Die Autorin - mariellaheyd.de · Mariella Heyd Kurzgeschichten und verwirklichte sich 2016 mit...

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Die AutorinMariella Heyd, geboren 1989, stu-diert und lebt ganz in der Nähevon Frankreich. Ihre Freizeit wid-met sie ihren drei Katzen und derBelletristik. Seit ihrer Kindheitziehen sie Romane aller Art in ih-ren Bann. Besonders R. L. StinesFear Street- Reihe hat in ihr schonfrüh das Interesse am Sonder- undWunderbaren geweckt. Bereits imAlter von zwölf Jahren schriebMariella Heyd Kurzgeschichten

und verwirklichte sich 2016 mit ihrem Debütroman Elfenfeh-de den Traum vom eigenen Buch. Ihre Arbeit als Gesundheits-und Krankenpflegerin half ihr stets dabei, über den Tellerrandder Realität hinaus zu blicken und neue Welten zu erschaffen.2017 wurde sie mit dem Indie Autor Preis ausgezeichnet.

Das BuchAls würde es nicht schon reichen, dass ihre Familie aus Bostonin eine Geistervilla mitten im Nirgendwo zieht, weiß bald auchjeder, dass Gwens Vater als Dämonologe arbeitet. Ihr Ruf ander neuen Schule ist ruiniert. Ohne ihren einzigen FreundHarry würde sie sicher verzweifeln – und dann ist da auchnoch dieser Außenseiter, der von allen „Feuerteufel“ genanntwird und der ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen will. Se-bastian ist gutaussehend und gibt sich gar nicht erst Mühe,seine dunkle Vergangenheit zu verbergen. Es scheint, als spieleGwen sprichwörtlich mit dem Feuer…

Mariella Heyd

Touch of FlamesVom Feuer berührt

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei ForeverForever ist ein Digitalverlag

der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinMai 2017 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017

Umschlaggestaltung:zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®

Autorenfoto: © P2forYou – Pia Pirrung

ISBN 978-3-95818-183-0

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1. Kapitel

Weihnachten und Silvester waren ein Desaster gewesen. Zwi-schen Umzugskartons und vergilbten Tapeten war keine Fest-tagsstimmung aufgekommen. Die notdürftig parat gestelltenPlastikteller und Partybecher hatten ihr Übriges dazu beige-tragen, die Feiertage zu vermiesen. Einen Weihnachtsbaumhatten Gwens Eltern erst gar nicht gekauft. Entsprechendlustlos waren die Geschenke vor dem laufenden Fernseherausgepackt worden. Gwens Großmutter hatte zwar zum Fest-tagsessen eingeladen, aber durch den anstehenden Umzugwar die Zeit wie im Flug verstrichen. Es mussten noch etlicheSachen sicher in Kisten verstaut werden, weshalb sie diesesJahr auf den Weihnachtstruthahn verzichteten.

Der Morgen des vierten Januar wirkte nach all den Strapa-zen wie eine Erleichterung.

»Kinder, kommendes Weihnachten wird großartig«, ver-kündete ihr Dad und drückte Gwen und ihrem Bruder Wilsonjeweils einen leichten Karton in die Hände. »Ihr werdet sehen,wir werden uns selbst einen Tannenbaum im Wald fällen.«

Der Wecker hatte die gesamte Familie um vier Uhr nachtsaus dem Bett geworfen. Vor dem Gebäude parkte der ange-mietete Umzugswagen, um alle in ihr neues Heim zu beför-dern. Mit leisen Schritten trugen sie kistenweise ihr Hab undGut auf die Ladefläche des LKWs. Eine Dreiviertelstunde spä-ter türmte sich ihr komplettes Leben auf vier Rädern, bereitzum Abtransport.

Wilson saß schon im Wagen, aber Gwen stand auf dem Bür-gersteig und sah sich um.

Die Nacht hing dunkelblau und schwer über ihr. Die meis-ten Häuser lagen noch im Dunkeln. Nur hinter wenigenGardinen brannte Licht oder flackerte bläulich ein Fernseher.Alles hier war ihr so vertraut. Sie würde Boston vermissen.Ihre Eltern reichten dem Vermieter soeben die Wohnungs-schlüssel und klärten letzte Formalitäten. Erleichtert, dass dieÜbergabe problemlos vonstattengegangen war, schlendertensie auf den Wagen zu.

»Steig ein, Gwen. Es kann losgehen«, forderte Dad sie aufund verstaute die beschlagene Brille im Handschuhfach.

Auf Wiedersehen, altes Leben.

Skeeter saß aufgeregt hechelnd und sabbernd auf der Rück-bank zwischen Gwen und Wilson, als der Wagen losfuhr.

»Hey, Will, alles klar?«Ihr Bruder vergrub das Gesicht unter einer Supermanku-

scheldecke, damit Gwen nicht sehen konnte, wie er bitterlichweinte. Sie wuschelte ihm durchs Haar.

»Komm schon. Dad hat recht. Es wird toll.«Ich wünschte, ich könnte mir das selbst einreden.»Du bekommst endlich ein richtiges Zimmer. Diesmal

suchst du dir eins aus, bei dem Mom dich nicht gleich er-wischt, wenn du zockst«, flüsterte sie. Dabei verstanden ihreEltern ohnehin kein Wort. Mom fuchtelte mit einer Landkarteaus den 80ern, während Dad nach einem passenden Radio-sender suchte.

Wilson heulte noch immer.»Mit wem soll ich denn spielen, wenn ich keine Freunde

mehr habe?«Behutsam legte sie ihm eine Hand auf den Rücken.

»Du wirst neue Kumpel kennenlernen. Ich meine, wir zie-hen in ein Haus im Wald. Wenn das nicht zum Spielen einlädt,weiß ich auch nicht. Und Mom wird es freuen, wenn du mehran die frische Luft kommst.« Das Beben seines Körpers ebbtelangsam ab. Er schien sich zu beruhigen.

»Skeeter wird es lieben, im Wald spazieren zu gehen.«»Was ist, wenn ich keine Freunde finde?«»Natürlich wirst du welche finden. Sobald die Schule los-

geht, lernst du gleich Jungs kennen«, munterte sie ihn auf.»Und was tu ich bis dahin?«Gwen überlegte. »Bis es so weit ist, werde ich mit dir spielen.

Wir machen lange Spaziergänge, suchen nach einer Hunde-schule für Skeeter und gehen ins Kino.«

Sie bereute diese Zusage jetzt schon, aber wenn Wilsonweinte, keimte Geschwisterliebe in ihr auf und er tat ihr un-bändig leid.

