Deutschunterricht in der inklusiven - ciando

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Perspektiven und Beispiele Nadine Naugk · Alexandra Ritter Michael Ritter · Sascha Zielinski Deutschunterricht in der inklusiven Grundschule PÄDAGOGIK

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Perspektiven und Beispiele

Nadine Naugk · Alexandra RitterMichael Ritter · Sascha Zielinski

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Naugk/Ritter/Ritter/ZielinskiDeutschunterricht in der inklusiven Grundschule

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Nadine Naugk/Alexandra Ritter/Michael Ritter/Sascha Zielinski

Deutschunterricht in der inklusiven GrundschulePerspektiven und Beispiele

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Nadine Naugk (ehm. Rönicke) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Grundschul-didaktik Deutsch/Ästhetische Bildung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen: Mündliches Erzählen & Bildungs-sprache; Literarisches Lernen; Deutschunterricht in heterogenen Lerngruppen/Inklusive Deutsch-didaktik

Dr. Alexandra Ritter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Grundschuldidaktik Deutsch/Ästhetische Bildung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen: Bilderbuch – Rezeption & Didaktik; Lese-förderung & Kinder- und Jugendliteratur; Kreatives Schreiben & Literarisches Lernen; Deutschun-terricht in heterogenen Lerngruppen/Inklusive Deutschdidaktik

Dr. Michael Ritter ist Professor für Grundschuldidaktik Deutsch/Ästhetische Bildung an der Mar-tin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen: Bilderbuch – Rezeption & Didaktik; Kreatives Schreiben & Literarisches Lernen; Deutschunterricht in heterogenen Lerngruppen/Inklusive Deutschdidaktik

Sascha Zielinski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Grundschuldidaktik Deutsch/Ästhetische Bildung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seine Arbeits- und For-schungsschwerpunkte liegen in den Bereichen: Kreatives Schreiben in inner- und außerschulischen Kontexten; rekonstruktive Forschungsmethoden in der Fachdidaktik; Deutschunterricht in hetero-genen Lerngruppen/Inklusive Deutschdidaktik

Dieses Buch ist auch als Printausgabe erhältlich(ISBN 978-3-407-25744-4).

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen.

© 2016 Beltz Verlag · Weinheim und Baselwww.beltz.de

Lektorat: Heike GrasSatz und Herstellung: Michael MatlUmschlagabbildung: © John C. Ralston, getty imagesReihengestaltung: glas ag, Seeheim-JugenheimUmschlaggestaltung: Michael Matl

E-Book

ISBN 978-3-407-29475-3

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Inhalt

Vorwort  ...........................................................................................................................9

I. Grundsätzliche Gedanken zur Herausforderung Inklusiver Deutschunterricht

1 Ausgangspunkte, Zugänge und konzeptionelle Überlegungen ................141.1 »Mama, ich bin dumm!« – einige einleitende Überlegungen zu

einer schwierigen Diskussion .........................................................................141.2 Inklusion und inklusive Bildung – das deutsche Schulsystem im

Zeichen der UN-Behindertenrechtskonvention ............................................201.3 Inklusive Didaktik – Lernen in Vielfalt und Gemeinsamkeit .......................251.4 Der Heterogenitätsbegriff in der deutschdidaktischen Diskussion .............331.5 Deutschunterricht in der inklusiven Grundschule –

ein konzeptioneller Aufriss .............................................................................43

II. Inklusive Praxis – Beispiele und Perspektiven

2 Nicht zu schwer! Ein anderer Blick auf Differenzierung und Vereinfachung ..............................................................................................58

2.1 Beispiel: Kinder arbeiten an einem Gedicht ..................................................582.2 Ich-Botschaft und Weltaneignung – Lesarten zu Kindertexten ...................602.3 Literarisches Lernen – hoher Anspruch und reale Bedingungen .................642.4 Individuelle Herausforderungen – eine irritierende Entwicklungslogik .....662.5 Wenn das Ziel zum Ausgangspunkt wird –

Teilhabe an schriftkultureller Praxis ..............................................................692.6 Weiterführende Gedanken zur gezielten Förderung von Teilkompetenzen ...72

3 Und wo bleibt die Grammatik? Aufgaben und Lerngerüste für kreatives Sprachhandeln .............................................................................74

3.1 Differenzierung aus Sicht der Lehrenden ......................................................743.2 Kriterien für Aufgaben in einem inklusiven Unterricht ...............................763.3 Entdeckungen in den Kindertexten – das Prinzip des explorativen Lernens .833.4 Folgerungen für einen inklusiven Deutschunterricht ...................................89

4 Sprache bilden – Sprache fördern: explizit oder implizit? ........................914.1 Sprachkompetenz als Voraussetzung für Schulerfolg ...................................914.2 Möglichkeiten der Sprachförderung ..............................................................924.3 Eine irritierende Szene – mündliches Erzählen von Fantasiegeschichten ...93

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4.4 Sprachförderung durch (Märchen-)Erzählen ...............................................994.5 Mündliches Erzählen – Übergang in die Schriftlichkeit .............................1004.6 Fazit ...............................................................................................................104

5 Bild – Sprache – Schrift: Zugänge zur Medialität des Schreibens ...........1075.1 Beispiel: Schreiben zu einem Bilderbuch .....................................................1075.2 Die Ergebnisse der Kinder im Spannungsfeld von Wort und Bild .............1095.3 Schriftspracherwerb als Medienübergang ...................................................1165.4 Arrangements mit Bild und Sprache – Gerüst und Spielraum ..................1185.5 Medial vielfältiger Schriftgebrauch statt Komplexitätsreduktion ..............121

6 »S w na mualar« – eine Erweiterung des Textbegriffs ..............................1236.1 Beispiel: Schreibt Erik einen Text? ...............................................................1236.2 Was ist ein Text? Eine Standortbestimmung ...............................................1276.3 Ansätze zu einem erweiterten Textbegriff ...................................................1296.4 Ein neuer Blick auf Eriks Text ......................................................................1316.5 Heterogenitätssensible Konzepte der Schreibdidaktik in der Grundschule .1356.6 Texteverfassen als vielgestaltige Anforderung .............................................137

7 Literarästhetische Welten entdecken – Zugänge zu Texten eröffnen ......1397.1 Ausgangspunkt Gedicht: mit Texten Welten öffnen ...................................1397.2 Zum Stellenwert von literarischen Texten im inklusiven Unterricht .........1457.3 Zugänge finden – Erstbegegnung mit Texten ..............................................1477.4 Zugänge finden – weiterführende Arbeit mit Texten ..................................1507.5 Gemeinsame Lernsituationen – ein Fazit ....................................................1547.6 Ein abschließendes Beispiel ..........................................................................154

8 Überforderung oder Herausforderung? Zum Umgang mit anspruchsvollen Bilderbüchern .................................156

8.1 Lesarten von Bilderbüchern .........................................................................1568.2 Bilderbücher – mehr als Bild-Text-Erzählungen .........................................1618.3 Bilderbücher im inklusiven Deutschunterricht ..........................................1648.4 Bedenken bei der Buchauswahl ....................................................................1658.5 Komplexe (mehrsprachige) Bilderbücher und Inklusion? .........................1678.6 Vielfalt entdecken und erleben –

