Die Aura des Alif - media.libri.demedia.libri.de/shop/coverscans/111/11132827_lprob.pdf ·...

24
des Alif Die Aura

Transcript of Die Aura des Alif - media.libri.demedia.libri.de/shop/coverscans/111/11132827_lprob.pdf ·...

des AlifDie Aura

100741 #5065_AuraAlif_s001-256_rl.indd 1 23.06.2010 18:03:52 Uhr

100741 #5065_AuraAlif_s001-256_rl.indd 2 23.06.2010 18:03:52 Uhr

München · Berlin · London · New York

des Alif schriftkunst im islamJürgen Wasim Frembgen hg.

prestel

Die Aura

100741 #5065_AuraAlif_s001-256_rl.indd 3 23.06.2010 18:03:52 Uhr

100741 #5065_AuraAlif_s001-256_rl.indd 4 23.06.2010 18:03:52 Uhr

Claudius Müller Vorwort

Jürgen Wasim Frembgen Einführung

Claus-Peter Haase Arabische Kalligraphie

Jürgen Wasim Frembgen Harmonie der Linien. Islamische Schriftkunst aus osmanischen Derwischkonventen

Karl Schlamminger Das feine Kreischen des Schreibrohrs und die Schrift des Maurers. Über Kalligraphie und islamische Architektur

Lorenz Korn Religiöse Inschriften in der islamischen Architektur

Avinoam Shalem Wenn Objekte sprechen könnten

Mohamed Rahim Arabische Grabinschriften aus dem Nahen Osten

Stefan Heidemann Kalligraphie auf islamischen Münzen

Doris Behrens-Abouseif Ein spätmamlukisches Deckelgefäss mit poetischen Inschriften

Maryam Ekhtiar Ein Inschriftenteppich aus Anatolien

Venetia Porter und Silberamulette mit Inschriften aus Iran und Afghanistan Jürgen Wasim Frembgen

Jamal J .   El ias Lastwagen-Kalligraphie in Pakistan

Jürgen Wasim Frembgen Kalligraphie in der Welt pakistanischer Sufi -Schreine

Literatur und Anmerkungen

Katalog

Danksagung

Autoren

Abbildungsnachweis

Inhalt

7

12

31

79

91

103

127

149

161

173

187

193

211

225

237

247

254

255

256

100741 #5065_AuraAlif_s001-256_rl.indd 5 23.06.2010 18:03:52 Uhr

100741 #5065_AuraAlif_s001-256_rl.indd 6 23.06.2010 18:03:52 Uhr

Im Jahre 1910 wurde die große Ausstellung „Meisterwerke muham-medanischer Kunst“ als bis dahin weltweit bedeutendste ihrer Art in München gezeigt. Es war nicht absehbar, dass dieses Ereignis noch 100 Jahre später nichts von seiner historischen Wirkung eingebüßt haben würde. Denn mit ihren Begleitkatalogen gilt diese Ausstellung als Beginn einer wissenschaftlich fundierten Auseinandersetzung Europas mit islamischer Kunst und ist bis heute Bezugspunkt für zahllose Ausstellungen geblieben. Und sei es, dass mit der aktuellen Ausstellung des Staatlichen Museums für Völkerkunde München „Die Aura des Alif“ das Thema der Schriftkunst im Islam in seiner ganzen Vielfalt aufgegri� en wird, die seinerzeit in Europa kaum be-kannt war vor allem nicht als Kunst wahrgenommen wurde. So gilt es nun, diesem komplexen Thema mit neuem Blick und durch heraus-ragende Beispiele vertieft den ihm gebührenden Raum zu geben.

Jürgen Wasim Frembgen hat mit der Wahl dieses Themas, das sich in eine Reihe von weiteren Ausstellungen und Veranstaltun-gen des Münchner Islam-Jahres 2010 einfügt, unseren westlichen Blick auf eine dem Islam zentrale und ursprüngliche Bedeutung von „Aura“ im Sinne von Hauch und Wirkkraft gelenkt. Die Vielfalt der präsentierten Artefakte – vom Gebrauchsgegenstand über Grab-steine bis hin zum Kunstwerk – spiegelt das weite Spektrum von Schriftkunst im Islam vom frühen 8. bis ins frühe 21. Jahrhundert wider, das von einfachen Mitteilungen bis zur magischen Wirkung, von religiösem Kult bis zur Kunst der Poesie reicht. Dank reicher

eigener Bestände des Münchner Museums sowie bedeutender Leihgaben weiterer Museen und privater Leihgeber konnte das Thema für den Besucher anschaulich erfahrbar und im Sinne des Wortes lesbar gemacht werden. Ein hochrangiges Expertenkollegi-um hat zahlreiche Facetten der islamischen Schriftkunst in diesem Begleitband aufbereitet und in vielen Fällen Inschriften – vor allem auch auf Kunstwerken des Münchner Museums – erstmalig ge lesen und damit ihren Bedeutungsinhalt erschlossen.

