und emotio-nalen Unterstützung älterer Migranten setzen sichganz überwiegend aus familiären Bezugspersonenzusammen. Hierzu gehören an erster Stelle dieeigenen Kinder. Sie helfen vor allem bei Behör-denangelegenheiten, bei schweren Hausarbeitenund beim Einkaufen. Ältere Arbeitsmigranten sindjedoch nicht nur Hilfeempfänger, sondern erbrin-gen ihrerseits auch Unterstützungsleistungen fürandere, wobei wiederum die Kinder die Haupt-adressaten sind. Hierzu zählen vor allem Ratschlä-

In urbanenBallungsgebie-

ten nach wievor schlechte-re Wohnsitua-

tion im Alter

Mehrgenera-tionenhaus-halte vorallem beitürkischenMigranten

Drucksache 14/4357 – 120 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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ge bei persönlichen oder praktischen Problemensowie Hilfen der Kinder im Haushalt, im Familien-betrieb oder bei der Enkelkinderbetreuung (Olber-mann/Dietzel-Papakyriakou 1996; Schubert 1992;Nauck/Kohlmann 1998).

Bezüglich der Hilfepotenziale der Migrantenfami-lien hat lange Zeit eine einseitige Problemsicht dieDiskussion bestimmt. Demnach sei die Familiedurch die Migration zerrissen, unter dem Akkultu-rationsdruck der deutschen Gesellschaft entfremdesich die zweite Migrantengeneration von der El-terngeneration mit der Tendenz einer zunehmendenAbneigung, Hilfeleistungen u. a. für alte Famili-enmitglieder zu übernehmen. Damit wird sowohlein falsches Bild von den einheimischen als auchvon den Migrantenfamilien entworfen: Da auch inden deutschen Familien die meisten Hilfeleistun-gen von Familienmitgliedern erbracht werden,würde eine kulturelle Assimilation der zweitenMigrantengeneration nicht zwangsläufig die Auf-kündigung der Familiensolidarität bedeuten (viel-mehr wäre dies nur im Falle einer Marginalisierungzu erwarten). Zum anderen sind intergenerativeEntfremdung und Konflikt nicht das typische Er-gebnis von Eingliederungsprozessen. Diese werdenvielmehr mit einer hohen „Synchronisierung“durchlebt, d. h. durch die ausgeprägte wechselseiti-ge Orientierung der Generationen aneinander bleibtdie Geschwindigkeit des Eingliederungsprozessesbei Eltern und Kindern ähnlich – wenngleich beider jüngeren Generation auf deutlich höheremNiveau als bei den Eltern (Nauck 1997a;Nauck/Kohlmann/Diefenbach 1997). Wenn dieUnterstützungsbedürftigkeit der Älteren eintritt,befindet sich die zweite Generation im Erwachse-nenalter. Bis dahin haben sich die intergenera-tionellen Beziehungen mehrmals verändert.Konflikte zwischen Eltern und ihren jugend-lichen Kindern können in den mittleren Lebens-jahren überwunden sein, zumal die Erwachsenender zweiten Generation dann durch ihre eigeneRolle als Eltern einen „Perspektivenwechsel“ voll-zogen haben. Es spricht deshalb vieles dafür, dassintergenerative Solidarpotenziale in Migrantenfa-milien in vergleichsweise hohem Maße gegebensind.

Das Bedürfnis nach sozialer und emotionaler Un-terstützung verändert sich im Lebenszyklus. DieAufgabe der Erwerbstätigkeit bedeutet für vieleMenschen den Verlust von sozialen Kontakten.Ältere ausländischer Herkunft erleiden Verlustesozialer Kontakte nicht nur durch Krankheit undTod von Gleichaltrigen, sondern zusätzlich durchdie Rückkehr von Bezugspersonen ins Herkunfts-land. Die vielfältigen Lebensumstellungen werdenhäufig als psychisch belastend empfunden. DasAlter ist auch die Zeit der verstärkten Beschäf-tigung mit der Vergangenheit, der Rückerinnerung,

der Auseinandersetzung mit der Endlichkeit desLebens und der Suche nach metaphysischen Erklä-rungen und Stützen in religiösen Werten und Ein-stellungen. Vor allem für ältere Menschen auslän-discher Herkunft, die aus bäuerlichen, wenig sä-kularisierten Gesellschaften stammen, bilden hier-für eigenethnische Beziehungen die einzige Mög-lichkeit: Sie basieren auf multiplen Vernetzungenvon Familienverbänden, in denen die gemeinsamenTraditionen, Sprache und Geschichte in relativersozialer Homogenität gepflegt werden. Allerdingsist angesichts der Einschränkung der Mobilität imAlter die räumliche Nähe eine wichtige Vorausset-zung für die Erreichbarkeit solcher Netzwerke,insofern kommt den ethnischen Kolonien für dieälteren Migranten eine hervorgehobene Bedeutungzu (BAGS 1998; Dietzel-Papakyriakou 1993a,1993b; Dietzel-Papakyriakou/Olbermann 1996a).

Hochaltrigkeit wird auch bei den Personen auslän-discher Herkunft weiblich sein. Bereits wegen ihrerlängeren Lebenserwartung sind Frauen in einerqualitativ und quantitativ anderen Weise als Män-ner in das Familienleben involviert. Vielen älterenMigrantinnen kommt entgegen, dass der traditio-nelle weibliche Lebensentwurf, der die Frau stärkerauf die Familie orientiert, ihnen die altersbedingteAufgabe der Erwerbstätigkeit erleichtert. DieRückkehr zu den „weiblichen“ Aufgaben führt zueiner geringeren Rollendiskontinuität bei der Frauals beim Mann. Allerdings führen gerade die beiden traditionell orientierten Frauen typischen Er-werbskarrieren und die frauenspezifischen Be-schäftigungsstrukturen zwangsläufig zur Verar-mung im Alter. Vor allem die verwitweten Ar-beitsmigrantinnen werden zu den ökonomisch amschlechtesten ausgestatteten Gruppen der Altenpo-pulation zählen. Sie sind zudem durch soziale Iso-lation gefährdet, vor allem dann, wenn Verwit-wung und der Mangel an familialen Unter-stützungsleistungen zusammentreffen. Diese Grup-pe von älteren Frauen ausländischer Herkunft wirdaufgrund fehlender Kenntnisse der deutschen Spra-che und Umgangskompetenzen am wenigsten inder Lage sein, auf die institutionellen Systeme er-gänzender Unterstützung zurückzugreifen. So istder Versuch traditionell orientierter Migrantinnen,durch einen entsprechenden Erziehungsstil ihreTöchter zu behüten, zu beschützen und zu kontrol-lieren, auch eine Antizipation der eigenen Versor-gung im Alter. Aber nicht nur Töchter werden indiesem Sinne an die Eltern gebunden, vielmehr istauch die Sozialisation der Söhne auf Hilfeleistun-gen und Loyalität gegenüber den Eltern im Alter -hin orientiert und entsprechende Kriterien geltenauch bei der Auswahl von Schwiegertöchtern. Vorallem in solchen Kulturen, in denen die Schwie-gertochter ihre eigene Familie aufgibt und zurFamilie des Mannes überwechselt, legen Schwie-germütter großen Wert auf die Bereitschaft der

Intergenerati-ve Entfrem-

dung keintypisches

Ergebnis derEingliederung

Im AlterräumlicheNähe voninnerethni-schen Netz-werken wich-tig

Verarmungs-risiko imAlter, insbe-sondere beiverwitwetenArbeitsmi-grantinnen

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121 – Drucksache 14/4357

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Bräute ihrer Söhne, solche Verpflichtungen zuübernehmen.

IV.6.6 Bedingungen der Lebensgestaltungälterer Migranten

Zu einer freien Entscheidung der alten Arbeitsmi-granten über ihren Wohnort und zum Abbau vonRückkehrhindernissen können weitere Fortschrittein der Harmonisierung der Systeme der sozialenSicherheit für die Wanderarbeitnehmer zwischenden Aufnahmeländern und den Entsendeländernbeitragen. Davon werden zuerst die Angehöri-gen der Europäischen Union profitieren. Begünsti-gende Regelungen sollten jedoch allen Arbeits-migranten zugute kommen, auch den nicht EU-Angehörigen, insbesondere aus den Anwer-beländern Jugoslawien, Türkei, Marokko undTunesien. Vor allem der Zugang zur medizinischenVersorgung der Bundesrepublik sollte den in ihreLänder zurückgekehrten Arbeitsmigranten, dieeine Rente von einem deutschen Versicherungs-träger beziehen, jederzeit durch einen kurzen Au-fenthalt hier möglich sein. Eine restriktiveGewährung von Leistungen bestimmter Kosten-träger, wie z. B. der Berufsgenossenschaften anzurückgewanderte, berechtigte Arbeitsmigranten,führt zu Härtefällen und zusätzlichen Kosten füralle Beteiligten.

Auch die Konzepte zur Pflegeversicherung müss-ten die ausländische Altenpopulation mitberück-sichtigen und grenzüberschreitende Regelungenvorsehen. Zu unterstützen wäre auch die Idee fürrückkehrwillige alte Arbeitsmigranten, in ihrenHerkunftsländern punktuell und exemplarisch denAufbau von Altenheimen für Rückkehrer zu för-dern. Soweit sie durch die BundesrepublikDeutschland mitgetragen würden und eine qualifi-zierte Betreuung anböten, wären diese Einrichtun-gen für eine bestimmte Gruppe der alten Arbeits-migranten eine annehmbare Alternative. Solchelebensnahen Maßnahmen würden die Rückwande-rungsentscheidung für nicht wenige alte Arbeits-migranten erleichtern und verhindern, dass sie ausberechtigter Angst vor dem Verlust ihrer sozialenAbsicherung wider Willen in Deutschland aushar-ren müssen.

Viele der Probleme und Belastungen im Alter sindnicht ausländerspezifisch. Sie erfahren jedochdurch eine Reihe besonderer Faktoren bei be-stimmten Gruppen Älterer ausländischer Herkunft,vor allem bei den Arbeitsmigranten der erstenGeneration, eine Zuspitzung. Maßnahmen zurVerbesserung der konkreten materiellen Bedingun-gen (vor allem im Bereich Einkommen, Wohnenund Gesundheit) müssen die jeweiligen spezifi-schen kulturellen und sozialen Bedürfnisse berück-

sichtigen. Es muss sichergestellt werden, dass dieÄlteren ausländischer Herkunft bei Sprach- undInformationsschwierigkeiten durch zugehendeBeratung möglichst in der jeweiligen Sprache anden vorhandenen Hilfemaßnahmen partizipierenkönnen. Die in der Regel deutschsprechendennachfolgenden Migrantengenerationen wie auchdie in mehreren Städten entstandenen Selbstorgani-sationen der älteren Migranten können wichtigeVermittlungs- und Multiplikatorenfunktionen über-nehmen.

Zur Gewährleistung einer Versorgung im vertrau-ten Umfeld gehört auch die Ausstattung der Aus-länderquartiere mit Serviceeinrichtungen und am-bulanten Hilfen für ältere Menschen. Angesichtsder vorhandenen Nutzungsbarrieren und Hemm-schwellen bestimmter Gruppen Älterer ausländi-scher Herkunft und älterer Spätaussiedler gegen-über formellen Unterstützungsangeboten sind spe-zifische zugehende und aktivierende Arbeitsansät-ze erforderlich.

Ältere ausländischer Herkunft, vor allem die tradi-tionalistisch orientierten unter den älteren Arbeits-migranten und Spätaussiedlern, richten ihre Hil-feerwartungen in erster Linie an ihre Kinder. Dienachfolgenden Generationen treten mit einemgrößeren Selbstbewusstsein auf und haben Kom-petenzen dazugewonnen. Sie wären für innovativeProjekte, die Selbsthilfeleistungen miteinbeziehen,eher als die Elterngenerationen erreichbar. Für dieUnterstützung der häuslichen und familiären Pflegeälterer Migranten müssen psychosoziale und er-gänzende professionelle Hilfen für die pflegendenFamilienangehörigen bereitgestellt werden. Diesemüssen so konzipiert sein, dass sie die kulturellenUnterschiede berücksichtigen, um die Migranten-familien zu erreichen und von diesen angenommenwerden zu können.

Dort wo bei Älteren ausländischer Herkunft oderbei Spätaussiedlern familiale Hilfepotenziale nichtvorhanden oder nicht ausreichend sind, kann eineInstitutionalisierung unumgänglich werden. Des-halb muss auch für die älteren Migranten ein anihren spezifischen Bedürfnissen orientiertes Kon-tingent von Pflegeplätzen zur Verfügung gestelltwerden. Hierzu wurden in den letzten Jahren viel-fältige, innovative Modelle entwickelt. Ein Modellder Teilintegration, in dem gemeinsam und ge-trennt mit den einheimischen alten Menschen ge-lebt wird, wäre möglich. In diesem könnten Grup-pen einer bestimmten ethnischen Zugehörigkeit ineiner Regeleinrichtung bei Berücksichtigung ihrerkulturellen Bedürfnisse von der Ernährung bis zurreligiösen Versorgung durch muttersprachlichesFachpersonal zusammen mit einheimischen Älte-ren betreut werden. Solche als „ethnische Schwer-punkte in der Altenhilfe“ bezeichneten Modelle

NotwendigeUnterstützungfür pflegendeFamilienange-hörige

EthnischeSchwerpunktein der Alten-hilfe

Weitere Har-monisierung

dersozialen Si-

cherungs-systeme not-

wendig

Drucksache 14/4357 – 122 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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wurden inzwischen in der Praxis umgesetzt, sodass auf entsprechende Erfahrungen zurückge-griffen werden kann (Dietzel-Papakyriakou/Olbermann 1996b).

IV. 7 Remigration und Pendelmigration

Immigrationen werden immer von Remigrationenins Herkunftsland begleitet. Temporäre Migratio-nen, Remigrationen oder Pendelbewegungen zwi-schen Herkunfts- und Aufnahmeland hat es immergegeben. Zwischen 1955 und 1996 sind ca.23 Mio. Ausländer offiziell in die Bundesrepublikgekommen. Ca. 17 Mio. haben das Land wiederverlassen. Insgesamt gesehen ist die Gruppe derje-nigen, die zurückkehren, größer als die Gruppederer, die für immer hier bleiben. In den letztenJahren wächst die Zahl der Fortzügler und über-trifft für das Jahr 1998 sogar die der Zuzügler. Diesist nicht allein mit der beträchtlichen Zahl der zu-rückgekehrten Kriegsflüchtlinge zu erklären. Hinzukommt, dass man bei der amtlichen Statistik voneiner Untererfassung der Rückwanderung ausgehenkann. Die statistischen Daten zu den Fortzügengeben nur einen Teil des reellen Abwanderungsge-schehens wieder.

In der internationalen Migrationsforschung wirddavon ausgegangen, dass etwa ein Viertel derrückwandernden Personen statistisch nicht erfasstwird. Viele Rückkehrer melden sich bei den Aus-länderbehörden nicht ab bzw. behalten ihrenWohnort in Deutschland auch nach der Rückkehrbei. Dies führt zu erheblichen Verzerrungen in derStatistik. So liegen die altersspezifischen Sterbe-fälle bei den Ausländern in den Altersgruppen ab10 Jahren weit unter dem Sterblichkeitsniveau derentsprechenden Altersgruppen der deutschen Be-völkerung. Diese zum Teil sehr hohen Abweichun-gen können nur durch die nicht registrierte Rück-kehr erklärt werden (Schwarz 1997). Weitere Ver-zerrungen ergeben sich bei der Ermittlung derAufenthaltsdauer. Weil die Rückkehrer mitgezähltbzw. die Unterbrechungen des Aufenthaltes durchMehrfachzuwanderungen nicht berücksichtigt wer-den, ist die ermittelte durchschnittliche Aufent-haltsdauer überhöht. Wenn man die Zuzüge zu denFortzügen in Relation setzt, hat Deutschland diegrößte Fluktuationsrate in Europa. Die Fluktuati-onsrate bezeichnet den Anteil der Zu- und Fortzügean der gesamten ausländischen Bevölkerung.Während diese Rate in der BundesrepublikDeutschland bei 15 bis 20 % pro Jahr liegt, beträgtsie in Belgien rund 8 %, in Schweden 8 bis 10 %,in den Niederlanden 11 bis 12 % und in derSchweiz 12 bis 13 %. In Großbritannien undFrankreich lagen sie 1981 bzw. 1982 mit 4,3 %und 4,7 % noch wesentlich niedriger (Hansen/Wenning 1991).

Tabelle IV.17:Zu- und Fortzüge von Ausländern, 1974 - 1994

Zeitraum: 1974 - 1994 Zuzüge Fortzüge

Insgesamt Ausländer 12.309.032 9.895.393

davon

Griechischer Staatsangehörigkeit: 392.655 533.687

Italienischer Staatsangehörigkeit: 1.111.664 1.288.031

Türkischer Staatsangehörigkeit: 1.913.649 1.651.995

Quelle: Statistisches Bundesamt; Fachserie 1, Reihe 1, 1975-95

Setzt man Fortzüge und Zuzüge in Relation, be-trägt im Zeitraum 1974 bis 1994 die Zahl der Fort-züge insgesamt ca. 74 % der Zuzüge. Die Relationzwischen Fortzügen und Zuzügen variiert nachNationalität, Geschlecht und Altersgruppen. Beiden Griechen (135 %) und Italienern (110 %)übertrafen die Fortzüge die Zuzüge, während beiden Türken immerhin die Fortzüge 86 % der Zuzü-ge erreichten. Frauen sind an den Fortzügen stärkerals Männer beteiligt. Bezogen auf die Altersgrup-pen entfielen im Jahr 1994 bei den Italienern undGriechen ca. 15 % bzw. 14 % der Fortzüge aufunter 18-jährige Personen, während diese Alters-gruppe bei den Fortzüglern türkischer Staatsange-hörigkeit 21 % ausmachte. Bei den Migrantenitalienischer Staatsangehörigkeit wird wegen ihresFreizügigkeitsstatus als EU-Angehörige eine hoheMobilität angenommen. Eine hohe Mobilitätkommt allerdings auch bei der durch das Auslän-derrecht erheblich eingeschränkten Gruppe aus derTürkei vor. Im Zeitraum 1974 bis 1994 kehrteninsgesamt 654.393 unter 18-jährige türkischeStaatsangehörige in die Türkei zurück (39,6 % allerRückkehrer). Den hohen Anteilen der unter 18-Jährigen bei der Gruppe der Rückkehrer (1977waren 53,9 % und 1978 50,7 % unter 18 Jahren)stehen hohe Anteile dieser Altersgruppe bei denZugezogenen gegenüber (1977: 61,2 %; 1978:59,8 %). Diese hohe Mobilität der Kinder in beidenRichtungen weist auf die Mobilitätsbedürfnisse derMigrantenfamilien türkischer Staatsangehörigkeithin, die eher bei den Kindern, die von den Ein-schränkungen des Ausländerrechtes zum Teil be-freit waren, befriedigt werden konnten.

Obwohl, wie die Daten zeigen, die Zahl der Remi-granten, weltweit und auch in Deutschland vielhöher ist als die Zahl der Zuwanderer, die für im-mer im Aufnahmeland verbleiben, gibt es zur Re-migration relativ wenig empirische Studien undErklärungsansätze. In den 60er-Jahren weisenStudien über das Remigrationsphänomen etwa aufdie Rückkehrer aus den USA nach Italien, Puerto-Rico und Mexiko, aus Australien und Kanada nachGroßbritannien und aus Großbritannien in dieKaribik hin. In den 70er-Jahren kam es aufgrund

Verzerrungenin der Statis-tik: Unterer-

fassung rück-kehrenderMigranten

Hohe Mobili-tät bei Kin-dern türki-scher Migran-ten

Wenig Studienund Erklä-rungsansätzefür die hoheRemigration

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 123 – Drucksache 14/4357

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der weltweiten Rezession zu starken Remigratio-nen. In den 90er-Jahren und im Rahmen der Glo-balisierung scheinen Remigrationen an Bedeutungzu gewinnen. Die bedeutendsten Remigrationenwaren bisher die der Arbeitsmigranten. Sie werdenvon den entsprechenden Einschätzungen und poli-tischen Maßnahmen im Aufnahmeland bezüglichReintegrationsfragen, Transfer von Sozialleistun-gen etc. begleitet. In diesen Rahmen gehören dieAnfang der 80er-Jahre durchgeführten Programmezur Rückkehrförderung. In den letzten Jahren wer-den aber insbesondere Maßnahmen in Bezugauf die Rückkehrförderung von Flüchtlingen dis-kutiert.

„Brainreturn“ wird die Remigrationen der besserausgebildeten Fachkräfte, der Studenten aus Ent-wicklungsländern und der Fachleute mit hoherMobilität bezeichnet. Zur Remigration zählenheute auch die Rückführungen von Kriegsflücht-lingen und Asylbewerbern. Cerase (1974) klassifi-ziert in seiner Typologie die Rückkehrer nachAufenthaltsdauer und Motivation. Demnach kehrenin den ersten 5 Jahren diejenigen zurück, derenMigrationsprojekt aufgrund von verschiedenenSchwierigkeiten gescheitert ist. Zu den Rückkeh-rern nach 5 bis 10 Jahren gehören diejenigen, diesich zwar im Arbeitsmarkt integriert, sich aberkaum akkulturiert haben. Nach 10 bis 20 JahrenAufenthalt kehren wiederum relativ erfolgreicheund dem Aufnahmekontext kulturell aufgeschlos-sene Migranten in ihre Herkunftsländer zurück mitdem Ziel, mit Hilfe von neuen Ideen und erspartemKapital eine eigene Existenz aufzubauen. Nachmehr als 20 Jahren Aufenthalt im Aufnahmelandkehren vor allem pensionierte Migranten ins Her-kunftsland zurück. Die Erkenntnisse aus der Remi-grationsforschung lassen sich trotz gewisser Unter-schiede zum Teil auch auf die Remigranten ausDeutschland übertragen.

Fragen der Remigration werden nur am Randebesprochen. In Deutschland steht im Zentrum derDiskussion die Frage der Integration der Immi-granten in die Aufnahmegesellschaft. Unter Mi-granten werden häufig quasi automatisch nur dieImmigranten, die für immer im Immigrationslandverbleiben, verstanden. Diese definitorische undblickeinengende Setzung geschieht vor dem Hin-tergrund des sozialpolitischen Drucks, Migrations-fragen abschließend zu behandeln und kulturelleKonflikte durch fortschreitende Integration bis zurAssimilation aufzufangen. Fragen der Remigrationwerden nur am Rande besprochen. Diese Sicht istüberholt und wird der Dynamik von Migrations-prozessen nicht gerecht. Immigrationen sind vonRemigrationen nicht zu trennen, sie kommen häu-fig in ein und demselben Lebenslauf vor und be-stimmen als mögliche, gleichzeitig oder konsekutivangewandte Strategien das Leben der Migranten-

familien. Sie können endgültiger und temporärerArt sein und Pendelbewegungen zwischen Her-kunfts- und Aufnahmeländern darstellen. Remigra-tionen sind eng mit den sozialen und politischenEntwicklungen sowohl in den Aufnahme- wie auchin den Entsendeländern verbunden. Sie können,bezogen auf die remigrierenden Personen im Le-benszyklus unterschiedliche Intensität haben. Soemigrieren und remigrieren Menschen einfacherund daher am häufigsten in den Phasen vor undnach der Familienbildung.

Remigrationen sind, so wie Immigrationen, häufigFamilienentscheidungen, die revidiert oder aufeinen günstigeren Zeitpunkt verschoben werdenkönnen. In die Entscheidungsfindung gehen öko-nomische, soziale und psychische Parameter ein.Wie die psychologische Forschung zeigt, orientie-ren sich Menschen in ihrem Handeln an den antizi-pierten Gratifikationen oder Sanktionen ihres so-zialen Kontextes (Thomae 1974); so auch bei derMigrationsentscheidung. Sie wird in direkten undindirekten Verhandlungen mit der Familie gefällt,wobei aus Loyalität zur sozialen Herkunftsgruppeeine Rückkehrverpflichtung eingegangen wird.Familien ermöglichen Migration durch ihre Res-sourcen und erwarten Gegenleistungen. Mit derRückkehr soll das Migrationsprojekt abgeschlossenwerden. Demnach hat Migration einen zeitlichbegrenzten Auftragscharakter der Familie. Vorallem für die Migranten, die aus bäuerlichen Ge-sellschaften kommen, basieren die Familienbin-dungen auf einem Geflecht von gegenseitigen,hierarchisierten und ritualisierten Verpflichtungenund Leistungen. Diese familistische Orientierungwurde häufig in der Migrationsliteratur, etwa beider Migration der Polen ins Ruhrgebiet, bei densüditalienischen Migranten in Deutschland (Kurz1965), und als typisches Motiv vieler Migrantenbäuerlicher Herkunft (Shanin 1971) beschrieben.

Von großer Bedeutung sind für Immigrationen wiefür Remigrationen Kosten-Nutzen-Überlegungender beteiligten Personen. Für Migranten aus Nicht-EU-Staaten sind Remigrationen ins Herkunftslandmit dem Risiko des Verlustes von Sozialleistungen(z. B. Pflegeversicherung) und vor allem des Auf-enthaltsstatus verbunden. Unter bestimmten Vor-aussetzungen gab es zu Gunsten der Remigrantenbisher Ausnahmen, z. B. wurden für Jugendlicheoder ältere Migranten Wiederkehroptionen einge-führt. Um das Risiko des Verlustes des Aufent-haltsstatus zu entgehen, tendieren viele Remigran-ten dazu, ihre Remigration unter Umgehung derAusländerbehörden zu vollziehen.

Remigration bleibt eine Option in der Zukunftspla-nung der Migrantengenerationen. Nach der Re-präsentativerhebung des BMA (Mehrländer u. a.1996) hatten 67 % der Befragten vor, in Deutsch-

Je nach Auf-enthaltsdauerunterschiedli-

che Gründeder Remigra-

tion

Remigrationals Abschlusseines Migrati-onsprojektes

Remigrationals Option inder Lebens-planung

Drucksache 14/4357 – 124 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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land zu bleiben, allerdings nur ca. die Hälfte vonihnen für immer. Als wichtigstes Motiv für denVerbleib galten für die Befragten aus der Türkeiund dem ehemaligen Jugoslawien die Lebens-bedingungen im Heimatland, für die Angehörigender EU-Länder Italien und Griechenland spieltendiese praktisch keine Rolle. Der Anteil der fak-tischen Rückkehrer lässt sich über solche Befra-gungen nicht genau ermitteln, da es sich um Ab-sichtserklärungen für die Zukunft handelt, derenRealisierung von vielen nicht vorhersehbaren Fak-toren abhängt. Dies gilt sowohl für die langfristi-gen Rückkehr wie auch für die Verbleibeabsichten.Betrachtet man jedoch die Befragungsergebnissegenauer, muss man feststellen, dass ein erheblicherAnteil von Migranten aller Altersgruppen die Op-tion der Rückkehr nicht aufgegeben hat, denn hin-zugerechnet werden müssen diejenigen, die sichdezidiert für eine Rückkehr ausgesprochen hätten,aber gar nicht befragt werden können, weil sie jabereits zurückgekehrt sind.

Nach einer Analyse der Daten des SOEP (Seifert1997) verstehen viele Migranten ihren Aufenthaltin Deutschland als zeitlich begrenzt. Zwar ist derAnteil derjenigen, die für immer in Deutschlandbleiben wollen, gestiegen. Dies ist vor allem beider zweiten Generation der Fall. Auffällig ist dabei,dass bei der zweiten Generation der Anteil derer,die sich bewusst für einen dauerhaften Aufenthaltentschieden hatten, dies im Zeitraum zwischen1991 und 1995 leicht rückläufig war. Auch wennsich viele Migranten bereits für einen dauerhaftenAufenthalt in Deutschland entschieden haben, kannaufgrund der Identitätskonzepte eine Rückkehrori-entierung für die Zukunft nicht ausgeschlossenwerden. So hatten 1995 lediglich 11 % „ganz“ oder„mehrheitlich" das Gefühl, Deutsche zu sein. Vonden türkischen Zuwanderern waren es sogar nur7 %. Bei der zweiten Generation lag dieser Anteilhöher, allerdings mit rückläufiger Tendenz. Vonihnen fühlten sich 1991 30 % als Deutsche, 1995jedoch nur noch 21 % (Seifert 1997).

Über die Situation der Remigranten existieren eineReihe älterer Untersuchungen. Sie stellen die Pro-bleme der Reintegration in den Vordergrund. VieleRemigranten werden nach ihrer Rückkehr ins Her-kunftsland enttäuscht, da ihre Erwartungen dentatsächlichen Begebenheiten im Herkunftslandnicht entsprechen (Bundesministerium für Arbeitund Sozialordnung 1994). Diese Enttäuschungkann aus Problemen der schulischen Reintegrationder Kinder (Hopf/Chadzichristou 1994), aus derWiedereingliederung ins Wirtschaftsleben, derAnpassung an in der Regel niedrigere Lebensstan-dards, der Akkulturation der Jugendlichen (Unger1987) oder aus den Problemen einer Readaptationder Frauen an ein traditionalistisch orientiertessoziokulturelles Milieu resultieren. Die Schwierig-

keiten können so gravierend sein, dass die Ent-scheidung revidiert wird und eine erneute Immi-gration ins ehemalige Aufnahmeland, soweit mög-lich, folgt. Dennoch wäre es zu einseitig, alle Re-migrationen unter der Rubrik „gescheiterte Remi-gration“ zu verbuchen. Reintegration nach Rück-kehr ins Herkunftsland ist ein Prozess, der vonlanger Dauer sein kann. Genaue Informationenüber die Zustände im Herkunftsland, dortige so-ziale Netzwerke und berufliche wie sprachlicheKompetenzen sind für den Erfolg des Remigrati-onsprojektes von großer Bedeutung.

Der Kontakt zum Herkunftsland ist wichtigsteVoraussetzung der Remigration. Zukünftige Remi-granten bemühen sich deshalb, den Kontakt dorthinzu erhalten. Informationen sind heute mit Hilfe derFernsehprogramme der Herkunftsländer für ihre imAusland lebenden Staatsangehörigen, aber auchdurch den Satellitenempfang regulärer Programmemöglich. Der Kontakt zum Herkunftsland wirdaber auch durch die Überweisung eines Teils desaus der Erwerbstätigkeit im Aufnahmeland erziel-ten ökonomischen Kapitals aufrechterhalten. Die-ses Verhalten ist für die ersten Migrantengenera-tionen typisch. Auf diese, durch die Investitionender Eltern geschaffene materielle Basis im Her-kunftsland können die nachfolgenden Generationenzurückgreifen. Wichtiger jedoch sind für die nach-folgenden Generationen die in Bezug auf das Her-kunftsland vorhandenen sozialen und kulturellenBindungen, die beruflichen und vor allem diesprachlichen Kompetenzen (Dietzel-Papakyriakou1995).

Die BMA Untersuchung (Mehrländer u. a. 1996)stellt gegenüber den vorherigen Untersuchungen(1980) fest, dass die befragten Migranten heute vielweniger Geld ins Herkunftsland überweisen. Aller-dings muss berücksichtigt werden, dass bei dieserUntersuchung zur Stichprobe auch Angehörige derzweiten Migrantengeneration, die sich noch ineiner Ausbildung mit geringem Einkommen befin-den, gehören und dass insgesamt die Reallöhnegesunken sind. Und dennoch überweisen 43 % derBefragten aus dem ehemaligen Jugoslawien Geldin ihr Heimatland. Dieser hohe Anteil ist mit derKriegssituation erklärbar. Aber auch 35 % derBefragten türkischer Staatsangehörigkeit sendenüberdurchschnittlich häufig Geld in ihr Heimat-land, verglichen mit den befragten Italienern undGriechen (Mehrländer u. a. 1996). Stärkerer Indi-kator als das Geldüberweisen ist das Sparverhaltender Migranten. Migrantenfamilien, die sich end-gültig im Aufnahmeland niedergelassen haben,weisen eine niedrige Sparquote aus. Insgesamt hatsich jedoch (bei niedrigerer Sparsumme) der Anteilder sparenden Migranten erhöht. So hat sich z. B.der Anteil der befragten Personen, die sparen, beiden türkischen Arbeitnehmern von 36 % auf 63 %

Remigrationist mit Reinte-

grationspro-blemen ver-

bunden

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 125 – Drucksache 14/4357

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nahezu verdoppelt, während er auch bei den Italie-nern und Griechen erheblich gestiegen ist.

Zudem hat das Abschließen eines Bausparvertrageszugenommen, wobei die meisten noch nicht wis-sen, in welchem Land sie ihre Ersparnisse anlegenwerden. Ein Drittel hat die Absicht, in Deutschlanddie Bauspargelder anzulegen. Jeder fünfte will imHerkunftsland investieren. Viele Migrantenfamili-en möchten sich durch Investitionen und Geld-überweisungen die Bindung zum Herkunftslandund damit die Option der Remigration erhalten. Esmuss berücksichtigt werden, dass Migranten die fürsie günstigen Spezialprogramme der Bankinstituteihrer Länder in Anspruch nehmen und ihre Erspar-nisse bei den zahlreichen Niederlassungen dieserBanken in Deutschland anlegen. Ein Transfer insHeimatland kann dann zu einem späteren Zeitpunktund häufig im Rahmen von Förderprogrammen derHerkunftsländer erfolgen. Auf die Bindung zuihren im Ausland emigrierten Staatsangehörigenlegen die Herkunftsländer großen Wert. Die zu-rückfließenden Geldmittel der Migranten stellenfür sie den bedeutendsten Devisentransfer zumAusgleich der Außenhandelsbilanzen dar. DieseDevisenquelle wird bewusst ins Kalkül der Her-kunftsländer einbezogen und trägt zu einem volks-wirtschaftlichen Ausgleich für die ins Auslandemigrierenden Humanressourcen bei.

Determinanten der Remigration sind in aller Regelandere als die Gründe, die zur Immigration führen.Für die Remigration spielen anders als bei derImmigration ökonomische Faktoren eine unterge-ordnete Rolle. Remigranten versuchen bei derRemigrationsentscheidung, soweit diese nichtüberstürzt vorgenommen werden muss, in einerpersönlichen Risikoabwägung die positiven undnegativen Faktoren für die Rückkehr ins Her-kunftsland zu bilanzieren. Häufig wird allerdingsdabei in der subjektiven Wahrnehmung das Her-kunftsgebiet im Rückblick stark positiv und dieGegenwart mit ihren Schwierigkeiten im Aufnah-meland stark negativ bewertet. Nicht gelungenesoziale und kulturelle Integration können Remigra-tionen auslösen. Untersuchungen zeigen, dass überdie strukturellen Schwierigkeiten hinaus, wie z. B.Arbeitslosigkeit, vor allem persönliche, privatebzw. familiäre Gründe an erster Stelle zur Remi-gration führen. Der starke Überschuss an Männernin den Migrantenpopulationen weist darauf hin,dass ein erheblicher Anteil der Migranten Famili-enangehörige im Herkunftsland hat. Diese familiä-ren Beziehungen machen dann unter bestimmtenBedingungen Remigration möglich oder notwen-dig. Durch die zunehmende Mobilität und Freizü-gigkeit der Migranten etwa aufgrund des EU-Statusoder nach einer Einbürgerung, können heute solchegrenzübergreifenden Familienbindungen leichterals in der Vergangenheit aufrechterhalten werden.

Je stärker die Bindungen zum Herkunftskontextbleiben, desto eher kommt eine Remigration inFrage.

Seifert (1995) stellt bei der Auswertung der Ergeb-nisse des sozio-ökonomischen Panels fest, dassdie untersuchte Stichprobe der Ausländer in derLängsschnittuntersuchung von 1984 bis 1989 er-heblich abgenommen hat. Die Ausfälle gehen zuca. 30 % auf den Ausfallgrund „ins Ausland verzo-gen“ zurück. Es zeigt sich, dass die Rückkehrnei-gung bei den verschiedenen Nationalitätengruppenbereits aufgrund ihres Migrationsstatus unter-schiedlich ausgeprägt ist. Hohe Rückkehrquotenunter den Anwerbeländern hatten in den letztenJahren die Migranten aus Spanien und Portugal;dies auch vor dem Hintergrund des wirtschaftli-chen Aufschwungs ihrer Länder nach dem EU-Beitritt. Sehr niedrige (offiziell registrierte) Rück-kehrquoten kamen in den letzten Jahren bei dentürkischen Staatsangehörigen vor. Dennoch erklä-ren viele türkische Migranten in Befragungen, ihreRückkehroption in die Heimat beibehalten zu wol-len (ZfT 1996). Faktisch wird die Rückkehroption,angesichts der ausländerrechtlichen Einschränkun-gen für die Migranten aus der Türkei, dennoch inerstaunlich hoher Anzahl verwirklicht. Insgesamtsind zwischen 1961 und 1992 ca. 3 Mio. Menschenaus der Türkei nach Deutschland zugezogen und 2Mio. wieder fortgezogen. Es ist zu vermuten, dassdarunter sich etliche Pendelmigranten (Bundesmi-nisterium für Arbeit und Sozialordnung 1994)befinden.

Transnationale Mobilität in Form von temporärenMigrationen oder Pendelmigrationen, sogenannte„Transmigrationen” zwischen Herkunfts- und Auf-nahmeland, nehmen zu (Schiller u. a. 1997). Trans-migrationen waren bisher bei den Migrationenzwischen Deutschland und Italien zu beobachten,da italienische Migranten von Anfang an Freizü-gigkeitsstatus hatten. Dieses Privileg des freienKommen und Gehens erhielten später auch dieArbeitsmigranten aus den früheren Anwerbe- undheutigen EU-Mitgliedsländern Griechenland, Spa-nien und Portugal. Mit den zunehmenden Einbür-gerungen wird auch die transnationale Mobilitäterheblich an Bedeutung gewinnen. Der Herkunfts-kontext muss nicht zu Gunsten des neuen Landesfür immer aufgeben werden, vielmehr wird der alteKontext mit dem neuen verbunden. Zwischen denZielen der Pendelmigration entstehen vielfältige,grenzübergreifende Strukturen mit Brücken-funktion für die in beide Richtungen fließendenStröme von Gütern und Menschen.

Prozesse der Globalisierung mit den erleichtertenReise- und Kommunikationsbedingungen undZirkulation von Waren, Kapital und Informationenfördern solche Verhaltensmuster und Strategien,

Bedeutungs-zunahme dertransnationa-len Mobilität

Drucksache 14/4357 – 126 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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die für die jeweilige Person Entlastung bedeuten.Migrationen in der globalisierten Welt sind keineeinmaligen Entscheidungen mehr zur Niederlas-sung in einem Land. Bereichsweise ist auch, unab-hängig von den Soziallagen, eine Herausbildungtransnationaler und transkultureller Identitäten zubeobachten. Denen gegenüber greifen Fragen desWechsels der Staatsangehörigkeit zu kurz, wenn –wie häufig innerhalb der EU – die wichtigstenökonomischen und sozialen Rechte auch ohneWechsel der Staatsangehörigkeit erreichbar sind.Durch die Remigrationsoption bzw. Pendelmigra-tion wird das Risiko der Migration vermindert, daeine Rückzugsmöglichkeit bleibt. Vorteile undNachteile des Emigrations- bzw. Immigrationslan-des werden gegeneinander abgewogen und die Ressourcen der unterschiedlichen Kontexte adäquatgenutzt. Verändernden Bedürfnissen im Lebenslaufkann mit größerer Flexibilität entsprochen werden.Rückkehroptionen bzw. Transmigrationen sindHandlungsoptionen. Sie werden durch grenzüber-greifende soziale Netzwerke, die zwischen Aufnah-me- und Herkunftsland entstehen, unterstützt, da siedie Kosten der Anpassung oder Wiederanpassungvermindern. Über diese Netzwerke verfügen anerster Stelle Migranten aus großen Nationalitäten-gruppen.

Transmigranten verstärken wiederum die Bindun-gen von sozialen Netzwerken und Aktionsfeldernzwischen Herkunfts- und Aufnahmeland. So kön-nen sie ohne größere kulturelle und sprachlicheAnpassungsschwierigkeiten zwischen den Her-kunftsgemeinschaften in der Aufnahmegesellschaftund den Herkunftsländern pendeln oder dahinzurückkehren. Je näher sich die Kulturen des Auf-nahme- und Herkunftslandes sind, desto leichtergestalten sich Transmigrationen.

Remigrationen sind selektiv. Remigrationen endgül-tiger oder temporärer Art sind von den ökonomi-schen wie auch sozialen Ressourcen abhängig, überdie Personen verfügen. Ungünstige Bedingungen,wie schwierige Wirtschaftslage oder Restriktionenim Bereich der sozialen Sicherungssysteme, desAusländerrechts und Rückkehrförderprogrammekönnen Remigrationen auslösen bzw. vorhandeneRückkehrabsichten in die Tat umsetzen.

Ausschlaggebend für Remigrationen können per-sönliche Gründe negativer Art, wie Heimweh,Adaptationsschwierigkeiten, oder positiver Art, wieInnovations-Initiativen im Herkunftsland sein (Cera-se 1974). Besonders gut ausgebildete Migrantenbleiben mobil und kehren, wenn es opportun er-scheint, in ihre Herkunftsländer zurück (Saenz u. a.1992; Shumway u. a. 1996); oder sie kehren zurück,weil sie versuchen, ihre Aufstiegswünsche im Her-kunftsland zu realisieren (Chandra/Vibba Puri1997). Aufnahmeländer wie Schweden entwickelten

in den letzten Jahren Förderprogramme für rück-kehrwillige Migranten.

Da Remigrationen wie auch Immigrationen vonbestimmten Voraussetzungen abhängig sind, sindbeide Prozesse auch in Bezug auf die Migranten-generationen selektiv. Endgültige Remigrationenkommen eher bei den ersten Migrantengeneratio-nen, wiederholte Remigrationen bzw. Transmigra-tionen eher bei den nachfolgenden Generationenvor. Vor allem Angehörige der zweiten Migranten-generation, die gut qualifiziert sind und überSprach- und Umgangskompetenzen in beidenKontexten verfügen, können sich zu Transmigran-ten entwickeln. Solche Bereitschaften zeigen z. B.Hochschulabsolventen aus der zweiten Migranten-generation, wenn sie ihren potenziellen Arbeits-markt auf die Herkunftsländer durch die Auswahlihrer beruflichen Qualifikation und den Ausbau ihrerSprachkenntnisse auszuweiten versuchen. Deswegenentscheiden sich viele Migrantenfamilien für eineberufliche Ausbildung, die sowohl für den Arbeits-markt Deutschlands als auch für den des Herkunfts-landes Erfolg verspricht und einen Transfer vonkulturellem Kapital ermöglicht. Zunehmende Unsi-cherheit auf dem Arbeitsmarkt der Aufnahmeländerverstärken die Tendenz zu solchen Doppelstrategien.Diese Absicherung ist für die nachfolgenden Gene-rationen dann wichtig, wenn die Gefahr besteht, dassdie Readaptation im Herkunftsland an Kulturkon-flikten und hohen Erwartungen an Lebensstandardsund Konsumgewohnheiten scheitern kann.

Die Doppelstrategien der Remigranten bzw. Trans-migranten entsprechen auf den ersten Blick nichtunbedingt den Erwartungen der Aufnahmeländer,soweit diese sich auf die endgültige Niederlassungals Voraussetzung der Integration und einer späterenvölligen Assimilation orientieren. Die Migrantenstreben aber in ihrer Lebensplanung nach Alternati-ven und größeren Handlungsfähigkeiten. Sie ent-sprechen hiermit auch den Chancen und Erforder-nissen der Globalisierung. Daher ist es unange-bracht, alle Migrantenfamilien als Familien vonendgültigen Zuwanderern zu behandeln. Vielmehrsind Konzepte zu entwickeln, die eine flexible Le-bensplanung der Migrantenfamilien ermöglichen.Sie sollten die Möglichkeit, je nach Lebenslagezwischen Herkunfts- und Aufnahmeland entschei-den zu können, beinhalten.

Der Vielfalt der Lebensentwürfe der Migrantenfa-milien gilt es mit einer Vielfalt an Konzepten fürendgültige Zuwanderung, für temporäre Migrationund für Transmigration zu begegnen. So sollte z. B.bei Familien von Asylbewerbern und Kriegsflücht-lingen mittels Maßnahmen des muttersprachlichenUnterrichts für die Kinder und der beruflichenQualifizierung die Rückkehrfähigkeit erhalten undgestärkt werden. Hier wäre Migrationspolitik für

Transmigran-ten eher in derzweiten Mi-grantengene-ration

Konzeptesowohl fürendgültigeZuwanderungals auchtemporäreoder Trans-migrationnotwendig

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127 – Drucksache 14/4357

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eine temporäre Migration mit Entwicklungspolitikzu verzahnen. Ebenso sollte denjenigen Familien,die dauerhaft in ihre Herkunftsländer zurückkehrenwollen, der Erwerb der hierfür notwendigen Kom-petenzen ermöglicht werden. Hierzu gehören Pro-gramme der Förderung der Reintegration und dermuttersprachlichen Befähigung der Kinder, wofür

eine Zusammenarbeit mit den Herkunftsländernnotwendig ist. Ein Integrationskonzept, das allediese Lebenslagen und Lebensentwürfe von Mi-grantenfamilien berücksichtigt, sollte zeitliche undqualitative Abstufungen des Integrationsprozessesvorsehen, die die Doppeloptionen von Migranten-familien nicht behindern.

Drucksache 14/4357 – 128 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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V. Familien ausländischer Herkunft in der Sozialstrukturder Bundesrepublik Deutschland

V. 1 Lebenslagen von Familien ausländi-scher Herkunft im Sozialsystem derdeutschen Gesellschaft

V. 1.1 Die Verlaufsphasen der Migrations-projekte bestimmen die Lebens-lagen der Familien ausländischerHerkunft

Die vorausgegangenen Kapitel haben sich mit derBinnenstruktur der familialen Lebensformen derFamilien ausländischer Herkunft befasst. Nunmehrstehen die unterschiedlichen Formen der Verknüp-fung und Eingliederung der Familienhaushalte indie Sozialstruktur der Aufnahmegesellschaft undihre sich daraus ergebenden unterschiedlichenLebenslagen zur Diskussion. Analysen und Ver-gleiche von Lebenslagen beziehen sich auf dieverfügbaren haushaltsökonomischen Ressourcen,die sich durch die Lebensbedingungen und Lebens-formen beschreiben lassen und ihrer Nutzbarma-chung zur Daseinsvorsorge und Wohlfahrtspro-duktion für die Haushaltsangehörigen und familialeGruppe auf der Basis von Handlungszielen undHandlungsdurchführung – dem Lebensstandardoder auch Lebensweisekonzept.

Das Migrationsprojekt und sein Verlaufsschema istfür die Charakterisierung der Lebenslagen daszentrale Unterscheidungsmerkmal zwischen denFamilien ausländischer Herkunft untereinander,aber insbesondere zwischen den ansässigen deut-schen Familien und ihren Haushaltssystemen undden Lebenslagen der Ausländer und Aussiedler. Zuden Ressourcen, über die Personen zur Daseinsvor-sorge verfügen, und die somit die Charakterisie-rung der Lebenslagen ermöglichen, gehört (1) dasHumanvermögen, das sind die Vitalkräfte, Fähig-keiten und Kompetenzen der Haushaltsmitgliederzur Daseinsvorsorge; (2) das Produktivvermögen,dazu gehören die Geld-, Sach- und Sozialvermögenzur Einkommenssicherung und (3) das Kon-sumptivvermögen, das aus Geld- und Sachvermö-gen sowie Nutzungsrechten und Sicherheiten fürden Konsum besteht.

Die Verfügbarkeit über Ressourcen zur Daseins-vorsorge verändert sich im Lebensverlauf jederPerson, im Familienzyklus und mit den unter-schiedlichen Zugehörigkeiten zu Haushalts-systemen sowie durch Mobilität und sich wandeln-

de gesellschaftliche Rahmenbedingungen undZeitereignisse. Entscheidend für die Lebenslageeiner zuwandernden Person oder Familie sindfolglich die Phasen im persönlichen Lebenslaufund Familienzyklus sowie die Rahmenbedingun-gen in der Aufnahmegesellschaft zum Zeitpunktdes Beginns eines Migrationsprojekts. Migrations-projekte können räumlich und zeitlich sehr unter-schiedlich verlaufen und dadurch äußerst belasten-den Phasen haben oder aber durch günstige Kon-stellationen schneller als gedacht zum Migrations-ziel führen.

Ein Migrationsprojekt, das durch die Abwanderungaus der Herkunftsgesellschaft und die Zuwande-rung in eine Aufnahmegesellschaft beginnt, ver-langt die Aufgabe von Verfügbarkeiten über Res-sourcen zur Daseinsvorsorge im Herkunftsmilieuzu Gunsten neu zu erwerbender Ressourcenund/oder Sicherheiten in einer Aufnahmegesell-schaft. Der Erwerb von Ressourcen zur Daseinssi-cherung in einer Aufnahmegesellschaft verlangt dieBereitschaft zur Inkaufnahme von erheblichenRisiken, Belastungen und Leistungen der Zuwan-derer und die Bereitschaft der Aufnahmegesell-schaft zur Gewährung, Unterstützung oder auchFörderung der erforderlichen Integrationsbemü-hungen der Zuwanderer zur Daseinssicherung.Soweit die Migrationsprojekte zu Beginn nichtdurch Vertreibung und Flucht begründet sind,werden sie in der Regel darüber hinaus von Er-wartungen und Hoffnungen getragen, für sich unddie Familienangehörigen – wenn auch mit Bela-stungen, Risiken und Unsicherheiten – eine verbes-serte Daseinsvorsorge, Daseinssicherheit undWohlfahrt schaffen zu können. Migrationsprojektemit wirtschaftlicher Begründung sind von dynami-schen Lebensstandards bestimmt, die weit stärkerauf Außensteuerung beruhen, also auch von Zeit-ereignissen in der Herkunfts- und Aufnahmegesell-schaft beeinflusst werden.

Die Migrationsprojekte einzelner Personen, aber inder Regel familialer Gruppen werden durch sehrunterschiedliche Ausgangslagen der Lebenssitua-tionen im Herkunftsland vorbereitet und ausgelöst.In der Regel sind nicht nur einzelne zur Migrationentschlossene Personen, sondern auch die im Her-kunftsland zurückbleibenden Familien-Haushalts-systeme in das Migrationsprojekt involviert. Diedas Migrationsprojekt bestimmenden Leistungenund Belastungen verteilen sich auf die Herkunfts-

Unterschiedli-che zeitlicheund räumlicheVerläufe desMigrations-projekts

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129 – Drucksache 14/4357

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und die Aufnahmegesellschaften; binationale poli-tische Kooperationen, wie beispielsweise die EU-Bürgerrechte, fördern und erleichtern die Migrati-on. Sie sind folglich von erheblicher Bedeutung beiVergleichen der Lebenslagen der Familien auslän-discher Herkunft verschiedener Nationalitätenuntereinander und mit der deutschen Bevölkerung.

Mit dem Auszug aus dem Familienverband imHerkunftsland und der Ankunft der Migrantinnenund Migranten im Zuwanderungsland beginnt dieerste Phase des Migrationsprojektes zur Daseinssi-cherung in der Aufnahmegesellschaft: Die Zuwan-derer brauchen eine Unterkunft, eine Aufenthalts-berechtigung und ein Existenzminimum an Kon-sumptivvermögen zur Sicherung des Lebensunter-halts mittels Verbrauchsgüter, insbesondere Le-bensmittel und Unterkünfte.

Offenkundig ist allerdings auch, dass bei Personen,die über familiale oder soziale Netze aus der Her-kunftsgesellschaft in der Aufnahmegesellschaftverfügen, durch deren Hilfs- und Unterstützungs-bereitschaft die extremen Belastungen dieser erstenPhase – der Ankunft im Aufnahmeland – erheblicherleichtert und gesellschaftliche Kosten wie per-sönliche Belastungen verringert werden können.Diese Lebenssituation ist vielen älteren Deutschenaus Aufnahmelagern nach Flucht, Vertreibung,Um- und Aussiedlung wohlbekannt. Ungewöhnlichhohen und schrecklichen Belastungen sind Men-schen ausgesetzt, die durch kriminelle Schleuseroder kriminelle Vertreibungen in einem Aufnah-meland eintreffen. Asylbewerber sind von derarti-gen Belastungsrisiken am stärksten betroffen. Ar-beitsmigranten, Personen im regulären Familien-nachzugsverfahren sowie Aussiedlerfamilien kön-nen diese Ankunftsphase schneller und leichterüberstehen. Illegal in der Aufnahmegesellschaftlebende Migranten oder Migrantinnen sind dazunur mittels familialer und sozialer Unterstützungs-netze und/oder krimineller Aktivitäten in der Lage.Hier stellt sich die politisch zu entscheidende Fra-ge, wie abschreckend und abweisend oder aberfamilienorientiert Deutschland „sich zu erkennengeben soll“.

Die zweite Phase des Migrationsprojekts – Legali-sierung und existenzminimale Normalisierung derLebenslage – beginnt mit den Berechtigungen zumAufenthalt und zur Erwerbsarbeit und der Mög-lichkeit, sich durch eigenes Geldeinkommen ausden Gemeinschaftsunterkünften herauszulösen undsich eine Wohnung zu besorgen. Während bei-spielsweise Asylbewerber relativ lang in den erstenbeiden Phasen eines Migrationsprojektes hängenbleiben können oder gar nicht erst in eine zweitePhase gelangen, da sie ab- und ausgewiesen wer-den und das Migrationsprojekt gescheitert undbeendet ist, verfügten die Pioniere und Pionierin-

nen der Arbeitsmigration in der Regel über dieAufenthalts- und Arbeitsberechtigung, zumindes-tens über eine Sammelunterkunft in der Aufnah-megesellschaft und erhielten so vergleichsweiseschnell eine Startchance, an die Realisierung ihresMigrationsprojektes zu denken. Das gilt im Beson-deren auch für die Zuwanderung der Aussiedler.Auch in dieser zweiten Phase des Migrationspro-jekts könnten durch förderliche Maßnahmen unnö-tige Belastungen und Kosten in späteren Phasenvermieden werden.

Die zweite Phase des Migrationsprojekts kann fürabgeschlossen angesehen werden, wenn die Zu-wanderer die erhoffte Aufenthaltsgenehmigungerhalten und eine erträgliche Wohnung und Er-werbstätigkeit gefunden haben, um eine Familiebilden und/oder sie aus dem Herkunftsland nach-ziehen lassen zu können. Dies kann mitunter Jahredauern, bis es soweit ist. Mehr oder minder gesi-chert kann der EU-Bürger Wohnung und Arbeits-platz in einen anderen Nationalstaat der EU verle-gen und seine Familie mitnehmen.

In eine dritte Phase des Migrationsprojektes istallerdings auch er involviert. In dieser treten dieAnforderungen an die Humanvermögensbildungenfür Integration, Akkulturation und Assimilation inden Vordergrund der Alltagsprobleme und Alltags-aufgaben. Die dritte Phase des Migrationspro-jekts – Familiennachzug und Vermögensbildung –lässt das Migrationsprojekt mit seinen Sinn- undZwecksetzungen offenkundig werden. Die Zuwan-derer haben jetzt die Optionen in der Aufnahmege-sellschaft erworben, die als Ressourcen zur Le-bensgestaltung und Wohlstandsentwicklung erfor-derlich sind. Die haushaltsökonomische Frage ist,welche Option oder welcher Optionsmix für denRessourceneinsatz als Lebensweisekonzept ge-wählt werden soll.

Zuwanderer haben die Option, befristet und ohneFamilienbildung oder Familiennachzug in derAufnahmegesellschaft Human-, Produktiv- undKonsumtivvermögen zu bilden im Hinblick auf dengewünschten Nutzen der Vermögen in der Her-kunftsgesellschaft. Das hat zur Konsequenz, dassIntegrationsaufwendungen (Zeit und Geld) in derAufnahmegesellschaft zu minimieren sind, ummöglichst rasch möglichst viele Ressourcen für dieDaseinsvorsorge und Wohlfahrtsentwicklung in derHerkunftsgesellschaft verfügbar zu haben.

Eine gegenteilige Entscheidung im Rahmen desMigrationsprojekts kann heißen, dass die Abwan-derung aus der Herkunftsgesellschaft konsequentweiter verfolgt wird und die Vermögensbildungs-prozesse primär der Vermögensbildung in derAufnahmegesellschaft zu dienen haben. Der Fami-lienbildungsprozess oder der Familiennachzug

Phasen derMigrations-

projekte

Ressour-ceneinsatz istabhängig vongewählterOption

Drucksache 14/4357 – 130 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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werden unter dem Gesichtspunkt vollzogen, dassdas Migrationsprojekt für alle Beteiligten mindes-tens die Integration, aber letztlich auch Akkultura-tion und Assimilation in der Aufnahmegesellschaftzum Ziel haben sollte. Beispielhaft können hier diezuwandernden Aussiedlerfamilien genannt werden.

Schließlich gibt es auch noch eine dritte Konzepti-on, welche darauf beruht, dass bei den Risiken undUnsicherheiten eines individuell und familial be-stimmten Migrationsprojektes die Entscheidungenfür die Steuerung des Migrationsprojekts in dieerste oder zweite Richtung nicht grundsätzlich,sondern nur ad hoc getroffen werden und es vor-rangig um einen Vermögensbildungsprozess geht,der die Optionen für die Herkunfts- und Auf-nahmegesellschaft möglichst offen zu halten hat.

Wir können davon ausgehen, dass dieses Ziel, dieOptionen für den mehr oder minder gewünschtenendgültigen Lebensstandort offen zu halten, füreine große Mehrheit von migrierenden Personenund Familien vorrangige Bedeutung hat. Die Of-fenheit gegenüber unterschiedlichen Präferenzenfür das Lebensweisekonzept in der Herkunfts- oderAufnahmegesellschaft oder auch die Entschlusslo-sigkeit, sich in diesem oder den anderen Staat vor-rangig zu integrieren, können erhebliche persönlichund familiale Konsequenzen haben und nicht seltenWohlfahrtsverluste mit sich bringen. Nicht defini-tive Zielorientierungen im Lebensweisekonzepterhalten allerdings auch Chancen für Anpassungs-leistungen im Lebensverlauf und Familienzyklusbei sich verändernden Lebensbedingungen undLebensformen, wenn auch in der Regel mit höhe-ren Leistungsanforderungen und Belastungen.

Für die jeweiligen Nationalstaaten gäbe es deshalbgute Gründe dafür, die Migrantenfamilien zu unter-stützen, sich über ihr angestrebtes Migrationspro-jekt und ihre Zielsetzungen möglichst frühzeitigKlarheit zu verschaffen und sie durch das Angebotgeeigneter Optionen zu unterstützen. Nur so kön-nen in der Regel die Integrations- bzw. Reintegra-tionskosten für die Familien und Staaten minimiertund die Wohlfahrtsentwicklung gesichert und ge-fördert werden. Als abgeschlossen kann diese drittePhase des Migrationsprojektes gelten, wenn dieendgültige Rückwanderung ins Herkunftslanderfolgt oder aber die Entscheidung für den dauer-haften Verbleib in der Aufnahmegesellschaft ge-fallen ist.

In beiden Fällen ist noch eine vierte Phase einesMigrationsprojektes zu bedenken, nämlich einer-seits die Reintegration in die Herkunftsgesellschaft,die nach einem generationenüberdauernden Migra-tionsprojekt eine Abschlussphase mit sich bringt,

die ähnliche Probleme und Belastungen wie dieerste Phase eines neuen Migrationsprojektes zurFolge haben kann.

Ist andererseits die Abschlussphase eines Migrati-onsprozesses von der Zielsetzung der Akkulturati-on, Integration oder auch Assimilation in die Auf-nahmegesellschaft bestimmt, müssen diese Zieleauch erst noch von der Migrantenfamilie erreichtwerden. Fremdenhass und ethnische Verfolgungzeigen uns eindringlich, dass auch Assimilationnicht jeden und nicht immer vor Verfolgung zuschützen vermag. Das 20. Jahrhundert gibt unsdafür auch an seiner Wende eine bittere Anschau-ung.

Die Migrationsprojekte – strukturiert nach einemPhasenschema – verhelfen dazu, die realen Ent-scheidungs- und Handlungssituationen der Mi-grantenfamilien einerseits besser zu unterscheidenund andererseits allzu schlichte Verallgemeinerun-gen über ethnisch bedingte Unterschiede der Le-benslagen mit einer gewissen Skepsis zu begegnen.Zu Anfang eines Migrationsprojektes sind dieLebenslagen der Zuwandernden unvergleichlichviel prekärer als die der Ansässigen, aber auch dieHandlungssituationen der Zuwandernden sindunvergleichlich. So sind zum Beispiel für eineFamilie, deren Aufenthaltsberechtigung nur eineDuldung ist, die Entscheidungen für eine angemes-sene Investition in das Humanvermögen in Formder Schul-, Berufs- und Sprachbildung oder für dieWohnungs- und Jobsuche völlig anderen Rahmen-bedingungen ausgesetzt als bei einer nachDeutschland zurückkehrenden Aussiedlerfamilie.Doch beide sind gleichermaßen mit dieser Aufgabekonfrontiert, so sie ihr Migrationsziel – die Verbes-serung ihrer Lebenslage – erreichen möchten. Aus-gelassene Chancen, nicht wahrgenommene Unter-stützungen sowie gestrichene oder verweigerteFörderungen können die Kosten des Migrations-projekts nicht nur für die familiale Gruppe, sondernauch für die Aufnahmegesellschaft erheblich erhö-hen oder das Migrationsprojekt in Frage stellen.

V. 1.2 Leistungen und Belastungen inden Familienzyklusphasen in Zu-sammenhang mit Zeitereignissen

Die haushaltsökonomischen Investitionsentschei-dungen von Familien in ihre Vermögensbeständein den Phasen des Migrationsprojekts hängen nichtzuletzt davon ab, in welchen zeitgeschichtlichenPerioden der Aufnahmegesellschaft das Migrati-onsprojekt begonnen wurde und weiter verfolgtwerden kann.

Unterstützungbei der Klä-

rung derZielsetzung

des Migrati-onsprojekts

hilft auchAufnahme-

land

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 131 – Drucksache 14/4357

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Drucksache 14/4357 – 132 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Abbildung V. 1 ist ein Versuch, die sehr komple-xen Zusammenhänge der Migrationsprojekte mit den altersgruppenspezifischen Lebensformen und Zeitereignissen in einen strukturiert modellierten Zusammenhang zu bringen. Auf der Abszisse sind die Jahre 1925 bis 1955 zur Bestimmung der Geburtsjahrgänge angedeutet und von 1955, dem Beginn der Anwerbeperiode, bis 2005 an abgetragen und mit Zeitphasen und Zeiter-eignissen versehen. Auf der Ordinate sind vier Jahrgangsgruppen mit ihren Familienzyklusphasen eingezeichnet, so dass für jede Altersgruppe einfach ablesbar ist, welche Zeitereignisse sie in welcher Familienzyklusphase beeinflusst haben dürften. Als Folie über diese Abbildung gelegt sind zwei Kur-ven. Die längere und dünnere von links unten nach rechts oben zeigt den über die Zeitperioden hin-weggehenden steigenden Anteil der ausländischen Bevölkerung an der Wohnbevölkerung. Die kleine-re und dicker markierte Kurve von links oben nach rechts unten weist auf den in der Zeitperiode von 1973 bis 1997 abnehmenden Anteil der ausländi-schen sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer an der ausländischen Wohnbevölkerung hin. Schließlich sind in die Abbildung noch die Anteile der Altersgruppen an der ausländischen Wohnbe-völkerung in den jeweiligen Familienzyklusphasen eingezeichnet. So ist zum Beispiel die Altersgruppe IV (Geburtsjahrgang 1955-1964) „mit Kindern in der Schule und in Ausbildung“ 1997 mit einem Anteil von 13,7 %, anteilmäßig die derzeit stärkste Eltern-Altersgruppe der ausländischen Wohnbevöl-kerung in Deutschland. Diese Eltern sind zum Teil bereits in Deutschland geboren. Die zusammengefassten Geburtsjahrgänge der Abbildung V.1 (1925 - 1964) sind mehrheitlich die Zuwanderer der ersten Generation. 1997 betrug ihr Anteil an der ausländischen Wohnbevölkerung 28,8 %. Sie befinden sich zu vier Fünftel in den Familienzyklusphasen, in denen die Kinder in die Schulen gehen oder sich in einer Ausbildung be-finden. Im Jahr 2000 sind diese Geburtsjahrgänge zwischen 75 und 36 Jahre alt. Sie waren 1997 zu 83 % verheiratet, 10 % sind verwitwet oder ge-schieden und 7 % sind ledig. Die Zeitereignisse auf der Abszisse abgetragen zeigen drei, die wirtschaftliche Lage der zuwan-dernden Familien ganz unterschiedlich betreffende Perioden: Anwerbeperiode, Beginn des verstärkten Familiennachzugs und Zunahme des Zuwande-rungsdruck aus SO- und Osteuropa sowie Phasen der Wirtschaftsentwicklung und Zeitereignispunkte der Ausländergesetzgebung. Die Anwerbeperiode von 1955–1973 ist weitge-hend identisch mit der Aufbau- und Wohl-standsphase in Westdeutschland bis zur Ölkrise.