Konsequenzen für den inklusiven Unterricht .............................................169

9 Eigenartig und einzigartig – Vielfalt in der Kinderliteratur ...................1739.1 Vielfalt im Unterricht – Vielfalt als Gegenstand ..........................................1739.2 Beispiel: Darstellungen von Eigenart und Fremdheit im Bilderbuch ........1759.3 Andersartigkeit als Angebot zur Persönlichkeitsbildung –

ein pädagogischer Blick ................................................................................1769.4 Eigenart und Fremdheit als Gegenstände literarästhetischer Bildung .......1789.5 Entgrenzung als Zugang zu Fremdheit und Eigenart .................................179

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Inhalt 7

9.6 Kinderliterarische Beispiele zum Thema Vielfalt ........................................1809.7 Sich das Fremde zu eigen machen – ein Perspektivwechsel .......................1879.8 Kinderliteratur als fiktionaler Gestaltungsspielraum – ein Fazit ...............188

10 Helfen im inklusiven Deutschunterricht – Einblick in eine Unterrichtssituation ........................................................190

10.1 Hilfe geben und Hilfe empfangen ................................................................19010.2 Beispiel: Märchen als Basis für kreative Schreibprozesse ............................19210.3 Konkrete Hilfsangebote im Schreibprozess – ein Schülerbeispiel ..............19310.4 Verdichtung und Ausblick ............................................................................204

III. Zusammenführung der Perspektiven und Ausblick

11 Inklusive Deutschdidaktik – Paradigmenwechsel oder alter Wein in neuen Schläuchen? ...............................................................210

11.1 Versuch einer Standortbestimmung ............................................................21011.2 Heterogene Lerngruppen – nicht nur in der Schule ...................................21111.3 Unterricht zwischen Sozialisation und Lehrgangssystematik ....................21511.4 Ansprüche an eine inklusive Deutschdidaktik des sprachlichen Handelns ..21811.5 Herausforderung Kompetenzbegriff ...........................................................22411.6 Zum Abschluss ..............................................................................................230

Literaturverzeichnis  ..................................................................................................236

Verzeichnis wichtiger Begriffe  ................................................................................248

Transkriptionslegende  .............................................................................................250

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Vorwort

Nicht erst mit dem Aufkommen der Inklusionsdebatte nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention ist Vielfalt ein Thema für die allgemeine Schu-le geworden. Schon in ihren Anfängen am Beginn der Weimarer Republik war die Grundschule die Schulform, die von ihrer Grundidee her als eine Schule für alle Kin-der gedacht und konzipiert worden war. Besondere Schulen für Kinder mit speziellen Lern- und Unterstützungsbedürfnissen – Hilfsschulen, Sonderschulen, Förderschulen, Schulen mit speziellem Bildungsprofil – gab es jedoch auch schon damals, und so war der Universalitätsanspruch der Grundschule bislang immer ein eingeschränkter. Inso-fern ist der institutionelle Anspruch, auf Auslese und Separation jeder Art in der Schu-le zu verzichten, durchaus ein neuer. Konkretisierungsvorschläge für dieses Vorhaben und Antworten auf die damit verbundenen Fragen gibt es ebenfalls seit Langem, denn seit den 1970er-Jahren existieren in Deutschland Schulen, in denen die tradierten ins-titutionellen Grenzen zwischen Regel- und Förderschulsystem überwunden oder we-nigstens aufgeweicht werden und Kinder unterschiedlichster Herkunft und Bildungs-charakteristik gemeinsam lernen können. Aus den Modellprojekten der Integrativen Pädagogik entstanden eine breite Diskussion um das gemeinsame Lernen Behinderter und Nichtbehinderter und eine Vielzahl an Schulen, die integratives Lernen in die Tat umsetzten.

Inklusion geht darüber allerdings deutlich hinaus und berücksichtigt weitere Di-mensionen von Vielfalt, z. B. Migration, Geschlecht, sozialen Status, und wertschätzt die vielen individuellen Bedürfnisse, Zugänge, Umgangsweisen unterschiedlicher Kin-der beim gemeinsamen Lernen. Die Grundschule versucht bereits seit Langem, der Unterschiedlichkeit von Kindern gerecht zu werden. Damit ist in der schulpädagogi-schen Tradition eine wichtige Grundlage für den aktuellen Diskurs um die Umsetzung veränderter Bildungsansprüche angelegt.

Was einerseits bedeutet, dass gegenwärtig keineswegs das Rad neu zu erfinden ist, führt andererseits auch zu der überraschenden Erkenntnis, dass es in den schulpä-dagogischen und rehabilitationspädagogischen Disziplinen eine breite Diskussion und eine Vielzahl an programmatischen und konzeptionellen Überlegungen zum Umgang mit Heterogenität gibt. Diese Diskussionslinien verlaufen aber weitgehend abgekop-pelt von den Disziplinen, die für die fachunterrichtliche Konkretisierung dieses An-spruchs zuständig sind: die Fachdidaktiken. Zwar existiert eine Praxis des Unterrichts in heterogenen Lerngruppen, die sich pädagogisch fundiert und methodisch ausgefeilt präsentiert, die aber im Hinblick auf ihre fachwissenschaftliche und fachdidaktische Modellierung noch wenig Substanz aufweist.

Diese Leerstelle nimmt das vorliegende Buch zum Anlass. In den einzelnen Kapiteln soll der Blick auf die Praxis inklusiven Unterrichts gerichtet werden. Dabei steht kon-

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10 Vorwort

kret die Frage im Mittelpunkt, wie inklusiver Deutschunterricht in der Grundschule aus fachdidaktischer Sicht beschrieben bzw. konzipiert werden kann.

Den Ausgangspunkt im ersten Abschnitt bildet eine Einführung in den Diskurs um inklusive Bildung, die die Schnittfläche der inklusiven Pädagogik und der Deutschdidak-tik zu bestimmen sucht und bestehende konzeptionelle Überlegungen zusammenführt.

Im zweiten Abschnitt stehen in neun Kapiteln konkrete Unterrichtsszenarien und -gegenstände des sprachlichen und literarischen Lernens im Fokus, die anhand von Beispielen Perspektiven auf eine Praxis inklusiven Deutschunterrichts entwickeln. Hier geht es um die Klärung der Frage, inwiefern sich ein inklusiver Deutschunterricht von der gegenwärtigen Vorstellung von Deutschunterricht unterscheidet bzw. wo Ge-meinsamkeiten zu finden sind. Schnittflächen und Traditionslinien bestehender und neuer Konzepte werden dabei aufgenommen und unter inklusionsdidaktischen Ge-sichtspunkten diskutiert. Fragen und Impulse für die Weiterarbeit am Ende jedes Ka-pitels sollen zum Austausch über die Vorschläge und zur eigenen Erprobung anregen.

Im dritten Abschnitt werden diese exemplarischen Überlegungen noch auf einige grundsätzliche Fragen hin zusammengefasst.