Gerade ein ethnographisches Museum ist der geeignete Ort für eine solche Ausstellung: Ist es doch die Aufgabe dieser Institution, Kultur in ihrer Gesamtheit vorzustellen, die sich aus dem sinnvollen Zusammenwirken ihrer einzelnen Artefakte und Dokumente ergibt und durch ihre schöpferische Ästhetik den Weg zur Schönheit, für die wir erst den Blick gewinnen müssen, weist. Es ist ein glückliches Zusammentre� en, dass diese Ausstellung im Staatlichen Museum für Völkerkunde München gezeigt werden kann: Erinnert sie doch an die viel beachtete Rolle Lucian Schermans, Direktor des Hauses von 1907 bis 1933, der hier – auch unter dem Eindruck der Münchner Islam-Ausstellung von 1910 – diese Grundkonzeption einer umfas-senden Präsentation von Kultur in ihrer Vielfalt realisierte.

Claudius MüllerDirektor

Staatliches Museum für Völkerkunde München

Vorwort

k i s s e n p l a t t e (Y A S T I K ) m i t s c h r i f t k a r t u s c h e nBursa oder Istanbul / Türkei; 16. Jh.

Dieses feine osmanische Seidengewebe wurde bereits im Jahre 1910 in München in der weltbekannten

Aus stellung „Meisterwerke muhammedanischer Kunst“ gezeigt. Sein Mustersystem ist aus übereinanderlie-

genden, diagonal verlaufenden Linien aufgebaut, die abwechselnd die Ausgangspunkte für Kreuzsterne und

in Quadrate eingeschriebene Oktogone bilden. Deren Zentrum wird jeweils aus einer Rosette geformt, von

der in horizontal-vertikaler oder kreisförmiger Anordnung Tulpenblüten im osmanischen Hofstil ausgehen.

Die Rosetten in der Mitte der drei Kreuzsterne stammen aus der Tradition zentralasiatischer Turkvölker.

Die umlaufende Bordüre besteht aus aneinandergereihten Kartuschen, die mit schwer lesbarer Schrift gefüllt

sind. In den nischenförmigen Abschlüssen an den beiden Schmalseiten fi nden sich abwechselnd verschie-

dene blütenständige Motive. Die Räume zwischen den gestuften Giebeln, die die zentralasiatische saf-Form

auf greifen, sind mit kleinen, jeweils aus drei Kugeln aufgebauten cintamani-Motiven verziert. Letztere haben

ihren Ursprung in einem chinesischen Macht- und Glückssymbol buddhistischer Zeit.

100741 #5065_AuraAlif_s001-256_rl.indd 7 23.06.2010 18:03:52 Uhr

Einige Hinweise zur Umschrift und Herausgabe dieses Bandes, der die gleichnamige

Sonderausstellung des Staatlichen Museums für Völkerkunde München (SMV) begleitet:

Da die in den Textbeiträgen verwendeten Fachtermini aus verschiedensten orientalischen Sprachen – auch Regionalsprachen – stammen, wurde aus Gründen der Vereinheitlichung und besseren Lesbarkeit für einen breiteren Leserkreis ein vereinfachtes System der Umschrift gewählt. Sofern nicht eingedeutscht, sind Eigennamen und Begri� e auf der Grundlage des Englischen wiedergegeben. Mit Ausnahme der Vokallängen sowie des (ayn (wie in riq(a) und hamza (wie in qur)ān) werden dabei diakritische Zeichen vermieden. Fachausdrücke sind kursiv gesetzt und zumeist klein geschrieben.

Bildlegenden von J. W. Frembgen in Zusammenarbeit mit den Autoren

Deutsche Übersetzungen der Beiträge von Shalem, Behrens-Abouseif, Ekhtiar, Porter & Frembgen und Elias durch den Herausgeber

UMSCHLAGVORDERSEITE

f l i e s e m i t d r e i a l i f s a m a n fa n g d e r b a s m a l aSyrien; 16. – 17. Jh.

Auf der aus einem Inschriftenfeld stammenden Wandfl iese steht im thuluth-Duktus der erste Teil der sog.

basmala-Formel: bismillāhi r-rahmāni r-rahīm – „Im Namen Allahs, des Allbarmherzigen, des Allerbarmers“.

