Die Angst und der Mut zum Sein eine Brücke zwischen ... · Der Mut zum Sein durch den Glauben 17 ....

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Die Angst und der Mut zum Sein eine Brücke zwischen Psychotherapie und Seelsorge (Existenzanalytische und theologische Aspekte) Abschlussarbeit für die fachspezifische Ausbildung in Existenzanalyse Wien, Mai 2004 Markus Hirlinger eingereicht bei Alfried und Silvia Längle

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Die Angst und der Mut zum Sein

eine Brücke

zwischen Psychotherapie und

Seelsorge

(Existenzanalytische und theologische Aspekte) Abschlussarbeit für die fachspezifische Ausbildung in Existenzanalyse

Wien, Mai 2004 Markus Hirlinger eingereicht bei Alfried und Silvia Längle

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Zusammenfassung: In der vorliegenden Arbeit wird der Mensch aus existenzanalytischer und theologischer Perspektive in seinen Grenzsituationen und der damit zusammenhängenden Angst und ihren Erscheinungsweisen beschrieben. Es wird aus beiden Blickrichtungen der Frage nachgegangen, woher der nötige Mut kommt, sich trotz existentieller Grenzsituationen zu bejahen. Wie ist es beispielsweise möglich, der Wirklichkeit mit und ohne religiösen Überzeugungen und Erfahrungen zu vertrauen, auch wenn sie sich in ihrer ganzen Fraglichkeit zeigt? Dabei wird eine gemeinsame Basis zum Vorschein kommen, die als Brücke zwischen Psychologie und Theologie beschrieben werden kann, auf der sich beide Ansätze aufeinander zu bewegen. Es soll gezeigt werden, dass sich der Psychotherapeut und der Seelsorger in wertschätzender Weise begegnen können ohne ihrem je eigenen Fachbereich untreu werden zu müssen, was letztlich dem Wohl des Patienten und Hilfesuchenden dienen wird. Schlüsselwörter: Angst, Mut zum Sein, Glaube, Psychotherapie, Seelsorge Abstract: In the present paper man is described in a existential-analytical an theological perspective in his borderline situations with its anxiety an its way of appearance. From both lines of vision the question is followed, from where is coming the necessary courage to affirm himself although his existential borderline situations. For example, how is it possible to trust in the reality with and without religious convictions and experiences, although it presents itself in his whole uncertainess? This is how a common basis appear, who could be described as a bridge between psycholgy and theology, on which both dispositions could approach each other. It will be shown, that the psychotherapist and the pastor could encount in an esteemed way without having to be unfaithful to their special field, what whould serve finally the well-being of the patient and the person who needs help. keywords: anxiety, courage to being, faith, psychotherapy, pastoral work

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Inhaltliche Übersicht 1 Einleitung: 3

1. Der Beitrag Paul Tillichs 4 2. Der Beitrag der Logotherapie und Existenzanalyse 4

A) Der Mensch angesichts der Angst aus theologischer Sicht 5 1. Angst vor Schicksal und Tod 5

a) Zufälligkeit unseres zeitlichen Seins 6 b) Zufälligkeit unseres räumlichen Seins 6 c) Zufälligkeit des Kausalzusammenhangs 6

d) Sterbliche oder unsterblichen Substanz 6

2. Angst vor Leere und Sinnlosigkeit 7

3. Angst vor Schuld 8 Essenz und Existenz 8

B) Der Mensch angesichts der Angst aus existenzanalytischer Sicht 10 1. Grund - und Erwartungsangst 10 2. Die vier Erscheinungsweisen der Angst 10 a) Grundangst 11 b) Grundwertangst 11 c) Selbstwertangst 11 d) Existentielle Angst 11 C) Der Mut sich zu bejahen als bejaht 11

1. Die existentielle Situation des Menschen 11 Existentielle Wende und Existenz 2. Personale Grundmotivationen und die Zustimmung 12

a) Das Ja zur Welt 12 b) Das Ja zum Leben 13 c) Das Ja zur Person 14 d) Das Ja zum Sinn 14

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3. Die spirituelle/religiöse Antwort und der Mut zum Sein 16

a) Was der Glaube nicht ist 16

Für-wahr-Halten Funktionalisierter Glaube

b) Was der Glaube ist 16

Ergriffensein 16 Der Mut zum Sein durch den Glauben 17

D) Die Brücke zwischen existentieller und spiritueller Antwort 19 Existentielle Spiritualität 19

1) Der Mut und das Ja zur Welt 19 2) Der Mut und das Ja zum Leben 20 3) Der Mut und das Ja zur Person 21 4) Der Mut und das Ja zum Sinn 22

E) Konsequenzen 24 1. Zusammenwirken und Grenze zwischen Psychotherapie und Religion 24

2. Impulse der Psychotherapie für die Seelsorge 26

a) Das Hinschauen und der Erfahrungsbezug des Glaubens 26 b) Auseinandersetzung mit Kriterien für einen gesunden Glauben 27 c) Stellungnahme 28 d) Respekt 28

3. Impulse der Seelsorge für die Psychotherapie 28

a) Ganzheitlichkeit und der Glaube 28 b) Kritisches Anfragen und Stellungnahmen 30 c) Anwesenheit und Halt 30

4. Als Glaubender Therapeut sein 32

a) Phänomenologische Offenheit 32 b) Glaube an das Gesunde und Liebenswerte im Menschen 32

Schluss 33 Literaturliste 34

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Einleitung: Psychologie und Theologie sind in ihrer Theorie und in ihrer Praxis in Psychotherapie und Seelsorge auf ihre je eigene Art, um das ´seelische Wohl` des Menschen bemüht. Dennoch scheint das Verhältnis zwischen ihnen vielschichtig und ambivalent zu sein. Einerseits hat sich in der Vergangenheit der Verdacht erhärtet, dass jede Form des Glaubens an eine Wirklichkeit, die den Menschen übersteigt, ein Betäubungsmittel, ein Lügengebäude oder Machtinstrument ist, das benutzt wird um Menschen gefügig zu machen. Die andere Welt jenseits des Objektiven sei eine Illusion, eine Projektion (Sigmund Freud, Ludwig Feuerbach). Der Glaube an Gott den Vater rühre von einer gestörten Beziehung zum wirklichen Vater her. Der christliche Glaube an das Kreuz als Erlösungszeichen verrate eine Neigung zum Masochismus oder zum Sadismus. Die Annahme Gottes beruhe auf der menschlichen Projektion der eigenen egoistischen oder altruistischen Heilswünsche. So herrschte eine Skepsis gegenüber der Theologie und besonders gegenüber der institutionalisierten Form der Kirche, welche die Menschen v.a. mittels der Angst klein und abhängig zu halten versucht. Andererseits gab und gibt es auch eine gewisse Zurückhaltung und Angst gegenüber der Psychologie und Psychotherapie, die gefährlich, und der jedenfalls nur mit äußerster Skepsis zu begegnen sei. Sie bezweifle die Wissenschaftlichkeit von Theologie und Religion, komme ohne die Existenz einer ´Seele` im Menschen aus und bezweifle die Existenz Gottes.1 Außerdem maße sie sich an, ohne göttlichen Auftrag die säkularisierte Form dessen zu sein, was im Bereich des Glaubens mit Vergebung der Schuld gemeint sei, die letztlich nur von Gott geschenkt werden kann.2

Trotz dieser gegenseitigen Skepsis erleben heute viele die Erkenntnisse, Erfahrungen und Arbeitsformen aus dem jeweils anderen Theorie- und Praxisbereich als Horizonterweiterung für das eigenen Fachgebiet und die eigene Praxis. Ein Blick ins Internet zeigt, dass es neben einer Vielzahl von Veröffentlichungen bezüglich der Verhältnisbestimmung von Psychologie und Theologie ebenso viele Vorträge und Seminare gibt, die sich diesem Thema widmen. Die berechtigte Sorge einer Vermischung und einer damit zusammenhängenden unzulässigen Kompetenzüberschreitung sollte nicht dazu führen, die Chancen außer Acht zu lassen, die in einem sich gegenseitig bereichernden Dialog beider Fachbereiche liegen könnte. Es ist neben der Identitäts- und Sinnfrage aus meiner Sicht v.a. das Thema der Angst und der nötige Mut ihr zu begegnen, bei der sich beide Bereiche gewissermaßen die Klinke in die Hand geben und voneinander profitieren könnten.

1 Küng, Existiert Gott, 300 2 Rahner, Grundkurs 42

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Auf diesem Hintergrund ist mein Anliegen in dieser Arbeit als Seelsorger und angehender Psychotherapeut die Angst des Menschen und die seelsorgliche und psychotherapeutische Auseinandersetzung mit ihr in den Blick zu nehmen. Und zwar mit einer Überprüfung, ob es in einem wertschätzenden Dialog trotz klarer Grenzen beider Bereiche zu einer Annäherung und gegenseitigen Bereicherung kommen kann, die sich letztlich zum Wohl eines Hilfesuchenden und Patienten auswirken wird. Eine allgemeine Verhältnisbestimmung zwischen Psychotherapie und Seelsorge ist im Rahmen dieser Arbeit nicht beabsichtigt. So beziehe ich mich einerseits auf die Theologie und Philosophie Paul Tillichs und andererseits auf die Logotherapie und Existenzanalyse (LT und EA) Viktor Frankls und deren Weiterentwicklung in der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse. 1. Der Beitrag Paul Tillichs Paul Tillich (1886-1965) ein Theologe, der sich neben der Theologie und Philosophie mit den Erkenntnissen der Tiefenpsychologie auseinandergesetzt hat, beschäftigt sich in seinem Buch ´Der Mut zum Sein` mit der Angst als einem beherrschenden Lebensgefühl des Menschen. Für ihn ist die Unterscheidung zwischen neurotischer und ontologischer Angst von Bedeutung, wobei die erstere heilbar, die letztere unausweichlich mit der Existenz des Menschen gegeben ist.3

Um dieser existentiellen Angst zu begegnen, braucht es eine Haltung, die Tillich als ´Mut zum Sein` versteht.

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Woher dieser Mut kommt und wie er sich auf die Zustimmung eines Menschen zum Leben auswirkt wird in dieser Arbeit zu zeigen sein.

2. Der Beitrag der Logotherapie und Existenzanalyse In der Existenzphilosophie, auf die sich die Existenzanalyse bezieht, hat Martin Heidegger die Angst als eine Grundbefindlichkeit des Menschen herausgearbeitet, die wesenhaft zur Daseinsverfassung des Menschen gehört.5 Das Sich - Ängstigen sieht er als eine Grundart des In - der – Welt - Seins an. Die Angst stellt den Menschen vor die Möglichkeit des hereinbrechenden ´Nichts` , das immer schon da ist und zur Welt gehört und als solches das Dasein ständig von überall her bedroht. In der Unheimlichkeit der Angst inmitten des Daseins erfährt sich der Mensch vereinzelt und auf sich selbst zurückgeworfen. So ist der Mensch sich selbst überantwortet in seiner ´Geworfenheit in die Welt`6

.

In der Auseinandersetzung mit dieser Tatsache steht der Mensch allerdings in der Gefahr, in ein Verfallensein an diese Welt mit ihren Scheinvertrautheiten zu fliehen. Stellt er sich aber der Angst ohne sie zu leugnen oder zu übergehen, kann sie ihm dazu verhelfen, das ganz Eigene und Eigentliche als Möglichkeit seines Seins

3 Tillich 1953 Mut zum Sein 50ff (MzS) 4 ebd. 129ff 5 Heidegger, Sein und Zeit, 184 ff. 6 ebd. 191

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offenbar zu machen.7

Die Logotherapie und Existenzanalyse ist jene Therapierichtung, die den Wert der Angst erkannt hat und die gleichzeitig den Mut aufbringt, sich ihr und den weiteren Grundbedingungen der Existenz so zu stellen, dass der Mensch sein Dasein und sein Leben als ein erfülltes erleben, bejahen und gestalten kann.

Gerade in diesem Offenbarmachen des Eigentlichen liegt der Wert der Angst.