Das vorliegende Buch versteht sich als Anregungs- und Diskussionsangebot. Dabei folgt es der Prämisse, dass inklusives Lernen zwar nicht einen völlig neuen Unterricht, aber neben einem veränderten pädagogischen Selbstverständnis auch veränderte fach-didaktische Perspektiven benötigt. Ausgangspunkt ist dabei ein handlungsorientiertes Konzept literarästhetischen Lernens und weniger ein systematischer Lehrgang zur in-klusiven Deutschdidaktik. Insofern bietet das Buch auch keine konkrete Handlungs-anleitung für die unterrichtliche Rahmung inklusiven Lernens im Fach Deutsch. Wohl aber zeigt es neben den theoretischen Überlegungen auch eine Vielzahl konkreter und praxisbewährter Ideen für das Lernen in Vielfalt und Gemeinsamkeit auf, die angesichts der fachdidaktischen Überlegungen zur eigenen Adaption und Weiterentwicklung he-rausfordern sollen.

Die in diesem Buch dargelegten Überlegungen basieren auf verschiedenen theo-retischen und empirischen Studien, die zum Teil in Kooperation mit Kolleg/innen durchgeführt wurden. In besonderer Weise zu nennen sind Katja Scheidt (Universität Bremen) und Prof. Dr. Johannes Hennies (PH Heidelberg), mit denen gemeinsam Mi-chael Ritter 2012 über dieses Thema zu diskutieren begann. Mit Johannes Hennies ent-standen einige Arbeiten, die hier aufgenommen und weitergeführt wurden. Ebenfalls genannt werden muss an dieser Stelle Prof. Dr. Eva Maria Kohl, deren kreativ-ästheti-sches Konzept der Schreibspielräume und die darin angelegte ästhetische Verbindung sprachlichen und literarischen Lernens uns Autor/innen maßgeblich geprägt hat. Ihre Arbeit wird hier ebenfalls aufgenommen und unter neuem Blickwinkel weitergeführt.

Ihnen und allen weiteren Diskussionspartner/innen sei daher an dieser Stelle herz-lich gedankt.

Nadine Naugk, Alexandra Ritter, Michael Ritter und Sascha ZielinskiHalle/Saale, Februar 2016

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Vorwort 11

Erläuterung der Icons

Zur besseren Übersicht führen folgende Icons durch das Buch:

wichtige Informationen/Begriffserläuterungen

Beispiel

Überblick über die Inhalte des Kapitels

Fragen und Impulse zur Weiterarbeit

Literaturtipps

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I.

Grundsätzliche Gedanken zur Herausforderung Inklusiver Deutschunterricht

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1 Ausgangspunkte, Zugänge und konzeptionelle Überlegungen

1.1 »Mama, ich bin dumm!« – einige einleitende Überlegungen zu einer schwierigen Diskussion

Kaum ein Thema erscheint aktuell derart schillernd und gleichsam umstritten wie die gesellschaftsöffentliche Diskussion um Inklusion und insbesondere die inklusive Bildung an Deutschlands sogenannten Regelschulen. Die seit Jahrzehnten geführte Diskussion um Integration und gemeinsamen Unterricht durch die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention hat zwar zu einem verbindlichen bildungspoliti-schen und administrativen Auftrag zur Realisierung eines zunehmend barrierefreien Zugangs zu allen Formen von Bildung geführt. Doch tobt ein heftiger Kampf um die Deutungshoheit über Begriffe und Entwicklungen in diesem Zusammenhang. Sowohl in der pädagogischen Fachwelt als auch in den öffentlichen Organen der Gesellschaft finden sich in kurzen Abständen Stellungnahmen, die über die Bedeutung und Not-wendigkeit von Inklusion reflektieren und über Erfolg bzw. Misserfolg aktueller In-itiativen auf allen Ebenen der Schulentwicklung Auskunft zu geben scheinen. Eine einfache Abfrage bei den gängigen Internet-Suchmaschinen erbringt eine Vielzahl an Beiträgen zum Thema, die zum Teil in renommierten Presseorganen als Print- und Digitalressourcen zugänglich sind.

Einerseits ist die prominente Beachtung dieses lange übersehenen Themas natürlich zu begrüßen; verspricht eine große Aufmerksamkeit doch ein Bewusstsein für die Be-deutsamkeit entsprechender Schulreformen. Andererseits überraschen die Emotiona-lität, mit der die Diskussion geführt wird, und die massiven Tendenzen zur Polarisie-rung, die dem Thema mittlerweile charakteristisch eingeschrieben sind. Hochgradig moralisch aufgeladen und gerade in der Presse oft mit einem scheinbar menschen-freundlichen Gestus vorgetragen werden Erfolgs- und Misserfolgsbeispiele für inklu-sive Beschulung vorgeführt; mal ist von der rettenden Inklusion die Rede, mal von der Gefährdung des Kindeswohles aufgrund pädagogischer Experimente.

Max: Ein ganz normaler Sonderfall?

Aus der Vielzahl der möglichen Beispiele soll an dieser Stelle ein recht beliebig ausge-wähltes an den Anfang dieser Ausführungen gestellt werden. Es geht um den achtjäh-rigen Max, einen »lernbehinderten Jungen mit Seh- und Hörstörungen« (Friedmann/Greiner 2014, o. S.), dessen Mutter nach einem scheinbar gescheiterten Integrations-

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versuch dessen Überweisung an eine Förderschule durchsetzte und sich seitdem für deren Erhaltung im Land NRW engagiert. Im SPIEGEL vom 02.06.2014 ist zu lesen, dass Max’ Mutter nach einem Jahr des systematischen Scheiterns ihres Sohnes an den Anforderungen der Regelschule ihren Sohn auf eine Förderschule gab. Anlass war die Besprechung eines Diktates, in dem Max statt der diktierten Überschrift <Die kleine Hexe> lediglich die Buchstaben K, L und H aufgeschrieben hatte. Die Lehrerin er-kannte darin die beginnende Nutzung von Rechtschreibstrategien, die Mutter ledig-lich die Überforderung des Sohnes.

»Aus meinem fröhlichen war ein trauriges Kind geworden«, sagt die Krankenschwester. Max habe häufig geweint, beim Aufstehen, auf dem Weg in die Schule, beim Abholen, bei den Hausaufgaben. Seine tägliche Klage: »Mama, ich bin dumm.«

Seit Max auf eine Förderschule gehe, gehe es ihm gut, so resümiert der SPIEGEL im Namen der Mutter (Friedmann/Greiner 2014, o. S.).

Vieles scheint an diesem Beitrag nachvollziehbar und die Reaktion einer besorgten Mutter verständlich. Die Entwicklung eines derart pessimistischen Selbstkonzepts, das in der titelgebenden Selbstaussage zum Ausdruck kommt: »Mama, ich bin dumm!«, muss im konkreten Fall alarmieren und prinzipiell ein Nachdenken über die Gründe einer solchen Entwicklung hervorrufen. Doch: Worum geht es hier eigentlich? Woran scheitern Schule und Max beim Versuch des gemeinsamen Lernens?