Es wurde erwartet, dass die Angeworbenen kom-men und später wieder ihre Heimatländer zurück-kehren würden. Wie in Kapitel III. dargestellt, funktionierte das ursprünglich erwogene Rotati-onsprinzip nicht. Seit Ende der 60er Jahre ver-stärkte sich im Gegenteil der Familiennachzug. Haushaltsökonomisch hat sich damit auch die Chance für ein neues Migrationsziel ergeben. Eine Arbeitsmigration mit dem Ziel der zeitlich be-grenzten Erwerbstätigkeit im Ausland ohne die Aussicht auf Familiennachzug lässt es haushälte-risch vernünftig erscheinen, primär das Er-werbseinkommen in der Bundesrepublik zu maxi-mieren, um im Herkunftsland sich eine Existenz auf- oder auch auszubauen und das Lebensniveau dort zu verbessern, während bei einem Familien-nachzug sich auch die Option für das Verbleiben in der Aufnahmegesellschaft stellt, wodurch vor-rangig Investitionen in das Humanvermögen er-forderlich werden, um in der Aufnahmegesell-schaft Integrationschancen zu erwerben.

Der Familiennachzug begann zunächst unter au-ßerordentlich restriktiven Bedingungen. Der aus-ländische Arbeitnehmer, der seine Familie nach-kommen lassen wollte, musste sich bereits drei Jahre in der Bundesrepublik Deutschland aufgehal-ten haben, in einem ungekündigten Arbeitsverhält-nis stehen und eine Wohnung nachweisen, die für den Nachzug der Familie angemessen sein musste. Der Nachzug war nur den Ehegatten und Kindern unter 18 Jahren gestattet. Als besonderes Er-schwernis und/oder Ärgernis galt der Nachweis der Wohnung und ihrer „Angemessenheit“ für die Familie. In den Ballungszentren herrschte zur da-maligen Zeit akute Wohnungsnot und die Migran-tenfamilien hatten kaum eine andere Wahl, als die schlechteren Wohnungen zu überhöhten Mieten zu akzeptieren. Das Migrationsziel, die Lebenslagen in der Herkunfts- und/oder Aufnahmegesellschaft rasch zu verbessern, rückte so in weite Ferne oder es war nur über Erwerbsarbeit möglichst aller Fa-milienmitglieder im erwerbstätigen Alter, mit Ü-berstunden oder Arbeit im „grauen“ und „schwar-zen“ Markt zu erreichen. Letzteres galt insbesonde-re für die Ehefrauen, die keine Arbeitserlaubnis erhielten (Dritter Familienbericht 1979). Nach dem Erlass des Anwerbestopps 1973 ver-stärkte sich der Familiennachzug und die Akzep-tanz desselben in Deutschland durch die politische Einsicht, dass die Familienzusammenführung trotz stagnierenden Wirtschaftswachstums und zuneh-mender Arbeitslosigkeit den Arbeitsmigranten aus humanen Gründen nicht vorenthalten und er-schwert werden konnte. Es begann die Zeit der bescheidenen Maßnahmen zur Integrationsförde-rung auch der nichterwerbstätigen ausländischen Familienmitglieder, insbesondere der Kinder.

Einfluss der Zeitereignisse in Migra- tionsphasen

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133 – Drucksache 14/4357

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Doch sehr bald versuchte man, den Familiennach-zug durch eine Förderung der Remigration zu stop-pen, aber zugleich auch die Integration der aufent-haltsberechtigten ausländischen Familien zu för-dern. Die ständig wachsende Arbeitslosigkeit unddie Probleme der sozialen und kulturellen Integra-tion der Kinder und nichterwerbstätigen Ehepartnerstellten an die ausländischen Familien aber auch andie Länder und Kommunen immer größere Anfor-derungen. Zumal die Politik es mehr oder minderden Verwaltungen überließ, mit der Zuwanderungund der existenzminimalen Absicherung der Inte-gration der ausländischen Familienmitglieder zu-rechtzukommen. Die Leistungen der integrations-willigen ausländischen Familien und der sie unter-stützenden und fördernden sozialen Netze ihrerethnischen Gemeinschaften sowie der deutschenInstitutionen kann nicht hoch genug eingeschätztund anerkannt werden. Immerhin lebten 1989 4,8Mill. Ausländer (7,7 % der Wohnbevölkerung) inder Bundesrepublik Deutschland, ohne dass dieserZuwanderung politisch ein längerfristiges Konzeptzugrunde lag und ohne dass sich fremdenfeindlicheAktionen mehrten.

Der Zusammenbruch des Ostblocks führte in den90er-Jahren zu einer weiteren Zäsur und relativenVerschlechterung der Integrationsbedingungen fürAusländer. Die anschwellenden Zuwanderungenvon Aussiedlerfamilien und unterschiedlichenFlüchtlings- und Asylbewerbergruppierungen ver-ringerten die Akzeptanz der Zuwanderung durchdie einheimische Bevölkerung und führten zum„Asylkompromiss“, durch den den Zuwanderungengesetzliche Grenzen gezogen wurden. Davon be-troffen sind vor allem Asylsuchende, aber auchAussiedler, deren Zuwanderung ebenfalls begrenztund erschwert wurde.

Je nach dem, in welcher Phase des Familienzyklusund des Migrationsprojektes die Mitglieder einerzuwandernden Familie von den Veränderungen derwirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingun-gen betroffen wurden, veränderten oder ver-schlechterten sich ihre Integrationschancen. VonVerschlechterungen ist auch die zweite Generationder Familien der Arbeitsmigranten trotz verbesser-ter Sprachkompetenzen und Bildungsabschlüsse imVergleich zu ihren Eltern betroffen.

In generativen Modellen für den jeweils mittlerenGeburtsjahrgang der vier Altersgruppen der Abbil-dung 1 lassen sich für ihre zeitgeschichtlich fixier-ten Familienzyklusphasen die unterschiedlichenHerausforderungen und Belastungen durch dieveränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingun-gen nun noch deutlicher konkretisieren und veran-schaulichen.

Generatives Modell des Geburtsjahrgangs 1930

1. Familiengründung im Alter von 25 -35 Jahren,1955 - 1965 in der Aufbau- und Wohlstands-phase in Westdeutschland.

2. Aufbauphase der Familie, Geburt der Kinder inden nächsten 10 Jahren, 1955 - 1975, der Fami-liennachzug wird unter erschwerten Bedingun-gen möglich.

3. Ende der Stabilisierungsphase der Familie, dieKinder verlassen mit 18 Jahren den elterlichenHaushalt 1973 – 1983. Die Integrationsbemü-hungen der ausländischen Familien vor allemfür Bildung und Ausbildung der Kinder werdenpolitisch beachtet und gefördert. Auch Reinte-gration wird kurzfristig finanziell unterstützt.

4. Familiengründung der zweiten Migrantengene-ration ab 25 Jahren des ältesten Kindes, 1980 –2000. Die zunehmende Arbeitslosigkeit undinsbesondere der Abbau von Ausbildungsplät-zen und Arbeitsplätzen für Ungelernte beigleichzeitigen Anschwellen der Zuwanderer ausOst- und Südosteuropa erschwert die Integrati-on auch der zweiten Generation der ausländi-schen Familien.

5. Alter des ältesten Enkelkindes im Jahr 2000:20 Jahre.

Die Familiengründung bei Migrantenfamilien die-ses generativen Modells des Jahrgangs 1930 findetim Herkunftsland statt, ein Partner kann sich je-doch schon auf ein Migrationsprojekt eingelassenhaben. Die Aufbauphase der Familie ist zum Teilim Herkunftsland, zum Teil aber auch schon in derAufnahmegesellschaft lokalisiert. Die Familie lebtteilweise getrennt, die älteren Kinder wachsensicher, die jüngeren höchstwahrscheinlich in einemFamiliensystem heran, in welchem nur die Her-kunftssprache gesprochen wird. Zur Zeit des18. Geburtstages des ältesten Kindes ist die An-werbung von Arbeitskräften gestoppt. Die zweiteGeneration hat nur dann reale Chancen, sich in denArbeitsmarkt Westdeutschlands zu integrieren,wenn es ihr gelingt, das deutsche Schul- und Aus-bildungssystem mit einem Abschluss zu absolvie-ren. Die Elterngeneration der Altersgruppe 1925 –1934 stellen 1997 nur 1,3 % der ausländischenWohnbevölkerung in Deutschland. Sie kann sicherauf einem relativ bescheidenen Lebens- und Wohl-standsniveau in Westdeutschland und möglicher-weise auch in der Herkunftsgesellschaft dem Alterentgegensehen. Zu hoffen ist, dass die familialenund sozialen Netze bei Krankheit und Pflegebedarfausreichend und Unterstützungen aus der ethni-

GenerativeModelle vonGeburtsjahr-gängen

VerringerteAkzeptanz derZuwanderung

Drucksache 14/4357 – 134 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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schen Community bei Sprach- und Kulturproble-men verfügbar sind. Die Zukunft ihres 20-jährigen Enkelkindes ist offen. Seine Sprach- und Kultur-kompetenzen werden sie maßgeblich bestimmen. Generatives Modell des Geburtsjahrgangs 1940 1. Familiengründung im Alter von 25 - 35 Jahren,

1965 - 1975 in der Wohlstandsphase in West-deutschland.

2. Aufbauphase der Familie, Geburt der Kinder in

den ersten 10 Ehejahren, 1965 - 1985 Familien-nachzug wird möglich, 1973 Anwerbestopp.

3. Ende der Stabilisierungsphase der Familie. Die

Kinder verlassen, so ihnen die Integration in das Beschäftigungssystem möglich ist, mit 18 Jahren den elterlichen Haushalt, 1983 - 1993 Familiengründung der zweiten Generation mit 25 Jahren.

4. 1990 - 2010 Arbeitslosigkeit und zunehmender

Zuwanderungsdruck. 5. Alter des ältesten Enkelkindes im Jahr 2000:

10 Jahre. Die Familiengründung fällt in den Beginn des Migrationsprojektes. Alle Kinder der Familie wer-den in Westdeutschland geboren. Die Kinder wachsen in einem deutschen öffentlichen Lebens-raum auf, sprechen im Elternhaus die Herkunfts-sprache der Familie und haben so anfänglich noch die Option, sich der Schulpflicht in der Herkunfts-gesellschaft zu unterziehen. Für die Eltern ist das Pendeln zwischen Herkunftsland und West-deutschland als EU-Bürger mehr oder minder prob-lemlos, so sie hier oder dort einen sicheren Ar-beitsplatz haben. Wenn die zweite Generation in das Alter der Integration in das Beschäftigungssys-tems Westdeutschlands kommt, ist sie konfrontiert mit einer Rationalisierungswelle im öffentlichen Dienst und in den Unternehmen, welche in erster Linie dazu führte, Ausbildungsplätze und die Ar-beitsplätze der Ungelernten zu streichen. Ohne Schul- und Ausbildungsabschluss, und das mög-lichst qualifiziert, ist auch keine einfache Erwerbs-karriere mehr zu starten. Einfache Jobs finden sich möglicherweise zunehmend in der ethnischen Community – so es eine solche gibt – wofür Grundkenntnisse der Herkunftssprache nützlich sein können. Die Familiengründung der zweiten Generation im Jahr 2000 kann konfliktreich wer-den, wenn die Identifikation und das Selbstwertge-fühl durch die Zugehörigkeit zu einer Kultur sich nicht angemessen herausgebildet haben.

Generatives Modell des Geburtsjahrgangs 1950 1. Familiengründung im Alter von 25 - 35 Jahren,

1975 – 1985. 2. Aufbauphase der Familie, Geburt der Kinder in

den nächsten 10 Jahren 1975 – 1995. 3. Ende der Stabilisierungsphase der Familie, die

Kinder verlassen mit 18 Jahren unter erschwer-ten Bedingungen der Integration in das Be-schäftigungssystem 1993 - 2003 den elterlichen Haushalt.

Die Altersgruppe 1950 ist noch in ihrem Her-kunftsland geboren und sie hat auch noch ihre Kindheit dort verbracht. Die Jüngeren hatten Chan-cen über den Familiennachzug, die Älteren noch über Anwerbung oder Heirat ihren Eltern nach Deutschland zu folgen. Beim Anwerbestopp 1973 war diese Altersgruppe 23 Jahre alt. Die Jahre der Aufbau- und Stabilisierungsphase der Familien sind für diese Familien noch wirtschaftlich relativ günstige Jahre, allerdings mit zunehmenden Prob-lemen auf dem Arbeitsmarkt. Wesentliche Aufgabe dieser Familien ist die Sicherungen der Schul und Berufsausbildung ihrer Kinder, die 1997 zwischen 2 und 22 Jahre alt sein können und somit die erste Jahrgangsgruppe der mehrheitlich in Deutschland geborenen zweiten Generation der Arbeitsmigran-ten sein könnte. Generatives Modell des Geburtsjahrgangs 1960 1. Familiengründung im Alter von 25 - 35 Jahren,

1985 – 1995. 2. Aufbauphase der Familie und Geburt der Kin-

der in den ersten 10 Ehejahren, 1995 - 2010. Es kann dies die dritte Generation der Arbeits-migranten sein.

Die Familiengründungsphase dieser Familien be-gann nach dem Anwerbestopp. Die Wahrschein-lichkeit ist groß, dass auch in diesen Familien ein Elternteil entweder mit der Sprache des Herkunfts-landes oder der deutschen Sprache Probleme hat, so dass auch die Kinder nach wie vor zusätzlichen Belastungen im deutschen Schul- und Ausbil-dungssystem haben werden, bzw. ihnen im Eltern-haus nur bedingt Hilfen beim Schulbesuch gegeben werden können. Zukunftschancen haben sie in Deutschland nur mit einem erfolgreichen Bil-dungsabschluss. Die Elterngeneration ist mögli-cherweise von Arbeitslosigkeit bedroht, da sie in den 70er- und 80er-Jahren ihre Chancen im deut-schen Bildungs- und Ausbildungssystem nicht zu

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 135 – Drucksache 14/4357

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nutzen in der Lage war. Aber auch qualifizierteausländische junge Erwachsene werden in Konkur-renz mit deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmern am Arbeitsmarkt nachrangig gefördert.Der Geburtsjahrgang 1960 ist 1990 30 Jahre alt;wer als Ausländer keinen gesicherten Arbeitsplatzhat, dürfte wirtschaftliche Probleme beim Famili-enaufbau haben und/oder der Sozialhilfe bedürfen.Die familialen und ethnischen Netzwerke undSelbsthilfegruppen dürften vornehmlich von diesenschon mehrheitlich in Deutschland geborenen undzum Teil auch aufgewachsenen Altersgruppengetragen, aber auch benötigt werden.

Die vier „generativen Modelle“ für den Zusam-menhang von Leistungen und Belastungen vonArbeits-Migrantenfamilien im Familienzyklus inunterschiedlichen Migrationsprojekt-Phasen undzeitgeschichtlichen Perioden stellen 1997 nur einknappes Drittel der ausländischen Bevölkerung inDeutschland dar. Die Modelle zeigen dennochziemlich deutlich, dass die familialen Leistungenvor allem im Bezug auf die Schul- und Berufsaus-bildung der Kinder mit klaren Zielsetzungen fürdas Migrationsprojekt und ein daraufhin orientier-ter Ressourceneinsatz die besten Voraussetzungensind, die Sicherung und Verbesserung der Lebens-lage und familialen Wohlfahrt auch für die näch-sten Generationen zu gewährleisten.

Da die Zuwanderungen der Zukunft von den ver-schiedenen Flüchtlings- und Asylbewerbergruppie-rungen, vom Familiennachzug der hier aufenthalts-berechtigten Ausländerinnen und Ausländern undvon der Zuwanderung der Aussiedlerfamilien, diezunehmend auch Ausländer und Ausländerinnenim Familiennachzug zuwandern lassen werden,bestimmt sein werden, dürfte eine gelingende Inte-gration in die deutsche Gesellschaft immer stärkerdavon abhängig sein, dass sich die Familien so frühund so ein- und umsichtig wie möglich auf dieAnforderungen einer Integration einstellen oderebenso konsequent sich auf die Rückkehr in dieverlassene Heimat vorzubereiten versuchen. Dasschließt die Möglichkeit des Offenhaltens der Op-tionen nicht aus, aber Prioritäten für den haushälte-risch zu ordnenden Ressourceneinsatz müssen klargesetzt sein, um unnötige Verluste an Lebenszeitund Vermögen zu vermeiden.

Die Empfehlung kann nur lauten, Zuwanderern fürsie sozial akzeptable, ökonomisch machbare undkulturell erwünschte Zukunftsperspektiven zueröffnen helfen, so dass sie Chancen sehen, die zuergreifen für sie Sinn machen. Diese Beratungs-dienste müssen frei sein von Klischeevorstellungenüber „Königswege“ für Wohlstandskarrieren und inder Lage sein, auch die Chancen der Rückkehr ineine Heimat realistisch zu bedenken und da-raus Handlungsentscheidungen zu begründen bzw.

Handlungs- und Investitionsmuster zu erstellen.Diese Art der Unterstützung der Zuwanderndenkann nicht früh genug beginnen, denn Perspektivensind erforderlich um Selbsthilfepotenzial zuwecken und damit „Kosten“ für die Familien unddie Gesellschaft zu sparen.

V. 1.3 Lebenslagen von Aussiedlerfamilien

Aussiedler wandern in der Regel im Familienver-band und ihre Einwanderung hat in der haushälteri-schen Zielsetzung einen endgültigen Charakter.Der Wunsch als Deutsche unter Deutschen lebenund arbeiten zu können, war und ist das hand-lungsleitende Ziel der familienwirtschaftlich orga-nisierten Familien.

Die Eingliederungsbedingungen und der Verlaufdes Eingliederungsprozesses ist durch Mammey(1997) mit einem Aussiedlerpanel des Bundesin-stituts für Bevölkerungsforschung untersucht wor-den. Es basiert auf einer Stichprobe von Aus-siedlerfamilien der drei wichtigsten Herkunftslän-der Polen, Rumänien und ehemalige Sowjetunionentsprechend dem Verteilungsschlüssel auf dieBundesländer; 1994 sind die Aussiedler in einerzweiten Befragung nach ihrer wirtschaftlichen undsozialen Integration befragt worden.

Das Panel umfasste 1991 1.219 Haushalte mitdurchschnittlich 3,34 Personen und im Jahr 1994bei der Wiederbefragung 530 Haushalte mit durch-schnittlich 3,58 Personen. Die Haushaltsstrukturwar bezogen auf die Befragung 1994 deutlich un-terschieden von der der deutschen Wohnbevölke-rung. Nur 6,4 % der Aussiedler, aber 34,7 % derEinwohner in Deutschland lebten 1994 in Einper-sonenhaushalten. So ist auch der Anteil der Mehr-generationen-Haushalte bei den Aussiedlern deut-lich höher, die Familien sind größer und wohnenauch enger zusammen. Während sie bei der erstenBefragung 1991 noch zu 89,4 % in Übergangs-wohnheimen in den ihnen administrativ zugeord-neten Wohnbezirken wohnten, hatten sie 1994 zu94 % bereits eine eigene Mietwohnung bezogen,28 Haushalte hatten es – bedingt durch das Errei-chen einer günstigen Einkommensentwicklung,unterstützt von Förderungsmaßnahmen und fami-lialen Netzwerken – bereits zu Wohneigentumgebracht. Die Eingliederung am Arbeitsmarktzeigte allerdings, dass die Aussiedler hinsichtlichihrer Berufspositionen einen Unterschichtungspro-zess durchlaufen, da ihre Berufspositionen sowohlim Vergleich zur Vormigrationssituation als auchzu den in Deutschland von 1985 die Tendenz einerAbwärtsmobilität zeigen.

Ein solcher Befund ist nicht überraschend, denn dieMigrationsforschung zeigt, dass auch bei günstigen

Klare Zielset-zung des

Migrations-projekts

fördert Ver-besserung der

Lebenslagen

Frühe Unter-stützungschon zu

Beginn desMigrations-

projektssinnvoll

Drucksache 14/4357 – 136 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Rahmenbedingungen Integrations-, Akkulturations-und Assimilationsgeschichten erst in der Genera-tionenfolge als abgeschlossen gelten können. Die-ses dürfte auch für die einwandernden Deutschengelten, die über Generationen in osteuropäischenNationalstaaten lebten und vor allem in den letzten50 Jahren nur noch im privaten Milieu die Chancehatten, ihre Kultur zu pflegen. Die hier bei derzweiten Panel-Befragung untersuchten Aussiedler-haushalte waren kaum vier Jahre in Deutschland.Ihnen gewähren die Eingliederungshilfen für fünfJahre Unterstützung, sie gelten dann politisch als indie Gesellschaft eingegliedert und haben eigenver-antwortlich ihr Alltagsleben zu gestalten.

In einer Clusteranalyse mit Indikatoren der materi-ellen Lebenslage sowie der Indikatoren für Le-bensbedingungen der sozialen Zugehörigkeit, dersozialen Kontakte und des subjektiven Wohlbefin-dens wird nachgewiesen, dass fast die Hälfte(47,9 %) der befragten Haushalte unter positivenBedingungen in Deutschland leben und das auchentsprechend so empfinden. 10,7 % der Haushaltegeht es objektiv und subjektiv schlecht. Politischdürfte dieser Befund somit trotz noch länger beste-hender besonderer Belastungen und Erschwernissefür diese Familien als eine Erfolgsgeschichte zuwerten sein.

Nimmt man zu diesen quantifizierten Befunden dersozialen Integration von Aussiedlern nach knappenvier Jahren ihrer Einwanderung noch Befunde auseiner Vielzahl anderer Befragungen hinzu, so zeigtsich, dass die Probleme der Aussiedler vor allemaus den Diskrepanzen zwischen dem idealisierten,unter schwierigsten Lebensverhältnissen geprägtenDeutschlandbild einerseits und den realen Erfah-rung im deutschen Alltag resultieren. Zu diesemkulturellen Bruch der Selbst- und Fremdwahrneh-mungen kommen dann die nicht weniger schwieri-gen intrafamilialen und neu zu bestimmendenDominanz- und Sympathiebeziehungen sowie dievielfältigen neu zu gestaltenden Herausforderungder Alltagsbewältigung hinzu.

Die Aussiedlerfamilien, die im Rahmen der großenZuwanderungswelle nach 1990 nach Deutschlandkamen, haben im Vergleich zu früher gewandertenAussiedlerfamilien weit größere Probleme bei ihrerIntegration (vgl. Kapitel III.4). Sie verfügenüber schlechtere deutsche Sprachkompetenzen,kamen zu einer Zeit zunehmender Arbeitslosigkeitund abnehmender Integrationsförderungen nachDeutschland. Die Eigendynamik des Einwande-rungsprozesses führte zur weiteren Verdichtung derschon entstandenen Aussiedlerkolonien. DieseAussiedlerkolonien wiederum ergaben sich aus derWanderungstradition und der ausgeprägten Kom-munikation über dichte Netzwerke zwischen denAusgangsräumen und Zielgebieten, wodurch einer-

seits für die neuen Zuwanderer familiale undkommunale ethnische Hilfs- und Unterstützungs-netze mobilisierbar waren, aber sich andererseitsder Wunsch der Integration in die ansässige deut-sche Wohngesellschaft verringerte, weil man untersich bleiben konnte. Dieses gilt in verstärktemMaße für die nichterwerbstätigen Familienangehö-rigen, die Kinder, Frauen und Älteren. Für dieKinder und schulpflichtigen Jugendlichen, die inden Herkunftsgebieten keine Chance hatten, diedeutsche Sprache zu erlernen, zumal auch zuneh-mend ihre Eltern sie nicht mehr sprachen, gilt es inden Familien vorrangig, sich um deren Sprach- undSchulbildung zu kümmern.

Die Lebenserfahrungen der Frauen aus den östli-chen Herkunftsgebieten wurde geprägt durch einetraditional-patriarchalische Kultur, durch dieGleichstellung der Geschlechter in der Schul- undBerufsausbildung sowie in der Erwerbsarbeit undbei der Erwerbsbeteiligung, die neben den Haus-halts- und Familientätigkeiten für Frauen sowohlRecht als auch Pflicht und finanziell notwendigwar. Geschlechtsbezogene Unterschiede ergabensich aus der Tatsache, dass Männer Haushalts- undFamilientätigkeiten nicht übernahmen, selber sichin den gewerblich-industriellen Sektoren, die bes-ser bezahlt wurden und mehr Aufstiegschancenboten, betätigten, während Frauen in den Wissen-schaften und Dienstleistungsbranchen dominiertenund dort mit geringeren Löhnen und Karrierechan-cen, dafür aber intensiveren sozialen Netzwerkendie Daseinsvorsorge der Familie zu sichern bemühtwaren. In den 80er-Jahren der Reformen in denGUS-Staaten waren sie auch so die ersten großenVerlierer der Reformen. Die in dieser Weise sozia-lisierten, erfahrenen und qualifizierten Aussiedler-frauen wünschen ausreichende Einrichtungen fürdie Kinderbetreuung und die Möglichkeit der kon-tinuierlichen Eingliederungen in die Erwerbs-arbeitswelt. Für sie ist mehrheitlich die durch dieEinwanderung nach Deutschland unerlässlicheKonzentration auf die Familie eine selbstverständ-liche Pflicht und Aufgabe, aber damit ist nicht derWunsch verbunden, auf die erwerbswirtschaftlicheIntegration zu verzichten. Wenn dieses dennochgeschieht, ist es eher Resignation oder die Erfah-rung, dass die beruflichen Qualifikationen aus derHerkunftsgesellschaft und die beruflichen Anforde-rungsprofile in Deutschland soweit auseinanderfallen, dass eine angemessene Erwerbsarbeit nurunter ungewöhnlichem Aufwand für Qualifikatio-nen erreichbar ist, in Tätigkeiten im Bereich der630-DM-Jobs, auf schwarzen und grauen Märktenjedoch das Familieneinkommen aufgebessert wer-den kann.

Aussiedlerfrauen waren in den Herkunftsgesell-schaften die Gestalterinnen der familienwirtschaft-lichen Haushaltssysteme, sie sind es auch im Ein-

Bisher nochpositive

Bilanz der Lebenslagen

von Aussiedler-

familien

Nach 1990Zugewanderte

mit größerenProblemen beiihrer Integra-

tion

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 137 – Drucksache 14/4357

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wanderungsprozess, allerdings nicht mit demWunschbild, eine „bürgerliche Nur-Hausfrau“ zuwerden und auch nicht mit dem vorrangigen Stre-ben nach einem Leben als Karrierefrau. Sie wollendie Vereinbarkeit von Familie und Beruf, und demstehen in Deutschland die Barrieren der mangeln-den Kinderbetreuung und unzureichenden Integra-tionsförderungen sowie die Integrationsschwierig-keiten in den deutschen Arbeitsmarkt entgegen.

Die Integration der jugendlichen Aussiedler istschwieriger geworden, durch die zum Teil von ihnennicht gewollte Einwanderung, durch zunehmendeSprach-, Schul- und Ausbildungsprobleme, durchabnehmende Chancen und Zwänge, sich um dasErlernen der deutschen Sprache und Kontakte zuden ansässigen deutschen Peer-groups zu bemühen.Die Folgen unterlassener Förderung können steigen-der Alkoholismus, Drogenprobleme, Gewaltkrimi-nalität, Bandenbildung und tätliche Auseinanderset-zungen mit anderen jugendlichen Gruppierungensein. Dieses Faktum hat erhebliche Konsequenzenfür zunehmende Ängste und ablehnende Verhal-tensweisen der ansässigen deutschen Bevölkerung,durch welche die Integrationsförderungen aber ge-tragen werden müssten. Das Humanvermögen derFrauen und das der Kinder und Jugendlichen, das zufördern unterlassen wird, ist nicht nur eine unver-antwortliche Verschwendung von Vermögens-werten, sondern auch eine fortdauernde Belastungfür die Familien und die Gesellschaft.

Die Zuwanderung der Aussiedler gleicht in vielerHinsicht derjenigen von Ausländern. Aus diesemGrunde spricht alles dafür, die guten Erfahrungenmit den integrationsfördernden Maßnahmen für dieAussiedlerfamilien auch für ausländische Zuwan-derer nutzbar zu machen und weiter zu verbessern(Bade/Oltmer 1999).

V. 2 Erwerbsarbeit und Lebenslagenausländischer Familien und Privat-haushalte ausgewählter Nationalitä-ten im Vergleich

Bei dem nun folgenden Vergleich der Lebenslagenund Lebensformen ausgewählter Nationalitätenverlassen wir die Form der handlungstheoretischenBetrachtung der Mikroebene und wenden uns denDatensätzen der Haushaltsstatistiken zu. Da es sichum sekundäre Auswertungen von amtlich erhobenenDatensätzen der Volkszählungen und Wirtschafts-rechnungen handelt, entsprechen diese den gesetz-lich vorgegebenen Begrifflichkeiten. So kennt dieamtliche Statistik z. B. „Alleinerziehende“ nur andem ausgewiesenen Familienstand und der Tatsa-che, dass ein Kind im Haushalt mitversorgt wird.Die Realitäten des Lebens sind aber weit differen-zierter und das gilt nicht nur für Lebenslagen und

Lebensformen, sondern insbesondere für die Grund-gesamtheiten der Nationalitäten, die in den Ver-gleich aufgenommen wurden. Es müssen darüberhinaus bei Analyse und Bewertung der Befunde diegravierenden Unterschiede der Nationalitäten beiihren Migrationsgeschichten mitgedacht werden.Als Beispiel seien nur die Vergleichsgruppen„ehemaliges Jugoslawien“ und „Italien“ genannt.

Zu beachten ist auch, dass in den gesellschaftlichenBereichen, die mit den Problemen der Zuwandererbefasst sind, unterschiedliche staatliche und wissen-schaftliche Institutionen arbeiten, so dass sich für diefamilienorientierten Migrationsdaten kein kohären-tes Gesamtbild zeichnen lässt. Es ist folglich beimUmgang und der Beurteilung des vorliegenden Da-tenmaterials auf die jeweils unterschiedlichen kon-zeptionellen und methodischen Vorgaben zu achten,auch ist, soweit sinnvoll und nötig, auf Schwach-stellen des Untersuchungsdesigns aufmerksam zumachen. Schließlich sind unterschiedliche Bewer-tungen von Daten zuzulassen, die jeweiligen Be-gründungen sind allerdings mitzuliefern.

Neben den in Kapitel III bereits dokumentiertenDatenquellen werden in der folgenden Darstellungdes Vergleichs vom Lebenslagen unterschiedlicherNationalitäten die Ergebnisse einer Sonderauswer-tung des Mikrozensus, eine 1 %ige Repräsentativ-statistik über die Bevölkerung und das Erwerbslebenin Deutschland, Berichtsjahr 1995, und Daten derEinkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) ausdem Jahr 1993 benutzt (Roloff 1998). Die Sonder-auswertung von Mikrozensus und EVS bezieht sichnur auf Westdeutschland, weil der sehr geringeAnteil der in den neuen Bundesländern lebendenund erfassten ausländischen Familien sowie die inden Jahren 1993 und 1995 immer noch vergleichs-weise unterschiedlichen Lebenslagen in Ost- undWestdeutschland zu vermeidbaren Verzerrungen derVergleiche führen würde. Wichtig ist auch zu be-achten, dass im Text oder auch in den Tabellenaufgenommene absolute Zahlen Fallzahlen sind, dienicht hochgerechnet wurden. Fallzahlen unter 50wurden grundsätzlich nicht mehr ausgewiesen.

V. 2.1 Zahl und Struktur der Familienim Vergleich der Lebenslagen vonZuwanderern ausgewählter Natio-nalitäten

Im Mikrozensus waren für Deutschland insgesamt1,3 Mill. ausländische Haushalte und 636.000 bina-tionale Ehepaare sowie 183.000 ausländische Al-leinerziehende erfasst. Die Vergleiche mit diesemDatenmaterial konzentrieren sich auf „westdeut-sche“ Haushalte und ausländische Familien miteinem festen Wohnsitz in Westdeutschland, unter

Die Unterlas-sung der

Förderungvon Human-vermögen ist

eine Ver-schwendungvon Vermö-genswerten

Für familien-orientierteMigrationsda-ten kein kohä-rentes Ge-samtbild

Aussiedler-frauen die

Gestalterinnender Haus-

haltssysteme:deshalb Ver-einbarkeits-

frage vonBeruf und

Familie zen-tral

Drucksache 14/4357 – 138 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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schieden nach den Nationalitäten aus den EU-Staaten Griechenland und Italien, den Anwerbelän-dern und Drittstaaten, wie das ehem. Jugoslawien

und die Türkei, auf den Vergleich mit binationalenEhen und mit ausländischen und deutschen Allein-erziehenden, die in Westdeutschland leben.

Tabelle V.1:Ehepaare ohne und mit Kindern nach ausgewählten Staatsangehörigkeiten– Früheres Bundesgebiet 1995

Zahl der Ehepaare sowie Kinderanteil

Ehepaare darunter mit Kindernim Haushalt

insgesamt insgesamt in ProzentAlle Ehepaare 158 878 85 752 54,0* Deutsche 140 296 72 528 51,7* Binationale 5 750 3 445 59,9

– Mann = deutsch/Frau = ausländisch 2 833 1 677 59,2– Frau = deutsch/Mann = ausländisch 2 917 1 768 60,6

* Ausländer insgesamt 12 832 9 779 76,2darunter beide aus:* den EU-Staaten 2 783 1 972 70,9

dar. – aus Griechenland 920 653 71,0– aus Italien 987 778 78,8

* dem ehem. Jugoslawien 2 263 1 640 72,5* der Türkei 5 630 4 567 81,1

Struktur der Ehepaare ohne und mit Kindern im Haushalt1)

In 100 % aller Ehen waren: insgesamt ohne Kinder mit Kindern* beide Deutsche 88,3 92,7 84,6* entweder deutsch oder ausländisch 3,6 3,2 4,0* beide Ausländer 8,1 4,2 11,4In 100 % der binationalen Ehen waren:* Mann = deutsch/Frau = ausländisch 49,3 50,2 48,7* Frau = deutsch/Mann = ausländisch 50,7 49,8 51,3

In 100 % der ausländischen Ehen waren beide Partner aus:* den EU-Staaten 21,7 26,6 20,2

dar. – aus Griechenland 7,2 8,7 6,7– aus Italien 7,7 6,8 8,0

* aus dem ehem. Jugoslawien 17,6 20,4 16,8* aus der Türkei 43,9 34,8 46,7

1) In Prozent aller Ehen ohne bzw. mit Kindern

Quelle: Roloff (1998, 3), Daten des Mikrozensus 1995(Um Missverständnissen vorzubeugen sei darauf hingewiesen, dass die in Tabelle V.1 und V.2 ausgewiesenen absolu-ten Zahlen ausschließlich Fallzahlen einer Stichprobe (Mikrozensus) sind. Eine Hochrechnung ist nicht möglich.Fallzahlen unter 50 werden grundsätzlich nicht ausgewiesen.)

In Tabelle V.1 sind die Zahl und Struktur der inden Vergleich aufgenommenen Ehepaare mit undohne Kinder nach ihrer Staatsangehörigkeit darge-stellt. In der Hälfte (54 %) der in den Vergleichaufgenommenen Ehepaar-Haushalte lebten Kinder.Die größte nationale Gruppe stellen die deutschenEhepaare (140,3 Tausend), gefolgt von den bina-

tionalen (5,8 Tausend) und türkischen Ehepaaren(5,6 Tausend). Die Repräsentanten für die EU-Bürger – die Ehepaare aus Italien (1,0 Tausend)und Griechenland (0,9 Tausend) – sind die klein-sten Gruppen. Die Drittstaatler aus dem ehem.Jugoslawien (2,3 Tausend) stellen mit einem Pro-zentanteil von 17,6 nach den türkischen Ehepaaren

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 139 – Drucksache 14/4357

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mit 43,9 % und den ausländischen Ehepaaren mitdem EU-Bürgerrecht mit 21,7 %, eine beachtlichgroße Migrantengruppe im Untersuchungsdesigndes Mikrozensus.

Beachtet man, dass Ehepaar-Haushalte sich inunterschiedlichen Phasen des Familienzyklus be-finden, so können solche ohne Kinder sich nochvor der Aufbauphase der Familie befinden oderschon die erste Auslaufphase der Familie – dasAusscheiden der Kinder – abgeschlossen haben.Die im Haushalt zur Zeit des Vergleiches der Le-benslagen lebenden Kinder sagen nichts über dietatsächlich in der Ehe geborenen Kinder aus. Zubeachten ist nur, dass das Einkommen auf mehroder weniger Köpfe im Haushalt aufzuteilen istund die Versorgungsaufwendungen an Ressourcen

auch mit der Kinderzahl wächst. Berücksichtigtman in der vergleichenden Darstellung nur dieEhepaare, bei denen noch Kinder im Haushaltleben, so war bei den deutschen und binationalenEhen vornehmlich ein Kind im Haushalt, bei denausländischen Ehepaaren lebten dagegen imDurchschnitt 2 Kinder. Darunter war bei den türki-schen Ehepaaren mit 26,1 % ein relativ hoher An-teil von 3 oder mehr Kindern.

Da die deutschen Ehepaar-Haushalte im Durch-schnitt älter sind als die erfassten ausländischen,werden, soweit es zweckmäßig und möglich ist,nur die Ehepaar-Haushalte mit oder ohne Kinderderen Eltern nicht älter als 55 Jahre (jünger alsJg. 1940) sind zu dem weiteren Vergleich der Le-benslagen herangezogen.

Tabelle V.2:Alleinerziehende nach ausgewählter Staatsangehörigkeit – Früheres Bundesgebiet 1995

Insgesamt Frauen MännerAlle Alleinerziehenden 20 048 16 470 3 578* Deutsche 18 291 15 090 3 201* Ausländer insgesamt 1 757 1 380 377 darunter aus* EU-Staaten 530 401 129 dar. Griechenland 102 77 (25) Italien 160 110 50* ehem. Jugoslawien 386 318 68* Türkei 389 291 98

Struktur der AlleinerziehendenVon 100 % der ab 18-jährigen Bevölkerung waren alleinerziehend:* Deutsche 3,8 6,0 1,4* Ausländer insgesamt 3,7 6,2 1,5 darunter aus* EU-Staaten 3,8 6,5 1,7 dar. Griechenland 3,3 5,4 (1,5) Italien 3,6 6,3 1,8* ehem. Jugoslawien 4,8 8,1 1,6* Türkei 2,5 3,9 1,2

+ Bei Werten in Klammern lagen die Fallzahlen unter 50

Quelle: Roloff (1998, 99), Daten des Mikrozensus 1995

Auch bei den alleinerziehenden Ausländerinnenüberwiegen solche aus EU-Staaten, aber unter ihnenbilden die Griechinnen und Italienerinnen im Ver-gleich zu den Jugoslawinnen und Türkinnen deut-lich kleinere Gruppen. Der Anteil der Alleinerzie-henden an der ab 18-jährigen jeweiligen Bevölke-rungsgruppe ist auffällig hoch für die Alleinerzie-henden aus dem ehemaligen Jugoslawien und ver-gleichsweise niedrig für die Alleinerziehenden aus

der Türkei. Die Gründe dafür können in den unter-schiedlichen familialen Lebensvorstellungen und na-tionalen Migrationsgeschichten gefunden werden. Sokamen zum Beispiel 39 % der Alleinerziehenden ausJugoslawien erst zwischen 1990 und 1995 nachWestdeutschland. Sie waren wohl mehrheitlichKriegsflüchtlinge. Insgesamt gilt auch für die auslän-dischen Familien, dass die Probleme der Alleinerzie-henden überwiegend Probleme von Frauen sind.

Anteil derAlleinerzie-henden ausdem ehem.Jugoslawienam höchsten

Drucksache 14/4357 – 140 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Tabelle V.3:Deutsche und ausländische Alleinerziehende nach dem Familienstand – Früheres Bundesgebiet 1995

Ledig Verheiratet1) Verwitwet Geschieden

Pers. in %2) Pers. in %2) Pers. in %2) Pers. in %2)

* Deutsche 3 609 19,7 2 132 11,7 5 772 31,5 6 782 37,1* Ausländer insgesamt 321 18,4 402 23,1 381 21,9 639 36,7darunter aus* EU-Staaten3) 113 20,9 88 16,3 115 21,3 224 41,5* ehem. Jugoslawien 78 20,5 101 26,6 82 21,6 119 31,3* Türkei 55 14,7 105 28,1 97 25,9 117 31,3

1) Verheiratete, getrennt Lebende2) Zeilenprozente3) Infolge der geringen Fallzahlen bei den griechischen und italienischen Alleinerziehenden ist eine weitere Differenzierung nicht

möglich.

Quelle: Roloff (1998, 101), Daten des Mikrozensus 1995

Tabelle V.4:Verheiratet, getrennt lebende ausländische Alleinerziehende und Anteil der (noch) im Heimatlandverbliebenen Ehepartner – Früheres Bundesgebiet 1995

Von 100 % der verheirateten, getrennt Lebendenwaren... Ehefrauen/-männer (noch) im Heimatland:

Insgesamt Ehefrauen Ehemänner

* Ausländer insgesamt 40,8 47,7 38,2

darunter aus

* EU-Staaten 30,0 31,0 30,7

* ehem. Jugoslawien 49,5 60,0 47,7* Türkei 43,8 55,3 37,3

Quelle: Roloff (1998, 102), Daten des Mikrozensus 1995

Der Familienstand der alleinerziehenden Auslände-rinnen (Tab. V.3) ist mehrheitlich bei allen Ver-gleichsgruppen durch Ehescheidung oder Witwen-schaft bedingt. Nur 18 % sind ledige Mütter, beiden türkischen Müttern nur 15 %. Die alleinerzie-henden Ausländerinnen haben zu 56 % zwei undmehr Kinder zu versorgen, während dieses fürdeutsche Alleinerziehende nur bei 28 % zutrifft.Bei den „Verheirateten und getrennt leben-den Alleinerziehenden“ wird in der folgenden

(Tab. V.4) ausgewiesen wie hoch der Anteil derje-nigen ist, deren Ehepartner oder Ehepartnerin sichnoch im Herkunftsland befindet.

Deutlich über dem Durchschnitt liegen die Allein-erziehenden aus Jugoslawien und der Türkei, undvergleichsweise niedrig sind die Anteile der Allein-erziehenden aus den EU-Staaten, deren Ehepartneroder Ehepartnerinnen sich noch im Herkunftslandbefinden.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141 – Drucksache 14/4357

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V.2.2 Überwiegender Lebensunterhalt,Haushaltsnettoeinkommen undVermögensbestände der Familienausländischer Herkunft

Die Lebenslagen von Personen und Familien wer-den maßgeblich vom Geldeinkommen bestimmt.Die Quellen des Familieneinkommens, aus dem derLebensunterhalt bezogen wird, sind unabhängigvon der Kinderzahl, aber abhängig vom Alter derEhepaare. Es zeigt sich, dass der überwiegendeLebensunterhalt der unter 55-jährigen Ehemännerdurch Erwerbstätigkeit erworben wird. Arbeitslo-senunterstützung als Haupteinkommensquellenennen 2,9 % der deutschen und 8,9 % der auslän-dischen Ehemänner, allerdings 15 % der türki-schen. Bei den Nennungen der Sozialhilfe alsHaupteinkommensquelle sind die jugoslawischenEhemänner mit 10,2 % die stärkste Gruppe. DieGriechen sind mit den Deutschen die Gruppe, dieArbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe am sel-tensten in Anspruch nehmen mussten.

Im Gegensatz zu den unter 55-jährigen Ehemän-nern wird der überwiegende Lebensunterhalt derunter 55-jährigen Ehefrauen zu 43,7 % bei denDeutschen, zu 53,8 % bei den Ausländerinnen undzu 64,2 % bei den Türkinnen durch Eltern undEhemann bestritten. Wieder stehen die Griechinnen

an der Spitze derjenigen Ehefrauen, die zu 60,3 %aus ihrer Erwerbstätigkeit ihren Lebensunterhaltüberwiegend selber verdienen. Dieses Bild ändertsich nicht grundsätzlich, nur graduell, wenn Kinderim Haus zu versorgen sind. Die Väter bleiben dieüberwiegenden Ernährer der Familie. Nur in dengriechischen Haushalten und bei binationalen Ehenmit einem ausländischen Mann sind die Frauengleich stark an der Sicherung des überwiegendenLebensunterhalts beteiligt.

Der im Mikrozensus angegebene Anteil der imHaushalt lebenden Kinder mit eigenen Einkommenliegt bei einem Fünftel der Kinder. Ein Drittel derdeutschen Ehefrauen sind ohne ein eigenes Ein-kommen, mit 2 Kindern sind es 40 % und mit 3und mehr Kindern 51 %. Die ausländischen Ehe-frauen haben zu 44,8 % kein eigenes Einkommen,mit 2 Kindern zu 45,5 % und mit 3 und mehr Kin-dern zu 57,9 %.

Die Alleinerziehenden geben unabhängig von derNationalität zu über 50 % an, ihr überwiegendesEinkommen aus Erwerbstätigkeit zu erhalten, dieRente spielt bei den Deutschen und die Sozialhilfebei den Alleinerziehenden aus dem ehem. Jugosla-wien eine nennenswerte Rolle. Unterhaltszahlun-gen bleiben bei allen Gruppen unter 10 % der Nen-nungen.

Abbildung V.2: Haushaltsnettoeinkommen der deutschen, binationalen und ausländischen Ehe-paare, Schichtung in Prozent – Früheres Bundesgebiet 1995

0,0

5,0

10,0

15,0

20,0

25,0

unter 1000 1000-1799 1800-2499 2500-2999 3000-3999 4000-4999 5000-5999 6000-7499 7500 u.m.Einkommensgruppen (DM)

in Prozent

Deutsche Ehepaare

Mann = deutsch

Frau = deutsch

Ausländische Ehepaare

Quelle: Roloff (1998, 67), Daten des Mikrozensus 1995

Überwiegen-der Lebensun-

terhalt derEhefrauen

unter 55Jahren durch

Ehemann bzw.Eltern

Drucksache 14/4357 – 142 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Vergleicht man die Schichtung der Familienein-kommen der deutschen, binationalen und ausländi-schen Ehepaare miteinander, so war von allenGruppen die Mehrheit mit fast identischen rd. 24 %in der Einkommensgruppe zwischen 3.000-4.000DM zu finden. Es gehört zu den langjährigen Er-fahrungen von Statistikern, dass die Zuordnungenzu Einkommensklassen von den Befragten nichtder Realität entsprechend vorgenommen werden.Das gilt insbesondere für alle jene, die Überstun-den, Sonderschichten, 13. Monatsgehalt, Zulagenund mehr oder minder viele Nebeneinkünfte haben.Wir können annehmen, dass die Fehler über alleGruppen gleich verteilt sind und es mit dieser Fest-stellung auf sich beruhen lassen, obgleich auch siefragwürdig sein dürfte.

Nicht unerwartet zeigt Abbildung V.2, dass dieausländischen Ehepaare in den Einkommensklas-sen von 2.000-3.000 DM erheblich stärker vertre-ten sind als die deutschen und binationalen undumgekehrt bei den höheren Einkommensklassensie sehr viel seltener vorkommen. Deutsche Män-ner mit ausländischen Frauen gehören anscheinendzu der Gruppe, die die besten Chancen haben, zuden „Besserverdienenden“ zu gehören. Im Ver-gleich der Nationalitäten der ausländischen Ehe-paare sind die griechischen am deutlichsten auch inder höheren Einkommensklasse von 4.000-5.000DM zu finden und die türkischen haben es amschwersten, sich in den höheren Klassen zu postie-ren.

Über die Hälfte der Alleinerziehenden – deutschewie ausländische – befinden sich in den Einkom-mensklassen zwischen 1.000-2.500 DM. 7 % derDeutschen und 13 % der Ausländerinnen geben an,sogar nur über ein Haushaltsnettoeinkommen unter1.000 DM verfügen zu können. Da mindestenszwei Personen davon leben müssen, dürften dieseAngaben nur für Personen zutreffend sein, dieSozialleistungen nicht mitbedacht haben und/oderden Unterhalt von anderer Seite ergänzt erhalten(von den Eltern oder Verwandten). Auffallend ist,dass im Nationalitätenvergleich 26,5 % der allein-erziehenden Italienerinnen angeben, zur Einkom-mensklasse zwischen 3.000-4.000 DM zu gehören.

Da die Einkommenssituation einer Familie nichtnur vom Nettoeinkommen, sondern auch von derVermögenslage abhängig ist, müssen wir uns imFolgenden der Sonderauswertung der Einkom-mens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) von 1993bedienen, deren Informationen auch auf Aufzeich-nungen und Befragungen basieren und damit um-fassender und genauer sind. Die Einkommens-schichtung zeigt das bekannte Bild. Die ausländi-schen Ehepaare gehören zu fast 50 % zu jenen, dieweniger als 5.000 DM/Monat verdienen, während

deutsche und binationale nur zu etwa einem Drittelin dieser Einkommensklasse zu finden sind. Diehöchste Einkommensklasse von 10.000 - 35.000DM pro Monat ist von den deutschen und binatio-nalen Ehepaaren noch mit ca. 10 % besetzt, aus-ländische Ehepaare finden sich hier nicht mehr.

Vergleichen wir die Vermögensbestände der Ar-beitnehmerhaushalte der ausländischen Ehepaaremit Kindern mit denen der entsprechenden deut-schen Haushalte, so sind diese bei den ausländi-schen Familien erwartungsgemäß deutlich niedri-ger, zumal in der EVS nur Vermögensbestände inDeutschland erfasst werden. 72 % der Deutschengeben an, über Immobilien zu verfügen und dieseImmobilien waren zu 85 % Ein- oder Zweifamili-enhäuser. Die ausländischen Arbeitnehmerhaus-halte mit Kindern haben in Deutschland auch schonzu einem Dritteln Grundvermögen erworben, daszu zwei Drittel auch aus Ein- oder Zweifamilien-häusern besteht. Dieses ist eine beachtliche Ver-mögensbildung, wenn man bedenkt, unter welchenBedingungen dieses Vermögen gebildet wurde.Nicht ganz zu Unrecht sprechen Angehörige derzweiten Generation von der Ausbeutung ihrer El-tern, allerdings dürfte diese Wohlfahrtsproduktionvor allem auf Selbstausbeutung der Migranten-Elterngeneration beruhen.

Kreditverpflichtungen haben deutsche wie auslän-dische Familien zu einem Drittel, aber sie verfügenauch über Geldvermögen, das ausländische Ehe-paare zur Hälfte in Lebensversicherungen anlegen.Ausländische Ehepaare unterscheiden sich in ihrenPräferenzen für Geldanlagen nicht grundsätzlichvon den deutschen und binationalen Ehepaaren mitKindern in Arbeitnehmerhaushalten. Der Unter-schied liegt allerdings in der Höhe der Brut-toguthaben, die um ein gutes Drittel geringer sindals die der deutschen und binationalen Vergleichs-gruppen. Offen muss allerdings in dieser Betrach-tung bleiben, wie viele ausländische Familien inihren Herkunftsländern Vermögen besitzen odergebildet haben.

Es mag verwunderlich erscheinen, dass über Armutder Familien ausländischer Herkunft im 6. Famili-enbericht konkret nichts zu lesen ist. Der Grunddafür liegt in der Tatsache, dass jedwede Armuts-diskussion – ob in den Medien oder auf dem politi-schen Parkett – politisch instrumentalisiert wird.Ein Grund dafür sind die statistischen Probleme derArmutsmessung sowie die ständige Vermischungvon Fakten und Werturteilen (Krämer 1994).Wichtig ist die Unterscheidung zwischen ökonomi-schen und sozialen Existenznöten und Existenzmi-nima oder auch „absoluter“ und „relativer“ Armut.Es ist keine Frage, dass in Deutschland ankom-mende Asylsuchende und Flüchtlinge sich in öko-

Probleme derArmutsmes-sung

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143 – Drucksache 14/4357

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nomischen Existenznöten oder auch absoluterArmut befinden können und in jedem Fall relativzum Wohlstand in unserem Lande arm sind. Dochfür sie dürfte selbst die reduzierte Sozialhilfe inDeutschland ausreichen, dieser absoluten Armutvorübergehend zu begegnen. Von dieser nacktenÜberlebenshilfe ist die Sozialnot oder auch relativeArmut zu unterscheiden. Aus der Sicht der Betrof-fenen und ihrer Fürsprecher ist sie schmerzlich,gesundheitsgefährdend und der Humanvermögens-bildung schädlich. Ihr zu begegnen heißt, humaneRahmenbedingungen zu schaffen, um das Selbst-hilfepotenzial der Zuwanderer herauszufordern undfür die Humanvermögensbildung zu nutzen.

Das soziale Existenzminimum variiert zeitlich undräumlich, es hängt von den Werten und Normeneiner Gesellschaft, ihrem Lebensniveau und wohl-fahrtsstaatlichen Vorstellungen ab. Die Leistungender Sozialhilfe werden durch politische Entschei-dungen bestimmt und gelten als Gewährleistungdes sozial-kulturellen Existenzminimums. Diesessozial-kulturelle Existenzminimum in Deutschlandist im Vergleich zum ökonomischen Existenzmi-nimum der Weltbevölkerung relativ hoch und imVergleich zum Lebensniveau der Flüchtlinge undAsylbewerber in der Herkunftsgesellschaft je nachdem relativ hoch oder niedrig.

Die Familien ausländischer Herkunft, und selbstfür die besonders gefährdeten unter ihnen – näm-lich die Frauen, die über Netzwerke des Men-schenhandels nicht zuletzt ihren Familien zuliebesich in Deutschland befinden – sind aus der Per-spektive ihrer Herkunftsfamilie und deren Lebens-lagen häufig nicht arm, sondern sozial privilegiert.

Sie bewerten ihre ökonomischen Belastungen undsozialen Existenznöte mitunter anders, als esWertungen in Wohlstandsgesellschaften entspricht(Niesner u. a. 1997).

Um diesen Bewertungsrelativimus zu entgehen, istes das Anliegen des 6. Familienberichts, auf dieBelastungen und Leistungen der Zuwanderndenaufmerksam zu machen und die politischen Akteu-re daran zu erinnern, dass integrationsförderndeRahmenbedingungen das Selbsthilfepotenzial derZuwandernden mobilisiert und damit Armutsprä-vention ist und auch für die Herkunftsgesell-schaften eine entwicklungspolitische Unterstützungsein kann, die als solche „kostengünstiger“ und vorallem humaner ist, als Überlebenshilfe ohne Zu-kunftsperspektiven.

V.2.3 Erwerbsarbeit der Frauen undMütter ausländischer Herkunft

Informationen über die Erwerbsbeteiligung vonAusländern und Ausländerinnen, ihre Beschäfti-gungschancen und Bruttoverdienste werden mittelsder Berichterstattung der Bundesanstalt für Arbeit,und zusammengefasst auch in den Ausländerbe-richten der Beauftragten der Bundesregierung fürAusländerfragen regelmäßig zur Verfügung ge-stellt. Die Daten sind stets Individualdaten undnicht auf Familien oder Privathaushalte bezogen.Für die zusammenfassende Darstellung der Er-werbsbeteiligung von ausländischen Frauen undMüttern werden Daten des Mikrozensus 1997 undinsbesondere die Sonderauswertung des Mikrozen-sus 1995 benutzt.

Armutsprä-vention:Förderung desSelbsthilfepo-tenzials vonZuwanderern

40,045,050,055,060,065,070,075,080,0

1975

1976

1977

1978

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1980

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1991

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1993

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1995

1996

1997

*Anteil der Erwerbspersonen an der entsprechenden Bevölkerung

Proz

ent

Ausländer Deutsche

Abbildung V.3: Erwerbsquoten* von ausländischen und deutschen Männern 1975-1997

Quelle: Statistisches Bundesamt, Daten des Mikrozensus und der EG Arbeitskräftestichprobe 1975-97

Drucksache 14/4357 – 144 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Quelle: Statistisches Bundesamt, Daten des Mikrozensus und der EG Arbeitskräftestichprobe 1975-97

Die Erwerbstätigkeit wird in der amtlichen Statistiknach dem sogenannten Erwerbskonzept dargestellt.Zunächst wird die Wohnbevölkerung in Erwerb-spersonen und Nichterwerbspersonen unterschie-den. Zu den Nichterwerbspersonen gehören alle,die aus Alters- oder sonstigen Gründen keine aufErwerb ausgerichtete Tätigkeiten ausüben odersuchen (Kinder, Schüler, Rentnerinnen und Rent-ner, Hausfrauen). Die Erwerbspersonen unter-scheiden sich dann nach Erwerbstätigen und Er-werbslosen. Die Erwerbsquote ist der Anteil derErwerbspersonen (Erwerbstätige und Erwerbslose)an der sich im Erwerbstätigenalter (15 -65 Jahre)befindenden Bevölkerungsgruppe.

Für die Veränderungen der Lebenslagen der Fami-lien ausländischer Herkunft ist aber die bereits inAbbildung V.1 erfolgte Darstellung, in welcher dieErwerbsbeteiligung nach dem Beschäftigungskon-zept abgebildet wurde, noch informativer als dieDarstellungen der Erwerbsquoten. An den beidenin die genannte Abbildung (V.1) eingezeichnetenKurven war zu sehen, dass in den Jahren der Zu-wanderung von 1955 bis heute die Anteile derausländischen Bevölkerung an der Wohnbevölke-rung Deutschlands ständig angestiegen sind bis abden 70er-Jahren aufgrund des Anwerbstopps unddes zunehmenden Familiennachzugs sowie derFlüchtlingsbewegungen die Anteile der ausländi-schen Wohnbevölkerung mit sozialversicherungs-

pflichtigen Beschäftigungen ständig abnehmen.Das heißt für die ausländischen Familien, wenigerErwerbspersonen mit Sozialversicherungspflichtmüssen mehr Nichterwerbspersonen und Arbeits-suchende unterhalten und für die Gesellschaft gilt,dass die Sozialversicherungsbeiträge der Ausländerzunehmend mehr auch von ausländischen Familienbeansprucht werden.

Wie Abbildung V.3 zeigt, ist die Erwerbsquote derausländischen Männer höher als die der deutschenMänner, doch nun gleicht sie sich zunehmend derErwerbsquote deutscher Männer an. Die angewor-benen ausländischen Arbeitskräfte waren überwie-gend junge Männer im Erwerbstätigenalter. Inzwi-schen hat sich die Alters- und Sozialstruktur dermännlichen ausländischen Bevölkerung der derDeutschen deutlich angenähert. Das heißt, es gibtjetzt zunehmend mehr männliche ausländischeNichterwerbspersonen unter der ausländischenWohnbevölkerung und zunehmend mehr Kinderund Jugendliche sowie Männer im Erwerbstätigen-alter in Schulen und Hochschulen, aber auch mehrÄltere, die früher in Rente gehen.

Bei den ausländischen Frauen haben wir das glei-che Bild (Abb. V.4), nur auf einem deutlich niedri-geren Niveau, allerdings lag hier die Erwerbsquoteder deutschen Frauen 1997 mit 4,2 % Punkten überder der ausländischen Frauen. Eine Erklärung dafür

Abbildung V.4: Erwerbsquoten* von ausländischen und deutschen Frauen 1975-1997

Alters- undSozialstrukturder ausländi-schen Bevöl-kerung gleichtsich der deut-schen an

20,0

25,0

30,0

35,0

40,0

45,0

50,0

*Anteil der Erwerbspersonen an der entsprechenden BevölkerungAusländerinnen Deutsche

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 145 – Drucksache 14/4357

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ergibt sich wohl aus den erschwerten Zugangs-chancen der ausländischen Frauen in den for-mellen Arbeitsmarkt, ihren größeren Familien, die zu versorgen sind, sowie der in manchen Fa-milien noch stärker verankerten Vorstellung, man sollte als Familienhausfrau nicht erwerbstätig sein. Vergleicht man die Entwicklung der Arbeitslosen-quote in Deutschland von 1980 bis 1997 insge-samt mit der Arbeitslosenquote der Ausländer (Abb. V.5), so ist deutlich zu erkennen, dass die

Ausländer – und das gilt für die Männer wie für die Frauen – inzwischen doppelt so stark von Arbeitslosigkeit betroffen sind als Deutsche. Arbeitslosigkeit ist für die Betroffenen nicht nur ein ökonomisches Problem, es bedeutet auch die Migrationsziele neu zu bestimmen. Arbeitslosigkeit bewirkt Selbständigkeit in Nischen insbesondere da, wo sich entsprechende ethnische Kolonien informelle Beschäftigungen und möglicherweise Integrationsbarrieren durch ethnische Segregation gebildet haben

Quelle: Bundesanstalt für Arbeit; Amtliche Nachrichten Im Folgenden greifen wir wieder auf die Daten der Sonderauswertung des Mikrozensus 1995 zurück und vergleichen die Erwerbsbeteiligung deutscher, bi-nationaler und ausländischer Ehepaare unterschied-licher Nationalität im früheren Bundesgebiet. Bei der Darstellung der Erwerbsbeteiligung werden die Erwerbspersonen – das sind die Arbeitenden und Ar-beitsuchenden – den Nichterwerbspersonen (Junge, Alte, Hausfrauen und Hausmänner und erwerbsun-fähige Kranke und Behinderte) gegenübergestellt. Aus der Tabelle V.5 ist abzulesen, dass in binatio-nalen Ehen, so die Frau eine Deutsche ist, in jeder zweiten Ehe beide Partner erwerbstätig sind, wäh-rend nur bei 30 von 100 ausländischen Ehepaaren dies der Fall ist. Auch zeigt sich bei dem Vergleich der Ehepaare, dass der Anteil der Erwerbslosigkeit beider Partner bzw. des oder der Alleinverdienen-den bei den ausländischen Ehepaaren deutlich über denen der deutschen und binationalen liegt.

Im Nationalitätenvergleich (Tab. V.6) finden wir bei den griechischen Ehepaaren die höchsten An-teile von Ehen, in denen beide Partner erwerbstätig sind, und die geringsten Anteile von Erwerbslosig-keit beider oder eines Partners. Umgekehrt ist das Bild bei den türkischen Ehepaaren. Fast die Hälfte der türkischen Ehepaare lebt von den Erwerbsein-kommen nur des Ehemannes und 9,1 % der türki-schen Ehepaare mit erwerbstätigem Ehemann sind arbeitslos gegenüber 3,2 % bei derselben griechi-schen Ehepaargruppe. Auch bei den Ehepaaren aus dem ehemaligen Jugoslawien zeigen sich unter-schiedliche Formen der Erwerbsbeteiligung. Grün-de dafür sind wohl in erster Linie die unterschiedli-chen Migrationsgeschichten und mit ihnen die Sozialstrukturen der Zuwanderergruppen aus Grie-chenland, dem ehemaligen Jugoslawien und der Türkei in den letzten 20 Jahren.