Damit haben wir zwei unterschiedliche Beiträge und Ansätze, die sich der Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Angst stellen, um ihn dazu zu befähigen trotz seiner Angst in Zustimmung leben zu können. Kann diesbezüglich ein fruchtbarer Dialog zwischen Psychotherapie und Seelsorge entstehen dann wird dieser für beide Seiten ein Gewinn sein. A) Der Mensch angesichts der Angst aus theologischer Sicht

Im Zusammenhang mit der Frage, woraus das Philosophieren geboren wurde, denkt Paul Tillich an die Erfahrung des Menschen, dass das Seiende, dessen sich der Mensch im unmittelbaren Dasein sicher zu sein meint, möglicherweise auch nicht sein könnte. Diese Erfahrung bezeichnet er als den `philosophischen Schock`, die `philosophische Erschütterung`, oder als den `Schock des möglichen Nichtseins`, der oft durch die Frage ausgedrückt worden ist: `Warum ist etwas, und nicht vielmehr nichts`? 8

Dieser Schock des möglichen Nichtseins widerfährt dem Menschen, wenn er in den mannigfaltigen Weisen der Angst entdeckt, dass die Wirklichkeit das `Stigma der Endlichkeit` an sich trägt, dass er selber dem Nichtsein in Gestalt von `Schicksal und Tod`, von `Leere und Sinnlosigkeit` und von `Schuld und Verdammung` ausgeliefert ist.9

1. Angst vor Schicksal und Tod Etwas in uns rebelliert gegen den Tod, wo immer er erscheint. Wir lehnen uns auf bei dem Anblick eines Leichnams, wir rebellieren gegen den Tod von Kindern und jungen Menschen, von Männern und Frauen in der Fülle ihrer Kraft. Wir fühlen sogar ein tragisches Element beim Hinscheiden alter Leute mit ihrer Erfahrung, ihrer Weisheit und ihrer Unersetzlichkeit ihrer Person. Wir rebellieren gegen unser eigenes Ende, gegen seinen endgültigen, unausweichlichen Charakter. Wir würden nicht rebellieren, wenn der Tod nur eine natürliche Sache wäre, wie wir auch nicht gegen das Fallen des Laubes rebellieren. Aber den Tod des Menschen bejahen wir nicht in der gleichen Weise. Wir lehnen uns auf, und da unsere Auflehnung nutzlos ist, resignieren wir. Zwischen Auflehnung und Resignation schwanken wir hin und her.10

7 ebd. 191 8 Tillich, Systematische Theologie I, 112 (ST) 9 Tillich, Gesammelte Werke XI, 5 (GW) 10 Tillich, Religiöse Reden I, 68

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Die Bedrohung, die der Mensch erführe, geschieht aber nicht nur in der absoluten Bedrohung durch den Tod, sondern auch in der relativen Bedrohung durch das Schicksal, der `Schicksalsangst`11

. Diese lässt sich in vier Begriffen der kategorialen Struktur unserer Erfahrung beschreiben:

Der erste Begriff ist die Zufälligkeit unseres zeitlichen Seins, die Tatsache, dass wir in dieser und keiner anderen Zeit leben, unser Leben in einem zufälligen Augenblick beginnen und in einem zufälligen Augenblick beenden. Als negatives Element der Kategorie Zeit wird die Vergänglichkeit beziehungsweise der Zeitfluss gesehen, durch den die Gegenwart nicht ist, als `die sich verschiebende Grenzlinie` zwischen Vergangenheit, die nicht mehr ist, und Zukunft, die noch nicht ist; das Sein, das Gegenwärtig-Sein wird bedroht, vom Nichtsein verschlungen zu werden.12

Der zweite Begriff der kategorialen Struktur ist die Zufälligkeit unseres räumlichen Seins, die Tatsache, dass wir uns an diesem und keinem anderen Ort befinden, und dass uns dieser Ort trotz seiner Vertrautheit fremd ist.13 Das negative Element der Raumkategorie ist damit gegeben, dass nichts Endliches eine endgültige Stätte hat. Darin ist die Drohung eingeschlossen, jeden Ort und damit auch das Sein schließlich zu verlieren; dies bewirkt letzte Unsicherheit, die der Mensch in den ängstlichen Versuchen zum Ausdruck bringt, sich einen sicheren Raum – physisch und sozial – zu schaffen. Aber die Menschen können ihre Angst mir der Errichtung von Sicherheitssystemen nur unterdrücken, nicht aber bannen, `denn diese Angst nimmt den endgültigen Verlust des Raumes vorweg`14

.

Mit dem dritten Begriff der Kategorialen Struktur ist die Zufälligkeit des Kausalzusammenhangs gemeint, d.h. die Tatsache, dass die Ursache der Existenz des Menschen keine letzte Notwendigkeit hat. `Die Angst, in der Kausalität erfahren wird, ist die, nicht in, von und durch sich selbst zu sein, nicht ´Aseität`15

zu haben, welche die Theologie traditionsgemäß Gott beilegt. Der Mensch besitzt keine eigene Macht, ins Sein zu kommen, sondern er ist ins Sein geworfen, er ist zufällig in das Gewebe kausaler Beziehungen hineingestellt. Der Grund der Angst ist das Fehlen einer letzten Notwendigkeit unseres Seins, d.h. die Irrationalität, die undurchdringliche Dunkelheit des Schicksals.

Die vierte Kategorie, welche die Verflochtenheit des Seins und Nichtseins in jedem Endlichen beschreibt, ist die Substanz. Alles Endliche ist von Anbeginn an von der Angst erfüllt, seine Substanz verlieren zu können. Diese Angst bezieht sich auf die beständige Veränderung wie auf den endgültigen Verlust der Substanz, denn jede Veränderung offenbart das relative Nichtsein dessen was sich verändert, und die Erfahrung des Sterben Müssens nimmt den völligen Verlust der Identität mit sich selbst vorweg. Die Frage nach einer unsterblichen Substanz der Seele drückt die Tiefe Angst aus, die mit dieser Vorwegnahme verbunden ist.16

11 Tillich, GW XI, 5 12 Tillich, ST I, 226 13 ebd. 228 14 ebd. 15 ebd. 230 16 Tillich, ST, 230f.

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Das Schicksal erzeugt deswegen eine unausweichliche Angst, weil der Tod nicht nur im letzten Augenblick hinter dem Schicksal und seinen Zufälligkeiten steht, wenn der Mensch aus der Existenz gestoßen wird, sondern weil der Tod in jedem Augenblick der Existenz hinter dem Schicksal steht. Selbst da, wo keine unmittelbare Todesdrohung vorhanden ist, ist das Nichtsein allgegenwärtig. Es steht hinter der Erfahrung, dass wir aus der Vergangenheit in die Zukunft getrieben werden, ohne je Gegenwart zu haben, in der wir ruhen können. Es steht hinter der Unsicherheit und Heimatlosigkeit unserer sozialen und individuellen Existenz. Es steht hinter der Bedrohung unserer Seinsmächtigkeit durch Schwäche, Krankheit und Unfälle. In all diesen Formen verwirklicht sich unser Schicksal, sie erzeugen in uns die Angst vor dem Nichtsein. Wir versuchen, die Angst in Furcht zu verwandeln und den Objekten, in denen die Bedrohung sich verkörpert, mutig zu begegnen. Das gelingt uns zum Teil; aber irgendwie sind wir der Tatsache gewahr, dass nicht die Schicksalsfälle, gegen die wir ankämpfen, die Angst erzeugen, sondern dass es die menschliche Situation selbst ist.17

Daraus ergibt sich die Frage: Gibt es einen Mut zum Sein, einen Mut, sich zu bejahen trotz der Bedrohung der die Selbstbejahung des Menschen ausgesetzt ist? Bevor aber dieser Frage nachgegangen wird, werden die beiden weiteren Formen der Angst dargestellt werden.

2. Angst vor Leere und Sinnlosigkeit Das Nichtsein ist nicht nur auf Schicksal und Tod bezogen, sondern betrifft auch eine weitere Dimension des Menschen, gleichsam seine geistige Selbstbejahung, die sich in jedem Augenblick vollzieht, in dem der Mensch innerhalb der verschiedenen Sinnsphären schöpferisch ist und sich bejaht als einer, der die Wirklichkeit schöpferisch aufnimmt und verwandelt. Er liebt sich als einer, der am geistigen Leben Teil hat, und er liebt dessen Inhalte, weil er sich in ihnen erfüllt und sie durch ihn verwirklicht werden. Eine derartige Erfahrung setzt voraus, dass das geistige Leben ernst genommen wird und den Menschen unbedingt angeht. Dies setzt wiederum voraus, dass sich im Leben und durch das Leben letzte Realität manifestiert.18

Wird solches in einem geistigen Leben nicht erfahren, dann ist es vom Nichtsein in Form der Leere und der Sinnlosigkeit bedroht. Es entsteht die Angst vor der Sinnlosigkeit, vor dem Verlust eines Sinns, der allen Sinngehalten Sinn verleiht; es ist die Angst vor dem Verlust dessen, was den Menschen unbedingt angeht. Sie wird dadurch erzeugt, dass der Mensch auf die Frage nach dem Sinn seiner Existenz keine Antwort findet.

Dieser Frage nach dem Sinn und der Verzweiflung über die Sinnlosigkeit im 20. Jahrhundert liegt ein entscheidendes Erlebnis des 19. Jahrhunderts zugrunde: `Gott ist tot`19. Denn schon bei Feuerbach ist Gott nur das `Produkt der unendlichen Sehnsucht des menschlichen Herzens`20

17 Tillich, MzS, 35f

; nach Marx ist er der ideologische Versuch,

18 Tillich, GW XI, 43 19 ebd., 109 20 zitiert nach Tilllich, GW XI, 109

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sich über die gegebene Realität zu erheben`21, und für Nietzsche ist er das `Symptom für das Erschlaffen des Willens zum Leben`22

. `Gott ist tot` und mit ihm das ganze System von Werten und Sinnbezügen, in denen man gelebt hatte.

Tillich unterscheidet aber von der Angst vor dieser `absoluten Sinnlosigkeit` die Angst vor der `relativen Leere`.23 Diese entsteht dann, wenn der Mensch nicht mit der absoluten Bedrohung des Nichtseins, sondern nur mit einer relativen Bedrohung konfrontiert ist, wenn nämlich konkrete Inhalte nicht mehr als sinnvoll erfahren werden. Der Mensch wendet sich voll Angst von allen konkreten Inhalten ab und sucht nach einem letzten Sinn und wird entdecken, `dass es gerade der Verlust eines geistigen Zentrums war, was den konkreten Inhalten des geistigen Lebens den Sinn raubte`.24

Aufgrund der Erfahrung der Trennung vom Ganzen der Wirklichkeit und der Isolierung seiner individuellen Existenz versucht der Mensch aus dieser Situation des Zweifelns auszubrechen und sich mit einem Überindividuellen zu identifizieren. `Er flieht aus seiner Freiheit, Fragen zu stellen und selber Antworten zu suchen, in eine Situation, in der keine Fragen mehr gestellt werden können und ihm die Antworten auf seine früheren Fragen durch Autorität aufgezwungen werden`.

25 Er versucht, sein geistiges Leben zu retten und gibt dafür sich selbst auf und hofft auf diese Weise der Angst vor der Sinnlosigkeit zu entgehen. Der Sinn scheint durch die Autorität, die Sinn vorgibt, gerettet zu sein, das selbst aber ist geopfert.26

3. Angst vor Schuld Es gibt neben den oben genannten Bedrohungen nach Paul Tillich noch eine dritte, der sich der Mensch ausgeliefert fühlt, nämlich der moralischen. Wie Frankl 27, so betont auch Tillich, dass dem Menschen sein Sein nicht nur gegeben, sondern auch aufgegeben ist; er ist dafür verantwortlich.28 Innerhalb der Zufälligkeiten seiner Endlichkeit ist der Mensch aufgefordert, sich zu dem zu machen, was er werden soll, um seine Bestimmung zu erfüllen. Er trägt in jedem Akt moralischer Selbstbejahung dazu bei, zu der Aktualisierung dessen zu kommen, was er potentiell ist. Seine Freiheit erlaubt es ihm aber auch, seinem essentiellen Wesen zu widersprechen, d.h. seine Bestimmung zu verfehlen. Hieraus entspringt die Angst, `die in ihrer relativen Form Angst vor Schuld ist und in ihrer absoluten Form Angst vor Selbstverwerfung und Verdammung`29

Um dies näher zu verdeutlichen sollen nun die Begriffe `Essenz` und `Existenz` beziehungsweise der Übergang von essentiellem zu existentiellem Sein bedacht werden: Essenz und Existenz sind für Paul Tillich durch und durch zweideutige Begriffe; sie haben jeweils einen empirischen und einen wertenden Sinn.

.

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21 zitiert nach Tillich, ebd.

Auf der ersten Bedeutungsebene meint Essenz das Wesen, die Idee, den Allgemeinbegriff

22 zitiert nach Tillich, ebd. 23 Tillich, GW XI 43 24 ebd. 25 ebd. 44 26 ebd. 27 Frankl, Ärztliche Seelsorge , 96 (ÄS) 28 Tillich, MzS, 41 29 ebd.47 30 Tillich, ST I, 237

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eines Dings. In diesem Sinne ist das Essentielle das Potentielle, der Bereich der reinen Möglichkeiten. Existenz ist dann die Aktualisierung dieser Potenzen; doch geschieht dies immer in unvollkommener Weise, weshalb die Essenz – in der wertenden Bedeutung – der Existenz als Maßstab und Gesetz gegenübertritt. Existenz als das `Herausstehen` aus den bloßen Potentialitäten, als aktuelle Wirklichkeit ist in gewissem Sinne mehr als Essenz; gleichzeitig ist Existenz aber auch weniger, da sie die Fülle der Potenz nur in unvollkommener Weise zu verwirklichen vermag. Existenz ist dann immer auch `gefallene Welt`, d.h. von ihrem eigentlichen Wesen abgefallene, entfremdete Wirklichkeit, worin die Bedeutung des Begriffs zu Ausdruck kommt.31

Demnach kann der Mensch sein Wesen nur in unvollkommener Weise verwirklichen, so dass selbst in dem, was er als seine beste Tat betrachtet, sein Nichtsein gegenwärtig ist. Nichtsein und Sein sind in seiner moralischen wie in seiner geistigen Selbstbejahung gemischt. Tillich zufolge ist das Bewusstsein dieser Zweideutigkeit Schuldbewusstsein.

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Die Angst vor Schuld ist in jedem Augenblick der moralischen Erfahrung gegenwärtig und kann zu völliger Selbstverurteilung treiben – zu dem Gefühl des Verdammtseins nicht durch äußere Bestrafung, sondern durch die Verzweiflung darüber, die eigene Bestimmung verfehlt zu haben.