»Versprochen?« Wilson reckte eine Hand unter der Deckehervor und hielt ihr den kleinen Finger zum Schwur entgegen.

»Ehrenwort.« Sie hakte ein. Gwen hörte, wie er die Nasehochzog und kurz darauf aus seinem Versteck kam. Mit ver-weinten Augen sah er sie an.

»Danke, Gwen. Ich hab dich lieb.«Bei diesen Hundeaugen wurde selbst sie weich und be-

schloss, dass ihr Taschengeld in gemeinsamen Kinobesuchengut angelegt war.

Einen kleinen, nervigen Bruder hat man schließlich nur ein-mal.

Ihr Blick wanderte aus dem Fenster. In den frühen Mor-genstunden waren nur wenige Pendler auf den Straßen un-terwegs, so dass es kein nervenaufreibendes Stop-and-go gab.Wenn sich in knapp einer Stunde der Berufsverkehr staute,würden sie die Stadt längst hinter sich gelassen haben.

Im Radio freute sich die Moderatorin über die sonnigenWetteraussichten und Gwens Mom Vivian nippte an einemheißen Kaffee aus der Thermoskanne, dessen Duft sich imFahrzeug ausbreitete. Skeeter hatte sich inzwischen beruhigtund brummte zufrieden vor sich hin, den Kopf zwischen denPfoten. Wilson war noch einmal eingeschlafen und seineschlaffen Beine baumelten im Takt des Wagens. Bei Schlag-löchern wurde er kurz aufgerüttelt, schlief aber sofort wiederein. Von der Hektik der vergangenen Wochen war nichtsmehr zu spüren. Gwen zog Kopfhörer an, drehte die Musikauf und lehnte den Kopf gegen die Fensterscheibe. Draußenrauschten Straßenschilder, Autos, Häuser und ein paar Men-schen auf dem Weg zur U-Bahn an ihr vorbei.

Megan war ihre beste Freundin, aber ihre Anrufe warenwährend der freien Tage seltener geworden. Das letzte Malhatte sie zu Weihnachten von ihr gehört. Am Tag der großenNeuigkeit hatte Gwen sie angerufen und erklärt, sie würde biszu den Ferien nicht mehr zur Schule gehen, um sich in denUmzugsstress stürzen zu können. Sie hatte Megan angehört,dass sie sie damit gekränkt hatte. Es überraschte sie also nicht,die Freundschaft allmählich bröckeln zu sehen. Megan hattesich an ihrem ersten Schultag an der West Boston High Schoolan Gwens Fersen geheftet und war nun gezwungen, sich eben-falls einen neuen Freundeskreis aufzubauen.

Gwen hatte trotzdem fest damit gerechnet, sie würde sichbei ihr verabschieden, aber am Morgen war Megan nicht auf-getaucht. Gwen war ein wenig froh gewesen, als ihr Vater denMotor gestartet hatte und sie ohne Tränen oder dramatischeAbschiedsszenen ihre alte Wohnung hinter sich lassen konn-te. Für sie war es der vierte Umzug in fünf Jahren, undinzwischen kannte sie den Ablauf: Zuerst schimpfte man überdie Eltern. Dann weinte man miteinander wegen der Entfer-nung, und zuletzt versprach man sich, ständig zu telefonieren

und sich in den Ferien oder an den Wochenenden zu besu-chen. Bisher war es jedes Mal gescheitert: Hannah, Betty, Judy– immer das Gleiche. Nach dem Wohnungswechsel war es nureine Frage der Zeit, bis die Anrufe seltener wurden. Mankonnte sich nicht treffen, weil man verreiste, und bei Gesprä-chen fand man keinen gemeinsamen Nenner mehr. Jederlernte neue Leute kennen, die den jeweils anderen nicht immindesten interessierten.

Die bunten Lichter der Werbetafeln und das Brummen derBusse zogen an Gwen vorüber. Ein bisschen würde sie denTrubel und die Hektik der Großstadt vermissen. Man konntein den Straßen zwischen den unzähligen Menschen untertau-chen und herrlich durchschnittlich sein; nicht die Tochtereines Geisterjägers und einer Psychologin. Zu allem Übel wa-ren Gwen, Wilson und ihre Eltern rothaarig, sommersprossigund pummelig, wodurch sie ohnehin überall auffielen.

Wie viele Einwohner hatte ihr neues Zuhause? Würde dieneue Stadt den gleichen Komfort bieten und sich wie einTarnmantel um sie hüllen? Oder würde sie aus der Masse he-rausstechen? Der Gedanke an ein winziges Dorf bereitete ihrUnwohlsein. Durch die Hektik der vergangenen Tage warGwen nur flüchtig dazu gekommen, ihre neue Heimat zugoogeln. Aber bis auf ein paar Luftaufnahmen, einem Artikelüber einen Sportpokal und das alljährliche Hot-Dog-Wettes-sen hatte die Suchmaschine keine wissenswerten Informatio-nen ausgespuckt. Ihre Eltern waren auch so sehr mit demanstehenden Umzug beschäftigt gewesen, dass sich kaum einlängeres Gespräch zwischen ihnen ergeben hatte.

»Irgendwie geht man immer mit einem weinenden und ei-nem lachenden Auge, wie Granny zu sagen pflegt«, murmelteGwen und prägte sich ein letztes Mal die Bilder der Großstadt

ein. Als sie die Autobahn erreichten, wich das Schwarz derNacht langsam einem milchig-gelben Morgen.

***

Vivian rüttelte an Gwens Knie. Sie zuckte zusammen und zogdie Kopfhörer aus den Ohren.

»Was ist passiert? Bin ich eingeschlafen?« Müde rieb sie sichdie Augen und sah sich um. Sie standen auf einem fußball-feldgroßen Parkplatz zwischen mehreren LKWs, die mitzischenden Bremsen neben dem Umzugswagen zum Stehenkamen. Das Straßenschild vor der nächsten Ausfahrt nannteOrtsnamen, die ihr nicht bekannt vorkamen.

»Sind wir etwa schon da?«, fragte Gwen und sah sich ver-schlafen um.

»Nein. Noch lange nicht. Wir sind an einer Raststätte. Hastdu Lust zu frühstücken?«

»Und wie«, freute sie sich. Ihr Magen rebellierte bereitslautstark.

»Hey, Schlafmütze«, weckte Vivian ihren Sohn. »Pipipause.Los, wachwerden.« Widerwillig streckte sich Wilson,schnappte sich den Nintendo 3DS und kletterte aus dem Wa-gen.