Mit dieser Anrufung wird (außer Sure 9) jede Koransure eingeleitet. Eine Überlieferung des Propheten verspricht

dem Kalligraphen einer schönen basmala den Eingang ins Paradies. Bei der Gestaltung der Fliese wirken die

verlängerten vertikalen Buchstabenschäfte (Hasten) der drei Alifs, d.h. des langen Vokals ā, besonders markant.

Zur Ausbalancierung des Schriftbildes sind deren Zwischenräume mit einer an den Anfang gesetzten Arabeske

sowie diakritischen Zeichen gefüllt.

FRONTISPIZ

9 9 g o t t e s n a m e nIran; Anf. 20. Jh.

In die dekorative Form eines „Apfels der Wunscherfüllung“ sind – neben Sure 7, Vers 180 aus dem Koran

(gezacktes Blatt) und Lobpreisungen Gottes (Stiel und zentrale Kartusche) – die 99 Schönsten Namen Allahs

(asmā’ al-husnā) eingeschrieben.

RECHTS

d e ta i l a u s a b b . 2 7 : k a l l i g r a p h i e r t e s k o r a n z i ta t u n d s p r u c h ‘a l i ’ s i b n a b i ta l i bMoghulzeit, Indien; datiert 1034H / 1625 n. Chr., auf einem Albumblatt des 18. Jahrhunderts

100741 #5065_AuraAlif_s001-256_rl.indd 8 23.06.2010 18:03:52 Uhr

100741 #5065_AuraAlif_s001-256_rl.indd 9 23.06.2010 18:03:53 Uhr

„Die Reinheit der Schrift ist die Reinheit der Seele.“altarabische Redensart

„Wenn ich gewusst hätte, dass es so etwas wie die islamische Kalligraphie gibt, hätte ich nie zu malen begonnen.“Pablo Picasso

100741 #5065_AuraAlif_s001-256_rl.indd 10 23.06.2010 18:03:53 Uhr

„Wo Muslime sind, fi ndet man Kalligraphie.“Mohamed Zakariya

„Ob jemand lesen kann oder nicht, wenn er eine schöne Schrift sieht, wird er sich an ihrem Anblick erfreuen.“Qadi Ahmad, 16. Jh.

100741 #5065_AuraAlif_s001-256_rl.indd 11 23.06.2010 18:03:53 Uhr

12

Nach islamischer Überlieferung hörte der Prophet Muhammad bei seiner Begegnung mit dem Erzengel Gabriel das Wort iqra) – „lies“, „rezitiere“. Diese Au� orderung stellte den Beginn der O� enbarung dar, gab aber auch der arabischen Schrift, die sich in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten entwickelt hatte, einen entschei-denden Impuls zu ihrer weiteren Anwendung und Ausgestaltung. Im Zuge der Verbreitung der neuen Religion benutzte man die ara-bischen Buchstaben für die Sprachen der islamisierten Völker; auf diese Weise wurde die arabische Schrift geradezu zu einem Symbol des Islam. Schrift, die dazu dient, der Sprache eine sichtbare und dauerhafte Form zu verleihen, ist in muslimischen Kulturen also durch den Bezug auf die göttliche O� enbarung heilige Schrift. Der Koran ist „inlibriertes Wort“ und die Schrift Ausdruck der Schönheit des Gotteswortes. 1 Nachdem die Begleiter des Propheten diese in „reinem Arabisch“ o� enbarten Gottesworte zunächst memoriert und dann aufgeschrieben hatten, entstand im muslimischen Kul-turraum bereits seit dem 7. Jahrhundert mit Schriftkunst und Orna-mentik ein unverwechselbares visuelles System 2, das der Identität der neuen Religion Ausdruck verlieh. Eingebettet in die Sinnstruktu-ren des monotheistischen Islam wurde die arabische Schönschrift oder Kalligraphie zur „Königin der Künste“, die zugleich Form und Inhalt verkörpert. Wie die Musik, so wird auch sie in der muslimi-schen Welt bis heute meist in hoher Qualität gepfl egt.

Muslime haben daher von Kindheit an eine besondere Ver-trautheit mit der von rechts nach links geschriebenen arabischen Schrift, diese gehört zum täglichen Leben und selbstverständlichen „Sich-Zurecht-Finden“ darin. 3 Obwohl das geschriebene Wort ins-besondere im Alltag der literalen Schichten muslimischer Gesell-schaften eine wichtige Rolle spielt, so hat das Erkennen kalligra-phischer Formen doch auch in den theologiefernen volkstümlichen Kulturen der Mündlichkeit einen hohen emotionalen Wert. Für „oral people“ stellen daher anstatt des Lesens das Sehen und Fühlen der Schrift sowie das Rezitieren des heiligen Wortes besondere rituelle Formen der Verehrung dar, die baraka (Heil- und Segenskraft) ver-mitteln.4 So berühren und küssen fromme Muslime voller Ehrfurcht das heilige Buch des Korans. Entsprechend darf Gottes Wort nur von Kalligraphen geschrieben werden, die sich im Zustand rituel-ler Reinheit befi nden. 5 Auch heilige Buchstaben, die auf Wände gemalt, in Textilien gestickt, in Ton gepresst oder auf Poster und Plakate 6 gedruckt werden, sind Manifestationen dieses konkre-ten muslimischen Volksglaubens. Die Ehrerbietung gegenüber der Schrift zeigt sich ferner in „Gottesbeweisen“, die in der Natur ge-