Diese Drohung durch das Nichtssein, die sich in den verschiedenen Formen der Angst ausdrücken beschreibt Heidegger mit dem Begriff der ´Geworfenheit` und meint damit die existentielle Heimatlosigkeit des Menschen.33

Karl Jaspers drückt es so aus: „Ich muss sterben, ich muss leiden, ich muss kämpfen, ich bin dem Zufall unterworfen, ich verstricke mich unausweichlich in Schuld. Diese Grundsituationen unseres Daseins nennen wir Grenzsituationen. Das heißt es sind Situationen, über die wir nicht hinaus können, die wir nicht ändern können ...Auf Grenzsituationen aber reagieren wir entweder durch Verschleierung oder, wenn wir sie wirklich erfassen, durch Verzweiflung und durch Wiederherstellung: Wir werden wir selbst in einer Verwandlung unseres Seinsbewusstseins.“

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Hier ist also das Fundament menschlicher Existenz im Spiel: Zum menschlichen Dasein gehören Ungewissheit und Wagnis, Endlichkeit und Kontingenz. Weder Psychotherapie noch Theologie vermag diese Grundverfasstheit menschlichen Daseins aufzuheben. So bleibt uns nichts anderes, als uns ehrlich und unverfälscht der Endlichkeit und Kontingenz unseres Daseins zu stellen. Wie es für den Menschen nun möglich ist, der Drohung durch das Nichtsein in Form dieser dreifachen Angst stand zu halten, ohne an seinen Grundbedingungen zu zerbrechen, wird in den späteren Ausführungen darzulegen sein.

31 ebd. 32 Tillich, GW XI, 46 33 Heidegger, in: Wyss, Psychologie und Religion, 21 34 Jaspers, Einführung in die Philosphie,18

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B) Der Mensch angesichts seiner Angst aus existenzanalytischer Sicht35

1. Grundangst und Erwartungsangst Die Angst wird in der EA definiert als ein „generalisierter Erregungszustand, der gekennzeichnet ist durch das Erleben einer Bedrohung oder Gefahr“.36

Sie ist ein Hinweis auf eine Gefahr, und zwingt durch eine innere Bewegung zum Reagieren und zum Handeln.

Und gleichzeitig macht sie den Menschen auf die Tatsache aufmerksam, dass er verletzlich ist und sterben kann. Sie stellt den Menschen demnach vor eine zweifache Aufgabe, nämlich die Situation selbst zu überwinden und die Bedeutung dieser Situation, dass er verletzlich und sterblich ist in sich zu verarbeiten. Nun ist es naheliegend solche Situationen zu vermeiden, da sie den Menschen mit dem eigenen Unvermögen und eigener Schwäche, ebenso aber mit einer gewissen Brüchigkeit der Welt konfrontieren. Dahinter verbirgt sich die sogenannte Erwartungs- und Grundangst. Wenn die Angst dort auftritt, wo es um das fundamentale Sein-Können geht, spricht die EA von Grundangst. Sie entsteht durch die Erschütterung des fest Gefügten, das uns einen Halt gibt um da sein zu können. Der Halt an dem was ist, droht verloren zu gehen. Erlebt wird diese Angst als ein Gefühl, dass der Boden unter den Füssen nicht mehr trägt, als ob das Leben in ein Nichts hineinzufallen droht. Das was bisher Halt und Orientierung gab wie z. B. Gesundheit, Arbeitsplatz, Partnerschaft ... löst sich auf, ist nicht mehr verlässlich, es trägt mich nicht mehr. Die Möglichkeit des Nicht-Sein-Könnens wird inmitten der Wirklichkeit sichtbar. Existenzanalytisch gesehen gehört die Grundangst zum Menschsein dazu. Von Erwartungsangst spricht die EA wenn es um eine Angst vor der Angst geht, sie ist eine Reaktion auf eine schon erlebte Grundangst. Der Betroffene versucht unter allen Umständen, sich vor einer Weiderholung eines erschreckenden Ereignisses zu schützen. Es kommt zu einer lauernden Erwartung des Bedrohenden und zu einer Achtsamkeit es zu umgehen. Diese Einstellung bzw. Haltung, keine Angst haben zu wollen führt zu noch mehr Angst, nämlich zur Angst vor der noch mächtigeren Grundangst. Sie zeigt, dass es dem Menschen an Mut fehlt, sich dieser Angst zu stellen. Ihre Ursache liegt also nicht in der Erschütterbarkeit des Halts in der Welt, sondern im Fehlen des Halts in sich selbst. 2. Die vier Erscheinungsweisen der Angst Die Bedrohung hat in der EA vier Erscheinungsweisen die sich durch das existenzanalytische Strukturmodell der 4 Grundbedingungen für ein erfülltes Dasein nach A. Längle ergeben. 37

35 Längle, A Der Mensch auf der Suche nach Halt. Existenzanalyse der Angst.

In: Existenzanalyse (EA) 2/96, 4-12 36 Längle, A Lexikon der Existenzanalyse und Logotherapie, 3 37 Längle, A Das Ja zum Leben finden

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a) Die Auseinandersetzung mit dem Sein, was ist und dass etwas ist, ist das Kerngebiet der Angst, der es wesentlich um das Sein und dessen Bedrohung geht. Wird das Vertrauen in den Halt des Seins erschüttert, kommt es zur Entwicklung der schon erwähnten Grundangst und zu einem Misstrauen in die Festigkeit aller erleb- und erfahrbaren Strukturen. Dem Menschen geht das Vertrauen in den sogenannten Seinsgrund verloren, der durch die Erfahrung von Schutz und Verlässlichkeit als Halt spürbar ist. b) In der zweiten Grundbedingung erfüllten Daseins geht es um das Erleben von Wertvollem, um den sogenannten Grundwert. Wenn Werte die dem Einzelnen ans Herz gewachsen sind nun plötzlich verloren gehen, wie z.B. eine Liebesbeziehung zwischen Partnern erfährt der Mensch möglicherweise ebenfalls einen Verlust des Gehaltenseins. Verliere ich das was mir wertvoll ist, und woran ich hänge, habe ich das Gefühl, dass sich mir das Leben in seiner Lebendigkeit versagt und mein Leben nicht mehr lebenswert ist. Dahinter verbirgt sich die Grundwertangst. Die Angst hängt hierbei mit der Wertzuschreibung zusammen, und somit eventuell auch mit einer Wertüberhöhung, die zu Unbeweglichkeit, und wenig hilfreichen Fixierungen von Wertvorstellungen führen kann. c) In der dritten Grundbedingung geht es um das Selbstsein und damit um die Auseinandersetzung zwischen dem Eigenen und dem Anderen. Der Mensch ist im Eigenen bedroht, wo er nicht gesehen und nicht respektiert wird, aber auch wo er sich ausgesetzt und in einer Beziehungslosigkeit ungeborgen fühlt. Sowohl zuviel Freiheit als auch eine zu restriktive Abgrenzung führt zur Bedrohung und verhindert das Selbstsein. Dahinter verbirgt sich die Selbstwertangst, die Angst, als Selbst eigentlich nicht zu existieren. d) Eine weitere Erfüllung erhält das Dasein durch die Hingabe an Sinn- und Wertvolles. Die Möglichkeit aber, dass das was mir bisher wichtig war und wofür ich gewissermaßen gelebt habe, im Grunde umsonst war, gibt der Angst Raum, das Leben könnte als Ganzes sinnlos gewesen sein. Aller Aktivismus oder jegliche Form von Ablenkung kann das sich einschleichende Gefühl von Leere und Sinnlosigkeit nicht beseitigen, das Frankl als ´existentielles Vakuum`38

bezeichnet. Diese existentielle Angst entsteht auch dann, wenn sich ein Mensch in einer welt-verschlossenen Haltung oder durch Störungen auf den drei oben beschriebenen Grundbedingungen nicht auf die Welt einlassen kann.

C) Der Mut sich zu bejahen als bejaht 1) Die existentielle Situation des Menschen Nach existentiellem Verständnis steht der Mensch in einer unaufhebbaren Beziehung zur Welt. Sein Menschsein ist nicht anders möglich als `in der Welt`, auf die er

38 Frankl ÄS 1982, 18f

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bezogen ist. Durch das unausweichliche Bezogensein auf sie besteht einerseits eine Abhängigkeit, andererseits eröffnen sich dadurch auch Freiräume und Möglichkeiten des Handelns und Erlebens. Beides ´spricht` gewissermaßen zum Menschen. Er erlebt ihren imperativen Druck und ihre Unnachgiebigkeit, ebenso wie ihre einladende ermöglichende und befreiende Seite. Hinter jeder Situation verbirgt sich ein ´Anspruch` an den Menschen, dem er sich nicht entziehen kann. Entscheidend ist jedoch, was und wie er auf die Situation antwortet. Das Leben stellt es frei, wie wir antworten und welche Einstellung wir dem Leben gegenüber einnehmen. Die einen warten auf die Erfüllung ihrer Wünsche, die sie als Geschenk vom Leben erhalten wollen. Denn die Tatsache, ungefragt in dieses Leben geworfen zu sein, gibt ihnen ihrer Auffassung nach das Recht, die besten Umstände verlangen zu dürfen. 39

Die anderen wählen den ´existentiellen Weg`, indem sie ihr Leben vor dem Hintergrund ihrer Wirklichkeit, in der sie zu dem gegebenen Zeitpunkt ihres Lebens gerade stehen, bestmöglich zu gestalten versuchen. Ihr Interesse ist vornehmlich darauf gerichtet, wie sie sich selber den Herausforderungen des Lebens stellen werden und was sie aus den gegebenen Umständen machen werden.

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Frankl bezeichnet dies als die ´existentielle Wende`: „Das Leben selbst ist es, das dem Menschen Fragen stellt. Er hat nicht zu fragen, er ist vielmehr der vom Leben her Befragte, der dem Leben zu antworten – das Leben zu ver-antworten hat.41

Die Antworten aber, die der Mensch gibt, können nur konkrete Antworten auf konkrete Lebensfragen sein. In der Verantwortung des Daseins erfolgt ihre Beantwortung, in der Existenz selbst vollzieht der Mensch das Beantworten ihrer eigenen Fragen. Durch diese Zuwendung zur Welt, der mit Offenheit für ihre Möglichkeiten begegnet wird, entsteht der grunddialogische Charakter der menschlichen Existenz.

Was sind nun die wesentlichen Fragen, die sich dem Menschen aus diesem dialogischen Charakter der Existenz ergeben, und wie wird der Mensch antworten, um zu einer erfüllten Existenz zu kommen? Mit diesen Fragen bzw. fundamentalen Strebungen und Motivationen werden wir uns im folgenden Abschnitt auseinandersetzen. 2) Personale Grundmotivationen und die Zustimmung (existentielle Lebenshaltung) a) Das Ja zur Welt Die erste dieser Fragen, die sich dem Menschen aus dem dialogischen Charakter der Existenz stellt ist die Grundfrage der Existenz: Ich bin da – aber kann ich da sein? Kann ich Ja sagen zum Dasein und zur Welt, in die ich hineingeboren bin? Habe ich den Mut dazu?42

39 Längle, A Sinnvoll leben, 23

40 ebd. 41 Frankl ÄS, 96 42 Längle, A Die existentielle Motivation der Person EA 3/99, 22

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Schon allein die Tatsache, dass es mich gibt, dass ich bin ist eine Ungeheuerlichkeit, die mich ins Staunen versetzen kann. „Es gibt mich, ich bin. Das ist der ontologische Grund unseres Lebens, der Anfang aller Wahrheit im Leben. Ihn gilt es zu erfahren, ihn müssen wir spüren. Es ist der Boden des Seins. Es gibt Halt und Festigkeit, in eine Welt hineingeboren zu sein, die mir entgegentritt, die mir Widerstand leistet, die mir Raum auftut. Ohne diesen Bodenkontakt mit dem `Seinsgrund` ist das Leben von Angst durchzogen.“ 43

Das Dasein wird üblicherweise als so selbstverständlich angesehen, dass es häufig nicht beachtet wird und damit der Zugang zu ihm verlorenen gehen kann. Wichtig für diesen Zugang aber ist weniger die Reflexion als vielmehr die Erfahrung. Spüre ich dass ich in dieser Wirklichkeit Raum zum leben und atmen habe.

Um die Situation, in der man sich befindet, annehmen zu können braucht es ein Lebensgefühl, das sagt: ´Ich kann sein`. Ich habe Halt, Raum und Schutz für mich und erfahre die Welt so, dass ich ja zu ihr sagen kann. Ist das nicht gewährleistet, erübrigt sich alles weitere. Das Dasein braucht Lebensraum, den wir einnehmen dürfen. Hilfreich für das Einnehmen des eigenen Lebensraumes ist es, wenn wir bei anderen Menschen Raum haben: wenn sie uns annehmen. Dies darf uns aber nicht abhängig machen vom Wohlwollen anderer. Denn deren Wohlwollen ersetzt nicht das eigene Annehmen der Bedingungen meines Daseins. 44

Im positiven Fall spüre ich, dass ich Halt habe und ruhig sein kann. Ich fühle mich getragen, habe Raum und Schutz. Dies führt zum Erleben des ´Seinsgrundes`

45

als tiefstes, anhaltendes Gefühl des Stehens auf einem größeren Grund, worin sich der Mensch letztlich gehalten fühlt.