Bei Croissants und heißem Latte Macchiato planten ihre El-tern die Fahrt und grübelten, welche Strecke wohl die kürzestewäre. Ihr Vater hatte sich vehement gegen Google Maps aus-gesprochen. Als Geisterjäger hatte er einen Hang zu längstVergangenem und liebäugelte deshalb mit altmodischen Kar-ten – statt mit diesem unzuverlässigen Internet, wie er zusagen pflegte. Gwen klinkte sich aus dem Gespräch aus undvertrat sich stattdessen die Beine, bevor sie die stundenlangeReise fortsetzten.

»Ich schnappe mir Skeeter und drehe eine Runde.«Draußen hockten vor der Kulisse einer lärmenden Auto-

bahn ein paar Trucker mit fleckigen Pullovern und Leder-westen. Lautstark schlürften sie Kaffee, pusteten Zigaretten-rauch in die Luft und gafften das blonde Boxenluder von Seiteeins an. In einem Van daneben saß ein Ehepaar. Der Mannhielt ein brabbelndes Baby auf dem Schoß, während die Frauhektisch eine rosafarbene Tasche mit einer Schnullerkette amHenkel durchwühlte. Trotzdem hatten sie alle eines gemein-sam: Sie waren auf der Durchreise. Die Raststätte war nur einkurzer Zwischenstopp.

Genug frische Luft geschnappt.Gwen lief zurück zu ihren Eltern, die sich noch immer be-

ratschlagten.»Wie weit ist es denn noch?« Wilson war seit seinem Twin-

kie hellwach.»Weit«, sagte ihre Mom, sog Luft ein und hob die Augen-

brauen in die Höhe, während sie einen skeptischen Blick aufdie Karte warf.

»Nochmal so weit wie eben?«»Weiter.«Noch war Gwen ihrem alten Leben näher als ihrem neuen

Heim. Sie wagte einen Blick auf ihr Handy. Megan hatte sichnoch immer nicht gemeldet. Traurig schob sie es zurück in dieJackentasche. Sie gehörte nicht mehr zu Boston, aber auchnoch nicht zu ihrem neuen Zuhause.

Vielleicht sollte ich einfach hier an der Raststätte bleiben –für den Rest meines Lebens. Zwischen den Stühlen.

Nachdem sie wieder losgefahren waren, spielte Wilson weitermit seinem Spielzeug. Um die Stimmung nicht zu verderben,ignorierten alle das nervige Piepsen. Doch nach nicht einmalzwei Stunden wurde es Wilson allmählich langweilig. Er legte

das 3DS beiseite, rutschte unruhig auf dem Sitz herum undfragte im Minutentakt: »Sind wir schon da?« Auch Skeeterbegann nach einer Weile zu jaulen und verteilte seinen fauli-gen Atem im Wageninnern. Nervös versuchte er sich immerwieder hinzustellen oder im Kreis zu drehen, wobei er jedemim Wagen seinen haarigen Hintern ins Gesicht drückte. Dielange Fahrt strapazierte inzwischen die Gelenke und Launealler.

Die Autobahn hatten sie vor etwa einer halben Stunde ver-lassen und fuhren seitdem durch Dörfer, die kaum mehr alseine Tankstelle zu bieten hatten.

Bevor die Nerven endgültig blank lagen, bog ihr Dad aufeinen Waldweg ein. Der Boden war uneben und holprig.Gwen, Skeeter und Wilson rüttelte es auf der Rückbank or-dentlich durch. Auch die Plastikhawaiianerin auf dem Arma-turenbrett schüttelte kräftig ihr Strohröckchen.

»Da sind wir. Willkommen in Frost. Einem Örtchen imHerzen von Maine«, sagte Dad und strich sich erschöpftdurchs Haar. Mit einem Quietschen hielt der Wagen an. Allelösten mit einem Klack dankend ihre Sicherheitsgurte. Dieachtstündige Fahrt hatte Spuren in den Gesichtern hinterlas-sen. Skeeter war der Erste, der schwanzwedelnd und aufgeregtschnuppernd über das Grundstück spazierte.

»Wow, Dad.« Gwen schirmte mit einer Hand die Augen vorder Wintersonne ab und betrachtete ihr neues Heim. »Das istkein Haus, das ist die reinste Villa.« Ihr huschte ein Lächelnübers Gesicht, das ihrem Dad nicht entging. Zufrieden machteer sich daran, die ersten Kartons zur Haustür zu schleppen.

»Du hast kein Sterbenswörtchen darüber verloren, dass wirin ein richtiges Anwesen ziehen. Wow!«

Die Villa stand auf einer Anhöhe und blickte anmutig aufGwen herab. Die Fassade war zwar verwittert, aber die hohenFenster mit den halbrunden Oberlichtern und den verzierten

Fenstersimsen zeugten vom Glanz alter Zeiten. Besonders derhalbrunde Erker in der unteren Etage hatte es Gwen angetan.Der Schnee, der zentimeterdick auf dem Dach und den Bü-schen vor dem Haus lag, gab dem Gebäude einen zusätzlichenSchub Romantik. Nur der alte Ford Defender, den ihr Dad vordem Umzug hierher verfrachtet hatte und von dem er sich seitseiner Studentenzeit nicht trennen konnte, wirkte fehl amPlatz.

»Herrschaftlich, nicht wahr?«, fragte ihr Vater im Vorbei-gehen und stemmte sich den nächsten Karton auf die Schul-tern. »Es wurde Ende des 18. Jahrhunderts erbaut. Der Bauhat allerdings Jahrzehnte gedauert und offiziell wurde das Guterst 1892, fast einhundert Jahre später, fertiggestellt. Der Bau-stil fällt in den romantischen Historismus. Man findet aberhier und da verschiedene Elemente aus der Neorenaissance.«Er kniff die Augen zusammen und zeigte vage auf einen Bal-kon.

»Wenn es dich interessiert, können wir uns gerne gemein-sam auf die Spuren der Vergangenheit begeben«, bot er zwin-kernd an und schleppte den Umzugskarton Richtung Haus.

Auch Gwen beteiligte sich, stapelte zwei schuhkartongroßeKisten übereinander und trug sie ihrem Vater hinterher. IhreMutter hatte bereits alle Fenster geöffnet, um den muffigenGeruch zu vertreiben, der sich über die Jahre hinweg in denTeppichen und Samtvorhängen festgesetzt hatte.

»Man merkt, das Haus steht schon lange leer.« Hustendstand sie in einer flimmernden Staubwolke. Als könnte siedamit den Vorgang des Lüftens beschleunigen, wedelte sie miteiner alten Zeitung Sauerstoff herein.