Ausländische Männer und Frauen von der Arbeitslosig-keit doppelt so stark betroffen

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5

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ent

Arbeitslosenquote insgesamt Arbeitslosenquote der Ausländer

Abbildung V.5: Arbeitslosenquoten 1980–1997

Im Nationalitätenvergleich: unterschied-liche Erwerbsbe-teiligung ausländischer Ehepaare

Drucksache 14/4357 – 146 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Tabelle V.5:Deutsche, binationale und ausländische Ehepaare nach der Beteiligung am Erwerbsleben– Früheres Bundesgebiet 1995

Binationale EhepaareDeutsche Mann Frau Ausländische

in 100 % der Ehen waren: Ehepaare deutsch deutsch EhepaareBeide Partner erwerbstätig 39,2 41,0 49,1 30,1Ehemann erwerbstätig/Ehefrau erwerbslos 2,5 6,5 4,1 4,4Ehemann erwerbstätig/Ehefrau Nichterwerbsperson 24,0 37,1 23,0 36,6Beide Partner erwerbslos 0,5 1,3 1,9 3,4Ehemann erwerbslos/Ehefrau erwerbstätig 1,4 2,9 6,4 4,3Ehemann erwerbslos/Ehefrau Nichterwerbsperson 1,4 2,6 2,9 7,0Beide Partner Nichterwerbspersonen 26,9 5,5 7,0 10,6Ehemann Nichterwerbsperson/Ehefrau erwerbstätig 3,6 2,5 5,1 3,1Ehemann Nichterwerbsperson/Ehefrau erwerbslos 0,5 0,5 0,6 0,6

Quelle: Roloff (1998, 18), Daten des Mikrozensus 1995

Tabelle V.6:Ausländische Ehepaare ausgewählter Staatsangehörigkeit nach der Beteiligung am Erwerbsleben –Früheres Bundesgebiet 1995

darunter aus ehemaliges

in 100 % der Ehen waren: EU-Staaten Griechenland Italien Jugoslawien Türkei

Beide Partner erwerbstätig 44,1 49,4 40,8 40,7 21,9Ehemann erwerbstätig/Ehefrau erwerbslos 4,1 4,7 4,0 4,3 4,1Ehemann erwerbstätig/Ehefrau Nichterwerbsperson 28,2 21,7 33,0 25,8 45,3Beide Partner erwerbslos 1,7 1,7 2,3 3,5 3,0Ehemann erwerbslos/Ehefrau erwerbstätig 4,0 6,5 3,7 4,5 4,7Ehemann erwerbslos/Ehefrau Nichterwerbsperson 3,4 3,2 4,7 4,1 9,1Beide Partner Nichterwerbspersonen 10,4 7,4 7,3 12,4 8,3Ehemann Nichterwerbsperson/Ehefrau erwerbstätig 3,3 4,3 3,6 4,1 3,0Ehemann Nichterwerbsperson/Ehefrau erwerbslos 0,8 1,1 0,7 0,6 0,7

Quelle: Roloff (1998, 18), Daten des Mikrozensus 1995

Aus einer Vielzahl von Analysen und Tabellenlässt sich für die uns interessierenden Fragen derErwerbsbeteiligung der Ehepaare und Mütter –unterschieden nach Deutschen und Ausländerinnen– folgendes Resümee ziehen. Wobei zu bedenkenist, dass bei dem Vergleich der Erwerbsbeteiligungvon ausländischen und deutschen Ehepaaren undAlleinerziehenden die ausländischen Mütter mehr-heitlich jünger sind und mehr und jüngere Kinderim Haushalt zu versorgen haben als die deutschen.

1. Unabhängig von im Haushalt zu versorgendenKindern und ihrem Alter hat die „Hausfrauen-ehe“ nur bei ausländischen Ehepaaren eine grö-ßere Bedeutung. Auch in binationalen Ehen mitdeutschem Ehemann sind die ausländischenEhefrauen noch häufiger Nichterwerbsperso-nen.

2. Wenn ausländische Mütter erwerbstätig sind –und das gilt auch für die Alleinerziehenden undausländische Ehefrauen ohne Kinder – sind sie

mehr als die deutsche Vergleichsgruppe inVollzeitjobs.

3. Der jeweilige Arbeitszeittyp steht im engenZusammenhang mit der Höhe des Einkommensder Ehemänner. Da mehr ausländische Ehefrau-en in Vollzeitjobs tätig sind als die deutschen,haben die deutschen Ehefrauen ein geringerespersönliches Nettoeinkommen als die ausländi-schen, dennoch ist das Haushaltsnettoeinkom-men der ausländischen Familien, aber beson-ders der ausländischen Alleinerziehenden deut-lich niedriger als das der deutschen Familien.

4. Das Bild, das diese wenigen Fakten zeigen,erinnert an die Nachkriegssituation in Deutsch-land bis in die 60er-Jahre in der die „Hausfrau-enehe“ in allen Schichten die größte Akzeptanzfand und nicht mehr nur die Lebensrealitätund/oder das Leitbild einer relativ schmalenBürgerschicht war. Für die hart arbeitendenzumeist ungelernten Frauen der breiten Grund-

Erwerbsbe-teiligung von

Ehepaarenund Müttern

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 147 – Drucksache 14/4357

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schicht in Landwirtschaft und Industrie war die Heirat und die damit verbundene Möglichkeit der Beendigung der Erwerbsarbeit ein Auf-stiegstraum. Das Drei-Phasen-Modell der Er-werbsbeteiligung von Frauen von Myrdal/Klein (1956) verweist dagegen auf Erwerbsbeteili-gung in drei Phasen, nämlich Erwerbstätigkeit vor der Ehe, dann Familientätigkeit und an-schließend wieder Einstieg in die volle Er-werbsarbeit. Für die deutschen Frauen war es damals noch kein Leitbild und es ist bis heute nur bedingt eines geworden. Ausländische Müt-ter realisieren es deutlicher, aber auch für sie ist aus guten Gründen das Leben als Familienhaus-frau noch ein möglicherweise erstrebenswertes Ziel oder auch ein harter familienbedingter Zwang für ein ganzes Leben.

5. Die am häufigsten genannten Gründe für die

Nicht-Erwerbstätigkeit von Frauen ausländi-scher Herkunft sind Haushalt und Betreuung von Kindern, Schulausbildung bzw. berufsvor-bereitende Maßnahmen. Bereits an dritter Stelle kommt Erfolglosigkeit bei der Stellensuche. 4 % hatten kein Interesse an der Erwerbstätig-keit und ebenfalls 4 % keinen finanziellen Be-darf an Erwerbseinkommen. Knapp 12 % be-gründeten die eigene Erwerbslosigkeit damit, dass sich der Ehemann oder die Eltern dagegen stellen würden (Hillmann 1998, 28).

6. Nicht viel anders wie bei deutschen Frauen

erfüllt die Erwerbstätigkeit auch bei den Aus-länderinnen zuerst die Funktion der Gewinnung von Unabhängigkeit, gefolgt von der Möglich-keit, einen finanziellen Beitrag zum Familien-einkommen leisten zu können. Genannt wird auch die Chance, über die Erwerbsarbeit außer-häusliche Kontakte sowie Sprach- und Hand-lungskompetenzen erwerben zu können.

7. Auch die Arbeitslosenquote ist bei den aus-ländischen Ehefrauen und besonders bei den ausländischen Alleinerziehenden sowie auch bei den ausländischen Ehemännern deutlich höher als bei den west- und ostdeutschen Frau-en und Männern. Während sie bei den deut-schen Ehefrauen doppelt so hoch ist wie bei ih-ren Ehemännern, sind bei den ausländischen Ehepaaren die Unterschiede zwischen Männern und Frauen geringfügig. Den höchsten Anteil an Arbeitslosen hatten 1995 türkische Ehefrau-en (20,3 %) und ausländische Alleinerziehende (20-30 %).

V.2.4 Struktur der Beschäftigung aus-

ländischer Frauen Insgesamt unterscheidet sich die Struktur der aus-ländischen Beschäftigten noch immer erheblich von der deutscher Erwerbstätiger. Die Struktur der Anwerbung, aber auch die Zunahme der Asylbe-rechtigten, die eine Eingliederung der Migranten am unteren Ende der beruflichen Hierarchie zur Folge hatte, war auch 1995 noch gut zu erkennen, dennoch hat sich die Beschäftigungsstruktur der ausländischen Beschäftigten zwischen 1984 und 1995 erheblich gewandelt (Tab. V.7). Insbesondere die zweite Generation war häufiger im Angestell-tenbereich beschäftigt. Deutsche Frauen sind zu 64,9 % Angestellte und zu 22,1 % Arbeiterinnen, ausländische Frauen sind zu 37,1 % Angestellte und zu 52,8 % Arbeiterinnen (Tab. V.8). Der Anteil der Frauen, die Selbständige sind, liegt bei deutschen wie bei ausländischen Frauen bei 5,7 %. Insgesamt sind 9,2 % der deutschen Erwerbsbevölkerung Selbständige, ge-folgt von 8,2 % der ausländischen Bevölkerung insgesamt. Die Arbeitsbelastungen von Männern und Frauen sind in der Regel als Arbeiter und Selbst-ständige besonders hoch.

Drucksache 14/4357 – 148 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Tabelle V.7:Deutsche und ausländische Erwerbstätige nach Stellung im Beruf 1984/89 und 1991/95

Ausländer Deutsche1 Ausländer Deutsche1

1984 1989 1984 1989 1991 1995 1991 1995Fallzahlen (N)

1.086 1.141 2.565 2.755 1.004 937 2.837 2.694

ProzentInsgesamtUngelernte Arbeiter 25 20 4 4 22 16 3 3Angelernte Arbeiter 45 44 12 12 40 39 11 8Facharbeiter 19 23 18 17 24 23 18 16Einfache Angestellte 4 3 10 9 3 8 5 11Mittlere/höhere Angestellte 3 6 33 37 8 10 43 41Selbständige 4 4 12 11 3 4 10 12

Zweite Generation2

Ungelernte Arbeiter 22 15 9 3 10 2 2 1Angelernte Arbeiter 25 35 11 14 33 25 14 8Facharbeiter 32 28 21 24 33 30 25 24Einfache Angestellte 14 7 18 11 7 16 4 14Mittlere/höhere Angestellte 5 15 29 37 15 26 43 43Selbständige 2 2 3 6 1 1 4 4

1. Der zu 100 % fehlende Wert entspricht dem Beamtenanteil.2. Ausländer, die eine deutsche Schule besucht haben und 1984 bzw. 1991 höchstens 25 Jahre alt sind. Für Deutsche: Die gleiche

Altersgruppe (16 bis 25 Jahre).

Quelle: Seifert (1997); Daten des SOEP

Tabelle V.8:Deutsche und ausländische Erwerbstätige nach Stellung im Beruf und Geschlecht 1994

Stellung im Beruf InsgesamtDeutsche

darunterFrauen

Insgesamt ausländi-sche Bevölkerung

darunterFrauen

Selbständige 9,2 % 5,7 % 8,2 % 5,7 %Mithelfende Familienangehörige 1,4 % 2,7 % 0,8 % 1,6 %Beamte 7,5 % 4,6 % - -Angestellte 48,5 % 64,9 % 22,9 % 37,1 %Arbeiter/innen 33,5 % 22,1 % 63,4 % 52,8 %Auszubildende in kaufmännisch/technischen Berufen 1,7 % 2,5 % 1,9 % 3,4 %

Auszubildende in gewerblichen Berufen 1,9 % 1,3 % 2,8 % 2,3 %

Quelle: Cornelson (1996); Daten des Mikrozensus

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 149 – Drucksache 14/4357

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Tabelle V.9: Berufsstatus der erwerbstätigen Ehemänner – Früheres Bundesgebiet 1995

Von 100 % der erwerbstätigen Ehemänner waren: Ehepaare

Selbständige Angestellte Arbeiter

* Deutsche 14,9 38,4 35,6 * Binationale Mann = deutsch/Frau = ausländisch 15,6 35,9 34,6 Frau = deutsch/Mann = ausländisch 14,7 29,1 48,7 * Ausländische 7,4 12,1 78,1 darunter beide Partner aus: * den EU-Staaten 12,3 12,5 73,2 dar. - aus Griechenland 14,2 7,5 71,0 - aus Italien 9,2 (5,5) 79,2 * dem ehem. Jugoslawien 4,7 5,9 84,9 * der Türkei 4,1 6,7 86,8

Bei Werten in Klammern lagen die Fallzahlen unter 50

Quelle: Roloff (1998, 30), Daten des Mikrozensus, 1995 So zeigt sich in der Sonderauswertung des Mikro-zensus 1995, dass der Berufsstatus der erwerbs-tätigen ausländischen Ehemänner sich deutlich von dem der deutschen Vergleichsgruppe unterscheidet (Tab. V.9). Während 15 % der Deutschen Selbstständige, 38 % Angestellte und 36 % Ar-

beiter sind, liegen die Vergleichszahlen bei den Ausländern bei 7 %, 12 % und 78 %. Die Griechen erreichen mit 14 % Selbständigen die höchsten Selbstständigen-Anteile bei den ausländischen Ehemännern. Die türkischen Ehemänner haben im Vergleich den höchsten Anteil von Arbeitern (87 %).

Tabelle V.10: Berufsstatus der erwerbstätigen Ehefrauen – Früheres Bundesgebiet 1995

Von 100 % der erwerbstätigen Ehefrauen waren: Ehepaare

Selbständige Angestellte Arbeiter * Deutsche 6,9 59,4 22,5 * Binationale Mann = deutsch/Frau = ausländisch 6,2 46,9 30,8 Frau = deutsch/Mann = ausländisch 8,6 54,2 24,7 * Ausländische 4,7 21,0 68,5 darunter beide Partner aus: * den EU-Staaten 5,9 21,2 65,7 dar. - aus Griechenland (6,9) 10,6 66,4 - aus Italien (4,8) 20,2 63,9 * dem ehem. Jugoslawien (2,3) 20,4 69,9 * der Türkei 3,5 12,4 77,1

Bei Werten in Klammern lagen die Fallzahlen unter 50

Quelle: Roloff (1998, 32), Daten des Mikrozensus

Drucksache 14/4357 – 150 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Der Berufsstatus der Ehefrauen unterscheidet sichvon dem der Ehemänner nur durch den bei 21 %liegenden deutlich höheren Anteil der Angestellten(Tab. V.10). Bei den deutschen Ehefrauen beträgtder Angestellten-Anteil allerdings 59,4 %. DiesesStrukturbild wiederholt sich bei den alleinerzie-henden erwerbstätigen ausländischen Müttern mitdem Unterschied, dass die Anteile der Selbständi-gen unter den Ausländerinnen auf 9 % und die derAngestellten auf 32 % steigt.

Selbständigkeit unterstützt durch mithelfende Fa-milien- und Verwandtschaftsmitglieder, ergänztdurch Sozialeinkommen und Erwerbseinkommenaus Teil- oder auch Vollzeitjobs und ein haus-haltsökonomischer familienwirtschaftlicher „Haus-kommunismus“, ist für nicht wenige Familienausländischer Herkunft zumindestens für die ersteund zweite Generation im Migrationsprojekt dieBasis für den materiellen Erfolg und die Entfaltungvon Wohlfahrt. Unterstützung finden derartigeFamilienwirtschaften in der ethnischen Communitybzw. der ethnischen Kolonie. Für am Arbeitsmarktnicht vermittelbare Jugendliche sind diese ethni-schen Familienwirtschaften nicht selten die einzigeChance, zu einem Erwerbseinkommen zu ge-langen.

V.2.5 Selbständigkeit im familienwirt-schaftlichen Kontext

Auf der Basis des Mikrozensus 1992 wurden208.000 ausländische Selbständige gezählt. Beigleichbleibenden Entwicklungstrends könnte sichdie Zahl im Jahr 2000 auf ca. 300.000 erhöhen.Begünstigt wird die Entscheidung zur Selbständig-keit durch eine längere Aufenthaltsdauer und gesi-cherte Aufenthaltsberechtigung, eine hohe Ar-beitslosigkeit, ein städtisches Umfeld und eineentsprechend große ethnische Kolonie. Die sekto-rale Struktur ist bestimmt durch das Gastgewerbe,gefolgt vom verarbeitenden Gewerbe und demEinzel- und Großhandel, aber auch durch Selbstän-digkeit im Dienstleistungssektor. Erschwert wirddie Selbständigkeit durch die Gewerbeordnungenund im Handwerk durch die Bedingung der Meis-terprüfung, erleichtert ist sie in gewerbeähnlichenBereichen und in der „Nischenökonomie“ sowiemit Angeboten für die eigenen Landsleute über„Ergänzungsökonomie“.

Es gibt darüber hinaus typische nationale Struktu-ren der ausländischen Selbständigen. Die Italiener,die mit den Griechen den höchsten Anteil anSelbstständigen haben, sind vor allem im Gastge-werbe als Selbständige erfolgreich tätig, währendtürkische Selbständige überproportional im Gemü-se-, Einzel- und Großhandel tätig sind, aber zu-nehmend auch in der Reisebranche und Gastrono-

mie. Die griechischen Selbständigen können sichkaum auf die vergleichsweise kleine ethnischeGruppe mit ihren Angeboten aus der Selbststän-digkeit stützen, sie sind primär im Gastgewerbeerfolgreich. Da sie von Arbeitslosigkeit wenigerbetroffen sind, hat Selbständigkeit für sie auch einegeringere Bedeutung im Vergleich zu den italieni-schen und türkischen Familien (von Loeffelholzu. a. 1994).

Für die ansässige Bevölkerung sind die Angeboteder „nischenökonomischen“ ausländischen Selb-ständigen im Wohnquartier in der Regel ein Ge-winn an Lebensqualität und kultureller Vielfalt.Dies gilt besonders für die Gastronomie sowie beieinfachen Dienstleistungsangeboten, insbesonderebei Wäsche und Bekleidung. Es gibt allerdingsauch eine unterschiedliche regionale Verteilung derausländischen Selbständigen, nicht zuletzt bedingtdurch die unterschiedlichen Chancen, einen sozial-versicherungspflichtigen Erwerbsarbeitsplatz zuerhalten. Selbständigkeit sollte nicht zuletzt imInteresse der Integration der großen und wachsen-den Zahl der ungelernten ausländischen Jugendli-chen, Älteren und Frauen gefördert werden, zumaldiese Kleinstunternehmen der Nachbarschafts-bildung in den Wohnquartieren dienen und demZusammenleben im Alltag in kultureller Vielfaltaußerordentlich förderlich sein können.

V.2.6 Erwerbschancen der zweiten Gene-ration

Bei den Erwerbstätigen der zweiten Generationwar der Beschäftigungsanteil im produzierendenGewerbe 1984 bereits deutlich niedriger als bei denausländischen Erwerbstätigen insgesamt. Zwi-schenzeitlich nahm der Anteil der im produzieren-den Gewerbe Beschäftigten zwar noch einmal zu,1995 lag er jedoch bei 45 % und somit unter demder Ausländer der zweiten Generation der Alters-gruppe zwischen 16 bis 25 Jahren insgesamt. ImVergleich zur ersten Generation gewann für diezweite Generation der Bereich der staatlichen undsozialen Dienste an Bedeutung (siehe Tab. V.7).

Die Arbeitsplätze der zweiten Generation sindwesentlich günstiger ausgestattet als die der Aus-länder aus den Anwerbeländern insgesamt. PositiveMerkmale sind hier in weit stärkerem Maße gege-ben als bei den ausländischen Beschäftigten insge-samt und auch negative Merkmale werden seltenerangegeben. Mitentscheiden können sie allerdingsweniger, was an dem Altersunterschied der Gene-rationen liegen dürfte. Als abwechslungsreichwurde die ausgeübte Tätigkeit von 52 % der zwei-ten Generation empfunden, im Vergleich zu 61 %der gleichaltrigen Deutschen. Körperlich schwereArbeit verrichtet die zweite Generation sogar selte-

Gewinn anLebensquali-tät im Wohn-quartierdurch auslän-dische Selb-ständige

ZunehmendePlatzierungder zweitenGeneration instaatlichenund sozialenDiensten

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 151 – Drucksache 14/4357

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ner als die entsprechende deutsche Altersgruppe.Das gilt auch für hohe nervliche Anspannung.

Obwohl sich die Einkommensschere zwischenausländischen und deutschen Erwerbstätigen nochetwas geöffnet hat, sie lag 1984 bei 84 % desdurchschnittlichen Verdienstes eines deutschenArbeitnehmers und erweiterte sich 1995 auf 80 %,haben sich die durchschnittlichen Einkünfte derzweiten Generation günstig entwickelt. Sie lagen1984 und 1989 in etwa auf dem Niveau der deut-schen Vergleichsgruppe und 1991 und 1995 nurgeringfügig darunter. Ausländische Frauen erziel-ten jeweils Einkünfte, die im Durchschnitt sowohlunter denen ausländischer Männer als auch deut-scher Frauen lagen. Ausländische Frauen sindüberproportional an Arbeitsplätzen tätig, die nurgeringe Qualifikationsanforderungen stellen undentsprechend niedrig entlohnt werden, allerdingsnicht selten deutlich höhere Leistungen erfordernals es sich in den Anforderungsprofilen nach Ein-stufungskriterien – zu meist nach gewerblich-männlichen Vorgaben bestimmt – zeigt. Das giltweitgehend für alle „typisch weiblichen“ Tätigkei-ten, aber insbesondere für solche in hauswirt-schaftlichen Diensten.

V.2.7 Der informelle Frauenarbeitsmarktund die gefragten „weiblichen“ Leis-tungen

Die überproportionale Beschäftigung der Migran-tinnen im sogenannten informellen Sektor kann nurbehauptet, aber schwer bewiesen werden. Aberauch unter den „geringfügig beschäftigten Auslän-dern“ sind gut zwei Drittel Ausländerinnen. Dieausländischen Frauen im formellen Sektor sind inden Beschäftigungsbereichen, Handel, Gesund-heits-/Veterinärwesen, Gaststätten und Beherber-gung sowie Reinigung und Körperpflege und je-weils in den unteren Stufen der Betriebshierarchiezu finden. Innerhalb des informellen Sektors sindweibliche Leistungen im Reproduktionsbereichgefragt – als Hausangestellte, Kinderfrauen, in derhäuslichen Kranken- und Altenpflege, Kleinstun-ternehmerinnen, aber auch im Unterhaltungssektorund der Prostitution.

Diese Frauenarbeitsmärkte sind vornehmlich imurbanen Raum von Bedeutung. So finden die selb-ständigen Kleinstunternehmerinnen ihr Klientelnicht zuletzt in der eigenen ethnischen Kolonie unddie Anbieterinnen von hauswirtschaftlichen Dien-sten ermöglichen den in den Arbeitsmarkt drän-genden gut ausgebildeten deutschen Frauen auchdie Chance, dieses zu tun. Diese Verknüpfung von„weiblicher Arbeitsteilung“ bei der Reproduktions-arbeit zwischen Migrantinnen und „bürgerlichen“deutschen Familien führt nicht selten zu familialen

Beziehungen und gegenseitigen Unterstützungssys-temen.

Über vorausgewanderte Verwandte, Freundinnenund Bekannte lassen sich migrationswillige FrauenArbeitsstellen und auch Ehemänner vermitteln.Dann kann Migration für die Frauen einen Karrie-resprung in der sozialen Hierarchie bedeuten. Auchist ihnen bewusst, dass ihnen in ihren Heimatlän-dern schwerlich bessere Alternativen zur Verfü-gung stehen. Nur so ist es verständlich, dass sie,selbst wenn sie unter extremen Ausbeutungsver-hältnissen in der Aufnahmegesellschaft leiden,darüber nicht oder nur selten klagen (vgl. Niesneru. a. 1997).

Frauen sind auf den typischen Frauenmärkten auchdem kriminellen „Frauenhandel“ ausgesetzt. Frau-enhandel ist eine ganz spezifisch geschlechtsbe-dingte Ausbeutungsform im Sexbusiness, bei Go-go-Tänzerinnen, aber auch im Rahmen vonZwangsehen. Da sich viele Frauen aufgrund vonZwangslagen in den Herkunftsmileus auch illegaleinschleusen lassen, sind sie besonders gefährdet,Gewalt und Ausbeutung ausgesetzt zu sein. Frau-enhäuser und speziell für Frauen eingerichteteBeratungsstellen sind unerlässlich und bedürfen derbesonderen frauenpolitischen Förderung. EineAusweisung in das Herkunftsmilieu kann eine nochgrößer Katastrophe für die ausländische Frau seinals eine angemessene Strafe für illegales Handelnin Deutschland.

V.3 Wohnversorgung der Familien aus-ländischer Herkunft und ihr Wohn-umfeld

Zu den existentiellen Grundbedürfnissen des Men-schen gehört die Wohnung in ihren unterschiedli-chen Wohnformen sowie das Lebensumfeld desWohnstandorts. Die Möglichkeit des Einzugs ineine Wohnung in der Aufnahmegesellschaft istdeshalb für den Zuwanderer die notwendige Vor-aussetzung für den Beginn des Migrations- oderRemigrationsprojekts. Wohnverhältnisse haben imUnterschied zu den existenziellen Mindestbedarfenan Ernährung und Bekleidung mit ihren mögli-cherweise gesundheitlichen Folgen darüber hinauswesentlichen Einfluss auf die Alltagskultur desfamilialen und sozial-kulturellen Zusammenlebensin den Familien und Nachbarschaften. Das giltinsbesondere für Lebensphasen, in denen die Fa-milien nur auf diesen an das Wohnen gebundenenLebensraum verwiesen sind, Erwerbsarbeit oderSchulbesuch nicht vorgesehen sind.

Der 65-jährige Bauer aus Sibirien, der durch einebürokratische Versorgungsmentalität direkt in einHochhaus in Freiburg versetzt wurde und jeden

Überpropor-tionaler Anteilvon ausländi-schen Frauen

im Niedrig-lohnbereichund im sog.informellen

Sektor

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Morgen die billigsten Arbeitsangebote sucht, umGeld für die „Heimreise“ nach Sibirien zu verdie-nen, ist sicher ein überspitzter Problemfall „über-forderter Nachbarschaften“ (Gesamtverband derWohnungswirtschaft 1998, 113). Er zeigt jedocheindringlich, dass eine dem deutschen Wohnstan-dard vergleichbare Wohnung in einer schönenStadt vielleicht doch eine Fehlentscheidung seinkann. Die Zuweisung von Aussiedlern und Flücht-lingen nach Quoten birgt bei ungeschickter büro-kratischer Handhabung derartige unsinnige Folgen.Doch die eigentlichen Probleme der „überfordertenNachbarschaften“ sind anderer Art (vgl. dazu Ka-pitel V.3.7 und V.3.8).

V.3.1 Wohnversorgung und Wohnungs-ausstattung der Familien ausländi-scher Herkunft im Vergleich

Die Wohnbedingungen der Ausländer in der Bun-desrepublik Deutschland können auf der Grundla-ge der Wohnungsstichprobe 1993 folgendermaßenskizziert werden (Kauth-Koshoorn u. a. 1998, 131;Statistisches Bundesamt 1996):

1. Der Anteil der ausländischen Haushalte mitfünf und mehr Personen hat sich seit 1985(27,4 %) auf 16,5 % stark verringert (deutscheHaushalte: 8,2 %). Bei Italienern und Griechenhat sich die Struktur derjenigen der Deutschen an-geglichen, während die Türken in überdurch-schnittlich großen Haushalten leben.

2. Die Wohnfläche ausländischer Hauptmieter-haushalte mit mehr als 2 Personen ist mit 66 m²nur geringfügig kleiner als bei vergleichbarendeutschen Haushalten (68 m2). AusländischeHaushalte verfügen im Mittel über 21 m² und1,0 Räume je Person, deutsche über 33 m² und1,8 Räume je Person.

3. 90 % der Ausländer (55 % der Deutschen)leben in Mietwohnungen, 6,5 % (43 %) sindEigentümer ihrer Wohnung oder ihres Eigen-heimes und 3,3 % (2 %) sind in Wohnheimenoder Gemeinschaftsunterkünften untergebracht.Polnische Vertragsarbeitnehmer und Saisonar-beiter wohnen zu einem großen Teil noch inGemeinschaftsunterkünften und teilen sich dortzu mehreren ein Zimmer.

4. Hinsichtlich der Wohnungsausstattung mitKüche und Bad/Dusche entsprechen die Woh-nungen weitgehend dem deutschen Standard.Allerdings sind nur 75 % (bei deutschen Haus-halten 90 %) mit einer Zentralheizung ausge-stattet.

5. Trotz der insgesamt schlechteren Wohnungs-versorgung (Fläche, Ausstattung) lag die durch-schnittliche Netto-Kaltmiete 1993 mit 9,82DM/m2 deutlich über dem Mietpreis der deut-schen Haushalte (8,56 DM/ m2). Dabei ist al-lerdings zu bedenken, dass sich eine längereWohndauer in geringerem Mietenniveau nie-derschlägt.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153 – Drucksache 14/4357

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Tabelle V.11: Angaben der Arbeitnehmerhaushalte deutscher, binationaler und ausländischer Ehepaare mit Kin-dern zu ihrem Wohnverhältnis

Binationale Ehepaare

Deutsche Bezugsperson: Bezugsperson: Ausländische

Ehepaare Deutsche/r Ausländer/in Ehepaare

Haushalte insgesamt davon waren (in %): – Eigentümerhaushalte – Hauptmieterhaushalte

14.469

64,7 35,1

276

47,5 52,5

229

38,9 60,7

290

20,0 79,3

Hauptmieterhaushalte davon lebten in Wohnungen mit (in %) – Bad, WC, Fernheizung – Bad, WC, Zentralheizung – Bad, WC Etagenheizung – Bad, WC, Ofenheizung

5.084

13,0 64,0 12,7 10,0

145

*

65,5 * *

139

*

56,8 18,7

*

230

12,2 42,6

* 33,5

Hauptmieterhaushalte mit Mietzahl davon mit monatlicher Miete (in %): – unter 500 DM – 500 b.u. 1000 DM – 1.000 b.u. 1400 DM – 1.400 DM u.m.

20,7 65,5 10,9

3,0

19,3 64,1

* *

20,4 67,2

* *

42,2 51,7

* *

Durchschittliche Miete - DM Mietbelastungsquote - %

708,99 10,0

765,25 11,2

721,08 11,9

585,90 10,1

* nicht repräsentativ

Quelle: Roloff (1998, 96), Daten der Gebäude- und Wohnungsstichprobe 1993 Tabelle V.11 zeigt, dass die ausländischen Ehe-paare mit Kindern zu 20 % bereits Wohneigen-tum bilden konnten, im Vergleich zu den deutschen Ehepaaren mit Kindern ist das natürlich wenig. Doch die ausländischen Ehe-paare mit Kindern sind jünger, haben mehr Kinder und leben mehrheitlich in industriellen Ballungsgebieten, in denen die Wohneigentums-bildung schwieriger und teuerer ist. Noch ist ihnen auch eine Wohneigentumsbildung durch Erbschaft in Deutschland kaum möglich.

Es bleibt die Schlussfolgerung gültig, dass auch ausländische Ehepaare mit Kindern deutlich

häufiger als binationale und deutsche Familien in schlechter ausgestatteten Wohnungen leben und die kinderreichen Familien – Haushalte mit drei oder mehr Kindern unter 18 Jahren mit einer deutschen Bezugsperson – über 23,5 m2 Wohn-fläche pro Kopf verfügen, während es bei entsprechenden Haushalten mit ausländischer Bezugsperson nur 14,5 m2 sind. So ist es nicht verwunderlich, dass sich ausländische Familien mit Kindern größere Wohnungen wünschen und ältere Ausländer gerne ihre Wohnung dann verkleinern möchten.

Drucksache 14/4357 – 154 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Tabelle V.12:Ausstattung mit ausgewählten langlebigen Gebrauchsgütern der Arbeitnehmerhaushalte derEhepaare mit Kindern

Binationale Ehepaare

Von 100 der Haushalte Deutsche Bezugsperson: Bezugsperson: Ausländische

besaßen: Ehepaare Deutsche/r Ausländer/in Ehepaare

Personenkraftwagen 97,6 92,0 96,9 91,0Fahrrad 96,8 93,5 94,3 74,1Unterhaltungselektronik:Fernsehgerät 97,9 94,9 96,5 98,3Videorecorder 70,0 66,3 69,4 79,0Videokamera 23,0 22,8 24,0 19,0Stereo-Rundfunkgerät 91,0 87,3 88,6 64,5Plattenspieler 72,3 73,6 69,0 46,9CD-Player 61,3 58,0 54,6 32,4Kassettenrecorder 74,4 74,6 70,3 62,1Radiorecorder 57,4 55,8 47,2 40,7Tonbandgerät 15,2 16,3 * *Heim-Personalcomputer 46,3 48,9 42,4 25,5Photoapparat 96,9 97,1 96,1 77,2Diaprojektor 45,4 43,8 35,4 13,4Haushaltsgeräte:Kühlschrank 77,8 71,0 66,4 65,2Gefrierschrank, -truhe 74,4 65,6 55,5 40,0Kühl-/Gefrierkombination 28,8 36,2 38,0 38,6Geschirrspülmaschine 71,7 58,3 57,6 31,7Grillgerät, elektrisches 24,3 22,5 20,1 15,2Mikrowellengerät 64,2 53,3 51,5 29,7Nähmaschine 75,6 72,5 68,6 62,4Bügelmaschine 13,9 9,4 * 10,7Waschmaschine 98,6 97,5 98,3 95,9Wäschetrockner 46,0 35,9 32,8 12,8Telefon 99,4 98,6 97,8 96,2

* Hier waren die Fallzahlen zu gering, um ausgewiesen zu werden.

Quelle: Roloff (1998, 93) Daten der Gebäude- und Wohnungsstichprobe 1993

Die Ausstattung mit Haushaltsgeräten und mitUnterhaltungselektronik der ausländischen Haus-halte mit Kindern zeigt (Tab. V.12), dass die prak-tisch notwendigen Geräte vorhanden sind, aller-dings sind die Ausstattungsgrade im Vergleich zuden deutschen Haushalten deutlich niedriger. Die-ses ist bei den sehr unterschiedlichen Phasen desMigrationsprojektes und damit der Lebenslagen derausländischen Familien auch nicht anders zu er-warten. Mit zunehmenden Integrationschancenkann sich dieses Bild schnell ändern.

Befragungen zur Zufriedenheit mit der Wohnungliegen nur punktuell vor. Die Aussagen zur Zufrie-denheit der älteren Ausländer 1996 in Hamburggeben einige verallgemeinerbare Hinweise (Kauth-Koshoorn 1998, 141): Etwa die Hälfte (43 %) allerBefragten war mit ihrer Wohnung zufrieden. Die

Bewertungen unterscheiden sich zwischen denNationalitäten erheblich. So waren Jugoslawen(30 %), Portugiesen (34 %) und Türken (38 %)weniger zufrieden, während jeweils die Hälfte derPolen und Iraner und sogar 77 % der Italiener sichzufrieden äußerten. Dabei ist offensichtlich dieAusstattung der Wohnung entscheidend, dennPolen, Iraner und Italiener leben in Hamburg inbesser ausgestatteten Wohnungen als Jugoslawen,Portugiesen und Türken. Als Mängel der Wohnungnannten die Befragten der Häufigkeit nach:

18 % zu laut bzw. zu hellhörig

17 % feuchte Wände

15 % Kälte in der Wohnung

12 % fehlende Badewanne

10 % undichte Fenster

7 % umständliche Heizung

6 % fehlende Dusche

3 % WC außerhalb.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 155 – Drucksache 14/4357

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Die häufigste Beanstandung betraf jedoch die Mie-te, die rund ein Viertel (26 %) aller Befragten für zu teuer hielt. Besonders häufig fanden dies die Türken (37 %), aber auch Portugiesen (24 %) und Jugoslawen (23 %), während dieser Anteil bei Polen und Iranern je 13 % und bei den Italienern 6 % betrug. 1997 erreichte der Anteil der Ausgaben für Wohnungsmieten am privaten Verbrauch beim Haushaltstyp I der laufenden Wirtschaftsrechnun-gen (Arbeiter-/ Angestelltenhaushalt mit zwei Kindern) 29,4 %. Ein Sozialhilfe- oder Rentner-haushalt mit zwei Personen hat für die gleichen Budget-Posten 38,5 % des privaten Verbrauchs aufgewandt. Rund ein Viertel der Befragten insge-samt beklagte, keine bessere Wohnung zu finden. V.3.2 Die Heterogenität der regionalen

Lebensumfelder für Familien aus-ländischer Herkunft

Die Wohngebiete der Ausländer sind in den Groß-städten zumeist gekennzeichnet durch ihre Nähe zu Industriegebieten, den (früheren) Arbeitsstätten der „Gastarbeiter“. Eine Hamburger Studie beschreibt, dass ältere Ausländer, vor allem aus den früheren Anwerbestaaten, großenteils noch in den industrie-nahen Stadtteilen leben. Ähnlich der älteren deut-schen Bevölkerung wohnen sie dort oft bereits sehr lange in derselben Mietwohnung. Dies sind oft auch Gebiete mit relativ überaltertem Baubestand. Bauliche und städtebauliche Nachteile werden aber großenteils durch niedrige Wohnkosten, gute Infra-strukturversorgung und Verkehrsanbindung und eine „funktionierende Nachbarschaft“ aufgewogen. Zum Teil verlässt die Generation der Kinder, nicht zuletzt aufgrund besserer deutscher Sprach-kenntnisse und einer – zumindest zeitweisen – Sozialisation in Deutschland, zunehmend diese „klassischen“ Ausländerstadtteile. In allen Ballungsräumen gibt es aber auch Stadttei-le, die infolge der Zuweisung in Belegrechts-Wohnungen einen hohen Ausländeranteil erhalten haben. Sie finden sich häufig in Schwerpunkten des sozialen Wohnungsbaus der letzten 20 Jahre und sind durch vergleichsweise moderne Wohnun-gen, nutzungsunfreundliche Wohnumfeldbedin-gungen, hohe Mieten, Randlage, hohe Umzugsmo-bilität, Mangel an wohnungsnahen Erwerbs-möglichkeiten und (damit) durch geringe soziale Integrationskraft gekennzeichnet. Ähnlich wie deutsche Familien versuchen finanziell besser gestellte Familien ausländischer Herkunft auf den preiswerteren Wohnungsmärkten im weiteren Stadtumland und im ländlichen Raum Wohneigen-tum zu erwerben. Regionalisierte Daten zur Woh-nungsversorgung liegen nicht vor. Die ausländische Bevölkerung ist wegen ihrer geringeren Einkommen stärker auf öffentliche

Infrastruktur angewiesen. Dies zeigt z. B. die Be-wertung der Anbindung der Wohnlagen an den öffentlichen Personennahverkehr. Das gezielte Aufsuchen von Nachbarschaften, wo bereits Ange-hörige der eigenen ethnischen Kultur leben, ent-spricht den anthropologischen Grundlagen mensch-lichen Siedelns. Entsprechend stark ist der Zuzug in Milieus von Verwandten, Gleichsprachigen, Gleichaltrigen usw. oder in Milieus mit gleichen Wertpräferenzen. Der Zuzug in fremde und unver-traute Milieus wird allgemein vermieden. Diese Siedlungsweise ermöglicht das Entstehen bzw. die Nutzung von funktionierenden ethnischen Netz-werken und Selbsthilfepotenzialen: So vollzieht sich beispielsweise die Integration auf dem Ar-beitsmarkt oft über kollektive Prozesse. Die Ein-bindung in soziale Netze einer ethnischen Commu-nity ist bei Ausländern u. a. auch eine wichtige Voraussetzung für die Integration in den Arbeits-markt. Auch die soziale Infrastruktur der Kinderbetreuung wird gezielt zur Verbesserung der Integrations-chancen der Kinder genutzt und Hilfe und Rat bei persönlichen Problemen suchen Ausländerinnen und Ausländer aller Ethnien zunächst bei Famili-enmitgliedern (56,3 %) und Freunden (49,3 %) der gleichen Nationalität. Deutsche Freunde und Freundinnen werden an dritter Stelle genannt (24,3 %) noch vor Behörden (19,9 %), Kollegen (13,2 %), Rechtsanwälten (9,4 %) und Beratungsstellen (9,3 %) (Mehrländer u.a. 1996, 337ff). Dies weist auf die Bedeutung der sozialen Nachbarschaften und Milieus für das Wohlbefinden dieser Men-schen hin.

V.3.3 Siedlungsstrukturen und Auslän-deranteile

Im Folgenden wird dargestellt, wie unterschiedlich die Lebensumfelder – und damit auch die Rahmen-bedingungen – für Ausländer in Deutschland sind. Die Prozesse der Integration sind zudem regional zeitverschoben zu sehen, so dass Ausländerpolitik sowohl von den strukturell unterschiedlichen Rah-menbedingungen des Lebensumfeldes ausgehen als auch die jeweilige Integrationsphase beachten muss (vgl. Kap. V.1.1). Das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) hat für die Zwecke der Regionalanalyse neun siedlungsstrukturelle Kreistypen erarbeitet, die anhand des Zentralitätsgrades der regionalen Zentren, deren Einwohnerzahl und der Einwohner-dichte definiert sind (Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung 1998, 5). Diese Kreistypen unter-scheiden sich zugleich auch hinsichtlich Arbeits-platzangebot, Strukturen des Wohnungsbestandes

Häufigste Beanstan-

dung: eine zu teure Miete

Wohngebiete der Ausländer

in der Nähe von Industrie-

gebieten

Wegen gerin-gerem Ein-kommen stärker auf öffentliche Infrastruktur angewiesen

Drucksache 14/4357 – 156 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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und des Infrastrukturangebots, sodass diese Kreis-typen als Grundlage einer regional differenzieren-den Sichtweise zur Beschreibung der unterschiedli-chen regionalen Lebensbedingungen der Ausländervon Nutzen sind.

58,1 % der Ausländer in der BundesrepublikDeutschland wohnen in Städten mit mehr als500.000 Einwohnern und weitere 21,7 % in Groß-städten zwischen 100.000 und 500.000 Einwohnern(Mehrländer u.a. 1996, 246). Der Anteil im ländli-chen Raum ist deutlich unterrepräsentiert. Dasausgeprägte Stadt-Land-Gefälle in der Verteilungder Ausländer spiegelt sich entsprechend in ihremAnteil an der Wohnbevölkerung (Tab. V.13) wider.

Tabelle V.13:Siedlungsstrukturelle Kreistypen und Auslän-deranteil 1995

Kreistyp Ausländeranteilin %

1 Kernstadt im Agglomerationsraum 15,0

2 Hochverdichteter Kreis imAgglomerationsraum

11,3

3 Verdichteter Kreis im Agglomerations-raum

6,5

4 Ländlicher Kreis im Agglomerationsraum 3,8

5 Kernstadt im verstädterten Raum 9,1

6 Verdichteter Kreis im verstädterten Raum 7,0

7 Ländlicher Kreis im verstädterten Raum 4,7

8 Ländlicher Kreis höherer Dichte imländlichen Raum

5,2

9 Ländlicher Kreis geringerer Dichte imländlichen Raum

2,8

Bundesrepublik Deutschland insgesamt 9,0

Quelle: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung(1998, 31f)

Die Unterschiede des Ausländeranteils zeigen großeÄhnlichkeit mit dem regionalen Gefälle in derEinwohnerdichte der Kreistypen: Je höher dieseDichte ist, desto höher ist auch der Ausländeranteil.Es hat unterschiedliche Zuwanderungsphasen und-motive gegeben, die sich in den ethnischen undsozialen Strukturen, in der Aufenthaltsdauer und inden räumlichen Ansiedlungsschwerpunkten unter-schieden.

V.3.4 Unterschiedliche regionale Lebens-umfelder für ausländische Familien– ein Beispiel

Die Strukturdaten aus dem Ausländerzentralregis-ter stehen nur auf der Ebene der Landkreise undkreisfreien Städte zur Verfügung. Zur Illustrationwerden im Folgenden die Lebensumfelder derAusländer am Beispiel der Städte und Kreisein dem Untersuchungskorridor LandeshauptstadtHannover - Landkreis Hannover - Landkreis Celle- Landkreis Uelzen - Landkreis Lüchow-Dannen-berg genauer betrachtet. Der Korridor bildet einStadt-Land-Profil in der Systematik der siedlungs-strukturellen Kreistypen der BBR ab. Die für dieWohnbedingungen kennzeichnenden sozialenMilieus werden allerdings erst bei kleinräumigerBetrachtung deutlich. In den Landkreisen müsstedeshalb nach Gemeinden und in den Städten nachStadtbezirken und Quartieren unterschieden wer-den. Vergleichbare Strukturdaten liegen auf dieserEbene nicht vor. Deshalb können die sozialräumli-chen Zusammenhänge nur durch Erkenntnisse ausRegionalstudien gestützt werden. Diese Darstel-lung zeigt sowohl die Möglichkeiten einer regionaldifferenzierenden Betrachtung als auch die Be-grenztheit des verfügbaren Materials.

In Hannover stieg der Ausländeranteil von 9,1 %im Jahr 1985 über 10,5 % in 1990 und 13,2 % in1994 auf 16,2 % am 31.12.1997 an (Niedersächsi-sches Landesamt für Statistik 1998). An der Spitzeder deutschen Großstädte steht Frankfurt a.M. miteinem Ausländeranteil von 29 %, gefolgt vonStuttgart (24 %) und München (23 %) (Statisti-sches Bundesamt 1995, 13). Im Verlauf der Zu-wanderungsprozesse haben sich in den Großstädteneinzelne Stadtteile, Quartiere oder Baublöcke zuethnischen Enklaven entwickelt (Kauth-Koshoornu. a.1998). Hannovers Stadtteil Wülferode zumBeispiel wies 1994 mit 2,3 % den niedrigsten undLinden-Süd mit 32,7 % den höchsten Ausländer-anteil auf. In einigen Baublöcken in HannoversStadtteilen Linden oder Stöcken z. B. finden sichheute Ausländeranteile von 80-90 % (Ansgar u. a.1998). Der Anstieg in der ausländischen Bevölke-rung erfolgte in Stöcken vor allem zwischen 1987und 1990. Seit 1990 ist der Rückgang der deut-schen Bevölkerung zu beobachten. Innerhalb desausländischen Bevölkerungsteils stellen die Türkenmit etwa 60 % die weitaus größte Nationalitäten-gruppe. Ihre Gesamtzahl stieg von 1987 bis 1990besonders stark, ist aber seitdem wieder deutlichgesunken. Einige Baublöcke, die überwiegend vonausländischer Bevölkerung bewohnt werden, habenden Charakter von Migranten-Communities erhal-ten.

Über dieHälfte derAusländerwohnen in

Städten mitmehr als

500.000 Ein-wohnern

EntwicklungeinzelnerStadtteile zuethnischenEnklaven

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 157 – Drucksache 14/4357

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Tabelle V.14:Lebensumfeld-Unterschiede im Untersuchungs-Korridor Hannover–Lüchow-Dannenberg

Merkmal des Lebensumfeldes

StadtHannover –Typ Kernstadtim Agglomera-tionsraum

LandkreisHannover –Typ Verdichte-ter Kreis imAgglomerati-onsraum

LandkreisCelle – TypLändlicherKreis höhererDichte imländlichenRaum

LandkreisUelzen – TypLändlicherKreis geringerDichte imländlichenRaum

Landkreis Lü-chow–Dannen-berg – TypLändlicherKreis geringerDichte imländlichenRaum 3)

Ausländer-Anteil 31.12.1997 in % der Einwohner 16,2 6,6 5,5 3,0 2,4

Anteil Ausländer 1997mit Aufenthaltsdauer

– unter 4 Jahre– über 10 Jahre

23,248,1

22,046,8

20,350,1

30,932,5

36,626,4

Anteil nach Staatsangehörigkeit in % aller Aus-länder (z. B.)– Türkei– Jugoslawien– Asiatische Staaten

29,28,0

15,0

30,610,313,3

48,35,85,5

17,516,121,7

10,920,720,4

Anteil nach Altersgruppen in % (z. B.)– 0-17 Jahre– 50 u. m. Jahre

22,218,5

27,316,3

31,314,8

27,812,0

30,111,5

Ausländer-Anteil an den Geburten 1997 19,9 9,8 8,0 6,0 5,0Allg. Fruchtbarkeitsziffer 1) Deutsche 43,4 49,6 52,4 52,1 48,1Allg. Fruchtbarkeitsziffer Ausländerinnen 46,3 57,7 63,3 73 73,3Binnenwanderungssaldo der Ausländer 1997 je1000 Ausländer

41 38 21 26 8

Ausländer-Anteil an den SVP-Beschäftigten1997 in %

8,0 6,6 4,3 1,8 1,6

Ausländer-Anteil an den SVP-Beschäftigtennach Wirtschaftsbereichen 1997 in % (z. B.)– Land-/Forstwirtschaft, Tierhaltung, Fischerei– Produzierendes Gewerbe– Handel und Verkehr

9,911,2

5,8

13,27,45,6

7,25,12,6

4,21,71,0

3,91,50,6

Arbeitslosenquoten der Ausländer 30.6.1998in %

31,9 21,0 25,9 26,5 34,2

Ausländer-Anteil an den Empfängern von Hilfezum Lebensunterhalt außerhalb vonEinrichtungen 1995 in % 2)

28,9 22,8 21,4 11,0 13,1

Ausländer-Anteil an den Schülern 1997 in % 21,2 9,2 8,2 4,1 2,9Ausländer-Anteil an den Schülern 1997 in %– Hauptschulen– Gymnasien

12,912,1

12,82,9

5,61,8

4,51,5

2,30,3

Abschlüsse der ausländischen Schulabgänger1997 in %– ohne Abschluss– mit Hauptschulabschluss– mit Realschulabschluss– mit Abitur, Fachabitur

10,021,647,315,9

19,030,632,8

8,2

22,849,018,3

2,5

25,822,635,5

9,7

30,830,823,115,4

Quelle: Niedersächsisches Landesamt für Statistik 1998

1) Zahl der Geburten / Zahl der 15-45-jährigen Frauen (in 1000)2) Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (1998, 87ff)3) z. T. sehr kleine %-Basis

Drucksache 14/4357 – 158 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Im Landkreis Hannover, dem suburbanen Umlandder Kernstadt, ist der Ausländeranteil mit 6,6 %bereits deutlich niedriger. Mit zunehmender Ent-fernung vom Oberzentrum sinkt er auf 2-3 % (Tab.V.14) ab. In den ländlichen Regionen stellen dieAusländer eine so kleine Gruppe dar, dass sich einspezielles soziales und kulturelles Ausländer-Milieu kaum entwickeln kann und sie bei ihrerIntegration Individualstrategien verfolgen müssen.Gelingt dies nicht erfolgreich, remigrieren dieseAusländer in großstädtische Wohnlagen, in denensie sich die Unterstützung in den Netzwerken derdortigen Ausländer-Kolonien holen.

Die Struktur der Ausländer in der LandeshauptstadtHannover und in anderen Großstädten wurde durchmehrere Zuwanderungsphasen geprägt. Dement-sprechend wohnen ältere Ausländer, die in denAnwerbephasen zwischen 1955 und 1973 nachDeutschland kamen und inzwischen mit ihren Fa-milien sesshaft geworden sind, in der Stadt. ZumBeispiel sind in Hannover 71,9 % der Spanier, 50,7% der Italiener sowie 48,7 % der Griechen längerals 20 Jahre in Deutschland. Daneben lebenFlüchtlinge aus der Türkei (13,8 % aller Türkenkamen in den letzten 4 Jahren) und aus Jugoslawi-en (allein 31,1 % sind vor 4-5 Jahren gekommen),sowie Flüchtlinge und Asylbewerber aus Osteuro-pa, Asien und Afrika mit großenteils noch kurzerAufenthaltszeit. Der Anteil der Ausländer mit einerAufenthaltsdauer über 10 Jahren (Tab. V.14) liegtin Stadt und Landkreis Hannover und im LandkreisCelle bei rd. 50 %. In den ländlichen Kreisen Uel-zen (32,5 %) und Lüchow-Dannenberg (26,4 %) ister deutlich geringer. Hier prägen – bei insgesamtwesentlich geringerer Zahl – die Ausländer mit we-niger als 4 Jahren Aufenthaltsdauer die Struktur.Eine genauere Betrachtung der Ausländer nachNationalität und Aufenthaltsdauer lässt auch imländlichen Raum regionale Schwerpunkte vonAusländergruppen, wie Vietnamesen, Kurden usw.und zeitliche Schwerpunkte, bzw. Anlässe derZuwanderung erkennen.

V.3.5 Sesshaftigkeit und Interesse anWohneigentum

Wegen der allgemeinen siedlungsstrukturellenUmfeldbedingungen ist zu vermuten, dass sich derWohneigentumsanteil zwischen den Siedlungsräu-men unterscheidet und in den Städten geringer istals in den ländlichen Regionen. Außerdem wächster mit der Möglichkeit der Selbständigkeit. Soerwerben griechische und türkische Gastronomenzunehmend Gebäude, in denen sie ein Lokal be-treiben (Topcu 1998, 16f).

Während die Arbeitsmigranten in den ersten Jahrender Migration hauptsächlich Immobilien in ihrenHeimatländern erwarben, entscheiden sich inzwi-schen nicht nur hier Heranwachsende für den Kaufeiner Wohnung oder eines Hauses in ihrer „Wahl-heimat“. Statistiken liegen nicht vor, da die Natio-nalität der Eigentümer in den Grundbüchern nichterfasst wird. Auch in diesem Bereich kann nur aufregionale Befragungsergebnisse zurückgegriffenwerden. Danach lebten in Deutschland 1996 ineigenen Wohnräumen:

9,8 % der Italiener

7,4 % der Griechen

6,4 % der Türken

4,4 % der Jugoslawen

In der Zusammenschau einzelner Regionalbefundesind Anzeichen einer Entwicklung zu erkennen: ImRaum Berlin z. B. verlässt nicht nur die deutscheBevölkerung Stadtteile mit sozialen Problemen,auch immer mehr ausländische Familien ziehen inEigenheime im Berliner Umland (Topcu 1998, 17).Im Landkreis Celle hat z. B. die Zahl der kurdi-schen Familien, die in der letzten Zeit Häuser er-worben hat, öffentliches Interesse auf sich gezo-gen. Wenn Ausländer Wohneigentum erwerben,erregt dies oft Neid, sodass viele dies lieber nichtnach außen deutlich werden lassen. Gute Gründesprechen jedoch für den Schritt ins Wohneigentum,wie auf Befragung berichtet wird:

– die Einschätzung, dass eine Rückkehr in dieHeimat unwahrscheinlich ist (z. B. bei Verfol-gung im Heimatland oder bei einer Entschei-dung für die „Wahlheimat“),

– Schwierigkeiten beim Mieten einer Wohnungund

– der mit dem Erwerb einer Immobilie verbunde-ne soziale Aufstieg.

Auch Befragungen zur Zufriedenheit mit der Woh-nungsumgebung in Hannover und Hamburg gebenHinweise auf die Wertschätzung bestimmter Aus-stattungsmerkmale der Wohnquartiere. In derHamburger Studie von 1996 überwiegt die Zufrie-denheit der älteren Ausländer mit ihrer Wohnsitua-tion (Kauth-Koshoorn u. a. 1998, 230): drei Viertelaller Befragten sind zufrieden (ein Viertel davonsogar sehr zufrieden), 15 % unzufrieden, 10 % sehrunzufrieden. Unterschieden nach Nationalitätenlagen die Anteile von „eher unzufrieden/sehr unzu-frieden" bei Portugiesen (8 %), Iranern (12 %) undPolen (14 %). Deutlich unzufriedener als derDurchschnitt zeigten sich die Italiener mit 22 %sowie die Jugoslawen (28 %) und Türken (33 %).Am häufigsten wurden positiv genannt:

Gute Infra-struktur undgute Nachbar-schaft sindwichtig

Zunehmen-der Erwerbvon Immobi-lien nicht nurim Her-kunftsland

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 159 – Drucksache 14/4357

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gute Verkehrsanbindung 55 %gute Beziehungen zur Nachbarschaft 53 %großes Angebot an Einkaufsmöglichkeiten 50 %viele Grünanlagen 49 %ruhige Lage (47 %) und wenig Verkehr 28 %gute medizinische Versorgung 44 %Nähe zu Freunden und Bekannten 34 %Nähe zu den Kindern 31 %Geschäfte mit Produkten aus der Heimat 31 %Nähe zu Kirche oder Moschee 24 %

V.3.6 Wohnumfeld und Infrastruktur

Interessant ist die bei der Befragung deutlich ge-wordene Bedeutung der Nahverkehrsanbindung,auf die viele Ausländer, die keine Fahrerlaubnishaben oder sich keinen Pkw leisten können oderwollen, angewiesen sind. Diese Befunde aus Ham-burg werden in der Tendenz durchwegs in denUntersuchungen in Hannover bestätigt (Rudolph/Schubert 1998). Auf die Bitte, die Qualität ihresStadtteils mit einer Schulnote zu bewerten, verga-ben die Haushalte Stöckens im Mittel die Note3,11. Die von den ausländischen Haushalten ver-gebene mittlere Note ist mit 3,09 nicht besser. Alsmit Abstand wichtigste Vorzüge des StadtteilsStöcken benannten sowohl deutsche als auch aus-ländische Haushalte die guten Verkehrsverbindun-gen und die guten Einkaufsmöglichkeiten. Einweiterer gemeinsam als positiv erachteter Faktor istdie Versorgung Stöckens mit Einrichtungen, wiesoziale Infrastruktur oder auch Kneipen und Kul-tur. Auffallend ist, dass sehr viel mehr Deutsche alsAusländer die Nähe von Grün- und Erholungs-flächen, dagegen sehr viel mehr Ausländer alsDeutsche angenehme Bewohner und Nachbarschaftals Vorzug des Stadtteils nannten. Auf der anderenSeite nannten 35 % der Deutschen und 18 % derAusländer „problematische Bewohner“ als Nach-teil des Stadtteils, und damit als wichtigsten Nega-tivfaktor. Weiterhin gaben 17 % der Ausländer,aber nur 6 % der Deutschen „schlechte Wohn-verhältnisse“ als Nachteil Stöckens an. Das Vor-handensein von „Geschäften mit Produkten aus derHeimat“ wird von Polen, Jugoslawen, Iranern undItalienern gleichermaßen selten als positiv genannt,wohingegen die Türken (47 %) und Portugiesen(60 %) dies wesentlich häufiger taten. Ähnlich istdie Verteilung bei der Antwort „Nähe zu Kircheoder Moschee“, die gut zwei Fünftel der Portugie-sen, ein Drittel der Türken und ein Viertel derPolen nannten, aber nur zwischen 4 % und 8 % derübrigen Nationalitäten.

Die Bedeutung der Infrastrukturen als ein wichti-ges Unterstützungssystem für die ausländischenHaushalte wird auch am Beispiel der Kindergarten-

nutzung deutlich: Obwohl der Wunsch nach Kin-derbetreuung bei ausländischen und deutschenFamilien in etwa gleich groß ist (96 % und 98 %),werden 3-6-jährige ausländische Kinder in geringe-rem Umfang regelmäßig in einer Kindertagesstätteoder von einer anderen Person betreut (79 % ge-genüber 90 %). Der Betreuungsanteil innerhalb derFamilie, durch Eltern und Großeltern ist deutlichhöher. Andererseits sind die in Anspruch genom-menen täglichen Betreuungszeiten deutlich längerals bei deutschen Familien. Auch wünschen sichmehr ausländische Eltern eine regelmäßige ganztä-gige Betreuung (34 % gegenüber 26 %). Dabeisteht weniger die Vereinbarkeit mit der Erwerbstä-tigkeit im Vordergrund – zumal knapp ein Drittelder ausländischen Mütter bzw. der Väter arbeitslosist. Die Begründung für die Inanspruchnahme derKinderbetreuungsangebote für 3-6 Jährige zeigt,dass diese von den ausländischen Eltern vor allemals ein Weg der Sprachförderung und in der Er-wartung einer Verbesserung der Bildungschancengenutzt werden (Werte der deutschen Vergleichs-gruppe in Klammern):

Sprachförderung 82 % (37 %)Gemeinschaftserfahrung 70 % (90 %)Förderung der Selbständigkeit 68 % (83 %)Vermittlung von Bildung,Wissen und Lernfähigkeit

66 % (60 %)

Finden von Spielkameraden 63 % (79 %)Erwerbstätigkeit der Eltern 34 % (56 %)

Eine ähnliche Motivlage zeigt sich auch hinsicht-lich der Nutzung der Kinderbetreuungsmöglich-keiten durch ausländische Kinder im Grund-schulalter (6-10-Jährige): Deutsche Eltern gebendurchgängig die Erwerbstätigkeit als Betreuungs-grund an (93 % gegenüber 58 %). Die ausländi-schen Familien nennen dagegen häufiger die Ver-mittlung von Bildung, Wissen und Lernfähigkeit(50 % gegenüber 29 %), Sprachförderung (51 %gegenüber 11 %) und Hilfe bei den Hausaufgaben(51 % gegenüber 29 %) als Gründe für die Hort-Betreuung. Die ausländischen Eltern waren mit denBetreuungsangeboten überdurchschnittlich zufrie-den.

Aus der Zusammenschau ergibt sich, dass die Inte-gration über Migranten-Communities durch einespezifische Ausstattung an sozialer und kulturellerInfrastruktur und an Versorgungsinfrastruktur be-günstigt wird, die sich die verschiedenen Auslän-dergruppen erfahrungsgemäß weitgehend aus eige-ner Kraft zu schaffen suchen. Kommunen könnenderen Entstehung unterstützen, indem sie – wie z.B. die Stadt Mannheim – bei der Suche nachGrundstücken für Moscheen, für ethnische Ein-kaufszentren oder Kulturtreffs helfen.

Kindergar-tenbesuch vorallem wegenSprachförde-rung

Drucksache 14/4357 – 160 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Wohnungsan-forderungen

an deutschenStandardsorientiert

Idealvorstel-lung einerparitätischenMischungskul-tur von Deut-schen undAusländernproblematisch

Zielgrup-penorientierteStadtent-wicklung

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161 – Drucksache 14/4357

V.3.7 Wohnwünsche von Ausländern und Wohnungsmärkte

In einer repräsentativen Umfrage unter Ausländerin-nen und Ausländern in Privathaushalten wurden die Anforderungen von Ausländerinnen und Ausländern an das Wohnen untersucht und subjektive Einschät-zungen zu Wohnbedürfnissen und Wohn-anforderungen erhoben, um den aktuellen Woh-nungsbedarf unter der städtischen Ausländerbevöl-kerung festzustellen und daraus zielgruppenspezifi-sche Angebote des Wohnungsunternehmens abzulei-ten (Schubert 1996). Mehrheitlich sind die Auslän-derinnen und Ausländer in Hannover gut mit Wohn-raum versorgt. Dies wird allerdings durch die älteren Ausländer verursacht, deren Kinder bereits den Haushalt verlassen haben. Türkische Haushalte und insbesondere Ausländerhaushalte mit Kindern haben im Durchschnitt weniger als 1 Raum pro Haus-haltsmitglied zur Verfügung. Das Potenzial der wohnungssuchenden Ausländer betrug in Hannover im März 1996 rund 20 % bis 25 %. Ein Viertel er-klärte, einen Wohnungsauszug zu beabsichtigen und zu planen; ein Fünftel der befragten Ausländerinnen und Ausländer sucht aktiv eine andere Wohnung. Ein Drittel der Wohnungssuchenden sind ledige Ausländer, die in der neuen Wohnung mit dem/r Partner/in zusammenziehen und eine Familie grün-den wollen (30 %). Der größte Teil sind aber verhei-ratete Ausländer, die entweder nach der Familien-phase eine kleinere Wohnung oder mit der Familie eine größere Wohnung suchen (61 %). Etwa ein Fünftel möchte die Raumanzahl verringern und braucht nicht mehr so viel Wohnfläche, wie die jetzige Wohnung hat. Unter den wohnungssuchen-den und umzugsbereiten Ausländerinnen und Aus-länder sind vor allem 20- bis 39-jährige Personen vertreten. Sie befinden sich in der Familiengrün-dungs- sowie vor der familiären Wachstumsphase. Die Wohnungsanforderungen dieses Personenkrei-ses sind überwiegend an deutschen Standards der Grundrissorganisation orientiert. Lediglich eine große Wohnküche mit integriertem Essplatz wird als Sondervotum sehr häufig in Abgrenzung von der kleinen Küche mit angrenzendem Essraum genannt. Sie stellt allerdings das einzige Element traditioneller ethnischer Wohnmuster dar, das sich in der Umfrage als quantitativ bedeutsam heraus-gestellt hat. Aspekten wie einem Gemeinschafts-raum im Wohnhaus oder einem Allraum als Alter-native zum Wohnzimmer stehen überwiegend jüngere, in Deutschland geborene oder zumindest aufgewachsene Ausländerinnen und Ausländer positiv gegenüber. Unter der Mehrheit der älteren Ausländer herrschen demgegenüber eher konserva-tive Wohnvorstellungen. Dem ethnisch segregierten Wohnen wird eine Ab-sage erteilt, aber auch das Einmischen einzelner

Ausländerhaushalte in Häuser mit klaren deutschen Mehrheiten findet kaum Zustimmung. Statt dessen dominiert die Idealvorstellung einer paritätischen Mischungsstruktur von Deutschen und Ausländern der eigenen Nationalität. Die internationale Mi-schung mehrerer Ausländerkulturen mit der deut-schen Wohnkultur in der Nachbarschaft wird posi-tiv aufgenommen. Beim Nachfragen, welche Nati-onen als Nachbarn gewünscht werden, zeigt sich ein eurozentrierter Blickwinkel. Darin spiegelt sich, dass nicht nur die deutsche, sondern auch die Ausländerbevölkerung wenig Kontakt mit fremden Kulturen hat. Religion ist kein zentrales und bedeu-tendes Merkmal zur inhaltlichen Programmierung des Wohnens. Nur eine Minderheit legt Wert dar-auf, dass in der Nachbarschaft Menschen mit dem-selben religiösen Glauben und denselben Riten sowie Gebräuchen wohnen. Hoch bewertet wird hingegen die Nähe zu Verwandten. Die Pflege familiärer Netzwerke spielt bei der Wohnstandort-wahl eine zentrale Rolle.