Ist das nicht der Fall, kommt Angst auf. Es fehlt der Raum zum Dasein und das Gefühl unter den gegebenen Bedingungen nicht sicher sein zu können. b) Das Ja zum Leben Zweitens bewegt den Menschen die Grundfrage des Lebens: Ich lebe – aber mag ich eigentlich Leben? Jetzt geht es darum das Leben in seiner Werthaftigkeit zu spüren, nicht einfach dazusein, sondern lebendig zu sein. Das heißt Freude und Leid zu empfinden, Angenehmes und Unangenehmes durchzumachen, Glück und Pech zu haben, auf Wert und Unwert zu stoßen. Der Mensch ist existentiell erst beheimatet, wenn er spürt, dass sein Leben Wert hat. Um es mögen und lieben zu können braucht es Nähe, Zeit und Beziehung.46

Dazu muss sich der Mensch öffnen und in eine Nähe begeben zu dem was ist, zu Dingen, Pflanzen, Tieren und Menschen. Wenn es mich berührt und ergreift, erhält es an Intensität und Dichte und fragt mich auch an, ob ich es mag und als wertvoll

43 ebd. 44 ebd. 24 45 ebd. 22 46 Längle A, Methode oder Spiritualität, 193

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empfinde. Mag ich leben, empfinde ich es als gut, dass es mich gibt und kann ich Ja dazu sagen, dass mein Sein wertvoll ist? 47

In diesem Ja zum Leben findet der Mensch seinen `Grundwert`

48

, in dem der Referenzpunkt für jedes Werterleben liegt. Der Zugang dazu eröffnet eine freie Emotionalität, die Nähe und Geborgenheit erleben kann, Lust und Freude, aber ebenso Trauer, Schmerz und Leid.

Ist solche Nähe und sich berühren lassen nicht möglich, schleicht sich Kälte ein, Unberührbarkeit und letztlich Depression. c) Das Ja zur Person Den Menschen bewegt drittens die Grundfrage der Person: Ich bin ich – aber darf ich so sein, wie ich bin? Das Leben fordert uns heraus und verlangt, nicht nur dass wir sind und dass wir gerne da sind, sondern dass wir v.a. wir selbst sind. Und dazu werden wir zu einer Einschätzung von uns selbst aufgerufen: ´Ist es recht so wie ich bin, kann ich zu mir und zu meinen Handlungen stehen?` 49

Woher kommt die Rechtfertigung für das Eigene? Habe ich Anerkennung erfahren und kann ich sie mir selbst auch entgegenbringen? Es geht um das Ja sagen mir selbst gegenüber. In diesem Ja zu meiner Individualität erfahre ich meinen Selbstwert

Dazu braucht es dreierlei: Beachtung, Wertschätzung und Rechtfertigung. Es geht um die Anerkennung der ganz spezifischen Art und Weise des Erlebens, Denkens, Fühlens und Handelns.

50

Kann der Mensch keine Wertschätzung und Rechtfertigung für das Eigene aufbringen, ist das Selbsterleben von Fremdheitsgefühl bzw. Gefühllosigkeit geprägt. Die Folge des Selbstwertverlusts ist eine innere Unruhe, eine Einsamkeit, ein sich Verstecken hinter der Scham, das sich bis zu Störungsformen der Hysterie entwickeln kann.

, in dem die Authentizität des eigenen Handelns und Seins gründet. Dies erleichtert mir auch andere Menschen in ihrem Eigenen anerkennen zu können.

51

d) Das Ja zum Sinn Außerdem bewegt den Menschen die Sinnfrage der Existenz: Ich bin hier – aber was soll damit werden? Das Dasein-Können, das Wertsein-Wollen und das Sosein-Dürfen macht den Menschen bereit und offen für den Sinnanruf der Welt.52

47 Längle S, Vorraussetzung zu erfülltem Sinnerleben EA 2/2000, 30

Kann der Mensch die Anfrage des Lebens aufnehmen, in dem er sie zur Aufgabe seines Lebens macht? Es ist seine Aufgabe das als sinnvoll erkannte zu leben und in der Hingabe an Werte tätig zu werden.

48 Längle A, EA 3/99, 25 49 ebd. 27 50 ebd. 27 51 Längle A. Methode oder Spiritualität, 13 52 Länge A. EA 3/99,25

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Frankl strich besonders die Bedeutung der Werte für die Sinnfindung heraus: „den Sinn des Daseins erfüllen wir - unser Dasein erfüllen wir mit Sinn - allemal dadurch, dass wir Werte verwirklichen“.53

Er definiert drei Wertekategorien als Wege zum Sinn:

1) Frankl geht davon aus, dass der Sinn des Lebens nicht zu erfragen, sondern zu beantworten sei, indem der Mensch das Leben verantwortet. D.h. den Herausforderungen seiner Existenz im Medium der Antwort begegnet. Es ist nun aber nicht das Wort, das eine angemessene Antwort auf die existentielle Herausforderung zu geben vermag, sondern die Tat in der Konkretheit des Alltags - als des konkreten Raumes menschlichen Verantwortlichseins.54

2) Sinn wird nicht nur im Medium der Tat, durch die Transformation einer ideenhaften Möglichkeit des Inneren in die aktuelle Wirklichkeit des Äußeren, sondern auch im Medium einer umgekehrten Bewegung verwirklicht, nämlich durch die Überführung einer wertvollen äußeren Realität ins Innere der Person. So kann der Mensch die Bilder der Natur, der Kunst, der Musik oder das einzigartige Bild einer geliebten Person in sein Inneres aufnehmen und sich beeindrucken lassen, die Bilder intellektuell in ihrer Struktur nachzeichnen und emotional in ihren Farbtönen und Tonfarben auch fühlen; dann ereignet sich, das, was Frankl Erlebnis nennt.55

3) Auch dann, wenn ein Mensch weder schöpferische Werte noch Erlebniswerte realisieren kann, erweist sich sein Leben aufgrund der dritten Hauptgruppe von Werten noch als sinnvoll, deren Verwirklichung eben darin liegt, wie sich der Mensch zu einer Einschränkung seines Lebens einstellt: zu einem unabänderlichen Geschick oder einer unheilbaren Krankheit beispielsweise. In der Weise, wie jemand diese Dinge auf sich nimmt, ergibt sich eine unabsehbare Fülle von Wertmöglichkeiten.56

Zum Auffinden des Sinns der Situation ist der Mensch nach heutiger Auffassung der Existenzanalyse erst dann wirklich frei, wenn die 4 Grundmotivationen erfüllt sind: Wenn er die Situation annehmen kann, wenn er von einem Wert berührt ist, wenn er sein Verhalten ethisch verantworten kann, wenn er den Aufforderungscharakter der Situation erkennt. Wann immer eine der Grundmotivationen nicht erfüllt ist, kann der Mensch sein Handeln oder Erleben nicht als wirklich sinnvoll erleben. So ergibt sich dass der Mensch es subjektiv als sinnlos erlebt, wenn er etwas erlebt oder tut, das er nicht annehmen kann, oder zu dem er keine Beziehung hat, oder wenn er etwas tut, von dem er spürt, dass er es eigentlich nicht tun dürfte, weil er es nicht verantworten kann.57

In der geglückten Übernahme der Anfrage und vollzogenen Antwort als Ja zum Sinn erlebt man Erfüllung, das Leben wird tätig, handelnd und hingabefähig.

Sind diese Bedingungen nicht erfüllt und ist es dem Menschen nicht möglich, auf die Anfragen zu antworten, entstehen existentielles Vakuum und Störformen der Sucht.

58

53 Frankl, Der leidende Mensch, 202

54 Frankl, ÄS, 121 55 ebd., 60 56 Frankl Der leidende Mensch, 64 57 Längle A. Das Ja zum Leben finden, 4 58 Längle S. EA 2/2000, 31

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3. Die spirituelle/religiöse Antwort und der Mut zum Sein Was ist der Beitrag des Glaubens, dem Menschen zu einem nötigen Mut zu verhelfen trotz des oben beschriebenen ´Schocks des möglichen Nichtseins` und der damit verbundenen Angst sein Ja zum Leben sprechen zu können? Schauen wir zunächst auf das Missverständnis des Glaubens, in dem die mögliche Skepsis einem religiösen Menschen gegenüber begründet sein kann, und später darauf welchen Beitrag ein sinnvoll verstandener Glaube zu der Bejahung des Lebens und seiner Bedingungen leisten kann. a) Was der Glaube nicht ist

Der Glaube der zu einem Ja verhelfen kann ist nach Paul Tillich weder ein Erkenntnis- noch ein Willensakt. „Das häufigste Missverständnis des Glaubens besteht darin, dass man ihn als ein Erkennen mit einem geringeren Grad von Gewissheit als die wissenschaftliche Erkenntnis ansieht“.59

Glaube ist aber auch kein Willensakt, der den Mangel an Beweisbarkeit ausgleichen soll und hat auch nichts mit Glaubensgehorsam zu tun. Weder der Befehl noch der Wille zu glauben können wirklichen Glauben hervorbringen.

In diesem Fall ist Glaube ein ´Für-wahr-Halten`.

60

Christoph Kolbe macht diesbezüglich auf eine wichtige Unterscheidung aufmerksam, nämlich jene zwischen existentieller und funktionalisierter Religiosität oder zwischen Religion als Ich-Funktion oder als Überich-Funktion. Dahinter steckt die Erfahrung, dass Patienten nur allzu oft in direkter Analogie zu frühkindlichen Elternerfahrungen stehen, was dazu führen kann, auf Gott beispielsweise all die Vaterideale in Form von Wünschen und Sehnsüchten zu übertragen, die im realen Erleben vermisst wurden.

61

Oder dass Gott gleichsam als Verlängerung der moralischen Vaterinstanz maßgeblich als strafender und nach gewissen Moralvorstellungen auftretender Richter erlebt wird. Religiosität steht hier im Dienst einer anderen Sache, und ist damit eben Funktion.

2. Was der Glaube ist Paul Tillich beschreibt den Glauben als ein „Ergriffensein durch das, was uns unbedingt angeht“62. Das was den Menschen unbedingt angeht ist Teilhabe an dem ganzen Sein, es ist nicht ein Einzelseiendes neben oder über der übrigen Wirklichkeit, sondern der tragende Grund alles Wirklichen oder das „Unbedingte in Sein und Sinn“.63

59 Tillich, Gesammelte Werke (GW) VIII, 111

Dieses Unbedingte muss, obwohl es an sich kein Seiendes neben anderen Seienden ist, an einer konkreten Gestalt erfahrbar sein, um für den Menschen eine erlebbare Realität zu werden. Das Ergriffensein ist weder ein Vorgang in einem Teilbereich der Person noch eine spezielle Funktion des menschlichen Seins, sondern ein Akt der ganzen Person ein „Gerichtetsein der

60 Tillich, GW VIII, 137 61 Kolbe, Psychotherapie und Religion, 10 62 Tillich, ST III, 155 63 ebd.

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ganzen Person auf das Unbedingte“64. Er ist der innerste und umfassendste Akt des menschlichen Geistes und vollzieht sich in der Mitte des personalen Lebens, sodass alle Elemente des persönlichen Seins daran teilnehmen. Im Akt des Glaubens ist jeder Nerv im menschlichen Körper, jedes Streben der Seele, jede Regung des Geistes beteiligt.65 Obwohl diese Bewegung des Ergriffenseins nicht vom Menschen ausgeht, ist er dabei nicht passiv, sondern diese Ergriffenheit ereignet sich im Menschen, an der er aktiv teilnimmt. Es ist also ein passives Geöffnetwerden und gleichzeitig ein aktives Aufnehmen.66

Wenn Glaube ein ganzheitlicher Akt aus der Mitte des personhaften Selbst des Menschen ist, in dem er das Unbedingte, Unendliche ergreift und von ihm ergriffen ist, dann setzt das zum einen eine besondere Fähigkeit im Menschen voraus und zum anderen das Vorhandensein des Elements der Unendlichkeit im Menschen. Der Ursprung des Glaubens ist nach Tillich ein Gewahrwerden des Unendlichen in einem unmittelbaren, personhaften und zentralen Akt. Demzufolge ist im Menschen selbst ein Element der Unendlichkeit vorhanden, das ein unmittelbares Erfassen des Unbedingten in ihm überhaupt erst ermöglicht.67

Der Mut zum Sein durch den Glauben Es gibt nach Tillich wenig Begriffe, die so gut als Schlüssel zur menschlichen Situation dienen können wie der Begriff ´Mut`. Dieser ist zunächst ein ethischer Begriff, ein Wissen von dem was gefürchtet und was gewagt werden soll. Doch reichen seine Wurzeln in die Tiefe des Seins selbst. Er muss ontologisch betrachtet werden, um ethisch verstanden zu werden. Die ethische Frage nach dem Wesen des Mutes treibt unausweichlich zur ontologischen Frage nach dem Wesen des Seins. Mut kann uns zeigen was Sein ist und Sein kann uns zeigen was Mut ist.68 Im Blick auf die Angst angesichts des möglichen Nichtseins beschreibt er den Mut als die „Selbstbejahung des Seienden trotz seines Nichtseins, … ein Akt durch den der Mensch die Angst des Nichtseins auf sich nimmt.“69

Wenn der Mensch nach einer Möglichkeit fragt, dass er die existentielle Angst auf sich nehmen kann, dann verweist Paul Tillich auf den Glauben, der ihm den Mut gibt der Angst nicht auszuweichen oder sie zu verdrängen, sondern sie zu integrieren. Stellt jemand die Frage nach dem Grund und Sinn allen Seins und danach ob es eine Macht gibt, die dafür sorgt, dass das Sein stärker ist als das Nichtsein, dann fragt er im Grunde genommen nach Gott. Dieser ist im Verständnis Tillichs nicht über der Wirklichkeit, auch nicht unter ihr, sondern in ihr. Mit seinem Begriff ´Gläubiger Realismus` zeigt er, dass es ihm nicht um eine Sonderwelt oder Überwirklichkeit geht, sondern um jene Wirklichkeit in der wir leben.