»Wie cool«, rief Wilson begeistert die Treppe herab. Er hat-te als Erster das Haus ausgekundschaftet, um sich den bestenRaum unter den Nagel zu reißen.

»Mom«, sagte Gwen anklagend. »Wilson tut es schon wie-der. Bei jedem Umzug darf er sich ein Zimmer aussuchen.«

»Liebes, beruhig dich. Wir schauen uns später das Hausgemeinsam an und dann werden wir sehen, wer in welchesZimmer zieht. Das Objekt ist so riesig, da wird sich doch fürjeden etwas finden.«

Skeptisch verzog Gwen die Mundwinkel, stellte die Kistenab und folgte der Stimme ihres Bruders. Wilson stand auf demDachboden und lugte durch ein rundes Fenster.

»Okay, das kannst du meinetwegen haben.« An den Dachs-chrägen würde sie sich sonst täglich den Kopf stoßen.

»Hier gibt es einen See«, freute sich Wilson. Als sie sich ihmnäherte, zog er sie am Ärmel heran und tippte gegen das Glas,um ihr seine Entdeckung zu zeigen. Hinter meterhohen Tan-nen ruhte tatsächlich ein See mit grünem Wasser. »Siehst duden See? Das ist voll cool. Dad, dürfen wir darin im Sommerschwimmen?« Ihr Vater war ebenfalls auf den Dachboden ge-kommen, aber schenkte den Kindern wenig Aufmerksamkeit.

»Ja, ja. Tut, was immer ihr wollt«, sagte er, ohne zu wissen,in was er eingewilligt hatte. In den Händen hielt er ein piep-sendes Messinstrument, mit dem er alle Winkel des Hausesabsuchte. Gwen beobachtete ihn bei seinem Treiben. Kon-zentriert wanderte er durch den Raum, drehte an Rädchenund richtete das Gerät zuerst auf die Decke und anschließendmit einer geschmeidigen Bewegung auf den Boden.

»Dad, sag mir bitte nicht, wir sind in ein Geisterhaus gezo-gen.« Sie riss die Augen auf, als das Instrument stakkatoartigpiepste und signalisierte, dass es anscheinend ein elektromag-netisches Feld ausfindig gemacht hatte. Ihr Vater schnaufte,stellte das Instrument aus und sah sie an.

»Gwen, du weißt doch, das ist mein Job. Paranormale Phä-nomene, das ist genau mein Ding.«

»Ich weiß ja, Dad. Ich würde mich nur wohler fühlen, wennich nachts keine Panik vor dem schwarzen Mann haben müss-te, oder der Frau im Spiegel.« Sie schüttelte sich bei demGedanken. »Verrätst du mir, was das Übernatürliche an die-sem Haus ist?«

Vorsorglich hielt sie Wilson die Ohren zu, um ihn nicht inAngst und Schrecken zu versetzen. Dan straffte die Schulternund überlegte einen Moment, ob es eine gute Idee war, seineTochter einzuweihen.

»Na schön. Im Jahr 1928 soll es hier einen grausamen Mordgegeben haben. Seitdem wird immer wieder von Geisterer-scheinungen berichtet.«

Gwen nickte. »Gespenster …« Mehr wollte sie über dieVergangenheit des Hauses schon nicht mehr erfahren. Gwenwar mit Geistergeschichten und anderen übersinnlichen Phä-nomenen groß geworden und fürchtete sie eigentlich nicht.Trotzdem versuchte sie solchen Erscheinungen tunlichst ausdem Weg zu gehen.

»Gwen, wir haben das Anwesen für einen Bruchteil seinesWertes bekommen, weil es niemand wollte.«

»Verständlich, bei der Vergangenheit.« Sie runzelte dieStirn und sah sich unbehaglich um.

»Komm schon. Wenn wir hier wieder ausziehen, könnenwir es zu einem viel höheren Preis verkaufen. Wir macheneinen wahnsinnigen Gewinn mit diesem alten Gemäuer. Wirmüssen es nur richtig renovieren.« Liebevoll klopfte er gegendie Wand und ein Stück Putz bröckelte ab. »Und sanieren.«

»Ja, wenn wir dann noch leben«, witzelte Gwen mit einemFünkchen Ernst in der Stimme. »Aber hey, möglicherweisekann ich dann auch endlich meinen Führerschein machen.«Sie lachte und ihr Dad fiel in ihr Lachen ein. Er wusste selbst,dass dieses Versprechen zu einem Running Gag geworden

war. Mehr als ein paar Fahrstunden konnte sie mit fast 18 Jah-ren noch immer nicht vorweisen.

»Außerdem will ich von Umzugsplänen erst mal kein Ster-benswörtchen hören. So, ich schau mich ein wenig um. Viel-leicht finde ich ja ein schönes Zimmer, das nicht heimgesuchtwird.« Gwen deutete mit ihren Fingern gespenstige Züge an.

»Du darfst überall einziehen, außer im Keller. Dort habe ichbereits eine Temperaturmessung vorgenommen, und da un-ten gibt es tatsächlich den ersten Cold Spot«, erklärte ihr Dad.Er widmete sich wieder den Messinstrumenten.

»Sehr beruhigend.«

2. Kapitel

Der erste Tag an einer neuen Schule war immer der Schlimms-te. Mit Herzklopfen packte Gwen die noch nicht gebrauchtenSchulbücher in den Rucksack, den sie aus einem der Kartonsgefischt hatte. Der Umzug lag erst zwei Tage zurück und nochstapelten sich die meisten ihrer Sachen in Kisten. Kurz blät-terte sie durch das Mathematikbuch, aber bis auf ein paarAuffrischungsübungen kam ihr keine Formel bekannt vor.Wenn ihr die Inhalte der übrigen Schulfächer genauso fremdwaren, musste sie schon jetzt um ihre Sommerferien bangen.Nichts war schlimmer als bei blauem Himmel und Sonnen-schein die Schulbank drücken zu müssen. Wilson saß bereitsin der Küche und rührte lautstark seinen Kakao um.

»Wo ist Mom?«, fragte Gwen, als sie in die Küche kam, umsich Frühstück zuzubereiten. Automatisch griff sie nach demkarierten Küchentuch und tupfte die Milchflecken trocken,die Wilson auf dem Fußboden verkleckert hatte. Er zuckte mitden Schultern. Kein Wort von Wilson? Das sah ihm nichtähnlich.

»Hey, was ist los? Bist du etwa aufgeregt?« Mit einem ge-konnten Tritt schloss sie die Kühlschranktür, schnappte sichMesser, Brot und Marmelade und setzte sich zu ihm an denTisch. Wieder zuckte er mit den Schultern.