Gegenwärtig haben viele Ausländergruppen am Wohnungsmarkt noch Probleme, sich angemessen zu versorgen. Denn im Wohnungs- und Städtebau gibt es noch keine Angebote, die auf diese Nach-frager zugeschnitten wurden. Die Wohnungswirt-schaft muss deshalb geeignete Angebote entwi-ckeln, die die erwartbare Sesshaftigkeit, das wach-sende ethnische Selbstbewusstsein und das Zu-sammengehörigkeitsgefühl ethnischer Gruppen aufnehmen. Dies kann längerfristig zu Siedlungs-einheiten führen, in denen Ausländer und deren Folgehaushalte über Generationen neben deutschen Haushalten eine gleichwertige Rolle spielen werden. Integrationsmodelle im Neubau der Stadtentwick-lung erfordern ein Marketing, das die Zielgruppen in der „eigenen“ Sprache, mit Symbolen der „eige-nen“ Kultur und mit anforderungsgerechten Ange-boten anspricht. Deutsche Bauträger und Immobi-lienfirmen haben in diesem Marketingbereich bis-her keine Erfahrungen sammeln können. Es ist deshalb erforderlich, in Pilotvorhaben zu erproben, in welcher Weise sich multikulturelles Marketing von reinen Einheimischenmodellen unterscheiden muss, inwieweit bereits durch die Vermarktungs-form und das Corporate Design für ein internatio-nales Wohnvorhaben Integrationseffekte erzielt werden können. Beim Wohnstandortverhalten von Ausländerhaus-halten gibt es räumliche Bündelungseffekte. Sie verteilen sich nicht dispers im Siedlungsgefüge, sondern bevorzugen Standorte, an denen gleich-sprachige Pionierhaushalte bereits sesshaft gewor-den sind. Unter türkischen Migranten ist dazu das Sprichwort verbreitet: „Man kauft keine Wohnung,

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man kauft Nachbarn.“ Die Sesshaftigkeit und ge-wachsene Investitionsbereitschaft der früheren undmittlerweile etablierten Ausländergruppen kann zueigenständigen Integrationsmilieus führen. Ord-nungsrechtlich, sozialpolitisch und städtebaulichwurden die Ausländerströme des vergangenenJahrzehnts überwiegend als Problem- und Rand-gruppe behandelt. Insbesondere auf dem Mietwoh-nungsmarkt bilden Ausländer eine vernachlässigteRestgröße. Stigmatisierungseffekte sind die Folge,weil bisher Strategien fehlten, sie im Rahmen vonWohnungsteilmärkten gesellschaftlich zu integrie-ren. In der Stadterneuerung und in der Stadterwei-terung wurden diese Rahmenbedingungen bishernicht berücksichtigt. Es geht darum, diese Poten-ziale für die Stadtentwicklung aufzugreifen und ineinem gleichberechtigten Nebeneinander von deut-scher und nicht-deutscher Bevölkerung zu Integra-tionsmodellen weiterzuentwickeln.

Für viele Ausländergruppen gehört zur räumlichenIntegration, dass es auch Freiräume zur Traditi-onspflege gibt. Es wird gewünscht, dass die Kinderin selbstorganisierten zweisprachigen Kinderbe-treuungseinrichtungen aufwachsen und dass dieJugendlichen sowie Erwachsenen im Wohnumfelddie Gelegenheit haben, Traditionen der Herkunfts-kultur zu pflegen. Eine hinreichende räumlicheIntegration setzt voraus, dass im Wohnalltag eineBalance zwischen der deutschen und der eigenenKultur aufrechterhalten werden kann. Vor diesemHintergrund sind nutzungsneutrale Wohnergän-zungseinrichtungen im Wohnungs- und Städtebauvorzuhalten.

V.3.8 Konzepte zur Wohnintegration vonAusländern

Die Situation der ethnischen Bevölkerung inDeutschland ist von einem Minoritätenstatus ge-prägt. Eine Untersuchung über Amerikaner inBamberg macht deutlich, dass ethnische Bevölke-rungen hier nicht Teil eines Mosaiks sind, sondernals Minoritäten Segregations- und Integrationspro-blemen gegenüberstehen (Krippner u. a. 1987).Noch schärfer stellt sich die Minoritätensituationbei Flüchtlingen dar, die in Deutschland vom Asyl-recht Gebrauch machen. Die staatliche Zuweisungvon Wohnraum ist ein Indiz von misslungenerIntegration, insbesondere wenn der Wohnstandortvon einer abseits gelegenen Großunterkunft reprä-sentiert wird (Omairi 1991).

Den Wohnverhältnissen von Ausländern inDeutschland wird in der Literatur viel Aufmerk-samkeit geschenkt. Allerdings werden sie dabei imAllgemeinen als benachteiligte und problemindu-zierende Bevölkerungsgruppe wahrgenommen(Reimann/Reimann 1987; Flade/Guder 1988;

Wiese-von-Ofen 1994). Normalisierungsansätze,die bei den Ausländern eigenständige und inte-grierte Wohnformen des Übergangs wahrnehmen,sind nicht vertreten. Immer wieder ist die grund-sätzliche Annahme zu finden, dass segregiertesWohnen als ein Indikator für eine mangelnde Inte-gration zu bewerten ist. Dass dies auch der Aus-druck von funktionierenden ethnischen Netzwer-ken und Selbsthilfepotenzialen in einem längerfris-tigen Integrationsprozess darstellt, bleibt hinterder stigmatisierenden Benachteiligungsperspektiveverdeckt. Das Profil liest sich entsprechend folgen-dermaßen: Ausländer, die aus anderen Nationennach Deutschland gekommen sind, wohnen über-wiegend

– in Wohngebieten und Häusern, die sich in ei-nem schlechten baulichen Zustand befinden;

– in älteren Wohnungen, die schlechter ausge-stattet sind und die oftmals erneuerungsbedürf-tig sind;

– in Stadtgebieten, deren soziales Image negativist (Eichener 1990).

Solche Analysen haben die Einwanderer-Generationen im Blick, die mit großen Familien inrelativ kleine und preiswerte Wohnungen gezogensind und als Zwischen- oder Restnutzer in sonstkaum noch zu vermietendem Wohnraum von Sa-nierungs- und Sanierungserwartungsgebieten lie-gen. Als eines der zentralen Probleme wird dabeidie Wohnstandortsegregation von Ausländerhaus-halten bewertet. Segregation bedeutet in diesemZusammenhang: die soziale Bündelung einer so-zialen Gruppe innerhalb eines Gebietes (IRB1992).

Um von einer generalisierenden ProblemsichtAbstand nehmen zu können, wird es in Zukunftunbedingt notwendig, Ausländer nach den Zuwan-derungszeitpunkten zu differenzieren. Eine ein-heitliche Behandlung des Wohnens von Auslän-dern, die in den 60er-Jahren nach Deutschlandgekommen sind und die erst in den 90er-JahrenFuß zu fassen begannen, ist heute nicht mehr zuläs-sig. Die Umfragen der Bundesforschungsanstalt fürLandeskunde undRaumordnung zeigen in denletzten Jahren eine zunehmende Bereitschaft unterder deutschen Bevölkerung, die Integration derausländischen Familien zuzulassen und zu unter-stützen. Im Jahr 1993 sprachen sich in West-deutschland 60 % für eine Integration der ausländi-schen Bevölkerung aus und nur 11 % plädierten füreine Segregation. Die Einstellungen werden vonden Erfahrungen geprägt, die man mit Ausländernin der Nachbarschaft macht. Denn deutsche Be-fragte aus Wohngebieten, in denen auch Auslände-rinnen und Ausländer leben, befürworten zu 70 %

ZunehmendeBereitschaftder deutschenBevölkerung,die Integrati-on der auslän-dischen Be-völkerung zuunterstützen

Drucksache 14/4357 – 162 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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eine Integrationsstrategie. Und wenn unmittelbareNachbarschaftskontakte zu Ausländern bestehen,wünschen sogar 73 % Integration statt Segregation.In den innerstädtischen Wohngebieten haben nahe-zu 80 % der Bevölkerung mit ausländischen Nach-barn diese Einstellung. Daraus kann gefolgert wer-den, dass durch das Zusammenleben von Deut-schen und Ausländern in einem Wohnquartier einintegrationsförderndes Milieu entsteht. Das gegen-seitige Wahrnehmen und die gemeinsamen Kon-takte fördern eine Integrationsneigung (Böltken1994, 335 ff).

Aus der Sicht der Ausländerbevölkerung stellt sichdie Lage etwas anders dar. Nach Umfragedaten ausden Jahren 1993 sorgen sie sich insbesondere we-gen einer erhöhten Ausländerfeindlichkeit. Insbe-sondere unter Türken hat sich der Anteil von 25 %im Jahr 1991 auf 65 % im Jahr 1993 erhöht, derAusländerfeindlichkeit als größte Sorge sieht. Beianderen Ausländergruppen hat sich der Anteilverdoppelt, der angibt, von Ausländerfeindlichkeitbetroffen zu sein.

Solche Befürchtungen müssen auf das politischeKlima in den ersten Jahren nach der deutschenEinheit zurückgeführt werden. Denn ein Drittel derausländischen Bevölkerung bewertet das Verhält-nis zu deutschen Nachbarn als sehr gut, rund 60 %als normal und nur ein geringer Teil von etwa 5 %hat reale Konflikte. Insofern kann von einem weit-gehend normalisierten Verhältnis von Deutschenund Ausländern im Wohnumfeld ausgegangenwerden. Folglich plädierten im Jahr 1993 auch77 % der befragten Ausländer für eine Integrationim Wohnbereich. Andererseits ist ein Potenzial vonetwa 10 % festzustellen, die sich für das Modellder Segregation aussprechen. Dies gilt insbesonde-re für Türken und Griechen (Böltken 1994, 356ff).

Der Wohnbereich ist ein zentrales Instrument derIntegration von Ausländern. In den 70er- und frü-hen 80er-Jahren wurde darunter häufig die einseiti-ge Übernahme des Wertesystems der deutschenGesellschaft verstanden. Eine pluralistische Inte-gration überlässt es dagegen der freien Entschei-dung der Haushalte, ob sie durchmischt oder se-gregiert wohnen wollen. Dies erlaubt den Familienausländischer Herkunft weit mehr, ihre besonderenBedürfnisse zu befriedigen und ihre Eigenständig-keiten zu bewahren. Ein solches Modell folgt demPrinzip, dass die unterschiedlichen ethnischenMilieus in der Koexistenz und im direkten Aus-tausch neue Entwicklungspotenziale freisetzen: Wokein Austausch und keine Akzeptanz der persönli-chen Besonderheiten ist, kann auch keine Integrati-on stattfinden. Ein solches Integrationsmodell legtein Überdenken der Wohnintegration durch dieBefolgung bestimmter Mischungsproportionen unddie Förderung integrierter Wohnprojekte nahe.

„Integration durch Mischungsproportionen“ alsLeitbild der Wohnintegration von Ausländern liegtder Gedanke der störungs- und konfliktfreien Ein-mischung von Migranten in deutsche Wohnhäuserund Wohnviertel zugrunde. Nach diesem Ver-ständnis sind bereits einzelne Häuser, in denenüberwiegend ausländische Familien wohnen, als„kleines Ghetto“ zu bezeichnen (Eichener 1988,352). Ausländer besitzen demzufolge einen „Au-ßenseiterstatus“, der durch eine Wohnstandortse-gregation gefestigt werde, und Einheimische fühl-ten sich in Nachbarschaften mit hohen Ausländer-anteilen in ihrer alltäglichen Lebensweise und inihrem Status bedroht. Es wird darauf verwiesen,dass Ausländerkonzentrationen Konkurrenzen zwi-schen den Bevölkerungsgruppen verursachen, diein der Form von Auseinandersetzungen um diekulturelle Prägung in den Infrastruktureinrichtun-gen und im Wohnumfeld stattfänden. Das Integra-tionsmodell der Mischungsproportionen orientiertsich somit an einem Typus von Wohnquartier, dasvon einer Mehrheitskultur und nicht pluralistischgeprägt wird. Danach existieren „günstige Einglie-derungsbedingungen“ in Nachbarschaften mit ge-ringem bis mittlerem Ausländeranteil. Bezogen aufdie Nachbarschaftseinheit „Straße“ wurde der Mi-schungsanteil auf max. 10 % bis 15 % Ausländer-familien festgesetzt; pro Haus dürfe ein Anteil von25 % bis 33 % nicht überschritten werden. AlsVorteile dieses Mischungsansatzes werden ge-nannt:

– bessere Chancen für Ausländer, Kontakte zueinheimischen Nachbarn zu knüpfen;

– hinreichende Möglichkeiten für Deutsche, zuMigranten Kontakt zu finden, ohne dass Kon-kurrenzen und Konflikte zwischen den beidenBewohnergruppen auftreten.

Sobald der Ausländeranteil die Grenzen der Mi-schungsproportion überschreite, beginne ein nichtmehr aufzuhaltender, irreversibler Sukzessionspro-zess. Wenn die Mischungsbalance nicht mehr ge-halten werden könne, seien die Abwanderung deut-scher Familien und ein rasch ansteigender Auslän-deranteil die Folge. Dahinter steckt die Strategieeiner Vermeidung „räumlicher Segregation“(Friedrichs 1995; 1995a; Krätke 1995), wenn sichsoziale Gruppen räumlich nicht gleichmäßig imStadtgebiet oder in der Region verteilen, sondernsich in wenigen Teilgebieten konzentrieren(Schubert 1996a). In den westdeutschen Großstäd-ten wurden typische Segregationsmuster empirischnachgewiesen: Ethnische Bevölkerungsgruppenbilden in wenigen Teilgebieten der Kernstädteräumliche Klumpungen. Nach dem sozioökonomi-schen Status verteilt sich die Bevölkerung sektoral,und diese Sektoren reichen deutlich in das Umlandhinein. Haushalte unterschiedlichen Alters und mit

Sorge beiausländischen

Familienwegen

erhöhterAusländer-

feindlichkeit

Der Wohnbe-reich alszentrales

Instrumentder Integrati-

on

Integrations-modell derMischungs-proportionen

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 163 – Drucksache 14/4357

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unterschiedlicher Stellung im Familienzyklusstreuen in Ringzonen um die Zentren.

Dem Ziel, räumliche Bündelungen von Ausländernzu vermeiden, stehen die individuellen Wünscheder Migranten entgegen, unter ihresgleichen zuleben: Etwa der Hälfte der Ausländer ist es wichtig,Landsleute im Haus zu haben, und rund zwei Drit-teln ist es wichtig, Landsleute in der näheren Um-gebung zu wissen (Österreichisches Institut fürBerufsbildungsforschung 1989, 627f). Ausländer(ebenso wie Einheimische) präferieren somitWohngegenden, die den Kontakt mit Landsleutenermöglichen. Dies darf aber nicht als Absage an einZusammenwohnen mit Bürgerinnen und Bürgerndes Zuwanderungslandes missverstanden werden.Denn die genannten Untersuchungen bestätigenauch, dass in der Nachbarschaft der Kontakt zuNichtmigranten gepflegt wird.

Es ist ein besonderes Kennzeichen, dass das Inte-grationsmodell der Mischungsproportion die Aus-länderbevölkerung ausschließlich als deklassierteUnterschichtsbevölkerung wahrnimmt. Als zentra-ler Grund für die Entstehung sozialer Konfliktegelten Unterschiede im alltäglichen Verhalten derEinheimischen und der Ausländer. Die fremdenVerhaltenstraditionen und Kulturmuster werdenvon deutschen Unterschichts-, aber auch Mittel-schichtsangehörigen genutzt, Statusunterschiedezwischen etablierten Einheimischen und den Mi-granten als Außenseiter zu vertiefen und das Imagedes Wohnquartiers ruf- und identifikationsschädi-gend zu beeinträchtigen. Aber mit dem vermeint-lich vorbeugenden Modell der prozentualen Ziel-mischung wird der Widerspruch zu einer men-schenwürdigen Integration nur vertieft, denn Aus-länder/innen werden wie Schadstoffe behandelt, fürdie Obergrenzen festzulegen sind.

Solche Vorstellungen werden der tatsächlichenVielfalt in den Familien ausländischer Herkunft inkeiner Weise gerecht. Gerade in den 80er- und90er-Jahren haben sich soziale Differenzierungs-und Etablierungsprozesse innerhalb der Migran-tenbevölkerung vollzogen. So bilden Migrantenheute einen festen Bestandteil der Studentenbevöl-kerung sowie der lokalen Kulturszenen, weisendurch eine eigene Selbständigenwirtschaft vonHändlern und Handwerkern einen gewachsenenMittelstand auf und sind zunehmend auch unterden Freiberuflern wie Ärzten, Architekten undIngenieuren zu finden. Darauf geht das Modell derMischungsproportionen nicht ein. Im Modell istder Regelfall ein benachteiligter Migrantenhaus-halt, der kommunale „Eingliederungsmaßnahmen“wie die Belegung von Sozialwohnungen erfordert,während etablierte Migrantenhaushalte, die ihre

Wohnbedürfnisse aus eigenen monetären Kräftenerfüllen und mit eigenen Vorstellungen gestaltenkönnen, darin keinen Platz haben. Untersuchungenin einem Sanierungsgebiet in Kempten im Jahr1988 unterstreichen das, denn die ausländischenHaushalte verfügten dort über ein höheres Ein-kommen als die Deutschen (Gunderlach u. a.1989). Insofern bestehen günstige Chancen, dassdie Integration von Migranten unabhängig vonihrem Anteil im Haus und im Wohngebiet erfolgt,dass das Merkmal Herkunft von Nachbarn relativneutral bewertet wird.

In einem pluralistischen Integrationsmodell hat derWohnbereich die Funktion, unterschiedliche Mi-grantengruppen und verschiedene deutsche Haus-haltsformen ohne mengenmäßige Quotierung ineiner vielfältigen Nachbarschaft zu integrieren,ohne dass einzelne Bewohnergruppen ihre Eigen-ständigkeiten aufgeben müssen. Die Pflege derHerkunftskultur im Wohnbereich wird als wichti-ger Beitrag zur Wahrung der Identität verstanden.Wenn der Bezug zum Heimatland bewahrt werdenkann, wird auch die Rückkehrfähigkeit gestärktbzw. die Entscheidungsfreiheit über eine spätereRückkehr. In dieser Sichtweise werden Migrantennicht in der allgemeinen Proportion zu einhei-mischen Deutschen wahrgenommen, sondern alsbunte Mischung verschiedener Nationen und Eth-nien mit einer eigenständigen Identität. Dasselbegilt aber auch für unterschiedliche Lebensstiledeutscher Haushalte, seien es nichteheliche Le-bensgemeinschaften, Alleinerziehende, Wohnge-meinschaften oder seien es junge bzw. alte Einper-sonenhaushalte und Familienhaushalte mit einerunterschiedlichen Zahl von Kindern. Unter einempluralistischen Blickwinkel bedeutet Integrationeine hohe Akzeptanz gegenüber Nachbarn unter-schiedlicher Herkunft und Lebensstile.

Wohnprojekte haben eine Vorreiterrolle für eingewandeltes Verständnis des Zusammenlebens vonMenschen mit verschiedenartigen Lebensstilen.Projekte besitzen gegenüber Politikkonzepten, dieeinen hohen Abstimmungsaufwand erfordern,große Vorteile. Die Förderung von Migrantendurch Maßnahmenprogramme im Wohnungsbauwürde beispielsweise als Politikkonzept eine kon-troverse Debatte auslösen, ob dies sinnvoll ist undwelche programmatischen Ausprägungen wir-kungsvoll sind. Einzelne Projekte besitzen demge-genüber mehr Freiräume und mehr Dynamik, weilfür den Einzelfall klare Ziele benannt werden kön-nen. Die Projektorientierung ist deshalb auf örtli-cher und regionaler Ebene zu einem festen instru-mentellen Baustein geworden, um auf den Struk-turwandel zu reagieren (Heuwinkel/Schubert 1999;Häussermann 1993).

PluralistischeIntegrations-modelle statt

Mischpropor-tionen

Wohnprojekteals Vorreiterfür ein ge-wandeltesVerständnisdes Zusam-menlebens

Drucksache 14/4357 – 164 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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V. 4 Selbsthilfepotenziale von Familienausländischer Herkunft und ihreNetzwerke

Viele Familien in der Migration leben oft in ver-schiedenen Formen von Netzwerken, die ökono-misch, sozial, kulturell, religiös oder politischmotiviert sein können; sie reichen von informellenTreffpunkten, Selbsthilfeinitiativen, Vereinen, bishin zu größeren, mehr formellen Organisationen.Kennzeichen all dieser Strukturen ist ihre Selbst-organisation, wobei die Verwandtschaft, die eigeneHerkunftsgesellschaft, vor allem aber die Her-kunftsregion eine wichtige Rolle spielen. DieseNetzwerke sind den ethnischen Kolonien zuzu-rechnen und bilden gewissermaßen eine Antwortauf die Bedürfnisse der Menschen und ihrer Fami-lien in der Migration nach sozialen Beziehungenmit Migranten aus der eigenen Herkunftsgesell-schaft oder Herkunftsregion.

Für die Betrachtung der Eigenpotenziale bzw.Selbsthilfepotenziale von Familien in der Migrati-on sind vor allem die Selbsthilfeinitiativen und diein Selbstorganisation gebildeten Vereine von Be-deutung, da es darum geht, aufzuzeigen, an wel-chen Fragestellungen sich diese Eigenpotenzialeaktivieren lassen und wie sie gestützt und weiter-entwickelt werden können. Aus diesem Grund sollhier der Blick auf die Familien selbst gerichtetwerden und weniger auf institutionelle Unterstüt-zungssysteme, wie z. B. Wohlfahrtsverbände oderkommunale Einrichtungen.

V. 4.1 Selbsthilfeinitiativen

Familien- bzw. Verwandschaftsbeziehungen stelleneine erhebliche Ressource unter Migrationsbedin-gungen dar. Dies zeigt sich auch daran, dass diePräferenz der Wohnstandortwahl unter dem Aspektder Pflege familiärer Netzwerke eine zentrale Rollespielt. So ist der gezielte Zuzug in Nachbarschaf-ten, wo Verwandtschafts- und Nachbarschaftsbe-züge (gleiches Heimatdorf oder gleiche Heimatre-gion) bestehen und Angehörige der eigenen Her-kunftsgemeinschaft bereits leben, eine erste Hilfe-stellung und Orientierung in den ersten Jahren derMigration. Sie erhalten Unterstützung im Umgangmit der Kultur des Aufnahmenlandes und den Le-bensbedingungen in der Migration. Für diese ver-lässliche Hilfe scheinen Verwandtschaftsbeziehun-gen weitaus bessere Voraussetzungen zu bieten alsnur die gleiche Zugehörigkeit zur Herkunftsge-meinschaft (Kapitel IV.5). Wenn aber Familienausländischer Herkunft über ihre Familienbezügehinaus initiativ werden, um für sich mit Hilfe vonanderen Familien Lösungswege für Problemlagenzu suchen, dann versuchen sie in der gleichen Her-kunftsgemeinschaft diese Unterstützungsnetze zu

finden, möglichst wohnortnah. Einerseits ist be-kannt, dass Familien ausländischer HerkunftWohngegenden präferieren, die den Kontakt mitLandsleuten ermöglichen, andererseits wird auswohnungspolitischen Überlegungen heraus ver-sucht, die räumliche Bündelung von Ausländern zuvermeiden (Kapitel V.3). Gerade unter dem Aspektder Hilfe zur Selbsthilfe ist aber festzustellen, dassaufgrund des Standes der Konsolidierung der je-weiligen Nationalitätengruppen vor allem Selbst-hilfeinitiativen von türkischen bzw. kurdischen,jugoslawischen, albanischen, russischen Initiativensich in den Stadtvierteln herausgebildet haben, woes zu Bündelungen gekommen ist. Daran zeigtsich, dass die Voraussetzung für Selbstorganisationbei Migranten eine größere Gruppe ihrer eigenenNationalität ist.

Der Blick auf das Selbsthilfepotenzial von Famili-en in der Migration kann helfen, einerseits die eherwohlfahrtstaatlich fürsorgende Richtung zu ver-meiden, die dazu tendiert „bevormundend einzu-greifen“ und andererseits die Grenzen aufzuzeigen,wo diesen Familien eine persönliche Verantwor-tung zugeschrieben wird, ohne dass sie die entspre-chenden Rahmenbedingungen haben, um dieseVerantwortung leben zu können. Am Beispiel einerständig wachsenden Zahl von türkischen Familien-selbsthilfeinitiativen zur Drogenprävention inGroßstädten wie München, Frankfurt, Hamburg,Berlin kann dies gut belegt werden.

Ähnlich den deutschen Familien sind es vor allemdie Frauen, die bei familiären Problemen die In-itiative ergreifen, hier insbesondere bei Problemendes wachsenden Drogenkonsums bei türkischenJugendlichen. Da wiederholter Drogenkonsum einStrafdelikt darstellt und auch bei Inanspruchnahmevon Hilfen, wie z. B. Entziehungskuren mit Aus-weisung des betroffenen Jugendlichen gerechnetwerden muss, wenn dieser über 16 Jahre alt ist,geht es hier um den existenziellen Erhalt der Fami-lie. Schwerpunkt dieser Initiativgruppen ist vorallem die Drogenprävention im Sinne von Aufklä-rung, nicht nur für sie als Gruppe, sondern auch fürihre Landsleute. Dafür werden z. B. Referentenebenso eingeladen wie Lehrkräfte aus den umlie-genden Schulen, um gemeinsam mit ihnen Präven-tionsstrategien zu erarbeiten, auch um damit eineSensibilität, ein sog. Frühwarnsystem für die Fa-milie zu schaffen. Da dies z. B. bei türkischenInitiativen in türkischer Sprache mit deutscherÜbersetzung stattfindet, haben diese Informations-veranstaltungen großen Zulauf, auch über die je-weilige Stadtgrenze hinaus.

Die in den Initiativen engagierten Familien knüp-fen dabei auch Unterstützungsnetze für Alltagsfra-gen und haben oft leichter Zugang zu anderentürkischen Familien aus der Nachbarschaft, die von

Netzwerkevon Familienin der Regel

selbstorgani-siert

Frauen ergrei-fen bei fami-liären Pro-blemen dieInitiative

Selbstorgani-sation bedarfeiner größerenGruppe dereigenen Na-tionalität

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professionellen deutschen Kräften nicht erreichtwerden – weshalb sie auch von den deutschenFachdiensten sehr geschätzt werden. An diesenBeispielen zeigt sich, dass diese Formen derSelbstorganisation eine wichtige Brücken- undkulturelle Übersetzerfunktion zu deutschen Institu-tionen haben, dabei aber wohlfahrtsstaatliche An-gebote nicht ersetzen, wohl aber ergänzen.

Der Übergang von kleineren lokalen Initiativen hinzu Vereinen mit einer größeren Breitenwirkung istoft fließend. So wurde z. B. aus der vor zwanzigJahren von Frauen gegründeten Selbsthilfeinitiative„Interessensgemeinschaft mit Ausländern verhei-rateter Frauen“, die sich anfangs in Wohnungenoder Gaststättennebenzimmern trafen, heute eineanerkannte Beratungsstelle mit Angestellten undeigenen Räumen. Der Verein, der sich heute „Ver-band Binationaler Familien und Partnerschaftene.V.“ nennt, hat heute in 42 Städten örtliche Grup-pen aufgebaut und sich als Bundesverband etabliertund versteht seine Beratung in diesen örtlichenGruppen als Hilfe zur Selbsthilfe in Form vonehrenamtlicher Aktivität der einzelnen Mitglieder.Diese Formen von freiwilligem Engagement inSelbsthilfeinitiativen wurden bisher nicht als eh-renamtliche Tätigkeiten wahrgenommen, da derBegriff der Ehrenamtlichkeit eng mit dem traditio-nellen, insbesondere dem sozialen Ehrenamt, z. B.in der Wohlfahrtspflege verknüpft war. Die De-batte zum „bürgerschaftlichen Engagement“(Hummel u. a. 1996) und die damit verbundeneandere Betrachtung der ehrenamtlichen Tätigkeitermöglicht einen neuen Blick auf das freiwilligeEngagement in der Selbsthilfe.

Nicht nur christlich-religiöse Motive, sondernFreiwilligkeit und Selbstbestimmung sind dieGrundlagen für solches Engagement. Wichtig istdie Koppelung der freiwilligen Tätigkeit an eigeneErfahrungen und Fähigkeiten in Verbindung mitHierarchiearmut und weniger formalisiertenStrukturen. Damit lockert sich die Bindung an dieSozialverbände, denn wichtiger für das Engage-ment ist die Projektbezogenheit als die Verbands-bezogenheit (Heinze und Keupp 1997). Die Initia-tiven von Familien ausländischer Herkunft lieferndurch ihr Engagement einen nicht zu unter-schätzenden Beitrag zum bürgerschaftlichen En-gagement in der Bundesrepublik, da sie nicht nurfür sich, sondern auch für ihre Landsleute aktivwerden. Doch sind zu dieser Aktivierung vor allemGestaltungsräume erforderlich. Das bedeutet imFall von Familien ausländischer Herkunft auch undvor allem reale Raumnutzungsmöglichkeiten unddas Vorhandensein einer bestimmten Anzahl vonLandsleuten im Wohnumfeld. Sie sind mehr alsdeutsche Familien auf Treffpunktmöglichkeitenaußerhalb der eigenen Wohnung angewiesen, daihnen weniger Wohnraum pro Person zur Ver-

fügung steht als deutschen Familien (Kapitel V.3).Es hat sich gezeigt, dass diese Treffpunkt-möglichkeiten möglichst nah am Wohnumfeld seinsollten (Jaeckel/Gerzer-Sass 1998). Dafür hat sichder Ansatz stadtteilorientierter Treffpunkte wieMütter-, Familien- oder Nachbarschaftszentren alssehr tragfähig erwiesen. In einem ersten Schritt istfür Migrantinnen der Bedarf nach eigenen mutter-sprachlichen Gruppen sehr hoch, die z. B. in sol-chen Zentren eingerichtet werden. In einemzweiten Schritt erweist sich die Stadtteilorien-tierung als ein interkulturell integratives Moment,denn es hat sich gezeigt, dass die Familiensituationund Themen des Familienalltags quer zu unter-schiedlichen Kulturen und sozialen Schichten einverbindendes Moment darstellen. Frauengruppenund -netzwerke entstehen oft auch aus Kursen undAngeboten professioneller Sozialarbeit heraus. Ausden dort entstandenen Kontakten, die in dieFreizeit hinein verlängert werden, bilden sich in-formelle Frauennetzwerke, die gegenseitige Hil-festellungen im Alltag (Kinderbetreuung, Krank-enbesuche) leisten, aber auch kleine Feste, Aus-flüge und Exkursionen ermöglichen. Der Unter-schied dieser Netzwerke zu den verwandtschaftli-chen ist, dass Frauen hier nicht so sehr in ihre kon-ventionellen Rollen eingebunden sind.

Diese Form der multikulturellen Treffpunktarbeitfür Familien zeichnet sich dadurch aus, dass miteinem Selbsthilfeansatz gearbeitet wird und Exper-tinnen nach Bedarf geholt werden, die dann ihrWissen in Gesprächsform und im informellenRahmen weitergeben. Dabei wird das Prinzip ver-folgt: Alles unter einem Dach wie z. B. Gesprächs-kreise, Informationsveranstaltungen, Freizeitaktivi-täten, Neigungskurse, familienentlastende Dienst-leistungen, Einzelfallberatung und offene Treff-punktarbeit. Die Staffelung von Angeboten erlaubtdie Teilnahme an Angeboten unterschiedlichenVerbindlichkeitsgrades und ein langsames, stufen-weises Hineinwachsen in ein längerfristiges Enga-gement (Gaitanides 1998). Damit werden nicht nuröffentliche Räume für Frauen geschaffen, sondernauch die nachbarschaftliche Selbsthilfe angeregt.

Neben diesen mehr auf Frauen bezogenen Selbst-hilfeaktivitäten entstehen zunehmend auch imJugendbereich autonome Projekte ausländischerJugendlicher meist im kulturellen oder sportlichenBereich. Hierbei engagieren sich mehr Jugendlicheaus der zweiten und dritten Migrantengeneration,dafür weniger in den für sie herkömmlichen Aus-ländervereinen, die für sie häufig zu festgelegt undunflexibel auf neue, stärker selbstgestalterischeIdeen reagieren. Für sie werden in den herkömmli-chen Ausländervereinen nicht genügend die Be-dürfnisse der hier aufgewachsenen Generationangesprochen, deren Identität eher bikultureller Artist (Gaitanides 1998).

FreiwilligesEngagementin Selbsthilfe

bedarf derFörderung

WohnortnaheMütter-,Familien- undNachbar-schafts-zentren alsTreffpunkte

Jugendlicheder zweitenund drittenGenerationengagierensich mehr inautonomenProjekten

Drucksache 14/4357 – 166 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Daran zeigt sich, dass Selbsthilfeaktivitäten anspezifischen Bedürfnissen ansetzen und sich da-durch auch ausdifferenzieren. Um diese Ausdiffe-renzierung zu ermöglichen und zu befördern, be-darf es einer Kommunalpolitik, die sich dem Ge-danken der Selbsthilfe und Eigeninitiative nichtverschließt und dies auch finanziell unterstützt. AmBeispiel München kann verdeutlicht werden, dassFördermaßnahmen für Selbsthilfegruppen und eineInfrastruktur, wie z. B. das Selbsthilfezentrum, dasbei der Gründung von Gruppen Pate steht und auchRäume für Gruppentreffen zur Verfügung stellt, einwichtiger Beitrag sind, eine Vielfalt von Initiativenzu ermöglichen. Bei einem Etat von über 2 Mill.Fördergelder (1998) für ausländische Initiativen hatsich ein Netz von Nachbarschaftshilfen fürdeutsch-ausländische Familien, Initiativgruppenzur Förderung von ausländischen Kindern, Ju-gendlichen und Familien, ausländischen Elternver-einen, türkischen Familienvereinen, ausländischenFrauenvereinen usw. herausgebildet. Diese Initiati-ven müssen sich eine Vereinsstruktur geben, umFördergelder zu erhalten. Doch sieht die Förder-landschaft in den deutschen Kommunen nochweitgehend anders aus, da ein Großteil der Mi-grantenselbstorganisationen wenig bis keine öf-fentliche Zuschüsse erhält und sich aufgrund vonSpenden aus ihrer Herkunftsgemeinschaft undihren Mitgliedern selbst tragen muss.

V.4.2 Migrantenselbstorganisationen

Zu den Migrantenselbstorganisationen zählen auchdie traditionellen ausländischen Vereine. Sie sindnach wie vor ein wichtiger Begegnungsort zurUnterstützung des Lebens in der Fremde und esgibt eine breite Palette an nationalitätenspezifi-schen ausländischen Gruppierungen (siehe auchKap. IV.5.2). So wird bei den landsmannschaftli-chen Vereinen in der Regel die eigene Kulturgepflegt und die Muttersprache gefördert. Eswird eine Vielfalt an Information und Beratung,Übersetzungs- und Dolmetschertätigkeiten, Hilfe-stellung bei Behördengängen, Aufklärung überRechte, Pflichten und Handlungsmöglichkeitenin der Mehrheitsgesellschaft sowie Freizeit-aktivitäten angeboten: Geselligkeiten, Angebotefür Kinder und Jugendliche, Frauengruppen, kul-turelle Veranstaltungen wie Dichterlesungen ausder Heimat, Musikveranstaltungen und Tanzvor-führungen mit „Stars“ aus der Heimat, Vorträge,Seminare, Familienfreizeiten und Diskussions-abende.

Daneben gibt es Eltern-, Sport-, religiöse- undpolitische Vereine. Alle diese Vereine sind wichti-ge Anlaufstellen und dienen als Ort der Orientie-rung, des Austausches von Alltagswissen über dieAufnahmegesellschaft, der Kommunikation und

Unterstützung. Sie dienen häufig als Vermitt-lungsagentur zwischen den Familien und den deut-schen Institutionen und Einrichtungen und schaffendamit oft erst die Voraussetzungen für einengleichwertigen Dialog. Die gemeinsame Mutter-sprache ermöglicht eine differenziertere und auchemotionalere Ausdrucksform, die gemeinsam ge-teilte Kultur erleichtert den Kommunikationspro-zess, das Vertrauen in Engagement und Parteilich-keit von Landsleuten ist größer. Im Umgang mitden eigenen Landsleuten findet eine soziale undkulturelle Rückversicherung statt, die sich als Basisfür das Entwickeln eines von Selbstwertgefühl undSelbstbewusstsein geprägten Selbstbildes erweistund die es ermöglicht, eine ausgewogene kulturelleIdentität sowohl zu verwahren als auch neu zuschaffen.

Darüber hinaus gibt es zahlreiche, durch Ketten-wanderung entstandene informelle Netzwerke, diesich auf den Heimatort beziehen und in denen sichdie Dörfler und die weitere Verwandtschaft zu-sammenfinden und sich durch stattfindende Ket-tenwanderungen immer wieder stabilisieren. Siebilden nicht nur ein örtliches, sondern oft auch einüberregionales Beziehungsgeflecht, kommen zuHochzeiten zusammen oder helfen sich im Falleeines Ortswechsels bei der Wohnungs- und Ar-beitsplatzsuche.

Ein wichtiger Teil der Arbeit von Migrantenverei-nen im Sinne der Repräsentanz der Einwanderer-nation wie die italienischen, spanischen, kurdi-schen, oder afghanischen Elternvereinen, den grie-chischen Häusern und Gemeinden, besteht in ihrerKinder- und Jugendarbeit. Sie setzen sich für denmuttersprachlichen Unterricht in der Schule einoder bieten auch selber muttersprachlichen Unter-richt, Alphabetisierungs- und deutsche Sprachkursean. Die Unterstützung bei Hausaufgaben und diegezielte Förderung ausländischer Schüler undSchülerinnen beim Übertritt von der Grundschulein die Realschule und ins Gymnasium sind weite-re Schwerpunkte der Arbeit der Vereine. Auchwerden häufig Computerkurse oder beruflicheQualifizierungsprogramme, wie z. B. Lohnsteuer-und Buchhaltungsprogramme angeboten. WeitereSchwerpunkte sind Sportveranstaltungen, Rechts-und Sozialberatung, Erziehungsberatung, psycho-soziale und Gesundheitsberatung, Drogenberatung,aber auch eine Interessenvertretung der Herkunfts-gruppen in den Kommunen, eine lokalpolitischeInteressenvertretung gegenüber den deutschenInstitutionen vor Ort, wie z. B. Schulpolitik, Bau-und Nutzungsanträge, die Forderung nach eigenenFriedhöfen etc. gehören zu den Aufgaben derselbstorganisierten Migrantenorganisationen. Eben-so haben sie ein Profil in Bezug auf Antidiskrimi-nierungsarbeit entwickelt, sie bieten interkulturelleVeranstaltungen und Fortbildungen für die deut-

Im Umgangmit eigenenLandsleutenfindet einesoziale undkulturelleRückversiche-rung statt

Kinder- undJugendarbeitist ein wesent-licher Teil derVereinsarbeit

Kaum Förde-rung der

Migranten-selbstorgani-

sation

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 167 – Drucksache 14/4357

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sche Bevölkerung an und setzen so auf den Abbauvon Ausländerfeindlichkeit.

Mit diesen Angeboten sprengen sie die Dienstleis-tungsorientierung für ihre Herkunftsgemeinschaftund kooperieren mit Initiativen, wie z. B. vomJugendamt München, um sich interkulturelle Kom-petenz in der Jugendhilfe zu erarbeiten. Deren Zielist es, die Beseitigung von Ausgrenzungsmecha-nismen für Migranten in der Verwaltungsstrukturzu beheben. Zwar garantiert die Beschäftigung vonMigranten noch keine qualifizierte interkulturelleArbeit, doch ohne nichtdeutsche Mitarbeiter wirdInterkulturalität nicht zum erlebten Alltag mit dennotwendigen Anregungen und dem gegenseitigenLernen (Handschuck/Schröer 1998). Dies ent-spricht auch den Forderungen, die sozialen Regel-dienste in diese Richtung zu öffnen und ohne An-sehen der Nationalität eine Leistung der sozialenInfrastrukturversorgung anzubieten. Aufgrund ihrerfast ausschließlich deutschen Mitarbeiterschaftstehen sie der Besonderheit interkultureller Arbeitmeist unvorbereitet gegenüber (Erpenbeck 1996).

Weiterhin ist eine Ausdifferenzierung des Ver-einswesens entlang der sozialstrukturellen undgenerationsmäßigen Linien zu beobachten. Diejüngere Generation frequentiert häufiger eigeneethnisch affilierte Berufsverbände, wie z. B. denVerein türkischer Ärzte, den Verein griechischerAkademiker, ausländische Unternehmervereineoder Vereine der in der psychosozialen Arbeittätigen Ausländer. Sie dienen dem Aufbau vonNetzwerken, um in dem jeweiligen Berufsfeld mitder Mehrheitsgesellschaft besser konkurrieren zukönnen. Von diesen Netzwerken gehen auch Im-pulse für die Arbeit ihrer deutschen Kollegen aus.Sie stellen bei der Suche nach ausländischen Fach-kräften und nach qualifizierten Multiplikatoreneine wichtige Ressource dar (Gaitanides 1998).

Bei den religiösen Organisationen, wie die deritalienischen, spanischen und portugiesischen ka-tholischen Missionen, der griechisch-orthodoxenKirchen und der muslimischen Moscheevereinentut Differenzierung not. Es ist aber darauf hinzu-weisen, dass islamische Vereine nicht nur aus ex-tremistischen und fundamentalistisch orientiertenGemeinden bestehen. In Fragen des Rechts aufReligionsausübung besteht bei allen islamischenVereinen ein Konsens. Ihre Anliegen betreffen dieAnerkennung des Islam als Körperschaft öffentli-chen Rechts, Sondererlaubnis zum Schächten,islamischer Religionsunterricht in den Schulen undUnterstützung staatlicher und lokaler administrati-ver Stellen beim Erwerb und Bau neuer Moscheen.Sie möchten die religiöse Praxis des Islams aus den„Hinterhöfen und Lagerhallen“ herausholen und inRepräsentativbauten verlagern, mit einem Kuppel-bau und einem Minarett (Gaitanides 1998).

Für die älteren türkischen Migranten haben dieMoscheevereine eine hohe Attraktivität, die sichnicht nur aus der sich wandelnden Bedeutung vonReligion im Lebenszyklus erklärt. Einerseits stellensich stärker die Sinnfragen, wenn die Kinder „ausdem Gröbsten heraus sind“ und man ist auch dem„Jenseits“ ein Stück näher gerückt, auf das es sichrechtzeitig vorzubereiten gilt. Andererseits bedie-nen die islamischen Vereine das Bedürfnis nachZugehörigkeit, Wertschätzung und Anerkennung.Hier findet die erste Einwanderergeneration häufigden Respekt, den ihnen die deutsche Umgebungversagt hat und den auch ihre Kinder – aus ihrerSicht – ihnen immer weniger entgegenbringen(Gaitanides 1998). Zu den Standardangeboten derMoscheevereine gehören insbesondere auch die aufJugendliche ausgerichteten Angebote, wie Fußball,Boxen, Tischtennis und asiatische Kampfsportar-ten, Korankurse für Kinder, Jugendfreizeitaktivi-täten und -freizeiten, das Ausrichten der nationalentürkischen und islamischen Feste, Hausaufgaben-hilfe und Berufs- und Weiterbildungsangebote.

Die Arbeit der traditionellen Ausländervereine istbislang sehr männerdominiert geblieben, auchdeswegen, weil die Strukturen dieser Vereine oftvon aus dem Heimatland bestimmten Patronagenbesetzt sind. Inzwischen wird der Förderung zurAktivierung und Beteiligung der Migrantinnenmehr Aufmerksamkeit gewidmet, nicht zuletztdeshalb, da sie sich in der Regel stärker als dieMänner für die sozialen Fragen engagieren und dieFamilien- und Alltagsanliegen der Migrantengrup-pen zur Sprache bringen. Dennoch bleibt ein deut-lich geschlechtsspezifischer Unterschied zwischentraditionellen Ausländervereinen und den Selbsthil-feinitiativen von Familien ausländischer Herkunft,da letztere durch ihre weniger formalisierten undhierarchisierten Strukturen den Zugang und dieMitarbeit von Frauen erleichtern.

Die Frage, inwieweit diese Formen der Gesellungeine Übergangssituation auf den Weg zur Akkultu-ration sind oder ein Schritt zur Herausbildung undVerfestigung ethnischer Minderheitenlagen, kannauch so beantwortet werden, dass diese Formenvon ethnischer Kolonie als notwendige „Zwi-schenwelt“ oder Übergangsform im Integrations-prozess zu sehen sind. Aber wo kontinuierlicheNeueinwanderung stattfindet und die sich integrie-renden Gruppen ersetzt werden − was durch Ket-ten- und Heiratsmigration der Fall ist −, erhält sichdie Kolonie in ihrer Struktur und Funktion(Heckmann 1998). Für die Beispiele von Selbst-organisation in Form von Selbsthilfe und eth-nischen Vereinen bedeutet dies, dass einerseits die-se Vereine Bestandteil einer multiethnischen Ein-wanderungsgesellschaft bleiben werden, anderer-seits darauf geachtet werden muss, dass es zu kei-ner Segregation führt und außerethnische Kontakte

Kooperatio-nen der Ver-

eine mitöffentlichen

Verwaltungen

Moschee-vereine habenbei älterentürkischenMigrantenhohe Attrakti-vität

Männer mehrin traditionel-len Vereinenengagiert –Frauen mehrin Selbsthil-feinitiativen

Drucksache 14/4357 – 168 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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damit behindert werden. Sie sind aber unverzicht-bar in ihrer Empowermentfunktion für Familienausländischer Herkunft, indem sie kommunikativeGelegenheiten bieten und somit Gelegenheits-strukturen zur Bildung informeller solidarischerNetzwerke schaffen, die die Gruppenidentität aberauch die Handlungskompetenz der ethnischenEinwandererminorität stärken (Gaitanides 1998).

Die Wahrnehmung und Förderung der eigenständi-gen Migrantenorganisationen und Projekte ist bis-lang zu kurz gekommen und die soziale Tragfähig-keit und das Selbsthilfepotenzial der ethnischenCommunities unterschätzt worden. Deshalb sinddie Bereitstellung von Räumen und die Herstellungeiner Infrastruktur für Treffpunkte und Selbsthilfe-gruppen von Familien ausländischer Herkunft,finanzielle Zuschüsse für selbstgestaltete ethnischeProjekte und Veranstaltungen eine notwendigeForm der Unterstützung. Dies kann nur in Ergän-zung der Weiterförderung der klassischen Migrati-onssozialarbeit durch die Wohlfahrtsverbändestattfinden, da diese in ihren Angeboten an mutter-sprachlicher Beratung und muttersprachlichenDiensten unverzichtbar sind. Die klassische Mi-grantensozialarbeit wurde und wird am ehestendann angenommen und wahrgenommen, wenn sieals muttersprachliche Beratung und Dienste ange-boten wird. Daher ist nicht eine Reduzierung, son-dern eine Intensivierung der muttersprachlichensozialen Angebote notwendig, zumal auch weiter-hin über den Familiennachzug bzw. die Heiratsmi-gration diese Dienste nachgefragt werden. Dasbedeutet, dass die Förderung der Wohlfahrtsver-bände, die solche Dienste anbieten, weiterhin gesi-chert sein muss, allerdings in Ergänzung der wohl-fahrtsstaatlichen Förderung auch Mittel bereitge-stellt werden sollten, die die Eigeninitiative undSelbstorganisation der Migranten stärker als bisherunterstützen.

V. 5 Migration und Bildung

Die Eltern der meisten ausländischen Schülerinnenund Schüler (74 %) stammen aus den ehemaligenAnwerbeländern Griechenland, Italien, den Nach-folgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens, Spanienund der Türkei. In den letzten Jahren wächst dieZahl der Familien, die nicht aus den Anwerbelän-dern kommen. Die Elternhäuser differenzieren sichzusätzlich zur Nationalität: in Bezug auf Schicht-zugehörigkeit, und Migrationsbiographie zuneh-mend. Familien von angeworbenen Arbeitskräften,von Asylsuchenden, von EU-Angehörigen, vonSpätaussiedlern und binationalen Familien verbin-den mit ihrer Migration unterschiedliche Erwartun-gen und Voraussetzungen, die sich auf Bildungs-verhalten und Bildungsziele auswirken. Aussagenüber Kinder aus Familien ausländischer Herkunftmüssen diese Heterogenität berücksichtigen.

Familien ausländischer Herkunft sind, wie aucheinheimische Familien, bestrebt, ihr ökonomisches,soziales und kulturelles Kapital zu erhalten undüber das Bildungssystem soziale Positionen zuerreichen. Die Bedingungen, unter denen die Fa-milien ausländischer Herkunft angesichts der in derBundesrepublik Deutschland vorhandenen Mög-lichkeiten der schulischen und beruflichen Bildunghandeln, sind spezifisch. Sie ergeben sich aus derMigrationssituation, die zugleich der Bildung einenspeziellen Stellenwert im Migrationsprojekt zu-weist. Hohe Bildungsziele, der Wunsch nach einerguten Bildung und Ausbildung der Kinder ist häu-fig einer der Gründe, die zur Migration geführthaben. Verbleiben die Familien ausländischer Her-kunft in Deutschland, beteiligen sie sich durch ihreBildungsanstrengungen an der Erneuerung desHumanvermögens des Landes (vgl. 5. Familienbe-richt), indem sie selbst Bildungsleistungen erbrin-gen und sich bemühen, Bildungschancen für sichund ihre Kinder zu erschließen. Für die Familienausländischer Herkunft, die vorhaben, ins Her-kunftsland zurückzukehren, bedeutet die Realisie-rung hoher Bildungsziele zugleich auch einenTransfer von qualifiziertem Humanvermögen. Sieleisten hiermit einen Beitrag zur Entwicklung ihrerLänder, und fungieren zugleich über dort erreichtehöhere soziale Positionen als Bindeglieder zwi-schen Deutschland und den Herkunftsländern. Inihrem Bericht über die Schulbildung von Migran-tenkindern von 1994 weist die Kommission derEuropäischen Gemeinschaften darauf hin, dassgute Bildungsqualifikationen der Migranten ihreMobilität sowohl bezüglich der Rückkehr in dasHerkunftsland wie auch bezüglich der Wanderungin ein weiteres Land erhöht. Diese Mobilitätschan-cen erweitern die Handlungsoptionen der Migran-tenfamilien. Es sollte deshalb ein großes gesell-schaftliche Interesse daran bestehen, die Familienausländischer Herkunft unabhängig davon, ob siefür immer in Deutschland verbleiben oder ins Her-kunftsland zurückkehren, bei ihren Bildungsan-strengungen zu unterstützen.

Bildung ist ein wichtiger Weg zur Integration indie Aufnahmegesellschaft, da sie den Zugang zuberuflichen Positionen und zu den kulturellen Sys-temen ermöglicht. Ein hohes Bildungsniveau trägtzum positiven Selbstkonzept der Migrantenkinderund ihrer Familien und zur Erhöhung der Kompe-tenzen im Umgang mit der eigenen kulturellenDifferenz und die der anderen Mitglieder der Ge-sellschaft bei. Für rückkehrwillige Familien erhö-hen Bildung und Ausbildung die Chancen einerReintegration ins Heimatland.

Viele Familien ausländischer Herkunft beziehensich bei ihren Bildungsentscheidungen auf dieBedingungen der Herkunftsländer. Die Dauer derBildung und Ausbildung der Kinder muss in aus-

Intensivierungmutter-

sprachlicherSozialbera-

tung not-wendig

Heterogenitätder Bildungs-erwartungen

und Bildungs-voraus-

setzungen

Realisierunghoher Bil-dungsziele fürdie Kinder oftein Migra-tionsgrund

Engagementin Selbsthilfe-gruppen und

Vereinenstärkt das

Empowermentvon Familien

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ländischen Familien, soweit eine Rückkehrorientie-rung besteht, mit dem Zeitpunkt der Rückkehrvereinbart werden, bzw. die Rückkehr wird biszum Erreichen der Bildungsziele der Kinder hin-ausgeschoben. Andere Familien, die beide Optio-nen offen lassen, beziehen sich auf beide Gesell-schaften, die des Aufnahmelandes und die desEntsendelandes. Solche Migrationsprojekte verlan-gen nach spezifischen Bildungsstrategien sowohlbezüglich der Berufswahl als auch der sprachlichenKompetenzen, da die erworbenen Bildungsab-schlüsse bzw. beruflichen Qualifikationen sowohlfür das Aufnahmeland geeignet, wie auch in dasHerkunftsland, ohne ihren Wert zu verlieren, trans-ferierbar sein müssen. Ohnehin knüpfen die Bil-dungserfahrungen der Eltern der ersten Migranten-generation häufig an die Situation in den Her-kunftsländern und an das dort geltende Berufs-spektrum an. Sie bevorzugen häufig klassischeakademische Berufe, die vor dem Hintergrund ihrerErfahrungen mit hohem sozialen Prestige verbun-den sind. Viele Familien ausländischer Herkunfthaben hohe Bildungsaspirationen, da sie ihre mitder Migration verbundenen sozialen Aufstiegswün-sche auf die Bildungskarrieren der Kinder projizie-ren. Migrationszeitpunkt, Migrationsprojekt undBildungsstrategien sind wiederum vom Bildungs-grad der Elterngeneration abhängig. So migrierenPersonen mit höherer Bildung früher als andere.Pioniermigranten stellen im Vergleich zu den spä-teren Migrationswellen eine positive Selektion dar.Entsprechend gliedern sie sich schneller in dasBeschäftigungssystem und das gesellschaftlicheLeben der Aufnahmegesellschaft ein. Diese Vor-teile wirken sich auf die Bildungsläufe der Kinderaus.

Migration ist mit bestimmten Voraussetzungenbezüglich persönlicher und sozialer Kompetenzender Migranten verbunden. Der Wechsel in einenanderen gesellschaftlichen Kontext entwertet häu-fig die mitgebrachten beruflichen Qualifikationen.Migration bedeutet dann einen Neuanfang auseiner meist niedrigen Startposition heraus. Im neu-en Kontext müssen neue Verhaltensmuster undRollen erlernt werden. Dies verlangt nach neuenArrangements zwischen den Geschlechtern undden Generationen innerhalb der Familien ausländi-scher Herkunft. Sie kommen zu den normalenEntwicklungsaufgaben, die jede Familie in ihremLebenszyklus zu bewältigen hat, hinzu. Wie deut-sche Familien, stehen auch die Familien ausländi-scher Herkunft vor den Herausforderungen desgesellschaftlichen Wandels, unter erhöhten An-strengungen und angesichts zunehmender Konkur-renz, ihren Kindern Bildungs- und Berufswege zuerschließen. Sie sind wie jene von einer geringenFamilienorientierung der Bildungsinstitutionenbetroffen. Hierzu gehören, wie der 5. Familienbe-richt hervorhebt, organisatorische und zeitliche

Starrheit, unzureichende Durchlässigkeit und Er-reichbarkeit, einseitige Betonung fachlicher Leis-tung und lange Ausbildungsdauer. Die Familienhaben immer größere Schwierigkeiten bei der Ver-einbarkeit ihrer vielfältigen Aufgaben. Gleichzeitigrechnen die Bildungsinstitutionen mit ständigwachsenden Beiträgen der Familien zu den Bil-dungsleistungen.

V. 5.1 Voraussetzungen und Platzierungs-verhalten der Familien ausländi-scher Herkunft

Bildungserfolge der Kinder aus Familien ausländi-scher Herkunft sind wie bei den einheimischenKindern abhängig von den der Familie zur Verfü-gung stehenden materiellen, kulturellen, sozialenRessourcen und Platzierungsstrategien. Für dieFamilien ausländischer Herkunft der ersten Mi-grantengeneration stellt das BildungssystemDeutschlands eine Reihe ungewohnter Anforde-rungen. Häufig fehlt es an Kenntnissen der hiesi-gen Bildungsinstitutionen, vor allem des geglie-derten Schulsystems, und an Erfahrungen für diePlanung der Bildungslaufbahn und der erfolgrei-chen Begleitung und Unterstützung der Bildungs-karriere.

In den modernen Gesellschaften wird ein großerTeil der erzieherischen Beeinflussung der Kindervon den Bildungsinstitutionen übernommen, diesozialintegrativ wirken, neben Kenntnissen auchdie herrschenden gesellschaftlichen Werte undNormen vermitteln. Dies bedeutet für Familienausländischer Herkunft, dass der erzieherischeEinfluss aus dem jeweiligen kulturellen System,dem die Familie angehört, heraus genommen undeinem anderen kulturellen System, nämlich demder Aufnahmegesellschaft, übertragen wird. Wenndie beiden kulturellen Systeme stark voneinanderabweichen, kann es zu Widerständen in der Familiekommen. Sie können zu Konflikten führen, wenndie Einflussmöglichkeiten der Eltern mit zuneh-menden Alter der Kinder schwinden. In diesemFall haben Familien ausländischer Herkunft einambivalentes Verhältnis zu den Bildungsinstitutio-nen; sie erwarten, dass dort ihr Nachwuchs qualifi-ziert wird, befürchten aber gleichzeitig, dass sichihre Kinder aufgrund der dort vermittelten Ein-stellungen und Verhaltensweisen von der Familieund ihrer Herkunftskultur entfremden. Kinder derzweiten Migrantengeneration müssen, wenn sie austraditionell orientierten Familien stammen, famili-stische Einflüsse und Erwartungen mit den säkula-risierten Einstellungen bzw. Individualisierung-stendenzen, die sie u. U. im deutschen Bildungs-system entwickeln, auszubalancieren versuchen(Leenen/Grosch/Kreidt 1990).

DeutschesBildungs-system stelltungewohnteAnforderun-gen an Mi-granten

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In diesem Zusammenhang ist es problematisch,dass die Frage des Religionsunterrichts insbesonde-re für die Kinder aus Familien islamischen Glau-bens bisher nicht ausreichend geregelt wurde. Dieunterschiedlichen islamischen Glaubensrichtungenlassen keine einheitlichen Repräsentationsstruktu-ren zu. Die islamische religiöse Erziehung wirdhäufig den Herkunftsländern überlassen, die denUnterricht durch ihre konsularischen Vertretungenorganisieren. Dort, wo dies als Teil des mutter-sprachlichen Ergänzungsunterrichts geschieht, istzumindest eine äußerliche Integration in denSchulbetrieb gegeben. Unüberschaubar ist dagegendie Praxis der vielerorts existierenden und strittigenKoranschulen. Ihnen soll, wie in einem VersuchNordrhein-Westfalens, ein von den deutschenSchulbehörden unter Einbeziehung von inDeutschland ausgebildeten Lehrkräften und inZusammenarbeit mit islamischen Religionsgemein-schaften getragenes, in deutscher Sprache gestal-tetes Angebot entgegengestellt werden. Auch inBayern, Hessen und Rheinland-Pfalz wird ver-sucht, den Unterricht, seine Inhalte, Organisationund Schulaufsicht in die staatliche Erziehungsver-antwortung aufzunehmen. Konzepte bundesweiterRelevanz, die alle Stufen des Bildungssystemsumfassen, fehlen jedoch. Zu klären bleiben dieschwierigen Fragen u. a. des Zusammenschlussesder verschiedenen Bekenntnisse und Richtungen ineiner Körperschaft oder Religionsgesellschaft alslegitimierter Ansprechpartner des Staates und dieAusbildung der zur Zeit ca. 4.500 benötigten Lehr-kräfte.

Traditionalistische Orientierungen haben Einflussauf Bildungsentscheidungen bezogen auf das Ge-schlecht des Kindes. Dies bedeutet nicht, dassgenerell bei Mädchen niedrigere Bildungszieleangestrebt werden; vielmehr wird versucht, Bil-dungskarrieren und -dauer mit den weiteren Fami-lienzielen zu vereinbaren. So müssen Bildungs-verläufe der Mädchen mit den zeitlichen Vorstel-lungen nach einer Familiengründung und Eltern-schaft in Einklang gebracht werden. Stärker jedochals kulturelle Orientierungen beeinflussen materi-elle Ressourcen die Bildungsentscheidungen.Knappe finanzielle Mittel setzen bei beiden Ge-schlechtern für die Dauer der Bildung und dieBerufswahl enge Grenzen.

Für Bildung und Berufswahl spielen die ethnischenCommunities eine zunehmend bedeutende Rolle.Sozialisationsbedingungen in segregierten Stadt-teilen niedriger Wohnqualität sind mit geringerenBildungschancen verbunden. Wenn bereits dieElterngenerationen über innerethnische Netzwerkeverfügt, ist es auch für die zweiten Generationenwahrscheinlicher, dass sie entsprechende Bezie-hungen und Interaktionsmuster aufbauen. Diesestellen ein soziales Kapital dar, das für den Zugang

zu den Arbeitsmärkten der ethnischen Communityvon Bedeutung, für die formalisierte Stellenverga-be in der Aufnahmegesellschaft aber bedeutungslosbzw. hinderlich sein kann (Seifert 1997). Großeethnische Communities können, wenn sie einenhohen Grad an Autarkie erreichen, in parallelenArbeitsmärkten Erwerbsaussichten und in umfang-reichen sozialen Netzwerken Gratifikationen an-bieten und dazu führen, dass ihre Angehörigen aufden Erwerb eines hohen Bildungsabschlusses ver-zichten (Büher 1997).

Arbeiterfamilien ausländischer Herkunft sind auf-grund ihrer vergleichsweise begrenzten Ressourcenkaum in der Lage, eine gezielte Wahl der Bil-dungsinstitutionen, die mit größeren Entfernungenund höheren materiellen Aufwendungen verbundensind, vorzunehmen. In den Mehrkinderfamilienmüssen die geringen materiellen und zeitlichenRessourcen auf eine hohe Anzahl von Kindernverteilt werden. Beengte Wohnverhältnisse er-schweren die psycho-physische Entwicklung derKinder und die Erledigung von Schulaufgaben. Vordem Hintergrund ihrer geringen bzw. andersartigenSchulerfahrungen ist Eltern in Arbeiterfamilienausländischer Herkunft häufig nicht möglich, denSchulalltag zu begleiten bzw. die schulischeStressbelastung ihrer Kinder aufzufangen; sie sindvon den Erwartungen und Anforderungen derSchule, die die Kinder in die Familie hineintragen,überfordert. Vor allem Mütter mit geringenDeutschkenntnissen können Pflichten, die dieSchule an sie delegiert, z. B. im entscheidendenBereich der Hausaufgabenbetreuung, nicht über-nehmen bzw. ergänzende Hilfen, etwa Nachhilfeund Fördermaßnahmen nicht adäquat nutzen.

Weil Schule und Familie ineinander greifen, wer-den Schulprobleme zu Familienproblemen undumgekehrt. In der Beziehung der Familien zu denBildungsinstitutionen ist das Eltern-Lehrkräfte-Verhältnis von besonderer Bedeutung und meistmit Spannungen, Konflikten und Vorurteilen bela-stet. Diese Schwierigkeiten nehmen im Verhältniszu den Eltern ausländischer Herkunft zu. Eltern-Lehrkräfte-Gespräche scheitern häufig an der so-zio-ökonomischen, kulturellen und sprachlichenDistanz, die Kommunikation wird sogar häufig ausAngst und Unsicherheit vermieden. Die Lehrkräftekonzentrieren sich eher auf ihre fachwissenschaft-liche Qualifikation und verfügen selten über fun-dierte pädagogisch-psychologische Kenntnisse undKompetenzen in der interkulturellen Kommunika-tion. Die Schule als Institution der Vermittlung vonKenntnissen und Fertigkeiten ist auch der Ort derHierarchie und Konkurrenz, an dem von den Lehr-kräften erwartet wird, dass sie die institutionellgesetzten Anforderungen durchsetzen. Dieser In-stitutionslogik müssen sich, genauso wie die ein-heimischen Kinder, auch die Kinder aus Familien

ZunehmenderEinfluss

großer ethni-scher Com-

munities aufBildung undBerufswahl

GesprächezwischenEltern undLehrkräftendurch kultu-relle undsprachlicheDistanz er-schwert

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ausländischer Herkunft stellen. Diese weichen aberhäufig, etwa durch Aussehen, Verhalten und Iden-titätskonstruktionen von der „Normalität“ ab undhaben mit direktem bzw. indirektem Widerstandihres schulischen Umfeldes zu rechnen. Lehrkräftebegegnen ausländischen Kindern häufig mit einem„heimlichen Lehrplan“, in dem Annahmen überFähigkeiten und Defizite sich nicht nur wie bei deneinheimischen Kindern etwa nach Schichtzugehö-rigkeit und Geschlecht, sondern auch nach natio-naler bzw. ethnischer Herkunft richten. Es über-wiegt häufig eine defizitäre Betrachtung und dieBikulturalität und Bilingualität dieser Schülerpo-pulationen werden eher als Integrationshindernisdenn als Ressourcen betrachtet.