Ins Feld geführt wird ein anderes sensibles Thema regelmäßiger gesellschaftsöffentli-cher Diskussionen über Schule und Bildung: die Rechtschreibung. Der zum Zeitpunkt des erwähnten Diktats vermutlich siebenjährige Junge (Ende erstes Schulbesuchsjahr) schrieb <K L H> statt der geforderten Überschrift <Die kleine Hexe>. Zugegeben, das ist sehr wenig nach einem Jahr des Lernens. Jedoch ist der Einschätzung der Lehrerin zuzustimmen. Die Verschriftung von drei der elf notwendigen Grapheme erfolgt absolut regelhaft und im Sinne einer sich ausbildenden alphabetischen Rechtschreibstrategie. Diese ist zwar erst in Ansätzen erkennbar, die Lautdiskriminierung und die Phonem-Gra-phem-Korrespondenz bedürfen einer weiteren Routinierung und Ausdifferenzierung, die verschrifteten Elemente entsprechen aber einer typischen Skelettschreibung, wie sie erfolgreiche Rechtschreiblerner im Laufe ihrer Entwicklung zur normgerecht entwickel-ten Orthografie in der Regel zeigen. Max fokussiert die bedeutungsstarken Wörter und verschriftet deren prägnante und leicht wahrnehmbare Elemente. Seine Rechtschreib-entwicklung ist auf jeden Fall verzögert, aber keinesfalls entwicklungslogisch abwegig. Für ihn trifft zu, was Hans Brügelmann pointiert formuliert: »Schwache Rechtschreiber sind zum falschen Zeitpunkt normal« (Brügelmann 2014, S. 15).

Mit dem Wechsel an die Förderschule wird für Max eine Verbesserung seiner Lernsi-tuation konstatiert. Dieser pauschalen Behauptung wird im zitierten Artikel allerdings kein konkretes Beispiel beigefügt. Auskunft über Lernerfolge des zweiten Schuljahres an der Förderschule bietet der Beitrag nicht.

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Die finden sich allerdings in einem anderen Text über Max, der am 12.07.2014 in der FAZ erschien (Burger 2014, o. S.). Hier wird als Lernerfolg festgestellt, dass Max nach einem Jahr auf der Förderschule nun bereits 14 Buchstaben sicher beherrscht. Ob er diese lediglich reproduzieren oder aber sie über eine sichere Phonem-Graphem-Zu-ordnung zum Verschriften von Sprache verwenden kann, wird nicht gesagt. Da zudem die drei Buchstaben K, L und H nicht die einzigen waren, die Max nach einem Jahr auf der Grundschule gelernt hatte, ist die Erfolgsmeldung in diesem Beitrag mehr als un-befriedigend (Burger 2014, o. S.). Inwiefern das wenige, was Max in der Förderschule gelernt hat, seiner weiteren Rechtschreibentwicklung zuträglich sein wird, bleibt un-klar. Es besteht aber genügend Grund zu der Annahme, dass seine Lernentwicklung im Bereich Rechtschreibung an der Förderschule nicht schneller vonstattengeht bzw. tendenziell sogar stagniert.

Ambivalenzen erfolgreichen Lernens

Diese Einschätzung deckt sich mit Befunden zur Effektivität des separierenden För-derschulsystems. Sehr pointiert fasst Klaus Klemm zusammen, dass »alle Studien zum Lern erfolg zeigen, dass die Mehrheit der behinderten Kinder in der Regelschule größere Fortschritte macht als in der Förderschule – und öfter einen Schulabschluss erreicht, der berufliche Perspektiven eröffnet« (Berg/Klemm 2014, o. S.). Auch wenn Aussagen in dieser Absolutheit sicherlich mit Vorsicht zu betrachten sind, bestätigt sich diese Ein-schätzung in den Befunden der letzten Zeit, z. B. in zwei Studien des Instituts für Qua-litätsentwicklung im Bildungswesen (IQB an der FU Berlin, Kocaj et al. 2014) und der Universität Bielefeld (BieLieF, Wild et al. 2015). Übereinstimmend kommen sie zu dem Ergebnis, dass die integrativ beschulten Kinder mit diagnostizierten sonderpädagogi-schen Förderbedarfen »in allen untersuchten Bereichen höhere Leistungen auf[weisen] als vergleichbare Schülerinnen und Schüler in Förderschulen« (Kocaj et al. 2014, S. 168).

Vor diesem Hintergrund scheint der dargestellte Fall von Max sowohl im Einzelfall als auch in verallgemeinerbarer Perspektive kein Beispiel für das Scheitern des Recht-schreibunterrichts zu sein, der hier als Lerngegenstand ins Feld geführt wird. Wäre Max also besser auf der Regelschule geblieben?

Ein gravierendes Problem der Lernentwicklung von Max macht seine Selbstaussage »Mama, ich bin dumm!« deutlich. Denn sie führt vor Augen, was Kritiker der Inklusi-on immer wieder ansprechen. Hinter aller Rhetorik vom individuellen Lernen in Ge-meinsamkeit und vom produktiven Verhältnis von Vielfalt und Eigenart bleibt Schule doch in vielen Fällen nach wie vor eine Institution, die Leistung nicht individuell an den Möglichkeiten ihrer Schüler/innen bemisst, sondern als soziale Bezugsnorm das Klassenmittel heranzieht. An diesem gemessen sind Max’ Leistungen natürlich proble-matisch, und sein Selbstbild entwickelt sich entlang seiner Wahrnehmung dieser Maß-stäbe defizitär. So verinnerlicht Max frühzeitig das Selbstkonzept eines Schulversagers. Und dagegen unternimmt Max’ Mutter zu Recht die dargestellten Maßnahmen. Der

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Wechsel an die Förderschule zeigt sich demnach – anders als in den Pressebeiträgen intendiert – nicht vordergründig als Reaktion auf die schriftsprachliche Entwicklung von Max. Die Leistung der Förderschule besteht in der Entwicklung eines positiven Selbstkonzeptes, das wiederum die Grundlage für das weitere Lernen und die Bereit-schaft zur Auseinandersetzung mit den nächsten Lernaufgaben ist.

Dieser positiven Perspektive auf Max’ Persönlichkeitsentwicklung steht jedoch ent-gegen, dass er, wie oben dargestellt, in seiner konkreten Kompetenzentwicklung von dem Wechsel an eine Förderschule keine Vorteile zu erwarten hat und seine späteren beruflichen Entfaltungschancen dadurch maßgeblich verringert werden; so zeigt z. B. Fabian van Essen in seiner Studie Soziale Ungleichheit, Bildung und Habitus. Möglich-keitsräume ehemaliger Förderschüler, wie wirkmächtig das gesellschaftliche Stigma des Besuchs einer Förderschule insbesondere im Förderbereich Lernen funktioniert und die berufliche Entwicklung nachhaltig behindert (van Essen 2013). Laut Brigitte Schu-mann (2007) ist die Förderschule zwar ein Schonraum, weil hier Kinder nicht direkten Leistungsvergleichen ausgesetzt sind. Das stellt sich allerdings als ein Falle heraus, da der Preis dafür u. a. in der Diskriminierung der Kinder liegt (Schumann 2007, S. 201). Handelt es sich in diesem Fall also um die von Schumann beschriebene »Schonraum-falle«, in die auch Max nun gegangen ist?