70

Mit ´gläubig` macht er darauf aufmerksam, dass es nicht genügt an der Oberfläche der Wirklichkeit haften zu bleiben, sondern die Dimension ihrer Tiefe zu erfassen und sich vom Grund und Sinn des Seins ergreifen zu lassen.

71

64 Tillich, GW VIII, 182

In seiner philosophischen

65 ebd. 183 66 Tillich, ST III, 159 67 Schüßler, 130 68 Tillich 153, 7f 69 Tillich 153, 113 70 ebd. 131 71 Tillich 153,124

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Sprache verwendet er für Gott auch den Begriff ´Sein Selbst` oder ´Grund und Sinn des Seins`.72

Durch das Nichtsein ist das Sein-Selbst gefordert aus sich herauszutreten und sich immer wieder neu zu behaupten. Somit ist Gott als Macht des Seins ständig gefordert sich schöpferisch zu bejahen und so ständig das eigene Nichtsein zu überwinden. In diesem schöpferische Prozess der Selbstbejahung Gottes steckt jene Macht, die auch die Selbstbejahung des Menschen als eines endlichen Wesens ermöglicht.

Im Akt des Glaubens kann sich der Mensch demnach selbst annehmen als einer der von Gott angenommen ist.73

Der ´Grund des Seins` ist das Urbild der Selbstbejahung des Menschen und somit die Quelle des Mutes zum Sein.

74

Das Nichtsein kann den Menschen an der Bejahung seiner selbst hindern und ihn in Form von Angst vor Schuld, Sinnlosigkeit und Tod bedrohen. Der Mut aber setzt ihm das ´Trotzdem` entgegen, der möglich ist, weil das Sein-Selbst den Charakter der Selbstbejahung hat. Der Mensch darf sich in diesem Ja Gottes verankert wissen ohne dass von ihm etwas verlangt wird. Weder moralische Anstrengung, noch intellektuelle Leistung, auch nicht die Anerkennung bestimmter religiöser Inhalte. Eines aber muss er tun: er muss bejahen, dass er bejaht ist.75

Da Gott aber nicht nur als gegenwärtig sondern auch als abwesend erlebt werden kann, ist auch dieses ein Wagnis. Gott ist nicht nur Grund, sondern auch Abgrund. Scheitern ist möglich, es kann sein, dass das Nichtsein sich als stärker erweist und existentieller Zweifel auftaucht bei einem Menschen der am Abgrund steht und die Abwesenheit Gottes erfährt. Doch selbst dieser Zweifel bedeutet keine Zerstörung des Glaubens, da Gott selbst das Nichtsein in sich einschließt. Demzufolge müssen Zweifel, Gefühle von Sinnlosigkeit und entsprechende Ängste nicht beseitigt werden, da es eine Kraft gibt, die sie akzeptieren und aushalten lässt, und trotzdem ein Ja zum Dasein sagen lässt.76

Gelingt einem Menschen die Selbstbejahung nicht, weder als gläubiger Mensch aus dem Bezug zu Gott noch als Ungläubiger aus dem Bezug zum Seinsgrund, wird er versucht sein, sich dieses Angenommensein durch Leistung und gefallen wollen zu erarbeiten und zu erzwingen, ohne sein tiefstes Bedürfnis nach sein dürfen und geliebt werden wirklich selbst stillen zu können. Die Gefahr dadurch enttäuscht und krank zu werden ist naheliegend. Theologie oder Psychotherapie, beide Ansätze müssen eingestehen, dass sie dieses Angenommensein nicht automatisch herstellen können. Aber sie können Räume schaffen in denen das Angenommensein erfahren werden kann und alles aus dem Wege räumen, was dieser Grundhaltung im Wege steht. An dieser Stelle ergibt sich für mich die Frage, ob eine Brücke zwischen Psychotherapie und Theologie bzw. deren Aufeinanderzugehen für den ein oder

72 ebd. 73 Tillich 153,125 74 ebd. 128 75 ebd. 125 76 ebd.127

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anderen Hilfesuchenden nicht sehr förderlich wäre, damit er selbst eine Brücke zum Grund des Seins bzw. zu Gott finden kann? Ein Zugang, der ihm die Erfahrung des angenommen und bejaht seins trotz allen möglichen Gründen, die dem zu widersprechen scheinen, erleichtern würde. Im folgenden Kapitel lenken wir deswegen unsere Aufmerksamkeit auf diesen Zugang und diese Brücke, die in einen transzendentalen Bezug übergehen wird, der psychologisch-subjektiv fühlend erahnt werden kann. Dies geschieht dadurch dass die schon beschriebenen Blickrichtungen der EA und der Theologie bezüglich der Grenzerfahrungen des Menschen und den Grundbedingungen erfüllter Existenz nebeneinander gestellt und miteinander in Beziehung gesetzt werden. D) Die Brücke zwischen existentieller und spiritueller Antwort Existentielle Spiritualität 1) Das Ja zur Welt Hinsichtlich der Bejahung des eigenen Daseins wurde schon darauf hingewiesen, dass ich als Mensch Halt, Raum und Schutz brauche, um mein Dasein annehmen und bejahen zu können. Fehlt mir dieses so kommt Unruhe, Unsicherheit und Angst auf. Ich erinnere an die von Paul Tillich beschriebene Schicksalsangst, in welcher der Tod nicht nur im letzten Augenblick hinter dem Schicksal und seinen Zufälligkeiten steht, wenn der Mensch aus der Existenz gestoßen wird, sondern eben in jedem Augenblick der Existenz präsent ist.77

Wie ist es nun, wenn alles was mir Halt, Raum und Schutz gibt aus irgendeinem Grund wegfallen würde, z.B. mein Beruf, die Gesundheit, ein lieber Mensch an meiner Seite? Gibt es einen Mut zum Sein, einen Mut, mich und das Dasein trotzdem zu bejahen und mich vertrauensvoll darauf einzulassen? Nach Alfried Längle heißt Mut nicht angstfrei zu sein, es heißt Angst haben. Dieser gründet im Menschen selbst, im erspürten Gefühl seiner Kräfte und ermöglicht aus einer gewissen Lebensgestimmtheit heraus sich ein Herz zu fassen und einen angemessenen Schritt mit sich zu wagen.78

Neben diesem Mut bräuchte es etwas das mir das Gefühl geben könnte trotzdem gehalten zu sein? Wäre da dieses „Nichts“ in das ich fallen würde oder gäbe es da ein letztes Vertrauen, ein Grundvertrauen, das ich als letzten Halt in meinem Leben spüren könnte, etwas das nicht in mir sondern in der Welt gründet?

Kann ich diese Frage bejahen, wird mich diese Erfahrung in ein Staunen versetzen, dass da trotzdem noch etwas ist, das mich einen weiteren Grund spüren lässt. Es ist ein Ahnen eines umfassenden Gehaltenseins, das die EA ´Seinsgrund` nennt, ein tiefstes, anhaltendes Gefühl des Stehens auf einem größeren Grund, worin sich der Mensch letztlich gehalten fühlt. Es ist wie ein Aufgehoben-Sein in jedem Fall. 79

77 Tillich Mut zum Sein, 35f

78 Längle A. Vertrauen – Mut oder Selbstaufgabe, 94 79 Längle A. Methode oder Spiritualität, 10

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Alfried Längle beschreibt dies als die „ontologische Grunderfahrung, dass da immer etwas ist, das Halt gibt und das größer ist als man selbst – eine Welt, eine Ordnung, ein Kosmos, ein Nichts, ein Gott. Der Seinsgrund vermittelt das Gefühl: „Wenn das Angstmachende anhält, so kann ich es annehmen, sogar wenn ich daran sterbe, weil ich mich letztlich aufgehoben fühle“.80

Existenzanalytisch gesehen ist der Seinsgrund somit ein psychisch fassbares und erlebbares Phänomen. Wenn der Mensch dieses fühlen und erspüren kann, bekommt er den nötigen Mut, allen möglichen Formen der Angst begegnen, aushalten und mit ihnen umgehen zu können, ohne hilflos ausgeliefert zu sein.

Gleichzeitig ist dieser Seinsgrund, den Tillich philosophisch als Grund des Seins, als Sinn des Seins oder theologisch als Gott bezeichnet, das was nicht nur da ist, sondern mehr noch, was ihn als Unbedingtes angeht, ihn aktiv ergreift.81

Es ist jenes Gegenüber des Menschen, das ihn über ein Ahnen hinaus in ein Staunen und damit vor eine grundsätzliche Entscheidung führt:

„Sagst du nicht nur für diese Situation, sondern grundsätzlich Ja oder Nein, öffnest du dich oder verschließt du dich vor mir dem Grund deines Seins, damit ich in all deinen existentiellen Situationen Quelle des Mutes zum Sein sein kann. Sagst du Ja oder Nein dazu, dass du grundsätzlich bejaht bist?“ 2. Das Ja zum Leben Dass der Mensch Nähe, Zeit und Beziehung braucht, um das Leben in seiner Qualität erfahren und es mögen und lieben zu können, wurde im Blick auf die Bejahung des Lebens schon erwähnt. Wirklich beheimatet ist der Mensch existentiell erst, wenn er spürt, dass sein Leben Wert hat.82

Fehlt ihm dieses so kommt Kälte, Interesselosigkeit und Leblosigkeit auf.

Ich erinnere an die von Paul Tillich beschriebene Angst der Zufälligkeit des Kausalzusammenhangs, d.h. die Tatsache, nicht in, von und durch sich selbst zu sein, nicht ´Aseität`83

zu haben, welche die Theologie traditionsgemäß Gott beilegt. Der Mensch besitzt keine eigene Macht, ins Sein zu kommen, sondern er ist ins Sein geworfen, er ist zufällig in das Gewebe kausaler Beziehungen hineingestellt. Ist dies alles zufällig, wird er sich fragen, ob es überhaupt von Interesse ist, ob und wie er da ist, wie er mit der Welt in Beziehung geht.

Gibt es einen Mut zum Sein, einen Mut, mein Leben trotzdem zu bejahen? Es bräuchte etwas das mir das Gefühl geben könnte trotzdem wert zu sein? Käme mir da ein Gefühl von ´Gleichgültigsein` entgegen oder ein ´es ist gut, dass es dich gibt`? In der EA geht es hierbei um eine innerste Beziehung zum eigenen Leben, um ein Berührtsein mit dem Sein. Nötig ist dabei eine Offenheit, ein Hineinhören und hineinfühlen in sich selbst, um den ´Wert des Lebens an sich`84

80 Längel A. ebd.

zu erahnen. Was

81 Tillich ST III, 155 82 Längle A. Methode oder Spiritualität, 11 83 Tillich ST III, 230 84 Längle A. Methode oder Spiritualität, 12

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sich in der Tiefe des Spürens einstellt, ist eine Ahnung des Wertes, den das Leben als solches hat. Alfried Längle beschreibt diesen ´Grundwert` als jenen grundlegenden Wert, der sich in allen Werterfahrungen wiederspiegelt.85 „In der Erfahrung des Wertes des Lebens erfahren wir wieder etwas, was uns übersteigt, erfahren wir, dass dieser Wert nicht von uns abhängt und nicht von uns gemacht ist, sondern uns zukommt. Wir entdecken ihn, staunend vielleicht, schmerzlich berührt oder still, dankbar.“86

Christoph Kolbe weist darauf hin, dass ein Mensch der diese Erfahrung nicht – bewusst oder unbewusst – in sich trägt, ständig darum bemüht sein wird, sein Leben sichern zu müssen. Wo jedoch der Versuch vorliegt, etwas besitzen, etwas haben zu wollen, ist es nicht möglich, zu diesem ´Seinserlebnis` zu kommen.

Die Folge ist, dass ein Mensch durch diese Erfahrung spüren kann: ´es ist gut dass es mich gibt`!

87

Theologisch gesprochen liegt der Grund für dieses Ja zum Leben nach Paul Tillich im Ursprung des Glaubens als ein Gewahrwerden des Unendlichen in einem unmittelbaren, personhaften und zentralen Akt. Demzufolge ist im Menschen selbst ein Element der Unendlichkeit, des Seinsgrundes vorhanden, das ein Erfassen des Unbedingten in ihm überhaupt erst ermöglicht.88

Dazu ist es nötig, nicht an der Oberfläche der Wirklichkeit haften zu bleiben, sondern die Dimension ihrer Tiefe zu erfassen und sich vom Grund des Seins ergreifen zu lassen. Dies ist die innere Bewegung eines gläubigen Menschen, der im Grund des Seins die Voraussetzung zur Selbstbejahung und den Zugang zur Quelle des Mutes zum Sein findet.

3. Das Ja zur Person Um dieses Ja zu sich selbst sprechen und den eigenen Selbstwert erfahren zu können auf dem die Authentizität des eigenen Handelns und Seins gründet braucht es wie oben schon ausgeführt – Beachtung, Wertschätzung und Rechtfertigung. Wenn der Mensch keine Wertschätzung und Rechtfertigung für das Eigene aufbringen kann entsteht Einsamkeit, sich Verstecken oder als entgegengesetzte Bewegung auch hystrionisches Verhalten. Tillich spricht in diesem Zusammenhang mit des Menschen Sein, das ihm nicht nur gegeben, sondern auch aufgegeben ist, von der Angst vor dem schuldig werden, im Sinne von sich und anderen etwas schuldig bleiben.89

Seine Freiheit erlaubt es ihm, seinem essentiellen Wesen zu widersprechen, d.h. seine Bestimmung zu verfehlen. Hieraus entspringt die Angst vor Schuld und Selbstverwerfung.