funden werden: etwa einer Kaktee, die wie der Schriftzug Allāh ge-wachsen ist, der als Muhammad gelesenen Maserung eines Steins, dem Namen eines Sufi -Heiligen, der in fl eckigen Umrissen auf dem Fell einer Kuh erkannt wird, oder in den Äderchen von Blättern, die als Buch staben gelesen werden. 7

Die arabische Schrift und die daraus entwickelte Schriftkunst (Persisch/Urdu khattātī) sind im Islam von zentraler Bedeutung: Als Gründe dafür ist sowohl auf die weitgehende „Abwesenheit von Bil-dern“ (begründet mit bilderfeindlichen Äußerungen in den hadīth – den Überlieferungen des Propheten) hingewiesen worden, als auch auf die industrielle Herstellung von Papier, das im 8. Jahrhun-dert aus China übernommen worden war. Die hohe Wertschätzung der Kalligraphie und ihre besondere Förderung durch muslimische Herrscher wird vor allem jedoch durch ihren religiösen Charakter bestimmt, „… denn Schönschrift löst durch die künstlerisch erzielte Rhythmik im muslimischen Betrachter auch tiefgreifende religiöse Emotionen aus“, wie Alexandra Raeuber schreibt (1979: 11). Das Bedeutungs- und Orientierungssystem des Islam ist nicht zuletzt eine „semantische Kultur“, die um Worte und deren Interpreta-tion kreist. 8 Kalligraphen (khattāt) werden daher seit jeher höher angesehen als Miniaturmaler. Hier sei kritisch angemerkt, dass diese herausragende Bedeutung der Schriftkunst in der Moderne insbesondere im Bereich reformistischer und fundamentalistischer Gruppen des sunnitischen Islam zu einer hypertrophen Verehrung der nicht-bildlichen Zeichen gerierte, so als müsste die Schrift das Bild geradezu überwinden. In diesem Zusammenhang steht die fragwürdige staatlich-o� zielle Bevorzugung der Kalligraphie vor den Bildkünsten zum Beispiel unter dem diktatorischen Regime von Zia ul-Haq (1977 – 88) in Pakistan, aber auch seit der Revo-lution der schiitischen Islamisten in Iran. Auf diese Weise ist die Schriftkunst zur Konstruktion einer islamisierten kulturellen Iden-tität missbraucht worden. Ansonsten existieren Schrift und Bild in muslimischen Kulturen nebeneinander.

Islamische Epigraphie wird von der frühislamischen Zeit bis ins 21. Jahrhundert in allen Techniken und Gattungen des Kunstschaf-fens verwendet und erscheint in den verschiedensten Islam-Spra-chen, wie etwa im Arabischen, Persischen, Türkischen oder Urdu.9 Neben Pergament, Papyrus und dann Papier als hauptsächlichem Schriftträger für literarische Dokumente fi nden sich beschriftete Objekte aus Keramik, Metall, Stein, Holz, Lack, Leder, Elfenbein, Glas, textilen Sto� en und anderem Material (ABB. 1–15). Inschriften können von monumentaler Größe sein wie in den kufi schen Schrift-

Jürgen Wasim Frembgen

Einführung

100741 #5065_AuraAlif_s001-256_rl.indd 12 23.06.2010 18:03:53 Uhr

13

paneelen der Baukunst oder winzig klein, von 3 mm bis zu 1.3 mm, wie in der eigentümlichen ghubārī-„Staub“- oder „Puder“-Schrift, die Kalligraphen zunächst für Nachrichten verwendeten, die von Brieftauben befördert wurden, und mit der sie später Korane in Mi-niaturformat und schmale Amulettrollen beschrifteten (ABB. 25, 36). Die Funktionsvielfalt der Schrift bedingt, dass sie schmucklos sein und reinen Gebrauchscharakter haben kann oder – wie bei frühen prachtvollen Koranhandschriften – kostbar mit Goldschrift auf Per-gament kalligraphiert und mit feinen Verzierungen versehen wird. Schrift kann ganz für sich stehen – wie bei Büchern und kalligraphi-schen Einzelblättern – oder zu hybriden Formen von Text und Bild verschmelzen – wie in der Miniaturmalerei der Moghul, Safawiden und Osmanen sowie in der Sufi -Kunst und in schiitisch geprägten volkstümlichen „Buchstabenbildern“.