Zu fragen ist in diesem Kontext also, ob es nicht auch an der Grundschule für Max die Möglichkeit gegeben hätte, für seine Leistungen eine angemessene Würdigung zu erfahren. Eine Würdigung, sodass er mit acht Jahren über seine Leistungen for-muliert hätte: »Mama, ich lerne hier, es dauert nur«. Stattdessen fühlte er sich in der Grundschule offensichtlich im Vergleich mit seinen Mitschüler/innen deklassiert, als »Problemkind« vorgeführt. Das wirft weitere Fragen auf: Warum wurde in seiner Grundschulklasse ein offensichtlich für alle Kinder verbindliches Diktat geschrieben, das Max’ Lernentwicklung überhaupt nicht entsprach? Wie könnte stattdessen die Perspektive der Schule auf die Besonderheiten jedes einzelnen Lernenden so verändert werden, dass der Erfolg des persönlichen Lernens nicht einzig und allein am Maßstab der anderen Kinder gemessen werden muss? Denn dass das gemeinsame Lernen von Kindern ganz unterschiedlicher Lernvoraussetzungen, Erfahrungen, sozialer und ko-gnitiver Potenziale nicht automatisch durch die Aufhebung separierender Strukturen funktioniert, leuchtet nicht erst vor dem Hintergrund des dargestellten Falls ein.

Herausforderung: Inklusives Lernen

In Max’ Beispiel zeigt sich eine wesentliche Problematik der aktuellen Diskussion um Inklusion und inklusive Bildung. Politische, administrative, pädagogische und fach-didaktische Perspektiven überlagern sich in vielen Fällen und führen zu sehr verschie-denen Maßnahmen mit unterschiedlichen Konsequenzen. Was für ein Kind sinnvoll ist, ist nur in einem systemischen Gesamtbild zu beurteilen. Für die Schule wichtig ist aber die Frage, was Max’ Selbstkonzept mit seiner Rechtschreibentwicklung zu tun hat:

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• Welche Ziele kann er verfolgen, wenn normative Maßstäbe wie die Lehrplanvor-gaben und die Bildungsstandards für ihn keine realistischen Orientierungspunkte bieten?

• Wie kann der Unterricht seine Lernwege befördern und unterstützen, einen ange-messenen Anspruch an sein Lernen stellen und ihn zu bestmöglichen Leistungen befähigen, die wiederum zu Erfolgserlebnissen führen und Selbstwirksamkeitsemp-finden ermöglichen?

• Wie kann dieser individuelle Weg des Lernens eingebettet werden in eine Gruppe, in der nicht manche anders als die anderen sind, sondern in der alle gemeinsam verschieden lernen und wo Verschiedenheit kein Problem ist, sondern ein Persön-lichkeitsmerkmal sein darf?

• Wie muss sich der Blick der Lehrer/innen auf entsprechende Szenarien des Lernens verändern und welche fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Perspektiven sind notwendig, um die rege geführte pädagogische Diskussion um inklusive Bil-dung auch fachdidaktisch zu ergänzen?

• Und welche Rolle spielt spezifische Expertise – auch förderpädagogische – in diesem Kontext?

Gerade die letzte Frage macht noch einmal deutlich, wie heikel das Thema in der Dis-kussion ist. Die Bedeutung der Förderpädagog/innen für gelingende Förderung wird gerade bei der Forderung nach zusätzlichen Ressourcen stark betont, und die Erfolgs-wahrscheinlichkeit von Inklusion wird an deren Präsenz festgemacht bzw. die Verant-wortung für gelingende Förderung häufig den stundenweise anwesenden Förderpä-dagog/innen übertragen. Doch erwecken die oben zitierten Studienergebnisse fast den Eindruck, dass förderpädagogische Expertise kein Gelingenskriterium für die ideale Förderung aller Kinder im inklusiven Unterricht sein muss. Beide Schlussfolgerungen sind gleichermaßen fatal für die konzeptionelle Entwicklung inklusiver Unterrichts-formen. Denn so fragwürdig die separierende Struktur des ausdifferenzierten För-derschulwesens mittlerweile geworden ist, muss auch betont werden, dass diese Frag-würdigkeit ausschließlich die Struktur, nicht aber die damit verbundene spezifische Expertise betrifft. Während eine Stärkung förderpädagogischer Professionskompeten-zen für alle Regelschullehrer/innen sinnvoll erscheint, wird auch weiterhin spezifische Expertise in verschiedenen Förderbereichen wichtig sein. Dass dies nicht unbedingt genau die tradierten förderpädagogischen Schwerpunkte sein müssen, sondern dass auch andere Differenzlinien von Heterogenität wie (Hoch-)Begabung, soziale Lage oder Gender eine wichtige Rolle spielen sollten, muss dabei auch bedacht werden.

Förderung: Der Begriff meint zunächst einmal im etymologischen Sinne »helfend bewirken, dass sich jemand oder etwas entwickelt« (Bundschuh/Heimlich/Krawitz 1999, S. 82) und bezieht sich seit den Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen der Bundesrepublik Deutschland meist verengt auf sonderpädagogische Förderung (Speck 2005, S. 195).

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Inklusiver Deutschunterricht – ein Desiderat

Für die Aufgabe der Konzeptionalisierung von Deutschunterricht in der inklusiven Schule bedeutet es jedoch, dass der Unterricht in zweierlei Dimensionen gedacht wer-den muss.

• Einerseits geht es um die Schaffung eines prinzipiell heterogenitätssensiblen Rah-mens, der nicht eine eindimensionale Norm zum Maßstab der Beurteilung von Schülerleistungen macht. Vielmehr sollte versucht werden, vielfältigen Lernwegen und -geschwindigkeiten einen geeigneten Raum zu bieten, der durch Strukturen und Impulse die weitere Entwicklung anregt und eine bestmögliche Förderung aller zum Ziel hat. In diesem Kontext kann der defizitäre und problembehaftete Blick auf Vielfalt überwunden werden und einem Verständnis von Vielfalt als Bereicherung und Ressource Platz machen.

• Andererseits gilt es aber auch, mit Blick auf das einzelne Kind geeignete Förde-rungen zu ermöglichen, wenn spezifische Voraussetzungen oder Lern- und Un-terstützungsbedarfe eine solche Begleitung nahelegen bzw. diese für die optimale Weiterentwicklung nötig ist. Das beschränkt sich dann aber nicht auf einzelne, in aufwendigen und langwierigen Verfahren institutionell zu etikettierende Kinder. Individuelle Förderung in besonderen Lern- und Lebenslagen sollte flexibel einsetz-bar und kurzfristig wirksam sein. Während für Letzteres vielfältige Konzepte der Förderung, z. B. für Kinder mit nicht deutscher Muttersprache oder mit schwieri-gen sprachlichen Entwicklungsverläufen, vorliegen, ist die Schaffung eines hetero-genitätssensiblen Rahmens für den Deutschunterricht in heterogenen Lerngruppen noch weitgehend ein Desiderat.