Die Schulsituation der Kinder aus Familien auslän-discher Herkunft ist abhängig vom Zusammenwir-ken vieler Faktoren, zu denen, neben den auch beieinheimischen Familien wirksamen, auch die spe-zifischen, mit der Migrationssituation verbundenengehören. Erst die Gesamtkonstellation und Wech-selwirkung dieser inner- und außerfamiliären Fak-toren entscheiden, ob sich daraus besondere Ent-wicklungsschwierigkeiten bzw. - chancen für dieKinder der Familien ausländischer Herkunft erge-ben.

V. 5.2 Bilingualismus als Orientierung inFamilien ausländischer Herkunft

Die Beherrschung der deutschen Sprache ist eineentscheidende Voraussetzung nicht nur für denBildungserfolg, sondern auch für eine gleichbe-rechtigte Teilnahme an der Gesellschaft der Bun-desrepublik Deutschland und steht nicht im Wider-spruch zum Wunsch vieler Familien ausländischerHerkunft, die Muttersprache zu pflegen. Dochhäufig wird angenommen, dass Migrantenfamilienim Rahmen eines intergenerationellen Eingliede-rungsprozesses sich in einem „sprachlichen Anpas-sungsprozess“ befinden, an dessen Ende sie dieHerkunftssprachen aufgeben werden. Dies trifftkeineswegs auf alle Migrantenfamilien zu. ImGegenteil, die Migrantenfamilien und ihreSelbstorganisationen artikulieren zunehmend eineNachfrage nach Unterricht in den Herkunftsspra-chen (Gogolin 1998). Die Tendenz nimmt zu, vor-handene sprachliche Kompetenzen zu erhalten.Dies ist vor allem bei den bildungsbewussten Mit-telschichten der Fall. Aber auch bei den klassi-schen Arbeitsmigranten sind die Praktiken sprach-licher Erziehung darauf gerichtet, Sprachpotenzialein der Herkunftssprache der Familie zu pflegen, umden Erhalt der kulturellen Identität und die inner-familiäre Kommunikation zu sichern und bei Be-darf die Rückkehr ins Herkunftsland zu bewältigen.Mit der Nutzung solcher Ressourcen in Mehrspra-chigkeit und Mobilitätserfahrung zielen die Famili-

en ausländischer Herkunft auf eine zukunftsorien-tierte und flexible Strategie, die den Anforderungender zunehmenden Internationalisierung entspricht.Dies wird insbesondere vor dem Hintergrund desfortschreitenden Einigungsprozesses der Europäi-schen Union deutlich. Im Maastrichter Vertragheißt es, dass die Realisierung der Zielsetzungeiner „Entwicklung der europäischen Dimensionim Bildungswesen, insbesondere durch Erlernenund Verbreitung der Sprachen der Mitgliedstaaten“angestrebt werden soll.

In Folge der erhöhten Mobilität verfügen auchKinder deutscher Eltern, die längere Zeit im Aus-land verbracht haben, über Kompetenzen in mehre-ren Sprachen. Eine Reaktion auf diese neue Reali-tät stellt z. B. ein Hessischer Entwurf zur generel-len Förderung von „migrationsbedingter Mehrspra-chigkeit“ auch von Kindern deutscher Staatsange-hörigkeit dar (Gogolin 1998). In der beruflichenBildung werden in den letzten Jahren die bilingua-len und bikulturellen Kompetenzen der Auszubil-denden ausländischer Herkunft genutzt und geför-dert. Solche Ansätze werden z. B. an der HöherenBerufsfachschule für Wirtschaft in Köln, die miteinem Zweig Türkisch ausgestattet wurde, unddurch die Beratungsstelle zur Qualifizierung aus-ländischer Nachwuchskräfte (BQN), z. B. in Kölnund Hamburg, umgesetzt. Für Jugendliche griechi-scher, italienischer, portugiesischer, spanischer undtürkischer Herkunft führen deutsche Institutionenin Kooperation mit den jeweiligen Herkunftsstaa-ten binationale Ausbildungsprojekte durch. Indemdie bilingualen und bikulturellen Kompetenzen derJugendlichen einbezogen werden, können dieseQualifikationsprofile entwickeln, die sowohl denAnforderungen des deutschen Arbeitsmarktes alsauch denen des Herkunftslandes entsprechen. Diein Deutschland erworbenen Bildungsabschlüssesowie die binational ausgestellten Abschlusszerti-fikate werden in beiden Ländern anerkannt.

Eine nachdrückliche Nachfrage nach Unterricht inden Herkunftssprachen wird auch von den neuenMigrantengruppen in der EU formuliert. Es sindhochqualifizierte Eltern, die ihre Berufstätigkeit füreine begrenzte Zeit in einem anderen Mitglieds-staat ausüben. Sie möchten während ihrer temporä-ren Migration die Kontinuität der Bildungslaufbah-nen ihrer Kinder sichern. Eine Voraussetzung die-ser Kontinuität besteht darin, die in der Familiegesprochene Sprache auch in der Schule weiterlernen zu können und die Reintegration der Kindernach der Rückkehr ins Herkunftsland zu sichern.Multilinguale Angebote, etwa bilinguale Zweige inden Schulen entsprechen auch solchen Bedürfnis-sen und erhöhen die Attraktivität der Standorte fürhochqualifizierte Fachkräfte. Zunehmende Pen-delmigration wird in der Zukunft den Bedarf amUnterricht der Herkunftssprache, bzw. Mutter-

Bedeutungs-zuwachs vonMehrspra-chigkeit undMobilitätser-fahrung

Oft„heimlicher

Lehrplan“der Lehrergegenüber

ausländischenKindern

Drucksache 14/4357 – 172 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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sprache erhöhen, eingebürgerte Migranten werdenaufgrund ihrer gesicherten sozialrechtlichen Posi-tionen entsprechende Forderungen eindrücklicherformulieren. Flüchtlingsfamilien erhalten durch dasErlernen der Herkunftssprache ihre Rückkehrfä-higkeit. Kinder aus Familien, die zwischenDeutschland und dem Herkunftsland pendeln odertemporär sich im Ausland aufhalten, wie auch fürQuer- und Seiteneinsteiger, die später nachDeutschland kommen, sind angewiesen sowohl aufintensiven Deutschunterricht als auch auf Unter-richt in der Muttersprache. Während der Deutsch-unterricht sie an das deutsche Schulsystem heran-führt, sichert der muttersprachliche Unterricht dieKontinuität der im Herkunftsland begonnenenSchullaufbahn. Der Bilingualismus der Kinder ausFamilien ausländischer Herkunft, bzw. die Förde-rung der Muttersprache, wurde in Deutschlandwiederholt Gegenstand kontroverser pädagogischerund bildungspolitischer Diskussionen. Positionen,die die positive Rolle der Muttersprache für diekognitive und emotionale Entwicklung der Person,für das Erlernen der deutschen Sprache, die Ver-ständigung innerhalb der Familie, die Stärkung desSelbstbewusstseins und, durch eine Bildungspolitikder Anerkennung des sprachlichen Andersseins,auch für die Integrationsfähigkeit des Individuumshervorheben, gewinnen an Zustimmung (Gogolin1998).

So empfiehlt die Kultusministerkonferenz (KMK1996) in ihrem Beschluss vom 25. Oktober 1996,die Muttersprache zu fördern und sie in den Rege-lunterricht einzubinden. Die Forderung nach einerbilingualen Erziehung stößt jedoch weiterhin aufden Widerstand von assimilationsorientierten Bil-dungskonzepten, auf monolinguale Praxis underhebliche organisatorische und finanzielle Wider-stände, die dazu führen, dass der Bilingualismusder Kinder aus Familien ausländischer Herkunft imBildungssystem als Wert noch zu wenig erkanntund gefördert wird.

V. 5.2.1 Bilinguale Kinder im Kinder-garten

Die Gemeinden sind verpflichtet, für alle Kinderdeutscher wie auch ausländischer Nationalitäteinen Kindergartenplatz zur Verfügung zu stellen.Diese erste Stufe des Bildungssystems bringt Kin-der aus Familien deutscher und ausländischer Her-kunft erstmalig in institutionellem Rahmen zu-sammen. Der Kindergartenbesuch gehört zu denVoraussetzungen einer erfolgreichen Karriere imdeutschen Schulsystem. Viele Kinder aus Familienausländischer Herkunft werden im Kindergartenzum erstenmal mit der deutschen Sprache konfron-tiert. Dies ist der Fall bei Kindern von Familienausländischer Herkunft der ersten Migrantengene-

ration, bzw. auch der von Familien der zweitenMigrantengeneration, die bewusst in der Zeit derFrüherziehung die Muttersprache pflegen, oderwenn Ehepartner, vor allem Ehefrauen aus denHerkunftsländern, nach der Eheschließung in dieBundesrepublik zugezogen sind. Die ausgeprägteLernfähigkeit der Kinder in diesem Alter macht esprinzipiell möglich, sie in kurzer Zeit an die deut-sche Sprache heranzuführen. Dies kann bei Be-rücksichtigung des Bilingualismus der Kindergeschehen.

Familien ausländischer Herkunft nahmen bishernoch nicht so häufig wie deutsche Familien denKindergarten in Anspruch. Der Kindergartenbe-such hat aber in den letzten Jahren sehr stark zuge-nommen. Bundesweite Zahlen sind problematisch,da die regionalen Disparitäten im Angebot großsind und private Kinderbetreuungsdienste nichterfasst werden. Dies ist der Fall auch beim Mikro-zensus: Demnach gingen die 3 Jahre und älterenVorschulkinder aller ausländischen Ehefrauen, d.h. derer mit einem deutschen bzw. derer mit einemausländischen Partner, weniger in einen Kinder-garten (43,4 %) als die Kinder deutscher Frauen(49,6 %) (Roloff 1998). Hierbei muss berücksich-tigt werden, dass einerseits nicht bekannt ist, wieviele der Kinder im Vorschulalter von Privatperso-nen betreut werden, andererseits wirkt hier u. U.ein Kompensationseffekt, der dadurch begründetist, dass ausländische Ehefrauen mit Kindern weni-ger am Erwerbsleben beteiligt sind als die deut-schen Frauen mit Kindern und die Kosten des Kin-dergartenbesuchs dann relativ hoch sind.

Regional bezogene Daten geben einen Eindrucküber den Kindergartenbesuch, der allerdings nichtals repräsentativ gelten kann. So ermittelte eineUntersuchung des Ministeriums für Frauen, Ju-gend, Familie und Gesundheit in 1.100 Kindertage-seinrichtungen in 12 Städten und 2 Landkreisen desLandes Nordrhein-Westfalen und bezogen auf dasJahr 1997, bei ausländischen und Aussiedlerkin-dern Anteile, die diesen Bevölkerungsgruppenentsprechen. Die von den Landesjugendämtern desLandes Nordrhein-Westfalen ermittelte landesweiteVersorgungsquote der ausländischen Kinder stiegvon 49 % im Jahr 1991 auf 87 % im Jahr 1997 undunterschritt hiermit geringfügig die Versorgungs-quote von 91 % bei den deutschen Kindern. ImHortbereich übertrifft sogar die Versorgungsquoteder ausländischen Kinder mit 6,0 % diejenige derdeutschen Kinder mit 3,7 %. Je nach Siedlungs-struktur, Einzugsbereich und sozialem Umfeldstreut die Belegung der Einrichtungen mit auslän-dischen Kindern allerdings erheblich. In einemZehntel der untersuchten Einrichtungen befindensich keine ausländischen Kinder, bei jeder zwan-zigsten Einrichtung beträgt der Ausländeranteilmehr als 60 %.

Kindergar-tenbesuchträgt zur

erfolgreichenSchulkarriere

bei

Vergleichswei-se geringeNutzung desKindergartens

Kontroversein der päd-agogischen

und bildungs-politischenDiskussion

zum Bilingua-lismus

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173 – Drucksache 14/4357

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Auch die Träger weisen unterschiedliche Bele-gungsprofile auf. Die höchsten Anteile an ausländi-schen Kindern haben die kommunalen Einrichtun-gen (Gesamtanteil an ausländischen Kinder28,9 %), gefolgt von der Arbeiterwohlfahrt (AWO)(20,7 %), dem Deutschen Roten Kreuz (DRK)(19,4 %), den evangelischen (17,2 %), katholischen(16,2 %) Einrichtungen und den Einrichtungen desDeutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes(DPWV) (9,7 %). Die Nationalitäten unterscheidensich bei der Inanspruchnahme. Während sich einestarke Nachfrage nach Hortplätzen insbesonderebei exjugoslawischen, griechischen und osteuropäi-schen Kindern zeigt, ist dies kaum der Fall beitürkischen Kindern (Landkreistag NRW 1998).Diese insgesamt positive Entwicklung darf nichtdarüber hinweg täuschen, dass noch erheblicheDisparitäten in der Versorgung vorhanden sind.Gründe sind häufig ein unzureichendes Angebot anKindergartenplätzen gerade in den Stadtgebieten,in denen konzentriert Familien ausländischer Her-kunft leben und die mit einem Kindergartenplatzverbundenen relativ hohen Kosten. Bei einigenNationalitäten, wie z. B. der türkischen, mit einerniedrigen (offiziellen) Frauenerwerbstätigkeitsrateund einer zu anderen Migrantengruppen verhält-nismäßig höheren Kinderzahl, findet die vorschuli-sche Kinderbetreuung wieder häufig in der Familiestatt. Hierbei werden außer der Mutter ältere Ge-schwister und Verwandtschafts- und Nachbar-schaftsnetzwerke einbezogen.

Neu für die Migrantenfamilien ist die zunehmen-de Anzahl der Drei-Generationen-Haushalte. DieGroßelterngeneration übernimmt in Bezug auf diedritte Migrantengeneration zunehmende erzieheri-sche Funktionen, wobei in der sprachlichen Sozia-lisation die Herkunftssprache eine dominante Rolleeinnimmt. Hinzu kommt eine Zurückhaltung vonFamilien ausländischer Herkunft gegenüber einerKindergartenerziehung; sie ist vor allem vor demHintergrund der unterschiedlichen Erziehungszieleund -praktiken und den sich daraus ergebendenBefürchtungen einer kulturellen und familiärenEntfremdung des Kindes zu sehen. So entstehenKonflikte zwischen den Vorstellungen der pädago-gischen Institutionen und traditionalistisch orien-tierten Familien meistens bezüglich der Sexualer-ziehung, der Ernährungs- und der Kleidungsge-wohnheiten. Die Frage der religiösen Erziehungführt vor allem bei nicht-christlichen Familien zuSpannungen.

Die Träger haben durch die Zuordnung der Natio-nalitäten bzw. Religionen zu den Wohlfahrtsver-bänden spezifische Angebote entwickelt, die dieFamilien ausländischer Herkunft selektiv anspre-chen. So werden die katholischen Mittelmeerfami-lien eher auf die katholischen Kindergärten, diemuslimischen Familien eher auf die kommunalen

Kindergärten und die Arbeiterwohlfahrt orientiert.Probleme entstehen dort, wo die Verteilung dervorhandenen Kapazitäten auf die Träger nicht derZusammensetzung der Migrantenbevölkerung ent-spricht. In vielen Einrichtungen gibt es inzwischenBemühungen, den besonderen Bedingungen derKinder aus den Familien ausländischer Herkunftgerecht zu werden. Allerdings stellen die Bikultu-ralität und Zweisprachigkeit der Migrantenkinderdie Einrichtungen und die pädagogischen Fach-kräfte vor große Herausforderungen. Es fehlt vorallem an der Qualifikation der pädagogischenFachkräfte im Umgang mit Bilingualität und Bi-kulturalität. Gerade in einer Altersphase, die eineeinmalige Chance bietet, da sich Stereotype überFremde noch nicht verfestigt haben, können Mi-grantenkinder und deutsche Vorschulkinder zuminterkulturellen Umgang befähigt werden. Einegleichberechtigte Einbeziehung von qualifiziertenAngehörigen der Migrantengruppen in die Arbeitder Einrichtungen der Elementarerziehung ist bis-her nicht systematisch erfolgt. In Nordrhein-Westfalen beschäftigen erst 44 % der Einrichtun-gen, die einen hohen Anteil (mehr als 40 %) anausländischen Kindern haben, eine ausländischeKraft (Landkreistag NRW 1998).

V. 5.3 Arbeiterkinder, Seiteneinsteigerund Besonderheiten der Länder

Entscheidend für die Bildungssituation der Kinderaus Familien ausländischer Herkunft ist nicht dasbloße „Ausländer-Sein", sondern eine Vielfalt vonFaktoren, u. a. die Ethnie und die soziale Lage(Block/Klemm 1997). Insgesamt gesehen, nutzenheute Migrantenfamilien zwar stärker die Bil-dungseinrichtungen, sie versehen aber ihre Kinderweiterhin in ungleicher Weise mit den Kompeten-zen, die notwendig sind, damit diese sich in denBildungsinstitutionen bewähren können.

Nach den Zahlen der KMK bezogen auf das Jahr1996 waren ca. 9 % der gesamten Schülerpopulati-on, d. h. 1.173.600 Schülerinnen und Schüler aus-ländischer Staatsangehörigkeit. Allerdings ist derAnteil der Kinder aus Familien ausländischer Her-kunft in den deutschen Schulen erheblich höher,wenn man die Kinder, die zwar die deutscheStaatsangehörigkeit besitzen, aber aus eingebür-gerten Familien, aus Spätaussiedlerfamilien undaus binationalen Ehen stammen, hinzuzählt. Inso-fern erzeugt das Vergleichskriterium der Staatsan-gehörigkeit (deutsch – nicht deutsch) eine realitäts-fremde Dichotomie. In der Zukunft dürfte aufgrundder zunehmenden Einbürgerungen dieses Dilemmanoch größer werden.

Die Bildungssituation der Kinder aus Familienausländischer Herkunft erfährt seit Mitte der 70er-

Qualifikatio-nen der päd-agogischenFachkräfte imUmgang mitZweisprachig-keit undBikulturalitäterforderlich

Drucksache 14/4357 – 174 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Jahre große Aufmerksamkeit. Die Vergleiche mitden Gleichaltrigen deutscher Staatsangehörigkeitweisen auf eine deutlich geringere Bildungsbeteili-gung hin. Die Frage ist, ob angesichts des existie-renden Angebotes an Bildungsmöglichkeiten undder bisher vorhandenen Maßnahmen zur schuli-schen Förderung ausländischer Kinder der Abstanddieser Gruppe von der der einheimischen kleinerwird. Um dies zu beantworten, müssten nicht nurdie statistisch ermittelte Bildungsbeteiligung, son-dern auch die erreichten Abschlüsse und die Dauerder Bildung bzw. der Ausbildung berücksichtigtwerden. Dies sollte vor dem Hintergrund der Va-riablen Geschlecht, Bundesland und vor allemSozialschicht geschehen. Zudem sollte berücksich-tigt werden, dass sich die Kontrollgruppe „einhei-mische Kinder und Jugendliche“ und die schulor-ganisatorischen Rahmenbedingungen, insbesonderedie Schulformen, verändern. Veränderungen derBildungsbeteiligung ergeben sich daher auch in-stitutionsbedingt. So reagieren Bildungseinrichtun-gen auf Migrantenkinder entsprechend ihrer Op-portunitätslogik positiv oder negativ. Dies führtdazu, dass rückläufige Schülerzahlen in einerSchule, etwa einer nicht ausgelasteten Sonder-schule, durch erhöhte Aufnahme von Migranten-kindern kompensiert werden (Bommes/Radtke1993; Radtke 1995). Auch kann in Gymnasien undRealschulen die abnehmende deutsche Schülerpo-pulation durch ausländische Schüler ersetzt wer-den, in dem Bestreben des Systems, sich selbst zuerhalten. Eine Verringerung der Zahl der deutschenSchüler würde dann die Bildungschancen der aus-ländischen Schüler fördern (Seifert 1997).

Solche Institutioneneffekte sind schwer nachzu-weisen, die Annahme von Auswirkungen auf dieBildungskarrieren jedoch plausibel. Hinzu kommenSelektionseffekte innerhalb der Schülerpopulationselbst. Es ist anzunehmen, dass Einbürgerungenbisher vor allem integrierte und somit auch bil-dungserfolgreiche Migrantenfamilien betrafen.Selektionseffekte sind auch bei der Rückwande-rung zu vermuten, da überdurchschnittlich vieleauch im Bildungsbereich gut ausgestattete Mi-granten zurückkehren. So führt das Merkmal Na-tionalität dazu, dass der Bildungserfolg statistischgeringer als real ausfällt. Für die Bildungskarriereder Kinder von Familien ausländischer Herkunftsind zudem u. a. der Migrationszeitpunkt und dieAufenthaltsdauer der Eltern, ihr Migrationstatus,die Migrantengeneration, der die Kinder angehö-ren, ihr Einreisealter und Aufenthaltsunterbrechun-gen von Bedeutung. Landes- bzw. bundesweiteaggregierte Daten erfassen diese Indikatoren nicht,Sondererhebungen beziehen sich auf kleine Stich-proben in begrenzten Regionen und sind nichtrepräsentativ. Sie sind zudem miteinander nichtvergleichbar und erlauben keine Zeitreihen, umVerläufe zu studieren. Die verfügbaren, differen-

zierteren Datensätze (Mikrozensus, SOEP) berück-sichtigen neben anderen Merkmalen auch die so-ziale Herkunft, allerdings bezogen auf den Berufdes Familienvorstandes; sie lassen aber nur für diegrößeren Nationalitäten Aussagen zu. Schwierigerist die Lage für die Aussiedlerkinder, die, da sie diedeutsche Staatsangehörigkeit besitzen, meist nichtgesondert ausgewiesen sind.

Die Frage nach Chancengleichheit im Bildungswe-sen ist nicht leicht zu beantworten, und nicht vonder allgemeinen Diskussion über schulische Stan-dards zu trennen. Schließlich werden der Frageexplizit oder implizit häufig unterschiedliche Auf-fassungen von Chancengleichheit zugrunde gelegt.So müsste geklärt werden, ob zur Chancengleich-heit für die Migrantenkinder die Möglichkeit desErlernens der Muttersprache gehört. Statistischgesehen würde Chancengleichheit bedeuten, dassdie sozialen Schichten mit ihrem Anteil an derBevölkerung auch an den verschiedenen Bildungs-bereichen partizipieren. Dies ist für die deutscheBevölkerung nicht der Fall; 1995 lernten von allen17- und 18-jährigen Arbeiterkindern 19,2 % in dengymnasialen Oberstufen (einschließlich der Ober-stufen der Gesamtschulen und der Fachoberschu-len), von den Beamtenkindern taten dies im glei-chen Jahr 60,8 % (Block/Klemm 1997). DieseAnteile unterschreiten bzw. überschreiten die je-weiligen Anteile der Berufsgruppen „Arbeiter“ und„Beamte“ an der Bevölkerung. Vor diesem Hinter-grund der ungleichen Bildungspartizipation dersozialen Schichten ist demzufolge auch die Bil-dungsbeteiligung in den Familien ausländischerHerkunft zu bewerten. Aus der Bildungs- und So-zialstrukturforschung ist bekannt, dass sich diesoziale Herkunft und Bildung der Eltern auf dieBildungschancen der Kinder auswirken. Zumal dasdeutsche Schulsystem in seiner Gliedrigkeit inhohem Maße sozial selektiv wirkt (Böttcher 1989).Wird dies nicht in Betracht gezogen, werden dieBildungsleistungen der Familien ausländischerHerkunft und ihrer Kinder, wie auch die von denSchulen zu erbringenden Integrationsleistungenunterschätzt. Angesichts der Tatsache, dass es sichhäufig um Arbeiterfamilien handelt, kann nichterwartet werden, dass die Kinder bereits in derzweiten Generation eine der gesamtdeutschenBevölkerung vergleichbare Bildungsstruktur auf-weisen. Bezieht man sich auf die Bildungsbeteili-gung der deutschen Arbeiterkinder, fällt die Bilanzfür die ausländischen Kinder viel günstiger aus.

Eine Statistik über eine Momentaufnahme, wie sichdie Migrantenkinder in den verschiedenen Stufenund Zweigen des Bildungswesens befinden, sagtnoch nicht viel aus. Zeitreihen dagegen könnenEntwicklungen im diachronischen Verlauf, Verän-derungen, also Vor- oder Rückschritte abbilden.Zeitreihen werden jedoch in ihrer Aussagefähigkeit

Veränderungder Bildungs-

beteiligungauch instituti-

onsbedingt

DeutschesSchulsystemwirkt in ho-hem Maßsozial selektiv

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 175 – Drucksache 14/4357

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beeinträchtigt, weil bei Migrantenkindern, andersals bei den einheimischen, wegen der stetigenFluktuation durch Zuzüge (Quer- und Seitenein-steiger) und Fortzüge sich die Grundgesamtheitnicht nur demographisch, sondern auch migrations-spezifisch ständig verändert. So stieg seit Anfangder 90er-Jahre wieder die Zahl von Seiteneinstei-gern, vor allem von späteingereisten Kindern undJugendlichen aus Flüchtlingsfamilien aus Kriegs-und Bürgerkriegsgebieten und von Asylbewerbernan. Die Schulpflicht erstreckt sich nicht auf dieseKinder. Der Schulbesuch ist von der Initiative derEltern und der Gestaltungsmöglichkeiten derKommunen abhängig. Diese Kinder haben erhebli-che Bildungsverluste auszugleichen, da sie in Zu-sammenhang mit der Flucht häufig Unterrichtversäumt haben, und ihr Alter überwiegend nichtdem der deutschen Kinder in der jeweiligen Klasseentspricht und die Integration in den Klassenver-band erschwert. Die Berücksichtigung der Flücht-lings- und Asylsuchendenzahlen in den Bildungs-statistiken führte zu einem Absinken der Schulbe-suchsquoten von ausländischen Kindern in denletzten Jahren. Die Überrepräsentanz von ausländi-schen Schülern an Schulen, die einen niedrigerenBildungsabschluss vermitteln, ist unter anderemauch auf die angestiegene Zahl von Seiteneinstei-gern zurückzuführen. Sie werden aufgrund ihrergeringen Deutschkenntnisse meist in Vorberei-tungs- und Anfangsklassen in Grundschulen bzw.in Hauptschulen aufgenommen, und erlangen dortnur die niedrigeren Bildungsabschlüsse. SolcheEffekte dürften sich u. a. auch bei den Gruppentürkischer Staatsangehörigkeit durch den Zuzugkurdischer Flüchtlingsfamilien oder aus den Staa-ten des ehemaligen Jugoslawiens bemerkbar ma-chen. Diese neueingereisten Gruppen gehen in dieBildungsstatistik ein mit dem Ergebnis, dass derBildungsfortschritt von Kindern lang ansässigerMigranten insgesamt geringer ausfällt.

Die Vielfalt der in den Bundesländern vorhandenenund die in den letzten Jahren zunehmende Zahl vonneuentstehenden Schultypen erschweren wiederumdie Zuordnung und Vergleichbarkeit der einzelnenSchularten im Ländervergleich und eine Abschät-zung der Entwicklungen im Bildungsbereich imzeitlichen Verlauf. Beträchtliche Vergleichs-schwierigkeiten ergeben sich aufgrund der unter-schiedlichen Verbreitung der Gesamtschulen, aufdie sich viele Kinder ausländischer Familien orien-tieren, und durch die unterschiedlichen Beschu-lungsmodelle für ausländische Schüler in den Bun-desländern, wo punktuell Klassen nur für einebestimmte Nationalität oder nur für ausländischeKinder verschiedener Nationalität eingerichtetwerden. In Bayern werden Kinder aus Familienausländischer Herkunft in Klassen mit zwei Unter-richtssprachen unterrichtet. Besondere Schulfor-men kommen in den anderen Bundesländern hinzu,

etwa die durch den griechischen Staat in mehrerendeutschen Städten unterhaltenen griechischenGrundschulen, Gymnasien und Lyzeen.

V. 5.4 Bildungsbeteiligung der Kinder ausFamilien ausländischer Herkunft

Die amtlichen Statistiken vermögen die großeHeterogenität der Schülerpopulationen ausländi-scher Herkunft nicht widerzuspiegeln. Sie könnennur unter dem Vorbehalt herangezogen werden,dass erhebliche Unterschiede zwischen der sozialenZusammensetzung der einheimischen und derMigrantenbevölkerung und somit Unterschiede inden Bildungsvoraussetzungen bestehen. Unter-schiedliche Voraussetzungen sind auch bei denFamilien ausländischer Herkunft untereinandervorhanden und wirken sich auf die Bildungs-chancen der Kinder aus. Hinter den Unterschiedenim Bildungserfolg steht ein komplexes Bündel anFaktoren, deren Wechselwirkung schwer herauszu-arbeiten ist. Besonders deutlich wird dies bei derschwierigen Beantwortung der Frage, warumbestimmte Nationalitäten erfolgreicher sind alsandere.

So sind Kinder griechischer Nationalität hinsicht-lich der Beteiligung an der Gymnasialbildung er-folgreicher als etwa italienische, jugoslawische undtürkische Kinder, genauso erfolgreich wie deutscheKinder, bzw. erfolgreicher als diese (Alba u. a.1994; Bericht 1997). So ermittelte der Mikrozen-sus, bezogen auf das Jahr 1995, einen vergleichs-weise hohen Anteil griechischer Kinder, die in denKlassenstufen 11 bis 13, d. h. in einer gymnasialenOberstufe anzutreffen waren – 16,8 % gegenüber z.B. 11,4 % der Kinder aus den „rein“ deutschenEhen (Roloff 1998). Der Bildungserfolg griechi-scher Kinder kann nicht mit der EU-Mitgliedschafterklärt werden, wenn man sie mit der wenigererfolgreichen und gleichermaßen der EU angehö-renden italienischen Gruppe vergleicht; und dierelativ starke ethnische Bindung, die sie aufweisen,kommt auch bei der weniger bildungserfolgreichenGruppe türkischer Staatsangehörigkeit vor (Alba u.a. 1994). Die Ermittlung der hohen Gymnasialbe-teiligung der Gruppe griechischer Staatsangehörig-keit bezieht sich, was die Statistiken der Kultusmi-nisterkonferenz (KMK) betrifft, auf das deutscheSchulsystem. Hinzu müssten die Anteile aus dengriechischen Schulen in Deutschland gezählt wer-den. Seit Anfang der 80er-Jahre existieren in Städ-ten mit größeren Anteilen griechischer Bevölke-rung griechische Schulen der Primarstufe (sechsJahre) und Sekundarstufe (3-jähriges Gymnasiumund 3-jähriges Lyzeum). Sie werden hauptsächlichdurch den griechischen Staat finanziert. Der Unter-richt wird mit nach Deutschland delegierten grie-chischen Lehrkräften, nach in Griechenland gülti-

AuffälligeUnterschiedein den Bil-dungserfolgenbei den Natio-nalitäten-gruppen

Überrepräsen-tanz bei nied-

rigen Schulab-schlüssen

hängt mit derZunahme von

Seitenein-steigern

zusammen

Drucksache 14/4357 – 176 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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gen Lehrplänen und Unterrichtsmaterialien gestal-tet und von den deutschen Schulbehörden örtlich inunterschiedlichem Maße gefördert oder geduldet.Knapp 20 % der griechischen Kinder besuchen diegriechischen Schulen, die von einem Teil der grie-chischen Familien als notwendige Voraussetzungihrer Rückkehrpläne und Sicherung der Kontinuitätder Schulkarriere der Kinder bei Mobilität derEltern oder Erhaltung der kulturellen Identitätvehement gefordert, von einem anderen Teil vorallem wegen ihres soziokulturellen Insel-Daseinsund geringen Anteils an Deutschunterricht kritisiertwerden. Die Schulen stellen häufig eine Alternativefür griechische Absolventen der deutschen Haupt-schulen dar, die dann doch über diesen Weg eineGymnasialbildung erhalten. Daher ist die Zahl derSchüler in der Sekundarstufe höher als die derPrimarstufe. Der Zugang zum griechischen Hoch-schulsystem wurde über eine besondere Aufnah-

mequote für Griechen aus dem Ausland zu denPrüfungen zur Hochschulzugangsberechtigung inGriechenland erleichtert. Nach ähnlichem Konzeptexistieren punktuell Schulen anderer Nationalitä-ten, wie etwa die italienische Schule in Köln, dieSchule der japanischen Kolonie in Düsseldorf undfranzösische Schulen in mehreren deutschen Städ-ten. Auch die Bundesrepublik unterhält im Auslandzahlreiche deutsche Schulen für die Kinder der dortvorübergehend oder dauerhaft lebenden deutschenFamilien.

Das Bild, das sich aus der Statistik ergibt, zeigt,dass sich die Situation der Migrantenkinder inBezug auf die schulische Bildung und die berufli-che Ausbildung seit den 80er-Jahren insgesamtverbessert hat, und dass sich insbesondere die Be-teiligung an gymnasialer Bildung und an den Real-schulen deutlich erhöht hat.

Abbildung V.6: Anteile mittlerer und höherer Bildungsabschlüsse bei ausländischen Schulabsol-venten, 1985 - 1995

1985

1986

1987

1988

1989

1990

1991

1992

1993

1994

19950

5

10

15

20

25

30

Realschule Abitur

Quelle: Statistische Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz (Seifert 1997)

%

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 177 – Drucksache 14/4357

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Der Anteil der jungen Ausländer mit Realschulab-schluss stieg im Zeitraum 1985 bis 1995 von 19 %auf 27 %. Der Anteil der Abiturienten verdoppeltesich nahezu von 5,6 % auf knapp unter 10 %. DerAnteil der Hauptschulabsolventen und der auslän-dischen Jugendlichen ohne Bildungsabschlussverringerte sich von 76 % auf 57 %. Im Gegensatzdazu verlassen 37 % der deutschen Kinder dieSchule ohne Abschluss oder nur mit einem Haupt-schulabschluss. Gleichzeitig finden ausländischeJugendliche den Zugang zu mittleren und höherenschulischen Bildungsgängen nicht in dem Maße,wie gleichaltrige deutsche. Nach dem Herkunfts-land unterscheidet sich die Bildungsbeteiligung derSchüler ausländischer Staatsangehörigkeit jedocherheblich. Während, wie erwähnt, spanische undgriechische Schüler mit den höchsten Anteilenausländischer Schüler in Gymnasien und Real-schulen am erfolgreichsten sind, sind Kinder italie-nischer Herkunft überproportional in Schulen fürLernbehinderte vertreten. Zu den am ungünstigstenim Bildungssystem Platzierten gehören die Kinderund Jugendlichen türkischer Herkunft. Sie bleibenüberdurchschnittlich oft ohne Bildungsabschlussund sind in Gymnasien und Realschulen entspre-chend unterrepräsentiert. Auch nach dem Ge-schlecht zeigen sich Bildungsunterschiede. JungeMädchen aller Herkunftsländer verfügen häufigerüber höhere Bildungsabschlüsse als junge Männer.Insbesondere bei jungen Türkinnen hat sich derAnteil derer mit höheren Bildungsabschlüssenwährend der letzten 10 Jahre deutlich erhöht.

Insgesamt gesehen zeigen sich viele Unterschiedein der Situation der Kinder und Jugendlichen ausFamilien ausländischer Herkunft sowohl hinsicht-lich der verschiedenen Nationalitäten als auch inBezug auf die Bundesländer und im Verhältnis zuden gleichaltrigen Kindern und Jugendlichen deut-scher Staatsangehörigkeit. Dies betrifft das ge-samte Bildungssystem, angefangen vom Kinder-gartenbesuch bis zur Beteiligung an den weiterfüh-renden Schulen und den erreichten Schulabschlüs-sen. Im Schulsystem zeichnen sich Unterschich-tungsprozesse ab. In ethnisch gemischten Klassenmit hohen ausländischen Anteil besetzen ausländi-sche Kinder bereits aufgrund ihrer Sprachschwie-rigkeiten in Deutsch die unteren Stufen der Lei-stungsskala. Kinder mit Deutsch als Muttersprachehaben, gerade am Anfang ihrer Schulkarriere dieMöglichkeit, sich höher zu platzieren. Sie sindhäufig die Besten in leistungsschwachen Klassen.

Allerdings ist nicht nur die Sprachbeherrschung,sondern vielmehr insgesamt die Interaktionsfähig-keit von Bedeutung (Seifert 1997). Besonderskritisch sind für ausländische Schüler die schuli-schen Übergänge. Auch deutsche Kinder aus be-nachteiligten sozialen und kulturellen Milieushaben mehr Schwierigkeiten, z. B. eine Gymnasi-alempfehlung zu erhalten. Sie müssen wesentlichbessere Leistungen erbringen als im Durchschnitt.In einigen Fällen erfahren hier ausländische Kindereine positive Diskriminierung (Hansen/Pfeiffer1998).

Anteil derjungen Aus-

länder amRealschulab-

schluss in denletzten 10

Jahren gestie-gen, amAbitur

verdoppelt

Sprachbeherr-schung undInteraktions-fähigkeit alsVoraussetzungfür eine besse-re Platzierung

Drucksache 14/4357 – 178 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Abbildung V.7: Deutsche und ausländische Schüler nach Schulabschlussarten 1997/98

Quelle: Statistisches Bundesamt Fachserie 11, Reihe 1, 1998

Ausländische Schulentlassene

Ohne Hauptschulab-

schluß 19%

Fach-/Hochschul-reife 10%

Realschul-abschluß

28%

Mit Hauptschulab-schluß 43%

Deutsche Schulentlassene

Fach-/Hochschul-reife26%

Ohne Hauptschul-abschluß

8%Mit Hauptschul-

abschluß25%

Realschul-abschluß

41%

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 179 – Drucksache 14/4357

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V. 5.4.1 Bildungsbeteiligung in den Bundes-ländern

Für die Bewertung der Bildungsbeteiligung derKinder aus Familien ausländischer Herkunftmüssten die sozialen Selektionsprozesse in denBundesländern, indem z. B. in Bayern Arbeiterkin-der seltener in Gymnasien anzutreffen sind als inNordrhein-Westfalen, berücksichtigt werden (Bött-cher 1991). Zur sozialen Schichtung kommt dieethnische Schichtung hinzu. Während ausländischeSchüler in den Gesamtschulen überrepräsentiertsind, sind sie in den Gymnasien aller Bundesländerallgemein unterrepräsentiert. Allerdings ist dies inden beiden Stadtstaaten Hamburg und Bremensowie in Hessen am seltensten der Fall. Aber auchin den Ländern mit niedriger Ausländerkonzentra-tion wie Niedersachsen und Schleswig-Holsteinsind die Anteile ausländischer Schüler in Gymnasi-en noch vergleichsweise hoch. Da in DeutschlandBildung Ländersache ist, stellt die Anwesenheit derKinder aus ausländischen Familien bereits ausGründen der Quantität eine unterschiedliche Her-ausforderung von Bundesland zu Bundesland dar.In den Neuen Bundesländern (0,5 %), und in eini-gen westdeutschen Bundesländern (in Schleswig-Holstein 5,3 % und in Rheinland-Pfalz 7,4 %) istder Anteil ausländischer Kinder vergleichsweisegering, so dass nicht angenommen werden kann,dass sich daraus eine spezifische Problemlageergibt. Am höchsten sind die Konzentrationenin den Stadtstaaten Hamburg (19,1 %), Bremen(16,9 %) und in Hessen (15,4 %). Dabei ergebensich in den einzelnen Bundesländern nochmals

regionale (z. B. in Frankfurt liegt der durchschnitt-liche Anteil an Schülern aus Familien ausländi-scher Herkunft bei 35-40 %) und in einzelnenStadtteilen solche Konzentrationen, dass in be-stimmten Schulen ausländische Kinder in derMehrzahl sind oder rein ausländische Klassenexistieren. Das Unterrichten der deutschen Spracheerfordert dort einen verstärkten Einsatz an beson-ders qualifizierten Lehrkräften. Die Einführungeiner Ausländerquote bzw. eine Umverteilung inandere Schulen mit niedrigeren Ausländeranteilenwürde die Kinder aus ihrem sozialen Milieu reißenund zur Ausgrenzung führen.

Dass eine hohe Ausländerkonzentration in derSchule ein ungünstiges Lernklima schafft, wirdzwar vielfach behauptet, lässt sich aber nach Sei-fert (1997) zumindest für ausländische Kindernicht eindeutig behaupten. Halbsprachigkeit, bzw.Sprachschwierigkeiten sind zudem ein zunehmen-des Problem, das auch vielfach deutsche Familienbetrifft.

In Berlin ist der Anteil der ausländischen Schülerin Hauptschulen überproportional hoch. Auch istdort der Anteil der ausländischen Jugendlichen, diedie Hauptschule ohne Abschluss verlassen, vonallen Bundesländern am höchsten (12,3 %), wäh-rend sie in anderen Bundesländern mit hohemAusländeranteil eher niedrig (Hamburg 6,9 %,Bremen 7,5 %, Nordrhein-Westfalen 4,7 %) und insolchen mit niedrigem Ausländeranteil vergleichs-weise hoch sind (Rheinland-Pfalz 8,3 %, Saarland9,8 % (Kramer 1997).

Abbildung V.8: Ausländeranteile in verschiedenen allgemeinbildenden Schultypen nach Bun-desländern (West) 1995

Hamb

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Brem

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Hess

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0

10

20

30

40

Sonderschule

Hauptschule

Insgesamt

Gymnasien

%

In allen Bun-desländern

ausländischeKinder in

Gesamtschu-len überreprä-

sentiert, inGymnasienunterreprä-

sentiert

RegionaleKonzentratio-nen schaffenÜberrepräsen-tation auslän-discher Schü-ler

Quelle: Statistische Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz (Seifert 1997)

Drucksache 14/4357 – 180 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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V. 5.5 Migrantenkinder in Sonderschulen

Der Anteil der lernbehinderten Schüler und Schüle-rinnen in Deutschland ist insgesamt drastisch ge-sunken. Zwischen 1976 und 1990 hat sich die Zahlder lernbehinderten Schüler und Schülerinnen ummehr als die Hälfte verringert. Dies wird auf dieAnstrengungen zur Integration und pädagogischenDifferenzierung innerhalb der allgemeinbildendenSchulen zurückgeführt. Ein Gegentrend zeigt sichbei den ausländischen Schülerinnen und Schülern.Obwohl Migrantenfamilien Sonderschulüberwei-sungen als Stigmatisierung ablehnen und sich die-ser u. U. durch Rückführung und Beschulung derKinder im Herkunftsland entziehen, sind diese anSonderschulen überrepräsentiert. Dies hat in denletzten Jahren – betrachtet man die durchschnittli-chen Sonderschulquoten – eher zugenommen; dieQuote stieg 1995 auf 4,2 % von 4,0 % im Jahre1993. Gleichzeitig lag die Quote der Schülerinnenund Schüler deutscher Staatsangehörigkeit konstantbei 2 %. Bei der regionalen Verteilung der Mi-grantenkinder in Sonderschulen für Lernbehinderteergeben sich erhebliche Differenzen unter denBundesländern. Sie spiegeln die Unterschiede derSchulpolitik in Richtung zunehmender Akzeptanzintegrativer pädagogischer Ansätze wider. Insge-samt lassen sich jedoch die regionalen Unterschie-de nicht nur auf solche institutionsbedingte Verzer-rungen zurückführen. Betrachtet man die Sonder-schulquoten, schwanken z. B. diese zwischen 1,6 in Berlin, 3,0 % in Bayern und 5,8 % in Baden-Württemberg. Dieses Verteilungsgefälle kommtallerdings bei der Schülerschaft deutscher Staats-angehörigkeit nicht vor. So entspricht etwa inNordrhein-Westfalen die Quote der sonderschul-überwiesenen Migrantenkinder mit 4,3 % zwardem Bundesdurchschnitt, allerdings ist die Quotedeutscher Überwiesener mit 1,8 % etwas geringerals der Durchschnitt. Größer ist das Missverhältnisin Baden-Württemberg, das bei Migrantenkindern5,8 %, bei deutschen Schülern eine Quote von 1,6 aufwies (Gogolin 1998).

Angesichts schwindender Akzeptanz von Sonder-einrichtungen bei der deutschen Bevölkerungscheint sich hier der institutionelle Rekrutierungs-sog auf die Migrantenkinder zu verlagern und trifftzugleich zunehmend auf Gruppen aus der drittenGeneration. Vor allem Kinder und Jugendlicheitalienischer und türkischer Staatsangehörigkeitsind in Sonderschulen vertreten. Sowohl bei derZurückstellung nach Schulbeginn in den Schulkin-dergarten als auch bei der Sonderschulüberweisungzeigen sich über die nationalitätenspezifischenUnterschiede hinaus, wie bei der deutschen Grup-pe, auch geschlechtsspezifische Unterschiede:Ausländische Jungen sind in der Tendenz stärkerrepräsentiert als ausländische Mädchen.

V. 5.6 Jugendliche in der beruflichenAusbildung

1996 haben 116.000 der jungen Ausländer eineAusbildung begonnen. Während 64 % der Deut-schen eine Ausbildung im dualen System aufneh-men, ist dies bei 39 % der Ausländer der Fall. An-gesichts ihrer geringen Beteiligung in der weiter-führenden Sekundarstufen des Schulsystems be-deutet dies, dass der Bedarf an Lehrstellen geradebei ausländischen Jugendlichen hoch ist und hierein Defizit an Lehrstellen besteht. Die 1995 durch-geführte Repräsentativstudie (Mehrländer u. a.1996) ergab, dass jeweils rund ein Drittel der Ju-gendlichen aus der Türkei und dem ehemaligenJugoslawien und jeweils ein Viertel der italieni-schen und griechischen Jugendlichen, die sich umeine Lehrstelle bemühten, leer ausgingen. Häufiggeht dies auf die Vorbehalte vieler Betriebe zurück,die bei ausländischen Jugendlichen Schwierigkei-ten antizipieren, u. a. bezüglich der Integration indie Belegschaft, der sprachlichen Kommunikation,der Akzeptanz durch die Kundschaft und von Ab-brüchen aus familiären Gründen oder aufgrundeiner Rückkehr ins Herkunftsland (Boos-Nünning1994). Die Konzentration von bestimmten Natio-nalitäten auf wenige Berufe und die zunehmendeKonkurrenz auf dem Ausbildungsmarkt erschwe-ren die Aufnahme einer Ausbildung. Förderpro-gramme wie Berufsvorbereitungsjahr, bzw. Be-rufsgrundjahr stellen zwar einen vorübergehendenAusweg dar, sind aber keine Alternative, wenn sienicht zu Berufsbildungsabschlüssen oder festenAusbildungsverhältnissen führen. Dagegen ist dieAusbildungsbeteiligung der jungen Ausländerinnenin den letzten Jahren deutlich gestiegen und liegtmit 37 % in der Nähe der Quote der jungen deut-schen Frauen von 40 % (IWD 1998). Allerdings istder Ausbildungsstellenmarkt für junge Auslände-rinnen noch enger als für die ausländischen jungenMänner, die sich an Berufen etwa im Handwerkorientieren können, in denen die sprachlichen An-forderungen nicht so hoch sind wie in den von denjungen Frauen favorisierten Berufen im kaufmän-nischen oder gesundheitlichen Bereich. Hinderlichkommt das Rekrutierungsverhalten der Betriebehinzu, das stark von negativen stereotypen Bildernbezüglich der ausländischen Bewerberinnen ge-prägt ist (Granato 1995).

Für ausländische wie für deutsche Jugendliche sinddie Bereiche Industrie und Handel sowie dasHandwerk die wichtigsten Ausbildungsbereiche.Im Handwerk sind die ausländischen Jugendlichenmit einem Anteil von 9 % an allen Auszubildendenetwas überrepräsentiert. Im Bereich des öffentli-chen Dienstes sind sie dagegen mit einem Anteilvon 3,2 % an allen Auszubildenden deutlich unter-repräsentiert.

Bedarf anLehrstellenbei ausländi-schen Jugend-lichen sehrhoch

Verteilungsge-fälle von

Sonderschul-einweisungen

in einzelnenBundeslän-

dern

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 181 – Drucksache 14/4357

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Teilweise mag dies auf die Regelungen des Beam-tenrechts zurückzuführen sein, die die deutscheStaatsbürgerschaft als Voraussetzung für die Aus-übung eines Beamtenberufes vorsehen. Allerdingsist nur ein Teil der Ausbildungsplätze des öffentli-chen Dienstes mit einem Beamtenstatus verbunden,sodass doch eine gewisse Zurückhaltung des öf-

fentlichen Dienstes bei der Ausbildung ausländi-scher Jugendlicher festzustellen ist. AusländischeAuszubildende sind vor allem in gewerblichen undtechnischen Berufen zu finden (1995: 63,2 %). Inkaufmännischen Berufen wurde weniger als einViertel der ausländischen Lehrlinge ausgebildet(Seifert 1997).

Abbildung V.9: Schulische Bildung von ausländischen Vätern und Kindern

Nach einem schulischen Abschluss verschiebensich die Schwierigkeiten beim Übergang in denBeruf. Auf dem Arbeitsmarkt müssen sich dieausländischen Jugendlichen dem Wettbewerb stel-len und sind (strukturell ähnlich wie einheimischeArbeiterkinder) aufgrund ihres geringeren sozialenund kulturellen Kapitals benachteiligt. Eine eth-nisch motivierte Benachteiligung kommt bei be-stimmten Nationalitäten hinzu. Das Erreichen vonmittleren und höheren Bildungsabschlüssen durchausländische Jugendliche ist zwar eine Vorausset-zung, aber noch keine Garantie, dass sie auchwirklich in diese Beschäftigungsbereiche gelangen(Beer-Kern 1993). Insbesondere die ungünstigeArbeitsmarktlage lässt vor allem in attraktiven

Beschäftigungsbereichen die Anforderungen überformale Schulabschlüsse hinaus wachsen.

Vergleicht man die berufliche Bildung der Eltern-generation mit der der Kindergeneration, zeigt sicheine wenn auch geringe intergenerationale Mobili-tät (Seifert 1997). Während von der Vätergenerati-on 60 % keinerlei berufliche Bildung hatten undweitere 13 % lediglich in ihrem Herkunftslandangelernt waren, hatte von der Kindergenerationetwa die Hälfte keinen beruflichen Bildungs-abschluss, wobei sich dieser Anteil durch die späte-re Aufnahme einer beruflichen Ausbildung nochreduzieren könnte. 18 % der Kinder befanden sichnoch in einer beruflichen Ausbildung, weitere

Quelle: Statistisches Bundesamt (Seifert 1997)

Kein Abschluß

Pflichtschule im Ausland

Höhere Schule im Ausland Hauptschule

Schulbildung Väter

Kein AbschlußPflichtschule im Ausland

Höhere Schule im Ausland

Hauptschule

Mittlere Reife

Abitur

Schulbildung Kinder

Drucksache 14/4357 – 182 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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24 % hatten bereits in Deutschland eine Lehreabgeschlossen, 5 % eine Fachschule besucht, und2 % verfügen über einen Universitätsabschluss.

Rund 40 % der Studierenden ausländischer Staats-angehörigkeit sind Bildungsinländer. Hiermit wer-den diejenigen ausländischen Studierenden be-zeichnet, die eine Hochschul- oder Fachhochschul-reife an deutschen Schulen erworben haben. Dengrößten Teil dieser Gruppe stellen die Kinder vonArbeitsmigranten. Betrachtet man die beruflicheStellung des Vaters, so stammen 77 % der Bil-dungsinländer aus Arbeiterfamilien und nur 7 %aus Familien mit höherem sozialen Status (Bun-desministerium für Bildung und Wissenschaft1966). Vergleicht man dies mit dem Anteil derStudierenden deutscher Staatsangehörigkeit ähnli-cher sozialer Lage, dann zeigt sich in diesem Be-reich eine erhebliche Beteiligung der Migranten-kinder an dem Bildungsaufstieg. Sie ist sogar höherals die Statistik aufweist, da sich auch hier dieDaten auf das Merkmal „Staatsangehörigkeit“beziehen und eingebürgerte bzw. studierendeSpätaussiedler in dieser Statistik nicht als ausländi-sche Studierende, sondern als Deutsche erfassen.

V. 5.7 Aussiedlerfamilien und Bildung

Seit Beginn der 90er-Jahre hat eine starke Verände-rung der Aussiedlerpopulation stattgefunden. Inden letzten Jahren kommen Aussiedler in besonde-rem Maße aus den Nachfolgestaaten der Sowjet-union, in erster Linie aus Kasachstan und Russland.Für die Integration in den Arbeitsmarkt und dieGesellschaft Deutschlands sind die Aussiedler der90er-Jahre wenig vorbereitet. Ihre mitgebrachteschulische und berufliche Ausbildung und ihre imHerkunftsland erworbene soziale Kompetenz kön-nen in Deutschland nur bedingt umgesetzt werden.Zudem bringen die Aussiedler der neunziger Jahrein den meisten Fällen nur geringe Kenntnisse derdeutschen Sprache mit. Eine empirische Untersu-chung zur Lebenssituation jugendlicher Aussiedler,die zwischen 1990 und 1994 in die Bundesrepublikgekommen waren, ergab, dass nur 8 % von ihnenin ihren Familien ausschließlich Deutsch sprachen(Dietz/Roll 1998). Die russische Sprache war bei45,6 % Familiensprache und 46,4 % sprachen zuHause Deutsch und Russisch. Der zunehmendbikulturelle Hintergrund der jüngsten Aussied-lerpopulation macht sich auch daran fest, dass39 % der befragten Jugendlichen aus einem bina-tionalen Elternhaus (zumeist deutsch/ russisch)stammten.

Für die schulische und berufliche Integration derAussiedler ist die Beherrschung der deutschenSprache eine wichtige Voraussetzung, ohne die einerfolgreicher Abschluss von Schul- und Berufsaus-

bildung nicht möglich ist. Insbesondere bei derjüngeren Aussiedlergeneration bestehen jedochheute zum Teil erhebliche Defizite in diesem Be-reich. Der sprachlichen Förderung von Aussiedler-kindern kommt daher im schulischen Integrations-prozess eine herausragende Rolle zu. Selbst wenndie im Herkunftsland erworbenen Schulabschlüsseoder die begonnene Berufsausbildung formellanerkannt werden, genügen sie oft den in der Bun-desrepublik gestellten Anforderungen nicht bzw.können aufgrund sprachlicher Defizite nicht umge-setzt werden. Daher sind berufsvorbereitende Bil-dungsmaßnahmen und ausbildungsbegleitendesprachliche Förderung der Aussiedlerjugendlichenfür die berufliche Integration von entscheidenderBedeutung.

Die statistischen Informationen zur schulischenIntegration von Aussiedlern sind sehr bruchstück-haft, da Aussiedler in den Schulstatistiken fast allerBundesländer (mit Ausnahme von Nordrhein-Westfalen) als Deutsche geführt werden. Die schu-lische Vorbildung in den Herkunftsländern ist invielen Fällen nicht adäquat auf das deutsche Bil-dungssystem übertragbar. Der Anteil von Aus-siedlerschülern an Grund- und Hauptschulen dürftedaher höher liegen als es dem Aspirationsniveauder Familien entspricht. Aussiedlerschüler habenüber die Sprachprobleme hinaus vor allem Anpas-sungsprobleme an den Unterrichtsstoff und denUnterrichtsstil. Die Struktur der Schulen und dieArt des Unterrichts in den Herkunftsländern derAussiedlerschüler sind noch immer stark von denMaximen der vormals sozialistischen Gesellschaf-ten – wie z. B. Disziplin, hierarchischen Strukturenund der Orientierung am Kollektiv – bestimmt.Jugendliche und Kinder brauchen daher oft lange,um sich an die Form des Unterrichts in Deutsch-land zu gewöhnen. Aussiedlerkinder und -jugend-liche haben aufgrund der Ausbildungs- undsprachlichen Defizite oft geringere Chancen alsEinheimische, weiterführende Schulen zu besu-chen.

In einer Studie über den Akkulturationsprozess vonSchülern (Roebers 1997), in der Migrantenkinderüber einen Zeitraum von zwei Jahren beobachtetwurden, wurde festgestellt, dass nach zwei Jahrender Akkulturationsprozess bei den Aussiedlerkin-dern noch nicht als abgeschlossen gelten konnte.Als größte Problemgruppe erscheinen die Jugendli-chen, die bei ihrer Einreise nicht mehr schulpflich-tig sind. Sie können zwar einen Fördersprachkursabsolvieren, dieser reicht aber in der Regel nichtaus, um weiterführende Schulen zu besuchen odereine qualifizierende Berufsausbildung aufzuneh-men. Was die mitgebrachte berufliche Bildung derjugendlichen Aussiedler angeht, lassen sich dieQualifikationen des Herkunftslandes bei der Plat-zierung auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt

Die Aussiedlerder 90er-

Jahre bringenkaum Deutsch-kenntnisse mit

Qualifikatio-nen aus Her-kunftslandlassen sichnicht dek-kungsgleichverwerten

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 183 – Drucksache 14/4357

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ohne weitere Qualifizierung nicht deckungsgleichverwerten.

V. 5.8 Familien- und Elternbildung

Der fremde Kontext in der Migration stellt dieFamilie vor neue Aufgaben. In diesem Prozess derInformationssuche, der Entscheidungsfindung undder Neugestaltung des Familienlebens brauchenEltern, vor allem Eltern aus bildungsfernen Milieuszur Stärkung ihrer Erziehungskompetenz Unter-stützung durch Familien- und Elternbildung, durchVermittlung von Expertenwissen und Hilfe zurSelbsthilfe (Gaitanides 1998).

Familien- und Elternbildung sind in den Familien-bildungsstätten institutionalisiert – sie finden aberauch in anderen Foren statt. Die Trägerstruktur derAngebote ist schier unübersichtlich. Neben speziellan Migranten gerichtete Angebote der Wohlfahrts-verbände engagieren sich hier Selbstorganisatio-nen, multikulturell ausgerichtete Nachbarschafts-zentren bzw. Frauen- und Müttertreffs und mobileElternbildungseinrichtungen (siehe Kap. V.4).Elternbildung wird durch das Kinder- und Jugend-hilfegesetz (KJHG) gefördert und von den Jugend-ämtern finanziert. Ausländer mit regelmäßigemAufenthalt im Geltungsbereich des Gesetzes (ein-schließlich der geduldeten) können seit In-Kraft-Treten des KJHG im Jahr 1991 Leistungen derJugendhilfe in Anspruch nehmen. Da im Gesetz dieArbeit mit Gruppen, „von sozialer Gruppenarbeitbis zu emanzipatorischen Bildungsangeboten“ alszweites gleichberechtigtes Standbein neben die„Beratung und Hilfe für Einzelne und Familien“rückt, stellt sich die Frage nach der gruppenspezifi-schen Zugänglichkeit der Erziehungsberatungs-stellen durch die Migrantenfamilien auch als eineFrage des korrekten Gesetzesvollzuges (Gaitanides1998).

Das Aufgabengebiet der Familienbildungsstättenwurde 1991 mit dem KJHG in den Pflichtkatalogöffentlicher Erziehungshilfen aufgenommen. DieAngebotspalette an Kursen ist breit gefächert.Wochenendfreizeiten für die ganze Familie bzw.Familienseminare gehören ebenfalls zum Pro-gramm. Die Familienbildungsstätten sind angehal-ten, einen Teil der Kosten durch Gebührenerhe-bung einzutreiben. Sie haben – bis auf einige weni-ge Ausnahmen – noch kaum Anstrengungen unter-nommen, um sich der besonderen Situation derFamilien ausländischer Herkunft zu stellen. DieZugangsschwellen sind sehr hoch, einerseits wegenSchwierigkeiten der sprachlichen und interkultu-rellen Kommunikation, andererseits aber auchwegen der zu starken Orientierung der Angeboteauf die Mittelschicht und auf deren Themen undKommunikationsformen. Diese Einseitigkeit wi-

derspricht allerdings dem Pluralismusgebot desKJHG und auch dem sozialpolitischen Geist desGesetzes, das sich mit Hilfsangeboten primär andiejenigen wendet, die Hilfe am nötigsten haben(Gaitanides 1998). In diesem Bereich sind dieZugangsschwellen zur Elternbildung für Migran-tenfamilien noch höher als in anderen Bereichender Familien- und Erziehungshilfen. Dabei zeigendie niedrigschwelligen Angebote der Familienbil-dung im Bereich der Sozialdienste für Migrantenund der ethnischen Elternvereine, dass das Interes-se der Migranteneltern an Informationen über Er-ziehungsprobleme sehr groß ist.

Die Mitarbeiter der Sozialen Dienste delegieren dieKurs- und Gruppenleitung in der Regel an Ho-norarkräfte oder kooperieren mit einem Träger derErwachsenenbildung, der die Honorarkräfte ein-stellt und fachlich anleitet und beaufsichtigt. Anden Angeboten nehmen meist „Kunden“ der Bera-tungsstellen teil. Der Kreis der Teilnehmer undTeilnehmerinnen wird durch Mundpropagandaoder durch die Bekanntgabe des Kursprogramms inden Selbstorganisationen und Vereinen erweitert.Angebote in der Muttersprache sind für die erstenMigrantengenerationen der großen Nationalitäten-gruppen möglich. Interkulturelle Angebote in deut-scher Sprache dagegen sind an die zweite Migran-tengeneration und an kleinere Einwandererminori-täten adressiert. Die Themen beziehen sich aufFamilien- und Elternbildung im engeren und weite-ren Sinne, wie z. B.: Kinderkrankheiten, Suchtprä-vention, Erziehungsziele und -praktiken, Schulpro-bleme, Informationen über Schulsysteme, Betreu-ung der Hausaufgaben, Schullaufberatung, Ausbil-dungsberatung für Eltern, Generationskonflikteu. a. Die Form der Vermittlung und Bearbeitungdieser Themen ist unterschiedlich. Sie sind z. B. imCurriculum der Sprachkurse enthalten, die vomSprachverband Mainz finanziert werden oder Ge-genstand der vom Bonner Arbeitsministeriumfinanzierten „Integrationskurse“, die der langfristigbesseren Integration in das gesellschaftliche undberufliche Leben dienen sollen (Gaitanides 1998).Elternbildung wird häufig im Rahmen von „frauen-spezifischen“ Themen behandelt, zu denen ent-sprechend der traditionellen Rollenteilung, primärauch die Familienarbeit gehört. So werden dieKurse und Gesprächskreise vor allem von Frauen,darunter von den neu einreisenden Müttern genutzt.Darüber hinaus veranstalten die Sozialdienste fürMigranten auch einzelne Vortrags- und Diskussi-onsveranstaltungen zu oben genannten Themensowie Wochenendseminare für Familien. Kontakte,die bei solchen Veranstaltungen entstehen, führenzu informellen Netzwerken. Weil diese sich vonden verwandtschaftlichen Netzwerken unterschei-den, in denen die Frauen in ihre konventionelleRolle eingebunden sind, sind sie von großer Be-deutung und werden zusätzlich begünstigt, wenn

Hohe Zu-gangsschwel-len zu institu-tionalisiertenFormen derElternbildung

Mutter-sprachlicheAngebote fürdie ersteGeneration,interkulturelleAngebote fürdie zweiteGeneration

Eltern brau-chen zur

Stärkungihrer Erzie-

hungskompe-tenzen Unter-

stützung

Drucksache 14/4357 – 184 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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die Frauen auch über einen offenen selbstverwal-teten Bereich verfügen. Bisher waren die Kurseimmer mit Kinderbetreuung ausgestattet. Ange-sichts der Sparmaßnahmen in diesem Bereichkommt es häufig zur Schwierigkeiten zwischenfinanzierender und veranstaltender Institution überdie Sicherung des Angebotes einer Kinderbetreu-ung. Diese ist jedoch unerlässlich für die Mütter,da sie sich nur so auf den Lern- und Gruppenpro-zess konzentrieren können. Einerseits erhalten dieKinder eine pädagogische Betreuung, andererseitsentstehen unter ihnen Freundschaften, die wieder-um die Beziehungen zwischen den Müttern fes-tigen.