»Mach dir keine Sorgen. Es wird cool«, versuchte sie ihnaufzumuntern.

»Du hast leicht reden. Du gehst schon ewig auf die High-school.«

»Ja, mag sein, aber auch ich hatte dort einmal meinen erstenTag. Und hoffentlich bald den letzten.« Sie verdrehte die Au-gen, klatschte die beiden Brothälften aufeinander und stopftesie in eine Papiertüte. Sie ging zwar schon eine Weile auf dieHighschool, aber heute war auch wieder ein erster Tag für sie.Es warteten fremde Lehrer, unbekannter Stoff, neue Mitschü-ler und Gebäude auf sie, in denen sie sich zurechtfindenmusste. Sie wollte Wilson allerdings keinen Grund geben,weiterhin nervös zu sein, und verschwieg ihre eigene Unruhe.

»Komm, lass uns gehen. Sonst kreuzen wir an unserem ers-ten Tag noch zu spät auf.« Sie nahm Wilson die Tasse ab undstellte sie ins Spülbecken. Unmotiviert folgte er ihr und warflustlos den Schulranzen über die Schultern.

»Stell dich nicht so an. Du kannst dich sowieso nicht davordrücken. Außerdem ist es doch total aufregend. Außer demHaus und dem Wald haben wir von der Gegend noch nichtsgesehen.«

Die Bushaltestelle lag an der Hauptstraße, und um dorthin zukommen, mussten sie einen kurzen Fußmarsch durch denWald auf sich nehmen. Sie liefen den gleichen holprigen Wegmit den eingefahrenen Reifenspuren entlang, über den sie amTag ihres Einzugs gekommen waren.

»Es ist eiskalt«, beschwerte sich Gwen und schloss die Jacke.»Hast du dir einen Schal mitgenommen?«

Statt zu antworten, zupfte er am Kragen und entblößte ei-nen Schal in den Mannschaftsfarben seiner alten Football-mannschaft.

»Wilson, du willst doch sicher schnell neue Freunde finden,stimmt’s?«

»Klar.«»Dann solltest du keinem von Dads oder Moms Job erzäh-

len. Verstanden?«

»Oh Mann, warum denn nicht?«, maulte er. Scheinbarwollte er genau damit Interesse an seiner Person wecken underste Kontakte knüpfen. Gwen stöhnte auf.

»Weil das außer dir niemand cool findet. Verstanden?«»Kapiert«, antwortete er widerwillig.»Wilson, ich meine es ernst. Kein Wort zu irgendjeman-

dem. Wenn ich rauskriege, dass du es an die große Glockehängst, werde ich dich eigenhändig töten.«

Über ihnen öffnete sich das Blätterdach der Bäume, derWeg wurde breiter und das Schild der Bushaltestelle kam zumVorschein.

»Ja, Sir. Jetzt lass mich endlich in Ruhe!« Wilson hatte keineLust auf weitere Regeln und legte trotzig einen Zahn zu. Ander Bushaltestelle achtete er darauf, genügend Abstand zu sei-ner Schwester einzuhalten.

»Keine Sorge. Außer uns ist niemand hier. Keiner wird jeerfahren, dass ich deine große Schwester bin«, sagte Gwen,während sie den Fahrplan studierte.

Minuten später hielt der gelbe Bus. Die stämmige Fahrerinmit den gekräuselten Haaren interessierte sich nicht im Ge-ringsten dafür, ob die beiden gültige Fahrkarten besaßen, undwinkte sie mit mürrischer Miene durch. Wilson lief auf diehinteren Sitzplätze zu, wogegen Gwen gleich in der zweitenReihe einen Platz neben einem schlafenden Jungen entdeckte.Sie wollte sich möglichst leise neben ihn setzen, aber die Bus-fahrerin fuhr ruckartig und unerwartet an. Gwen geriet insStolpern und landete unsanft auf ihm. Erschrocken zuckte erzusammen.

»E-Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich und verstaute denRucksack zwischen den Beinen. Er nickte ihr kurz zu, zog seinBasecap tiefer ins Gesicht und schloss die Augen wieder.

Das fängt ja gut an.

Fast alle fuhren in Maine mit dem Bus zur Schule und schonan der nächsten Haltestelle stieg eine Handvoll Schüler ein.Die meisten davon mussten in ihrem Alter sein und besuchtenvielleicht sogar in die gleichen Kurse wie sie. Aus den Augen-winkeln musterte sie das Grüppchen und versuchte zu hören,worüber sie sprachen. Eine Gemeinsamkeit, zum Beispiel einebeliebte Band, konnte ein Türöffner sein, wenn sie sich da-durch in das Gespräch einklinken konnte. Gwen erhaschteallerdings nur ein paar Wortfetzen, und die Jungs sahen sicht-lich genervt aus.

Der Bus war randvoll und die Fahrgäste stauten sich in demschmalen Gang und schwankten in jeder Kurve auf Gwen zu.Verschiedene Gerüche von billigem Parfum und Deodorantüber Wurstbrote und Weichspüler verteilten sich in dem ge-schlossenen Raum. Das würde ihr täglicher Alptraum werden.Sie wagte einen kurzen Blick zu ihrem Bruder, um sicherzu-gehen, dass er keine Dummheiten machte. Wilson hockteinzwischen in einem Viererabteil und starrte lachend und mitden Füßen wippend auf die Playstation Portable eines gleich-altrigen Jungen. Immerhin hatte er seine Ängste schon überBord geworfen und Anschluss gefunden. Um ihn würde siesich heute keine Sorgen mehr machen müssen.

Als sie sich in Fahrtrichtung drehte, bemerkte sie, dass sievon einigen angestarrt wurde. Dieser Ort war nicht Boston.Hier konnte man nicht zwischen Menschenmassen unsicht-bar werden. Jeder Neuling fiel sofort auf wie ein bunter Hund.Zwei Mädchen tuschelten, während sie in Gwens Richtungschauten und sie musterten. Gwen strengte sich an, sich dieNervosität nicht anmerken zu lassen, und sah aus dem Fens-ter. Sie spürte die Blicke der beiden immer noch und wünschtesich, die Fahrt wäre endlich vorüber. Natürlich hatte sie mo-disch schon völlig danebengegriffen: Die beiden trugen Um-hängetaschen, während sie einen klobigen Rucksack schul-

terte. Mit solchen Fehlgriffen landete man auf der Highschoolverdammt schnell im Aus.

Zwei Haltestellen später endete die Fahrt. Durch das Drängelndes Mannes neben ihr wurde sie in den schmalen Gang ge-drückt und strömte mit einer Welle Fahrgäste aus dem Bus.