Daher soll hier und in den einzelnen Abschnitten des vorliegenden Buches besonders das Schaffen eines heterogenitätssensiblen Rahmens für den Unterricht in den Blick genommen werden, der von Regelschul- und Förderpädagog/innen gleichermaßen und idealerweise gemeinsam ausgestaltet wird.

Intraindividuelle Heterogenität meint die Vielfalt an Persönlichkeitsmerkmalen, die in einer Person vereint sein können. Neben bestimmten physischen und psychischen Charakteristika und Interessen können Kinder auch fachspezifisch heterogene Merkmale haben: Begeisterte und sou-veräne Leser/innen können gleichzeitig Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung haben, passi-onierte Erzähler/innen hegen ggf. eine Abneigung gegen das Schreiben von Texten etc. Auch zeigen sich Merkmale situationsbezogen variabel und keineswegs unweigerlich stabil.

Interindividuelle Heterogenität bezieht sich eher auf die Unterschiedlichkeit von Individuen. Auch diese Vielfalt kann nicht eindimensional beschrieben werden (starker vs. schwacher Recht-schreiber), sondern muss die Vielfalt der in einer Persönlichkeit vereinten Merkmale (intraindivi-duelle Heterogenität) wenigstens als Hintergrundfolie im Blick behalten.

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Dabei wird davon ausgegangen, dass die Diskussion um intraindividuelle und inter-individuelle Heterogenität in Lerngruppen im Deutschunterricht in der fachdidakti-schen Diskussion bereits seit Jahren eine Rolle spielt, jedoch im Hinblick auf die in-klusionspädagogischen und -didaktischen Ansprüche weiterentwickelt werden muss. Zunächst ist zu klären, wie genau sich das spezifische Konzept der Inklusion/inklusi-ven Bildung von bislang maßgeblichen Orientierungen wie der Integrationsdebatte abgrenzt. Das Beispiel von Max hat auch deutlich gemacht, dass inklusiver Unterricht immer noch hauptsächlich in sonderpädagogischen Kategorien gedacht bzw. an typi-schen Integrationsbeispielen exemplifiziert wird.

1.2 Inklusion und inklusive Bildung – das deutsche Schul­system im Zeichen der UN­Behindertenrechtskonvention

Der Begriff Inklusion

Inklusion meint von der Wortbedeutung her »Einschluss«, das Adjektiv inklusive »eingeschlossen«. Der Begriff wird zurzeit derart häufig und in unterschiedlichen Be-deutungsnuancen in pädagogisch-didaktischen Kontexten verwendet, dass Andreas Hinz zu dem Ergebnis kommt, »dass inzwischen nahezu alles als Inklusion deklariert wird, was sich positiv und fortschrittlich darstellen möchte« (Hinz 2013, o. S.). Daher erscheint es sinnvoll, zu fragen, in welchen anderen Zusammenhängen von Inklusion die Rede ist, um sich dem Begriff grundlegend zu nähern. Am häufigsten begegnet uns der Begriff beim Durchblättern von Reiseprospekten, in denen immer öfter von »all inclusive« gesprochen wird. Meist wird dann in einem kurzen Text aufgeführt, was alles inklusive ist: Frühstück, Mittagessen, Abendessen, alkoholfreie Getränke. Die teuren Getränke, die Mixgetränke und Cocktails müssen meistens doch sepa-rat bezahlt werden. Umgekehrt ist nie davon die Rede, dass auch die Übernachtung inklusive ist. Es scheint also eine Dreiteilung in einem Urlaubsangebot vorzuliegen, das sich »all inclusive« nennt: das, was selbstverständlich inbegriffen ist und deshalb nicht erwähnt werden muss, die Leistungen, die man sonst bezahlen müsste, aber hier mit eingeschlossen sind, und die Leistungen, die trotz des umfassenden Versprechens etwas kosten.

Natürlich sind heterogene Lerngruppen keine Pauschalreisen, aber doch lässt sich anhand dieses Beispiels die aktuelle öffentliche Diskussion um Inklusion anschaulich illustrieren. Überträgt man dieses Inklusionsverständnis auf den pädagogischen Be-griff der Inklusion, so gibt es Gruppen von Kindern, die »Normalos«, die selbstver-ständlich da sind, von denen in der Debatte um Inklusion kaum berichtet wird. Dann gibt es die Schüler/innen, die neu in den Fokus rücken, die »inkludiert« werden sollen und bei solchen Diskussionen immer genannt werden. Meistens werden sie als »lern-behindert« oder »körperlich behindert« bezeichnet, manche schließen auch leich-

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te Formen von »geistiger Behinderung« mit ein. Schließlich gibt es noch die »nicht inkludierbaren« Kinder, für die es augenscheinlich weiterhin ein extra System geben muss. Sie werden oft als »schwerstbehindert« oder »schwerst mehrfachbehindert« be-zeichnet.

Betrachtet man nun Veröffentlichungen zu dem pädagogischen Begriff der Inklu-sion in den öffentlichen Medien wie auch zum Teil im wissenschaftlichen Diskurs, muss Verwirrung entstehen. Denn das, was dort als Inklusion beschrieben wird, fasst Andreas Hinz unter der Praxis der Integration zusammen, die von einer »Zwei-Grup-pen-Theorie (behindert/nicht behindert)« (Hinz 2004, S. 45) ausgeht und die eine Aufnahme behinderter Kinder in Gruppen Nichtbehinderter postuliert. Begriffe wie »inkludierbar«, »jemanden inkludieren« oder gar »Inklusionsbedarf« zeigen, dass star-ke begriffliche Unsicherheiten vorliegen und Integration häufig mit Inklusion über-setzt und gleichgesetzt wird. Weiterhin wird vielfach davon ausgegangen, dass es auch weiterhin Kinder gibt, die zur Gruppe der »Normalen« gehören, und Kinder, die sich diesen Status erst erarbeiten müssen. Letztere müssen sich aktiv »inkludieren« oder aber eher passiv »inkludiert« werden. Diese Gleichsetzung von Inklusion mit Integra-tion ist problematisch und entspricht nicht der konventionellen Begriffsbestimmung von Inklusion.

Inklusion geht von einer Gesellschaft als einer »einzigen untrennbar heterogenen Gruppe« (Hinz 2002, S. 357) aus. Eine Unterscheidung in »normal« und »anders« ist somit nicht möglich, alle sind gleichberechtigt mit einbezogen. Dabei darf Gleichbe-rechtigung nicht mit Gleichheit, die Normalität der Verschiedenheit nicht mit Nor-mierung verwechselt werden. Jeder ist selbstverständlich anders und einzigartig, nur ist diese Andersartigkeit kein Grund zur Einteilung aller in »tendenziell Normale« und »tendenziell Andersartige«. Natürlich gibt es auch in einer inklusiven Gesellschaft Menschen mit Migrationshintergrund, Behinderte oder Arme, dies sind aber nur ei-nige Dimensionen der Beschreibung, der andere hinzuzufügen sind – Menschen, die Fußball mögen bzw. nicht mögen, Männer und Frauen, Menschen unterschiedlichs-ten Aussehens, Vegetarier, Allergiker etc. – und die ganz selbstverständlich die Vielfalt des Zusammenlebens in pluralistischen sozialen Systemen charakterisieren. Je nach Beschreibungsmerkmal entstehen so unterschiedliche Gruppen, und eine Dichotomie in der Einteilungspraxis wird fragwürdig. Die Zugehörigkeit von Menschen zu beson-deren Gruppen dient nun nicht mehr der Einordnung als »typische«und eher »unty-pische« Gesellschaftsmitglieder. Vielmehr ist jeder Teil verschiedener Gruppen, sodass jede gruppenbezogene Homogenitätsannahme, die die Individualität der einzelnen Mitglieder infrage stellt, obsolet wird (Boban et al. 2014, S. 20). Alle sind gleicherma-ßen in verschiedene Gruppen einbezogen und konstituieren eine prinzipiell vielfältige Gemeinschaft.