Anzustreben wäre eine wesentlich engere Vernet-zung zwischen den professionellen Sozialdienstenfür Migration der Kommunen oder der Wohl-fahrtsverbände und den Selbstorganisationen derMigranten, z. B. bei den Sprechstunden und Grup-penberatungen. Dazu müssen aber die Zuschussge-ber und die Träger bereit sein, sich von der statio-nären Arbeit zu Gunsten der aufsuchenden, mobi-len Arbeitsweise umzuorientieren. Eine Zusam-menarbeit wird bereits an vielen Orten praktiziert.So veranstalten nicht-deutsche Elternvereine El-ternbildungsangebote in Kooperation mit deut-schen Trägern (Gaitanides 1998). Der Wirkungs-grad ist besonders groß, da hier direkt mit denSprechern der nicht-deutschen Elternschaft gear-beitet wird. Die Selbstorganisationen der Migran-ten verfügen in der Regel über keine Mittel, umselbständig eine qualifizierte Beratung bei Famili-en- und Erziehungsproblemen anzubieten. Auchgrößere, repräsentative Organisationen bekommenkeine Zuschüsse für eine solche Arbeit, obwohl sieals wichtige Multiplikatoren wirken könnten. Esbleibt zu hoffen, dass mit der vorgesehenen Aus-dehnung der Trägerschaft der Migrationsbera-tungsdienste auf alle Wohlfahrtsverbände auch dierepräsentativen Selbstorganisationen, die größten-teils Mitglieder beim DPWV sind, in den Genussdieser Neuregelung kommen werden.

Entscheidend für die Familien ausländischer Her-kunft sind niedrigschwellige Angebote. Für dieElternbildung heißt dies vor allem flexible Zeitge-staltung, Kinderbetreuung, Möglichkeit zur langfri-stigen Gruppenarbeit und Gebührenfreiheit. Aller-dings lassen die geringen finanziellen Mitteln einesolche adressaten-gerechte Gestaltung der Ange-bote nicht zu. Trotz der gestiegenen Anforderungendurch Neuzuwanderung, Zunahme der Komplexitätder Probleme und damit des Aufwandes in Eltern-bildung und -beratung, ziehen sich vor allem dieLänder aus der Finanzierung zurück. Die Möglich-keit, die ausgefallenen Landesmittel durch Eigen-mittel zu kompensieren, sind für die Wohlfahrts-verbände erschöpft – zumal die kirchlichen Trägerselbst unter rückläufigen Kirchensteuereinnahmen

zu leiden haben. Die Arbeiterwohlfahrt ist wegender nicht vorhandenen Eigenmittel stark betroffen.Bei vielen freien Trägern werden keine externenBewerber mehr eingestellt, Personalkürzungenwerden durch interne Umsetzungen aufgefangen.Dies schränkt die Einstellungschancen besondersder in den letzten Jahren ausgebildeten Fachkräfteder zweiten Migrantengeneration ein.

Kinder aus Familien ausländischer Herkunft kom-men mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen indie Schule. Bildungserfolge hängen von vielenFaktoren ab und lassen sich nicht nur mit derSchichtzugehörigkeit und strukturellen Diskrimi-nierungen erklären. Die Klärung aller dieser inter-venierenden Variablen, ihre Gewichtung und ge-genseitige Beeinflussung ist Voraussetzung füreine objektive Diagnose, aus der Ziele, Maßstäbeund Handlungsstrategien für die Integration derKinder aus Familien ausländischer Herkunft imBildungswesen herausgearbeitet werden können.Auch bei den Migrantenfamilien sind die elterli-chen Kompetenzen im Umgang mit der Schuleungleich verteilt. Bildungseinstellungen der erstenGenerationen sind aus Erfahrungen in den Her-kunftsländern geprägt. Hohe Bildungsaspirationenreichen nicht allein, wenn das Elternhaus nichtüber die notwendigen materiellen und intellektuel-len Ressourcen verfügt, um seinen Nachwuchs mitden entsprechenden Strategien im Bildungssystemzu platzieren. Insofern sind die Bildungskarrierender Kinder ausländischer Herkunft sehr heterogen.Eine Analyse der Bildungssituation der Migranten-kinder muss die Vielfalt der Bildungsvorausset-zungen der Familien berücksichtigen.

Finanzielle Restriktionen im Bildungswesen treffenin besonderem Maße Kinder aus sozio-ökonomischschlechter gestellten Familien deutscher und aus-ländischer Herkunft. Dies führt dazu, dass dieBildungsfragen und die mit der Migration vonFamilien ausländischer Herkunft verbundenenHerausforderungen nicht adäquat beantwortet wer-den können. Neben der Fortsetzung der vielfältigenFördermaßnahmen und ihrer Erweiterung müssendie Bildungsinstitutionen stärker auf die sozialeLage und kulturelle Vielfalt der Schülerpopulatio-nen eingehen. Besonders für Stadtteile mit hoherKonzentration von Familien ausländischer Her-kunft eignen sich gemeinwesenorientierte Kon-zepte zur Öffnung der Schulen und engeren Einbe-ziehung des sozialen und familiären Umfeldes derKinder ins Schulleben. Notwendig ist eine Intensi-vierung der Schulsozialarbeit für die Verbindungvon schulischen und außerschulischen Bereichen,für die Elternarbeit, für die Förderung von Mäd-chen, für die Bearbeitung von Konflikten und dieFörderung der Kooperation zwischen deutschenund ausländischen Kindern und Jugendlichen wieauch unter den verschiedenen Nationalitätengrup-

Niederschwel-lige Angebote

sind wirksa-mer

Bildungsinsti-tutionenmüssen stär-ker die sozialeLage undkulturelleVielfalt derSchüler be-rücksichtigen

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 185 – Drucksache 14/4357

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pen untereinander. Bewährte Konzepte wie die derRegionalen Arbeitsstellen zur Förderung ausländi-scher Kinder und Jugendlicher „RAA“ müssenfortgeführt und ausgeweitet werden.

Mehrsprachigkeit muss als Wert anerkannt undgefördert werden. Nicht die in den Familien aus-ländischer Herkunft vorhandene und von ihnenangestrebte Mehrsprachigkeit führt zu kognitivenDefiziten, sondern vielmehr ihre Vernachlässigungdurch das Schulsystem. Hierdurch kommt es zuSituationen, in denen Kinder nicht-deutscher Mut-tersprache in keinem Fach zufriedenstellende Be-wertungen erreichen. Wenn auch nicht für alleMigrantengruppen realisierbar, so ist es doch fürgrößere Gruppen möglich, die Zweisprachigkeitgezielt zu unterstützen. Der muttersprachlicheUnterricht, der bereits vielerorts, meist in Nach-mittagskursen angeboten wird, muss in den regulä-ren Unterricht integriert werden. Punktuell werdendie Herkunftsprachen der Migrantenkinder alsBegegnungssprache in der Grundschule oder alszweite Fremdsprache in der Sekundarstufe ange-boten. Solche Ansätze kommen den Erwartungenvieler Familien ausländischer Herkunft entgegenund sind im Rahmen der Förderung der Mehrspra-chigkeit von zunehmender Bedeutung. Die hiereinzusetzenden bilingualen Lehrkräfte müssen inder Bundesrepublik Deutschland nach hiesigenStandards und auf die hiesige Lebenssituationorientiert ausgebildet werden. Ein erster Schritt istdie Einführung des Lehramtes „Türkisch“ für dieSekundarstufe II an der Universität GH Essen inder Lehrerausbildung in Nordrhein-Westfalen.Modelle einer bilingualen schulischen Bildung mitBerücksichtigung der Sprachen der Migranten-gruppen, etwa im Modell der Europa-Schulen,verdienen eine intensivere Förderung.

Von besonderer Bedeutung sind die Starthilfen inder entscheidenden Phase der Berufsfindung unddes Überganges von der Schule in die Berufsbil-dung. Ihr Erfolg wächst, wenn sie unter Einbezie-hung der Familien, ihrer Mobilitätsbereitschaft undder Herkunftssprachen ansetzen. Diesbezüglich isteine Qualifizierung der Berufsberatung notwendig.Berufsbezogener Deutschunterricht, wie u. a. vomSprachverband „Deutsch für ausländische Arbeit-nehmer“ angeboten, kann dazu beitragen, dasSpektrum der in Frage kommenden beruflichenQualifizierungen zu erweitern.

In allen Gliederungen und Stufen des Bildungs-systems müssen die Lehrkräfte über interkulturel-le Kompetenzen verfügen, um die besonderenSchwierigkeiten und Ressourcen der Kinder undJugendlichen aus Familien ausländischer Herkunftzu erkennen; in Lern- und Lehrmaterialien, Curri-cula und in der Lehreraus- bzw. Fortbildungmüssen Erkenntnisse der interkulturellen Erzie-

hung Eingang finden. Dies betont die Kultusmin-isterkonferenz in ihrem Beschluss vom 25. Oktober1996 zur „Interkulturellen Bildung und Erziehungin der Schule“. Dieser Beschluss stellt einen Ori-entierungsrahmen für ein gemeinsames Vorgehender Länder und aller schulischen Instanzen dar, undgeht von der Notwendigkeit einer interkulturellenKompetenz als Schlüsselqualifikation für die ge-samte Schülerschaft aus.

V. 6 Migration und Gesundheit

Aus der Migration und der Auseinandersetzung miteinem neuen Kontext ergeben sich zahlreiche An-forderungen an kognitive und emotionale Anpas-sungen, die mit Stress verbunden sind. Die Bedeu-tung der Familie für die Bewältigung solcherStressbelastungen ist zentral. In der Familiensys-temforschung wird darauf hingewiesen, dass Fa-milien, die eine hohe Kohäsion aufweisen, externeBelastungen besser verkraften können. Hier wirkendie starken Bindungen der Familienmitgliederuntereinander und die klaren Rollenverteilungenals ein Schutzfaktor. Kulturelle Einstellungen,religiöse Orientierungen und verwandtschaftlicheNetzwerke stellen für Familien emotionale undmaterielle Unterstützungspotenziale dar. Allerdingsist es notwendig, dass innerhalb der Familie genü-gend Flexibilität vorhanden ist, um angesichts dersich wandelnden äußeren Rahmenbedingungeninnere Verschiebungen der Rollen und Machtposi-tionen sowie Veränderungen von Einstellungenzuzulassen. Migration ist häufig mit einem tiefgrei-fenden Wandel der kulturellen Orientierungen vorallem der nachfolgenden Generationen, der Neube-stimmung des Selbstbildes der Partner und derinnerfamilialem und außerfamilialen Arbeitsteilungverbunden. Darauf reagieren Familien ausländi-scher Herkunft in unterschiedlicher Weise. Eineschwierige wirtschaftliche Lage und belastendeArbeitsbedingungen bzw. Arbeitslosigkeit undbeengte Wohnbedingungen erschweren häufig dieSuche nach innerfamilialem Ausgleich und beein-trächtigen die Wirksamkeit innerfamilialer Stütz-potenziale. Dann können die familiären Verhältnis-se sich zu einem eigenständigen Stressor entwik-keln. Dies ist der Fall, wenn Familien angesichtsder vielen Belastungen keinen Ausweg mehr sehen,bzw. sich als Opfer von Verhältnissen, die sie nichtbeeinflussen können, erleben.

Über ihre Möglichkeiten bei der psychosozialenStressbewältigung hinaus tragen Familien durchpräventive und kurative Leistungen zur Erhaltungder Gesundheit und Leistungsfähigkeit ihrer Mit-glieder bei. Hier haben die Frauen, vor allem dieMütter eine Schlüsselfunktion. Vor allem die Ge-sundheit der Kinder ist von der aufmerksamenWahrnehmung und Bewertung der Symptome

Starthilfen inPhasen der

Berufsfindungvon großerBedeutung

Ausbildungvon interkul-

turellen Kom-petenzen beiLehrkräften

in allen Stufendes Bildungs-

systems

Drucksache 14/4357 – 186 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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durch die Mütter und der rechtzeitigen Inanspruch-nahme von medizinischer Hilfe abhängig. VieleMigrantenfamilien greifen auf traditionelle Laien-systeme zurück. Dies kommt um so häufiger vor,desto weniger Kompetenzen in der deutschenSprache und im Umgang mit den professionellenDiensten vorhanden sind. Vor allem Migrantinnender ersten Generation verfügen über ein Laienwis-sen, das dem professionellem Gesundheitssystemin der Regel nicht bekannt ist. Es erstreckt sich aufviele Bereiche des Alltagslebens von der Ernäh-rung bis zu den kulturellen Systemen der Wahr-nehmung und Interpretation von Symptomen undKrankheiten. Diese familialen Routinen im Um-gang mit Krankheit beeinflussen zusammen mitvielen anderen Aspekten der sozialen Lage ent-scheidend das Krankheits- und Gesundheitsver-halten der Familien ausländischer Herkunft. Wiebei den einheimischen Familien werden die Poten-ziale und Leistungen der Familien in der Krank-heitsvorbeugung und Krankenpflege, wie auch dieMöglichkeiten einer Verzahnung zwischen Laien-und professionellen Gesundheitssystemen, durcheine primär an den professionellen kurativen Sek-tor orientierte Gesundheitspolitik vernachlässigt.

Die zwischen ausländischen Patienten und deut-schem gesundheitlichen Personal vor allem in derAnfangsphase der Migration auftretenden Verstän-digungsschwierigkeiten haben sich verringert.Eingewöhnungsprozesse bei beiden Seiten wieauch die inzwischen gewonnenen Erfahrungenhaben zu einer zunehmenden Normalisierung derInanspruchnahme von gesundheitlichen Leistungenbeigetragen. Die nachfolgenden Generationen mitihren Sprachkenntnissen und kommunikativenKompetenzen agieren zudem als Vermittler zu dengesundheitlichen Diensten und führen dazu, dassweniger Fehldiagnosen und Situationen einer Über-bzw. Unterversorgung vorkommen.

Wichtig für eine bessere Erreichbarkeit der Mi-grantenbevölkerung und die Versorgung vor allemder nicht-deutsch-sprechenden ersten Migranten-generationen sind Ärzte und gesundheitliches Per-sonal aus den Herkunftsländern der Migranten,sowie deutsche Ärzte und Ärztinnen mit Fremd-sprachkenntnissen und vor allem Kompetenzen inder interkulturellen Kommunikation. Im Jahr 1995waren 2,2 % (2.362) der Ärzte in der vertragsärzt-lichen Versorgung ausländischer Staatsangehörig-keit, im Jahr 1996 waren es 2,8 %. Bei den Kran-kenhausärzten waren im Jahr 1996 4,7 % ausländi-scher Staatsangehörigkeit. Hinzu müssen die ein-gebürgerten Ärzte ausländischer Herkunft unddeutsche Ärzte mit Fremdsprachkenntnissen ge-zählt werden. Zunehmend kommen in die Gesund-heitsberufe Angehörige der zweiten Migrantenge-neration. Insgesamt sind jedoch, gemessen an de-ren Bevölkerungsanteil, Migranten in den medizi-nischen und Gesundheitsberufen unterrepräsentiert.

Ihr Anteil hat in den letzten Jahren erheblich zuge-nommen, entspricht jedoch noch nicht den Anteilender verschiedenen Nationalitäten und deckt nichtden Bedarf in den verschiedenen Fachrichtungenab (Weilandt/Altenhofen 1997; Korporal 1998).

V. 6.1 Forschungsstand und methodischeSchwierigkeiten

Die meisten Erkenntnisse über die gesundheitlicheSituation der Migrantenfamilien basieren auf Un-tersuchungsergebnissen aus den 70er- und frühen80er-Jahren. Die älteren Untersuchungen gingendavon aus, dass die Migration, vor allem die Ar-beitsmigration, ein vorübergehendes Sonderpro-blem darstellt. Seitdem hat sich die Wahrnehmungdes Migrationsphänomens und auch die soziokultu-relle Situation der Familien ausländischer Herkunftverändert, sodass viele Aussagen heute zu relativie-ren sind. Zudem verlangt die Vielfalt der Lebens-lagen der Familien ausländischer Herkunft nachDifferenzierung. Eine Verselbständigung der medi-zinischen Aspekte führt vom Kern des Problemsweg. Denn einerseits ist es wichtig festzustellen,dass die gesundheitlichen und die Probleme dermedizinischen Versorgung nicht die Hauptproble-me der Familien ausländischer Herkunft sind. DieSorge um den Arbeitsplatz, um die Zukunft derKinder und um die eigene Zukunft ist sehr vieldrängender. Andererseits unterstreichen die inter-nationalen Erfahrungen, dass sich im medizini-schen Feld die zugrunde liegenden sozialen Pro-bleme besonders ausdrucksvoll manifestieren, sodass es sich letztlich bei den verschiedenartigenmedizinischen und gesundheitlichen Aspekten umdie Erscheinungsformen tiefgreifender auch sozia-ler Probleme handelt. Die sozialepidemiologischeUngleichheitsforschung hat hinreichend Belegedafür geliefert, dass trotz wohlfahrtstaatlicher Leis-tungen in Industriestaaten soziale Disparitäten imGesundheitszustand der Bevölkerung fortbestehen.So weisen z. B. einkommensschwache und bil-dungsferne Gruppen nach wie vor ein erhöhtesErkrankungsrisiko auf. Hier kommt der Tatbestandder multifaktoriellen Bedingtheit des Gesundheits-zustandes zum Tragen, d. h. dieser ist nicht aus-schließlich genetisch-biologisch bedingt, sondernwird durch eine Vielzahl von Einflussgrößen be-stimmt. So haben der Lebensstil, die biographischeund aktuelle Lebenssituation einen unmittelbarenEinfluss auf den Gesundheitszustand. Demnachsind für die gesundheitliche Situation nicht nurendogene Dispositionen verantwortlich zu machen,vielmehr spielen auch soziale und psychologischewie auch ökologische Faktoren eine Rolle.

Viele Studien über die gesundheitliche Situationder Familien ausländischer Herkunft vernachlässi-gen diese Aspekte und beziehen sich lediglich aufdie Merkmale „Migranten“ oder „Staatsangehörig-

Verringerungder Kommu-

nikations-schwierigkei-ten – Verrin-

gerung derFehldiagnosen

Migranten inmedizinischenund Gesund-heitsberufenunterreprä-sentiert

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 187 – Drucksache 14/4357

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keit“. Häufig differenzieren sie nicht einmal zwi-schen ersten Migrantengenerationen und inDeutschland geborenen Ausländern. Die Studiensind in ihrer Aussagefähigkeit bereits durch dashohe Aggregationsniveau der Ausgangsdaten ein-geschränkt. Die bei den Kassen, Kliniken undanderen Institutionen vorhandenen Daten gestattenselten eine Differenzierung nach der Nationalität.Wenn eine Differenzierung nach der Nationalitätmöglich ist, betrifft diese nur einige wenigegrößere Nationalitäten. Allerdings ist die hierbeiimplizit zugrundeliegende Annahme einer weitge-henden Homogenität dieser Gruppen und dieÜbertragung der Ergebnisse von einer Nationalitä-tengruppe auf alle anderen Migrantengruppen nichtzulässig und ist für die Identifizierung gesundheit-lich besonders gefährdeter Migrantengruppen eherhinderlich. Durch den Bezug auf vorliegende Pro-zessdaten, wie sie im Rahmen des Abrechnungs-systems anfallen, kann die Inanspruchnahme medi-zinischer Leistungen nachgewiesen werden. We-sentliche, der Inanspruchnahme wie auch derNichtinanspruchnahme medizinischer Dienste vor-geschaltete Verhaltensweisen bleiben dabei aberunberücksichtigt.

Häufig werden Krankheits- und Gesundheitsver-halten von Familien ausländischer Herkunft entwe-der auf das Erklärungsmuster „Migration“ oder aufdas Erklärungsmuster „Schicht“ bezogen. Vielmehrintervenieren beide Faktoren im Krankheitsgesche-hen, und zwar je nach Lebens- und Migrationspha-se und je nach Lebenslage, in unterschiedlichemMaße. Für die Erfassung dieses multifaktoriellenGeschehens der Entstehung von Krankheiten undder jeweiligen Bewältigungsstrategien ist ein kom-plexes Forschungsdesign und Längschnittsbe-trachtungen im Vergleich mit nicht emigriertenKontrollgruppen des Herkunftslands einerseits, undder deutschen Bevölkerung andererseits erforder-lich. Beispielsweise haben Zu- und Rückwande-rung eine Reihe von Konsequenzen für die gesund-heitliche Situation. So lassen sich z. B. einige Er-gebnisse über das Krankheitsspektrum oder zurSterblichkeitsstatistik nur interpretieren, wenndavon ausgegangen werden kann, dass chronische– vor allem auch zum Tode führende – Krankheit,Behinderung oder Pflege spezifischer Anlass derRemigration sind. Die rohe oder standardisierteSterblichkeit in der erwachsenen ausländischenBevölkerung lag 1982 bis 1986 in der Bundesrepu-blik unter derjenigen der deutschen Bevölkerung.Regional für Berlin wird der Befund auch gegen-wärtig bestätigt. Dies ist vor allem in der gegebe-nen Ausprägung nicht plausibel erklärbar. Einemögliche Interpretation könnte eine selektive Re-migration sein. Migration hat in Bezug auf Ge-sundheit bzw. Krankheit eine selektive Funktion.So kann man davon ausgehen, dass sich zur Pio-niermigration gesunde Personen entschließen. Die

angeworbenen ersten Migrantengenerationen wur-den in allen europäischen Migrationsländern nachgesundheitlichen Kriterien ausgewählt. Sie hattenbei der Anwerbung im Vergleich zur einheimi-schen Bevölkerung einen positiveren gesundheitli-chen Status.

Die Bevölkerung ausländischer Herkunft in derBundesrepublik unterscheidet sich hinsichtlichihrer sozialen und familialen Struktur in einerReihe gesundheitsbedeutsamer Merkmale von derdeutschen Wohnbevölkerung. Hierzu gehören derniedrige Anteil älterer Menschen, und entspre-chend überproportional viele Kinder und Jugendli-che. In den letzten Jahren zeigen sich meist ab-nehmende Raten von Kindern und Jugendlichen,die vor allem auf eine abnehmende Geburtlichkeitund Einbürgerung zurückzuführen sind. Auch dieGeschlechtsproportionen der ausländischen Bevöl-kerung weichen stark von denjenigen der deut-schen ab. So ist, allerdings mit über die Zeit ab-nehmender Tendenz, die ausländische eine männ-lich dominierte Bevölkerung (Korporal 1998).Auch bezüglich des Familienstatus ergeben sichUnterschiede: Einerseits höhere Raten nicht-verheirateter Männer mit ausländischer Staatsan-gehörigkeit in jüngerem Alter, andererseits größereHaushalte bei den Verheirateten. Infolge dieserUnterschiede ergeben sich bei der ausländischenBevölkerung alters- und geschlechtsspezifischeVerlagerungen des Krankheitsspektrums und derdamit verbundenen Anforderungen in den Berei-chen Prävention, Behandlung, Beratung und Pflege(Korporal 1998).

V. 6.2 Gesundheitliche Risiken bei Famili-en ausländischer Herkunft

Entsprechend der Besonderheiten ihrer Lebenslageund der Migrationssituation tragen Familien aus-ländischer Herkunft spezifisch gelagerte gesund-heitliche Risiken, die mit besonderen Bedürfnissender gesundheitlichen Versorgung verbunden sind.Aktuelle Daten über die Behandlungsdiagnosenausländischer Patienten durch niedergelasseneÄrzte, in Krankenhäusern oder in Einrichtungender Pflege sind nicht verfügbar. Das hängt vorallem damit zusammen, dass in den Soziallei-stungsstatistiken der gesetzlichen Krankenkassendas Merkmal der Staatsangehörigkeit nicht geführtwird und die Gesundheits- und Sozialberichter-stattung sich in Bund, Ländern und Kommunen imAufbau befindet, sofern diese die Situation derethnischen Minderheiten ausdrücklich und geson-dert berücksichtigt. Wegen dieses großen Defizitsan repräsentativen und zuverlässigen Daten ist dieStruktur der Krankheiten der ausländischen Bevöl-kerung insgesamt nur punktuell beurteilbar. Dabeiwird für Teilbereiche eine Unterrepräsentanz deut-

Defizite dermigrations-bezogenen

Gesund-heitssta-

tistik

Drucksache 14/4357 – 188 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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lich, die insbesondere chronische und auch psych-iatrische Krankheiten betrifft. Sie hängt vermutlichmit einer Unterinanspruchnahme oder einer aufge-schobenen Inanspruchnahme von Beratung undBehandlung zusammen. Die Orientierung auf in-formelle Systeme familialer und nachbarschaftli-cher Unterstützung kann dazu führen, dass eineangemessene und schnelle Hilfe auf direktem Wegbeeinträchtigt oder verhindert wird. Dies ist ineinigen Untersuchungen nachgewiesen worden,und es zeigt sich auch immer wieder im unmittel-baren und direkten Zugang zur Krankenhausver-sorgung, indem häufigere Krankenhauseinweisun-gen im akuten Zustand vorkommen. Versorgungs-erfahrungen mit den medizinischen Institutionenim Aufnahmeland wie auch die Schichtzugehörig-keit und der kulturelle Hintergrund prägen Ver-ständnisse von Krankheit und Behandlung. Daraufnehmen die Beratung zur gesundheitlichen Versor-gung (Angebote, Wege, Leistungen, Träger, Hilfeim Konflikt) sowie die Vorsorge, Gesundheits-förderung und Rehabilitation noch zu wenig Bezug(Korporal 1998).

Ärztliche Diagnosen bei ausländischen Patientenverweisen indirekt auf erhöhte Unsicherheitenin der Arzt-Patient-Verständigung und enthaltenim Vergleich zu denjenigen bei deutschen eheroffene Krankheitsbezeichnungen (Schmerzsyn-drome) und häufiger psychosomatische Symptome.Sie sind im Vergleich zu deutschen Patienten mitzum Teil abweichenden Arzneimittelverordnungenoder mit durch den Arzt veranlassten weiterentherapeutischen Maßnahmen verbunden. Ange-sichts häufiger diagnostizierter psychosomatischerBeschwerden tendieren Allgemeinmediziner eherzur Verschreibung von Psychopharmaka, da beiden nicht-deutsch sprechenden Patienten auftherapeutische Gespräche oder andere Hilfen, dieauf intensive sprachliche Kommunikation basieren,nicht zurückgegriffen werden kann. Das beiMigranten häufige Vorkommen von psychosomati-schen Krankheiten wird u. a. auf eine Tendenz zur„Somatisierung“ psychischer Probleme zurückge-führt. Dies kann aber auch als ein Ausdruck derKommunikationsschwierigkeiten zwischen auslän-dischen Patienten und Ärzten und damit als Verle-genheitsdiagnose verstanden werden. Hiermit ver-bunden sind dann langwierige diagnostische undtherapeutische Verfahren, die bei einer geglücktenKommunikation hätten vermieden werden können.In der ersten Zeit nach der Migration zeigenMigranten eher häufiger depressive Syndrome,später überwiegen die psychosomatischen Krank-heitsbilder. Die gesundheitliche Situation vonFlüchtlingen unterscheidet sich im Wesentlichennicht sehr stark von der übrigen Migranten-bevölkerung. Spezifische Aspekte sind hier einschlechter Impfstatus und insbesondere trauma-tische Erlebnisse in Folge von Folter, Kriegserfah-

rung und Erfahrung von physischer und psychi-scher Gewalt (Korporal 1998).

Wie in anderen Migrationsländern, so auch inDeutschland, kommen bei Migrantenbevölkerun-gen höhere Tuberkuloseinzidenzen vor. Niedrigersozio-ökonomischer Status, insbesondere schlechteErnährungs- und Wohnbedingungen erhöhen dieGefahr der Erkrankung an Tuberkulose. Bezogenauf die Bevölkerung ausländischer Staatsangehö-rigkeit in Deutschland sind diese insgesamt mehrals dreifach höher. So lag der Migrantenanteilan den Tuberkulosefällen im Jahr 1991 bei 21,6 %und erhöhte sich auf 27,9 % im Jahr 1992und 29,8 % im Jahr 1993 (Weilandt/Altenhofen1997). Die Zunahme steht im Zusammenhangmit dem starken Anstieg der Flüchtlingsbevöl-kerung in den letzten Jahren und mit den schwie-rigen Lebensverhältnissen vor und nach der Flucht.

Im AIDS-Fallregister des Robert-Koch-InstitutesBerlin lag der Anteil der AIDS-Kranken aus-ländischer Staatsangehörigkeit für das Jahr 1995mit 12,5 % etwas höher als der Ausländeranteil ander Gesamtbevölkerung (Weilandt/Altenhofen1997). Betrachtet man die Nationalitäten, handeltes sich bei einem hohen Teil der ausländischenAIDS-Patienten nicht um Personen aus der seitvielen Jahren niedergelassenen ausländischenWohnbevölkerung. Insofern weicht das Spek-trum der Übertragungswege und die Geschlechter-struktur deutlich von derjenigen deutscher Patien-ten mit der Krankheit AIDS ab. In diesem vorallem im Hinblick auf Intimität hochproblema-tischen Versorgungsbereich zeigt sich, dass dieInformationsvermittlung bei den Migrantengruppenund der Kenntnisstand zu HIV und AIDS inden unterschiedlichen Alters- und Geschlechts-gruppen denen der deutschen Bevölkerung nichtentspricht und insgesamt defizitär ist. Wegender teilweise anderen kulturellen Bedeutung vonSexualität und der durch Kultur, Sozialnormen,Migration und Lebensbedingungen im Aufnahme-land veränderten praktizierten Sexualität bestehenandere und zum Teil nicht bekannte Risiken derÜbertragung von HIV oder AIDS und anderensexuell übertragbaren Krankheiten insgesamt.Dieser Situation wird nach wie vor in allen Formender Prävention, gesundheitlicher Beratung undBegleitung nicht ausreichend entsprochen (Korpo-ral 1998).

V. 6.3 Typische Gesundheitsprobleme beiFamilien ausländischer Herkunft

Gesundheitsprobleme von Familien ausländischerHerkunft werden im Zusammenhang mit denArbeitsbedingungen und den damit verbundenen

DefizitäreInformations-vermittlungüber HIV undAIDS

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 189 – Drucksache 14/4357

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Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten diskutiert.Der Frage nach den psychischen Erkrankungenund der Einfluss der Migration bei ihrer Entstehungund Behandlung wird große Bedeutung ein-geräumt. Schwangerschaft und Geburt gehörenseit der Phase der zunehmenden Familienzusam-menführung in den 70er-Jahre zu den wichtigstenThemen.

V. 6.3.1 Arbeitsbedingungen und gesund-heitliche Situation: Arbeitsunfälleund Berufskrankheiten

Lange bekannt und ein nahezu konstanter Befundin der Literatur zu Migration und Gesundheit istder Zusammenhang zwischen nicht-deutscher Na-tionalität, Arbeitsbedingungen und Krankheiten.Seit Mitte der 70er-Jahre wird – im Gegensatz zuden Jahren zuvor – für Berufstätige verschiedenerausländischer Staatsangehörigkeiten eine höhereRate krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit undmittlerer Arbeitsunfähigkeitsdauern ausgewiesen(Korporal 1998).

Versucht man, die Arbeitsplatzbedingtheit dieserBefunde zu klären – so schwierig dies im Einzelfallmethodisch auch ist –, ergibt sich häufig ein statis-tischer Zusammenhang mit Krankheiten des Mus-kel- und Skelettapparates und vor allem mit Un-fällen. Dies hängt mit den beruflichen Tätigkeitenim Bereich risikobehafteter Produktionsvorgänge,verbunden mit bestimmten Herstellungs- und Fer-tigungstechniken zusammen. Innerhalb der ambu-lanten Versorgung stehen Krankheiten des Muskel-und Skelettapparates an erster Stelle der Hauptdia-gnosen. Nach einer Studie des Zentralinstitutes fürdie kassenärztliche Versorgung ist dies sogar etwashäufiger bei Migranten als bei deutschen Patientender Fall, obwohl die Migrantenbevölkerung imDurchschnitt viel jünger als die deutsche Bevölke-rung ist (Weilandt/Altenhofen 1997).

Bei den höheren Krankheitslasten von Beschäftig-ten ausländischer Staatsangehörigkeit wie Infekti-onskrankheiten, Krankheiten des Verdauungs-, desUrogenitaltrakts und des Nervensystems können ineinzelnen Studien spezifische Zusammenhänge zuArbeitsplatzbelastungen oder Bedingungen vonArbeitsprozessen statistisch nicht nachgewiesenwerden. Bei den Arbeitsunfähigkeitsraten stehenjedoch gesicherte Zusammenhänge fest. Arbeitsun-fähigkeitsraten liegen ab Mitte der 70er-Jahredurchgehend höher. Dies hängt sicher nicht zufälligmit dem Zuzugsstopp von 1973 und der Abnahmeder Wirksamkeit des Rotationsprinzips zusammen.Aber es gibt über die genannten besonderen Ar-beitsplatzbelastungen und -beanspruchungen hin-aus auch beschäftigungsstrukturelle Gründe, dieeine höhere krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit

stützen: die mit dem arbeitsrechtlichen Status ge-gebene zeitlich frühere Vorlage einer ärztlichenKrankschreibung und die Konditionierung aufstärker organmedizinisch ausgerichtete Krank-heitsverständnisse durch die Gesundheitsversor-gungserfahrung im Aufnahmeland. Dabei ist bezo-gen auf die produktiv beschäftigten ausländischenArbeitnehmer eher von einer „verdeckten Krank-heitsrate“ auszugehen. Sie geht auf die Labilitätund die latente Bedrohung der Arbeitsverhältnisseder Beschäftigten ausländischer Staatsangehörig-keit und auf die insgesamt höhere Arbeitslosigkeitzurück. Dies ist auch vor dem Hintergrund dergeltenden ausländerrechtlichen Regelungen undder möglichen Konsequenzen im Hinblick auf einemangelnde Existenzsicherung, den Sozialhilfebe-zug und die eventuellen Folgen für Einschränkun-gen des Aufenthaltsstatus anzunehmen.

Über krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit hinausspiegeln sich berufsbezogene Krankheiten auch inArbeitsunfällen und Berufskrankheiten wider. Diebesonderen Risiken der ausländischen Arbeitneh-mer drücken sich in höheren Raten beider Krank-heitskategorien der gesetzlichen Unfallversiche-rung aus. Hierfür liegen aus den 60er- und 70er-Jahren differenzierte Untersuchungen vor, währenddie Routineberichterstattung der Jahresunfallbe-richte keine Informationen nach der Nationalitätausweisen. Die gewerblichen Berufsgenossen-schaften können Raten oder Anteile nicht-deutscher Arbeitnehmer wegen der nichtbekanntenGrundgesamtheiten deutscher oder ausländischerBeschäftigter nicht differenziert ausweisen. EineEinzelrecherche aufgrund von Sonderauswertungendes Hauptverbands gewerblicher Berufsgenossen-schaften und Hochrechnungen auf die jeweiligenGrundgesamtheiten der Arbeits- und Sozialstatistiklegen nahe, zumindest für den Bergbau, dass dasverarbeitende Gewerbe und das Baugewerbe vonhöheren Raten meldepflichtiger Arbeitsunfälleauszugehen hat. Allerdings kehrt sich das Verhält-nis bei erstmalig entschädigten Arbeitsunfällendieser Wirtschaftszweige zu Gunsten von Beschäf-tigten mit deutscher Staatsangehörigkeit um. DieSituation im Hinblick auf angezeigte und erstmaligentschädigte Berufskrankheiten ist den Arbeitsun-fällen vergleichbar. Maßnahmen der Rehabilitationwurden durch Angehörige der Migrantenbevölke-rung unterdurchschnittlich in Anspruch genommen.Das hat sich auch aufgrund der letzten vorliegen-den Zahlen nicht geändert. Dies gilt nicht für denBergbau, in dem Maßnahmen der Berufsförderungund der beruflichen Rehabilitation bei Erwerbs-tätigen mit ausländischer Staatsangehörigkeit einegroße Rolle spielen. Dort haben ein Drittel derberuflichen Rehabilitanden eine ausländische Na-tionalität. Frühere Untersuchungen dieser Proble-matik zeigen, dass insgesamt die Chancen derReintegration in die Erwerbstätigkeit geringer als

Krankheitendes Mus-kel- und

Skelettappara-tes häufig

Höhere Ratevon Arbeits-unfällen undBerufskrank-heiten

GeringereInanspruch-nahme vonRehabilitati-onsmaßnah-men

Drucksache 14/4357 – 190 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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bei deutschen Rehabilitanden sind (Korporal1998).

V. 6.3.2 Psychische Erkrankungen undMigration

In diesem Bereich hat bis in die 80er-Jahre hineineine kontroverse Diskussion stattgefunden. DiePsychiatrie hat sich mit besonderem Interesse denAuswirkungen der Migration, insbesondere dessog. Kulturschocks und des Heimwehs zugewandt.Dies ausgehend von der plausiblen Annahme,Migration stelle mit ihren Umstellungs- und An-passungsanforderungen auf den neuen Kontexterhebliche kognitive und emotionale Belastungenfür die Person dar. Deren Verarbeitung hängt unteranderem von den zur Verfügung stehenden Res-sourcen in der jeweiligen sozialen Umwelt ab. Indiesem Rahmen scheint die Rückkehrorientierungder ersten Migrantengenerationen als ein wirksa-mer Kompensationsmechanismus gegen psychi-sche Belastungen zu wirken, da diese sich als vor-übergehend hier betrachten und durch eine positiveZukunftsantizipation aufgefangen werden (Dietzel-Papakyriakou/Olbermann 2000).

Daher sollte geklärt werden, unter welchen Bedin-gungen psychische Störungen nach der Migrationauftreten. Welche Versorgungsstrategien dabeiangemessen sind, aber auch wie Migration sich aufdie Häufigkeit und Erscheinungsformen von psy-chischen Erkrankungen auswirkt, ob Selektionsme-chanismen von Bedeutung sind, etc. Allerdings istdie Migrationspsychiatrie durch unterschiedlichesich widersprechende Ergebnisse gekennzeichnet.Gerade auf diesem Gebiet stehen empirische Studi-en vor großen methodischen Schwierigkeiten. Eingroßes Problem stellen die Vergleichsgruppen dar.Auf alterskorrigierte Gruppen vergleichbarer so-ziale Lage greifen die wenigsten Untersuchungenzurück. Unter „Ausländer“ werden unterschiedli-che Nationalitäten subsummiert, häufig ohne Be-rücksichtigung der Unterschiede im Migrations-status und des Migrationshintergrundes, etwa derMigrationsphasen und Kohorten. Häufig beziehensich die Untersuchungen auf einem Vergleich zwi-schen Migranten und Einheimischen und basierenauf retrospektiven Daten auf Klinikebene. Diesestellen jedoch kleinere nicht repräsentative Grup-pen dar, die u. a. durch den Einweisungsmodus,das Einzugsgebiet und die durch die in der jeweili-gen Institution vertretenen Lehrmeinungen bedingtwerden. Die Schwierigkeiten einer exakten Dia-gnose sind in der Psychiatrie besonders hoch. BeiMigranten können in der Arzt-Patient-Interaktionzusätzlich Schwierigkeiten wegen sprachlicherDefizite und wegen der Kulturabhängigkeit derWahrnehmung, Interpretation und Äußerung vonSymptomen hinzukommen; sie erhöhen die Ten-

denz zu Verlegenheitsdiagnosen. Somatische Be-schwerden können als psychische, psychische alssomatische fehldiagnostiziert werden. Insgesamt isthier aufgrund der kulturell bedingten Fehlinterpre-tationen oder Klischees eine größere Gefahr derPsychiatrisierung, der Fehlbehandlung und damitder Förderung langer und aufwendiger Patienten-karrieren gegeben.

Zu den psychischen Erkrankungen bei Migrantenliegen keine neueren gesicherten Daten vor. Einemethodisch sorgfältig durchgeführte ältere Untersu-chung von Häfner (1980) stellte durchweg niedrige-re Raten etwa bei Schizophrenie und chronischemAlkoholismus fest. Dies wurde auf die positiveSelektion vor der Einwanderung zurückgeführt.Allerdings werden auffallend häufig Neurosen undpsychosomatische Krankheitsbilder bei Migrantendiagnostiziert. Trotz der diagnostischen Schwierig-keiten scheint in der Übersicht der migrations-psychiatrischen Literatur ein Verteilungsmuster vonpsychischen Störungen nach Nationalitätengruppenzu existieren. So werden bei Italienern und Griecheneher Neuroseerkrankungen, bei Jugoslawen häufigAlkoholismus und bei Migranten türkischer Staats-angehörigkeit eher psychosomatische Krankheitendiagnostiziert (Land u. a. 1982). In der internationa-len Literatur werden höhere Suizidraten, vor allembei jungen Frauen diskutiert.

Psychische Erkrankungen äußern sich in unter-schiedlichem Maße je nach Migrationsphase. De-pressive Syndrome kommen eher in der Anfangs-zeit der Migration vor und gehen dann in psycho-somatische Beschwerdebilder über. Psychosomati-sche Erkrankungen, vor allem bei ausländischenFrauen, werden in der entsprechenden Fachliteraturan erster Stelle bei Frauen aus der Türkei genannt.Unterschiedliche Faktoren, wie Tendenzen zur So-matisierung bei Patienten mit geringem formalenBildungsniveau, Besonderheiten einer traditionalis-tisch orientierten Auffassung von Krankheit, wer-den als Erklärung herangeführt.

Von besonderer Bedeutung ist die Diskussion einerhöheren psychischen Belastung der Kinder in Fa-milien ausländischer Herkunft. Auch hier sind dieUntersuchungsergebnisse widersprüchlich. So gingPoustka (1984) bezüglich der psychischen Symp-tombelastung von einer gleich hohen Rate, weitereUntersuchungen von Remschmidt und Walter(1990) sowie Schlüter-Müller (1992) von einerhöheren Rate bei ausländischen Kindern aus. DieAnnahme einer höheren psychischen Störungsrateist in bestimmten Bereichen etwa als Arbeitshypo-these für Lehrkräfte mit der Gefahr einer Sonder-behandlung (etwa Sonderschulüberweisung) vonKindern aus Familien ausländischer Herkunft ver-bunden. Ebenso kontraproduktiv ist jedoch auchdas Übersehen der besonderen Belastungssituationvon Kindern aus Arbeiterfamilien ausländischer

Gefahr derPsychiatrisie-

rung aufgrundkulturell

bedingterFehlinterpre-

tation oderKlischees

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 191 – Drucksache 14/4357

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Herkunft, da hiermit die Diskussion über adäquatePräventionsmaßnahmen bzw. Familienhilfen be-hindert wird.

V. 6.3.3 Schwangerschaft und Geburt

In der gesundheitsbezogenen Migrationsdiskussionwurden Schwangerschaft und Geburt schon frühgroße Aufmerksamkeit gewidmet. In diesem Be-reich war das Verhältnis zwischen ausländischenFamilien und Gesundheitssystem zuerst nicht sel-ten durch Verständigungsschwierigkeiten, Vorur-teile und Rollenkonflikte geprägt. Die Situation hatsich inzwischen insgesamt verbessert. Allerdingswurde nur in einigen wenigen Fällen den besonde-ren Anforderungen und Bedürfnissen der neuenKlientel durch veränderte Betreuungsformen oderspezifische Angebote Rechnung getragen.

Angesichts der vergleichsweise großen Bedeutungvon Mutterschaft und Kindern in Kultur und Ge-sellschaft der Entsendeländer von Arbeitsmigran-ten kann verwundern, wie spät Sterilität von Immi-grantinnen zum Thema in der Versorgung undForschung wurde. Familien ausländischer Herkunftzeigen hier ein differentes Verständnis vonSexualität und familialer Reproduktion. Der Kin-derwunsch ist stärker ausgeprägt, was mit einerhöheren Akzeptanz der medizinischen Behandlungals bei deutschen Familien einhergeht. Gleichzeitighaben mögliche Alternativen einen geringerenStellenwert, wenn Beratung und Behandlung nichtzum Erfolg führen. So lehnen mehr als 60 % dertürkischen Frauen eine Adoption als Alternativezum eigenen Kind ab. Entsprechend dem durch-schnittlich geringeren Alter von Frauen ausländi-scher Staatsangehörigkeit in der Schwangerschaftund bei der Geburt stellt sich die Frage der Sterili-tät und ihrer kulturell sensiblen Behandlung vorallem bei jüngeren Frauen. Das Alter der türki-schen Frauen bei Therapiebeginn liegt bei 71 %25 Jahren, aber nur 21 % bei deutschen Frauendieser Altersgruppe. Dies wird mit familialemDruck und der Verbindlichkeit kultureller Normenfür eine frühe Schwangerschaft und Mutterschaft inVerbindung gebracht (Korporal 1998).

Zahlen über Schwangerschaftsabbrüche nach derNationalität der Frauen finden sich kaum, da dasMerkmal in der amtlichen Statistik der Schwanger-schaftsabbrüche nicht aufgeführt wird. Zudemmuss man hier unabhängig von der Nationalität derbetroffenen Frauen von einer erheblichen Unterer-fassung der Fallzahlen ausgehen. Nach den Bera-tungsunterlagen von Pro Familia für zwei zeitlicheQuerschnitte, 1986 und 1994, wurden Ergebnisseberechnet, die auch durch Erfahrungen anderer

Beratungsträger oder internationale Ergebnissegestützt werden. Danach sind die Abbruchraten inder ausländischen weiblichen Bevölkerung höherals in der deutschen. Sie nehmen jedoch seit Mitteder 80er-Jahre in gleichen Proportionen ab wie beideutschen Frauen. Vor allem die Abbruchraten beitürkischen Frauen haben überproportional abge-nommen. Dies wird im Zusammenhang eines gesi-cherten Aufenthaltsstatus und einer deutlichenÄnderung des generativen Verhaltens interpretiert.Eine Differenzierung des Alters der Frauen bei derGeburt nach der Nationalität weist auch gegenwär-tig für die Bundesrepublik insgesamt die aus frühe-ren Untersuchungen bekannten Charakteristika auf.Geburten kommt bei Frauen ausländischer Staats-angehörigkeit durchschnittlich im jüngeren Altervor. Allerdings nimmt die relative Häufigkeit vonSchwangerschaften bei jugendlichen und jungenerwachsenen Frauen insgesamt ab. Diese Ver-schiebung der Geburten auf ein höheres Alter derFrauen ist ein wichtiger und wirksamer Beitrag zurPrävention nicht gewünschter gesundheitlicherFolgen. Denn bei diesen Schwangerschaften sinderhöhte Sterblichkeitsrisiken für Kinder und Mütternachgewiesen, sie gelten nach Kriterien ärztlicherSchwangerenvorsorge als Risikoschwangerschaf-ten.

Bei Frauen ausländischer Staatsangehörigkeitnimmt aber auch – im Gegensatz zu deutschen –die relative Häufigkeit von Schwangerschaften beiüber 35-jährigen Frauen ab, da – mit abnehmenderTendenz – auch die Bildung einer durchschnittlichgrößeren Familie früher abgeschlossen ist als inden Jahren zuvor. Dies kann ebenfalls positiv prä-ventiv gewertet werden, da auch Schwangerschaf-ten in höherem Lebensalter der Frauen und beihöherem Geburtenrang, insbesondere wenn dieseSchwangerschaften nicht an sozial privilegierteSituationen gebunden sind, größere Risiken auf-weisen.

Während in der Gesellschaft und Kultur des Her-kunftslandes, insbesondere in der Türkei, nichtselten Hebammenbetreuung in der Schwanger-schaft und durch sie geleitete Hausgeburten vor-herrschen, sind in Deutschland die außerklinischenGeburten bei Frauen nicht-deutscher Staatsangehö-rigkeit insgesamt sehr selten, bei Frauen aus denehemaligen Anwerbeländern auch in den Folgege-nerationen extrem selten.

Die durchschnittlichen Raten realisierter Geburtenbezogen auf Frauen im gebärfähigen Alter (15-45Jahre, Fertilitätsraten) unterscheiden sich nach wievor erheblich nach der Staatsangehörigkeit. Migra-tionsgeschichtlich weisen sie, insbesondere nachdem Zuzugsstopp, Tendenzen einer Abnahme und

AnderesVerständnis

von Sexualitätund familialerReproduktion

Drucksache 14/4357 – 192 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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einer Angleichung an die regionalen und sozial-strukturellen Bezugsbevölkerungen im Aufnahme-land auf.

Untersuchungen zur Schwangerenvorsorge beiFrauen ausländischer Staatsangehörigkeit zeigen inden 70er- und 80er-Jahren eine Reihe von Beson-derheiten und vor allem erhebliche Defizite auf. Inden 90er-Jahren hat das Interesse an der Doku-mentation und der Analyse dieser Problematikabgenommen. Aus nichtrepräsentativen und regio-nal oder institutionell begrenzten Untersuchungenkann angenommen werden, dass die Vorsorge sichinsgesamt verbessert hat. Dennoch weisen dieUntersuchungsergebnisse auf wichtige Lücken inder Versorgung hin. Schwangere Frauen ausländi-scher Nationalität nehmen schwangerschaftsbe-gleitende Angebote (Geburtsvorbereitungskurse,Gymnastik u. a.) in geringerem Umfang in An-spruch.

Eine eher offene Frage, die von den zuständigenStellen und Diensten kaum aufgrund von Erfah-rungen und Daten zureichend beantwortet werdenkann, betrifft die Zielerreichung und die Wirt-schaftlichkeit familienentlastender und familiensi-chernder Maßnahmen im Fall von Schwanger-schaft, Geburt und Kleinkinderziehung bei Famili-en ausländischer Herkunft. Gerade hier muss mandavon ausgehen, dass familienunterstützende Leis-tungen für Schwangere und Mütter mit Kleinkin-dern zwar existenzsichernd, ihre Beantragung undRealisierung aber sehr kompliziert und zeitaufwen-dig sind. Das Beratungs- und Unterstützungsnetzdürfte angesichts der Sprach-, Verständigungs-oder Informationsdefizite quantitativ und qualitativunzureichend sein. Von geringer Bedeutung imHinblick auf die Inanspruchnahme und die fami-liale Entlastung scheinen für die ausländische Kli-entel auch die durch das Gesundheits-Reform-gesetz von 1989 eingeführten Leistungen der häus-lichen Pflege und Haushaltshilfe im Falle vonSchwangerschaft, Geburt und Nachgeburtsphase(analoge Bestimmungen im Bundessozialhilfe-gesetz) zu sein. Nach den vorliegenden Erfahrun-gen werden diese Möglichkeiten der Entlastungund Pflege durch Ärzte in zu geringem Umfangverordnet und von Hebammen und Familien ver-gleichsweise wenig genutzt.

In den Zusammenhang von Schwangerschaft, Ge-burt und Versorgung gehört auch der Befund einererhöhten Müttersterblichkeit von Frauen ausländi-scher Staatsangehörigkeit. Darauf verweisen Datender amtlichen Statistik der Bundesrepublik für dieJahre 1982 bis 1986 und die Berichte der Beauf-tragten der Bundesregierung von 1993 und 1997.Die Diskussion um die Säuglingssterblichkeitzeigt, dass auch im internationalen Vergleich nochdeutliche Unterschiede zwischen einheimischer

und zugewanderter Bevölkerung vorhanden sind.Die Risikofaktoren in der Säuglingssterblichkeitsind vielfältig und hängen sowohl von den Moda-litäten der gesundheitlichen Versorgung wie auchvom sozialen und familiären Status, Alter und vorallem Bildungsniveau der Mütter ab. Ein wichtigesRisiko für die Geburt und das Überleben einesKindes ist das Geburtsgewicht. Die Sterblichkeitder untergewichtig Frühgeborenen (weniger als2.500 Gramm bei der Geburt) ist in allen Phasendes Säuglingsalters höher als vergleichsweise beiSäuglingen von deutschen Müttern.

Im Vordergrund der perinatal-medizinisch odergeburtshilflich-neonatologischen Forschung stehtin den letzten Jahren das Überleben sehr unterge-wichtig geborener Kinder, d. h. Geborene mit ei-nem Geburtsgewicht von 500 bis 1500 Gramm.Ihre Überlebensraten spiegeln den Erfolg der inten-sivmedizinischen Bemühungen und des Fortschrittsbeider Disziplinen wider, vermitteln den betroffe-nen Angehörigen und Familien aber nur seltenzureichend Information und Hilfe im Hinblick aufdas lebensverändernde Ereignis der Geburt einessehr untergewichtig geborenen Kindes, das in vie-len Fällen gesundheitlich-somatische, psychischeund psychosoziale Probleme im Verlauf der Ent-wicklung haben wird (Korporal 1998).

Gegenwärtig ist das Risiko einer untergewichtigenGeburt bei jungen Frauen ausländischer Staatsan-gehörigkeit erhöht. Überdurchschnittliche Wertekommen bei türkischen Frauen und bei ausländi-schen Frauen über 40 Jahren vor. Man kann davonausgehen, dass sie mit Mehrgeburten und einerinsgesamt defizitären Vorsorge in der Schwanger-schaft in Zusammenhang stehen können. Im Be-reich der Totgeburtlichkeit wird die Zunahme derTotgeborenenraten nach 1993 durch die personen-standsrechtliche Neuregelung des Begriffes derTotgeburt beeinflusst, indem auch ohne Lebenszei-chen Geborene mit einem Geburtsgewicht zwi-schen 500 und 1.000 Gramm in die Ziffer einge-hen. Dadurch ist die Zunahme der Raten aber nichtvollständig erklärbar.

Die Säuglingssterblichkeit nimmt in den letztenJahren bei deutschen und ausländischen Kindernab. Differenziert nach beiden Gruppen liegt dieRate der gestorbenen ausländischen Säuglinge mit5,9 % höher als die der deutschen Säuglinge mit4,9 %.

Auch die Sterblichkeit von Kleinkindern ausländi-scher Staatsangehörigkeit – insbesondere der Jun-gen – ist deutlich überhöht. Sie wird auf angebore-ne Fehlbildungen und „Affektionen mit Ursprungin der Perinatalzeit“, neuropädiatrische Krankhei-ten, Infektionskrankheiten und Unfälle zurückge-führt.

GeringereInanspruch-

nahme vonschwanger-

schaftsbeglei-tender Vor-

sorge

ErhöhteRisiken bei

Schwanger-schaft und

Geburt

Beratungs-und Unter-

stützungsnetzquantiativ und

qualitativunzureichend

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 193 – Drucksache 14/4357

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Abbildung V.10: Säuglingssterblichkeit je 1000 Lebendgeborene in der Bundesrepublik Deutsch-land nach der Staatsangehörigkeit

Quelle: Korporal 1998

V.6.4 Gesundheitliche Versorgung vonKindern in Migrantenfamilien

Zum Krankheitsspektrum von Kindern aus Mi-grantenfamilien liegen Hinweise auf höhere Belas-tungen an Krankheiten der Atmungsorgane, desVerdauungstrakts und an Infektionskrankheiten,u. a. der Tuberkulose vor. Klein- und Schulkinderausländischer Nationalität erleiden als Fußgängerim Straßenverkehr überproportional viele Unfällemit Verletzungsfolgen.

Die Kindervorsorge hat sich zwar gegenüber den70er-Jahren stark verbessert, von einer zureichen-den entwicklungsbegleitenden Vorsorge bei Kin-dern mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit kannaber noch nicht gesprochen werden. Durch denAbbau von Angeboten öffentlicher Dienste unddurch die Entstaatlichung einschlägiger Sozialleis-tungen wird eine angemessene Vorsorge und Ver-sorgung der Kinder von Migrantenfamilien teilwei-se erheblich beeinträchtigt. Diese boten mit ihreroffenen Zeitstruktur von Beratung und Betreuungund dem aufsuchenden und nachgehenden Cha-rakter der Arbeit gute Voraussetzungen dafür,Kommunikationsprobleme in ihrer Wirkung zurelativieren und Diskontinuitäten in der Betreuungzu vermeiden. Als Beleg für Probleme und Defizitebei der Früherkennung von Krankheiten, bei derVorsorge und der Gesundheitsförderung findensich Hinweise auf defizitäre Oralhygiene und eine

höhere Kariesprävalenz bei Kindern, Probleme beider Früherkennung von Behinderungen und Ent-wicklungsstörungen, auf Defizite im Impfstatusund Symptome und Auffälligkeiten bei Einschu-lungs- und Schulentlassungsuntersuchungen (Kor-poral 1998).

Die Erkennung einer Behinderung ist abhängig vonden der Familie zur Verfügung stehenden Ressour-cen, insbesondere der Bildungsressourcen. In Mi-grantenfamilien wird häufig eine Entwicklungsstö-rung oder Entwicklungsverzögerung nicht recht-zeitig wahrgenommen, bzw. die Behandlung wirdverzögert. Niedrige Inanspruchnahme der Schwan-gerenvorsorge und Kindervorsorge tragen hierzubei. Aufgrund der sprach- und kulturbedingtenKommunikationsschwierigkeiten während der me-dizinischen Untersuchung können Auffälligkeiten,die auf Behinderungen hinweisen, als Verhaltens-störungen fehlinterpretiert werden. Auch die imVerhältnis zu den deutschen Kindern niedrigereKindergartenbesuchsquote der Migrantenkindersteht einer Früherkennung entgegen. Die Versor-gung eines schwer behinderten Kindes verlangteinen hohen emotionalen und materiellen Aufwandfür alle Familienmitglieder. Meist ist es jedoch dieMutter, die die Hauptlast trägt. Sie muss in derRegel auf eine Berufstätigkeit verzichten. Diesesichert jedoch für Migrantinnen häufig den Kontaktzum deutschen Kontext und zu den möglichenHilfen. Die Behinderung eines Kindes ist wenigerals in deutschen Familien Anlass dafür, einer

Abbau vonöffentlichen

Dienstenbeeinträchtigt

die Vorsorge

GeringeBereitschaftzur Fremdun-terbringungkrankerFamilienmit-glieder

44,34,64,95,25,55,86,16,46,7

77,37,67,98,28,58,89,1

1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996

deutsche Bevölkerung

nichtdeutscheBevölkerung

o/oo

Drucksache 14/4357 – 194 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Fremdunterbringung zuzustimmen. Bei vielenFamilien stellen aufgrund ihrer kulturellen Ein-stellungen Fremdunterbringungen „Abschiebun-gen“ der kranken Familienmitglieder dar, die auf-grund ihres sozialen Kontextes abgelehnt werden.Vielleicht ist dies auch der Hintergrund für einegeringe Bereitschaft ausländischer Familien mitchronisch kranken oder behinderten Kindern, sicheiner Selbsthilfegruppe anzuschließen. Sollte dieBehinderung eines Kindes Auslöser oder wesentli-ches Motiv einer Remigration sein, erwartet dieFamilie unter Umständen eine extreme Problem-verschärfung durch die unzureichende Struktur vonHilfen und Fördermöglichkeiten nach der Rück-kehr.

Obwohl in einigen wenigen repräsentativen undauf bestimmte Regionen bezogenen Untersuchun-gen in der ausländischen Bevölkerung überdurch-schnittliche Raten an angeborenen und erworbenenBehinderungen festgestellt wurden, ist die Inan-spruchnahme von Sozialleistungen für Behinderteunterdurchschnittlich. Dies findet sich auch in derAnerkennung als Schwerbehinderter, das heißt miteinem Grad der Behinderung beziehungsweiseeiner Einschränkung der Erwerbsfähigkeit vonmindestens fünfzig Prozent gegenüber vergleichbarErwerbstätigen (Korporal 1998).

Migranten haben aufgrund von Sprachschwierig-keiten und Informationsmangel einen schwierigenZugang zu den gesundheitlichen Diensten. Dieszeigt sich insbesondere im Bereich der Präventionund Rehabilitation. In der kurativen Medizin zeigtsich jedoch, dass Migranten nicht weniger als dieeinheimische Bevölkerung die Leistungen desgesundheitlichen Systems in Anspruch nehmen.

V. 6.5 Pflege älterer Menschen in Familienausländischer Herkunft

Immer mehr Angehörige der ersten Migrantenge-neration kommen ins Rentenalter. Obwohl Alternicht zwangsläufig mit physischen und psychi-schen Abbau und Krankheit gleichzusetzen ist, sosteigt doch die Wahrscheinlichkeit mit zunehmen-dem Alter von gesundheitlichen Beeinträchti-gungen betroffen zu sein. Diese Wahrschein-lichkeit ist bei den verschiedenen Teilgruppeninnerhalb der Altenbevölkerung unterschiedlichhoch. Die sozialepidemiologische Ungleichheits-forschung zeigt, dass trotz wohlfahrt-staatlicherLeistungen in dustriestaaten soziale Disparitäten imGesundheitszustand der Bevölkerung fortbestehen.Da das Krankheitsrisiko nicht ausschließlich gene-tisch-biologisch, sondern multifaktoriell auchdurch Lebensstil und biographische und aktuelleLebenssituation bedingt ist, tragen Arbeitsmigran-ten als einkommensschwache und bildungsferne

Gruppen ein erhöhtes Erkrankungsrisiko. Sie habenmeist schwere körperliche und gesundheitsschädi-gende Arbeit geleistet und verfügten vor allem amAnfang der Migration nur über geringe Regenera-tionsmöglichkeiten (Dietzel-Papakyriakou 1992).Die vielfältigen gesundheitlichen Gefährdungenund Belastungen im Migrationsverlauf schlagensich häufig in vorzeitigen gesundheitlichen Ver-schleißerscheinungen und akuten Krankheitennieder. Bekannt ist eine relativ hohe Kran-kenstandsquote und Frühausgliederung aus demArbeitsleben wegen gesundheitlicher Probleme.Rehfeld (1991) zeigt in einem Vergleich der Früh-verrentungsquoten, dass Invalidität überdurch-schnittlich hoch Ausländer bereits im Alter zwi-schen 40 und 50 Jahren trifft.

Zum objektiven Gesundheitszustand der älterenMigranten liegen in der Bundesrepublik Deutsch-land keine repräsentativen epidemiologischen Da-ten und Analysen vor. Es gibt jedoch eine Reihevon Untersuchungen, deren Ergebnisse auf einebesondere Betroffenheit von gesundheitlichen Be-einträchtigungen vor allem von chronischen undmultimorbiden Krankheitsbildern bei dieser Bevöl-kerungsgruppe verweisen (ZfT 1993). Ein Ver-gleich des erhobenen Krankheitsspektrums mitBefragungsergebnissen bei älteren Deutschen(BAGS 1992; MSGE 1991) lässt darauf schließen,dass die älteren Arbeitsmigranten in stärkeremMaße von körperlichen Erkrankungen und Behin-derungen betroffen sind.

Da es sich bei den älteren Migranten zur Zeit nochüberwiegend um junge Alte handelt, wird die Pfle-gebedürftigkeit in dem Maße ansteigen, wie sichdie Alterszusammensetzung verschiebt und einegrößere Anzahl der Migranten das achtzigste Le-bensjahr überschreitet. Das spezifische Gefähr-dungsprofil der Migrantengruppen und das fürausländische wie einheimische Menschen allge-mein steigende Risiko der Multimorbidität im Alterbekräftigen die Annahme eines hohen Hilfe- undPflegebedürftigkeitsrisikos bei dieser Altenpopula-tion (Dietzel-Papakyriakou/Olbermann 1996b).

Da die meisten älteren Migranten einer Umsied-lung in ein Altenheim ablehnend gegenüberstehenund sie es vorziehen, zu Hause versorgt zu werden,wird sich die Frage stellen, inwiefern die Hilfepo-tenziale der nachfolgenden Generationen trotzvorhandener Hilfebereitschaft nicht durch fehlendematerielle Ressourcen begrenzt werden: Die Ge-währleistung der häuslichen Pflege ist z. B. anbauliche Voraussetzungen einer pflegegerechtenAusstattung der Wohnung gebunden (Olber-mann/Dietzel-Papakyriakou 1996; ZfT 1993). EineInstitutionalisierung wird sich nicht immer vermei-den lassen, sodass auch für die älteren Migrantenein an ihren spezifischen Bedürfnissen orientiertes

Notwendigkeitder Berück-sichtigungkulturspezifi-scher Aspektein der Pflege

ErhöhtesErkran-kungsrisikobei älterenArbeitsmi-granten

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 195 – Drucksache 14/4357

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Kontingent von Pflegeplätzen zur Verfügung ge-stellt werden muss, so dass kulturspezifischeAspekte der Pflege berücksichtigt werden können(Gätschenberger 1995). Zwar liegen keine gesi-cherten Erkenntnisse in Bezug auf dementielleErkrankungen bei Migranten vor, dennoch kanndavon ausgegangen werden, dass auch diese Grup-pe davon betroffen sein wird. Auch dies geht mitspezifischen Anforderungen in der Pflege einher(Dietzel-Papakyriakou 1993b).