Vor ihr lagen die Frost Highschool und die Junior High.Die beiden Schulformen teilten sich einen Gebäudekomplex,der verglichen mit Schulen in Boston und anderen Großstäd-ten winzig wirkte. Wilson war gemeinsam mit zwei anderenJungen an ihr vorbeigelaufen, als ginge er seit Monaten indiesen Hallen ein und aus. Unsicher blieb Gwen einen Mo-ment an der Bushaltestelle stehen. Eingerahmt von Buchs-baumbüschen stand das verfallene Namensschild der Bil-dungsstätte zwischen grauen Kieselsteinen. Dahintererstreckte sich eine Treppe, die durch ein Eisengeländer inEin- und Ausgangsbereich getrennt wurde. Grüppchendrängten in die Schule, während sich andere Schüler noch vordem Eingang austauschten und sich gegenseitig Bilder oderVideos auf ihren Handys zeigten. Gwen huschte an ihnenvorbei und versuchte niemanden anzurempeln.

Der Schulflur wurde mit Neonröhren beleuchtet und esroch nach altem PVC-Bodenbelag. Immerhin war es ange-nehm warm. Links und rechts säumten militärgrüne Spindeden Gang. Zwischen zwei Türen hing eine schwarze Pinn-wand. Daran heftete auch ein Gebäudeplan. Gwen kramteeinen Zettel aus der Jackentasche. Er war zerknittert, aber mankonnte noch entziffern, welche Kurse sie in welcher Stunde inwelchem Raum wahrnehmen musste.

»Geschichte, acht Uhr bis neun Uhr dreißig, Raum 1102«,las sie laut vor. Auf dem Lageplan klebte ein dicker, roterPunkt, der ihren jetzigen Standort anzeigte. Raum 1102 be-fand sich in Gebäude eins.

»Immerhin«, flüsterte sie, nachdem sie sich vergewisserthatte, dass sie im richtigen Bau gelandet war.

»Du musst die Treppe raufgehen. Dein Saal ist direkt diezweite Tür auf der linken Seite«, erklärte ihr eine freundlicheStimme. Neben Gwen stand ein gleichaltriges Mädchen undlächelte sie aufmunternd an. »Dein erster Tag hier?«

»Ja, genau«, antwortete Gwen und freute sich über die Hilfe.»Musst du zufällig auch dahin?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich besuche andere Kurse als du,wenn ich richtig gelesen habe.«

Diese Antwort versetzte Gwen einen Dämpfer. Doch keinepotentielle Verbündete. Wenigstens schienen die Leute hiernett und hilfsbereit zu sein.

»Oh, schade. Na ja, danke für deine Mühe. Ich werde michmal auf die Suche machen. Viel Spaß noch, vielleicht sieht mansich ja mal«, verabschiedete sich Gwen und wandte sich win-kend von ihr ab.

»Ja, dir auch.« Sie kreuzte die Finger, um ihr Glück zu wün-schen, und verschwand ebenfalls in der Menge wuselnderSchüler.

Der Raum lag mit verschlossener Tür vor ihr. Durch das ver-gitterte Fenster konnte Gwen schon einige ihrer Mitschülerauf den Plätzen sitzen sehen. Manche hatten es sich auf denBänken bequem gemacht und ein Papierflieger kreiste überihren Köpfen. Ohne zu klopfen, trat Gwen ein. Erschrockennahmen alle auf ihren Stühlen Platz und die Gespräche erst-arben. Als der erste von ihnen erkannte, dass es sich bei Gwennicht um eine Lehrkraft handelte, hörte man ein erleichtertesRaunen und die Plaudereien wurden fortgeführt. Nichtsdes-totrotz lagen sämtliche Augen auf ihr. Scheu lächelte Gwenund winkte in die Klasse hinein.

»Hi.«

Drei Leute lächelten ihr knapp zu, bevor sie sich daranmachten, ihre Bücher und Hefte auszuräumen. Alle anderendrehten die Köpfe zur Seite. Gwen lief auf eine freie Bank zu.

»Hi, ist hier noch frei?«, fragte sie das Mädchen, das an demTisch nebenan saß, zögerlich.

»Nein. Hier ist besetzt.« Sie warf Gwen einen feindseligenBlick zu. Gwen versuchte es an einer weiteren Bank. Noch ehesie fragen konnte, schüttelte der Junge dahinter den Kopf.

»Hier sitzt Maddie. Da kannst du dich nicht hinsetzen.«Kaugummikauend wies er ihr einen Sitzplatz in der letztenReihe. Immerhin war es ein Fensterplatz. Dankend sattelte sieihren Rucksack neu auf und lief hinüber.

»Na super.« Der Stuhl wackelte, unter dem Tisch klebte einKaugummi und die Arbeitsplatte war mit Kritzeleien vollge-malt. Gefrustet setzte sie sich und schaute durch die Reihen.

»Ellie ist ’ne Bitch. Eigentlich ist neben ihr frei. Sie will nurnicht, dass du dich dahin setzt.« Der Junge, der vor ihr saß,hatte sich zu Gwen umgedreht und plapperte fröhlich drauf-los. »Mein Name ist übrigens Harry, und du heißt?«

»Gwen.« Sie wollte ihm die Hand reichen, aber er schüttelteunmerklich den Kopf.

»Gwen wie Gwendolin?«, hakte er stattdessen nach. Sie ver-drehte die Augen und lächelte schüchtern.

»Leider ja, aber nenn mich bitte Gwen.«»Also gut, Gwen. Ich heiße dich hiermit herzlich willkom-

men an der Frost High.« Er erzeugte mit zwei Bleistiften einenkurzen Trommelwirbel auf dem Holzpult.

»Wieso möchte diese Ellie nicht neben mir sitzen?«, fragtesie vorsichtig, ohne ihre Mitschülerin dabei aus den Augen zulassen.

»Sagte ich doch: Ellie ist ’ne Bitch. Außerdem will niemandneben dir sitzen.« Verdutzt sah Gwen den Jungen an.

»Wieso das denn? Ich bin erst hierher gezogen. Ihr kenntmich doch noch gar nicht.«

»Stimmt es, dass du in der alten Villa eingezogen bist?«,stellte er eine Gegenfrage, ohne ihre Frage zu beantworten.

Sie nickte.»Genau deshalb. Wird ein klasse Jahr für dich«, bemerkte

er ironisch.»Okay, aber was ist so schlimm daran, dort zu wohnen? Es

ist doch bloß ein Haus.«»Bloß ein Haus? Mann, haben euch die Verkäufer denn gar

nichts über dieses Bloß-ein-Haus erzählt?« Harry lachte auf.Einige drehten die Köpfe zu ihnen um. Ein Papierkügelchenflog in hohem Bogen in Harrys braunen Lockenkopf.