Inklusion ist in allen gesellschaftlichen Bereichen anzustreben. In besonderem Maße steht dabei in der aktuellen Diskussion die schulische Bildung im Mittelpunkt; vielleicht, weil an diesem Beispiel die oft beschworene »gesamtgesellschaftliche Her-

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ausforderung« in prägnanter Art und Weise anschaulich wird bzw. der Paradigmen-wechsel im Hinblick auf die Struktur gesellschaftlicher Institutionen besonders gut nachvollziehbar ist. Diese Fokussierung von Inklusion auf die Strukturen von (vor allen Dingen schulischen) Bildungsinstitutionen soll im Folgenden mit dem Begriff inklusive Bildung bezeichnet werden. Natürlich sind auch der Elementarbereich und berufliche Bildungsprozesse nicht irrelevant, da das vorliegende Buch aber besonders fachdidaktische Fragen des Deutschunterrichts fokussiert, erscheint diese Präzisierung hier sinnvoll.

Inklusive Bildung meint vor allen Dingen im schulischen Kontext verortete Bildungsprozesse, die der Vorstellung der prinzipiellen Teilhabe aller Kinder am gemeinsamen Schulwesen und der Individualität allen Lernens verpflichtet sind. Inklusive Bildung strebt die Überwindung stigmati-sierender Kategorienbildung an und wertschätzt Verschiedenheit als konstitutives Merkmal von Gesellschaft.

Traditionen separierender Förderung

Betrachtet man nun das deutsche Schulsystem, so erweckt es systematisch die Il-lusion einer homogenisierenden Institution. Verschiedene Strukturmaßnahmen sind dafür verantwortlich, z. B. die Differenzierung von Gruppen nach Alter (Jahr-gangsklassen) und in den weiterführenden Schulen nach Leistung wie auch die schulstrukturellen Differenzierungen nach Förderbedarfen im Förderschulwesen. Eine Ursache dafür ist sicherlich auch die stark kategoriale Thematisierung von Le-bensalltag in Form von Unterrichtsfächern. Die thematische Isolierung bestimmter Themengebiete ermöglicht die Auseinandersetzung mit Phänomenen des täglichen Erlebens und die Vorbereitung auf spätere Herausforderungen in fachlich fokus-sierten und systematisch strukturierten Settings. Diese werden aufgrund bestimm-ter Erwerbsvorstellungen und daraus abgeleiteter Lernvoraussetzungen und kogni-tiver bzw. erfahrungsbezogener Ressourcen einer scheinbar bis zu einem gewissen Grad homogenisierten Lerngruppe zugänglich gemacht. Das stark tradierte und entwicklungspsychologisch begründete Jahrgangsprinzip steht aber der offenkundi-gen Heterogenität der Jahrgangskohorten entgegen. In Konsequenz dessen werden für Kinder und Jugendliche dieser Jahrgänge unterschiedliche, scheinbar passende Angebote erzeugt und durch die verschiedenen Schulformen von Regelschule und Förderschule institutionell verankert.

Dass diese äußere, institutionenbezogene Differenzierung nicht zu einem Lernen in homogenen Gruppen führt, zeigen zahlreiche Publikationen, die die Bedeutung der Individualisierung und Binnendifferenzierung betonen (Peschel 2002, Bönsch 2012). Die institutionell sortierten Kindergruppen zeigen sich demnach immer noch so heterogen, dass ein gemeinsamer Lehrgang (für alle das Gleiche zur selben Zeit) nicht sinnvoll erscheint. Allerdings stoßen diese didaktisch-methodischen Konzepte

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zur inneren Differenzierung an Grenzen persönlicher und materieller Ressourcen. Wo solche Ressourcen erschöpft sind, steht in der Logik des segregierenden Förderschul-wesens die Überweisung in die Förderschule, in der Praxis durch die Attestierung des sonderpädagogischen Förderbedarfs.

Folgt man der oben genannten Definition von inklusiver Bildung als einer Pädago-gik »einer einzigen untrennbar heterogenen Gruppe« (Hinz 2002, S. 357), so können beide Wege keine Lösungsmöglichkeiten darstellen, da in beiden Fällen die Aufteilung der heterogenen Gruppe die Folge ist. Im ersten Fall räumlich, im zweiten Fall auf-grund eines Merkmals. Räumlich, da die Schüler/innen nun in einer anderen Um-gebung lernen müssen: in einer Förderschule. Im integrierten Unterricht wird der Förderbedarf zum Merkmal einer Person, das dazu führt, dass ihm eine besondere Förderung zuteil wird.

Ein inklusiver Unterricht hingegen würde dieses Ausgangsproblem der mangeln-den Passung von Lernvoraussetzungen und Lernangebot nicht als ein Defizit einer Person verstehen, sondern als systemische Herausforderung. Infolgedessen ist der Förderbedarf keine Eigenschaft einer Person, sondern ein systemischer Bestandteil eines pädagogischen Settings. Daher stehen alle Ressourcen – räumliche Bedingun-gen, Materialien zum Lernen, pädagogische Fachkräfte – systemisch bereit und sind infolgedessen verfügbar für alle Kinder. Überforderung kann es trotzdem auch in einem inklusiven Unterricht geben, aber sie kann nicht die Voraussetzung für das Bereitstellen zusätzlicher Ressourcen sein, denn das steht im extremen Widerspruch zu einer Implementierung einer willkommen heißenden Kultur wie sie eine inklusive Pädagogik benötigt. Daher braucht das System die Ressourcen vorher, um überhaupt einen heterogenitätssensiblen Unterricht ermöglichen und mit Herausforderungen adäquat umgehen zu können. Dies widerspricht allerdings der Logik eines Schulsys-tems wie des deutschen, in dem die Schüler/innen zur Ressource kommen müssen. Denn das beinhaltet zweierlei:

(1) Ein Mensch hat Merkmale, die dazu führen, dass er nicht in eine Umgebung »passt«, deshalb braucht er Unterstützung.

(2) Diese Unterstützung bekommt er aber nicht in der Umgebung, in der er sie be-nötigt.