Um das ´Eigene` überhaupt erst zu finden richtet die Existenzanalyse den Blick zunächst darauf, sich überhaupt erst in Empfang zu nehmen und sich als ein sich selbst Anvertrauter zu verstehen.90

Der Mensch ist sich selbst gegeben, er ist verantwortlich für sich selbst und muss deshalb sorgsam mit sich selbst umgehen.

85 ebd. 86 ebd. 87 Kolbe, Psychotherapie und Religion 8 88 Schlüssler, 130 89 Tillich, GW XI, 123 90 Längle, Methode oder Spiritualität, 13

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„In der Tiefe steht der Mensch vor sich selbst als einer Unfasslichkeit: Wer ist dieses ´Ich`? ... Dem Grund meines Ichs nähere ich mich an, wenn ich in mich hineinhöre, still werde und merke, dass sich in mir immer wieder etwas zu Wort meldet“.91 Alfried Längle spricht von dem „´Geheimnis` vor dem wir stehen, vor dem unfasslichen, zu dem wir in einem intimen Kontakt stehen. Denn nichts ist uns näher als unser Innerstes, als unsere Identität, als unser Ich – und doch erleben wir es in der Tiefe als etwas, das uns zufließt, das sich unserer Verfügungsgewalt zwar entzieht, aber das in uns zur Erscheinung kommt und auf das wir uns beziehen können.“ 92

Hierbei geht es existenzanalytisch gesehen wieder um ein Erleben und ein Erfahren über das Geheimnis des eigenen Ichs, dessen Herkunft und Freiheit. Dies kann in ein Ahnen und Staunen führen, was theologisch als Brücke zum Glauben verstanden werden kann. Neben einem dankbaren Staunen darüber, was in ihm und zu ihm spricht, kann es gleichzeitig zu einer Angst und einem Schuldgefühl kommen, weil er dem was er geschaut hat im Blick auf sein konkretes Leben nicht immer gerecht werden wird. 93

Dieser Angst kann er vor allem durch den ´Mut des Vertrauens` begegnen, der es ihm ermöglicht, sich trotz der Angst vor Schuld zu bejahen. Dieser Mut wurzelt in der persönlichen, totalen und unmittelbaren Gewissheit von der göttlichen Vergebung; es ist der Mut, sich trotz seiner Unannehmbarkeit als angenommen anzunehmen.94

4. Das Ja zum Sinn Wie schon oben erwähnt entsteht durch des Menschen Zuwendung zur Welt, der er mit Offenheit für ihre Möglichkeiten begegnet, der grunddialogische Charakter seiner menschlichen Existenz. Seine Aufgabe ist es in diesem Dialog mit der Welt sein Gerufensein, seinen Auftrag, das wofür er geboren, geschaffen ist und wo er jetzt benötigt wird, zu verwirklichen. Um die Frage wofür es gut ist dazusein, zu beantworten braucht es nach Alfried Längle ein Tätigkeitsfeld, einen Strukturzusammenhang und einen Wert in der Zukunft. 95

Der einzelne steht vor der Frage, ob es etwas gibt, wo er produktiv sein kann und gebraucht wird? Gibt es einen größeren Zusammenhang, der seinem Leben Struktur und Orientierung gibt und den er erlebt und sieht? Und was soll in seinem Leben noch werden, gibt es da etwas?

Fehlt ihm dies so entsteht das was Frankl ´existentielle Frustration` oder ´existentielles Vakuum` nennt.96

Tillich unterscheidet wie schon erwähnt von der Angst vor einer ´absoluten Sinnlosigkeit` die Angst vor der ´relativen Leere`.97

91 ebd.

92 ebd. 14 93 Tillich, ST I, 237 94 Tillich, GW XI, 123 95 Längle A., Methode oder Spiritualität, 14 96 Frankl, ÄS, 83

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Die Gefahr besteht darin, dass ein Mensch sich von allen konkreten Inhalten abwendet und nur noch in einem letzten Gesamtsinn Orientierung und Halt sucht.98

Alfried Längle unterscheidet in der EA zwischen existentiellem und ontologischem Sinn.99 Hat Frankl den Sinn als eine ´Möglichkeit vor dem Hintergrund der Wirklichkeit`100 definiert, so ist der existentielle Sinn für die neuere Existenzanalyse die ´wertvollste Möglichkeit der Situation`101, der durch die Wechselwirkung zwischen dem erlebenden, fühlenden, leidenden Ich und seiner Welt entsteht. Er ist das, was hier und jetzt im Blick auf die Realität für mich möglich ist und sich als das Dringlichste, Wertvollste oder Interessanteste erweist.102 Der Sinn entsteht indem sich der Mensch auf einen dieser Werte einlässt. „Existentieller Sinn ist biographisch das, woran sich die Person in ihrer höchsten Entfaltungsmöglichkeit entdecken kann. Hier könnte eine Brücke hinüber zum ontologischen Sinn liegen: durch den Vollzug des existentiellen Sinns stößt der Mensch im Laufe seines Lebens zum ontologischen Sinn seiner Existenz vor.“103

Der ontologische Sinn ist schon vorhanden und zwar unabhängig vom Menschen und was er daraus zu machen im Stande ist. Es ist der Sinn des Ganzen, in dem der Mensch steht, und nach dem er fragen und den er bezweifeln kann. Die ontologische Sinnfrage ist „beseelt von einem Staunen vor der Unfasslichkeit und einem Ahnen, dass alles in diesem Kosmos in einem Zusammenhang stehen muss. Was der Mensch davon zu fassen bekommt, ist lediglich die Frage.“ 104

Die EA weiß um die absolute Dimension der Sinnfrage, kann und will aber keine theologische oder philosophische Antwort geben.

Als Theologe und Philosoph beschreibt es Paul Tillich als die wichtigste Frage in der Suche nach dem Mut zum Sein, die den Menschen aufgrund der Erfahrung der Sinnlosigkeit und des Zweifels herausfordert: „Wie ist Mut zum Sein möglich, wenn ...das Leben so sinnlos ist wie der Tod, und die Vollkommenheit so fragwürdig wie die Schuld, wenn das Sein nicht sinnvoller ist als das Nichtsein, worauf kann sich dann der Mut zum Sein gründen?“105

Es ist Tillich zufolge nicht ratsam, einem Menschen, der in solch radikaler Weise an allem zweifelt, einfach eine religiöse Antwort zu geben, ihn unvermittelt mit dem Zeugnis der biblischen Botschaft oder der Tradition zu konfrontieren. Die Antwort, die einem solchen radikalen Zweifler gegeben werden soll, muss innerhalb seiner Situation liegen; das einzige aber, das er in seiner Situation noch bejaht, ist der Akt seines Zweifelns selber. „In dieser Situation ist der Sinn des Lebens auf den Zweifel an dem Sinn des Lebens reduziert. Aber da dieser Zweifel selbst ein Akt des Lebens ist, ist er etwas Positives, trotz seines negativen Inhalts, denn das Paradoxe in jeder radikalen Negation ist, dass sie sich als lebendigen Akt bejahen muss, um imstande zu sein, radikal zu verneinen“.

106

97 Tillich, GW XI, 43

Dennoch stellt sich die Frage, woher der Mut rührt,

98 ebd. 99 Längle A., EA 2/94,15-20 Sinnglaube oder Sinn-Gespür 100 Frankl, ÄS, 255 101 Längle A., EA 2/94,17 102 Längle A., Methode oder Spiritualität 15 103 Längle A., EA 2/94, 18 104 Längle A., Personale Existenzanalyse,179 105 Tillich GW XI, 123 106 ebd. 130

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diese Verzweiflung auf sich zu nehmen; worin hat er sein Fundament? „Es ist das Ergriffensein von der Macht des Seins trotz der überwältigenden Erfahrung des Nichtseins. Selbst in den Augenblicken, in denen wir am Sinn verzweifeln, bejaht sich der Sinn durch uns. Der Akt, in dem wir Sinnlosigkeit auf uns nehmen, ist ein sinnvoller Akt: er ist ein Akt des Glaubens... Gerade dort, wo der Mensch die Drohung des Nichtseins und der Sinnlosigkeit am tiefsten und radikalsten erfährt, erfährt er sich als ergriffen und gehalten von der Macht des Seins und Sinns. Er weiß sich jetzt in seinem Sein vom Sein-Selbst bejaht und kann sich daher auch selbst bejahen. Und dieses ´Gewahrwerden` der Partizipation an der Macht des Seins-Selbst ist die Basis für seinen Mut.“107

In den vorausgehenden vier Ausführungen zu den Grundbedingungen erfüllter Existenz sind wir jeweils an einer Grenze angelangt, an der die Grundbedingungen letztlich in einen transzendentalen Bezug übergehen, der psychologisch-subjektiv fühlend erahnt werden kann: Es war erstens jenes Ahnen eines umfassenden Gehaltenseins, zweitens eines Wertes, den das Leben als solches hat, drittens ein Staunen, das uns unser Selbst als Geheimnis erahnen lässt und viertens ein staunendes Ahnen, dass alles in diesem Kosmos in einem Zusammenhang stehen muss. „Diesen fühlend-ahnenden Bezug herzustellen stellt eine Vertiefung existenzanalytischer Arbeit dar, weil erst dann die Voraussetzungen für den inneren wie äußeren Dialog verankert sind: für den Weltbezug, für den Lebensbezug, für den Selbstbezug und für den Zukunftsbezug. In diesen Dimensionen in einem offenen Austausch zu stehen ist Grundlage seelischer Gesundheit und existentieller Erfüllung.“ 108

Dies könnte Psychotherapie und Religion ermutigen selbst in einen offenen Austausch zu treten und diesen trotz unterschiedlicher Zugänge zum Menschen für den Patienten und Hilfesuchenden fruchtbar werden zu lassen. Den möglichen Bereicherungen beider Fachbereiche soll nun im letzten Kapitel nachgegangen werden. E) Konsequenzen 1. Zusammenwirken und Grenze zwischen Psychotherapie und Religion Keine Psychotherapie oder Religion wird dem Menschen seine Grenzsituationen, die oben beschrieben wurden bezüglich seiner Endlichkeit, seines Schicksals, der Erfahrung von Schuld und Sinnlosigkeit ersparen können. Es sind Grenzsituationen die wir an sich nicht ändern können, aber zu deren Einstellung und Umgang Psychotherapie und Religion so beitragen können, dass sie nicht verschleiert oder verdrängt werden müssen.

107 Tillich, GW II, 134 108 Längle A. Methode und Spiritualität, 7

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Dabei ist darauf zu achten, dass der Therapeut der existenzanalytisch arbeitet, auf dem Boden der Therapie bleibt. Frankl lehnt jede Vermischung und auch die Versuche, die Logotherapie in religiöse Interessen einzuspannen, ab. „Jede Kontamination dieser beiden Bereiche, die zwar im Effekt einander decken mögen, je ihrer Intention nach einander aber fremd sind, ist grundsätzlich abzulehnen.“ 109

Dennoch ist es möglich, die heilende Wirkung des Glaubens eines Patienten zu bergen und sie für ihn zur Geltung zu bringen.

Es wäre nun naheliegend im Umkehrschluss zu sagen dass auch die Religion auf dem Boden der Religion bleiben müsse, und sich wie Frankl sagt nur um das Seelenheil zu kümmern.110

Doch nur um das Seelenheil geht es in der christlichen Religion nicht, die sich auf Jesus Christus beruft, der im Glauben der Christen nicht nur Gott, sondern durch seine Fleischwerdung zugleich Mensch war (Joh 1,1-15).

Die Tatsache, dass Jesus von Nazareth ein wirklicher Mensch war, ist für das Neue Testament eine selbstverständliche Voraussetzung. Völlig selbstverständlich wird berichtet, dass er von einer menschlichen Mutter geboren wurde, dass er herangewachsen ist, Hunger, Durst, Müdigkeit, Freude, Trauer, Liebe Zorn, Mühen, Schmerzen, Gottverlassenheit und schließlich den Tod erfahren hat. Die Wirklichkeit der leibhaften Existenz Jesu ist im Neuen Testament eine undiskutierte, schlicht vorausgesetzte Tatsache. 111 Ebenso klar ist die Aussage im Neuen Testament, dass sich in diesem Menschen Gott der Welt geoffenbart hat. ´Wer mich sieht sieht den Vater` (Joh 14,9). Damit erfährt menschliches Dasein göttliche Aufwertung, Gott selbst ist in einem Menschen gegenwärtig. Im 2. Vatikanischen Konzil bestätigt die katholische Kirche diese göttliche Aufwertung und überträgt sie auf alle Menschen: „Da in Jesus Christus die menschliche Natur angenommen wurde, ist sie dadurch auch schon in uns zu einer erhabenen Würde erhöht worden.“112

Auf diesem Hintergrund dürfen wir Jesu Wirken und seine Botschaft verstehen, in der er sich den Menschen gerade in ihren existentiellen Fragen zuwendet. Dabei geht es ihm keineswegs nur um den ´Himmel`, sondern um den einzelnen Menschen in seiner jeweiligen Lebenssituation auf der Erde. In seinem Wirken und Reden verkündet Jesus jenen Gott, der sich beim Auszug des Volkes Israel aus Ägypten als anwesend gezeigt hat, als einer der ´da ist` und sich den Menschen in ihren Nöten zuwendet (Ex 3,13-15). Es ist demnach kein Gott, der die Menschen nur auf ein Jenseits vertröstet. Gemäß den Schriften des Neuen Testaments war Jesus ständig im Einsatz für das körperliche und seelische Heil der Menschen (Mt 4, 23-24; Lk 6, 17-19) und ebenso für ein wertschätzendes Miteinander hier auf Erden (Mk 12,28-31). Somit ist es naheliegend, dass das Anliegen der christlichen Religion auch ein erfülltes und geglücktes Menschsein ist, in dem sie Körper, Psyche und Geist des Menschen ernst zu nehmen hat.