Der vorliegende Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung bietet eine umfangreiche, wenngleich nicht erschöpfende Auswahl wichtiger Themen zur Schriftkunst des Islam: von der Entwicklung der arabischen Kalligraphie und Buchkunst mit ihren verschie-denen Schriftstilen (Haase) über Inschriften in der Architektur (Korn) bis zu beweglichen Objekten der Kleinkunst, die durch ihre Inschriften zu sprechen scheinen (Shalem). Diese ausführlichen Beiträge zur muslimischen „Hochkunst“ werden durch kürzere Ausführungen zu Aspekten sufi sch geprägter spätosmanischer Schriftkunst (Frembgen) und der Sinnlichkeit des Schönschreibens (Schlamminger) sowie zu bestimmten Objektgruppen (Rahim über Grabsteine, Heidemann über Münzen) und interessanten Einzelobjekten (Behrens-Abouseif über ein spätmamlukisches Deckelgefäß, Ekhtiar über einen anatolischen Inschriftenteppich) ergänzt und vertieft. Kurze Textbausteine zu Inschriften auf einem frühislamischen tirāz-Gewebe (Helmecke, S. 39) und an einem afghanischen Heiligenschrein (Schadl, S. 125) beleuchten weitere wichtige Aspekte islamischer Schönschrift. Epigraphie und Kalli-graphie beschränken sich jedoch nicht nur auf Werke der Elite-Kunst, sondern erscheinen überall im Alltag, von der Volkskunst (Schmuck, Amulette, schiitische Gebetssiegel, Hinterglasbilder, Scherenschnitte) bis in die verschiedenen modernen Medien po-pulärer Kunstäußerungen (Farbdrucke, Briefmarken, Gra� ti, Wer-betafeln, Webseiten im Internet). Aus solchen ethnographischen Zusammenhängen werden hier beispielhaft Silberamulette mit In-schriften (Porter/Frembgen), Lastwagen-Kalligraphie (Elias) und Schriftkunst im Bereich von Sufi -Heiligenschreinen (Frembgen) näher vorgestellt.

Schrift dient primär als Medium zur Vermittlung von Informa-tion: In muslimischen Kulturen haben Texte inhaltlich zwar oft historische Bezüge (in der Kunst zum Beispiel Bauinschriften, Weiheinschriften und Signaturen) oder werden für administrative Zwecke (Kanzleischrift) und in den Wissenschaften verwendet, doch haben sie vor allem religiösen Charakter. Die meisten der hier besprochenen Inschriften zitieren Koranverse, Auszüge aus den hadīth, islamische Gebete, lobpreisende Anrufungen, Schutzfor-meln und magische Sprüche. Im Gegen satz zu Texten rein religiö-sen Inhalts stehen Verse weltlicher Liebes- und Heldenlyrik – etwa auf persischen Metallarbeiten, Texti lien oder in der Luxuskeramik –, die den populären Geschmack ihrer Zeit widerspiegeln, sowie – vor-nehmlich auf Keramik – segens mächtige gute Wünsche, moralische Aphorismen und Sprichworte beinhalten (ABB. 2, 6, 19, 20). Persische Weinschalen sind nicht selten mit Trinksprüchen und Versen vol-ler Liebesschmerz verziert. 10 Neben seiner sprachlich-inhaltlichen Bedeutung dient die Schrift im Islam aber in ihren verschiedenen Dukten insbesondere sinnlich-ästhetischer Befriedigung und damit verbundenen Repräsentationsansprüchen: Für den westlichen Be-trachter erfordert dies, seinen rational bestimmten Drang nach der klaren Lesbarkeit alles Geschriebenen und seine Orientierung auf den praktischen Nutzen von Schrift zugunsten eines sensitiven Zu-gangs zurückzustellen, der ein eher „langsames Sehen“ erfordert. Erst dadurch treten die dekorativen Elemente einer mit hohem An-spruch gestalteten Kunst horizontaler und vertikaler Linien in den Vordergrund. In diesem Sinne hat Friedrich Spuhler einmal tre� end formuliert: „Der Wortinhalt einer Kalligraphie kann nicht ihr Haupt-anliegen sein, wie wäre es sonst möglich, dass der kalligraphische Dekor der Moscheen von so vielen des Lesens unkundigen Musli-men akzeptiert und bestaunt wird. Hier ist das Wort Bild, sein Inhalt ist so unverrückbar, dass das Lesen ausbleiben darf. Er wird als Bild verinnerlicht“ (1989). So vergegenwärtigt die Kalligraphie des Ko-rans die göttliche Botschaft in ästhetisch anziehender Form, lässt Gott im schön geschriebenen Wort gegenwärtig werden, ermöglicht einen Anblick Allahs. Ebenso evozieren manche kalligraphischen Meditationen – wie etwa die hilyat-e nabī – die Präsenz des Prophe-ten. In der Sufi -Kunst spiegeln Kalligramme auf faszinierende Wei-se menschliche, tierische und gegenständliche Formen (ABB. 39–45). Kalligraphie scha� t so visuelle Begegnungen mit spiritueller Realität. Die Kunst der Schönschrift wird in diesem Sinne zu einem zentralen Ausdrucksmittel der Sakralisierung und eine Augenweide für jeden künstlerisch sensiblen Betrachter. Wirkliche Kalligraphie zielt durch