Dabei sind sprach- und kulturkompetente profes-sionelle Ressourcen erforderlich, die sporadischoder gar nicht gegeben sind und für die bisherunzureichend fort- und weitergebildet wird. Hier-bei handelt es sich um professionelles und institu-tionelles Neuland. Auch für die häusliche Versor-gung ist eine gelungene Kommunikation die we-sentliche Voraussetzung für die Wahrnehmung dereigenen Möglichkeiten bei der Hilfebeanspru-chung. Sprach- und Verständigungsprobleme kön-nen die Chancen im Begutachtungsverfahren undbeim Ausschöpfen angemessener Möglichkeitender Hilfe beeinträchtigen, oder bei Fristversäum-nissen im Zusammenhang mit geänderten Arbeits-oder Aufenthaltsverhältnissen zum Einschränkenoder Entfall des Leistungsbezugs führen. Die in-stitutionelle Hilfe steht diesen Begrenzungen derInanspruchnahme bisher unbeteiligt oder zum Teilauch ignorant gegenüber. In jedem Fall erfordertdie komplexer gewordene sozialrechtliche Situati-on Beratungsbedarf und setzt Kompetenzen voraus,die es ermöglichen, ältere Migranten in ihren spezi-fischen Bedürfnissen zu erreichen.

Da es sich um eine neue Rechtsmaterie handelt,deren sozialrechtliche Konzeptualisierung über dasbestehende Sozialrecht weit hinausgeht, und da essich auch um eine neue Institutionalisierung einessozialen Hilfesystems handelt, werden die unter-halb des professionellen Standards qualifiziertenalltagsnahen Sozialberater für die nichtdeutscheBevölkerung hier keine zureichende Beratung fürdie pflegebedürftigen Migranten anbieten können.Die sektorisierte Beratung der zuständigen Trägerverfügt meist weder über ein spezifisches Pro-blembewusstsein noch über einschlägige Kompe-tenzen, Hilfen anzubieten oder Versorgungswegezu funktionalisieren. Auch der Bericht der Bundes-regierung zur Pflegeversicherung geht auf dieseProblematik in ihren unterschiedlichen Facettennicht ein. Für die Pflege wie auch andere Bereicheder gesundheitlichen Versorgung ist entscheidend,dass sie einen hohen Stellenwert als familialeFunktion genießt. Offensichtlich ist die Schwellezur Inanspruchnahme professioneller Dienste undEinrichtungen hier höher als üblicherweise und derWeg zur Versorgung durch professionelle Dienstevon einer größeren Distanz, längeren Strecken,mehr Zeitverbrauch oder die Fremdheit dieser

Versorgungsformen gekennzeichnet. Auf dieÜbernahme der Pflege älterer Migranten sind diepflegerischen Dienste nicht vorbereitet. Es existie-ren kaum Qualifizierungen in Ausbildung oderPraxis für Mitarbeiter/innen in pflegerisch-sozialenDiensten und kaum Qualifikationsprogramme undAnsätze für die Übernahme pflegender oder be-treuender Leistungen für diese Gruppe der Alten-bevölkerung (Korporal 1998). Auch für die Ange-hörigen der älteren Migranten ist QualifizierungVoraussetzung für die Übernahme der Betreuungs-funktion von alten, psychisch kranken Familien-mitgliedern; so wie die Prozesse der Deinstitutio-nalisierung und der Subsidiarisierung in der Pfle-geversicherung es anstreben.

V. 6.6 Sucht in Migrantenfamilien

Die deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren(DHS) geht davon aus, dass ca. 11 % der in Sucht-beratungstellen betreuten und behandelten Perso-nen Migranten, Ausländer und Aussiedler sind.Dabei zeigt sich, dass immer mehr AussiedlerBeratungsstellen aufsuchen. Andere Hochrechnun-gen gehen von 400.000 Suchtkranken aus, was 5 %der ausländischen Wohnbevölkerung entspricht(AiD 1/98), wobei Daten zum illegalen Drogen-konsum sehr unzuverlässig sind. Doch kann beiAusländern aufgrund der ausländerrechtlichenImplikationen und zurückhaltenden Inanspruch-nahme von Hilfeleistungen davon ausgegangenwerden, dass in diesem Bereich eine Untererfas-sung vorliegt. Nach einer Statistik der StuttgarterDrogenberatungsstelle „Release“ hatten im Jahr1995 ca. 30 % der Konsumenten-Neuzugänge nichtdie deutsche Staatsangehörigkeit. Ihr Anteil hattesich seit dem Jahr 1992 verdoppelt, dabei handeltes sich meist um Jugendliche und jüngere Erwach-sene. In der Fachdiskussion werden als suchtför-dernde Faktoren Pubertätsprobleme genannt. Siewerden durch die Migrationssituation, etwa durchLoyalitätskonflikte aufgrund unterschiedlicher kul-tureller Anforderungen und Arbeitslosigkeit ver-schärft. Bei den Erwachsenen kommen vor allemAlkoholprobleme und Glückspielsucht, bei denFrauen Medikamentenmissbrauch vor. Die ethni-schen Gruppen und die Geschlechter sind im unter-schiedlichen Maße dem Suchtrisiko ausgesetzt.Bestimmte kulturelle und religiöse Systeme könnengegenüber Drogen protektiv oder permissiv wir-ken. So kommt Alkoholismus häufiger bei ost-europäischen Migranten vor, während Angehörigeislamisch geprägter Kulturen davon selten betrof-fen werden. Bei diesen kommt eher Opiatenabhän-gigkeit vor. Drogenabhängigen Ausländern, die mitdem Betäubungsmittelgesetz in Konflikt geraten,drohen erhebliche ausländerrechtliche Konsequen-zen. Die Migrantenfamilien stehen den Suchtpro-blemen ihrer Angehörigen meist hilflos gegenüber

Drucksache 14/4357 – 196 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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und unterstützen sie in der Regel emotional undfinanziell und vermindern so eine weitere Verelen-dung der Betroffenen. Aus Furcht vor sozialerStigmatisierung und Ausweisung verzögern sie dieInanspruchnahme institutioneller Hilfen. Aber dieDienste sind wiederum meist nicht auf die beson-dere Problematik der suchtabhängigen Migranteneingestellt, es mangelt z. B. an muttersprachlichenMitarbeitern, die einen leichteren Zugang zu denBetroffenen haben. Fortbildung und Sensibilisie-rung der deutschen Fachkräfte ist vor allem für diekleineren Nationalitäten, die nicht über mutter-sprachliche Fachkräfte versorgt werden können,dringend notwendig.

V. 6.7 Gesundheitsfragen bei Aussiedler-familien

Wie bei anderen Migranten auch bestehen beiAussiedlern oft hohe Erwartungen an und Vorstel-lungen über das Aufnahmeland, die nicht der Rea-lität entsprechen, was nach der Einwanderung zutiefen Enttäuschungen und einem Gefühl des Miss-erfolgs gegenüber ihren Zuwanderungszielen füh-ren kann. Das Eingeständnis einer möglichen Fehl-entscheidung fällt jedoch schwerer, da auf demMigrationsprozess bei Aussiedlern oft der Erwar-tungs- und Erfolgsdruck von Generationen lastet,für die die Ausreise nach Deutschland das herbei-gesehnte Ereignis bedeutete. Somit erscheint beiden Aussiedlern anders als bei Arbeitsmigrantendie Zuwanderung als irreversible Lebensentschei-dung.

Neben familiendynamisch bedingten Belastungs-faktoren wie Trennungen zwischen den Kindernund ihren Eltern und Bezugspersonen durch eineAusreise in Etappen, die auch bei anderen Mi-granten verbreitet sind, gibt es Anzeichen, dassAussiedlerfamilien bereits im Herkunftsland ge-sundheitliche Belastungen aufweisen. Auffallendviele behinderte oder chronisch kranke Kinder undErwachsene, und alkohol- oder suchtkranke Aus-siedler mit belasteter Frühsozialisation finden sichnach Aussage der Beratungsstellen in den Über-gangsheimen und in der Übergangsberatung. DieseTatsache könnte bei der Genehmigung der Ausrei-seanträge in den Herkunftsländern eine Rolle ge-spielt haben.

Zur Frage der Gesundheit bei Aussiedlerfamiliengibt es bislang keine empirischen Untersuchungenund Ergebnisse. Aus Kliniken, ärztlichen Praxenund psychosozialen Beratungsstellen wird jedochverstärkt von einer Besorgnis erregenden Häufungvon Krankheitssymptomen berichtet, sowohl beiAussiedler-Jugendlichen als auch bei erwachsenenAussiedlern. In manchen Fällen werden sie sogarals Risikogruppe in Hinblick auf somatische und

psychische Störungen wahrgenommen (Cropley1994). Diese Berichte beruhen allerdings auf einerErfahrungsbasis, in die all diejenigen Aussiedler-familien, die sich in die deutsche Gesellschaftintegriert haben ohne je klinische oder psychoso-ziale Dienste in Anspruch genommen zu haben,nicht einbezogen sind. Suchtprobleme (vor allemAlkoholmissbrauch), Depressionen (vor allem beiden aus der ehemaligen UdSSR stammenden Aus-siedlern), Schlafstörungen, Erschöpfung, funktio-nelle Beschwerden wie z. B. Magengeschwüre undHerzbeschwerden werden aus ärztlicher und psy-chologischer Sicht als die verbreitesten Symptomeangegeben. Die Gründe für diese Probleme werdenin den spezifischen Zuwanderungsbedingungen beiAussiedlerfamilien gesehen. Wie andere Migrantensind sie in einem anderen kulturellen und gesell-schaftlichen System aufgewachsen und haben dortihre Identität ausgebildet. Anders als bei anderenMigranten basiert jedoch häufig die Legitimitätihres Zuzugs nach Deutschland auf einem Leugnenihrer Herkunftsidentität. Dies drängt sie häufig ineinen mentalen Zwiespalt, der sich sehr belastendauswirken kann. Die Aufenthaltszeiten in denÜbergangsheimen sind häufig sehr lang, bis zumehreren Jahren. Die Lebensbedingungen dort sindgesundheitlich sehr belastend: Mehrere Generatio-nen auf engstem Raum, es besteht keine Möglich-keit auf die Ruhebedürfnisse von Kindern sowieKranken oder Behinderten Rücksicht zu nehmen.Der Besitz eines Arbeitsplatzes und die Beherr-schung der deutschen Sprache kann hierbei das Be-lastungsrisiko erheblich vermindern. In einer empi-rischen Studie der Universität Osnabrück konntedeutlich gemacht werden, dass der Zugang zu Res-sourcen, wie z. B. gute Deutschkenntnisse und einArbeitsplatz den Ausbruch psychischer Krankhei-ten signifikant später erfolgen lassen und die Ver-weildauer in psychiatrischen Kliniken erheblichverkürzen (Riecken 1999).

Auch bei jugendlichen Aussiedlern zeigen sich denBerichten der Beratungsstellen zufolge starke Be-lastungsfaktoren. Oft wurden sie in die Wande-rungsentscheidung ihrer Eltern nicht einbezogen,wären lieber „zu Hause“ geblieben und leiden unterstarkem Heimweh. Die überhöhten Versprechun-gen der Eltern münden vielfach in Enttäuschung.Die Eltern üben häufig Druck aus, nur nochDeutsch zu sprechen, obwohl ihre Deutschkennt-nisse noch ungenügend sind und vor allem nichtausreichen, um ihren emotionalen Zustand und ihreemotionalen Bedürfnisse zum Ausdruck zu brin-gen, was in Unsicherheit und Rückzug mündenkann. Bei jugendlichen Aussiedlern werden ver-stärkt Abschließungstendenzen beobachtet, d. h. sieverbleiben fast ausschließlich innerhalb ihrer eige-nen Sprachgruppe und nehmen wenig Kontakte zuEinheimischen auf. Sie haben häufig hohe Ausbil-dungsziele, die aber in den deutschen Schulen

Lange Ver-weildauer inÜbergangs-heimenbelastend

Suchtberatungauf Migranten

nicht einge-stellt

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 197 – Drucksache 14/4357

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aufgrund von Sprachproblemen oder Nichtaner-kennung der Ausbildung des Heimatlandes nichteingelöst werden. Alkoholprobleme bei den männ-lichen Jugendlichen und Tablettenmissbrauch beiden Mädchen scheinen in Aussiedlerfamilien keineSeltenheit darzustellen.

V. 6.8 Familienberatung in gesundheitli-chen Fragen

Die Wohlfahrtsverbände, vor allem deren Migrati-onsdienste bieten in Kombination mit anderenAktivitäten (z. B. Sprachkurse) auch gezielt Bera-tung und Information in gesundheitlichen Fragenan. Sie sind eher ganzheitlich auf die Bewältigungder Lebenspraxis (sozial-ökologischer Ansatz), alsauf die segmentierte psychologische Problembear-beitung (personenbezogener Ansatz) ausgerichtet.Dies auch deshalb, weil es bei der Migrantenbe-völkerung noch offensichtlicher ist, dass die psy-chischen und familiären Konflikte mit den schwie-rigen äußeren Lebensverhältnissen verbunden sind.Allerdings führen die zunehmenden Sparmaßnah-men auch zu Schwierigkeiten in diesem Bereich.Gesundheitsämter und Selbstorganisationen sindebenfalls auf diesem Gebiet aktiv. Das Angebot istunüberschaubar und von unterschiedlicher Profes-sionalität und Intensität. Fest steht, dass die Famili-en ausländischer Herkunft und dabei insbesonderedie Frauen ein starkes Interesse an gesundheitli-chen Fragen zeigen.

So machen an dem Klientel der Schwangerschafts-beratungsstellen Migrantinnen einen hohen Anteil(40-50 %) aus (Gaitanides 1992). Viele von ihnensprechen wegen der kurzen Aufenthaltsdauer(jungverheiratete, zugereiste Türkinnen, Flücht-lingsfrauen) kaum Deutsch. Die Inanspruchnahmedes Beratungs- und Hilfsangebotes ist bei Migran-tinnen primär mit der Erwartung einer Verbesse-rung der materiellen Lebensumstände, z. B. derWohnsituation verbunden.

Auch bei der Pro Familia suchen viele Migrantin-nen Rat und Hilfe bei Schwangerschaftskonflikten.Wegen der Sprachschwierigkeiten werden Hand-zettel und kleine Broschüren in mehrere Sprachenübersetzt. Bei einigen Beratungsstellen der ProFamilia arbeiten ehrenamtliche Übersetzerinnenmit. Sie werden über Anschreiben an Volkshoch-schulen, Kulturvereinen und Migrantenberatung-stellen gewonnen (Gaitanides 1998). Allerdingsbesteht ein Problem dann, wenn z. B. die Dolmet-scherinnen aus den Kulturvereinen kommen unddie Ratsuchenden befürchten müssen, dass dieAnonymität der Beratungssituation nicht gewahrtwird. Insofern wird bei einigen Beratungsstellendie Methode der Zuschaltung der Dolmetscherinper Telefon („Triangulierung“) angewandt. Ein

kontrovers diskutiertes Thema bei der Beratung inFragen der Familienplanung ist, ob das Ziel der„selbstbestimmten Elternschaft“ als Resultat dereuropäischen Aufklärung auch auf andere Kulturenübertragbar sei. Als Gegenargument wird auf Bei-spiele in islamischen Ländern verwiesen, die zei-gen, dass Frauen ihren ursprünglichen vielköpfigenKinderwunsch in dem Moment herabsetzten, wennsie durch bessere medizinische und ökonomischeVersorgung mit dem Überleben der ersten Kinderrechnen konnten. Unter diesen Bedingungenwächst die Nachfrage nach Möglichkeiten derFamilienplanung stark an (Gaitanides 1998).

Punktuell bieten Gesundheitsämter Gesundheits-präventionsprogramme für Migrantinnen an, bzw.schalten muttersprachliche Kräfte bei der Beratung,bei Impfungen und bei Kinderkrankheiten ein, soz. B. das Gesundheitsamt in Nürnberg mit demProgramm: „Gesundheit in der Fremde“. Nacheiner aufsuchenden Methode und mit einem Poolausländischer Honorarkräfte und Mitarbeiterinnenarbeitet das – beim Arbeitskreis Ausländer Mün-chen/ Haidhausen angesiedelte – Projekt zur Inte-gration der Migrantenbevölkerung in das Systemder Gesundheitsversorgung „Donna Mobile“. Esentsendet Referentinnen in die Nachbarschaftszen-tren, Kindergärten und Schulen usw., um die Mi-grantenbevölkerung medizinisch aufzuklären undihr das Versorgungssystem zu erschließen (Zeit-schrift für Migration und Soziale Arbeit 3/4 1996).Wie den Jahresberichten der Münchner Migrati-onszentren zu entnehmen ist, wird von den Ange-boten dieses mobilen Informationsdienstes regerGebrauch gemacht.

Es existieren große Unterschiede beim Versor-gungsgrad der verschiedenen Nationalitäten be-züglich Beratung und Information in gesundheitli-chen Fragen. Angebote, wenn sie muttersprachlichkonzipiert sind, richten sich meist an die Migrantenaus den ehemaligen Anwerbeländern und danninsbesondere an die Migrantengruppe türkischerSprache. Eine Ausnahme bilden die spärlichenpsychosozialen Dienste für Flüchtlinge in Frank-furt, Nürnberg und München, deren primäre Auf-gabe die Verarbeitung der traumatischen Fluchter-lebnisse ist (Gaitanides 1998).

Während die Inanspruchnahme der Leistungen derkurativen Medizin (ausgenommen der psychothe-rapeutischen Versorgung) durch die Familien aus-ländischer Herkunft sich immer mehr der Inan-spruchnahme vergleichbarer sozialer Gruppen derdeutschen Bevölkerung angleicht, scheinen erheb-liche Unterschiede im Bereich der Prävention undder Rehabilitation zu bestehen. Hier machen sichdie Defizite der Präventionsmedizin besondersbemerkbar. Eine adäquate Versorgung dieses Teilsder Bevölkerung Deutschlands kann nur auf der

ErfolgreicheProjekte mitaufsuchenderMethode

Starkes Inter-esse der Frau-en an gesund-

heitlichenFragen nutzen

Drucksache 14/4357 – 198 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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Basis gesicherter Daten und Analysen geschehen.Daher ist es notwendig, die Migrantenbevölke-rung in der Gesundheitsforschung, vor allem inden großangelegten und repräsentativen Studienmit internationalem Vergleich zu berücksichtigen.Durch entsprechende Fort- und Weiterbildungmuss eine interkulturelle Sensibilisierung der Pro-fessionen im Gesundheitswesen gefördert werden.

Im Bereich der Beratung existiert auch angesichtsder sich wandelnden familialen Struktur ein-schließlich des generativen Verhaltens ein fortbe-stehender, aber modifizierter Bedarf bezüglichgesundheitlicher Fragen. Die Migrantenorganisa-tionen können diese Funktionen nicht adäquat undin ausreichendem Maß wahrnehmen, sie sind je-doch in ihrer Multiplikatorenfunktion einzubezie-hen. Migrationsdienste der Wohlfahrtsverbändewie Regeldienste z. B. der Gesundheitsämter undSelbstorganisationen arbeiten im Bereich der Be-ratung und Aufklärung in gesundheitlichen Fragen,so wie auch in anderen Bereichen, noch weitge-hend unkoordiniert nebeneinander. Eine bessereVernetzung, etwa auch durch die Einrichtung vonethnomedizinischen Zentren, ist, um Konkurrenz,Doppelarbeit und segmentierte Problemlösungsan-

sätze zu vermeiden, unumgänglich. In der Arbeitmit Familien ausländischer Herkunft erscheint diesunverzichtbar, da sie häufig die Angebote nichtdurchschauen können, um dann eine geeigneteAuswahl zu treffen. Zudem ist Vernetzung ange-sichts der Finanzierungsprobleme vieler Träger einWeg, ressourcensparende Synergieeffekte zu er-zielen. Da zusätzlich auch Prävention und Gesund-heitsförderung über Arbeits- und Beschäftigungs-verhältnisse aufgrund der höheren Arbeitslosigkeitund der geringeren Beschäftigungsrate z. B. beiausländischen Frauen nicht gegeben ist, sind hierneue und spezifische Ansätze erforderlich.

So ist es z. B. notwendig, die Schwelle zur Inan-spruchnahme von Gesundheitsdiensten und -ein-richtungen abzusenken und durch nachgehende undaufsuchende Angebote Alltagsnähe und Kontinui-tät in der Versorgung zu erreichen. Der Einsatz vonmuttersprachlichen Fachkräften ist bei den großenMigrantengruppen möglich und sinnvoll. Für dieVersorgung der meisten Ausländer jedoch, die denvielen kleineren ethnischen Gruppen angehören, istdie Sensibilisierung und Qualifikation der deut-schen Fachkräfte in den Regeldiensten die einzigeAlternative.

Bessere Ver-netzung derunterschiedli-chen Migran-tendienstenotwendig

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 199 – Drucksache 14/4357

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VI. Kurzgefasste Ergebnisse der Kapitel IV und V

Historischer Rückblick

In der Geschichte Deutschlands waren seit demZweiten Weltkrieg mehrere große Zuwanderungs-prozesse zu verzeichnen: Am Ende und nach demWeltkrieg kamen zuerst Flüchtlinge und Vertriebe-ne aus den früheren deutschen Ostgebieten. Esfolgte die organisierte Anwerbung ausländischerArbeitnehmer von der Mitte der 1950er-Jahre biszum „Anwerbestopp“ 1973, der den Familiennach-zug verstärkte. Seit den späten 1970er-Jahren undbesonders in den späten 1980er- und frühen1990er-Jahren nahm die Zuwanderung von auslän-dischen Flüchtlingen und Asylsuchenden stark zu.Die „Aussiedler“ genannten Einwanderer deutscherAbstammung aus Osteuropa und dem eurasischenRaum fanden lange wenig Beachtung, bis ihreZuwanderung am Ende des Kalten Krieges undnach der Öffnung des Eisernen Vorhangs zur Mas-senbewegung anschwoll.

In beiden deutschen Staaten gab es im Zusammen-hang von Zuwanderung und Eingliederung quanti-tativ ganz unterschiedliche und qualitativ in vielerHinsicht gegensätzliche Erfahrungen. Während inder DDR nach der Integration der dort „Umsiedler“genannten Flüchtlinge und Vertriebenen bis zumVereinigungsprozess und in den neuen Bundeslän-dern auch darüber hinaus Abwanderung im Vor-dergrund stand, dominierten im Westen Zuwande-rung und Eingliederung. Spätestens seit Anfang der1980er-Jahre war die Bundesrepublik Deutschlandim Sinne international anerkannter Kriterien defacto ein modernes Einwanderungsland – nicht imrechtlichen, aber im sozialen und kulturellen Sinne.

Seit der Entdeckung dieses unverkennbaren gesell-schaftlichen Tatbestandes öffnete sich um so mehrdie Schere zwischen den demographischen, empi-risch-sozialwissenschaftlichen und gesellschaftsge-schichtlichen Nachweisen dieser Entwicklung undihrer politischen Akzeptanz. Während die Bundes-regierungen unausgesetzt erklärten, dass die Bun-desrepublik Deutschland „kein Einwanderungs-land“ sei, wirkte im westlichen Deutschland einAufenthalts-, Arbeits- und Sozialrecht, das „Gast-arbeiter“ schrittweise in De-facto-Einwandererverwandelte: Diese pragmatische Integrationspoli-tik im Einwanderungsland wider Willen sichertedauerhaft im Lande lebenden Ausländern bei aufder Zeitachse zunehmender Verfestigung ihresAufenthaltsstatus, wachsender Rechtssicherheitsowie voller Partizipation am Arbeitsmarkt und anden sozialen Leistungen schließlich nachgeradealle wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte.Erschwert blieb ihnen jedoch – abgesehen vom

Ausländerwahlrecht für EU-Bürger – der Zugangzu politischen Grundrechten, weil diese an denErwerb der deutschen Staatsangehörigkeit unterAufgabe der bisherigen gebunden war. Die Aufga-be der bisherigen Staatsangehörigkeit aber ist füreinen Großteil der in den 1990er-Jahren zum Teilschon in dritter Generation im Lande lebendenMenschen ausländischer Herkunft auch deswegenschwierig, weil sie ihre Zuwanderung seinerzeitnicht unter dem Aspekt der Einwanderung ange-treten hatten. Hinzu kam, dass es für Einwanderungin der Bundesrepublik nie eine transparente Kon-zeption mit entsprechenden Angeboten gab, andenen sich die Lebensperspektiven von Einwan-dererfamilien hätten ausrichten können. Auch dieEinbürgerungserleichterungen im Rahmen derReform des Ausländerrechts von 1990 sind keinErsatz für die bis heute fehlende integrale Einwan-derungs- bzw. Eingliederungskonzeption, derenAusbleiben deswegen gesellschaftsgeschichtlich soproblematisch ist, weil Einwanderung und Einglie-derung längst Zentralbereiche der Gesellschaftspo-litik geworden sind.

Trotz pragmatischer Integrationspolitik hat dasappellative Dementi der Einwanderungssituationbei der Mehrheitsgesellschaft die Akzeptanz derEinwanderungssituation erschwert. Bei der Ein-wanderergesellschaft hat diese Einstellung zunachhaltigen, in den Familien auch intergenerativwirkenden Irritationen geführt. Sie waren auchdurch die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts1999 nur zum Teil aufzuheben, zumal die doppelteStaatsangehörigkeit nur bedingt und beschränkteingeräumt wurde.

Deutschland ist ein Land, das einerseits ein Über-maß an Zuwanderung fürchtet und doch auf langeSicht kontinuierlich ein Mindestmaß an Einwande-rung braucht. Ohne richtungweisende, umfassendeund integrale Konzeptionen aber bliebe alle Ein-wanderungspolitik bloß defensiv. Wichtig ist es, inder öffentlichen Diskussion zur Herausbildungeines pragmatischen, positiven oder doch gelasse-neren Verhältnisses zu Fragen von Migration,Integration und Minderheiten beizutragen.

Phasen und Lebensformen von Familienausländischer Herkunft (Kap. IV)

Die Datenlage zu den Migrantengruppen weistgroße Lücken auf, was häufig auch ein verzerrtesBild ergibt. Dennoch wurden auf der Basis dervorhandenen Datenlage und unter sorgfältiger

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Prüfung der Aussagefähigkeit der benutzen Dateneinige wesentliche Erkenntnisse zur Situation vonFamilien ausländischer Herkunft und zu familien-politischen Handlungsoptionen in diesem Berichtzusammengetragen.

Die Sicherheit und Langfristigkeit der Aufenthalts-perspektive hat für Familien eine große Bedeutung,denn familiäre Entscheidungen wie Heirat, Haus-haltsgründung und Geburt von Kindern, aber auchFamiliennachzug und Ausbildungsentscheidungenfür die Kinder, werden vor einem weitaus langfri-stigeren Planungshorizont getroffen als beruflicheEntscheidungen, wie z. B. die Aufnahme einerArbeit bzw. eine Arbeitsmigration. Entsprechendhängen familiäre Entscheidungen sehr viel stärkervon der Stabilität der Rahmenbedingungen ab, dasie in der Zukunft entweder überhaupt nicht (beigenerativen Entscheidungen) oder nur mit großenfinanziellen und menschlichen Kosten revidierbarsind.

Für die sozialen Beziehungen von Migranten spie-len Familie und Verwandtschaft die wichtigsteRolle. So sind es auch die durch Kettenmigrationhäufig sehr verzweigten familialen und verwandt-schaftlichen Netzwerke der Zugewanderten, diehauptsächlich zu ihrer sozialen Integration in diedeutsche Gesellschaft beitragen. Die Integrations-leistungen in die Aufnahmegesellschaft, die indiesen Verwandtschaftsbeziehungen von Familienausländischer Herkunft erbracht werden, wären alsinstitutionalisierte Angebote personell und finan-ziell außerordentlich aufwändig und stellen damiteine wesentliche Entlastung der Aufnahmegesell-schaft dar.

Die Selbstorganisationen der Migranten leisteneinen erheblichen Beitrag zur individuellen undsozialen Orientierung und Integration ihrer Klientelin die Aufnahmegesellschaft und zur Durchsetzungkollektiver Minderheitsinteressen. In dem Maße,wie sich diese organisatorischen Netze institutio-nell vervollständigen, bieten sie aber zugleich auchdie Basis für eine Statusdifferenzierung innerhalbder ethnischen Gemeinschaft, d. h. einer sozialenSchichtung auch innerhalb der Zuwanderungsmi-norität. Damit eröffnen sich zunehmend auch be-rufliche, politische und soziale Karrierepfade in-nerhalb dieser Gemeinschaft, die als attraktiveAlternativen zu den in der Gesamtgesellschaftangebotenen Möglichkeiten wahrgenommen wer-den können.

Wenn eine zunehmende Anzahl verschiedenerAlltagsbereiche innerhalb einer ethnischen Kolonieorganisiert werden, besteht die Gefahr einer ethni-schen Kolonisierung. Der Kontakt zur Aufnahme-gesellschaft kann dann letztlich nur noch durcheinzelne Personen gepflegt werden, die die Fertig-

keiten besitzen, in beiden Gesellschaften zu agie-ren. Für die anderen mangelt es dann unter Um-ständen an Möglichkeiten, aber auch an Anreizen,Fähigkeiten zum Agieren in beiden Gesellschaftenzu erwerben.

Die zweite Generation der Zuwanderer weist einhöheres Akkulturationsniveau auf als die ersteGeneration. Prozesse der ethnischen Rückbesin-nung finden demgegenüber nicht selten bei derdritten Generation statt. Vor allem bei den türki-schen Söhnen weisen eine Reihe von Befunden aufeine solche Tendenz hin. Eine hohe Internalisie-rung der Geschlechterrollenerwartungen der Her-kunftskultur ihrer Eltern bringt sie verstärkt unterDruck, da sie diesen Erwartungen, vor allem wasökonomisch-utilitaristische Erwartungen angeht,oft nicht entsprechen können. Sie fühlen sich vorallem von den Erwartungen am beruflichen Auf-stieg und an die ökonomische Besserstellung derFamilie häufig überfordert. So wird es kaum mög-lich, die aus der Herkunftskultur genährten Erwar-tungen der Eltern auf lebenslange Loyalität mitentsprechender Transferleistung einzulösen.

Negative Bilanzen in den verwandtschaftlichenTauschbeziehungen, wenn Erträge aus dem Migra-tionsprojekt nicht sichtbar eintreten oder nichtmehr erwartbar erscheinen, bringen besonders dieMigrantenfamilien, die hohe verwandtschaftlicheUnterstützung in Anspruch genommen haben, ineine prekäre Lage, in der häufig nur ein Ausweg in„symbolische“ Verhaltensweisen bleibt. Ritualisti-sche Konformitätsbezeugungen an die Herkunfts-kultur gehören hierzu. Auch gewisse Züge ei-nes „Fundamentalismus“ bei Migrantenminoritätendürften dadurch mitbestimmt werden.

Heiratsbeziehungen erweisen sich als härtesterIndikator für Assimilation. Hierbei zeigt sich, dassdie Akzeptanz interethnischer Ehen bei den Fami-lien ausländischer Herkunft in den letzten 10 Jah-ren in Deutschland stark zugenommen hat. Aufdeutscher Seite bestehen z. B. gegenüber deutsch-türkischen Ehen größere Vorbehalte als auf türki-scher Seite. Auf der anderen Seite ist zu verzeich-nen, dass es bei der zweiten Generation türkischerHerkunft (vor allem bei den Männern) eine ver-stärkte Neigung zur inner-ethnischen Heirat mitPartnerinnen aus der Türkei gibt. Soziale Distanz,Vorurteile und Stereotypisierungen zeigen sich vorallem in der Haltung zu türkischen Frauen, denenvon deutscher Seite sehr viel stärker traditionelleAttribute zugeschrieben werden als es dem Selbst-bild der türkischen Frauen entspricht.

Die Pioniermigration birgt einen deutlichen Zu-wachs an innerfamilialen Aufgaben und Entschei-dungskompetenzen. Dies ist darauf zurückzufüh-ren, dass das ersteinreisende Familienmitglied als

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erstes Kontakte in der Aufnahmegesellschaftknüpft, die ihm zugleich dauerhafte Vorsprüngevor den anderen Familienmitgliedern sichern. Soist noch oft nach über 10 Jahren Aufenthaltsdaueran der innerfamiliären Aufgabenorganisation undEntscheidungskompetenz die Form der Wande-rungsabfolge zwischen den Ehepartnern ablesbar,d. h. ob der Ehemann zuerst, die Ehefrau zuerstoder beide gemeinsam zugewandert sind.

Nach vorliegenden Befunden haben gemeinsamnach Deutschland kommende Familien die deutlichgünstigeren Voraussetzungen für die mit der Mi-gration verbundenen Aufgaben als solche, beidenen sich der Kettenmigrationsprozess über grö-ßere Zeiträume hinweg gestaltet. Deshalb kannfamilienpolitisch empfohlen werden, alle Rahmen-bedingungen so zu gestalten, dass eine Trennungder Ehepartner oder der Kinder von ihren Elternsich minimalisiert.

Aus familienpolitischer Sicht sind Maßnahmen, diezur Stärkung der Fähigkeiten (Empowerment) vonFrauen und Müttern beitragen, ein wirksames Mit-tel zur Bewältigung der familiären Aufgaben imEingliederungsprozess. Hierzu gehört insbesondereauch die Möglichkeit, durch eigene Erwerbstätig-keit zur ökonomischen Absicherung der Familiebeitragen zu können. Die Reichweite und dieWirksamkeit von familienunterstützenden Ein-richtungen und von Bildungsmaßnahmen, die zurStärkung der Fähigkeiten von Frauen ausländischerHerkunft beitragen wollen, hängt jedoch wesent-lich davon ab, wie sie deren Nützlichkeit für diegesamte Migrantenfamilie unmittelbar einsichtigmachen können und wie sie sich in die familial-verwandtschaftlichen Solidarpotenziale von Fami-lien ausländischer Herkunft einbetten lassen.

Der größte Teil der Migranten verlässt Deutschlandzu einem späteren Zeitpunkt wieder. EndgültigeRemigrationen kommen eher bei den ersten Mi-grantengenerationen, wiederholte Remigrationenbzw. Transmigrationen eher bei den nachfolgendenGenerationen vor. Migrationsprojekte schließenhäufig Remigration sowie Pendelmigration ein. InDeutschland wird dies häufig unterschätzt. Zuwan-derungen sind vielmehr von Remigrationen nichtzu trennen, sie kommen häufig in ein und demsel-ben Lebenslauf vor und bestimmen als mögliche,gleichzeitig oder konsekutiv angewandte Strategiendas Leben der Migrantenfamilien. Die Verengungder Sicht auf Zuwanderer, die dauerhaft im Landbleiben, wird der Dynamik von Migrationsprozes-sen deshalb nicht gerecht.

Entscheidungen über Rück- und Weiterwanderun-gen hängen von den subjektiven Erwartungen ab,diesen erneuten Akkulturationsprozeß erfolgreichzu bewältigen. Entsprechend finden sich viele

empirische Hinweise aus Rückwanderungsstudien.Anders als es den landläufigen Erwartungen ent-spricht, haben die rückgewanderten Familien auf-grund ihrer überdurchschnittlichen Ausstattung mitHuman- und Sozialkapital den Akkulturationsmo-dus der „Integration“ wählen können, während diemarginalisierten Familien typischerweise in ihrerSituation im Aufnahmeland verbleiben. Nicht etwa„Heimweh“ oder mangelnder Erfolg im Aufnah-meland sind wichtige Rückwanderungsmotive,sondern Hoffnungen auf die Realisierung einesweiteren sozialen Aufstiegs. Entsprechend findensich unter den Rückwanderern vermehrt solche, diewährend ihres Aufenthalts in Deutschland guteDeutschkenntnisse erworben hatten, intensiveKontakte zu Deutschen unterhielten und eine über-durchschnittliche Berufsqualifikation sowie stabileBeschäftigungsverhältnisse erreichen konnten.

Vor allem Angehörige der zweiten Migrantengene-ration, die gut qualifiziert sind und über Sprach-und Umgangskompetenzen in beiden Kontextenverfügen, können sich zu Transmigranten ent-wickeln. Solche Bereitschaften zeigen z. B. Hoch-schulabsolventen aus der zweiten Migrantengene-ration, wenn sie ihren potenziellen Arbeitsmarktdurch die Auswahl ihrer beruflichen Qualifikationund den Ausbau ihrer Sprachkenntnisse auf dieHerkunftsländer auszuweiten versuchen. VieleMigrantenfamilien entscheiden sich daher für eineberufliche Ausbildung, die sowohl für den Ar-beitsmarkt Deutschlands als auch den des Her-kunftslandes Erfolg verspricht und einen Transfervon kulturellem Kapital ermöglicht.

Bei älteren Migranten gibt es einen hohen Rück-kehrwunsch. Hierbei ist es – vor allem für „Dritt-staatler“ – sehr wichtig, dass die Rückkehroptionoffen bleibt. Pendeln, vor allem bei jungen Alten,ist ein präferierter Migrationsmodus. Migrantenverfügen somit über Mobilitätspotenziale, die sichaus ihren vorausgegangenen Mobilitätserfahrungenergeben. Rückwanderungen von Älteren auslän-discher Herkunft haben deshalb in den meistenFällen den Charakter von freiwilligen Wanderun-gen und stellen eine Form der aktiven Gestaltungdes Alters dar. Kontraproduktiv wäre es deshalb,Wanderungen älterer Migranten zu behindern.

Zu einer freien Entscheidung der alten Arbeitsmi-granten über ihren Wohnort und zum Abbau vonRückkehrhindernissen können weitere Fortschrittein der Harmonisierung der Systeme der sozialenSicherheit für die Wanderarbeitnehmer zwischenden Aufnahmeländern und den Entsendeländernbeitragen. Für die Migranten, die im Alter inDeutschland bleiben, ist sozialer Kontakt zu Men-schen aus der gemeinsamen Tradition mit gemein-samer Sprache und Geschichte sehr wichtig. DerErreichbarkeit solcher sozial homogenen Netzwer-

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ke sowie Formen der zugehenden Beratung in der Muttersprache und der Ausstattung der Ausländer-quartiere mit Serviceeinrichtungen und ambulanten Pflegehilfen kommt bei älteren Migranten eine hervorgehobene Bedeutung zu. Der Vielfalt der Lebensentwürfe der Migrantenfa-milien gilt es mit einer Vielfalt an Konzepten über endgültige Zuwanderung aber auch über temporäre Migration bzw. Transmigration zu begegnen. So sollten z. B. bei Familien von Asylbewerbern und Kriegsflüchtlingen mittels Maßnahmen des mutter-sprachlichen Unterrichts für die Kinder und der beruflichen Qualifizierung die Rückkehrfähigkeit erhalten und gestärkt werden. Hier wäre Migrati-onspolitik für eine temporäre Migration mit Ent-wicklungspolitik zu verzahnen. Ebenso sollte bei den Arbeitsmigranten denjenigen Familien, die dauerhaft in ihre Herkunftsländer zurückkehren wollen, der Erwerb der hierfür notwendigen Kom-petenzen ermöglicht werden. Hierzu gehören Pro-gramme der Förderung der Reintegration und der muttersprachlichen Befähigung der Kinder. Ein Integrationskonzept, das alle diese Lebenslagen und Lebensentwürfe von Migrantenfamilien be-rücksichtigt, sollte zeitliche und qualitative Abstu-fungen des Integrationsprozesses vorsehen, die die Doppeloptionen vieler Migrantenfamilien nicht behindert. Familien ausländischer Herkunft, ihre Le-benslagen in Deutschland (Kap. V) Die Lebenslagen der Familien ausländischer Her-kunft in Deutschland unterscheiden sich unterein-ander und zur ansässigen deutschen Bevölkerung durch die jeweiligen Migrationsprojekte. Diese lassen sich nach folgenden Phasen unterscheiden: (1) die Ankunft im Aufnahmeland, (2) die Legali-sierung und existenzminimale Normalisierung der Lebenslage, (3) Familiennachzug und Vermögens-bildung, (4) Abschlussphase im Herkunfts- oder Aufnahmeland. Lebenslagen oder Lebensbedingungen werden durch die äußeren Bedingungen alltäglichen Han-delns zur Sicherung der Daseinsvorsorge beschrie-ben (Arbeits- und Wohnbedingungen, Erwerbstä-tigkeiten, Kompetenzen, soziale Netzwerke sowie Partizipationsmöglichkeiten zur Human-, Produk-tiv- und Konsumtivvermögensbildung). Analysen und Vergleiche von Lebenslagen beziehen sich auf die verfügbaren haushaltsökonomischen Ressour-cen und deren Nutzbarmachung zur Daseinsvor-sorge, Wohlfahrtsproduktion und Humanvermö-gensbildung.

Charakterisiert werden Lebenslagen durch die einer Person oder familialen Gruppe verfügbaren Res-

sourcen: (1) dem Humanvermögen, das sind die Vitalkräfte, Fähigkeiten und Kompetenzen der Haushaltsmitglieder zur Daseinsvorsorge, (2) dem Produktivvermögen, dazu gehören die Geld-, Sach- und Sozialvermögen zur Einkommenssicherung, (3) dem Konsumtivvermögen, das aus Geld- und Sachvermögen, Nutzungsrechten und Sicherheiten für den Konsum besteht.

Die Verfügbarkeiten über Ressourcen unterschei-den sich nach der Ausgangslage im Herkunftsland und dem Zuwanderungszeitraum, sie verändern sich im Lebensverlauf und im Familienzyklus sowie durch Mobilität und sich wandelnde gesell-schaftliche Rahmenbedingungen. Migrationspro-jekte sind in der Regel Familienprojekte und betreffen wandernde und zurückbleibende Famili-enangehörige in unterschiedlicher Weise. Als Migrationsziele haben die Zuwanderer folgende Optionen: (1) den befristeten Aufenthalt im Auf-nahmeland zur Vermögensbildung und gewünsch-ten Nutzung in der Herkunftsgesellschaft, (2) einen gewünschten Familiennachzug und die Integration, Akkulturation und/oder Assimilation im Aufnah-meland, (3) einen Vermögensbildungsprozess, der weder nach der Option (1) noch der Option (2) stringent verläuft, sondern ad hoc in diese oder jene Richtung weist und darauf ausgerichtet ist, durch eine entsprechende Vermögensbildung sich beide Optionen offen zu halten. Da der Erfolg von Migrationsprojekten nicht zu-letzt von klaren Handlungszielen abhängig ist, sind förderliche Rahmenbedingungen in den Herkunfts- wie Aufnahmegesellschaften mit entsprechenden Informations-, Aufklärungs- und Beratungsangebo-ten wünschenswert. In der Abbildung V.1. (siehe Kap. V.1.2) werden die Lebenslagen im Zusammenhang von Alter, Familienzyklusphasen und Zeitereignissen von Zuwandernden dargestellt, aus der im Folgenden die unterschiedlichen Integrationschancen, Leis-tungen und Belastungen von Geburtsjahrgängen während der Migrationsprojektphasen modelliert werden können. Das „Generative Modell“ des Geburtsjahrgangs 1930 ist beispielhaft für die Lebenslagen der Pio-nierjahrgänge der Arbeitsmigrationen. Die Lebens-lage des Generativen Modells des Geburtsjahr-gangs 1940 wird maßgeblich durch den Anwerbe-stopp und den verstärkten Familiennachzug be-stimmt. Für den Geburtsjahrgang 1950 wird die Zuwande-rung je nach Herkunftsland schwieriger und mit-unter nur noch über den Familiennachzug mög-lich.

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Auch die Integration in den Arbeitsmarkt wirddurch die sich anbahnende Arbeitslosigkeit inDeutschland erschwert und problematisch.

Der Geburtsjahrgang 1960 kann zu einem kleinenProzentsatz schon in Deutschland geboren oderaufgewachsen sein. Die Gründungs- und Aufbau-phase der Familie fällt in eine Zeit der erschwertenBedingungen für die Integration in den Arbeits-markt.

Die Lebenslagen der zuwandernden Aussiedlerfa-milien aus Ost- und Süd-Ost-Europa unterscheidensich von denen der ausländischen Familien da-durch, dass ihre Zuwanderung eine Einwanderungist, die deutsche Staatbürgerschaft erworben wirdund Fördermaßnahmen zur Eingliederung, wennauch mit abnehmender Tendenz, bereitgestelltwerden.

Erwerbsarbeit und Lebenslagen ausländischerFamilien und Privathaushalte ausgewählterNationalitäten im Vergleich

Für den Vergleich der Lebenslagen von ausge-wählten Nationalitäten wurden Sonderauswertun-gen des Mikrozensus – Berichtsjahr 1995 – und derEinkommens-Verbrauchsstichprobe 1993 benutzt.Bei der Analyse und Bewertung der Befunde sindgravierende Unterschiede in den Migrationsge-schichten der zuwandernden Nationalitäten zubeachten. Als Beispiel seien die Nationalitäten„Italien“ und „ehemaliges Jugoslawien“ genannt.

Verglichen werden (1) ausländische Familien miteinem festen Wohnsitz in Westdeutschland, unter-schieden nach den Nationalitäten aus den EU-Staaten, Griechenland und Italien, den Anwerbe-ländern und Drittstaaten, Türkei und ehemaligesJugoslawien, (2) binationale Ehen und (3) auslän-dische und deutsche Alleinerziehende, die in West-deutschland wohnen. Da die westdeutschen Ehe-paar-Haushalte im Durchschnitt älter sind als dieerfassten ausländischen Haushalte, werden, soweites zweckmäßig und möglich ist, nur die Ehepaar-Haushalte mit oder ohne Kinder, deren Eltern nichtälter als 55 Jahre sind, zu dem weiteren Vergleichder Lebenslagen herangezogen.

Der überwiegende Lebensunterhalt der unter 55-jährigen Ehemänner wird durch Erwerbsarbeitermöglicht. Arbeitslosenunterstützung als Haupt-einkommensquelle nennen 2,9 % der deutschenund 8,9 % der ausländischen Ehemänner, aller-dings davon 15 % der türkischen. Bei den Nennun-gen der Sozialhilfe als Haupteinkommensquellesind die jugoslawischen Ehemänner mit 10,2 % diestärkste Gruppe. Die Griechen sind mit den Deut-schen die Gruppe, die Arbeitslosenunterstützung

und Sozialhilfe am seltensten in Anspruch nehmenmusste.

Der überwiegende Lebensunterhalt der unter 55-jährigen Ehefrauen wird zu 43,7 % bei den Deut-schen, zu 53,8 % bei den Ausländerinnen insge-samt und zu 64,2 % bei den Türkinnen durch El-tern und Ehemann bestritten. Dieses Bild ändertsich nicht grundsätzlich, sondern nur graduell,wenn Kinder im Haus versorgt werden müssen.

Der Anteil der angegebenen Haushaltsnettoein-kommen der ausgewählten Nationalitäten ist imVergleich der Schichtungen bei 3.000 – 4.000 DM(24 %) am höchsten. In den unteren Einkommens-klassen sind die ausländischen Haushalte und inden oberen die deutschen und binationalen stärkervertreten.

Werden die Vermögensbestände der Arbeitneh-merhaushalte der ausländischen Ehepaare mit Kin-dern mit denen der entsprechenden deutschenHaushalte verglichen, so sind sie bei den ausländi-schen Familien deutlich niedriger, allerdings wer-den nur die Vermögensbestände in Deutschlanderfasst. Die ausländischen Familien der Ver-gleichsgruppen haben in Deutschland zu einemDrittel Grundvermögen erworben, das zu einemDrittel aus Ein- oder Zweifamilienhäusern besteht.Dabei gilt es zu beachten, dass ausländische Fami-lien vor allem in Ballungsgebieten wohnen, indenen Immobilienerwerb besonders teuer ist.

Wenn ausländische Mütter erwerbstätig sind – unddas gilt auch für Alleinerziehende und Ehefrauenohne Kinder im Haushalt –, dann sind sie mehr alsdie deutsche Vergleichsgruppe in einem Vollzeit-job tätig. Sie verfügen so auch über ein persönlichhöheres Nettoeinkommen als die deutschen Mütter,dennoch ist das Haushaltsnettoeinkommen bei denausländischen Müttern zur deutschen Vergleichs-gruppe niedriger. Die Arbeitslosenquote ist bei denausländischen Ehefrauen und besonders bei denausländischen Alleinerziehenden sowie auch beiden ausländischen Ehemännern deutlich höher alsbei den west- und auch ostdeutschen Frauen undMännern. Nicht viel anders als bei den deutschenFrauen erfüllt die Erwerbstätigkeit auch bei denAusländerinnen zuerst die Funktion der Gewin-nung von Unabhängigkeit, gefolgt von der Mög-lichkeit, einen finanziellen Beitrag zum Familien-einkommen leisten zu können. Genannt wird auchdie Chance, über Erwerbsarbeit außerhäuslicheKontakte sowie Sprach- und Handlungskompeten-zen erwerben zu können. Nicht-Erwerbstätigkeitwird von ausländischen Frauen durch die Betreu-ung von Kindern oder Schul- und Ausbildungbegründet. Doch schon an dritter Stelle der Nen-nungen kommt die Erfolglosigkeit bei der Stellen-

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suche und 12 % begründen die eigene Erwerbslo-sigkeit damit, dass Eltern und Ehepartner diesesnicht wünschen.

Der Berufsstatus der erwerbstätigen ausländischenEhemänner unterscheidet sich deutlich von demder deutschen Vergleichsgruppe. Während 15 %der Deutschen Selbständige, 38 % Angestellte und36 % Arbeiter sind, liegen die Vergleichszahlen beiden Ausländern bei 7 % Selbständigen, 12 % An-gestellten und 78 % Arbeitern. Bei den ausländi-schen Ehefrauen zeigen sich im Vergleich zu denEhemännern nochmals Unterschiede. Sie sind zu4,7 % Selbständige und zu 21 % Angestellte undzu 68,5 % Arbeiterinnen. Bei den deutschenerwerbstätigen Ehefrauen sind 6,9 % Selbstän-dige, 59,4 % Angestellte und nur 22,5 % Arbeite-rinnen.

Die Zahlen der ausländischen Selbständigen habeneine steigende Tendenz. 1992 waren 208.000 aus-ländische Selbständige gezählt worden. Die Zahlsoll nach Schätzungen im Jahr 2000 auf ca.300.000 steigen. Die Selbständigkeit wird begün-stigt durch längere Aufenthaltsdauer, eine gesi-cherte Aufenthaltsberechtigung, eine städtischeUmgebung mit einem entsprechenden ethnischenMilieu und fehlende Arbeitsplätze. Sie wird er-schwert durch Gewerbeordnungen und Meisterprü-fungen im Handwerk. Sie ist zumeist eine Ni-schenökonomie speziell für die eigenen Landsleu-te. Sie schafft Arbeitsplätze vor allem auch fürsonst nicht vermittelbare junge Ausländer undAusländerinnen. Selbständigkeit sollte nicht zuletztim Interesse der Integration der großen und wach-senden Zahl der ungelernten Jugendlichen, Älterenund Frauen gefördert werden, zumal Kleinstunter-nehmen der Nachbarschaftsbildung in den Wohn-quartieren förderlich sind und dem Zusammenle-ben im Alltag in kultureller Vielfalt dienlich seinkönnen.

Die überproportionale Beschäftigung der Migran-tinnen im sogenannten informellen Sektor und inden ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen(Scheinselbständigkeit und 630 DM-Jobs) ist fürviele Migrantinnen oft die Chance ihres Lebensund zugleich aus der Sicht des formellen Arbeits-marktes ein sozialer Skandal. Während die Anteileder ausländischen Bevölkerung an der Wohnbevöl-kerung in Deutschland ständig zunehmen, nehmendie Anteile derjenigen Ausländer ab, die einensozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz haben.Das heißt auch, dass die ausländischen Familienbei zunehmender Unsicherheit der Einkommenssi-cherung steigende Unterhaltsleistungen bereitzu-halten haben.

Die Wohnversorgung der Familien auslän-discher Herkunft und das Wohnumfeld

Die Wohnbedingungen der Ausländer in der Bun-desrepublik Deutschland können auf der Grundlageder Wohnungsstichprobe 1993 folgendermaßenskizziert werden: Die Wohnfläche ausländischerHauptmieterhaushalte mit mehr als 2 Personen istmit 66m² nur geringfügig kleiner als bei vergleich-baren deutschen Haushalten mit 68m². Ausländi-sche Haushalte verfügen im Mittel über 21m² und1,0 Räume je Person, deutsche über 33m² und1,8 Räume je Person.

Trotz der insgesamt schlechteren Wohnversorgung(Fläche, Ausstattung) lag die durchschnittlicheNetto-Kaltmiete 1993 mit 9,82 DM/m² deutlichüber dem Mietpreis der deutschen Haushalte mit8,56 DM/m².

Die Ausstattung mit Haushaltsgeräten und Unter-haltungselektronik der ausländischen Haushalte mitKindern zeigt, dass die praktisch notwendigenGeräte vorhanden sind, allerdings sind die Aus-stattungsgrade im Vergleich zu den deutschenHaushalten deutlich niedriger.

Die Wohngebiete der Ausländer sind zumeist inIndustrienähe, in Großstädten, in Gebieten mitrelativ alten Baubeständen, guter Infrastruktur undvergleichsweise niedrigen Wohnkosten sowie inSchwerpunkten des sozialen Wohnungsbaus.

58,1 % der Ausländer in der BundesrepublikDeutschland wohnen in Städten mit mehr als500.000 Einwohnern und weitere 21,7 % in Groß-städten zwischen 100.000 und 500.000 Einwoh-nern. Während in ländlichen Gebieten die Auslän-derdichte so gering ist, dass bei der IntegrationIndividualstrategien verfolgt werden müssen, bil-den in den Akkumulationsgebieten die Ausländermit längerer Aufenthaltsdauer mit der alteingeses-senen deutschen Bevölkerung einen stabilisieren-den Kern, der Netzwerke und Unterstützungssys-teme für Zuwanderer bereithält. Allerdings nur solange, als die ansässige deutsche Bevölkerungüberwiegt, es nicht zu ethnischen Auseinanderset-zungen kommt und sie nicht mit zunehmenderTendenz als „problematische Bewohner“ imWohnbezirk wahrgenommen werden.

Wohnumfeld und Infrastruktur sind für ausländi-sche Familien, die vor allem auf Nahverkehrsmittelangewiesen sind, besonders wichtig. Große Be-deutung haben auch Grünflächen und Kindergärtensowie Schulen, in denen deutsche Kinder und Ju-gendliche überwiegen, dies vor allem wegen der

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gewünschten Sprachförderung. Gut zwei Fünftelder Portugiesen, ein Drittel der Türken und einViertel der Polen gaben an, dass „Geschäfte mitProdukten aus der Heimat“ sehr erwünscht sind,die „Nähe zur Kirche oder Moschee“ wird jedochvon den ethnischen Gruppen ganz unterschiedlichbewertet.

Dem landsmannschaftlichen Wohnen wird eineAbsage erteilt, aber auch das „Einmischen“ einzel-ner Ausländerhaushalte in Häuser mit klaren deut-schen Mehrheiten findet kaum Zustimmung. Esdominiert die Idealvorstellung einer paritätischenMischstruktur von Deutschen und Ausländern dereigenen Nationalität. Die internationale Mischungmehrerer Ausländerkulturen mit der deutschenNachbarschaft wird positiv aufgenommen, aller-dings werden als gewünschte Nachbarn vor allemeuropäische Nationalitäten genannt. Auch bei denAusländern in Deutschland ist der Abstand zu –unterschiedlich definierten – „fremden“ Kulturengroß. Gegenwärtig haben viele Ausländergruppenam Wohnungsmarkt noch Probleme, sich angemes-sen zu versorgen. Für sie gehört zur räumlichenIntegration auch, dass es Freiräume zur Traditi-onspflege gibt und es dadurch im Alltag möglichist, eine Balance zwischen Sprachbildung undTraditionspflege in der Herkunftskultur und dergewünschten Integration in die deutsche Gesell-schaft zu halten.

Den Wohnverhältnissen von Ausländern inDeutschland wird relativ viel Aufmerksamkeitgezollt. Im Allgemeinen werden Ausländer alsbenachteiligte und probleminduzierende Bevölke-rungsgruppe wahrgenommen. Segregiertes Woh-nen wird als ein Indikator für mangelnde Integrati-on und weniger als Ausdruck funktionierenderethnischer Netzwerke und Selbsthilfepotenzialegesehen. Dieses einseitige Bild entspricht nicht denvielgestaltigen Realitäten. Im Jahr 1993 sprachensich in einer Untersuchung in Westdeutschland60 % der Deutschen für eine Integration der aus-ländischen Bevölkerung aus und nur 11 % plädier-ten für Segregation, und wenn unmittelbare Nach-barschaftskontakte zu Ausländern bestanden,wünschten sogar 73 % Integration statt Segregati-on. In innerstädtischen Wohngebieten hatten sogar80 % der Deutschen diese Einstellung. Aus derSicht der ausländischen Bevölkerung stellte sichdie Lage etwas anders dar. Nach Umfragedatenvon 1993 sorgten sich insbesondere türkische Fa-milien vermehrt über eine erhöhte Ausländerfeind-lichkeit.

Vielgestaltige und an die Bewohnerstruktur undderen Lebensweisen angepasste Konzepte und Pro-jekte zur Wohnintegration von Ausländern stellenfür die Zukunft ein zentrales Problem dar. Dabeigeht es um ein friedliches und sich gegenseitig

befruchtendes Zusammenleben der einheimischendeutschen Bevölkerung und der länger ansässigenAusländer mit den Zuwanderern aus weiteren noch„fremden“ Kulturen. Die dafür zu gestaltendenfamilien- und wohnungspolitischen Rahmenbedin-gungen stellen eine Herausforderung dar. Gelunge-ne Projekte sollten herausgehoben und prämiertwerden.

Migration und Bildung

Familien ausländischer Herkunft sind wie aucheinheimische Familien bestrebt, ihr ökonomisches,soziales und kulturelles Kapital zu erhalten und zumehren und höhere soziale Positionen zu erreichen.Verbleiben die Familien ausländischer Herkunft inDeutschland, beteiligen sie sich durch ihre Bil-dungsanstrengungen an der Erneuerung des Hu-manvermögens des Landes. Wenn sie vorhaben,ins Herkunftsland zurückzukehren, bedeutet dieRealisierung hoher Bildungsziele zugleich aucheinen Transfer von qualifiziertem Humanvermö-gen. Sie leisten hiermit einen Beitrag zur Ent-wicklung ihrer Länder und fungieren zugleich überdort erreichte höhere soziale Positionen als Binde-glieder zwischen Deutschland und den Herkunfts-ländern. Es besteht daher ein großes gesellschaftli-ches Interesse, die Familien ausländischer Herkunftunabhängig davon, ob sie für immer in Deutsch-land verbleiben oder ins Herkunftsland zurückkeh-ren, bei ihren Bildungsanstrengungen zu unterstüt-zen.

Kinder aus Familien ausländischer Herkunft kom-men mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen indie Schule. Bildungserfolge hängen von vielenFaktoren ab und lassen sich nicht nur mit derSchichtzugehörigkeit und strukturellen Diskrimi-nierungen erklären. Bildungseinstellungen derersten Generationen sind vor allem aus Erfahrun-gen in den Herkunftsländern geprägt.

Die Beherrschung der deutschen Sprache ist eineentscheidende Voraussetzung für den Bildungser-folg und steht nicht im Widerspruch zum Wunschvieler Familien ausländischer Herkunft, die Mut-tersprache zu pflegen. Mit der Nutzung ihrer Res-sourcen in Mehrsprachigkeit und Mobilitätserfah-rung zielen die Familien ausländischer Herkunftauf eine zukunftsorientierte und flexible Strategie,die den Anforderungen der zunehmenden Interna-tionalisierung entspricht (so auch die Empfehlun-gen der Kultusministerkonferenz von 1996).

Die ausgeprägte Lernfähigkeit der Kinder im Kin-dergartenalter macht es prinzipiell möglich, sie inkurzer Zeit an die deutsche Sprache heranzuführen.Dies kann bei Berücksichtigung des Bilingualismusder Kinder geschehen. Familien ausländischerHerkunft nehmen allerdings bisher noch nicht so

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häufig wie deutsche Familien den Kindergarten inAnspruch.

Die Aussiedler der 90er-Jahre sind für die Integra-tion in den Arbeitsmarkt und die GesellschaftDeutschlands wenig vorbereitet. Ihre mitgebrachteschulische und berufliche Ausbildung und ihre imHerkunftsland erworbenen sozialen Kompetenzenkönnen in Deutschland nur bedingt umgesetztwerden. Insbesondere bei der jüngeren Aussiedler-generation bestehen zum Teil erhebliche Defizitehinsichtlich der Beherrschung der deutschen Spra-che. Wenn die Jugendlichen bei ihrer Einreise nichtmehr schulpflichtig sind, können sie zwar einenSprachförderkurs absolvieren, dieser reicht aber inder Regel nicht aus, um weiterführende Schulen zubesuchen oder eine qualifizierende Berufsausbil-dung aufzunehmen.

Die Schulsituation der Migrantenkinder hat sichseit den 80er-Jahren insgesamt verbessert. Insbe-sondere die Beteiligung an gymnasialer Bildungund an den Realschulen hat sich deutlich erhöht.Nach dem Herkunftsland unterscheidet sich dieBildungsbeteiligung der Schüler ausländischerStaatsangehörigkeit jedoch erheblich. Währendspanische und griechische Schüler mit den höch-sten Anteilen ausländischer Schüler in Gymnasienund Realschulen am erfolgreichsten sind, sindKinder italienischer Herkunft überproportional inSchulen für Lernbehinderte vertreten. Zu den amungünstigsten im Bildungssystem Platzierten, vorallem in der Sekundarstufe, gehören die Kinderund Jugendlichen türkischer Herkunft.

Die insgesamt geringe Beteiligung der ausländi-schen Jugendlichen an weiterführenden Stufen desSchulsystems steigert den Bedarf an Lehrstellen.Die Konzentration auf wenige Berufe und die zu-nehmende Konkurrenz auf dem Ausbildungsmarkterschwert jedoch die Aufnahme einer Ausbildung.Als hinderlich ist das Rekrutierungsverhalten derBetriebe zu verzeichnen, das sehr häufig von nega-tiven, stereotypen Bildern geprägt ist. Im Bereichdes öffentlichen Dienstes sind die ausländischenJugendlichen deutlich unterrepräsentiert. Die Aus-bildungsbeteiligung der jungen Ausländerinnen istin den letzten Jahren zwar deutlich gestiegen, al-lerdings ist der Ausbildungsstellenmarkt für sienoch enger als für die ausländischen jungen Män-ner. Rund 40 % der Studierenden mit ausländischerStaatsangehörigkeit sind Bildungsinländer, dengrößten Teil dieser Gruppe stellen die Kinder vonArbeitsmigranten. Sie erreichen eine höhere Parti-zipation in der Hochschulbildung als deutscheKinder in vergleichbarer sozialer Lage.

Der fremde Kontext in der Migration stellt die Fa-milien vor neue Aufgaben. In diesem Prozess derInformationssuche, der Entscheidungsfindung und

der Neugestaltung des Familienlebens brauchenEltern, vor allem Eltern aus bildungsfernen Milieus,zur Stärkung ihrer Erziehungskompetenz Unterstüt-zung durch Familien- und Elternbildung, durchVermittlung von Expertenwissen und Hilfe zurSelbsthilfe.

Finanzielle Restriktionen im Bildungswesen habendazu geführt, dass die Bildungsfragen und die mitder Migration von Familien ausländischer Herkunftverbundenen Herausforderungen nicht adäquatbeantwortet werden konnten. In allen Gliederun-gen und Stufen des Bildungssystems brauchen dieLehrkräfte interkulturelle Kompetenzen, um diebesonderen Schwierigkeiten der Kinder und Ju-gendlichen aus Familien ausländischer Herkunft zuerkennen und die vorhandenen Fähigkeiten undRessourcen fördern zu können.

Migration und Gesundheit

Aus der Migration und der Auseinandersetzung miteinem neuen Kontext ergeben sich zahlreiche An-forderungen an kognitive und emotionale Anpas-sungen, die mit Stress verbunden sind. Familienkönnen durch psychosoziale Unterstützung unddurch präventive und kurative Leistungen zur Er-haltung der Gesundheit und Leistungsfähigkeit ich-rer Mitglieder beitragen. Hier haben die Frauen,vor allem die Mütter, eine Schlüsselfunktion. VieleMigrantenfamilien greifen auf traditionelle Laien-systeme zurück.