»Yo, Alter. Schon kapiert, ich halt die Klappe«, beruhigte erden Papierkugelwerfer, welcher ihm einen mahnenden Blickzuwarf. Harry drehte Gwen den Rücken zu und vergrub dasGesicht in einem Buch.

»Verstehst du mich so noch?«, flüsterte er ihr zu. Anschei-nend wollte er seinem Mitschüler nicht gehorchen.

»Ja«, wisperte sie zurück und hielt sich unauffällig eineHand vor den Mund.

»Also, in der Villa hat es vor langer, langer Zeit eine Mords-erie gegeben. Der Besitzer, Frank Wiltshire, soll seine FrauLinda und die beiden Töchter Ruby und Grace angezündethaben. Ihre sterblichen Überreste sollen im angrenzenden Seeliegen.« Zur Tarnung blätterte er eine Seite um.

Das steckt also hinter dem Mord, von dem Dad erzählt hat.»Was heißt hier sollen? Wurden sie denn nie gefunden?«»Nein. Auch Frank Wiltshire hat seit dem Tag niemand

mehr gesehen. Das Kindermädchen hat am nächsten Tag nurnoch Brandspuren vorgefunden, und Schleifspuren, die zumSee führten. Klarer Fall, wenn du mich fragst.« Seine Stimmewar während der Erzählung immer düsterer geworden.

»Vielleicht war es ja nur ein schreckliches Unglück. VieleLeute bauschen Dinge, die sie sich nicht erklären können, zusagenhaften Geschichten auf.« Sie wusste das nur zu gut, weilihr Dad regelmäßig Poltergeister als paarungswütige Frett-chen enttarnte.

»Ja, aber seitdem sind erst zwei Familien in diese Villa ge-zogen und beide haben von merkwürdigen Geräuschen in derNacht, Kinderlachen und Geistern berichtet. Du wirst sie auchnoch hören«, wurde Gwen von einer Männerstimme gewarnt.Ein blonder Junge stützte sich an ihrer Stuhllehne ab, sah je-doch hochnäsig an ihr vorbei zu Harry. Es war der Typ mitden Papierkügelchen.

»Archie, Mann, komm schon. Ich musste ihr doch wenigs-tens erklären, was los ist. Das ist unfair. Totaler Bullshit.«Harry lehnte sich entschuldigend nach hinten.

»Du musst hier nicht den Ritter in der goldenen Rüstungspielen. Sie kann sich ja mit Sebastian zusammentun.« DerJunge schlenderte zu seinem Platz und ließ Harry kommen-tarlos zurück. Bevor er sich setzte und jedes weitere Wort vonHarry belauschte, flüsterte dieser Gwen zu: »Archie hat seineGründe. Ich erzähle es dir irgendwann.« Schnell rutschte eran seinen Tisch und warf Archie sein entzückendstes Lächelnzu.

Die Türklinke wurde heruntergedrückt und eine ältere,hochgewachsene Frau mit roter Brille, Dutt und spitzemMund betrat den Raum. Sie ließ ihre Ledertasche auf das Leh-rerpult fallen und sah prüfend durch die Reihen. Um denMund herum hatte sie feine Falten, die sie streng und autoritärwirken ließen.

»Ah, da hinten.« Ihr Blick erreichte Gwen. »Sie habe ichgesucht. Kommen Sie bitte nach vorne und stellen Sie sichIhren Mitschülern vor.«

Sie zog die Mundwinkel nach unten und nahm hinter demPult Platz. Es würde schwer werden, dieser Frau ein Lächelnabzugewinnen. Schon jetzt ahnte Gwen, dass die einzige Mi-mikvariation aus herabhängenden Mundwinkeln oder zu-sammengepressten Lippen bestand.

Mit klopfendem Herzen stand Gwen auf, lief an den Bank-reihen vorbei und stellte sich vor ihre neuen Mitschüler. DieÄrmel des Pullovers zog sie in ihrer Nervosität bis zu den Fin-gerspitzen herab.

»Hi, mein Name ist Gwendolin, aber alle nennen michGwen. Ich bin mit meiner Familie nach Frost gezogen.«

Die Lehrerin schien noch nicht zufrieden zu sein und mus-terte sie ebenso skeptisch wie ihre Klassenkameraden. Hän-deringend suchte Gwen nach interessanten Details.

»Ich habe bis vor kurzem in Boston gelebt – tja, jetzt bin ichhier. Ich hoffe, ich finde mich schnell zurecht.« Sie lachteschüchtern.

»Nehmen Sie wieder Platz, Miss Allington«, verwies dieLehrerin sie unbeeindruckt auf ihren Stuhl. Ein Danke oderHerzlich willkommen hatte Gwen schon erwartet, aber vondieser Frau war kein Funken Freundlichkeit zu erhoffen. Lei-sen Schrittes schlich sie zurück zu ihrem Stuhl. Den schlimms-ten Moment des Tages hatte sie hinter sich gebracht.

»Mein Name ist übrigens Miss Gravedigger. Miss, nichtMrs.«

Gwen presste die Lippen aufeinander und versuchte einGrinsen zu unterdrücken. Mit der ernsten Miene, ihrer spin-deldürren Erscheinung und der schwarzen Kleidung konntesie tatsächlich als Totengräber durchgehen. Miss Gravediggerkniff die Augen zu Schlitzen zusammen und beäugte Gwengenau. Ihr war Gwens belustigter Ausdruck scheinbar nichtentgangen. Empört richtete sie ihren Dutt.

»An Ihrer Stelle würde ich mich nicht über meinen Nach-namen lustig machen, denn ich werde in diesem Jahr IhreKlassenlehrerin sein und Sie in einigen Fächern unterrichten.«

Na super, dachte Gwen und das Grinsen verging ihrprompt. Mit Miss Gravedigger hatte sie es sich verscherzt.Harry warf ihr einen kurzen, teilnahmsvollen Schulterblickzu.

»Miss Allington, haben Sie sich schon das Buch Geschichteund Kultur, Band 2, zugelegt?«, fragte Miss Gravedigger undhielt ihre eigene Ausgabe hoch. Man hatte Gwen zwar einelange Liste mit Publikationen zukommen lassen, aber nochwaren nicht alle Bücher bei ihr angekommen.

»Nein, tut mir leid«, entschuldigte sie sich.Miss Gravedigger rümpfte die Nase.»Miss Gravedigger?« Harry reckte eine Hand in die Luft.