100741 #5065_AuraAlif_s001-256_rl.indd 13 23.06.2010 18:03:53 Uhr

14

Ausgewogenheit in Form, Verzierung, Ornament, Ab straktion und Farbgebung auf ihre Wirkung, ist ein aistheton, das mit den Sinnen wahrgenommen wird. „Schrift ist nicht nur elegant, sie kann auch einen Atemzug, eine Kadenz, eine Bewegung vermitteln. So enthält der Text schon eine Musik, bevor er überhaupt gelesen wird“, betont Brahim Alaoui (2004: 46). Neben ihrer Visualität und Lesbarkeit (die manchmal in stark abstrahierten Schriftkompositionen zurück-tritt und sich in Pseudoschrift verwandelt) erhält die Schönschrift eine eigene Präsenz, wenn sie – wie etwa bei reliefi erten Kalli-graphien auf Fliesen und Metall – in ihrer Materialität individuell fühlbar und greifbar wird.

Der Titel „Die Aura des Alif“, den der Herausgeber dem freund-lichen Rat von Claudia Ott verdankt, evoziert zunächst einmal den dauerhaften auratischen Charakter der Schrift im Islam, deu-tet auf ihre Präsenz in den Kunstwerken und ihr Schimmern von Bedeutungen und Assoziationen. Es sei jedoch nicht verschwie-gen, dass Gebrauchskalligraphen heute im Alltag mitunter auch recht nachlässig zu Werke gehen. Wird dies im Verbund mit den rasanten Entwicklungen des Computerzeitalters eines Tages zum Verlust dieser Aura führen? Das alif jedenfalls, der erste der 28 Buchstaben des arabischen Alphabets (der den Kalligraphen auch als Maßeinheit für die Größe und Proportionen der Schrift dient) – ausgesprochen als ein langes ā –, besitzt eine besonde-re mystische Tiefe, denn er gilt als Chi� re für Allah (siehe Titel-bild). Er wird mit dem Atem Gottes assoziiert, bevor dieser die Welt erschuf. In Gestalt eines schlanken, senkrechten Striches, der für den geraden, rechten Weg steht, hat das alif den Zahlwert Eins und ist so ein tre� endes Symbol für die Einheit und Einzigkeit Gottes.11 Nach mystischer Erkenntnis haben sich die übrigen Buch-staben aus dem alif entwickelt, so wie alle Menschen von Adam abstammen.12 Sufi s und Derwische haben daher oft über diesen Buchstaben meditiert, der für sie den Zugang zu Gott verkörpert. So bekennt Sultan Bahu (gest. 1691): „Diejenigen, die den göttlichen Geliebten in dem Buchstaben alif fi nden, brauchen den Koran zum Lesen nicht zu ö� nen“.13 Auch Bullhe Shah (1680 – 1752), ebenfalls ein ekstatischer Gottsucher aus dem Punjab, beginnt eines seiner Gedichte mit dem Vers: (ilmon bas kareñ o yār, ikko alif tere darkār – „Hör auf mit der Gelehrsamkeit, oh Freund. Du brauchst nur ein alif zum Heil“.14 Dies bedeutet, dass alles übrige Wissen von Gott ablenkt. Und der Refrain eines weiteren mystischen Liedes aus sei-nem Schreibrohr lautet: ik alif parho chutkāra ae – „Lies den ersten Buchstaben und sei frei!“.15 Von dem gleichen philosophischen Geist

beseelt, schrieb sein Zeitgenosse Shah (Abdul Latif (1686 – 1753), der große Sufi -Poet des Sindh, in „Sur Eman“ (Kapitel 5, Vers 29):

Lies den Buchstaben alif, vergiss alle übrigen Seiten, reinige dein Herz, wie lange kannst du noch Seite für Seite lesen?