Damit zumindest der zweite Punkt aufgehoben werden kann, braucht es eine Le-gitimation, die aktuell in der Attestierung des sonderpädagogischen Förderbedarfs festgeschrieben wird. Das Kind bekommt das Etikett »Förderbedarf«, mit dem aber auch die Ressourcen verbunden sind, um weiterhin in der bisherigen Umgebung lernen zu können. Das Problem daran ist, dass die Zuweisung von Ressourcen mit der Zuweisung eines negativ konnotierten Etiketts versehen und damit maßgeblich verantwortlich für die Schaffung einer klasseninternen Zwei-Gruppen-Struktur ist. Hans Wocken spricht daher vom »Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma« (Wocken 2014a, S. 55).

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Paradigmenwechsel »Inklusive Bildung«

Inklusion richtet sich nun aber konzeptionell gegen diese Form von Kategorisierung, die vielfach mit dem Begriff der Behinderung gefasst wird. Behinderung als »eine dau-erhafte und sichtbare Abweichung im körperlichen, geistigen oder seelischen Bereich, der allgemein ein entschieden negativer Wert zugeschrieben wird« (Cloerkes 2007, S. 8) ist in hohem Maße defizitär geprägt; dem Begriff ist eine starke Normalvorstel-lung eingeschrieben. Der heute gebräuchlichere pädagogische Terminus der »Förder-bereiche« oder »Förderschwerpunkte« soll hier eine veränderte Akzentuierung ermög-lichen.

Betrachtet man Behinderungsarten und Förderbereiche im Schulwesen, so können weitgehende namentliche Analogien festgestellt werden. Der Förderbedarf Geistige Entwicklung beispielsweise entspricht dem Konzept der »geistigen Behinderung«, der Förderbedarf Körperliche Entwicklung der »körperlichen Behinderung«. Grotesk werden solche Zuschreibungen bei Begriffen wie dem der »Lernbehinderung«, die an-gesichts der Tatsache, dass die Zuweisung eines solchen Förderbedarfs in den aller-meisten Fällen soziologische Ursachen in der Herkunft hat (Schöler/Burtscher 2006, S. 38), ganz offensichtlich auf den Charakter des Behinderungsbegriffs als gesellschaft-liche Konstruktion hinweisen.

Infolgedessen wird die Kategorie Behinderung heute nicht mehr als Merkmal einer Person, sondern als interaktives Ergebnis des Zusammenwirkens von Körperfunktionen und -strukturen (z. B. anatomische, physiologische Eigenschaften), umweltbezogenen (z. B. die Einstellungen der Mitmenschen, Beschaffenheit des unmittelbaren Lebensrau-mes) und personalen Merkmalen (z. B. eigene Persönlichkeitsstruktur) und bestimmten Strukturen der Partizipation begriffen (WHO 2011, S. 5; Cloerkes 2007, S. 6). Insbeson-dere der Begriff der Partizipation betont dabei deutlich die Bedeutung der Erwartungen und Anforderungen der Umgebung und der dadurch resultierenden Umweltgestaltung. Behinderung zeigt sich damit maßgeblich als Passungsproblem zwischen Individuum und Umwelt, wobei mangelnde Passung zum Ausschluss führen kann und führt.

Ziel der UN-Behindertenrechtskonvention ist es, Menschen mit Behinderungen die gleichberechtigte Wahrnehmung ihrer Rechte und Freiheit zu ermöglichen (UN 2006, Article 1). Für die Diskussion um Bildung ist vor allem der Artikel 24 (UN 2006, Artic-le 24) bedeutend, in dem Menschen mit Behinderungen der gleichberechtigte Zugang zu einem inclusive education system zugesichert wird.

Streitfall inclusive education system: Die deutsche Übersetzung spricht von einem »integrati-ven Schulsystem«, was aber angesichts der englischen Fassung problematisch und umstritten ist. Daher wird an dieser Stelle die verbindliche englische Fassung zitiert, die explizit auf den Inklu-sionsbegriff Bezug nimmt. Im Folgenden wird von inklusiver Schule oder inklusiver Bildung gesprochen.

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Ob das zwingend die Abschaffung des Förderschulsystems bedeutet (Wocken 2014b, S. 50) oder ob es ein Wahlrecht zwischen Förderschule und inklusiver Regelschule ge-ben kann (Theunissen 2013, S. 27), darüber herrscht in der Literatur Uneinigkeit. Die Lösung dieser Kontroverse ist an dieser Stelle unerheblich. Wichtig für die nachfolgen-den Darstellungen ist lediglich, dass alle Menschen einen verbrieften Rechtsanspruch auf eine inklusive Schule haben. Demgemäß gilt es über die Konsequenzen einer sol-chen konzeptionellen Festschreibung nachzudenken.

1.3 Inklusive Didaktik – Lernen in Vielfalt und Gemeinsamkeit

Die starke Präsenz der Diskussion um Inklusion und inklusive Bildung in gesell-schaftsöffentlichen und fachlichen Kontexten erweckt den Anschein einer rapiden Entwicklung bzw. einer Praxis inklusiven Lernens. Fokussiert man jedoch die jeweils verhandelten Gegenstände des Diskurses – das Beispiel von Max ist auch in diesem Zusammenhang ein eindrücklicher Fall –, wird schnell deutlich, dass die Diskussion gewisse Felder bislang systematisch vernachlässigt bzw. sogar ausspart. So ist einer-seits viel von gesellschaftstheoretischen Ansprüchen die Rede, auch von bildungspoli-tischen Entwicklungen und nicht zuletzt von pädagogischen Aufgaben, Chancen und Grenzen. Andererseits werden auf pädagogischer Ebene Einzelfälle ins Feld geführt: Kinder, die als Gelingens- oder Misslingensbeispiele für Integration/Inklusion fungie-ren sollen. Es finden sich aber auch institutionelle Beispiele: Schulen, an denen Inklu-sion bereits gelingt und Realität und Alltag zu sein scheint oder die an eben dieser Re-alität zu scheitern drohen. Selbst in stärker fachlichen Diskursfeldern wird nur selten von didaktischen oder gar fachdidaktischen Fragestellungen gesprochen. Überhaupt liegen für die wenigsten Unterrichtsfächer konkrete didaktisch-konzeptionelle Über-legungen vor, wie inklusiver Unterricht als Lernen in Vielfalt und Gemeinsamkeit fachspezifisch ausgestaltet werden könnte.

Dabei ist diese für die schulische Realisierung von inklusiver Bildung zentrale Fra-gestellung durchaus bereits grundlagentheoretisch in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten, wie einige Positionen und Ansätze einer allgemeinen inklusiven Didaktik zeigen, die im Folgenden thematisiert werden sollen. Allerdings bleiben diese bislang noch relativ abstrakt, ihre fachdidaktische Konkretisierung und Ausbuchstabierung sind bislang weitestgehend ausgeblieben.

Gemeinsamkeit wird in den Modellen auf inhaltlicher Ebene (Feuser, Seitz) und auf der Ebene der Sozialformen hergestellt (Wocken, Markowetz). Im Anschluss an diese vier Modelle werden weitere wichtige Prinzipien einer inklusiven Didaktik (Kull-mann et al., Prengel) vorgestellt.