»Sie könnte solange mit mir ins Buch schauen, bis sie ihr ei-genes hat, versteht sich.«

Miss Gravedigger nickte ihm anerkennend zu. »Dann hatMiss Allington nochmal Glück gehabt, dass sie so einenfreundlichen Mitschüler hat«, bemerkte sie mit geschürztenLippen.

»Danke, Harry«, flüsterte Gwen, was Miss Gravediggernicht entging. Ihr Mund formte sich zu einem missfallendenO und sie warf Gwen einen herablassenden Blick zu. Ihre linkeAugenbraue schoss gefährlich in die Höhe.

»Miss Allington, Sie sollten sich angewöhnen, Ihre Mit-schüler bei deren Familiennamen zu nennen. Sie sind hiernicht mehr im Kindergarten.« Damit hatte sich Gwen denzweiten Patzer für den ersten Tag geleistet.

»Ach, und Miss Allington?«Scheinbar hatte sie noch nicht genug von ihr. »Haben Sie

in den Ferien einen der empfohlenen Kurse besucht?« DerAnflug eines boshaften Lächelns war auf ihrem Gesicht zu er-

kennen. Sie ahnte, dass Gwen an keinem der Nachhilfekurseteilgenommen hatte, und wollte es nur aus ihr herauskitzeln,um sie endgültig vor den anderen bloßzustellen.

»Nein, leider kam der Umzug sehr kurzfristig und da –«Gwen wurde von Miss Gravedigger jäh unterbrochen.

»Miss Allington, Ihre Ausflüchte interessieren mich nichtim Geringsten. Es ist Ihre Angelegenheit, wie viel Zeit Sie inschulische Aktivitäten investieren und welche Noten darausresultieren.« Mit diesem Machtwort wendete sich Miss Gra-vedigger der Tafel zu und Gwen ließ geschlagen den Kopf aufdie verschränkten Arme sinken. Treffer Nummer drei: ver-senkt.

3. Kapitel

Den Rest der Stunde machte sich Gwen auf dem Stuhl un-sichtbar, indem sie sich ständig Notizen zu den Unterrichts-inhalten auf ein Blatt Papier kritzelte. Keinesfalls wollte sie vonMiss Gravedigger noch einmal vorgeführt werden. Als diePausenklingel sie von dieser Lehrerin des blanken Horrorserlöste, stürmte sie in einer Welle mit den anderen nach drau-ßen in den Schulflur. Sie hatte es geschafft an Miss Gravedig-ger vorbeizukommen, ohne sich einem Rede-Antwort-Spielstellen zu müssen.

»Hey, hier geht’s lang, falls du in der nächsten Stunde auchMr Whittle hast.« Harry tauchte hinter ihr auf und zog sie zurSeite.

»Ja, ich glaube.« Sie studierte ihren Plan.»Lass mal sehen.« Harry warf einen Blick darauf. »Cool. Wir

besuchen fast immer die gleichen Kurse.« Seine Augen scann-ten den Stundenplan. »Ja. Whittle. Da steht’s.« Er zeigt mitdem Finger auf den Namen des Lehrers. »Der Saal liegt amEnde von Gebäude eins. Unsere Pause geht immer drauf,wenn wir dorthin laufen müssen. Komm.«

Insgeheim freute Gwen sich darüber, dass Harry soebenunsere Pause gesagt hatte. So ein bisschen gehörte sie, zumin-dest für ihn, schon dazu. Dankbar folgte sie ihm.

»Wird Archie nicht wütend, wenn er dich mit mir sieht?«Harry verdrehte die Augen. »Archie ist immer sauer. Auf

jeden. Auf einen bösen Blick mehr oder weniger kommt esnicht an.« Er drehte sich kurz zu Gwen um und lächelte sie an.Unvermittelt blieb er stehen und sie prallte gegen seine Brust.

Einen Moment lang standen sie da und sahen sich an, währendSchüler an ihnen vorbeirauschten und wie Ameisen zu denUnterrichtsräumen eilten.

»Harry?«»Ja?«»Danke. Du bist heute mein Held.«Sein Grinsen wurde breiter.Sie liefen die Treppe eine Etage nach oben. Der Flur lag

noch überfüllter vor ihnen als im ersten Stock. Allerdings roches hier beißend nach heißem Frittierfett.

»Was stinkt hier so?«, rief sie Harry hinterher, der sichschneller einen Weg durch die Menge bahnen konnte und hierund da ein bekanntes Gesicht grüßte.

»Kantine.« Er drehte sich für eine Sekunde zu ihr um underkannte, dass sie ihm nicht so flott folgen konnte. Mühseligzwängte sie sich zwischen prallen Rucksäcken und breitenSchultern hindurch. Einen Moment hielt er inne, bis sie zuihm aufschloss. »Da hinten geht’s zur Mensa. Es schmeckt, wiees riecht – erbärmlich.« Er schüttelte sich.

Langsam löste sich der Schülerandrang auf und fast alleverschwanden in den Räumen. Türen wurden verschlossenund der Schulflur wurde stiller. Eine Frau mit hochgestecktemHaar und blauem Hosenanzug eilte an ihnen vorbei. Gwenblieb wie angewurzelt stehen und lugte ihr hinterher.

»Harry, wo genau ist denn unser Saal?«»Gleich hier.« Er zeigte auf Raum 1216. »Du kannst dich

gerne zu mir setzen«, bot er an.»Das wäre echt nett. Ich muss noch kurz etwas erledigen.

Wärst du so lieb und würdest meinen Rucksack mitnehmen?«»Klar, gib schon her, aber beeil dich.« Trabend verschwand

er wenige Meter weiter hinter einer Tür.

Gwen lief langsam ein paar Schritte rückwärts und starrteauf das Schild neben der Tür, hinter der die Frau soeben ver-schwunden war.

Schulpsychologischer Dienst, stand in schwarzen Letternunter einer festgeschraubten Plexiglasplatte.

»Mom?« Ohne zu klopfen, riss Gwen die Tür auf. Entsetztblickte sie in die Augen ihrer Mutter, die dabei war, in demkahlen Raum Pflanzen und Fotos dekorativ anzurichten.

»Liebes, wie schön dich zu sehen.« Freudestrahlend lief Vi-vian auf ihre Tochter zu und drückte sie kurz an die Brust.»Überraschung!«, rief sie quietschend aus. »Das ist mein Bü-ro.«

Fassungslos sah sich Gwen um.»Mom, sag mir bitte nicht, du arbeitest hier. Hier an meiner

Schule.«

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