Damit wollte er sagen, dass selbst ein einfacher Bauer, der nicht des Lesens und Schreibens mächtig war und daher keine theo-logischen Werke studiert hatte, Vollkommenheit erreichen konnte. Auch die Poesie des Punjabi-Mystikers Khwaja Ghulam Farid (1841 – 1901) kreist um die mystische Qualität des alif. So lau-tet der erste Vers eines seiner Lieder in Siraiki, in dem er sich an sei-nen theologischen Lehrmeister wendet: alif hiko ham bas veh miyāñ jī – „Nur ein alif genügt mir, oh Verehrter!“ 16 Der türkische Mysti-ker Yunus Emre (gest. 1320/21) resümiert schließlich: dört kitabān manası bir aliftedir – „Der Sinn der vier heiligen Bücher liegt in einem alif“.17 So ist das alif im Islam der besonders respektierte Buchstabe der göttlichen Weisheit.

ABB. 1

k o r a n e i n b a n d m i t s c h r i f tIran; zweite Hälfte 16. Jh.

Der prachtvolle Golddekor dieses Einbandes ist in Leder geprägt und von erlesener Qualität. Das Mittelfeld

mit dem zentralen Medaillon safawidischer Art ziert ein fi ligranes Netz von Arabesken. In dem Schriftband

der umlaufenden Bordüre, die kalligraphisch im naskh-Duktus mit Elementen von riq‘a gestaltet ist, werden

die Tugenden des Koranlesens gepriesen.

100741 #5065_AuraAlif_s001-256_rl.indd 14 23.06.2010 18:03:53 Uhr

100741 #5065_AuraAlif_s001-256_rl.indd 15 23.06.2010 18:03:53 Uhr

ABB. 2 (unten)

s c h a l e m i t k u f i s c h e r s c h r i f tAfrasiyab/Transoxanien oder Nishapur/Nordost-Iran; 10. oder frühes 11. Jh.

Von dem punktierten, olivgrünen Flechtband der konischen Wandung farblich deutlich abgesetzt steht auf

dem Schalenboden das Wort ‘īd („Feier“) geschrieben. Isst man etwa beim Ritus des Fastenbrechens am Ende

des Monats Ramadan eine in dieses Gefäß gefüllte Süßspeise, so wird dieser kalligraphische Schriftzug erst bei

den letzten Bissen sichtbar – eine ästhetische Erfahrung, die wohl die Festfreude verstärkt haben mag.

ABB. 3 (rechts)

r o s e n wa s s e r f l a s c h e m i t k u f i - i n s c h r i f tRay/Iran; 13. Jh.

Nach Annemarie Schimmel ist das Kufi „die liturgische Schrift par excellence“. Die abgebildete Enghals-

fl asche ist auf dem kugeligen Gefäßkörper in leichtem Relief mit einer arabischen Inschrift in verspieltem

Kufi geschmückt: baraka min Allāh kafāla min Allāh kafāla – „Gott bürgt für den Segen“. Ungewöhnlich

ist hier die Verwendung des sonst nur in juristischen Texten auftretenden Wortes kafāla („Bürgschaft“).

100741 #5065_AuraAlif_s001-256_rl.indd 16 23.06.2010 18:03:53 Uhr

100741 #5065_AuraAlif_s001-256_rl.indd 17 23.06.2010 18:03:53 Uhr

18

ABB. 4 (oben)

g e fä s s f r a g m e n t m i t m a m l u k i s c h e r s c h r i f tal-Fustat / Ägypten; 14. –15. Jh.

Das Schriftband neben dem Kelchmotiv – dem typischen Wappen eines Truchsess – beginnt

in der hybriden mamlukischen Schrift (einer Mischung aus Kufi , riq‘a und naskh) mit dem Wort ilāh,

der Rest bleibt schwer lesbar.

ABB. 5 (rechts)

v e r g o l d e t e r h e l m e i n e s o s m a n i s c h e n m e l d e l ä u f e r sTürkei; 2. Hälfte 16. Jh.

Der hohe zylindrische Helm ( peyk) mit reichen Verzierungen in Ätztechnik ist inmitten von Medaillons

mit einer Reihe von Inschriften versehen. Diese nennen das islamische Glaubensbekenntnis (auf der seitlich

angebrachten Hülse für den Federschmuck), weitere religiöse Formeln und Anrufungen sowie die Namen

der ersten osmanischen Sultane bis zu Süleyman den Prächtigen (gest. 1566).