109 Frankl, Der unbewusste Gott, 55-59 110 Frankl, ÄS, 218 - 220 111 Kasper, Jesus der Christus, 231 112 Rahner, Vat II, Gaudium et spes, 22

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Dennoch braucht es eine eindeutige Vorgehensweise: Psychotherapie oder Geistliche Begleitung. Falls es unklar werden könnte bräuchte es eine klare Absprache bezüglich des gemeinsamen Vorgehens. Kommt beispielsweise ein Patient zu einem gläubigen Therapeuten, der ihn bewusst wegen seines Glaubens aussucht, so ist die Frage angebracht, was dies für den Patienten bedeute, warum ihm das wichtig sei? Im Blick auf eine mögliche verletzte kirchliche Vergangenheit wird er sagen können, dass er jemand brauche, der das versteht, ohne gleich alles in Frage zu stellen oder abzulehnen, was ihm wichtig war und ist. Das Verständnis auf das der Patient stoßen möchte, kann der gläubige Therapeut leisten, nicht aber eine theologische Auseinandersetzung über Inhalte des Glaubens, diese müsste er mit einem Seelsorger führen. Der geistliche Begleiter kann aus seinem christlichen Hintergrund und seinem Menschenbild ressourcenorientiert Anleitung zur Selbsthilfe geben und die Person auch mithilfe der Glaubenserfahrungen stärken, um die Probleme und Lebensthemen angehen zu können. Geht es aber um Heilung einer psychischen Krankheit wird er auf den Psychotherapeuten verweisen müssen. Auch wenn es da klare Zuständigkeiten und Grenzen braucht ist es hilfreich, wenn der Theologe und der Psychotherapeut über den Tellerrand blickend vom anderen Ansatz profitieren kann. 2. Impulse der Psychotherapie für die Seelsorge a) Das Hinschauen und der Erfahrungsbezug des Glaubens Der erste Beitrag der Psychotherapie für die Seelsorge ist das ruhige offene Hinschauen ohne Eile und ohne gleich Bezug zu Gott nehmen zu müssen. Es braucht Ruhe und Zeit, gewissermaßen eine Verlangsamung, um jenen oben beschriebenen fühlend-ahnenden Bezug entstehen zu lassen, der für den äußeren wie inneren Dialog wesentlich ist. Der Seelsorger kann dadurch erkennen, dass das Gesundmachende und Heilende nicht unvermittelt und direkt in der Bibel, in der Kirche oder in unseren Tugenden zu finden ist, sondern in uns selbst. Gott - so ahnt der Seelsorger - spricht durch unsere Gedanken und Gefühle, durch unseren Leib, unsere Träume und gerade auch durch unsere Wunden und unser vermeintliches Nichtkönnen. Das wahre Gebet steigt aus der Tiefe unserer Not empor und nicht aus unserer Tugend. Es geht um einen Weg der Demut, einen Mut zu dem was ist. Das lateinische Wort für Demut, ´humilitas` hat mit Humus, mit Erde zu tun. Es meint das Aussöhnen mit unserer Erdhaftigkeit, mit der Schwere unserer Existenz, mit unserer Triebwelt und unseren Schatten. Religiöses Erleben darf nicht abgehoben von dieser Wirklichkeit stattfinden, sonst ist es in der Gefahr, sich funktionalisieren zu lassen und mit dem Leben nichts mehr zu tun zu haben.

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Der Erfahrungsbezug von Glaube kann gegenüber der reinen Verkündigung in den Vordergrund treten, sodass es weniger um die zu vermittelnden Glaubensinhalte als vielmehr um ein Durchdringen der Gegebenheiten der Existenz geht, welche die Fähigkeit des sich berühren Lassens von dem was den Menschen angeht zur Vorraussetzung hat. So kann Spiritualität als eine erlebende, geistige Offenheit verstanden werden, eine Größe, die ihn in allen vier Grundbezügen übersteigt und „die er als Ursprünglichkeit für das eigene Personsein und für die eigene Existenz empfinden kann und in der er seine letzte Geborgenheit spürt.“113

Seelsorge wird somit durch die Existenzanalyse ermutigt, sich dieser Sorge des Erschließens der geistigen Zusammenhänge im Erleben und Leben anzunehmen und zwar in dem Tempo, welches dem Hilfesuchenden entspricht.

Wird der Bezug zu Gott zu schnell und ohne diesen Erfahrungshintergrund hergestellt, kann er zu einer falschen Selbstberuhigung führen. So kann es geschehen, dass sich ein Gläubiger im Gebet oder der Meditation ganz auf Gott einlassen kann, aber kein einziges Problem im Blick auf sich selbst und seine Mitwelt dabei gelöst wird, welches eigentlich anzugehen wäre.

b) Auseinandersetzung mit Kriterien für einen gesunden Glauben Auch der Glaube insgesamt kann, wie oben beschrieben als ´funktionalisierter Glaube` im Dienst einer anderen Sache, missbraucht werden. Dazu ist ein kritischer Blick des Seelsorgers erforderlich, um erkennen zu können, dass der Glaube auch in einer wenig förderlichen, sogar schädlichen Weise praktiziert werden kann. Der Seelsorger darf die Auseinandersetzung über das Hinderliche des Glaubens nicht scheuen, und muss bestrebt sein, das Gesunde am Glauben zu bergen und zu stärken. Dabei sind Fragen im Blick auf die vier Grundmotivationen hilfreich: Wird des Patienten Vertrauen ins Leben durch seinen Glauben so gestärkt, dass er sich seinen Unsicherheiten und Ängsten stellen kann, oder ist es ein Glaube der mithilfe der Angst arbeitet und ihm damit nicht dienlich ist. Macht ihn sein Glaube offen für das Leben mit seinen Möglichkeiten, um es so lebenswert zu empfinden. Oder macht ihn sein Glaube eher Angst und eng, weil er mehr von einem ´du sollst` geprägt ist, als ´du darfst`? Darf er im Glauben zu seinem Eigenen stehen und so sein, wie er mit seinen Stärken und Schwächen geworden ist, oder vermittelt er ihm ständig, dass er eigentlich ganz anders sein müsste. Führt der Glaube zu einem sinnvollen Ganzen, ermutigt er auf die Anfrage des Lebens zu antworten oder bringt er ihn in passives Abwarten? Solche Fragen darf selbst ein Seelsorger mit einem gläubigen Ratsuchenden in dialogischer Weise bearbeiten. Über diese und ähnliche Fragen wird er zu einer eigenen und nicht einfach übernommenen Stellungnahme ermutigt. Dabei wird ihm

113 Längle A. Methode oder Spiritualität, 16

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deutlich, was von dessen Glauben sein Ja zum Leben stärkt und was davon ein eigenständig authentisches Leben verhindert, bzw. ihn sogar krank macht. c) Stellungnahme So sehr manch ein Ratsuchender gerne eine klare und eindeutige Antwort eines Seelsorgers oder eines Therapeuten auf seine Lebenssituation hätte, um so weniger darf ihm seine eigene Verantwortung abgenommen werden. Die Psychotherapie übernimmt nicht des Patienten Positionsfindung, sie weigert sich ein Instrument der Herrschaftsausübung zu sein, indem sie ihm Entscheidungen abnimmt und neue Abhängigkeiten schafft. Der Ratsuchende wird demnach ermutigt selbst Stellung zu beziehen, niemand übernimmt sie an seiner Stelle, weder eine Mutter, noch ein Gruppenleiter oder der Seelsorger, eben auch keine Mutter Kirche, jetzt ist er gefordert sich selber in Ruhe zu positionieren. Dazu gehört viel Vertrauen, zu dem sich ein Seelsorger von einem Therapeuten ermutigen lassen kann. Dies führt zum nächsten Bereich, dem Respekt, der dem Ratsuchenden entgegengebracht werden muss. d) Respekt Der Seelsorger wird ermutigt, das was vom Ratsuchenden kommt zu respektieren, was kommt darf sein und muss nicht bewertet werden. Damit wird der Seelsorger freier, kann einfach da sein mit seiner Person bei dieser Person und darf sich als Gast fühlen, den ein Gastgeber in seine Zimmer führt und auch Verborgenes anvertraut, dem er wiederum Achtung entgegen zu bringen hat. Dass dies seiner sonstigen Botschaft eines annehmenden und liebenden Gottes entspricht, die er auch auf seine seelsorgliche Tätigkeit anwenden kann, ist naheliegend. 3. Impulse der Seelsorge für die Psychotherapie a) Ganzheitlichkeit und der Glaube Die Existenzanalyse die den Menschen als Einheit zwischen seiner physischen, psychischen und geistigen Dimension sieht, wird auch seine religiöse Dimension nicht abspalten dürfen, da sie zumindest als Möglichkeit zu seiner Ganzheitlichkeit gehört. Ein Psychotherapeut mit diesem ganzheitlichen Ansatz wird dem Glauben eines Patienten genauso phänomenologisch begegnen, wie er es bei anderen Phänomenen des Patienten auch tut, ohne ihn gleich zum Seelsorger wegzuschicken. Allerdings geht es dabei nicht um Inhalte des Glaubens im Sinne davon was zu glauben ist, als vielmehr welche Wirkung diese oder jene Art zu glauben auf sein Leben hat. Der Glaube soll dort zum Thema werden, wo er zum Wesen der Person gehört. Der Glaube kann der Zugang zur verstellten Person des Patienten sein.

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Dabei ist zu berücksichtigen dass der Glaube nicht als ein feststehender zu behandelnder Block ist, als vielmehr als Glaubensweg zu verstehen ist. Der Glaube kann noch zart und entwicklungsbedürftig sein, in ihm liegt eine Dynamik mit Suchen und Fragen, Zweifeln und Krisen, aber auch ein Finden von authentischem Leben. Der Therapeut muss differenzieren können zwischen dem Wertvollen und Stimmigen des Glaubens und den möglichen krankmachenden Faktoren: Stellen wir uns einen begabten Studenten vor, der seine Abschlussarbeit zu verfassen hat, und wie er es von sich gewohnt ist eine gute Arbeit schreiben will. Aus irgendeinem Grund schafft er es aber nicht auch nur eine Zeile aufs Papier zu bringen. Die Bücher, die er ausleiht, liest er und bringt sie wieder zurück, alles kreist um ein Perfektionsideal. Im Hintergrund steht sein eigener Vater, dem alles, was sein Sohn tut, nie genug sein wird. Er wird ihm zum wiederholten Male sagen, dass er es nicht schafft. Dieses Abhängigkeitsverhältnis von der elterlichen Autorität kann bis ins Herz der Religion gehen. Ein Auge ist da, das alles sieht und überall auf Sünde und Unvermögen Ausschau hält. Kann sich ein Mensch mit solch einer Prägung noch ins Leben trauen? Ist es da nicht besser gar nichts mehr zu machen, als irgendetwas falsch zu machen und zu riskieren bestraft oder nicht genügend honoriert zu werden? Therapie und Religion können sich hier ergänzen, um Leben zu ermöglichen, wie es von einem barmherzigen und liebenden Gott und einem verständnisvollen stärkenden Vater oder einer liebenden Mutter zu erwarten wäre. Handelt es sich um einen gläubigen Patienten so wird er sich sträuben seinen Glauben insgesamt aufzugeben. Ihn aber bezüglich Fehlformen zu hinterfragen und weiterzuentwickeln wird eher möglich und für einen neuen Umgang und Haltung sich selbst gegenüber sogar hilfreich sein: Dabei kann die biblische Geschichte des barmherzigen Vaters (Lukas 15, 11-32) hinzugezogen werden, der seinen Sohn nach einigen Vergehen herzlich in die Arme nimmt und ihn trotz seiner Schuld wieder bei sich aufnimmt. Über die Realität davon in seiner Familie weit entfernt zu sein und die Sehnsucht gerne einen solchen Vater gehabt zu haben, kann ein Trauerprozess in Gang kommen, der es ihm nach und nach ermöglicht anders mit sich und seiner Angst vor Versagen umzugehen. Christian Probst schreibt im Blick auf ein solches Angsterleben, dass es die Bereitschaft braucht, die eigene Unzulänglichkeit und Begrenztheit anzuerkennen und anzunehmen. „Nur in dieser Haltung kann die Person sich selbst wirklich in Empfang nehmen, so wie sie ist. Diese Haltung braucht Mut. Mut sich selbst zu begegnen, in Beziehung zu sich selbst zu treten, die eigene Verletzbarkeit, den Schmerz, der durch die Bedrohung entsteht und Angst auslöst, anzunehmen und darin die Begrenztheit des eigenen Seins in der Haltung der Demut zuzulassen.“114

Zu diesem Mut kann ihn diese Geschichte vom barmherzigen Vater und den damit zusammenhängenden weiteren Erfahrungen ein wichtiger Impuls sein, um nicht nur leichter mit seiner Angst umgehen zu können, sondern um auch die ersten Schritte zu einem authentischeren Leben zu gehen!