Die zwischen ausländischen Patienten und deut-schem gesundheitlichen Personal vor allem in derAnfangsphase der Migration auftretenden Verstän-digungsschwierigkeiten haben sich verringert. Dienachfolgenden Generationen mit ihren Sprach-kenntnissen und kommunikativen Kompetenzenagieren zudem als Vermittler zu den gesundheitli-chen Diensten. In der kurativen Medizin zeigt sich,dass Migranten nicht weniger als die einheimischeBevölkerung die Leistungen des gesundheitlichenSystems in Anspruch nehmen. Erhebliche Schwie-rigkeiten bestehen jedoch im Bereich der Präventi-on und Rehabilitation.

Entsprechend der Besonderheiten ihrer Lebenslage,vor allem der Arbeitsplatzbedingungen und derMigrationssituation, tragen Familien ausländischerHerkunft spezifisch gelagerte gesundheitliche Risi-ken. Innerhalb der ambulanten Versorgung stehenKrankheiten des Muskel- und Skelettapparates anerster Stelle der Hauptdiagnosen. Die Arbeitsunfä-higkeitsraten liegen ab Mitte der 70er-Jahre bei denausländischen Beschäftigten durchgehend höher alsbei den deutschen Vergleichsgruppen.

Die besonderen Risiken der ausländischen Arbeit-nehmer drücken sich auch in höheren Raten bei

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207 – Drucksache 14/4357

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den Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten aus.Maßnahmen der Rehabilitation wurden durch An-gehörige der Migrantenbevölkerung unterdurch-schnittlich in Anspruch genommen. Auch sind dieChancen der Reintegration in die Erwerbstätigkeitgeringer als bei deutschen Rehabilitanden.

Drogenabhängigen Ausländern, die mit dem Be-täubungsmittelgesetz in Konflikt geraten, drohenerhebliche ausländerrechtliche Konsequenzen. DieMigrantenfamilien unterstützen meist die Abhän-gigen emotional und finanziell und vermindern denVerelendungsgrad der Betroffenen. Die Dienstesind meist nicht auf die besondere Problematik dersuchtabhängigen Migranten eingestellt.

Die Migrationspsychiatrie, interkulturelle Psychia-trie und Ethnopsychoanalyse sind durch unter-schiedliche, sich widersprechende Ergebnisse ge-kennzeichnet. Hier sind die Schwierigkeiten einerexakten Diagnose besonders hoch und sie gehenauf unterschiedliche Faktoren, wie sprach- undkulturbedingte Kommunikationsschwierigkeiten,Tendenz zur Somatisierung bei Patienten mit ge-ringem formalen Bildungsniveau und Besonder-heiten einer traditionalistisch orientierten Auffas-sung von Krankheit zurück. Psychische Erkran-kungen äußern sich unterschiedlich je nach Migra-tionsphase. Depressive Syndrome kommen eher inder Anfangszeit der Migration vor und gehendann in psychosomatische Beschwerdebilder über.Auffallend häufig werden Neurosen und psycho-somatische Krankheitsbilder vor allem bei Migran-tinnen diagnostiziert. In Migrantenfamilien wird

häufig eine Entwicklungsstörung nicht rechtzeitigwahrgenommen bzw. die Behandlung wird verzö-gert, oder aufgrund der sprach- und kulturbeding-ten Kommunikationsschwierigkeiten können Auf-fälligkeiten, die auf Behinderungen hinweisen, alsVerhaltensstörungen fehlinterpretiert werden.

Immer mehr Angehörige der ersten Migrantenge-neration kommen ins Rentenalter. Da es sich beiden älteren Migranten zur Zeit noch überwiegendum junge Alte handelt, wird Pflegebedürftigkeit indem Maße ansteigen, wie sich die Alterszusam-mensetzung verschiebt und eine größere Anzahlder Migranten das achtzigste Lebensjahr über-schreitet. Das spezifische Gefährdungsprofil derMigrantengruppen und das für ausländische wieeinheimische Menschen allgemein steigende Risi-ko der Multimorbidität im Alter bekräftigen dieAnnahme eines hohen Hilfe- und Pflegebedürftig-keitsrisikos bei dieser Altenpopulation. Da diemeisten älteren Migranten einer Umsiedlung in einAltenheim ablehnend gegenüberstehen und esvorziehen, zu Hause versorgt zu werden, wird sichdie Frage stellen, inwiefern die Hilfepotenziale dernachfolgenden Generationen trotz vorhandenerHilfebereitschaft nicht durch fehlende materielleRessourcen begrenzt werden. Eine Institutionalisie-rung wird sich nicht immer vermeiden lassen, so-dass auch für die älteren Migranten ein an ihrenspezifischen Bedürfnissen orientiertes Kontingentvon Pflegeplätzen zur Verfügung gestellt werdenmuss. Dabei sind sprach- und kulturkompetenteprofessionelle Ressourcen erforderlich sowie ent-sprechende Fortbildungsangebote.

Drucksache 14/4357 – 208 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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VII. Entwicklungspotenziale und Zukunftsszenarien fürFamilien ausländischer Herkunft in Deutschland

In den vorausgegangenen Kapiteln ist die gegen-wärtige Situation von Familien ausländischer Her-kunft beschrieben worden, soweit hierzu gesicherteForschungsbefunde vorliegen. Zugleich sind indiesen Kapiteln – wo dies geboten erschien undes sich unmittelbar anbot – familienpolitischeSchlussfolgerungen gezogen worden, die sich un-mittelbar aus der jeweils abgehandelten Thematikergeben. Die familienpolitischen Konsequenzenkönnen sich jedoch nicht allein auf die Beschrei-bung der Gegenwartssituation beziehen, sie müssenvielmehr auch zukünftige Entwicklungen antizipie-ren. Diese Entwicklungen betreffen dabei sowohlVeränderungen in der demographischen und sozi-alstrukturellen Zusammensetzung der Familienausländischer Herkunft als auch die politischenGestaltungsmöglichkeiten, wobei zwischen beidenenge Wechselwirkungen bestehen.

Hinsichtlich der demographischen Zusammenset-zung ist die Situation der Familien ausländischerHerkunft in Deutschland durch folgende Entwick-lungsbedingungen gekennzeichnet:

Nach wie vor besteht der größte Teil der inDeutschland lebenden Personen ausländischerHerkunft aus den in den 60er- und 70er-Jahrenangeworbenen Arbeitsmigranten und deren Famili-enangehörigen. Sie bleiben damit auch weiterhindie wichtigste Zielgruppe der Familien- und Sozi-alpolitik für Familien ausländischer Herkunft. Diesdarf jedoch nicht zu dem Irrtum führen, es handelesich damit um eine einmalige politische Aufgabe,die darin besteht, diese – teilweise schon Jahr-zehnte in der Bundesrepublik Deutschland ansässi-ge – Bevölkerungsgruppe zu „integrieren“ unddamit dieses „Problem“ als abgeschlossen zu be-trachten.

Migration ist vielmehr ein Dauerphänomen, dennnach wie vor sind Bevölkerungsbewegungen desZu- und Wegzuges nach und von Deutschland ingroßem Ausmaß zu beobachten. Hierbei handelt essich nicht immer um kontinuierliche Wanderungs-ströme, vielmehr sind sie nach Richtung und Um-fang großen Schwankungen unterworfen. SolcheBevölkerungsbewegungen hat es nicht nur in derVergangenheit „immer schon“ gegeben, es beste-hen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass dies sichin absehbarer Zukunft nachhaltig ändern (lassen)würde. Entsprechend sind vordringlich familienpo-litische Überlegungen darauf zu richten, wie die

Daueraufgabe des Zuzugs von Familien ausländi-scher Herkunft zu lösen ist.

Gleichzeitig haben sich die Migrationsbedingungennachhaltig verändert. Noch bis in die Phase derAnwerbung der Arbeitsmigranten in den 70er-Jahren war das bestimmende Motiv und die legaleGrundlage der Migration die Arbeitsaufnahme. Eswaren damit primär privatwirtschaftliche Interes-sen im Aufnahmeland, die Art und Umfang derZuwanderung gesteuert haben. Für diese Art derArbeitsmigration hatte zumindest prinzipiell dieMöglichkeit bestanden, eine Steuerung der Migra-tionsströme und eine Rekrutierung von Migrantennach universalistischen Leistungskriterien im Sinneeiner „rationalen“, nationalstaatlichen Zuwande-rungspolitik vorzunehmen und damit die kollektiv-nationalstaatlichen Interessen zu wahren. In demMaße, wie die legale Grundlage der Migration sichvon der Arbeitsaufnahme auf Heiratsmigration,Familienzusammenführung und Familiennachzugsowie auf politische Verfolgung verschiebt, könnenimmer weniger nationalstaatliche Interessen unduniversalistische Leistungskriterien geltend ge-macht werden; an ihre Stelle treten naturrechtlichbegründete Legitimationen durch individuelleMenschenrechte, zu denen sich der demokratischeRechtsstaat bekannt hat. Diese neuentstandeneSituation erfordert ein vollständiges Umdenkenbezüglich einer Vielzahl von auf Personen auslän-discher Herkunft bezogenen Einzelpolitiken undberührt das Selbstverständnis eines jeden Wohl-fahrtsstaates, der seine Leistungen an die Legiti-mation durch die Zugehörigkeit zu einer Abstam-mungsgemeinschaft bindet. Diese neuentstehendeSituation hat unmittelbare Folgen für die zukünftigzu erwartenden Migrationsströme:

(1) Über den Mechanismus des Familiennach-zugs und über die Wirkung von Kettenmigrations-Netzen werden sich die bereits in Deutschlandansässigen Migrantennationalitäten weiter ergän-zen. Es ist also nicht davon auszugehen, dass essich bei Familiennachzug um eine zeitlich be-grenzte Angelegenheit handelt. Insbesondere fürsolche Nationalitäten, bei denen ein großes Wirt-schaftsgefälle zwischen Herkunfts- und Aufnah-meland gegeben ist, besteht vielmehr ein perma-nenter Anreiz, nicht innerhalb der Migrantenmino-rität zu heiraten bzw. einen Partner aus der Auf-nahmegesellschaft zu wählen, sondern auch alsAngehöriger der zweiten Migrantengeneration die

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 209 – Drucksache 14/4357

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eigenen (gestiegenen) Chancen auf dem Heirats-markt der Herkunftsgesellschaft wahrzunehmen.Dieser Prozess dürfte sich weitgehend unbeein-flusst von den Steuerungsmöglichkeiten nationalerZuwanderungspolitiken vollziehen, bzw. eine er-leichterte Einbürgerung für Angehörige der zwei-ten Zuwanderergeneration dürfte diesen Prozesseher noch verstärken.

Dieser Mechanismus der Selbstergänzung vonZuwanderungsgruppen hat erheblich dazu beige-tragen, dass auch nach dem Anwerbeverbot aus-ländischer Arbeitskräfte von 1973 die Fluktuationinnerhalb der ausländischen Wohnbevölkerungvergleichsweise groß geblieben ist und sich kei-neswegs auf die Nationalitäten beschränkt hat, dieals EU-Angehörige davon nicht betroffen gewesensind: Vielmehr hat dieser Mechanismus gerade beiden übrigen Migrantennationalitäten zu einemAnstieg der in Deutschland lebenden Familienausländischer Herkunft geführt. Kaum Auswirkun-gen dürfte diese Umstellung auf den Familiennach-zug im Hinblick auf Alter und Bildung der Zuge-wanderten haben: Wiederum wird es sich vor-zugsweise um eher junge Migranten mit einer eherüberdurchschnittlichen Bildung handeln. Der ent-scheidende Unterschied ist deshalb darin zu sehen,dass der Zuzug über einen anderen Aufnahme- undEingliederungsmechanismus erfolgt: Es ist dies(zumindest zunächst) nicht mehr die strukturelleEingliederung in das Beschäftigungssystem derAufnahmegesellschaft mit allen damit verbundenenindividuellen Qualifizierungsprozessen und Gele-genheiten der Kontaktaufnahme zu Mitgliederndieser Gesellschaft. Vielmehr erfolgt diese Ein-gliederung (zumindest zunächst) ausschließlichaufgrund der sozialen Beziehungen zu und inner-halb der Migrantenminorität, d. h. an die Stelle desHumankapitals als wichtigstem Faktor für denVerlauf des Eingliederungsprozesses ist das grup-penspezifische soziale Kapital getreten. SolcheEntwicklungen tragen stark dazu bei, dass Assimi-lation als Ausgang des Kulturkontakts tendenziellan Bedeutung verlieren wird. Statt dessen wird dieHerausbildung von transnationalen Netzwerkenebenso zu beobachten sein wie die Herausbildungeiner transnationalen Identität seitens der Migran-ten.

Diese Veränderung kann nicht ohne Einfluss aufden Verlauf des Eingliederungsprozesses bleiben:Eine durch Familiennachzug begründete Immigra-tion wird eher die Tendenz ethnischer Schließun-gen und einer institutionellen Vervollständigungethnischer Minoritäten begünstigen als eine Ar-beitsmigration. Unmittelbar einsichtig ist, dassEingliederungsbarrieren für zugewanderte Famili-enangehörige, wie z. B. das Verbot der Arbeitsauf-nahme, diese Unterschiede weiter verschärfen. Einwirkungsvolles Korrektiv hierfür könnte sein, den

„Heiratsmigranten“ zusätzliche Eingliederungsan-reize zu bieten. Diese könnten z. B. darin bestehen,eine schnelle Gewährung von Arbeitserlaubnis undaufenthaltsrechtlichen Privilegien von einer Basis-qualifikation abhängig zu machen. So in schuli-scher Bildung, in der Beherrschung der deutschenSprache und staatsbürgerlichen Grundkenntnissenund dafür entsprechende zielgruppenspezifischeBildungsangebote bereitzustellen. Diese könntendann sinnvollerweise auch Komponenten einerFamilienbildung enthalten, um z. B. über das deut-sche Vorschul- und Schulsystem zu informieren.

(2) Durch politische Verfolgung, Asylsuche undFlüchtlingsaufnahme wird sich die nationale Zu-sammensetzung der Bevölkerung ausländischerHerkunft vermutlich auch in Zukunft ständig ineiner nicht vorhersagbaren Weise verändern. Eth-nische und politische Konflikte sowie kriegerischeAuseinandersetzungen zwischen und innerhalb vonStaaten lösen dabei zwar zunehmend Migrations-ströme weltweit aus, doch sind regionale Wande-rungen aufgrund politischer Verfolgung oder Ver-treibung nach wie vor quantitativ weit bedeutsa-mer. Da auch in Zukunft davon auszugehen ist,dass in der unmittelbaren Nachbarschaft der Euro-päischen Union solche Konflikte bestehen bleibenoder neu entstehen werden, wird auch die durchAsylsuche motivierte Migration auf absehbare Zeitein Dauerphänomen bleiben.

Auch hier hat sich eine qualitative Veränderung inder Legitimation des Aufenthaltsstatus dieser Mi-granten ergeben, der mit dem generellen Werte-wandel in modernen Wohlfahrtsstaaten in unmit-telbarem Zusammenhang steht und seinen Aus-druck in der immer stärkeren Gewichtung vonindividuellen Persönlichkeitsrechten gegenüber imStaats- oder Völkerrecht verankerten Gruppen-rechten gefunden hat. Diese Gewichtsverlagerungzeigt sich nicht nur im Gerechtigkeitsempfindender Bevölkerungsmehrheit in diesen Wohlfahrts-staaten, sondern auch in der Legitimation von poli-tischem und Verwaltungshandeln – sei es in derRechtfertigung von externer, auch gewaltsamerIntervention bei Bürgerkriegen und ethnischenVerfolgungen und Vertreibungen, sei es bei derAsylgewährung oder sei es bei der Aussetzung vonAbschiebungen. Die tiefe naturrechtliche Verwur-zelung der legitimatorischen Grundlagen beinhaltetein hohes Maß an Selbstbindung, das dem verant-wortlichen Handeln gegenüber Flüchtlingen engeGrenzen setzt. Populistische Forderungen nacheiner Ausweitung der Handlungsspielräume fürstaatliche Intervention wären entsprechend nurunter Preisgabe der verfassungsrechtlich und durchinternationale Konventionen abgesicherten Wert-grundlagen realisierbar. Diese Situation hat aller-dings kaum dazu geführt, dass die Dauersituationder Aufnahme von Flüchtlingen Anlass für Über-

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legungen geworden ist, daraus die notwendigenfamilien- und sozialpolitischen Konsequenzen zuziehen.

So wird die entstandene Situation einerseits dazuführen, dass sich über interkontinentale Flücht-lingsströme das Spektrum der kulturellen Herkunftvon Familien ausländischer Herkunft in Deutsch-land weiter verbreitern wird. Da diese kulturellenGruppen häufig relativ klein sind und außerdem imFalle internationaler Konflikte selten die Möglich-keit besteht, vorausschauend zu handeln, kanndiese Situation nicht durch die bisherigen erprobtenRoutinelösungen aufgefangen werden. Entspre-chend erforderlich wäre es, speziell ausgebildeteFamilienexperten mit breiten Kenntnissen in derkulturellen Variabilität familiärer Strukturen undFunktionen und mit Kompetenzen in interkulturel-ler Kommunikation zur Verfügung zu haben. Diesemüssten in der Lage sein, die Bedürfnisse undProbleme solcher Flüchtlingsfamilien zu erkennenund die Verbindungen zur institutionalisiertenInfrastruktur im Bedarfsfalle herzustellen. Hierfürfehlen jedoch in Deutschland alle Voraussetzun-gen – bis hin zu fehlenden Ausbildungsmög-lichkeiten für solche Fachkräfte.

Auf der anderen Seite werden sich aus den quanti-tativ bedeutsameren regionalen Flüchtlingsströmenentweder neue ethnische Kolonien entwickelnkönnen oder bereits bestehende Kolonien verstär-ken. In der jüngeren Vergangenheit hat sich immerwieder gezeigt, dass für die Auswahl des Ziellan-des auch bei politischen Flüchtlingen neben derErreichbarkeit und materiellen Faktoren der Um-stand ausschlaggebend ist, ob in diesem Land be-reits Angehörige leben. Insofern ist Kettenmigrati-on nicht auf Arbeitsmigration und Familienzu-sammenführung beschränkt, sondern erstreckt sichauch auf politische Flüchtlinge. Mehr noch alsandere Migranten sind politische Flüchtlinge ineiner Situation, in der sie auf die emotionale, so-ziale und materielle Unterstützung primärer Be-zugspersonen angewiesen sind. Entsprechend na-heliegend ist ihr Bestreben, z. B. auch gegen politi-sche und administrative Hemmnisse die Nähe ihrerAngehörigen zu suchen. In vielen Fällen werdendie dabei mobilisierten Selbsthilfepotenziale öf-fentlich bereitgestellte Hilfen übertreffen, sodass essowohl im familienpolitischen Interesse des Auf-enthaltslandes als auch im Interesse der Migrantenist, wenn möglichst rasch persönliche Beziehungenreaktiviert oder neu aufgebaut und ausgestaltetwerden. Gleichwohl muss gesehen werden, dassdas Eingehen auf die berechtigten familiären Inter-essen der Migranten mit ausländerpolitischen Be-langen insofern in Konflikt geraten können, alsdadurch weitere Anreize für Zuwanderungen ge-schaffen werden.

Diese neuentstehende Situation hat außerdem un-mittelbare Folgen für den Status von Familienausländischer Herkunft in Deutschland:

(1) In dem Maße, wie Migration nicht mehr domi-nant über die Allokation von Humankapital entspre-chend den Interessen des Aufnahmelandes gesteuertwird, sondern über die Durchsetzung universalerMenschenrechte, kann dies nicht ohne Konsequen-zen für das Verhältnis von Staat, Gesellschaft, Fa-milie und Individuum bleiben. Waren es noch injüngerer Vergangenheit vornehmlich arbeitsmarkt-politische Überlegungen, die für den Umgang mitMigration ausschlaggebend gewesen sind, so gerätsie nun zunehmend in das Blickfeld anderer Politik-bereiche. Von besonderer familienpolitischer Be-deutung ist, dass neben dem Schutz vor politischerund ethnischer Verfolgung insbesondere auch fami-liäre Rechte in einen zunehmend engeren Zusam-menhang mit Migration gerückt sind: Aus demRecht auf selbstbestimmte Eheschließung ergibt sichimmer auch das Recht der in Deutschland Lebenden,sich einen Ehepartner auch außerhalb der Landes-grenzen zu wählen; aus dem Recht auf Leben ingemeinsamen Familienhaushalten ergibt sich dasRecht auf Familienzusammenführung; aus demRecht auf selbstbestimmte Familiengründung folgtdas Recht auf binationale Elternschaft, das im Zu-sammenhang mit dem Kindesrecht auf Umgang mitseinen leiblichen Eltern ebenfalls aufenthaltsrechtli-che Konsequenzen hat. Politische Überlegungen zuFamilien ausländischer Herkunft verlieren damitzunehmend den Charakter der sozialen Nachsorgearbeitsmarktpolitischer Entscheidungen („Wir riefenArbeitskräfte, und es kamen Menschen“), sie wer-den zukünftig im Brennpunkt migrations- und auf-enthaltsrechtlicher Diskussionen stehen. Immerhäufiger wird der Aufenthaltsstatus von Personenausländischer Herkunft (zunächst) eng mit ihrerfamiliären Situation verbunden sein. Das Interesseder Familien ausländischer Herkunft an einer Absi-cherung ihres Aufenthaltsstatus kann hier eine fami-lienpolitische Gestaltungschance sein, die für eineStärkung der familiären Kompetenzen zur Bewälti-gung der mit dem Eingliederungsprozess verbunde-nen Aufgaben und für eine verantwortete Eltern-schaft unter Migrationsbedingungen zu nutzen ist.

Zur Politik für Familien ausländischer Herkunftgehört somit insbesondere:

– die institutionellen Rahmenbedingungen in derBundesrepublik so zu gestalten, dass sie dieEingliederung dieser Bevölkerungsgruppe inder Wohnumgebung, im Bildungs- und Be-schäftigungssystem und in der Teilhabe am öf-fentlichen und kulturellen Leben nicht erschwe-ren und ihr angemessene soziale Chancen er-öffnen,

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 211 – Drucksache 14/4357

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– dass ein auf ihre Bedürfnisse abgestelltes Be-ratungsangebot weiterentwickelt wird,

– dass die aus familiären Bindungen erwachsen-den Verpflichtungen anerkannt, die individuel-len Kompetenzen und familiären Ressourcenzur Bewältigung der mit dem Eingliederungs-prozess verbundenen Aufgaben gestärkt werdenund die Rück- und Weiterwanderungsmöglich-keiten der Familien, die nicht dauerhaft inDeutschland bleiben wollen, erhalten bleiben.

(2) Familien ausländischer Herkunft stehen ineinem besonderen Maße im Spannungsverhältniszwischen der Universalisierung von Menschen-rechten einerseits und der identitätsstiftenden Zu-gehörigkeit zu partikularistischen Kulturen ande-rerseits. Zwar haben Menschenrechte eine univer-sale Ausbreitung und Legitimation erfahren, siemüssen jedoch faktisch nach wie vor vom souverä-nen Nationalstaat und seinen Institutionen garan-tiert und auf seinem Territorium für die gesamteWohnbevölkerung unabhängig von deren Nationa-lität durchgesetzt und aufrechterhalten werden. ImZuge der universalen Ausbreitung haben die Men-schenrechte zugleich eine beträchtliche inhaltlicheAusweitung erfahren und umfassen zunehmendauch „kulturelle“ Rechte: auch das Recht, kulturell„anders“ zu sein als die Mehrheitsgesellschaft unddie „eigene“ Kultur zu erhalten und zu entwickeln,wird öffentlich zunehmend unter dem Gesichts-punkt des Persönlichkeitsrechts auf freie Entfaltungdiskutiert: Die Aufrechterhaltung partikularisti-scher Gruppenmerkmale, wie z. B. eine eigeneSprache und eigene kulturelle Bräuche, werden alsMarkierungen einer eigenen ethnischen Identitätlegitimiert unter Berufung auf universalistischeMenschenrechte. Daraus lassen sich dann wiede-rum leicht Forderungen nach institutionellen Vor-kehrungen ableiten, die zur Sicherung dieser Grup-penidentität geeignet sind, wie z. B. Sonderrege-lungen in Schulen. Entscheidend hierbei ist, dassdie Durchsetzung solcher partikularistischen Inter-essen durch die menschenrechtliche Legitimationnicht mehr an die traditionelle Mitgliedschaft imNationalstaat gebunden ist, d. h. dieser wird zumGaranten solcher Rechte selbst dann, wenn es sichum Nicht-Mitglieder handelt.

Offenkundig geworden ist diese Entwicklung ins-besondere an Beispielen der Ausweitung dessen,was als „Verfolgung“ und mithin als Grund fürAsylgewährung gilt: Das „Immigration and Refu-gee Board“ von Kanada hat begonnen, Frauendeshalb Asyl zu gewähren, weil sie wegen ihresGeschlechts Vergewaltigung oder häuslicher Ge-walt ausgesetzt waren oder weil in ihrem Her-kunftsstaat diskriminierende rechtliche Regelungenfür Frauen bestehen; Frankreich hat die Beschnei-dung von Frauen als eine Form der Verfolgung

anerkannt und westafrikanischen Frauen Asyldeshalb gewährt; in den USA ist einem homosexu-ellen Brasilianer als Mitglied einer „verfolgtensozialen Gruppe“ Asyl gewährt worden (Soysal1994, 158).

Es ist davon auszugehen, dass sowohl eine weitereUniversalisierung als auch eine weitere inhaltlicheAusweitung „vorstaatlicher“ Menschenrechtewahrscheinlich ist. Dies wird nicht nur die Legiti-mationsbasis für Zuwanderung verbreitern („er-zwungene Prostitution“ und „Kinderarbeit“ könn-ten weitere Kandidaten sein), es wird vielmehrzunehmend auch die legitimatorische Basis derMigrantenfamilien bei der Durchsetzung von Parti-kularinteressen gegenüber dem Nationalstaat sein.Diese Entwicklung wird insofern unmittelbareRückwirkungen auf die Familienpolitik haben, alsdie kulturellen Grundlagen des in ihr verwendetenFamilienbegriffs sowohl in seiner Extensionalität(wer gehört zu einer Familie?) als auch in seinerIntensionalität (welche legitimen Funktionen undBedeutungen hat Familie für die Familienmitglie-der und für die Gesellschaft?) von zwei völligverschiedenen Richtungen in diese Auseinander-setzungen einbezogen werden wird: Einerseitsschafft die Migrationsoption durch Heirat undFamiliennachzug permanent neue Anreize für einejuristische und politische Diskussion um Auswei-tung des Familienbegriffs zur Durchsetzung derPartikularinteressen weiterer Personengruppen aufEröffnung einer Zuwanderungsmöglichkeit; dieswird wesentlich über spektakuläre Berichterstat-tungen über Einzelfälle und den juristischen undadministrativen Umgang mit ihnen erfolgen. Ande-rerseits ist nicht zu übersehen, dass die ganz über-wiegende Mehrheit der nach Deutschland zuge-wanderten Personengruppen einen – im Vergleichzur deutschen Bevölkerung – eher engen, traditio-nellen Familienbegriff für sich akzeptiert, derdurch eine klar nach Generations- und Ge-schlechtszugehörigkeit definierte Funktionsbe-stimmung gekennzeichnet ist und einen engeninstitutionellen Zusammenhang von Ehe und Fa-milie betont.

Diese Entwicklungen werden mittelfristig der inDeutschland zögerlich begonnen Diskussion umdie Neubestimmung des Verhältnisses von Men-schen- und Bürgerrechten, von Staat, Familie undIndividuum weitere Schubkraft und zusätzlicheBrisanz verleihen. Dass, je länger eine solchelängst überfällige, grundsätzliche Diskussion hi-nausgezögert wird, sich diese um so wahrscheinli-cher an tagesaktuellen „Fällen“ aus Migrantenmin-derheiten entzündet, kann dabei von erheblichenRisiken für die politische Kultur in Deutschlandund für den sozialen Frieden sein. Im Brennpunktwird dabei die Frage stehen müssen, wie in einerpluralistischen Gesellschaft mit globalen Inter-

Drucksache 14/4357 – 212 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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dependenzen das gestiegene Spannungsverhältniszwischen der Universalität von (Menschen-)Rechten und der Partikularität von menschlicherIdentität und seinen Gruppenbindungen politischgestaltet werden kann.

Die (Wieder-) Herstellung einer alle Lebensberei-che gleichermaßen durchziehenden kulturellenEinheitlichkeit innerhalb der Territorialität desNationalstaates, d. h. die Etablierung, Wiederher-stellung oder Aufrechterhaltung einer „Leitkultur“wird hierbei nicht zuletzt wegen der weiterhin zuerwartenden Neuzuwanderung, der zunehmendensozialen Differenzierung moderner Gesellschaftenund wegen der Universalisierung von Menschen-rechten keine realistische Option sein. Genausowenig wird dies eine im strikten Wortsinne „multi-kulturelle“ Gesellschaft sein, in der dann tatsäch-lich mehrere Institutionengefüge nebeneinanderbestehen müssten und auf einem Territorium ohne„Letztinstanzen“ miteinander konkurrierten, dadiese sich auf eine gemeinsame Wertbasis beziehenkönnen müsste. Demgegenüber scheinen alle Ent-wicklungen aussichtsreich zu sein, die sich amLeitgedanken der „Zivilgesellschaft“ orientieren.Hierzu würde insbesondere eine schärfere Tren-nung zwischen öffentlicher und privater Sphäregehören, wobei in der Öffentlichkeit die vom Staatgarantierten universalistischen Regeln eines demo-kratischen Rechtsstaates gelten, während in derPrivatsphäre vielgestaltige partikularistische Be-ziehungen in kultureller Pluralität gelebt werdenkönnen und Raum für identitätsstiftende sozialeDifferenzierung bleibt. Entsprechend wären Regelnder Zugehörigkeit nicht primär an Abstammungs-kriterien, sondern an der Akzeptanz der universali-stischen Verkehrsnormen in der Öffentlichkeit undan der gewohnheitsmäßigen Teilhabe zu ent-wickeln.

Eine solche Weiterentwicklung in Richtung aufeine Zivilgesellschaft würde zugleich auch derDiskussion um Doppelmitgliedschaften ihre Schär-fe nehmen, da sie dann nicht mehr zwingend mitFragen ethnischer oder kultureller Identität ver-knüpft wäre. Ohnehin muss aus familienwissen-schaftlicher Sicht bezweifelt werden, dass die mitVehemenz geführte Diskussion um doppelteStaatsbürgerschaft ihre Berechtigung hat bzw. sichangemessener Argumente bedient. Regelmäßigwird nämlich angeführt, eine solche Doppelmit-gliedschaft führe zu Identitätskonfusionen, mindes-tens jedoch zu fehlender oder mangelnder Loyalitätmindestens einem der Nationalstaaten gegenüber.Diese Argumentation hat durchaus Parallelen zuDiskussionen, die zum Thema der Familienloyali-tät und zu vermeintlichen Problemen der Identi-tätsbildung bei Kindern in „nicht-eindeutigen“Beziehungssituationen geführt worden sind. Ausder Sozialgeschichte der Familie ist z. B. bekannt,

dass eine eindeutige Familienloyalität in Agrarge-sellschaften eine hohe Funktionalität hatte, sichertesie doch die Eindeutigkeit der Erbschaftsregelun-gen bei der Weitergabe des Grundbesitzes. Deshalbsehen viele solcher Gesellschaften, z. B. bei Heiratdas vollständige Hinüberwechseln eines Ehepart-ners in das Verwandtschaftssystem des anderenunter Verlust aller Beziehungen und Rechte in derHerkunftsfamilie vor. Entsprechend gilt für dieKinder, dass sie nur Beziehungen zu einer Großel-ternlinie zu unterhalten haben. Demgegenüberhaben sich in modernen Gesellschaften ganz ein-deutig sog. ambilineare Abstammungslinien alsKulturmuster vollständig durchgesetzt. Beide Ver-wandtschaftslinien stehen gleichberechtigt neben-einander – wobei kaum jemals ernsthaft argumen-tiert worden ist, es müsse bei Kindern zwangsläu-fig zu „Identitätskonfusionen“ kommen, weil esUmgang mit zwei Großmüttern unterhält, zumal esKindern spielend gelingt, die Loyalitäten auszuba-lancieren. Konsequent weiterentwickelt worden istdas Kulturmuster ambilinearer Loyalitäten in jün-gerer Zeit auch im Hinblick auf Stiefkindschafts-verhältnisse: Noch bis vor kurzem war es das ak-zeptierte Kulturmuster, im Falle einer Neuzusam-mensetzung der Familien (mit den gleichen Argu-menten) frühere Beziehungen entweder zu unter-binden oder drastisch einzuschränken. Demgegen-über wird heute die besondere Bedeutung des Auf-baus gleichberechtigter Bindungen von Kindern zuihren biologischen und ihren hinzugekommenensozialen Eltern betont. Wer die Stützung und Auf-rechterhaltung von ambilinearen Bindungen alsGrundlage aller neueren Gesetzgebungen zumKindschaftsrechts befürwortet, dem steht in derMigrationspolitik das Argument der Identitätskon-fusion und der fehlenden Loyalität in der Frage derZulassung doppelter Staatsbürgerschaft nicht mehrzur Verfügung.

Für eine solche Weiterentwicklung in Richtung aufeine Zivilgesellschaft bietet das in Deutschlandentwickelte System sehr differenzierter aufenthalts-rechtlicher Stellungen im Prinzip gute Ansatz-punkte; es wird der Realität pluraler Gesellschaftenmit sich vielfältig überkreuzenden und wechseln-den Mitgliedschaften und Loyalitäten weitausbesser gerecht als solche Systeme, die nur eineeinfache Unterscheidung zwischen Mitgliedern undNicht-Mitgliedern kennen. Allerdings muss diesesSystem konsequent in Richtung auf ein abgestuftesSystem sozialer und politischer Teilhabe hin wei-terentwickelt werden. Hierbei sind nicht nur diejeweiligen Fristen neu daraufhin zu überprüfen,wie sie sich faktisch in den Biographien der Mi-granten und ihrer Familien realisieren und welcheKonsequenzen dies für den Verlauf von Eingliede-rungsprozessen hat. Vielmehr sollten auch dieaufenthaltsrechtlichen Stellungen im Hinblick aufdie damit jeweils verbundenen Rechte und Ver-

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 213 – Drucksache 14/4357

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pflichtungen überprüft werden, wobei es sich durch-aus anbietet, nicht alle Rechte der politischen Teilha-be erst mit der letzten Stufe der Einbürgerung zu ver-geben. Eine solche klare Regelung von Eingliede-rungs-„karrieren“ hätte den großen Vorteil, dass sie

Familien ausländischer Herkunft mit ihren langfristi-gen, mehrere Generationen umfassenden Migrati-onsprojekten eine größere Handlungssicherheit geradedann gewähren, wenn diese bereit sind, ihre Ressour- cen in die Aufnahmegesellschaft zu investieren.

Drucksache 14/4357 – 214 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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VIII. Konsequenzen und Empfehlungen für die Politik

Die folgenden Empfehlungen, die sich für die Be-richtskommission aus den Analysen ergeben, ver-zichten darauf, sich allgemein über die zukünftige Gestaltung der die Bundesrepublik Deutschland betreffenden Migrationen zu äußern. Sie versuchen sich vielmehr auf die Auswirkungen der Migration auf die Familien ausländischer Herkunft zu kon-zentrieren und formulieren einige grundsätzliche Überlegungen zu der Frage, welche Gestaltungs-aufgaben sich daraus für eine Familienpolitik erge-ben. Dabei wird Familienpolitik als eine eigenstän-dige, ganzheitliche Querschnittsaufgabe begriffen, die ihre besondere Legitimation aus dem grundge-setzlich verankerten Schutz von Ehe und Familie bezieht. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen können dabei weit in andere Politikfelder hinein-reichen; ebenso sind die in anderen Fachressorts zu treffenden Entscheidungen auf ihre Konsequenzen für die Familien ausländischer Herkunft hin zu überprüfen. Die sich daraus ergebenden Zielkon-flikte und Spannungen können nur in einer allge-meinen gesellschaftspolitischen Diskussion über das Verhältnis von Staat, Familie und Individuum aufgehoben werden. 1. Migration ist ein Dauerphänomen, das im Kon-

text anhaltender Globalisierungsprozesse weiter an Bedeutung gewinnen wird. Die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland wird sich auch längerfristig zu einem großen Teil nicht nur durch Geburten, sondern auch durch Zuwande-rungen ergänzen. Insbesondere durch Heirats-migration, Familiennachzug sowie durch Asyl-berechtigte wird es immer wieder neue „Erste Generationen“ von Familien ausländischer Herkunft mit unmittelbaren Migrationserfah-rungen geben. Dieser Dauersituation ist durch angemessene institutionelle Vorkehrungen Rechnung zu tragen. Hierzu gehört nicht nur eine bessere Koordinierung der nach Migran-tengruppen aufgesplitterten Zuständigkeiten und der kommunalen, nationalen und europäi-schen politischen Handlungsebenen durch über-greifende Institutionen mit Querschnittsauf-gaben (z. B. durch ein Bundesamt für Migration und Integration), sondern auch die Bereitstel-lung und der Ausbau von institutionalisierten Angeboten, die den Migrantenfamilien als An-laufstellen für die vielfach spezialisierten Bil-dungs-, Beratungs- und Unterstützungsleistun-gen dienen können.

2. Migration ist in aller Regel ein Familienpro-

jekt, das nicht in einer Generation abgeschlos-

sen ist, sondern mehrere Generationen umfasst und in ihnen seine Folgen hinterlässt. Familien ausländischer Herkunft brauchen deshalb eine langfristige Perspektive, um ihre Aufgaben er-füllen zu können. Dies setzt insbesondere Überschaubarkeit und Kontinuität in den politi-schen und administrativen Rahmenbedingungen und Steuerungsinstrumenten voraus. Häufige Änderungen in den familien- und auslän-derpolitischen Regelungen und eine allzu starke Betonung des Opportunitätsprinzips bei der Durchsetzung aufenthaltsrechtlicher Bestim-mungen führen nicht nur zu einer starken Ver-unsicherung von Familien ausländischer Her-kunft, sie behindern auch die Eigeninitiative dieser Familien und verhindern langfristige Investitionen in das Humanvermögen nachfol-gender Generationen. Aus familienpolitischer Sicht ist deshalb eine einseitige Orientierung der Migrationspolitik an den Erfordernissen und Eigengesetzlichkeiten des Arbeitsmarktes kontraproduktiv.

3. Familien ausländischer Herkunft tragen erheb-

lich zum Aufbau und zur Pflege von Human-vermögen und damit zu den Zukunftsinvestiti-onen der Gesellschaft bei. Sie müssen hierzu im gleichen Maße Zugang zu den vorhandenen ge-sellschaftlichen Ressourcen haben. Benachteili-gungen, welche Familien ausländischer Her-kunft erfahren, prägen die nachfolgenden Gene-rationen und beeinträchtigen ihre Bereitschaft, sich für die Aufnahmegesellschaft zu engagie-ren. Bei allen inzwischen erzielten Verbesse-rungen besteht für Familien ausländischer Her-kunft weiterhin ein großer Bedarf, Chancen-gleichheit im Bereich der Bildung, der Erwerbs-tätigkeit, der sozialen und politischen Partizipa-tion und auf dem Wohnungsmarkt herzustellen. Im Falle problematischer oder misslungener So-zialisationsprozesse, die ihre Ursachen im Auf-enthalt in Deutschland haben, sollen Familien ausländischer Herkunft in gleicher Weise An-spruch auf die Beratung und Intervention durch die dafür zuständigen Institutionen haben wie deutsche Familien; Abschiebung (in ein den be-troffenen Jugendlichen häufig kaum bekanntes Herkunftsland ihrer Eltern) ist kein geeignetes Mittel, der Kinder- und Jugendkriminalität aus Familien ausländischer Herkunft zu begegnen, vielmehr sollten die in Deutschland entstande-nen Probleme auch in Deutschland gelöst werden.

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4. Die Heterogenität von Familien ausländischerHerkunft nach Aufenthaltsstatus, Herkunfts-kultur, familiären Lebensformen, Art der Mi-grationserfahrungen und nationaler Zusammen-setzung hat in der jüngsten Vergangenheit starkzugenommen. Es wäre verfehlt, wenn eine Fa-milien- und Migrationspolitik auf diese Situati-on mit geschlossenen Konzepten reagierenwürde, die z. B. einseitig dem Ziel der Assimi-lation der Familien ausländischer Herkunft ver-pflichtet wäre. Vielmehr ist zu berücksichtigen,dass die familiären Entscheidungen neben derOption des dauerhaften Verbleibs in Deutsch-land oft auch weiterhin eine Rückkehr ins Her-kunftsland oder ein Pendeln zwischen den Län-dern einschließen – insbesondere, wenn es sichum Familien aus den Mitgliedsstaaten der Eu-ropäischen Union oder um binationale Familienhandelt. Eine solche andauernde Mobilität stelltbesonders hohe Anforderungen an die Kompe-tenzen der Familien und erfordert besondereAnstrengungen im Hinblick auf die Ausbil-dungsanforderungen für die Kinder und Ju-gendlichen aus solchen Familien.

5. Familien ausländischer Herkunft haben in be-sonderer Weise unter der strukturellen Rück-sichtslosigkeit moderner Gesellschaften gegen-über der Familie zu leiden. Defizite der Famili-enpolitik im Allgemeinen treffen Familienausländischer Herkunft besonders hart; werdendagegen die Integrationsmaßnahmen der Auf-nahmegesellschaft intensiviert, ist es realistischund legitim zugleich zu erwarten, dass auch dieFamilien ausländischer Herkunft ihrerseits ihreIntegrationsbemühungen intensivieren. Zu denbesonderen Belastungen dieser Familien gehörtes, dass ihre Alltagsorganisation stets auchdurch Veränderungen in den ausländerpoliti-schen Rahmenbedingungen gefährdet und bela-stet wird. Dies gilt insbesondere dann, wenn diegesamte ausländer- und aufenthaltsrechtlicheDiskussion des Aufnahmelandes ausschließlichdefensiv auf die Abwehr (vermeintlicher odertatsächlicher) „neuer“ Zuwanderungen ausge-richtet ist. Permanente Diskussionen über wei-tere rechtliche und soziale Einschränkungen,die erklärtermaßen den alleinigen Zweck ver-folgen, „Zuwanderungsanreize“ zu mindern,haben zwar möglicherweise auch eine entspre-chende Wirkung auf potenzielle Migranten. Si-cher ist aber, dass sie für die bereits in der Bun-desrepublik lebenden Familien ausländischerHerkunft eine starke Belastung darstellen. Sol-che Diskussionen beeinflussen die Eingliede-rungsmöglichkeiten von Familien ausländischerHerkunft und ihre Bereitschaft zu längerfristi-gen Zukunftsinvestitionen in die Aufnahmege-sellschaft negativ. Dieser unerwünschte Effektwird so lange anhalten, wie er nicht durch klare

Handlungsperspektiven für die in der Bundes-republik lebenden Familien ausländischer Her-kunft kompensiert wird.

6. Die Solidarpotenziale in Familien ausländischerHerkunft stellen am wirksamsten sicher, dasskeine Marginalisierung der ausländischen Kin-der und Jugendlichen erfolgt. Eine familienori-entierte Ausländerpolitik muss insbesondere si-cherstellen, dass der Ausgang des Eingliede-rungsprozesses der zweiten Migrantengenerati-on nicht „Marginalisierung“ ist, bei der jeglichesoziale Bindungen und eine kulturelle Identitätfehlen. Jugendkriminalität, Drogenmissbrauch,Verwahrlosung und psychische Erkrankungensind erwartbare Konsequenzen einer solchenEntwicklung. Besondere Risiken für eine solcheEntwicklung ergäben sich daraus, wenn in einerAufnahmegesellschaft zwar (zumeist unterdem Namen „Ausländerintegration“) „Assimi-lation“ als Ablösung von der Herkunftskulturpropagiert, gefordert und betrieben wird, aberGelegenheiten für die Übernahme von sozialenPositionen in der Aufnahmegesellschaft (insbe-sondere: im Beschäftigungssystem) nicht be-reitstehen und soziale Distanzierung den Le-bensalltag bestimmt. Gerade vor diesem Hin-tergrund ist „Segregation“ als Form ethnischerAbschließung, die auch Verdichtung der sozia-len Beziehungen bedeutet, eine dann verständ-liche Reaktion des Selbstschutzes vor Margina-lisierung; Ziel der Bemühungen sollte jedochsein, gleiche Chancen für die Partizipation ander Aufnahmegesellschaft zu ermöglichen, oh-ne dass dies zwangsläufig mit einer Aufgabeder Herkunftskultur und mit einem Verlust so-zialer Bindungen zu Mitgliedern der Herkunfts-gesellschaft verbunden ist.

7. Die Entwicklung der Wanderungsbewegungennach Deutschland in den letzten Jahrzehnten hatzu einer erheblichen Veränderung in den Ge-schlechterproportionen der Bevölkerung aus-ländischer Herkunft geführt. Bestimmten zuBeginn der Arbeitsmigration vornehmlich jungeausländische Männer das Bild, so hat durchFamiliennachzug, durch Heiratsmigration,durch Geburten in Familien ausländischer Her-kunft und durch den Zuzug von Aussiedlerfa-milien der Anteil von Mädchen und Frauenunter der Bevölkerung ausländischer Herkunfterheblich zugenommen. Die Zunahme desweiblichen Anteils in der Migrantenbevölke-rung stellt die Familienpolitik vor neue Aufga-ben. Insbesondere sind im Bereich der Präven-tion angemessene Formen der Beratung zu ent-wickeln, die auf die besonderen Probleme undkulturellen Verschiedenheiten der Frauen aus-ländischer Herkunft in Bezug auf Geschlech-terverhältnisse und Sexualität, auf Mutterschaft

Drucksache 14/4357 – 216 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

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und Ehe eingehen. Ebenso sind im Bereich derIntervention wirksame Formen der Begegnungvon Frauenhandel und häuslicher Gewalt zu er-proben.

8. Der gestiegenen Komplexität der Wohnbevöl-kerung Deutschlands durch den Zuzug von Fa-milien ausländischer Herkunft ist durch eineangemessene und kontinuierliche Sozialbe-richterstattung und durch eine gezielte For-schungsförderung Rechnung zu tragen. Sozial-berichterstattung über die objektiven Lebensbe-dingungen und die subjektiven Wahrnehmun-gen und Bewertungen in den verschiedenenBevölkerungsgruppen wird ein immer wichtige-res politisches Steuerungsinstrument. Sozialbe-richterstattung artikuliert damit auf systemati-sche, repräsentative Weise die Bedürfnisse undInteressen dieser Bevölkerungsgruppen, gibtihnen „Stimme“. Es kommt deshalb darauf an,dass nicht einzelne Bevölkerungsgruppen vonvornherein aus der Sozialberichterstattung aus-geschlossen werden, wie dies in Bezug auf dieausländische Wohnbevölkerung in Deutschlandbislang häufig der Fall gewesen ist. Bei zu-künftigen Bevölkerungsumfragen, die der So-zialberichterstattung dienen, ist sicherzustellen,dass sie ihre Aufgaben auch im Hinblick auf dieFamilien ausländischer Herkunft erfüllen kön-nen. Wissenschaftliche Experten sind dazu zubeauftragen, hierzu geeignete Lösungswege zuerarbeiten. Zu den Lösungswegen können so-wohl angemessene Erweiterungen der Stan-darddemographie (z. B. um Fragen nach derHerkunft und Mobilität der Befragten und ihrerFamilien), angemessene Formen der Erfassungder gesamten Wohnbevölkerung im Stichpro-bendesign und angemessene, komplementäreZusatzerhebungen gehören.

Aus der Komplexität der Lebensverhältnissevon Familien ausländischer Herkunft ergibtsich aber darüber hinaus spezifischer For-schungsbedarf; angemessen wäre hierbei, eineMindestforschungsförderung vorzusehen, dieder quantitativen Bedeutung der Familien aus-ländischer Herkunft entspricht. Für viele der indiesem Familienbericht aufgeworfenen Fragenliegen bislang nur sehr unzureichende wissen-schaftliche Befunde vor. Dies betrifft insbeson-dere zwei Sachverhalte, für die deshalb eindringlicher Forschungsbedarf besteht:

Da es sich bei Migration und Familienent-wicklung um sehr dynamische Prozesse mitvielfältigen Wechselwirkungen handelt, erfor-dert dies eine verlaufsorientierte Betrachtungs-weise; es liegt jedoch bislang in Deutschlandkeine einzige längsschnittliche Untersuchung

über die Entwicklung von Migrantenfamilienvor.

Da Heirats- und Familienmigration auch in Zu-kunft eine Schlüsselstellung in der Zuwande-rung nach Deutschland nehmen werden, sindgesicherte Befunde über internationale Hei-ratsmärkte und über die Partnerwahlprozessevon in Deutschland lebenden Ausländern derverschiedenen Migrationsgenerationen vongroßer Bedeutung sowohl für das Verständnisvon Migrationsprozessen als auch für das Ver-ständnis der Entwicklung von binationalen,bikulturellen und transnational-eigenethnischenFamilien.

Es ist erforderlich, dass zukünftige Forschungs-designs die inzwischen entstandene Breite desNationalitätenspektrums berücksichtigen. DieFokussierung auf eine Nationalität als exempla-risch führt zur verzerrten Wahrnehmung. Nurvergleichende Ansätze mit mehreren Nationa-litäten unter Einbeziehung der deutschen Be-völkerung vermögen die Besonderheiten derMigrationssituation und der unterschiedlichenMigrationsarrangements deutlich zu machen.

9. Der „Wirtschaftsstandort Deutschland“ machteine Bereitstellung notwendiger Infrastruktur-einrichtungen für Familien hochqualifizierterFachkräfte und für Familienunternehmen not-wendig, um dieses Land für solche Familien alsArbeits- und Betriebsort attraktiver zu machen.Die defensive Grundorientierung der Migrati-onspolitik in Deutschland seit der Beendigungder Anwerbung von Arbeitsmigranten zu Be-ginn der 70er-Jahre mit ihrer primären Aus-richtung auf die Abwehr weiterer Zuwanderun-gen hat verhindert, Migration über die den Inte-grationsprozess begleitenden administrativenLeistungen hinaus als Teil der Gesellschaftspo-litik gestaltbar zu halten. Dies hat u. a. auchverhindert, auf die sich abzeichnenden Globali-sierungsprozesse mit ihren Auswirkungen aufdie Allokation von Humankapital zu reagieren.Von familienpolitischer Bedeutung hierbeiist, dass der Erfolg des WirtschaftsstandortsDeutschland in Zukunft verstärkt davon abhän-gen wird, inwiefern es gelingt, hochqualifizierteFachkräfte und familiengeführte Kleinunter-nehmen nach Deutschland anwerben zu kön-nen. Diese werden ihre Migrationsentscheidun-gen jedoch zentral davon abhängig machen,inwiefern sie in Deutschland eine familiener-gänzende Infrastruktur und Bildungseinrichtun-gen vorfinden, die ihren Bedürfnissen entspre-chen. Dies erfordert (zumindest in den Bal-lungsgebieten mit hohen Anteilen an interna-tionalen Arbeitskräften) insbesondere eine In-ternationalisierung von Bildungseinrichtungen

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 217 – Drucksache 14/4357

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auf allen Stufen, eine höhere Vergleichbarkeitvon Bildungszertifikaten und ggf. ein wenigerständisch organisiertes System von Berufs-Zerti-fikaten.

10. Der gestiegenen kulturellen Komplexität vonfamiliären Lebensformen in Deutschland istdurch eine Ausbildung von qualifizierten Fach-kräften und durch Weiterbildungsangebote fürFachkräfte, die beruflichen Kontakt zu Familienausländischer Herkunft haben, zu begegnen. Anden Universitäten und Fachhochschulen sindverstärkt Studiengänge und interdisziplinäreForschungsinstitutionen zu etablieren, die in-terkulturelle Bildung, internationale Migration,ethnische Studien, geschlechtsspezifische Fra-gestellungen der Migration und Integration undinterkulturell vergleichende Familienwissen-schaften zum Gegenstand haben. Hierbei kön-nen Erfahrungen genutzt werden, die in vielenvergleichbaren Staaten innerhalb und außerhalbder Europäischen Union bereits vorliegen, fürdie jedoch in der Bundesrepublik Deutschlandein Nachholbedarf besteht. Diese Studiengängehaben die Aufgabe, Experten und qualifiziertesPersonal für spezialisierte Praxisfelder auszu-bilden und eine Nebenfachausbildung für Per-sonal mit beruflichem Kontakt zu Migranten-familien und begleitende Kontaktstudien in derMitarbeiterfortbildung anzubieten.

11. Es liegt im Interesse des Aufnahmelandes, dieBegabungs- und Leistungspotenziale der Mi-granten zu fördern. Alle Bildungs- und Ausbil-dungsmaßnahmen für Kinder und Jugendlicheaus Familien ausländischer Herkunft sind da-rauf zu verpflichten, einen unmittelbaren Bei-trag zur Entwicklung und zur Pflege des Hu-manvermögens zu leisten und diesen Jugendli-chen Wettbewerbsfähigkeit und Chancen-gleichheit auf dem Arbeitsmarkt zu ermögli-chen. Die Bemühungen, den Familien ausländi-scher Herkunft bei schulischen Übergängen undim Übergang vom Bildungs- ins Beschäfti-gungssystem Beratung und Förderung zukom-men zu lassen, müssen verstärkt werden, dennder Bildungserfolg der Kinder ist von der Ein-beziehung der Eltern ins vorschulische undschulische Geschehen abhängig. Um der Ent-fremdung zwischen Bildungssystem und Fami-lie entgegenzutreten, müssen Prinzipien der in-terkulturellen Pädagogik konsequent umgesetztwerden.

Die Beherrschung der deutschen Sprache ist fürden schulischen und beruflichen Erfolg dernachfolgenden Migrantengenerationen inDeutschland eine der wichtigsten Vorausset-zungen. Angesichts der Tatsache, dass die deut-sche Gesellschaft unumkehrbar in einen Globa-lisierungsprozess eingebunden ist, und ange-

sichts der notwendigen grenzüberschreitendenMobilität soll die Förderung der Deutschkennt-nisse jedoch nicht um den Preis der Vernach-lässigung der Herkunftssprache erfolgen. Viel-mehr muss die Bilingualität und Bikulturalitätder Familien ausländischer Herkunft als eine inallen allgemeinbildenden und berufsbildendenStufen zu erschließende Ressource auch dannbetrachtet werden, wenn sie nicht im Zusam-menhang mit möglichen Rückwanderungsplä-nen der Familien steht.

Das Kindes- und Jugendalter sind besonderssensible Phasen, in denen Lebensereignisse wieinternationale Migration, Flucht oder Vertrei-bung besonders nachhaltigen Einfluss auf denweiteren Lebensverlauf nehmen. Unterbrechun-gen in der Ausbildung von Kindern und Ju-gendlichen sind unter allen Umständen zu ver-meiden. Auch im Interesse des Aufnahmelan-des sollten Kinder und Jugendliche von Asyl-bewerbern von Anbeginn an in die allgemeineSchulpflicht einbezogen werden. Es solltenWege gefunden werden, auch Kindern ohne le-galen Aufenthaltsstatus in Deutschland einenSchulbesuch zu ermöglichen.

12. Die Handlungsbedingungen für Familien aus-ländischer Herkunft sind so zu gestalten, dasssie ihren familiären Solidarverpflichtungennachkommen können. Hierzu gehört insbeson-dere auch die Sorge und die Pflege von Famili-en- und Verwandtschaftsmitgliedern in derHerkunftsgesellschaft und der Erhalt lebenslan-ger Mobilitätsoptionen. Anpassungsleistungenunter Migrationsbedingungen, die Übernahmeneuer Rollen und die fortlaufende Gestaltungdes Generationenverhältnisses sind von derFamilie als Solidargemeinschaft abhängig. Fa-milien ausländischer Herkunft entfalten dieseSolidarpotenziale selbst dann zu außerordent-lich großer Wirksamkeit, wenn keine ethni-schen Kolonien unterstützend verfügbar sind.Sie unterhalten enge verwandtschaftliche Be-ziehungen auch dann, wenn hierzu die Über-windung größerer räumlicher Entfernungennotwendig sind.

Immer mehr Angehörige der ersten Migranten-generation kommen ins Rentenalter bzw. sindin einem Alter, in denen sie selbst Eltern zupflegen und zu versorgen haben. Familien aus-ländischer Herkunft müssen bei ihrer ausge-prägten Bereitschaft, Pflegeleistungen im Fallevon Krankheit und Alter ihrer Familienangehö-rigen zu übernehmen, gefördert und durch am-bulante Dienste unterstützt werden. Vernetzun-gen zwischen den Institutionen der gesundheit-lichen Versorgung, der Altenhilfe und der Mi-grantenberatung und -sozialarbeit erhöhen die

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Erreichbarkeit der vorhandenen Hilfen und ihreInanspruchnahme. Um Fehlversorgung und Ko-sten für die Betroffenen und die Versorgungs-systeme zu vermeiden, ist die Vermittlung in-terkultureller Kompetenzen in der Ausbildunghelfender und versorgender Berufe unerlässlich.

13. Die sozialen Dienste sind so zu gestalten, dasssie einen wirksamen Beitrag zur Vermittlungzwischen den Familien ausländischer Herkunftund der deutschen Gesellschaft und zur sozialenPartizipation dieser Familien leisten können.Selbsthilfepotenziale und ehrenamtliches Enga-gement, so wie sie in vielen Selbstorganisatio-nen von Migranten vorhanden sind, müssen an-erkannt und durch Vernetzung mit den institu-tionellen Diensten gefördert werden. Die aufder kommunalen Ebene in zunehmendem Um-fange entstandenen Institutionen, die Bera-tungsaufgaben im Zusammenhang mit Zuwan-derung und Eingliederung übernommen haben,sind besser zu koordinieren. Hierbei handelt essich zumeist um Einzelberatungen, die durchFamilienberatung zu ergänzen sind, die sich mitden besonderen Bedürfnissen und Konfliktpo-tenzialen in Familien ausländischer Herkunftbeschäftigen und für diese Aufgaben besondersausgebildet und vorbereitet werden. Familienausländischer Herkunft brauchen spezifischeFormen der Förderung und Beratung, auch inder jeweiligen Muttersprache. Regeldienste derWohlfahrtsorganisationen und der Kommunenmüssen sich den Familien ausländischer Her-kunft öffnen. Hierzu kann beitragen, dass dieInstitutionen der Migrantenbetreuung und deröffentliche Dienst verstärkt qualifizierte Fach-kräfte der zweiten Migrantengeneration ein-stellen. Angebote der Familienbildung, wie sieim Kinder- und Jugendhilfegesetz vorgesehensind, sind im Hinblick auf die besonderen Be-dürfnisse der Familien ausländischer Herkunftweiterzuentwickeln. Im Ausland haben sichinsbesondere gemeinsame Mutter-Kind-Pro-gramme für Familien ausländischer Herkunftmit Kindern im Vorschulalter als besonderswirksame Form der Eingliederung bewährt. Diebereits in Modellvorhaben in Deutschlanderprobten Umsetzungen sind weiterzuent-wickeln.

14. Möglichkeiten der Förderung der Integrationund des Leistungs- und Begabtenpotenzials derFamilien ausländischer Herkunft sowie des Ab-baus sozialer Spannungen zwischen der ansäs-sigen deutschen und ausländischen Wohnbe-völkerung und Zuwanderern unterschiedlicherNationalitätengruppen ergeben sich auf demGebiet der Ansiedlungs- und Wohnversor-gungspolitik für die unterschiedlichen Zuwan-derungsgruppen. Im Rahmen der Migrationsge-

schichten der Zuwanderer geht es um drei un-terschiedliche Felder einer notwendigen ver-stärkten Familienorientierung in deren Wohn-versorgung:

– um eine verstärkte Familienorientierung inden Aufnahmelagern und Sammelunter-künften,

– um den sozialen Wohnungsbau, die Groß-siedlungen mit hohen Zuwanderungen vonAusländern und den Zugang zu den Sozial-wohnungen sowie

– um den Abbau der Diskriminierung derFamilien ausländischer Herkunft auf demfreien Wohnungsmarkt.

Es geht um den Abbau „überforderter Nachbar-schaften“ und der Vermeidung ihrer Entste-hung.

Familienpolitik als Gesellschaftspolitik ver-standen könnte sich als Projektförderer undModerator zwischen den politischen Akteurenin den Kommunen sowie auf Landes- und Bun-desebene und der Wohnungswirtschaft mit ih-ren privatwirtschaftlichen Interessen und so-zialen Aufgaben verwenden. Sie könnte wohn-ökologische und familienorientierte wissen-schaftliche Forschungen anregen, die – ver-gleichbar einem Bericht „Wohnen im Alter“ –„Wohnen in multiethnischen Umwelten“ unter-suchen und eine verstärkte öffentliche Diskus-sion über Formen des Zusammenlebens in mul-tiethnischen Wohnformen und Siedlungen an-regen. Dabei könnten jene Projekte und ihreBesonderheiten herausgestellt werden, die füralle Gruppierungen in unterschiedlichen Kon-texten als gelungen und damit nachahmenswertanzusehen sind.

15. Gemeinsame Wanderung und die personalenRessourcen von Frauen und Müttern sind füreine positive Gestaltung des familiären Migra-tionsprojektes wichtige Grundvoraussetzungen.Rechtsbestimmungen sind daraufhin zu über-prüfen, ob sie zu einer Ungleichheit zwischenden Ehepartnern führen; dies ist z. B. dann derFall, wenn im Bereich der Aussiedlereingliede-rung innerhalb einer Familie unterschiedlicheAnsprüche auf Eingliederungshilfen (z. B.Sprachkurse) bestehen, weil der eine Ehepart-ner die deutsche Staatsangehörigkeit sofort er-hält, der andere aber seinen Ausländerstatus er-hält. Ebenso ist sicherzustellen, dass für Famili-en ausländischer Herkunft, die sich in der Phaseder ehelichen Anpassung oder in der Familien-gründungsphase befinden, diese sensible Phase,die häufig entscheidend für die Ehezufrie-

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 219 – Drucksache 14/4357

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denheit und Familienentwicklung ist, nicht durch räumliche Trennung und administrative Erschwernisse belastet wird.

16. Die Formen der Heirats- und Familienmigration

sind für eine Stärkung des Humanvermögens und für eine sinnvolle Eingliederung in die deutsche Gesellschaft zu nutzen. Das ausdiffe-renzierte System von verschiedenen Formen der Verfestigung des Aufenthaltsstatus in Ver-bindung mit einem Ausbau der Zivil-gesellschaft sind dahingehend weiterzuent-wickeln, den Aufenthaltsstatus nicht länger primär an Abstammung und Aufenthaltszeiten zu binden, sondern an erbrachte Leistungen. So könnte z. B. eine Verfestigung des Auf-enthaltsstatus an Bildungszertifikate, an die Be-herrschung der deutschen Verkehrssprache, Kenntnis des demokratischen Rechtsstaats oder (im Falle von Heirats- und Familienmigration) an Kenntnisse des Erziehungs- und Bildungs-systems geknüpft werden.

17. Die Solidarpotenziale der Familien ausländi-scher Herkunft stellen am wirksamsten sicher, dass die besonderen Belastungen, die in Zu-sammenhang mit Bürgerkrieg und politischer Verfolgung entstehen, für die Familienmitglie-der gemildert werden und sie Kräfte entwickeln, diese Belastungen zu verarbeiten. Rechtsbe-stimmungen sind so zu gestalten, dass diese Solidarpotenziale sich optimal entfalten können. So sollten z. B. die Familienmitglieder von Asylbewerbern möglichst schnell zusammen-geführt werden, wenn diese zu unterschied-lichen Zeitpunkten oder auf unterschiedlichem Wege in der Bundesrepublik eingetroffen sind.

18. Ob als Arbeitsmigranten, als Heiratsmigranten,

als Familiennachzügler, als Asylbewerber oder Bürgerkriegsflüchtlinge zugewandert – allen Mitgliedern von Familien ausländischer Her-kunft ist die Migrationserfahrung gemeinsam. Fördermaßnahmen sollten sich deshalb mehr an diesen gemeinsamen familienpolitischen Belan-gen und nicht an Statuszuweisungen orientieren.

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