100741 #5065_AuraAlif_s001-256_rl.indd 18 23.06.2010 18:03:53 Uhr

100741 #5065_AuraAlif_s001-256_rl.indd 19 23.06.2010 18:03:53 Uhr

20

ABB. 6 A-B

g e fä s s m i t p e r s i s c h e n s p r u c h f o r m e l nZentralasien; 17. / 18. Jh.

Die vergoldeten, im naskh-Duktus geschriebenen Worte auf diesem eisernen Eimer lauten: sipar makesh

az qā‘idah, frei übersetzt bedeutet dies „Bleibe deinen Regeln treu!“, „Achte darauf, was du tust!“, sowie

bandagī kufr ast – „Sklaverei ist Unglauben (Sünde)!“ Der zuletzt genannte Spruch ist vor allem bei Sufi s be-

liebt, die sich nicht an die diesseitige Welt binden wollen. Möglicherweise wurde dieses Gefäß bei Wallfahrten

für heiliges Wasser verwendet.

100741 #5065_AuraAlif_s001-256_rl.indd 20 23.06.2010 18:03:53 Uhr

ABB. 7 A–C

l a n z e n s p i t z e m i t k o r a n i s c h e n f o r m e l nJemen; 17. / 18. Jh.

Die goldtauschierte Lanzenspitze soll den Krieger, der sie benutzt, durch zwei Koranverse schützen.

Auf einer Seite (Abb. 7 b) steht nasrun min Allāh wa fathun qarīb – „Hilfe von Gott und ein naher Sieg“

(61:13) und auf der anderen (Abb. 7 c) annā fatahnā leke fatahan mubīnan – „Wahrlich, wir haben dir

einen offen kun digen Sieg beschieden“ (48:1).

100741 #5065_AuraAlif_s001-256_rl.indd 21 23.06.2010 18:03:53 Uhr

22

ABB. 8 (oben)

k a l l i g r a p h i s c h e s ta b l e a uTürkei; Anf. 19. Jh.

Die spätosmanische Stickerei zeigt in ihrer zentralen Rosette ein stark vereinfachtes und daher nicht genau

identifi zierbares Sultanssiegel (tughrā). In den vier Ecken des Innenfeldes, das von seiner Form her an das Fell

früher Tierteppiche erinnert, steht der Gottesname Allāh. Bei diesem pompös wirkenden und in seiner Farb-

gebung vom europäischen Rokoko beeinfl ussten Tableau könnte es sich um ein Geschenk für Diplomaten oder

verdiente Würdenträger handeln.

ABB. 9 (rechts)

a s h u r a - b a n n e rIran; 2. Hälfte 19. Jh.

Die beiden, noch nicht zerschnittenen Dreieckswimpel zeigen jeweils das persische Löwe-Sonne-Motiv

und zahlreiche persische Inschriften religiösen Inhalts in den Kartuschen der umlaufenden Bordüre. In den

Körper des Löwen ist in Arabisch das bekannte schiitische Gebet „Rufe ‘Ali an, der Wunder manifestiert …“

eingeschrieben. Solche großformatigen farbigen Banner wurden bei den religiösen Trauerriten (‘āshūrā’)

in den ersten zehn Tagen des Monats Muharram von Zwölfer-Schiiten in Iran verwendet.

100741 #5065_AuraAlif_s001-256_rl.indd 22 23.06.2010 18:03:53 Uhr

100741 #5065_AuraAlif_s001-256_rl.indd 23 23.06.2010 18:03:53 Uhr

UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Jürgen Wasim Frembgen, Doris Behrens-Abouseif,Maryam Ekhtiar, Jamal J. Elias, Claus-Peter Haase,Stefan Heidemann, Lorenz Korn, Venetia Porter,Mohamed Rahim, Karl Schlamminger, AvinoamShalem

Die Aura des Alif. Schriftkunst im Islam

Gebundenes Buch, Pappband, 256 Seiten, 22x29149 farbige AbbildungenISBN: 978-3-7913-5064-6

Prestel

Erscheinungstermin: Juli 2010

Kalligrafische Kunstschätze: Der Zauber islamischer Schriftkunst Anders als z.B. die chinesische Kalligrafie, wurde die islamische Schriftkunst in Europalange nicht als Kunst gewürdigt. Nun wird dem weiten Spektrum der Schriftkunst des Islamendlich der gebührende Raum gegeben. Wissenschaftlich fundiert und dennoch anschaulichpräsentiert dieser Band die beeindruckendsten Exponate aus der Ausstellung „Die Aurades Alif“ und lässt hochrangige Experten erläuternd zu Wort kommen. Dabei wird einfachenGebrauchsgegenständen ebenso viel Beachtung geschenkt wie monumentalen Grabinschriften.