114 Probst, EA 2/03, 46

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b) Kritisches Anfragen und Stellungnahmen: Es ist naheliegend zu fragen, ob es für einen Psychotherapeuten, der seinem Fachbereich treu sein möchte überhaupt erlaubt sei, zusätzliches Material wie diese biblische Geschichte oder anderes ins Spiel zu bringen, was über seinen sonstigen Ansatz hinausreicht? Die Seelsorge als verkündigende Seelsorge geht diesen Schritt selbstverständlich, indem sie auf die verkündigende, auch konfrontierende und nicht nur auf die begegnende Kraft ihrer Botschaft vertraut. Sie schafft damit bewusst eine Spannung zwischen dem wie etwas ist und was daraus noch werden kann, zwischen Sein und Sollen. Hilfe geschieht demnach nicht nur durch Hinwendung, sondern durch eine ´Konstruktive Störung`, die durch die erzeugte Spannung die Auseinandersetzung und somit einen Entwicklungsschub ermöglicht. Sie kommt damit dem Leiden des modernen Menschen entgegen, der sich heute einer Multioptionsgesellschaft mit einer unheimlichen Freiheit, Offenheit und Orientierungslosigkeit ausgeliefert fühlt, dass er unter dem ´alles ist möglich` häufig überfordert ist. Eine Positionierung bzw. eine Zusage seitens des Seelsorgers gibt Orientierung, oder zumindest Angriffsfläche mit der es sich auseinander zu setzen gilt, um leichter unterscheiden zu lernen, was zur täglichen Informationsflut gehört und was ihn wirklich angeht. Stellen wir uns einen suizidalen Patienten vor, der seinen Therapeuten fragt, ob Gott wohl einen Selbstmord verzeihen würde. Ohne selbst Stellung zu beziehen könnte der Therapeut fragen, wie er es denn selbst sähe, oder ob er Zweifel habe und was sich hinter der Frage verberge. Kann sich der Patient auf diese Rückfragen einlassen, dann führen sie in einen hilfreichen Dialog. Kann er sich in seinem suizidalen Zustand aber auf diese Rückfragen nicht wirklich einlassen, wäre eine stellvertretende Stellungnahme des Therapeuten denkbar. Er könnte den Patienten mit einem „ich glaube eher nicht, weil ...“ zumindest über eine kritische Phase retten, bis er wieder stabiler wäre und sich der Frage des ´Nicht mehr Leben Wollens` auf andere Weise stellen könnte. Möglicherweise dürfte es die Psychotherapie auch in religiösen Dingen häufiger wagen, nachzufragen oder Position zu beziehen, um durch jene ´konstruktive Störung` einen für den weiteren Dialog förderlichen Impuls zu geben. Die Theologie ihrerseits müsste sich diesbezüglich manchmal etwas mehr zurücknehmen, um das Dialogische ihrer Vorgehensweise nicht zu gefährden. c) Anwesenheit und Halt Stellen wir uns eine Mutter vor, die abends ihr kleines Kind ins Bett bringt und etwas vorliest, den Tag nochmals durchgeht, es streichelt und dann sagt: „Hab keine Angst, ich bin bei dir, ich lass dich nicht allein“! Hinter ihrer Aussage steckt eine Zusage, der sie menschlich gesehen kaum gerecht werden kann. Die Zusage einer Anwesenheit, wie sie im Namen Gottes im Buch Exodus Kap 3,14 enthalten ist: Mose, der Gott nach seinem Namen fragt und

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danach, wie er von ihm reden soll, hört folgende Antwort: „Ich bin da, als der ich da sein werde!“ Wir könnten diese Zusage in folgender Weise verstehen: „es gibt keinen Augenblick in welchem du dich wirklich verlassen fühlen müsstest. Was immer du erleben wirst, ganz verloren, ganz einsam musst du dich nie glauben. Ich werde da sein. Immer anders, immer neu, immer lebendig.“ Diese Frau redet wie Gott zu ihrem Kind und sagt ihm etwas, das dem Kind zumindest für eine Nacht reicht, das sie selbst aber gar nicht sicher einhalten kann. Sie vertraut auf die Anwesenheit einer Kraft, die letztlich über sie hinaus ins Transzendente reicht. Dahinter steckt ein Vertrauen, das sich nicht beweisen, sondern nur erfahren lässt, damit aber auch erinnern und verheißen. Das Erfahren und Erinnern dieses ´Seinsgrundes` gehört in den Bereich der Existenzanalyse, das Verheißen der Anwesenheit von diesem ´Sein Selbst` oder von ´Gott` wie Paul Tillich es nennt, gehört in den Bereich der Religion. Ein Therapeut ist manchmal in einer ähnlichen Situation wie diese Frau: Kommt ein gläubiger Patient, dem in seiner derzeitigen Situation der Boden unter den Füssen wegzubrechen scheint, mit dem Gefühl zu ihm unter den gegebenen Bedingungen nicht sicher sein zu können, fehlt ihm der Raum zum Dasein. Wenn ihm der Boden unter den Füßen wegbricht braucht es das Vertrauen in jene Kraft, die über die des Patienten und die des Therapeuten hinausreicht. In extremen Fällen wird der Patient nur durch die Anwesenheit des Therapeuten für wenigstens eine Stunde Schutz, Raum und Halt erfahren können. Was ist, wenn er darüber hinaus weder in sein Dasein, noch in seine Beziehungen, und auch nicht in seine eigenen Fähigkeiten und sich selbst vertrauen kann? Was ist, wenn er nach der unmittelbaren Erfahrung des Getragenwerdens in der Begegnung mit dem Therapeuten beim Verlassen des Therapeuten wieder den Boden unter den Füssen weggleiten sieht? Dann darf der Therapeut im Blick auf die Ressource eines gläubigen Patienten auch das Vertrauen in die Anwesenheit Gottes ins Spiel bringen, ohne dabei den Bereich der Therapie zu verlassen. Er setzt bei dem an, was der Patient in sich trägt, das im Moment aber für ihn kaum mehr spürbar ist. Dies ist nicht als Flucht aus des Patienten realen Gegenwart zu verstehen, sondern als Brücke, um durch die Erinnerung an die Erfahrung eines Getragenwerdens nach und nach wieder im hier und jetzt, Halt suchen und erfahren zu können. Es kann die Frage sein, ob es ihm wohl gut täte beim Heimweg in eine leere Kirche zu gehen, sich dort einen Platz zu suchen und einfach dazusein; vielleicht sogar zu schauen, ob ein Dialog mit seinem Gott entstehen mag, dem er einmal vertraut habe? Der Therapeut ermutigt damit, die eigene Ressource zu nützen, die im Patienten vorhanden war oder noch vorhanden ist. Im Gebet fasst der Patient sein Anliegen in Worte, geht in einen inneren Dialog und vertraut sich damit jenem Gott an, von dem er nach christlichem Zeugnis v.a. auch durch Durststrecken hindurch Begleitung erfahren darf. Dies kann einen Halt ermöglichen, der das weitere Vorgehen im therapeutischen Prozess wesentlich unterstützt.

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4. Als Glaubender Therapeut sein a) Phänomenologische Offenheit Ein Therapeut steht häufig vor der Frage, ob er das Wesentliche erkannt hat, und wie es weitergehen soll. Als gläubiger Therapeut vertrauen zu können, dass es da jemand gibt, der noch viel weiter und tiefer sieht, ermutigt auch den Therapeuten seinen eigenen Horizont zu weiten und zu fragen: ist es wirklich so, wie ich es sehe, was übersehe ich noch, wo muss ich noch genauer hinschauen und auf mich wirken lassen? Dieser zusätzliche Blick aus einer zweiten Perspektive ermöglicht es eine fixierte Sicht- und Vorgehensweise zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. b) Glaube an das Gesunde und Liebenswerte im Menschen Immer wieder fällt es bei bestimmten Patienten schwer etwas Liebenswertes in ihnen zu sehen. Das Traurige dabei ist, dass es dem Patienten möglicherweise in seinem ganzen Umfeld so geht und er sich überall abgelehnt fühlen muss. Dazu kann die Tatsache kommen, dass es wenig Gründe gibt, an diesen Menschen noch zu glauben, weil seine Geschichte und seine Ressourcen die er mitbringt, kaum Hoffnung zulassen. Es bräuchte so etwas wie einen Kredit, etwas das sich empirisch kaum ableiten lässt. Wir können an einen solchen Menschen trotzdem noch glauben, einfach weil er ein Mensch ist und Hilfe braucht. Christoph Kolbe formuliert die These, „dass jegliche Psychotherapie – mehr oder weniger bewusst – von der Annahme ausgeht, dass es gut ist für den Menschen zu sein. ...Leben ist in seiner Kostbarkeit, seiner Werthaftigkeit gegeben. Leben ist Gabe... Die Würde des Menschen liegt in seinem Sein begründet , nicht in dem was er hat. Der Mensch ist Wert, unabhängig von seiner Begabung, seinen Fertigkeiten, seiner sozialen Stellung und auch unabhängig von seiner Gesundheit oder seiner Behinderung! Sein Sein ist der Grundwert.“115

Wir können fragen, ob das noch ohne transzendenten Bezug verstanden werden kann? Es ist wie ein unfassbarer Wert, der da einem anderen Menschen noch zugesprochen wird, einfach weil er Mensch ist. Es ist die Religion, die uns lehrt zu glauben, ein jeder Mensch sei etwas Einmaliges, hervorgegangen aus den Händen eines Schöpfers, etwas so Einzigartiges, dass es ihn geben muss. Dies ermutigt zu vertrauen, dass es in ihm einen Bereich gibt, in welchem er unzerstörbar heil und gesund ist. Mit diesem Bereich in Berührung oder fühlende Ahnung zu kommen, kann heilend wirken. Es ist der Glaube, der über das Vertrauen, dass Gott jeden Menschen liebt und Liebenswertes in ihn grundgelegt hat, einen optimistischen Blick ermöglicht, weil der Glaube an Gott den Glauben an das Gesunde und Liebenswerte eines jeden Menschen einschließt. Auch ohne Glaube an einen Gott wird ein existenzanalytisch arbeitender Therapeut dem Patienten diese Haltung eines tiefen Respekts und Wertschätzung entgegenbringen müssen, der gläubige Therapeut wird in dieser

115 Kolbe C., EA 3/95, 8

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existenzanalytischen Grundhaltung durch seinen Glauben an Gott, der jeden Menschen liebt noch mit einer zusätzlichen Basis gestärkt und motiviert. Schluss: Die Aufgabe der Psychotherapie ist nicht die Vermittlung von Glaube und Religion. Ihr gegenüber aber offen zu sein, sie als eine wichtige mögliche Dimension des Menschseins anzuerkennen und den Patienten darauf hinzuweisen bzw. das Thema anzusprechen scheint mir als Psychotherapeut und als Seelsorger eine dem Patienten offene und hilfreiche Haltung zu sein. Selbst wenn die psychotherapeutische Vorgehensweise zu Recht davon ausgehen muss, dass Haltgebende, und Mutschaffende Erfahrungen grundsätzlich für jeden Menschen, ob gläubig oder atheistisch möglich sind, so weiß sie dennoch um die Grenze, an der die Grundbedingungen erfüllter Existenz letztlich in einen transzendentalen Bezug übergehen, der psychologisch-subjektiv fühlend erahnt werden kann: es ist jenes oben beschriebene Ahnen eines umfassenden Gehaltenseins und eines Wertes, den das Leben als solches hat, jenes Staunen, das uns unser Selbst als Geheimnis erahnen lässt und ein staunendes Ahnen, dass alles in diesem Kosmos in einem Zusammenhang stehen muss. „Diesen fühlend-ahnenden Bezug herzustellen stellt eine Vertiefung existenzanalytischer Arbeit dar, weil erst dann die Voraussetzungen für den inneren wie äußeren Dialog verankert sind: für den Weltbezug, für den Lebensbezug, für den Selbstbezug und für den Zukunftsbezug. In diesen Dimensionen in einem offenen Austausch zu stehen ist Grundlage seelischer Gesundheit und existentieller Erfüllung.“116

Viktor Frankl beschreibt diesbezüglich das Bild der ´offenen Tür`: „Die Existenzanalyse hat es sich zur Aufgabe zu machen, gleichsam das Zimmer der Immanenz einzurichten - es einzurichten allerdings, ohne die Tür zur Transzendenz hierbei zu verstellen. Die Tür bleibt offen - jene Tür, durch die der Geist der Religiosität einziehen oder der religiöse Mensch hinausgehen kann in all der Spontaneität, die aller echten Religiosität eignet“.117

Die Weite und Offenheit der Logotherapie und Existenzanalyse und einer Theologie wie sie Paul Tillich vertritt, mag dazu führen, dass sich dies auch auf die Tür bzw. die Brücke zwischen Psychotherapie und Seelsorge auswirkt. Am Beispiel der Angst und dem Mut ihr zu begegnen möchte die vorliegende Arbeit dazu beitragen, dass sich Psychologie und Theologie mit gegenseitiger Wertschätzung und weniger Skepsis begegnen können. Wenn dies trotz klarer Grenzen in einem wertschätzenden Dialog ohne Angst, aber dafür mit Mut geschehen kann, wird es letztlich einem Hilfesuchenden dienen, den nötigen Mut zum eigenen Sein aufzubringen, um sich damit auf den Weg zur Erfüllung seiner menschlichen Existenz zu begeben.

116 Längle A., Methode oder Spiritualität, 7 117 Frankl, Der unbewusste Gott, 64

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